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German Pages 354 [353] Year 1984
Architektur des Mittelalters
Architektur des Mittelalters Funktion und Gestalt
Herausgegeben von FRIEDRICH MÖBIUS u n d ERNST SCHUBERT
1984 H E R M A N N
BOHLAUS
NACHFOLGER,
WEIMAR
Mit 2 3 9 Abbildungen
Zweite, durchgesehene Auflage Erschienen im Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, D D R - 5 3 0 0 Weimar, Meyerstr. 50a © Hermann Böhlaus N a c h f , W e i m a r 1983 Lizenznummer. 2 7 2 - 1 4 0 / 2 6 8 / 8 4 Printed in the German Democratic Republic Satz und D r u c k . V E B Druckhaus Kothen Bindearbeiten -i Druckhaus „Maxim G o r k i " Altenburg Klischeeherstellung Interdruck, Leipzig Gestaltung Ralph Dehncke, Jena LSV 8124 L.-Nr. 2576 Bestell-Nr 795 672 0 06200
Inhaltsverzeichnis Vorwort
7
M Ö B I U S , Die Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche zwischen 8. und 11. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Voraussetzungen, liturgischer Gebrauch, soziale Funktion
FRIEDRICH
EDGAR LEHMANN, GERHARD
Der Palast Ottos des Großen in Magdeburg
LEOPOLD,
Der Dom Ottos
I.
9 42
zu Magdeburg. Überlegungen zu seiner
Baugeschichte
63
H A N S - J O A C H I M STOLL,
Reste eines Rundbaues vor der Westfassade des Magdebur-
ger Domes
84
Die Darstellung von Persönlichkeit und Zeit in der mittelalterlichen Kunst (in Verbindung mit der Auffassung vom Tode und der jenseitigen Welt)
87
AARON GURJEWITSCH,
A N E Z K A M E R H A U T O V Ä / D U S A N TRESTI'K,
Spezifische Züge der böhmischen Kunst im
12. Jahrhundert PETER R A M M ,
105
Die Klosterkirche Jerichow. Geschichtliche und kunstgeschichtliche
Aspekte
141
Der Westchor des Naumburger Doms, der Chor der Klosterkirche in Schulpforta und der Meißner Domchor 160
E R N S T SCHUBERT,
Klosterbaukunst und Landesherrschaft. Zur Interpretation der Baugestalt märkischer Klosterkirchen 184
E R N S T BADSTUBNER,
Zur Frage der Westemporen in der mittelalterlichen Kirchenarchitektur Ungarns 240
GEZA ENTZ,
K I M P E L , Die Entfaltung der gotischen Baubetriebe. Ihre sozio-ökonomischen Grundlagen und ihre ästhetisch-künstlerischen Auswirkungen 246
DIETER
HANS-JOACHIM KUNST, ERNÖ MAROSI,
Die Kirchen in Lüneburg - Architektur als Abbild
273
Zum Prinzip des „pars pro toto" in der Architektur des Mittelalters 286
HEINRICH K L O T Z ,
Der Florentiner Stadtpalast. Zum Verständnis einer Repräsen-
tationsform Abbildungsverzeichnis
307 345
Vorwort Mittelalterliche Bauwerke finden seit den Tagen der Romantik allgemeines Interesse. Sie werden mit hohem gesellschaftlichen Einsatz instandgesetzt, erhalten und gepflegt - und sie werden erforscht. Veränderungen unseres Stadtbilds, wachsende Beweglichkeit der Touristenströme, eindringlichere Fragen unserer Zeit nach dem geschichtlichen Woher und Wohin stellen sie in neue Lebenszusammenhänge. Die hier vorgelegten, chronologisch geordneten Beiträge wissen sich ebenso den Fachfragen der Kunstgeschichte verpflichtet wie dem öffentlichen Bedürfnis nach wissenschaftlicher Aufklärung. Fünfzehn Autoren aus fünf europäischen Ländern äußern sich zur mittelalterlichen Baukunst. Ihre Analysen, Thesen und Ergebnisse geben Antwort auf Fragen nach der gesellschaftlichen Relevanz architektonischer Typen, nach dem Verhältnis von Bauherr und Baumeister, nach der Funktion der Liturgie im Kirchenbau, nach der Ausprägung nationaler Eigenheiten und städtischer Repräsentanz, aber auch auf Fragen nach der Entfaltung der Bauhütten und ihrer Arbeitsweise im Zusammenhang mit den sich entwickelnden ökonomischen Bedingungen. Das methodische Vorgehen der Autoren vermittelt einen Eindruck von der Vielfalt gegenwärtigen Forschens. Hier steht der Grabungsbericht neben dem Rekonstruktionsvorschlag, die ästhetische Analyse neben der Untersuchung der Raumnutzung, die stilkritische Forschung neben dem ikonologisch orientierten Motivvergleich und der Interpretation der literarischen Quellen. Die Autoren richten ihre Aufmerksamkeit ebenso auf die Fugenführung der Steinblöcke gotischer Kathedralen wie auf die kulturellen Folgen der menschlichen Arbeit, auf die Entstehungszeit der Bauwerke wie auf das weltanschauliche Selbstverständnis ihrer Benutzer. Die Vielfalt der wissenschaftlichen Standpunkte und Handschriften bezeugt die großen, hier jeweils auf unterschiedlicher fachlich-methodischer Grundlage wahrgenommenen Möglichkeiten der kunstgeschichtlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Funktionsproblematik, die zu reflektieren wir die Mitarbeiter des Bandes gebeten hatten, wird auf gedanklichen Ebenen und mit Materialien zur Sprache gebracht, die eigenen Nachdenkens wert wären. Wir hoffen zuversichtlich, damit auch das Gespräch über Theorie und Methode der Kunstgeschichte zu bereichern. Ein Band zur mittelalterlichen Skulptur soll folgen. Frau Dr. Leiva Petersen hat hohen persönlichen Anteil am Zustandekommen dieses Buches. Wir danken ihr sehr. Im November 1981 FRIEDRICH M Ö B I U S
E R N S T SCHUBERT
Die Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche zwischen 8. und 11. Jahrhundert Kulturgeschichtliche Voraussetzungen, liturgischer Gebrauch, soziale Funktion
V o n FRIEDRICH M Ö B I U S
Auf ihrer am höchsten entwickelten Stufe - etwa zwischen der Richariuskirche in Centula, der zweiten und dritten Kirche in Cluny und der Hirsauer Peterund Paulskirche - erweist sich die Klosterkirche des frühen Mittelalters als ein Gefüge aus unterschiedlich verbundenen und in sich hierarchisch gestuften Raumgruppen. Auf das Langhaus, bestehend aus zentralem, hohem Mittelschiff und flankierenden niedrigeren Seitenschiffen folgt an der östlichen Schmalseite und rechtwinklig zu dessen Achse ein zweiter Langraum, dessen durch triumphale Bögen markierte Mitte - die Vierung - seitliche Querhausflügel begleiten. In der Längsachse des Gebäudes baut sich jenseits der Vierung das Sanktuarium als ein im 8./9. Jahrhundert einfacher Rechteckraum mit Apsis auf, seit dem 10. Jahrhundert in wachsendem Maße mehrschiffig wie das Langhaus und mit mehreren Apsiden bzw. mit kapellenartigen Anräumen zuseiten des mittleren Altarhauses. In die Fundamentzone des Sanktuariums konnten Krypten eingebracht werden, die sich im 8./ 9. Jahrhundert als Stollen- und Kammernkrypten und als Ringumgangskrypten, vom 10. Jahrhundert an als Kulträume im Hallenquerschnitt darstellen. Sie hoben das damit zum Hochchor werdende Sanktuarium oftmals erheblich über das Niveau von Langhaus und Vierung hinaus. Die westliche Schmalseite - in der Regel die Eingangsseite - besetzten im 8./9. Jahrhundert zumeist offene Atrien, vom 10. Jahrhundert an vor allem in Burgund gedeckte Anlagen mit Vorhallen- bzw. Vorkirchencharakter. Edgar Lehmann gebührt das Verdienst, die Anordnung von Teilräumen im geschlossenen Zusammenhang der frühmittelalterlichen Basilika als „stilistischästhetisch sinnhaltig" erkannt zu haben. 1 Die Raumanordnung dieser Klosterbasiliken spiegelte „Stilwerden und Stilwandel" 2 , aber auch den konkret erreichten Reifegrad in der Beherrschung liturgischer - und durch sie vermittelter - gesellschaftlicher Prozesse.
Liturgische Aufgaben, denen in den Jahrhunderten zuvor eigenständige, voneinander isolierte Gebäude der „Kirchengruppe" gedient hatten, wurden nun erfüllbar in einem zusammenhängenden Raumgefüge von monumentalen Ausdruckswerten. 3 Edgar Lehmann hat diesen architektonischen Homogenisierungsprozeß, der in auffallender Weise die Ausbildung des Karolingerreiches begleitete, als das „Zusammenwachsen" ursprünglich getrennter architektonischer Funktionseinheiten bezeichnet, auch als „Zusammensetzen", „Zusammenbinden", „Zusammenfließen", als „Aneinanderschieben" und „Aneinanderfügen". 4 Er sah die frühmittelalterliche Basilika einem Prozeß der Raumvereinheitlichung eingeordnet, der zur gotischen Kathedrale weiterführte und sich dann in den spätgotischen Hallenkirchen erfüllte. Sein bedeutungsvoller Aufsatz aus dem Jahre 1947 „Vom Sinn und Wesen der Wandlung in der Raumanordnung der deutschen Kirchen des Mittelalters" formulierte auch bereits die
1 EDGAR LEHMANN, Der frühe deutsche Kirchenbau. Die Entwicklung seiner Raumanordnung bis 1 0 8 0 , Berlin 1 9 3 8 , 2. Aufl. 1 9 4 9 , S. 1 (— Forschungen zur deutschen Kunstgeschichte 27). 2 Ebenda. 3
EDGAR LEHMANN, D i e entwicklungsgeschichtliche S t e l l u n g d e r
karolingischen Klosterkirche zwischen Kirchenfamilie und Kathedrale, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 2, 1952/53, S. 1 3 1 - 1 4 4 ; Ders., Vortragsbericht zum selben Titel, in: Kunstchronik 6, 1 9 5 3 (9), S. 2 6 1 - 2 6 2 ; Ders., Von der Kirchenfamilie zur Kathedrale. Bemerkungen zu einer Entwicklungslinie der mittelalterlichen Baukunst, in: Sitzungsberichte der Kunstgeschichtlichen Gesellschaft zu Berlin NF 3, 1954/55, S. 3 - 5 ; Ders., V o m neuen Bild frühmittelalterlichen Kirchenbaus, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 6, 1956/57 (2), S. 2 1 3 - 2 3 4 ; Ders., Von der Kirchenfamilie zur Kathedrale. Bemerkungen zu einer Entwicklungslinic der mittelalterlichen Baukunst, in: Kunsthistorische Studien. Festschrift Friedrich Gerke, Baden-Baden 1 9 6 2 , S. 2 1 - 3 7 . 4 Vgl. Anm. 1 und 3.
10
FRIEDRICH M Ö B I U S
1 Centula, Salvator- und Richariuskirche (790-799). Rekonstruktion der Altaraufstellung
These, der wir unsere Studie widmen wollen: „ N u r . . . bewegende Kräfte konnten die Wandlungen veranlassen." 5 Ein besonderer Umstand erschwert freilich die Analyse der hier wirksam gewesenen architektonischen Triebkräfte: Auf jede einzelne Raumgruppierung setzten jeweils besondere Bedürfnisse an. Die Verwandlung der abgeschnürten in eine ausgeschiedene Vierung stand selbstverständlich in echtem Zusammenhang mit der Verdrängung des Römischen Querhauses und des Zellenquerbaues. Aber von der Bewegung innerhalb des Querhausbereiches relativ getrennt verlief die Sanktuarien- und die Kryptenentwicklung. Das Langhaus erscheint als ein vergleichsweise konservativer Bezirk, während die Innovationen die östliche Peripherie der Klosterkirche beherrschten. Die frühmittelalterliche Basilika war noch kein Einheitsraum, wo eine Änderung im Detail unweigerlich Konsequenzen für das ganze System nach sich gezogen hätte. Die kunstwissenschaftliche Analyse muß deshalb der Spezifik der einzelnen Raumgruppen nachzugehen suchen. Wir beschränken unsere Überlegungen auf die Chorpartie - wohl wissend, daß sie nicht völlig isoliert von den anderen Raumeinheiten der Basilika gesehen werden darf. Der architektonische Gegenstand, der nach Erhellung verlangt, sei noch einmal genannt. Zwischen 8. und 10./II. Jahrhundert entwickelte sich der Ostbereich der Klosterkirche auf fast expansionistische Art. In der Ausweitung des ursprünglich kammerartigen Raumes, in der Entfaltung räumlicher Beziehungen und in der stärkeren Verbindung von Querhaus
und Vierung mit der östlichen Raumgruppe gab es ein deutliches Aufsteigen von niederen zu höheren Formen, eine wachsende Vereinheitlichung der Gesamtform bei gleichzeitigem Anstieg der inneren Differenzierung, eine fortschreitende Tendenz der architektonischen Selbstbewegung (Abb. 1, 5, 6). Die Entwicklung, von der wir hier sprechen dürfen (es handelt sich nicht um bloße Veränderungen), führte über das einräumige karolingische Altarhaus vom Typ Centula zum mehrschiffigen Presbyterium der zweiten Kirche von Cluny und schließlich - am Ende des 11. Jahrhunderts - zum doppelten Querhaus von Cluny III mit Chorumgang und gewaltigem Kapellenkranz. Die Forschung hat das Phänomen bislang mit Veränderungen im Charakter der Altaraufstellung zu erklären versucht. Die „reichere Raumbildung" der Ostpartien wäre einer „praktischeren, bequemeren Anordnung der Altäre" 6 , einer würdigeren Unterbringung der „Nebenaltäre" zugutegekommen. 7 Der architektonisch entwickelte Chor habe mehr Platz geschaffen „für Altäre zum Zwecke des Privatmesselesens", er sei dem „Ziel einer Vermehrung der Altäre" verpflichtet gewesen. 8
5 EDGAR LEHMANN, V o m Sinn und Wesen det Wandlung in der Raumanordnung der deutschen Kirchen des Mittelalters, i n : Zeitschrift für Kunst 1, 1 9 4 7 (3), S. 2 4 - 4 3 . 6 JOSEPH BRAUN, D e r christliche A l t a r in seiner geschichtlichen Entwicklung, 1. Bd , München 1 9 2 4 , S. 378. 7 JOSEF ANDREAS JDNGMANN, Missarium Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, 1. Bd., 5. Aufl., Wien/Freiburg/Basel 1 9 6 2 , S. 2 9 3 . 8
ARMAND
DEHLINGER,
Die
Ordensgesetzgebung
der
Benedik-
tiner und ihre Auswirkung auf die Grundrißgestaltung des benediktinischen Klosterbaus in Deutschland unter bes. Berücksichtigung der Reform von Hirsau, Diss. T H Dresden 1 9 3 5 , BornaLeipzig 1 9 3 6 , S. 2 7 .
Die Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche D i e zahlreichen Nebenaltäre, die im 8. und 9. Jahrhundert zumeist „freistehend im Langhaus verteilt waren", habe man seit dem 10. Jahrhundert „um den Hochaltar in nunmehr auch architektonisch wohldurchdachter Form gruppiert." 9 Außerdem sei das Breviergebet erweitert, sei aus der einfachen eine täglich zu zelebrierende zweifache Konventmesse geworden. 10 Von „wesentlicher Bedeutung" für die Lage und Ausbildung der Ostpartie war nach Ernst Gall neben der „Stellung und Zahl der Altäre" die „Anzahl der am Chordienst teilnehmenden Kleriker und ihre Verteilung hinter oder vor dem Altar, endlich der mehr oder minder repräsentative Charakter, der dem Chordienst beigemessen wurde." 1 1 Soweit diese Erklärungen eine reichere architektonische Form auf eine größere Zahl der in ihr wirkenden Personen und auf ein höheres Quantum der in ihr ablaufenden Vorgänge zurückführen wollen, erschließen sie kaum tieferliegende Prozesse - zumal sie sich gelegentlich auch mit den Tatsachen nicht in Übereinstimmung befinden. Weder hat sich die Zahl der Altäre noch die der Mönche vom 9. zum 11. Jh. in den einzelnen Kirchen allgemein und gesetzmäßig erhöht das Gegenteil war vielerorts der Fall - , noch brauchte „mehr Platz" für die Altäre geschaffen werden, wie der St. Galler Klosterplan lehrt: Alle Mensen sind hier im Mittelschiff und in den Seitenschiffen sowie im Querhausbereich und dem Sanktuarium mühelos untergebracht (Abb. 7). D i e zweifache Konventmesse ist bereits für Kloster Centula bezeugt. 12 Eine entscheidende Erscheinung wird zweifellos mit der Konzentration der Altäre im Ostbereich der Kirche gefaßt, hier standen Vermehrung und Vergrößerung tatsächlich in einem kausalen Verhältnis. Aber die liturgische Umdisposition will selbst erklärt sein. Das Problemfeld, das wir damit umgrenzt haben, heißt: „Darstellung der Raumanordnung unter dem Gesichtswinkel des Zweckes, die Betrachtung der liturgischen Wandlungen und der Art ihrer Spiegelung im Raumprogramm" 13 , die Befragung der sozialen Kräfte, die sich ¡m Medium der Liturgie und der Raumanordnung artikulierten. Edgar Lehmann hatte von einer solchen Untersuchung schon 1 9 3 8 gemeint: Sie „wäre nicht nur die notwendige Ergänzung zur ästhetischen Betrachtung, sondern weitgehend sogar Voraussetzung dafür. Sie würde uns dem Leben näher bringen. Aber sie ist nach Lage der Forschung die weitaus schwierigere Aufgabe." 1 '' Wir müssen, um uns an Lösungen heranzuarbeiten, weiter ausholen.
11
Kloster und Feudaladel Mit dem Ende der Sklavenhalterordnung war die Grundbesitzerschicht des gallisch-fränkischen Territoriums in ein Verfallsstadium eingetreten, das es ihr unmöglich machte, die aus dem sich heranbildenden Feudaleigentum resultierenden Prozesse ökonomisch, politisch und kulturell zu beherrschen. D e r Westgotenkönig Athaulf hatte im 5. Jh. darauf verzichten müssen, Rom zu erobern, sich an die Stelle des Kaisers zu setzen und die „Romania" in eine „Gothia" zu verwandeln „wegen der zügellosen Roheit seiner Landsleute." 1 5 Gregor von Tours hat das klassische Bild des korrupten, räuberischen und zur Herrschaft unfähigen Adels seiner Zeit gezeichnet, der sich in Fehden und Raubkriegen gegenseitig aufrieb und Menschen und Sachen immer tiefer in Chaos und Krise hineinführte. Noch die cluniazensische Reform hatte einem Gesellschaftszustand zu begegnen, den die Machtkämpfe rivalisierender Grundherren und die tägliche Verschleuderung und Vernichtung wertvoller Produktivkräfte kennzeichnete. D e r unter den Karolingern einsetzende Kampf gegen die feudale Anarchie vollzog sich politisch mit der Grundlegung eines frühfeudalen Staates und einer monarchischen Zentralgewalt, kulturell mit der Durchsetzung und Festigung der christlichen Kirche, ganz besonders im Aufbau eines das gesamte Territorium überziehenden Klosterwesens. E t w a 800 Klöster waren schon unter den Merowingern entstanden, 4 0 0 weitere kamen im fränkischen Reich unter den Karolingern hinzu. 16 D i e „mangelnde Disziplin der Goten" 1 7 hatte König Athaulf verwehrt, die Leitung eines Großreiches zu übernehmen. W o immer im Zuge frühfeudaler Ent-
9 ERNST GALL im Artikel „Chor" des Reallexikons der deutschen Kunstgeschichte, Bd. 3, München 1 9 5 4 , Sp. 4 9 2 . 10
DEHLINGER 1 9 3 6 w i e A n m . 8 , S . 2 0 .
11
GALL 1 9 5 4 wie A n m . 9, Sp. 4 9 0 .
12
ANGELUS
ALBERT
HÄUSSLING,
Mönchskonvent
und
Eucha-
ristifeier. Eine Studie über die Messe in der abendländischen Klosterliturgie des frühen Mittelalters und zur Geschichte der Meßhäufigkeit, Münster/W. 1 9 7 3 , S. 5 6 ( = Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 5 8 ) . 13
LEHMANN 1 9 3 8 w i e A n m . 1 , S . 9 .
14
LEHMANN 1 9 3 8 w i e A n m . 1 , S . 9 .
DIETRICH CLAUDE, Gentile und territoriale Staatsideen im Westgotenreich, in : Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster 6, 1 9 7 2 , S. 1 : „propter effrenatam barbariem." 15
1 6 Artikel „Karolingische Bd. 2, Leipzig 1 9 7 1 , S. 5 5 5 . 17
Kunst"
CLAUDE 1 9 7 2 w i e A n m . 1 5 , S . 1 .
des
Lexikons
der
Kunst,
12
FRIEDRICH MÖBIUS
Wicklungen der expandierende Grundbesitz nach territorial vereinheitlichten und zentral gelenkten „Reichen" verlangte, mußten Anarchie und Willkür, mußten gentile Denk- und Verhaltensweisen überwunden werden. E s galt, die Anerkennung höherer Notwendigkeiten durchzusetzen. Disziplin als die Fähigkeit der persönlichen Unterordnung hatten schon die Stämme verlangt, mit der weiteren Differenzierung der gesellschaftlichen Struktur wurden nun auch notwendig Einsichten und Erkenntnisse von höherem Weitblick und größerem Abstraktionsgrad, Bildung und Wissen, die Fähigkeit zur Organisation, Verwaltung und Lenkung von Menschen und Sachen, die sich mehr als einen Steinwurf voneinander entfernt befanden. D i e sich mit dem frühfeudalen Staat entwickelnde gesellschaftliche Arbeitsteilung verlangte in größerem Maße als zuvor nach Menschen, die Leitungsfunktionen auszuüben imstande waren, nach Gelehrten, die Natur und Gesellschaft zu deuten vermochten, nach Funktionären der ideologischen Arbeit. Unter den Bedingungen eines allgemeinen Analphabetentums, eines niedrigen Standes der Produktivkraftentwicklung und eines hohen Grades territorialer Zersplitterung, vor allem aber auf der Grundlage der landwirtschaftlichen als der gesellschaftlich führenden Arbeit verlief die Herausbildung der frühfeudalen Intelligenz mühsam, über lange Zeiträume hinweg und behaftet mit allen Merkmalen der Spontaneität. D a s Kloster wurde zum zentralen Bildungsfaktor der frühfeudalen Herrenklasse. D i e soziale Funktion des Klosterwesens erwuchs aus den herrschenden Eigentumsverhältnissen. Feudales Eigentum verlangte nach Vergrößerung, Vereinheitlichung, nach territorialer Abrundung, nicht nach weiterer Zersplitterung, die mit jeder Erbteilung gegeben war — „ein reicher Kindersegen konnte die Erbteile ruinieren." 18 Nur der Erstgeborene übernahm das Eigentum des Vaters. Heiratete er noch zu dessen Lebzeiten, erhielt er weder Aussteuer noch Eigengüter, ihm war praktisch verwehrt, einen eigenen Herd zu gründen. D i e nachfolgenden Söhne und Töchter gingen prinzipiell leer aus. Wollten sie nicht zu Knechten und Mägden des ältesten Bruders werden, mußten sie in andere Berufe auswandern, die es jedoch zu einem Zeitpunkt, da sich das Handwerk noch nicht von der Landwirtschaft getrennt hatte, kaum gab. In das Gefolge eines großen Herrn aufzurücken, Höfling zu werden, war nicht allen gegeben. „Daher erlaubte das Familienoberhaupt in der Regel nur einem oder zwei Söhnen die Heirat. D i e anderen mußten entwe-
der ins Kloster gehen oder sich neue Lehen suchen, wie etwa im Orient oder in den slawischen Ländern." 1 9 Der frühe Feudalismus löste das Problem der überschüssigen Herrensöhne — in der Form primitiver Arbeitskräftelenkung — zur Regelung seiner militärisch-expansionistischen Bedürfnisse, in Eroberungszügen gegen benachbarte Stämme und Völkerschaften, in Kreuzzügen, in der Ostkolonisation und zur Herausbildung dem Adel verwandtschaftlich und gesinnungsmäßig eng verbundener Ideologen. Diese nur am weltlichen Leben interessierten Herren, schrieb am Ende des 11. Jh. der cluniazensische Mönch Udalrich, opfern, wenn sie das Haus voll von Söhnen und Töchtern haben und eines dieser Kinder lahm oder verkrüppelt ist, taub oder blind, bucklig oder aussätzig oder sonst kaum tauglich für das Leben, dieses Kind mit hochheiligen Schwüren Gott, damit es Mönch werde, jedoch nicht um Gottes willen, sondern damit sie es nicht zu erziehen und zu ernähren brauchen. 20 D i e Einlieferung gesunder Adelskinder war die selbstverständliche Norm. Noch der St. Galler Humanist Joachim von Watt wußte vom Ursprung des mittelalterlichen Mönchtums aus dem Kreis der Grundbesitzer. Am Anfang des 16. Jh. schrieb er: „Dan wo ainer vil kinder ghan, hatt er ain tail zu pfaffenjunker und Chorherren und zu nonnen gemacht", alle großen Bischofsund Stiftskirchen seien „von dem adel besessen" gewesen, man habe nur die darin zu Chorherren empfangen, „die des adels warend." 2 1 Bereits für die Klöster des frühen Mittelalters galt, daß „die Aufnahme ins monasterium Privileg des hohen Adels" war, 2 2 daß „der Adel . . . die Mönche stellte." 23 Der hl. Gallus habe „niemals einen Mönch gehabt. . ., der nicht von freier Geburt gewesen wäre", schrieb Ekkehard IV. von
1 8 ERNST WERNER, B e m e r k u n g e n zu einer neuen T h e s e über die H e r k u n f t der L a i e n b r ü d e r , i n : Zeitschrift f ü r Geschichtswissenschaft 6, 1 9 5 8 ( 2 ) , S. 3 5 7 . 19 Ebenda. 2 0 UDALRICUS, Cluniacensis monachus ( 1 0 8 6 ) , A n t i q u i o r e s Consuetudines Cluniacensis M o n a s t e r i i ( C o n s u e t u d i n e s C l u n i a c e n s e s ) , in: Patrologia Latina 149, Paris 1882, Sp. 635. 2 1 Zitiert nach KLAUS SCHREINER, Sozial- u n d standesgeschichtliche Untersuchungen zu den B e n e d i k t i n e r k o n v e n t e n im östlichen S c h w a r z w a l d , Stuttgart 1 9 6 4 , S. 10 f. ( = Veröffentlichungen der K o m m i s s i o n f ü r geschichtliche L a n d e s k u n d e in B a d e n - W ü r t t e m berg, R e i h e B , 3 1 . B d . ) . 22
E b e n d a , S. 134.
23
HERMANN
JAKOES,
St. B l a s i e n , K ö l n / G r a z Abhandlungen 16).
Der
Adel
1968,
in
S. 2 7 8
der
Klosterreform
( = Kölner
von
Historische
Die Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche St. Gallen in der ersten Hälfte des 11. Jh. 24 Was für St. Gallen, das galt im wesentlichen für das Kloster des frühen Mittelalters überhaupt: Es war eine vom feudalen Grundeigentum beschickte und von ihm ausgerüstete Institution zur Unterbringung überschüssiger Erbfolger, ein „Versorgungsinstitut" für nachgeborene Adelssöhne und -töchter2D, eine „Versorgungsanstalt für Personen . . ., die durch die Geburt glänzten, nicht durch Frömmigkeit und Wissenschaft," 26 ein „gut fundiertes Herren-Haus." 27 Jeder Konvent war deshalb zugleich auch Ausdruck einer „streng geschlossenen adeligen Genossenschaft." 28 „So ward mancher Junker ein Ordensmann nicht um Andacht willen, sondern daß er gute Tage bei guter Nahrung haben möchte und seine Brüder desto besser Herren sein könnten." 29 D a jeder Neuzugang verbunden war mit der Stiftung von Grund und Boden an das Kloster, interessierten sich Männerklöster sogar für den Eintritt von Frauen, um „den Besitzstand zu vergrößern". 30 Die Unangemessenheit des Auswahlprinzips, das die einzelnen Rittersöhne (und -töchter), unter ihnen auch die Abkömmlinge mittlerer und kleinster Grundbesitzer 31 in das Kloster trieb, bezeugen die verschiedentlich überlieferten Klagen der Äbte über die „idiotae", die ungebildeten, dummen Brüder in den Konventen, 32 „die sich gelangweilt und schläfrig an den Wänden der Kreuzgänge herumdrücken. Der Müßiggang beherrscht sie, sie lesen wenig, schreiben selten und verbringen ungestraft den lieben langen Tag manchmal bis weit in die Nacht hinein mit dummem, faulem, lügenhaftem Geschwätz." 33 Udalrich von Cluny wünschte sich am Ende unserer Epoche ein Kloster, das sich nicht mit Kindern im Rüpelalter herumzuschlagen brauche, dessen Mönche nicht auf Befehl der Eltern, sondern auf eigenen Entschluß und im reiferen Alter den Weg hinter die Klostermauern gefunden haben. 34 Solche harten Worte richteten sich gegen den Mißbrauch des Klosters durch den Adel, nicht gegen dessen grundsätzliche Funktion als „Hauptträger der monastischen Entwicklung". 30 „Die Bedeutung des aristokratischen Elementes in den Klöstern b e d a r f . . . keines Nachweises mehr." 30 Die Kulturfunktion des Klosterwesens realisierte sich zunächst in der strikten Negation aller der Wirklichkeitsbeziehungen, die den lärmenden und machtgierigen Adel draußen chararakterisierten, diese „Kirchenräuber und Tempelschänder, Banditen und Plünderer, diese Zerstörer des Paradieses, welches die Kirche Christi darstellt." 37 Die erste und wichtigste Forderung an die Söhne derjenigen, die ein Abt des
13
10. Jh. — darin allgemeineren Stimmungen Ausdruck verleihend — „Feuerbrände der Hölle, Fraß für den Teufel" — „titiones inferni, escae diaboli" — tituliert hatte, 38 bestand in der „conversio morum", der Änderung der Sitten. 39 Das Standesethos des Adels war auf Besitz, Krieg und Freiheit gegründet und auf die „ausgesprochene Hochschätzung des heiteren, freudig gestimmten Menschen". 40 Als Sinnbild einer herrenmäßigen Lebenseinstellung darf die „Tafelrunde" gelten, die dem adeligen Herrn Gelegenheit gab, „seiner iocunditas freien Lauf zu lassen." 41 Georges Duby hat es auf die Formel gebracht: Der Feudaladel repräsentierte die Sphäre von Raub, Plünderung und Kon-
2 4 EKKEHARD IV., Die Geschichten des Klosters St. Gallen. Übersetzt und erläutert von HANNO HELBLING, Köln/Graz 1 9 5 8 , S. 9 0 ( = Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, 3. Gesamtausgabe, Bd. 1 0 2 ) . 2 5 WILHELM STÜRMER, Früher Adel. Studien zur politischen Führungsschicht im fränkisch-deutschen Reich vom 8. bis 1 1 . Jh., Bd. 2, Stuttgart 1 9 7 7 , S. 3 1 1 ( = Monographien zur Geschichte
des Mittelalters 6 , 2 ) ;
v g l . auch STEPHANUS HILPISCH, D i e
Dop-
pelklöster. Entstehung und Organisation, Diss. phil. Bonn 1 9 2 8 , S. 7 ; Ders., Aus deutschen Frauenklöstern, Wien/Leipzig 1 9 3 1 , S. 7. 2 6 ALOYS SCHULTE, Der A d e l und die deutsche Kirche im Mittelalter. Studien zur Sozial-, Rechts- und Kirchengeschichte, Neudruck Amsterdam 1 9 6 6 , S. 9 ( = Kirchenrechtliche Abhandlungen, 6 3 . - 6 4 . Heft). 27
PHILIBERT SCHMITZ, G e s c h i c h t e des B e n e d i k t i n e r o r d e n s , 1 . B d . ,
Einsiedeln/Zürich 1 9 4 7 , S. 257. 2 8 FRIEDRICH HEER, Aufgang S.
Europas,
Wien/Zürich
1949,
410. 29
SCHULTE 1 9 6 6 w i e A n m . 2 6 , S .
290.
30
HILPISCH 1 9 2 8 w i e A n m . 2 5 , S .
65.
JOHANNES FECHTER, Cluny, Adel und Volk. Studien über das Verhältnis des Klosters zu den Ständen ( 9 1 0 - 1 1 5 6 ) , Diss. phil. Tübingen 1 9 6 6 , S. 7. 3 2 ADOLF METTLER, Laienmönche Laienbrüder Conversen, besonders bei den Hirsauern, in: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte 4 1 , 1 9 3 5 (3/4), S. 225. 3 3 PETRUS VENERABILIS, Statuta Congregationis Cluniacensis, in: Patrologia Latina 1 8 9 , Paris 1 8 9 0 , Sp. 1 0 3 7 . 31
34
UDALRICUS 1 8 8 2
33
FRIEDRICH
wie A n m . 20, Sp.
PRINZ,
Die
636.
Entwicklung
des
altgallischen
und
merowingischen Mönchtums, in: Das erste Jahrtausend. Kultur und Kunst im werdenden Abendland an Rhein und Ruhr, Textbd. I, Red. VIKTOR H. ELBERN, 2. Aufl., Düsseldorf 1 9 6 3 , S. 2 5 1 . 3 0 FRIEDRICH PRINZ, Frühes Mönchtum im Frankenreich. Kultur und Gesellschaft in Gallien, den Rheinlanden und Bayern am Beispiel der monastischen Entwicklung ( 4 . - 8 . Jh.), München/ Wien 1 9 6 5 , S. 535. 3 7 ABBO, Sermones quinque selecti, in: Patrologia Latina 1 3 2 , Paris 1 8 8 0 , Sp. 774. 3 8 Ebenda. 39
Z u m B e i s p i e l UDALRICUS 1 8 8 2 w i e A n m . 2 0 , S p . 7 1 3 .
40
HATTO KALLFELZ, D a s S t a n d e s e t h o s d e s A d e l s im 1 0 .
1 1 . Jahrhundert, Diss. phil. Würzburg 1960. S. 70. 4 1 Ebenda, S. 68.
und
14
FRIEDRICH
sum. 42 D i e Regel Benedikts verlangte von den Kindern dieser Herren, sobald sie in das Kloster eingetreten waren, den Leib zu züchtigen — „corpus castigare" —, der Sinnenlust zu widerstehen — „delicias non amplecti" —, fleischlichen Gelüsten nicht nachzugehen — „desideria carnis non efficere" —, viel Reden nicht zu lieben — „multum loqui non amare" —, nicht stolz, trunksüchtig, eßgierig, schläfrig und träge zu sein — „non esse superbum, non vinolentum, non multum edacem, non somnulentum, non pigrum" —, nicht zu lachen — „risum . . . non amare" —, vor allem aber das H a u p t stets geneigt zu halten und die Augen zur E r d e zu richten — „inclinato sit semper capite, defixis in terram aspectibus". 43 Bereits in körperlichen Verhaltensweisen mußten sie lernen, ein antiritterliches, antiherrenmäßiges Gebaren auszuprägen. Aber auch die „Lachkultur des Volkes" war ihnen verwehrt. 4 4 Geradezu gottesdienstlichen Rang gewann in diesem Erziehungsprogramm das Schweigen, das außerhalb des offiziellen kultischen Sprechens und Singens zu herrschen hatte. Verboten waren „für immer und an allen Orten" Possen, unnützes Geschwätz und „zum Lachen reizende Gespräche". 4 5 Überall mußte, da es beim Reden ohne Sünde nicht abgeht, 46 geschwiegen werden, in der Kirche, im Schlafsaal, im Speiseraum, sogar in der Küche, verordneten noch die cluniazensischen Gesetze. 47 Große Disziplin und Schweigen, ja absolute Stille scheint das Gesetz der überwiegenden Zahl der liturgisch dienstfreien Stunden gewesen zu sein. Ein Taubstummenlehrer hat etwa 400 Gebärden aus den liturgischen Ordnungen des Klosters Cluny erschlossen, mit denen sich die Mönche über den größeren Teil des Tages hinweg verständigten. 4 8 Das klaustrale Sprechverbot machte die Klosterinsassen fähiger, den Geboten der Oberen und den Texten der heiligen Dienste zu folgen. Es schulte Selbstbeherrschung und Konzentrationskraft und lenkte die Gedanken auf geistige, innere Sachverhalte. D i e Mönche sollten „am ,aeternum silentium', am Schweigen der großen Ehrfurcht, bereits jetzt teilhaben." 49 Die Durchsetzung des Schweigens der Menge muß in allen frühen Kulturen — man denke an das zeremonielle Schweigen um den spätantiken Gottkaiser, für das ein „silentiarius" zu sorgen hatte 5 0 - ein besonderes Problem der Herrschaftssicherung gewesen sein; erst im vollkommenen Schweigen der Umstehenden offenbarte sich die Autorität des jeweiligen Herrn. D i e Erwartung des nahenden Herrn „kleidet sich in die Form des Schweigens". 51 Gott hatte von Abraham verlangt, alle Beziehun-
MÖBIUS
gen zum Grundbesitz und alle persönlichen Bindungen an Blutsverwandte abzubrechen: „Gehe aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will." 52 Christus verhieß hohen Lohn für den gleichen Heraustritt aus weltlichen Ordnungen (Matth. 19, 29). D a s biblische Vorbild gab dem Verzicht der Adelssöhne auf Besitzrecht und Privateigentum eine höhere Weihe, sanktionierte gleichsam in religiöser Form den Ausschluß vom väterlichen Erbe. Die merowingischen Viten lassen deh Heiligen seine erste Bewährungsprobe zumeist im „Konflikt mit seinen Eltern oder nächsten Verwandten" bestehen. 53 Terra, cognatio und domus des Genesistextes verwandelten sich in Sinnbilder des fleischlichen Lebenswandels, der Laster, ja des Teufels selbst. 54 Wer sich in das Kloster begab, entzog sich den Sünden der Welt. Auch Ehelosigkeit und Keuschheit nobilitierten, religiös moti-
42 GEORGES DUBY, Krieger und Bauern. D i e Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft im frühen Mittelalter, Frankfurt/M. 1977, S. 172. 43
Die
Benediktusregel.
Hrsg.
von
P.
BASILIUS
STEIDLE
OSB,
Beuron 1963, S. 76, 78, 80, 96. 44 MICHAIL BACHTIN, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, München 1969. 45
großen
Ordensregeln,
2. Aufl. Einsiedeln/Zürich/Köln 1961, S. 201 ( = Kirche in Zeugnis und Urkunde N F 6). 46 Ebenda.
Menschen der
47
HANS
URS
VON
BALTHASAR,
UDALRICUS 1 8 8 2 w i e A n m .
20,
Die
Sp. 7 0 3 :
„ . . . ut
perpetuum
silentium teneatur, in ecclesia, dormitorio, refectorio, et coquina regulari." 48
GREGOR
SCHMUTZ,
Die
Gebärdensprache
der
Kluniazenser
und Hirsauer. Kulturgeschichtliches aus dem 11. Jahrhundert, in: Blätter für Taubstummenbildung 36, 1923, S. 3 4 7 - 3 5 5 . 49 KASSIUS HALLINGER, Gorze-Kluny. Studien zu den monastischen Lebensformen und Gegensätzen im Hochmittelalter, 2. Band, 1971, S. 925. 50
A N D R E A S ALFÖLDI, D i e A u s g e s t a l t u n g d e s m o n a r c h i s c h e n
Ze-
remoniells am römischen Kaiserhofe, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Institutes 49, 1934, S. 38. 51 GUSTAV MENSCHING, D a s heilige Schweigen. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung, Gießen 1926, S. 83 ( = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten, 20. Bd., 2. Heft); vgl. auch UWE RUBERG, Beredtes Schweigen in lehrhafter und erzählender deutscher Literatur des Mittelalters, München 1978 ( = Münstersche Mittelalter-Schriften 32). ä2 Gen. 12,1: „Egredere de terra tua et de cognitione tua, et de domo patris tui, et veni in terram, quam monstrabo tibi." 53 DETLEF ILLMER, Formen der Erziehung und Wissensvermittlung im frühen Mittelalter. Quellenstudien zur Frage der Kontinuität des abendländischen Erziehungswesens, München 1971, S. 160 ( = Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 7). 54 ARNOLD ANGENENDT, Monachi peregrini. Studien zu Pirmin und den monastischen Vorstellungen des frühen Mittelalters, München 1972, S. 128 ff. ( = Münstersche Mittelalter-Schriften 6).
Die Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche viert, den gesellschaftlichen Sachzwang, keine Erben zeugen zu dürfen. In den zahlreichen klösterlichen Askeseformen — dem kultischen Schweigen wie der sexuellen Enthaltsamkeit, der Armut wie der Demut — übten die Adelssöhne die Unterwerfung unter höhere Autoritäten, trainierten sie die Entsagung von weltlichen Verhaltensweisen. W i e schwer das vor allem denen fiel, die erst als Jugendliche oder Erwachsene in das Kloster eintraten, wird von den Quellen öfters bezeugt. „Diese Leute ließen die weltlichen Anschauungen nicht an der Klosterpforte zurück." 55 Corbinian, der Gründer von Luxeuil, liebte Schmuck und schöne Kleidung, kräftige Körper und „sportliche Leistung", er war „schroff im Anordnen, eine herrschaftsgewohnte Figur, ein ausgesuchter Kenner edler Pferde, kurz ein vollendeter Aristokrat." 5 6 Es galt solchen Äbten als selbstverständlich, ihre „flüchtigen Unfreien . . . verfolgen" zu lassen. 57 Die Damen des Klosters der hl. Radegundis in Poitiers wollten sich nicht von Bad, Kleiderluxus und Schachspiel trennen. Über „servi" als persönliche Bedienstete verfügend, forderten sie, „entsprechend ihrem Adel wie Fürstinnen und nicht wie Mägde behandelt" zu werden. 5 8 Die Nonne Chrodechilde schrieb voller Empörung: „Man erniedrigt uns hier, als wären wir nicht Königstöchter, sondern von niedrigen Mägden geboren" — „non ut filiae regum, sed ut malarum ancillarum genitae in hoc loco humiliamur". 5 9 Den Klerikern aller Chargen und Institutionen mußten immer wieder die Waffen verboten werden, das Jagen, alle die „negotia saecularii", die ihrer adeligen Lebensweise entstammten. 60 Noch am Anfang des 12. Jahrhunderts fragte Baudri von Bourgueil, Abt und Erzbischof, „einen Jüngling, der Eremit werden wollte": „Ein Bauch, der Sättigung liebt, wann wird der lernen zu fasten?" „Der du mit Spezereien und weichlichen Speisen genährt bist" - „pigmentis nutrito et mollibus escis" - , wann genügt dir nur Brot, wann ist dir Wasser genug? 6 1 Im Kloster lernte der anspruchsvoll und kriegerisch erzogene Feudaladel, „überall, an allen Orten und zu allen Zeiten" Psalmen zu singen, „beim Küchendienst ebenso wie im Krankenhaus, beim Rasieren und . . . Baden ebenso wie bei der Gartenarbeit", selbst die Mahlzeiten begleiteten Lesungen heiliger Texte. 62 Und die Herren hatten zu gehorchen. Thietmar berichtet vom Magdeburger Erzbischof Adalbert, daß er sich des nachts in die Kirche des Mauritiusklosters schlich, um heimlich zu beobachten, wie sich die Mönche im Morgengrauen zur Frühmesse versammel-
15
ten und ob vielleicht welche im Schlafsaal zurückblieben. Fand er alles in Ordnung, dankte Gott, wenn nicht, „strafte er die Schuldigen mit verdienter Buße". 6 3 Im Ordo cluniacensis des 11. Jh. heißt es beinahe drohend: „Keiner möge wagen, in seinem Bett zu bleiben, während die Mönche die Matutin singen" — „nullus . ... debet ire pausare ad lectum suum, dum canuntur reguläres Matutini." 6 4 Ein Kloster wie das zu Cluny wirkte als „unerbittlicher Zuchtmeister", der den adligen „Sippengenossen erst einmal eine Art asketisches Rechts-um links-um beibringen" mußte. 65 Es verstand sich als eine „Kaserne, in der die Krieger Christi ausgebildet und gehärtet werden" 6 6 , als eine „Kriegsschule für den Dienst des Herrn": „Der Mönch ist ein Krieger Gottes, die Regel das Kriegsgesetz, das monasterium das Zelt, die Gemeinschaft der Brüder die Schlachtreihe, in der er kämpft." 67
55
SCHULTE 1 9 6 6 w i e A n m . 2 6 , S . 8 .
KARL BOSL, Leitbilder und Wertvorstellungen des Adels von der Merowingerzeit bis zur Höhe der feudalen Gesellschaft, München 1 9 7 4 , S. 20 ( = Bayrische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist.-Klasse, SB 1 9 7 4 , Heft 5). 56
87
PRINZ 1 9 6 5 w i e A n m . 3 6 , S .
534.
58
PRINZ
S.
1965
wie
Anm.
36,
534;
vgl.
auch
KATHARINA
WEBER, Kulturgeschichtliche Probleme der Merowingerzeit im Spiegel frühmittelalterlicher Heiligenleben, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige NF 1 7 (48), 1 9 3 0 (4), S. 3 4 7 - 4 0 3 . 5 9 GREGOR VON TOURS, Zehn Bücher Geschichten, Bd. 2. Neu bearbeitet von RUDOLF BUCHNER, Berlin o. J., S. 2 9 6 ( = Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 3). 6 0 FRIEDRICH PRINZ, Klerus und Krieg im frühen Mittelalter. Untersuchungen zur Rolle der Kirche beim Aufbau der Königsherrschaft, Stuttgart 1 9 7 1 , S. 2 1 ( = Monographien zur Geschichte des Mittelalters 2). 6 1 KARL LANGOSCH, Lyrische Anthologie des lateinischen Mittelalters. Mit deutschen Versen, Darmstadt 1 9 6 8 , S. 2 0 7 . 62
HEER
1949
wie
Anm.
28,
S.
396.
Vgl.
dazu
UDALRICUS
1 8 8 2 wie Anm. 20, Sp. 676. 63
THIETMAR VON MERSEBURG, C h r o n i k .
Neu
übertragen
und
erläutert von WERNER TRILLMICH, Berlin o. J., S. 9 7 ( = Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 9). M
BERNARDUS
MONACHUS,
Ordo
Cluniacensis
( 1 1 . Jh.),
in:
Vetus Disciplina Monastica, Paris 1 7 2 6 , S. 273. 6 5 KASSIUS HALLINGER, Zur geistigen W e l t der Anfänge KIunys, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 1 0 , 1 9 5 4 (2) S. 4 2 0 . C(I ERNST VON HIPPEL, Die Krieger Gottes. Die Regel Benedikts als Ausdruck frühchristlicher Gemeinschaftsbildung, 2. Aufl., Paderborn 1 9 5 3 , S. 48. 6 7 HILARIUS EMONDS OSB, Geistlicher Kriegsdienst. D e r Topos der militia spiritualis in der antiken Philosophie, in: Heilige Überlieferung. Ausschnitte aus der Geschichte des Mönchtums und des heiligen Kultes. Ildefons Herwegen zum silbernen Abtjubiläum, Münster 1 9 3 8 , S. 2 1 .
16
FRIEDRICH MÖBIUS
Neben die „scharfe, offene Kritik" kirchlicher Kreise an den Lebensgewohnheiten des Adels, wie sie politisch wohl am machtvollsten in der Gottesfriedensbewegung zum Ausdruck kam, 68 trat ein klösterliches Bildungs- und Erziehungsprogramm von weitreichender geschichtlicher Bedeutsamkeit. Unter den Bedingungen der monastischen Lebensweise vermittelte der Tag und Nacht währende, nur von kurzen Pausen unterbrochene feierliche liturgische Pflichtdienst das eindringliche Erlebnis kultureller Werte, die außerhalb der Klostermauern wenig oder nichts galten. Sie kreisten um den Frieden des Gottesreiches, um Buße und Entsühnung, die Liebestat des Gottessohnes, der die Menschheit erlöst hatte, aber auch um die Drohung vor dem Gericht Gottes, um den Zwang, im irdischen Leben gute Werke zu tun, täglich und stündlich dem Teufel zu widerstehen, die Heiden und alle Sünder zu bekämpfen. Die „laus perennis", das fortwährende Gotteslob war ein sich unendlich fortsetzender symbolischer Kampf der sündigen Seele mit den Versuchungen der bösen Kräfte. Er folgte dem Vorbild der apokalyptischen Engel, die „die ac nocte" Gott verehrten (Ap. 4, 8) - „wie die Engel im Himmel, so dienen die Brüder in der Kirche", hatte Alkuin geschrieben 69 —, er wußte sich aber auch dem Psalmisten verpflichtet, der siebenmal am Tag das Gotteslob erschallen ließ (Ps. 118,164). Sein tiefster Sinn jedoch bestand in der Einübung eines Geschichtsbildes, dessen bewegende Urkraft der Schöpfergott war. Von ihm empfingen auch die Mächtigen dieser Erde ihr Gesetz. Im Nachtoffizium vergegenwärtigten sich die Brüder die heilsgeschichtliche Zeit von Adam bis Noah, in der morgendlichen Matutin die Zeit von Noah bis Abraham, in der darauf folgenden Prim gedachten sie des Übergangs von Abraham zu Moses, die Terz galt dem Gedächtnis des Abschnitts zwischen Moses und David, die Sext dem Gedenken der Heilsbewegung, die von David bis zur irdischen Ankunft Christi währte. Die Non verkörperte die Jetztzeit, die ihr Ende finden wird am Tage der Wiederkehr Christi zum Jüngsten Gericht. 70 Während der Nachtgottesdienste - den umfangreichsten Offizien eines Tagesablaufs - durften sich die Mönche auch erinnert fühlen an die Nacht, da Christus starb, mit der aufgehenden Sonne begrüßten sie in den zwischen Matutin und Prim stattfindenden Laudes dessen Auferstehung. 71 „Von kurz nach Mitternacht bis zum späten Abend läutete die Glocke alle ein bis zwei Stunden, um die Mönche zum Offizium zu versammeln, zur Rezitation von
Psalmen, Hymnen, Gebeten und zu Bibellesungen." 72 So groß war die Länge der Zeit, die dem ununterbrochenen Gottesdienst galt, klagte Petrus Damiani, daß manchmal „kaum über den ganzen Tag wenigstens eine halbe Stunde verblieb, in der die Brüder im Kloster miteinander sprechen konnten," 73 so groß war die Länge der Lektionen, daß sie zu hören nicht weniger beschwerlich war, „als einen Klumpen Blei zu schleppen," 74 vermerkte Udalrich von Cluny. Am Karfreitag beteten die cluniazensischen Mönche den ganzen Psalter mit seinen 2624 Versen durch - „totum Psalterium decantant" —,75 eine mindestens siebenstündige Gesangsleistung, eine „außerordentliche Gebetslast." 76 In einzelnen Klöstern wurden täglich von jedem Mönch zwischen 150 und 200 Psalmen gesungen, 77 also mindestens die Wortmassen des ganzen Psalters absolviert. Die „Mehrzahl der nicht für den Schlaf bestimmten Stunden" brachten die Mönche des Klosters Cluny, aber nicht nur sie, „in der Kirche" zu. 78 Der Mönchstag, vorzugsweise ausgefüllt mit kultischen Übungen, währte — wir wiederholen es - nahezu von Mitternacht bis Mitternacht, „per diem et noctem". 79 Nicht um die psychische Kompensation biologischer Aggressionstriebe ging es der klö-
6 8 BERNHARD TÖPFER, V o l k und Kirche zur Zeit der beginnenden Gottesfriedensbewegung in Frankreich, Berlin 1 9 5 7 , S. 1 2 , 1 0 7 • ( = Neue Beiträge zur Geschichtswissenschaft 1). 6 9 ALCUINI epistolae, in: Monumenta Germaniae histórica. Epistolorum IV, Berlin 1 8 9 5 , S. 1 1 6 . 70
FRIEDRICH OHLY, D i e K a t h e d r a l e als Z e i t e n r a u m . Z u m D o m
von Siena, in: Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster 6, 1 9 7 2 , S. 1 4 7 . 7 1 ILDEFONS HERWEGEN, Sinn und Geist der Benediktinerregel, Einsiedeln/Köln 1 9 4 4 , S. 1 4 8 . 7 2 CHRISTOPHER BROOKE, Die große Zeit der Klöster 1 0 0 0 bis 1 3 0 0 . Die Geschichte der Klöster und Orden, und ihre religions-, kunst- und kulturgeschichtliche Bedeutung für das werdende Europa, Freiburg/Basel/Wien 1 9 7 6 , S. 5 9 ; vgl. auch STEPHANUS HILPISCH, Chorgebet und Frömmigkeit im Spätmittelalter, in: Heilige Überlieferung. Ausschnitte aus der Geschichte des Mönchtums und des heiligen Kultes. Festschrift Ildefons Herwegen, Münster 1 9 3 8 , S. 2 6 3 - 2 8 4 . 7 3 PETRUS DAMIANI, Epistolarum libri octo. Liber sextus, epístola V, in: Patrología Latina 1 4 4 , París 1 8 7 3 , Sp. 3 8 0 . 74
UDALRICUS
1882
wie
75
UDALRICUS
1882
wie
76
HALLINGER 1 9 7 1
Anm. Anm.
20, 20,
Sp. Sp.
w i e A n m . 4 8 , S.
687. 661.
935.
BARBARA H. ROSENWEIN, Feudal W a r and Monastic Peace: Cluniac Liturgy as Ritual Aggression, in: Viator, Medieval and Renaissance Studies vol. 2, Berkeley/Los Angeles/London 1 9 7 1 , S. 1 2 9 ff. 77
78
METTLER 1 9 3 5 w i e A n m . 3 2 , S .
227.
WALAFRID STRABO, Liber de ecclesiasticarum Patrología Latina 1 1 4 , Paris 1 8 7 9 , Sp. 9 5 2 . 79
rcrum,
in:
Die Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche stcrlichen Liturgie, wie eine amerikanische Forscherin jüngst, westlichen Modeideologien folgend, vermutete, 8 0 sondern um kulturelle Verhaltensmodellierung. D i e mönchische Weltflucht war Ausdrucksform einer auf soziale Grundprozesse bezogenen Distanzhaltung zum wirklichen Leben: Sie fungierte als dialektische Negation wesentlicher Züge der frühfeudalen Herrenklasse — deshalb standen Adel und Kloster auch ständig einander spannungsvoll, öfters sogar feindlich gegenüber. Aber eben in der Negation des Negativen wirkte das frühfeudale Kloster in entscheidenden Positionen mit am Ausbau der Führungsrolle des frühfeudalen Adels, an der „Identität der Führungsschichten in Kirche und Reich." 8 1 D i e in Cluny entwickelten feierlichen Liturgieformen entsprachen „weitgehend der geistigen Haltung und dem wachsenden Selbstbewußtsein des aufsteigenden Adels . . . , der ja den Hauptanteil der Mönche stellte." 82 D i e adligen Mönchssippen der großen Klöster begriffen tatsächlich „ihr geistig-geistliches Ringen analog dem Kampf ihrer Brüder und Sippengenossen in der
17
Welt," 8 3 diese wiederum durften sich schmeicheln, ihre „Herrschaft nun auch sakral . . . begründet" zu sehen. 84 Angilbert hatte im Reichskloster Centula einen besonderen Aspekt dieser „Symbiose von Adel und Kloster" 83 liturgisch institutionalisiert. D e n drei, jeweils 100 Mann starken Mönchschören, die auf dem Salvatorchor, im Richariuschor und am östlichen E n d e des Mittelschiffes standen, hatte er 34 bzw. 33 Knaben beigegeben: jene 100 ritterlichen Sprößlinge, die in der Klosterschule für den weltlichen Dienst gebildet wurden. 8 6 D i e Karolinger hatten zum ersten Mal präzise Ansprüche an „das erudire der religiösen Institutionen" gestellt. 87 D a m i t berühren wir einen weiteren Aspekt der klösterlichen Bildungsfunktion: E r galt der Qualifizierung politischer Führungskräfte. Noch der Centulaer Chronist des 11. Jh. wußte zu berichten: In diesem Kloster wurden „Herzöge, Grafen, Söhne der Herzöge, sogar Söhne der Könige erzogen." 88 Zwischen der Bildung derer, die im Kloster lebenslang verblieben und der Weitergabe der hier herrschenden Gesetze an diejenigen, die dann in die Welt entlassen wurden, bestand selbstverständlich ein enger und wesentlicher Zusammenhang.
Priestermönche und Privatmesse Wer den spezifischen Kulturfaktoren des frühmittelalterlichen Klosterwesens weiter nachgeht, stößt auf die eigentümliche Tatsache einer inneren Entwicklung der Konvente, als deren wichtigster Reizfaktor sich die Messe darzustellen scheint. Sie zu zelebrieren war nur ausgebildeten Kräften erlaubt,
80
ROSENWEIN
1971 wie Anm.
7 7 , S.
154.
81
FRIEDRICH PRINZ, A b r i ß der kirchlichen und monastischen Entwicklung des Frankenreiches bis zu K a r l d e m G r o ß e n , i n : Karl der G r o ß e , Lebenswerk und Nachleben, Bd. 2, D a s geistige Leben, Düsseldorf 1965, S. 299. 83
TÖPFER 1 9 5 7 w i e A n m . 6 8 , S. 3 6 .
83
HEER 1 9 4 9 w i e A n m . 2 8 , S.
M
PRINZ 1 9 6 5 w i e A n m .
83
JAKOBS 1 9 6 8 w i e A n m .
63.
3 6 , S. 2 3 , S.
492. 278.
86
ANGILBERTI abbatis de ecclesia Centulensi Libellus, ed. G . Waitz, in: Monumenta Germaniae histórica. Scriptores 15,1, H a n n o v e r 1887, S. 178. S7
88
2 Cluny, III. Klosterkirche (Ende 11. Jh.). Rekonstruktion nach K. J. Conant 2
Ardiittktur
ILLMER 1 9 7 1 w i e A n m . 5 3 , S. 8 1 .
HARIULF, Chronique de l'abbaye de Saint-Riquier (V e siècle - 1104), publiés par Ferdinand Lot, Paris 1894, S. 1 1 8 : „In hoc enim coenobio duces, comités, filii dueum, filii etiam regum educabantur." (-= Collection des Textes pour servir à l'étude à l'enseignement de l'histoire).
18
FRIEDRICH M Ö B I U S
die ihre Qualifikation im kirchlichen Weihegrad nachzuweisen hatten. D i e ältesten Mönchskolonien Palästinas, Syriens und Ägyptens besaßen noch keine Priester, man ging zum eucharistischen Gottesdienst in die nächste Gemeindekirche. Später holten sich die Mönche die benachbarten Weltpriester zur Meßfeier ins Kloster, endlich installierten die Äbte, der Unruhe und Schwierigkeiten überdrüssig, die solche Abhängigkeit vom örtlichen Pfarrklerus mit sich brachte, einen ordinierten Kader im Kloster selbst. Entweder trat ein Priester in das Monasterium ein und wurde dadurch zum Priestermönch, dem die Verwaltung des gesamten Meßoffiziums oblag, oder ein Mönch, den der Abt dazu bestimmte, qualifizierte sich zum höheren geistlichen Amt. Über lange Zeit hinweg bezeugen die schriftlichen Quellen die Unlust der Mönche zur Übernahme einer solchen Verpflichtung, 89 die ja nicht nur die Beherrschung des Latein in Wort und Schrift verlangte, sondern auch mit einer erheblichen täglichen Arbeitsbelastung verbunden war. Das änderte sich schlagartig überall dort, wo sich die feudalen Verhältnisse stärker auszuprägen begannen. Nun scheint ein regelrechter „run" auf die Ordination eingesetzt zu haben, gingen Differenzierungsprozesse in der mönchischen Gemeinschaft vor sich, die das Bild der — relativ — homogenen urchristlichen Asketengemeinde in ein Abbild der Welt außerhalb der Klostermauern verwandelten. Innerhalb der Konvente bildete sich mit dem 8. Jh. die Schicht der Priestermönche heraus, die als „clerici" — als ordinierte Mönche — in deutlichen Gegensatz zu den „laici" traten, jenen Klosterinsassen, die mangels kirchlicher Weihen trotz Profeßformel und Kutte Laien geblieben waren. 9 0 Auch die „laici" teilten sich - wie das für Kloster Cluny nachgewiesen wurde in besondere Gruppen auf, in die „literati", die lesen konnten und die „illiterati, qui psalmos nesciunt, qui cantare nesciunt" 9 1 — die sich also auf der untersten Stufe kirchlicher Bildung befanden. D e r Priestermönch zelebrierte die Messe, der literatus betete Psalmen im Stundengebet, der illiteratus sprach nur das Vaterunser mit. D i e entscheidende soziale Grenze verlief zwischen den „Klerikern" — den Priestermönchen mit kirchlichen Weihegraden — und den nichtordinierten „Laien". Bereits im Kloster Corbie des 9. Jh. hatte man die Laienmönche und die Priester des Klosters als zwei gesonderte Klassen begriffen. 92 Honorius von Autun ordnete in einer Rogateprozession die Priester vor den Laienmönchen an, 9 3 selbst beim Scheren der Tonsur wurden die beiden Mönchs-
gruppierungen, die ja gemeinsam im „chorus" das Stundengebet absolvierten, getrennt aufgeführt. 94 Nichtliturgische Dienste, die ein gewisses M a ß an Bildung und Intelligenz verlangten und zudem eine besondere Bedeutung für die Klosterökonomie besaßen, versahen gleichfalls nur die Priestermönche. In Cluny stellten sie zum Beispiel den Sakristan, der den Kirchenschatz verwaltete und durch dessen Hände alle Opfergaben gingen, die das Volk an den Altären niederlegte, ferner die Betreuer der Gäste, der Armen und der Kranken. 9 0 D i e weitere Ausprägung der frühfeudalen Arbeitsteilung trieb die soziale Differenzierung im Kloster voran. Es entstand mit dem 1 0 , / l l . J h . als dritte Gruppe neben Priester- und Laienmönchen die der „conversi", der „fratres barbati", der Laienbrüder, die vor allem im Außendienst und in Leitungsfunktionen der klösterlichen Landwirtschaft Verwendung fanden. D i e Laienbrüder — nicht zu verwechseln mit den Laienmönchen 96 - entstammten gleichfalls dem zumeist niederen — Adel, 9 7 sie standen „den angesehenen und begüterten Kreisen vermöge ihrer Abkunft ständisch und verwandtschaftlich nahe." 9 8 Als Petershausener „barbati fratres" wegen einer gefährlichen Prügelei das Kloster verlassen mußten, war es die Gräfin von Bregenz, die herbeieilte „und mit vielen Bitten erreichte, daß sie wieder aufgenommen wurden." 9 9 D i e Laienbrüder wußten als Rittersöhne die
8 9 OTTO NUSSBAUM, Kloster, Priestermönch und Bonn 1 9 6 1 , S. 31 ff. ( = Theophaneia 1 4 ) . 90
Ebenda, S. 7 6 f.
91
METTLER 1 9 3 5 w i e A n m . 3 2 , S.
92
HEDWIG
GOLLOB,
Die
Privatmesse,
217.
Entwicklung
der
spätantiken
und
frühmittelalterlichen Klosteranlage des Abendlandes, in : Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 8 4 , 1 9 7 3 ( 3 / 4 ) , S. 2 7 1 - 2 8 5 . 9 3 HONORIUS AUGDSTODUNENSIS, Operum pars tenia. Liturgica, in: Patrologia Latina 1 7 2 , Paris 1 8 5 4 , Sp. 6 8 1 : „In primo clerici, in secundo monachi." 9 4 OTTO FEGER, Die Chronik des Klosters Petershausen, Lindau/Konstanz 1 9 5 6 , S. 1 0 5 : „ D e tonsura monachorum et clericorum." ( = Schwäbische Chroniken der Stauferzeit, Bd. 3 ) . 9D
WILHELMUS
SANCTUS,
Constitutiones
Hirsaugienses
seu
Gengenbacensis, in: Patrologia Latina 1 5 0 , Paris 1 8 8 0 , Sp. 1 0 7 8 : „Apocrisiarius, qui custodit ecclesiae thesaurum et in cujus manu est quidquid a popularibus ad altaria offertur, sacerdos esse deb e t ; " Sp. 1 1 1 1 : „custos hospitii, qui ex consuetudine est sacerd o s ; " Sp. 1 1 1 4 : „ . . . ab eleemosynario, qui est sacerdos;" Sp. 1 1 2 2 : „Infirmarius, qui sacerdos debet esse." 9 6 KASSIUS HALLINGER, W o h e r kommen die Laienbrüder? Analecta Sacri Ordinis Cisterciensis 12, 1 9 5 6 ( 1 / 2 ) , S. 16. 97
M E T T L E R 1 9 3 5 w i e A n m . 3 2 , S.
242.
98
METTLER 1 9 3 5 w i e A n m . 3 2 , S.
253.
99
FEGER 1 9 5 6 w i e A n m . 9 4 , S.
182.
In:
Die Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche Ablieferungen der Zinsbauern und Hörigen einzutreiben bzw. die landwirtschaftliche Produktion in den klösterlichen Grangien zu organisieren, die im wesentlichen die gleiche Rolle spielten wie die Meierhöfe innerhalb der weltlichen Grundherrschaften. 1 0 0 „ D e r planmäßige und systematische Einsatz der Konversen" verbürgte dann vor allem den Zisterzienserklöstern des 12. Jh. „höhere E r g e b n i s s e " im klösterlichen Eigenbetrieb. 1 0 1 Innerhalb des eigentlichen Mönchskonventes — der „inneren B r ü d e r " , der „fratres interiores" 1 0 2 — stand jedem „laicus" der Weg zum „presbyter" oder „sacerd o s " offen, sofern er die hierarchische Stufenleiter vom Pförtner, Lektoren, Exorzisten und Akolythen zu erklimmen imstande war. D e n „fratres exteriores", den „extra claustrum positi", den „fratres laici" 1 0 3 aber blieb der Zugang zu Lesen und Schreiben, zu jeglicher Bildung überhaupt versperrt. Sie durften keine Bücher haben, nicht in den Mönchsstand aufsteigen, nicht einmal mit den Mönchen verkehren. 1 0 4 D i e einzige geistig-geistliche Nahrung, die ihnen als Analphabeten zugestanden wurde, war „eine wöchentliche kurze Unterweisung in der Religion." 1 0 5 „Conversi und literati sind sich ausschließende Gegensätze", hatte Adolf Mettler schon 1935 festgestellt. 1 0 6 D i e Chance des sozialen Aufstiegs besaßen im Kloster des Frühfeudalismus nur die Gebildeten. Sie scheinen eifersüchtig darüber gewacht zu haben, daß ihre Privilegien nicht allen Angehörigen des Klosters zugutekamen. D i e adlige Genossenschaft des Monasteriums war in sich gestuft, sozial mobil, hochdifferenziert — die strukturelle Entsprechung der weltlichen Machtblöcke. D i e gesellschaftliche „Sozialordnung" war im Kloster „keineswegs aufgehoben." 1 0 7 D i e Spannungen zwischen den einzelnen Abteilungen dieser Feudalintelligenz dürften nicht unbeträchtlich gewesen sein. A u s dem Kloster Petershausen wird berichtet, daß die mit ihren Kleidern unzufriedenen Laienbrüder beinahe den Klosterkämmerer totge-
100
WERNER 1 9 5 8 w i e A n m . 18, S.
355.
101
WERNER 1 9 5 8 w i e A n m . 18, S.
356.
103 M E T T L E R 1 9 3 5 w i e A n m . 3 2 , S .
232.
103 M E T T L E R 1 9 3 5 w i e A n m . 3 2 , S . 10
'' W E R N E R 1 9 5 8 w i e A n m . 1 8 , S .
10
°
EBERHARD
HOFFMANN,
Das
232. 355.
Konverseninstitut
des
Cister-
zienserordens in seinem U r s p r u n g und seiner O r g a n i s a t i o n , Freiburg/Schw. 1 9 0 5 , S. 5 4 ( = Freiburger historische Studien 1). LOFI M E T T L E R 1 9 3 5 w i e A n m . 3 2 , S .
2*
107
PRINZ 1 9 6 5 w i e A n m . 8 1 , S .
108
FEGER 1 9 5 6 w i e A n m .
217.
534.
94, S. 182,
247.
19
schlagen hätten, 1 0 8 Mönche aus Lorsch beschimpften Hirsauer Laienbrüder als Leute, die nur dem Augenschein nach Büßer, in Wahrheit aber Genießer sind, die ihr früheres Geschlechtsleben fortsetzen 1 0 9 , „pflegen auch andere Ehen zu stören, ja selbst zu verletzen. Über die kommenden K i n d e r verstehen sie wohl sich zu trösten." 1 1 0 Wir halten fest: im 8. Jh., mit dem Übergang zu feudalen Macht- und Eigentumsverhältnissen entstand in den Klöstern West- und Mitteleuropas ein Anreiz zum Bildungserwerb, der zum Aufstieg zahlreicher Mönche in höhere Weihegrade und zur beträchtlichen Vergrößerung der Priesterzahl in den Konventen führte. In Centula besaßen in den 790er Jahren von 300 Mönchen bereits 30 die Priesterwürde, um 800 hatten nach jüngsten Berechnungen 23 bis 32% der Mönche diesen Status erreicht, für das 10. Jh. wurden Konvente nachgewiesen, die zu 55% aus „elen d " bestanden. 1 1 1 D e r Entwicklung vom Laienmönch- zum Priestermönchkonvent lief parallel die reichere Ausbildung der niederen kirchlichen Ränge. In der großen Centualer Rogateprozession gingen je sieben D i a k o n e , Subdiakone, Akolythen, Exorzisten, Lektoren und Pförtner mit 1 1 2 — also mindestens 4 2 Ordinierte in diesem Kloster. Für St. Denis sind aus dem A n f a n g des 9. Jh. bei einer Gesamtzahl von 132 monachi 33 Priester, 17 D i a k o n e , 24 Subdiakone und 7 Akolythen bezeugt, auf der Insel Reichenau entsprachen einem Konvent von 110 Mönchen 52 Priester und 15 D i a k o n e und in St. Gallen existierten zur Zeit des Abtes Salomon bei 101 Mönchen 4 2 Prie-
103
METTLER 1 9 3 5 w i e A n m . 3 2 , S.
253.
C o d e x L a u r e s h a m e n s i s . E r s t e r B a n d Einleitung, R e g e s t e n , Chronik. B e a r b . und neu hrsg. v . KARL GLÖCKNER, D a r m s t a d t 1 9 2 9 , S. 4 2 1 ( = Arbeiten der Historischen K o m i s s i o n f ü r den V o l k s s t a a t H e s s e n ) . Ü b e r s e t z u n g nach: Lorscher C o d e x . Urkundenbuch der ehemaligen Fürstabtei Lorsch. N a c h d e m lateinischen T e x t d e r Urschrift ins Deutsche übertragen von KARL JOSEF MINST, Lorsch 1 9 6 6 , S. 2 0 0 . 1 1 1 NUSSBAUM 1 9 6 1 wie A n m . 8 9 , S. 8 0 ; weitere A n g a b e n zu S a l z b u r g St. Peter (31 K l e r i k e r bei 97 Mönchen), M o o s b u r g (28 K l e r i k e r bei 71 Mönchen) und T r o y e s (7 K l e r i k e r bei 30 Mönchen) bei I s o MÜLLER, D i e Altar-Tituli des K l o s t e r planes, i n : Studien zum St. G a l l e r K l o s t e r p l a n , St. G a l l e n 1 9 6 2 , S. 1 3 1 ( = Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 4 2 ) ; vgl. auch PHILIPP HOFMEISTER, Mönchtum und S e e l s o r g e bis zum 13. Jh., in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des B e n e diktiner-Ordens und seiner Z w e i g e 65, 1 9 5 3 / 5 4 ( 3 / 4 ) , S. 2 2 8 . 110
112 Institutio Sancti Angilberti A b b a t i s D e D i u e r s i t a t e Officiorum ( 8 0 0 - 8 1 1 ) , i n : KASSIUS HALLINGER, Initia Consuetudinis Benedictinae. Consuetudines saeculi octavi et noni, Siegburg 1 9 6 3 , S. 2 9 7 ( = Corpus Consuetudinum M o n a s t i c a r u m , tom. I).
20
FRIEDRICH MÖBIUS
ster, 24 Diakone und 15 Subdiakone. 113 Vom 11. zum 12. Jh. vergrößerte sich auch der Bestand der Laienbrüder. In den Reformklöstern Hirsau, Petershausen, Zwiefalten und Schaffhausen muß mit 30, 50, 130, sogar 150 „äußeren Brüdern" pro Konvent gerechnet werden. 114 Um bei den Priestermönchen zu bleiben: Ihre zahlenmäßige Stärke, das Drängen der Konventmitglieder nach kirchlicher Beförderung ist aus den inneren Bedürfnissen der klösterlichen Liturgie nicht zu erklären. Die beiden Konventmessen, die täglich zu zelebrieren waren, „erforderten keineswegs eine so große Priesterzahl". 115 D a s Zauberwort, das die tiefste Ursache der innerklösterlichen Differenzierungsprozesse, diesen Ansturm der enterbten Adelssöhne auf kirchliche Bildungshöhen enthüllt, heißt „missa privata", Privatmesse, auch „missa solitaria", „missa specialis" oder „missa pecularis" genannt. 116 Sie wurde still gelesen, an einem Nebenaltar und ohne gläubiges Publikum. 117 Als notwendiger Ministrant wirkte ein Laienbruder, den ein stummes Zeichen des Priestermönchs an den Altar rief. 118 D i e für eine Privatmesse benötigten liturgischen Geräte 1 1 9 verwahrte in den cluniazensischen Klöstern der Hebdomadar, der Wochenpriester. 120 In den cluniazensischen Gewohnheiten regelte jeweils ein ganzes Kapitel den Ablauf einer privaten Messe. 1 2 1 Sie war, wie es scheint, im 6. Jh. bei den iroschottischen Mönchen entstanden, sie erfuhr einen bemerkenswerten Aufschwung im 8. Jh., vom 9. Jh. an gehörte sie zur täglichen Übung der Priestermönche, die sich geradezu nach ihr gedrängt zu haben scheinen. D a s 9. Jh. ist das der ersten Hochblüte der privaten Messe. D i e „gewaltige Steigerung der Frequenz der Meßfeier" 1 2 2 wurde kirchlich lizensiert durch die Synode von Tibur 895, die jedem Priestermönch täglich eine unbeschränkte Zahl von Messen zu lesen erlaubte. Gelegentlich verlangen zwar noch die cluniazensischen Ordnungen vom einzelnen Priestermönch, daß er nicht mehr als eine Messe täglich singt, aber sie heben das Gebot zugleich mit der Bemerkung wieder auf, daß dies nicht für den Fall einer „großen Notwendigkeit" gilt — Abt oder Prior genehmigen dann die erhöhte Leistung. 123 D i e Meßbücher enthalten seit dem 7./8. Jh. „eine Überfülle" von Vorlagen für private Messen, 60 Instruktionen allein im gelasianischen Sakramentar, über 100 im Fuldaer Sakramentar. 124 Walafrid Strabo entdeckte zur rechten Zeit das legitimierende Vorbild dieser geradezu zwanghaft gesteigerten Privatmessenzelebration am Heiligen Stuhl: Papst Leo hatte
sieben- bis neunmal täglich den Leib des Herrn geopfert. 125 Der Drang zur Privatmesse ging freilich nicht auf Impulse der Kirchenleitungen zurück, im Gegenteil: Zumindest die Äbte gerieten in Schwierigkeiten. Sie hatten für die strikte Durchsetzung des Stundengebetes zu sorgen, d e m - n a c h Benedikt-nichts vorgezogen werden durfte: „Nihil operi Dei praeponat u f "126 £ ) a s persönliche Interesse, das die Priestermönche mit der Privatmesse verband und das die Quellen mit der einhelligen Verwendung des Verbes „volere" auch sprachlich eindeutig markieren, 127 ließ mannigfach Störungen des Tagesablaufs entstehen. Zahlreiche Quellen der Zeit „spiegeln die Neigung wider, das Stundengebet zu kürzen und stellen fest, daß viele Kleriker beim Chorgebet fehlen." 128 „Aus Anlaß der privaten Messen wird die (klösterliche) Hauptmesse vernachlässigt", klagte Petrus Venera-
1 1 3 NUSSBAUM 1961 wie Anm. 89, S. 79. Weitere Angaben zu Disentis (24 Priester, 10 Diakone, 4 Subdiakone und 25 Laienmönche) und Müstair (16 Priester, 6 Diakone und 23 Laienmönche) bei MÜLLER 1962 wie Anm. 111, S. 130. Z u Salzburg St. Peter (bei 97 Mönchen 22 Priester und 9 Diakone), Moosburg (bei 71 Mönchen 22 Priester und 6 Diakone) und Prüm (bei 180 Mönchen 100 Priester, 40 Diakone und 40 Subdiakone) bei PHILIBERT SCHMITZ, Geschichte des Benediktinerordens, l . B d . , Einsiedeln/Zürich 1947, S. 253. 114
METTLER 1 9 3 5 w i e A n m . 3 2 , S . 2 4 5 .
115
NUSSBAUM 1 9 6 1 w i e A n m . 8 9 , S .
116
JUNGMANN
1962
wie
Anm.
126.
7, S.
283.
Vgl.
auch
ADOLPH
FRANZ, D i e Messe im deutschen Mittelalter. Beiträge zur G e schichte der Liturgie und des religiösen Volkslebens, Freiburg/Br. 1 9 0 2 , S . 115 ff., 178 ff., 2 0 4 ff. 117
BRAUN 1 9 2 4
wie Anm.
6, S. 3 7 5 f . ; NUSSBAUM 1 9 6 1
wie
A n m . 8 9 , S . 1 3 6 ; WILHELMUS 1 8 8 0 w i e A n m . 9 5 . , S p . 1 0 1 6 . 118
WILHELMUS 1 8 8 0 w i e A n m . 9 5 , S p . 1 0 1 5 ; UDALRICUS
1882
wie Anm. 20, Sp. 7 2 4 ; GUIDO A b b a s , Disciplina Farfensis et Monasterii S. Pauli Romae, in: Patrologia Latina 150, Paris 1880, Sp. 1 2 6 8 . 1 1 9 UDALRICUS 1882 wie Anm. 20, Sp. 7 1 6 : „omnia corporalia soient esse ad privatas missas." 120
UDALRICUS 1 8 8 2 w i e A n m . 2 0 , S p .
716.
Zum Beispiel WILHELMUS 1880 wie Anm. 95, Sp. 1 0 1 5 1020 cap. L X X X V I : „ D e privata missa quomodo sit cantanda, id est, legenda." m
M
JUNGMANN 1 9 6 2 w i e A n m . 7 , S . 2 8 9 .
WILHELMUS 1880 wie Anm. 95, Sp. 1 0 2 0 : „. . . quod nullus sacerdos in una die duas missas debet cantare, nisi magna cogat necessitas, et nisi domnus abba, vel prior ei concédât." M
M
JUNGMANN
1962
wie
Anm.
7,
S.
289;
BRAUN
1924
wie
Anm. 6 , S . 3 5 7 . 125
W A L A F R I E D STRABO w i e A n m . 7 9 , S p . 9 4 3 .
120
HIPPEL 1 9 5 3 w i e A n m . 6 6 , S . 7 9 .
z . B . UDALRICUS 1 8 8 2 wie Anm. 20, Sp. 6 6 8 : „sacerdos qui privatam missam cantare voluit". 1 2 8 AIMÉ-GEORGES MARTIMORT, Handbuch der Liturgiewissenschaft, B d . 1, Leipzig 1965, S. 377. 127
21
D i e Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche findet
es die Privatmesse, die den Stand der Priestermönche
sich noch 2ur gemeinsamen Pflichtübung ein. 129 Ru-
bilis, „ k a u m der vierte T e i l des K o n v e n t e s "
erzeugte? D i e katholische Forschung verlegt die Ent-
dolf G l a b e r hat die Geschäftigkeit beschrieben, die
stehungsursachen
in Cluny zumindest in der ersten H ä l f t e des Tages
Verlangen der G l ä u b i g e n " , in den Bereich der „per-
geherrscht haben muß. E s w a r hier Sitte, schrieb er,
sönlichen Andacht", 1 4 0 in eine sich jetzt ausbildende
von der ersten Morgenröte des Tages an bis zur Spei-
„neue Frömmigkeitshaltung" 1 4 1 nicht nur der Priester,
sestunde am M i t t a g ununterbrochen Messen zu le-
sondern auch des V o l k e s , das sich nach vermehrten
sen. 130 N o c h der Liber Ordinarius der Prämonstraten-
Gnadengaben sehnte. Tatsächlich lagen die Vorausset-
des liturgischen
Brauchs
in
„das
ser kennt das pausenlose Herantreten der Priester-
zungen der liturgischen A k t i v i e r u n g im frömmigkeits-
mönche an die A l t ä r e : „ E i n e r nach dem anderen und
geschichtlichen, im religiösen Bereich. D e m niedrigen
ohne
Stand der Produktivkraftentwicklung, der mangeln-
zeitlichen
Zwischenraum"
-
„unus
post
alium sine intervallo" — dürfen sie am selben Tisch
den Beherrschung
die Messe lesen. 1 3 1 D e r individuelle liturgische Ze-
setze entsprach auf dieser Stufe der. Menschheitsge-
lebrationstrieb
schichte ein D e n k e n , das die W e l t , w e i l sie undurch-
der
Regel
rieb
sich an den traditionellen,
festgelegten
kollektiven
von
Verpflichtungen
des Gesamtkonventes, er erreichte gelegentlich sogar deren Durchbrechung.
Den
Fuldaer
Gesellschaftsge-
schaubar und den Menschen nicht veränderbar schien, G o t t und den Göttern, Glücksgeistern
erund
war
Unglücksgeistern überantwortete. Auch die christliche
die Sache bereits wichtig genug gewesen, K a r l den
Erlösungstheologie hatte die A n g s t vor dem kommen-
G r o ß e n gegen ihren A b t zu H i l f e zu rufen: E r möge
den T a g und die Furcht vor dem T o d e nicht aus der
ihnen erlauben, häufiger Messen zu
Mönchen
der Natur- und
halten. 1 3 2
In Cluny
W e l t schaffen können. D i e Verketzerung der zahllosen
gingen die Priestermönche, w i e w i r gesehen hatten,
gentilgesellschaftlichen K u l t e und Bräuche, mit denen
ihren privaten Beschäftigungen auch während der ge-
sich der mythisch denkende Mensch T a g und Nacht,
meinsamen
auf
Chorstunden
nach.
Sie
brauchten
nur,
Schritt
und Tritt
magisch gesichert hatte,
als
wenn die G l o c k e zum G e b e t rief, einen Gehilfen zum
Aberglauben, weckte in breiter Front das Bedürfnis
Prior schicken, „accepta licentia", nach E r h a l t der Er-
nach neuen, nun christlich legitimierten Formen des
laubnis w a r e n sie
frei. 1 3 3
U m der Flut der persönli-
chen M e ß f e i e r n D ä m m e zu setzen, verlegten die Ä b t e die Privatmesse
in die Z e i t
kurz vor
Unglücks- und Dämonenschutzes, der apotropäischen Rituale,
der
magischen
Heilsbannung.
Die
Kirche
Sonnenauf-
gang. 1 3 4 W e r sie zelebrieren wollte, erhob sich also vor den übrigen Brüdern aus dem Bett.
Daneben
mußten freilich noch andere genehmigungsfreie Zeiträume zugelassen
werden. 1 3 5
W a r e n Prozessionen ge-
plant, die wegen ihres Z e i t a u f w a n d e s den Priestermönchen besonders ungelegen kamen, erließ die K l o sterleitung jeweils scharfe G e b o t e , die die Teilnahme erzwangen. 1 3 6 D e r von der Klosterdisziplin her selbstverständliche Grundsatz, während der Konventmesse keine anderen Messen zu lesen, 1 3 7 ist also o f t genug durchbrochen
worden.
Die
immer
wieder
einge-
schärfte Forderung, private Messen nicht zu singen, sondern nur still zu lesen, 1 3 8 sollte, w i e es scheint, die wechselseitigen Störungen in erträglichen Grenzen halten. D a s heilige O f f i z i u m w a r den Priestermönchen zur Pflicht geworden, die missa privata jedoch zum Bedürfnis. D i e
Priestermönche
„erstreben"
die
stille
Messe, hat O t t o N u ß b a u m gesagt. 1 3 9 D i e Frage sei erlaubt, welche Erscheinung die andere nach sich gezogen hat: W a r e n es die Priestermönche, die der Privatmesse zu solcher Verbreitung verhalfen oder w a r
120 p E T R U S VENERABILIS 1890 wie Anm. 33, Sp. 1027: „principalis missa negligebatur, ut vix quarta pars, cum eadem celebraretur, adesset." 130 RUDOLF GLABER, Monachus cluniacensis, Historiarum sui temporis libri quinqué, in: Patrologia Latina 142, Paris 1853, Sp. 6 9 2 : „a prima diei aurora usque in horam prandii . . . continua missarum celebrado." Vgl. auch GEORGES DUBY, Frühzeit des abendländischen Christentums 9 8 0 - 1 1 4 0 , Genève 1967, S. 135. 131
NUSSBAUM 1 9 6 1 w i e A n m . 8 9 , S.
199.
132
NUSSBAUM 1 9 6 1 w i e A n m . 8 9 , S.
221.
133
WILHELMUS 1 8 8 0 w i e A n m .
Sp
95,
1016:
„Si a d
horam
regulärem pulsatur signum, adjutorem suum mittit ad priorem et accepta licentia missam cantabit." 134
WILHELMUS 1 8 8 0 w i e A n m . 9 5 , S p .
135
WILHELMUS 1 8 8 0 w i e A n m . 9 5 , S p .
136
UDALRICUS 1 8 8 2 w i e A n m . 2 0 , S p .
137
PETRUS VENERABILIS 1 8 9 0 w i e
1081. 1020. 698.
Anm.
33, Sp.
1027:
„Statu-
tum est ut, dum major missa in conventu cantatur, nullus al : cubi in toto monasterio missam cantet." 138
UDALRICUS
wie Anm.
1882
95, S p .
wie
Anm.
20, Sp.
7 2 4 ; WILHELMUS
1 0 1 6 ; v g l . auch THEODOR KLAUSER,
1880
Kleine
abendländische Liturgiegeschichte. Bericht und Besinnung, Bonn 1 9 6 5 , S. 1 0 7 . 139
NUSSBAUM 1 9 6 1 w i e A n m . 8 9 , S.
140
JUNGMANN 1 9 6 2 w i e A n m . 7 , S . 2 8 4 f . ,
141
NUSSBAUM 1 9 6 1 w i e A n m . 8 9 , S. 1 5 2
132. ff.
291.
22
FRIEDRICH
3 Hirsau, Peter- und Paulskirche (Ende 11. Jh.). Rekonstruktion der Altaraufstellung antwortete auf die weltanschaulichen Bedürfnisse des Volkes mit der Entwicklung zahlloser Benediktionen, der Segnung aller der Dinge des täglichen Lebens, die Bedeutung für die Gläubigen besaßen. Adolph Franz' Buch „Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter" 1 4 2 ist ein Sammelwerk des christlichen Aberglaubens. D i e mittelalterliche Kirche reagierte auf die Ängste und Nöte der Menschen aber auch durch die Umfunktionierung der Messe zur Votivmesse. Die aus Christi Kreuzestod fließenden Gnadengaben besaßen die Macht, „aus Lebensgefahren und Nöten zu retten", 1 4 3 sie waren lenkbar auf alle geheimen und offenen Wünsche desjenigen, der sie um seiner jeweiligen Existenzprobleme willen bestellte. W i r geben einen - unvollständigen - Katalog der Einsatzmöglichkeiten von Votivmessen in der Darstellung des Jesuitenpaters und Kirchenhistorikers Josef Andreas J u n g m a n n : „Reise, ungerechte Bedrohung, Krankheit, verschiedene Bedrängnis, Hochzeit, Kinderlosigkeit, Geburtstag, Wachstum in der Liebe, Sterblichkeit, Viehseuchen, Trockenheit, heiteres Wetter, Krieg und Frieden." 1 4 4 Thietmar berichtete (einer Erzählung Gregors des Großen folgend), d a ß sich die Fesseln eines Gefangenen, für den seine Frau Messen lesen ließ, „so oft lösten, als sie Gottvater annehmbare Opfer für ihn darbrachte. Als der Gefangene befreit nach Hause zurückgekehrt war, hat er das ausdrücklich bestätigt." 1 4 5 D i e Votivmesse konnte „die subtilsten Einzelanliegen und Einzelwünsche" befriedigen, 1 4 6 sie w a r „wirksamstes Gnadenmittel", durch dessen „möglichst häufige Benutzung" die
MÖBIUS
Gläubigen „die Reichtümer der göttlichen Gnade in möglichst hohem M a ß e zu erwerben" suchten. 147 Es waren die fränkischen Könige, die sich ihrer, sie als magisches Mittel der Herrschaftssicherung nützend, zuerst in größerem Stile versicherten. Seit Pippins Königssalbung beanspruchten sie für ihre Person liturgische Akklamationen, die zwischen ihnen und e t w a der Gottesgebärerin M a r i a , den heiligen Erzengeln Michael, Gabriel und Raphael, Johannes dem Täufer, den Heiligen Stephanus, Martinus, Mauritius und den anderen Großen des christlichen Heroenhimmels vasallitische Schutz- und Trutzbeziehungen herstellten. 1 4 8 Sie förderten Fürbitten für ihre Person, die in die klösterlichen Liturgien eingefügt wurden 1 4 9 und im 9. und 10. Jh. eine beachtliche „Freudigkeit an der Komposition politischer Gebete" auslösten. 1 5 0 Unter ihrer Herrschaft breitete sich die „Missa pro Regibus", die „Missa pro Princibus" aus, entstand
142
ADOLPH
FRANZ,
Die
alter, 1 Bd , Freiburg/Br 1 4 3 Ebenda, S. 9.
kirchlichen
Benediktionen
im
Mittel-
1909.
144
JUNGMANN 1 9 6 2 w i e A n m .
145
THIETMAR VON MERSEBURG w i e A n m . 6 3 , S .
7, S.
288 25.
JOSEF MERK, A b r i ß einer liturgiegeschichtlichen Darstellung des Meß-Stipendiums, Stuttgart 1 9 2 8 , S. 2 8 146
147
NUSSBAUM 1 9 6 1
148
HILDEGARD
wie
NOBEL,
Anm.
Zeit der Karolinger, 2 B d e , Bd. 1, S. 1 4 (Masch.-Sehr) 149
89,
Königtum
ANNELIESE SPRENGLER,
S.
Diss.
Gebete
154
und
für
Heihgenverehrung
phil. den
Heidelberg Herrscher
im
zur
1956, früh-
mittelalterlichen Abendland und die verwandten Anschauungen im gleichzeitigen Schrifttum, Diss. theol. Göttingen 1 9 5 0 (Masch.Schr). 150
L U D W I G BIEHL, D a s l i t u r g i s c h e G e b e t f ü r K a i s e r u n d
Reich.
Ein Beitrag zur Geschichte des Verhältnisses von Kirche und Staat, Paderborn 1 9 3 7 , S. 7 8 ( = Görres-Gesellschaft, Veröffentlichungen der Sektion Rechts- und Staatswissenschaft 75).
Die Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche als Neuerung der karolingischen Liturgiereform 151 die „Missa Cotidiana pro Rege", die tägliche Messe für den König. 152 Den staatssymbolischen Charakter des liturgischen Herrscherdienstes hatte der Abt des Reichsklosters Centula mit aller Deutlichkeit bezeichnet. Die drei von ihm angeordneten Chöre bringen einmütig das Gotteslob dar „für das Heil des glorreichen Herrn, des Kaisers Karl und für die Dauer seiner Herrschaft" - „pro salute gloriosi domini mei augusti Karoli proque regnieius stabilitate". 1 5 3 Als besondere Ehrfurchtsform verlangte er die tägliche Zelebration heiliger Messen zu verstehen. Um sie zu garantieren, ließ er täglich mindestens 30 Brüder aus den verschiedenen Chören Privatmessen an verschiedenen Altären feiern. Zwei Priestermönche jedoch wurden von ihm verpflichtet, an jedem Tage morgens und mittags in feierlichster Form Messen zu halten, in denen „das Andenken an den ehrwürdigen Papst Hadrian und an den glorreichen Herrn, den Kaiser Karl, seine Gattin und seine Nachkommen" begangen wird - „memoria sanctissimi papae Adriani et gloriosi mei augusti Karoli, coniugis et prolis eius". Der Abt hatte sich verpflichtet gefühlt hinzuzufügen, daß wir nach dem Wort des Apostels gehalten sind, „für die Könige und alle, die in der Erhabenheit sind" Fürbitten und Gebete zu leisten. 154 Die Mönche von Lorsch waren schon 761 von Karl dem Großen aufgefordert worden, „für die Beständigkeit unseres Reiches ununterbrochen zu beten und in jeder Hinsicht unsere Herrschaft getreulich zu unterstützen." 155 Von Privatmessen handelte bereits das berühmte, wahrscheinlich 780 erlassene „Capitulare episcoporum" Karl des Großen. Jeder Bischof des fränkischen Reiches wurde hier - in der schweren Zeit der Sachsenkriege - verpflichtet, täglich drei Messen zu zelebrieren und dreimal den Psalter durchzubeten, und zwar einmal für den königlichen Herrn, das andere mal für das fränkische Heer, schließlich wegen der gegenwärtigen Trübsal. Desgleichen sollten die Presbyter tun. Mönche, Nonnen und Kanoniker hatten Psalmen zu singen. 156 Die Aktionen zur magischen Beschirmung der Zentralgewalt nahmen unwahrscheinliche Ausmaße an. Die Mönche von Fulda gelobten Ludwig dem Frommen im Jahre 828, allein während der Quadragesima für ihn, seinen Vater und das Heer 10 000 Messen zu lesen und ebensoviele Psalter zu beten. 157 Hrabanus Maurus versprach demselben Herrscher im Namen aller auf der Mainzer Synode des Jahres 847 versammelten Suffraganbischöfe und Äbte, daß für den Kaiser, seine Ge-
23
mahlin und seine Kinder 3 500 Messen gelesen werden sollten. 158 Noch das Kloster Cluny baute „einen riesenhaften Feierdienst auf", in dessen Zentrum „Gebete für feudale Dynasten" standen, „welche den Lehnsherrn, seine Frau und seine Sippe" einschlössen, „um das Heil seiner adligen, in der Welt lebenden . . . Sippen zu sichern." 159 Ihren eigentlichen Gegenstand fand die Privatmesse im Totenkult. Jede über dem Grabe eines Verstorbenen gelesene Messe stellte ein Totenopfer dar, das schon in der Antike der Ernährung und Stärkung des Toten auf dessen langem Weg durch die Ewigkeit gegolten hatte. Die Angst vor dem hungernden und dürstenden Toten, der unbefriedigt und allein gelassen sich schrecklich an den Lebenden rächt, ist religionsgeschichtliche Realität der letzten Jahrtausende der Menschheitsgeschichte und noch die Quelle zahlreicher Sterb- und Totenbräuche bis in die Neuzeit hinein. Der christlichen Religion bedeutete das am Grab gesprochene Gebet, der hier gesungene Psalm, die hier zelebrierte Wandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut des Erlösers eine Linderung der Qualen des Fegefeuers. Aaron Gurjewitsch hat diesen Komplex weltanschaulicher Vorstellungen in seinem Buch „Probleme der mittelalterlichen Volkskultur" eindringlich herausgearbeitet 160 (vgl. auch seinen Aufsatz in diesem Band). Die Flammen der Hölle schlugen um so furchtbarer über der Seele des Abgeschiedenen hin, je sündhafter der Lebende seine Erdenzeit verbracht hatte. Geistliche Opfer, dargebracht von den Zurückgebliebenen, vermehrten das Gewicht der guten Taten, das der Gläubige dereinst auf die Waagschale des Jüngsten Gerichts zu bringen hatte. Dem Toten beizustehen in seiner schwierigen Lage war vornehmstes Gebot der Nächstenliebe.
151
FRIEDRICH MÖBIUS, W e s t w e r k s t u d i e n , J e n a 1 9 6 8 , S. 7 6 .
152
SPRENGLER 1 9 5 0 w i e A n m . 1 4 9 , S . 1 6 f f . , 3 0 f f .
153
ANGILBERTI 1 8 8 7 w i e A n m . 8 6 , S .
178.
154
ANGILBERTI 1 8 8 7 w i e A n m .
178.
8 6 , S.
Lorscher Codex 1 9 6 6 wie Anm. 1 1 0 , S. 56. Lateinischer Text Codex Laureshamensis 1 9 2 9 wie Anm. 1 1 0 , S. 2 7 5 . 1 5 6 Karoli Magni Capitularía, in : Capitularía Regum Francorum 1, 1 8 8 3 , S. 5 2 ( = Monumenta Germaniae Histórica. Legum Sectio II). 155
157
NUSSBAUM 1 9 6 1
wie Anm.
8 9 , S.
159.
Concilium Moguntinum. 847. Oct. 1, in: Capitularía Regum Francorum 2, 1 8 9 7 , S. 1 7 3 ( = Monumenta Germaniae Histórica. Legum Sectio II). 168
159
HEER 1 9 4 9 w i e A n m .
2 8 , S. 3 9 8
AARON J. GUREVIC, Problemy kultury, Moskva 1 9 8 1 . 160
f.
srednevekovoy
narodnoy
24
FRIEDRICH M Ö B I U S
Vor allem kam es darauf an, dem Dahingegangenen die ersten Tage seines Schattendaseins zu erleichtern. 22 Bischöfe, 5 Abtbischöfe und 17 Äbte aus Frankreich, Deutschland, Italien, der Schweiz und dem heutigen Belgien versicherten sich im berühmten „Totenbund von Attigny" der Bereitschaft, für jeden aus ihrem Kreise, den der Herr abberief, 100 Messen zu lesen und 100 Psalter zu singen. 161 Im Jahre 770 - acht Jahre später - bildeten die Bischöfe und Äbte Bayerns ein gleiches Organ kollektiver Totenhilfe: Jeder von ihnen liest 100 Messen auf den Tod eines Mitglieds der Verbrüderung. 30 Messen wollten die hohen Herren selbst absolvieren, die restlichen 70 durften sie den ihnen unterstellten Priestern und Priestermönchen überlassen. 162 Erzbischof Lullus von Mainz wies im selben Jahrhundert die Presbyter seiner Erzdiözese an, für den verschiedenen Bischof von Meaux 30 Messen zu lesen. 163 Eine Salzburger Synode beschloß 799 die Gründung einer regelrechten „Vertrauensmännerorganisation": An jedem Bischofssitz soll ein Kleriker bestimmt werden, „der die einlaufenden Todesanzeigen in Empfang nimmt und Namen und Todestag der Verstorbenen den Äbten, Äbtissinnen und Weltpriestern der ganzen Diözese kundtut, damit sie ihren Verpflichtungen nachkommen können." 164 Bis zu 1000 Messen und mehr, „Hekatomben von Messen" 165 dürften für den einzelnen Toten erreicht worden sein durch diese manchmal weite Territorien überspannenden Gebetsverbrüderungen. Die Vereinbarungen der Klöster von St. Gallen und der Insel Reichenau sahen vor, daß beim Eintreffen einer Todesnachricht im befreundeten Kloster alle Priestermönche - „cum primum potuerint", sobald sie konnten, hieß es später bei den Cluniazensern 166 - je drei Messen lasen und jeder Laienmönch einen Psalter betete, am 7. und 30. Tage danach sang jeder Priestermönch jeweils eine weitere Messe und jeder Laienmönch betete 50 Psalmen. 167 Die Todeskunde des früheren Grafen von Cerdagne durchlief in den Jahren 1050 und 1051 auf dem Weg von der spanischen Grenze bis nach Lüttich und Maastricht 133 Klöster, die der Äbtissin Mathilde von Caen - einer Tochter Wilhelm des Eroberers - 247 fromme Institutionen, 168 jedesmal eine Fülle memorialer Aktivitäten auslösend. Der Bote mit dem „rotulus" um den Hals, dem Pergamentstreifen von ca. 25 cm Breite, der die Todesangaben enthielt, war durch England gewandert, dann durch die ganze Normandie und die Bretagne, „um schließlich in Mittel- und Westfrankreich seinen Weg zu vollenden." 169 D a je-
des von ihm besuchte Kloster dem Rotulus Angaben über die Zeit der Ankunft des Boten, über den Namen des Abtes und die der hier jüngst verstorbenen Brüder hinzugefügt und man von Kloster zu Kloster fleißig Pergamentstreifen um Pergamentstreifen aneinandergenäht hatte, erreichte das „Trauerrundschreiben" für Mathilde endlich eine Länge von 20 m. 170 Jeder der im Lande umhergetragenen Rotuli gewann den Charakter einer „lebendigen Chronik". 171 In der Mitte des 9. Jh. stand das Kloster St. Gallen mit 39, das Kloster auf der Reichenau sogar mit über 100 Konventen in Gebetsverbrüderung und damit im ständigen Austausch großer Listen von „Todesanzeigen". 172 Die Reichenauer „societas" umspannte ein Territorium, das von Benevent und Rom über Lyon, Paris und Rouen bis nach Corvey und Werden reichte. 173 Im 11. Jh. enthielt das Reichenauer Gedenkbuch 40 000 Namen, für die die Priestermönche einst die Totenmessen gelesen hatten. 174 Kassius Hallinger hat dazu bemerkt: „Wie man mit den Totenoffizien überhaupt fertig geworden ist, kann kein Mensch mehr sagen. Auf der Reichenau hat je-
1 6 1 Concilium Attiniacense, in: Concilia aevi Karolini 1, 1906, S. 72 ( = Monumenta Germaniae Histórica. Legum Sectio III. Concilia II.). Vgl. dazu auch ADALBERT EBNER, Die klösterlichen Gebets-Verbrüderungen bis zum Ausgange des karolingischen Zeitalters. Eine kirchengeschichtliche Studie, Regensburg/New
York/Cincinnati
1 8 9 0 , S. 5 1 ; KARL SCHMID und JOACHIM WOL-
LASCH, Die Gemeinschaft der Lebenden und Verstorbenen in Zeugnissen des Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster 1, 1967, S. 371 f. 1 6 2 Concilium Dingolfingense, in: Concilia wie Anm. 161, S. 97. 163
NUSSBAUM 1 9 6 1 w i e A n m . 8 9 , S. 1 6 4 .
164
EBNER 1 8 9 0
wie
Anm.
161,
S.
76.
Vgl.
auch
KONRAD
BEYERLE, Die Kultur der Abtei Reichenau, 1. Halbbd., München 1925, Neudruck Aalen 1970, S. 301. 1 6 5 KASSIUS HALLINGER, Neue Fragen der reformgeschichtlichen Forschung, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 9, 1957, S. 27. 166
WILHELMUS 1 8 8 0 w i e A n m . 9 5 , S p . 1 1 4 0 .
167
BEYERLE 1 9 7 0 w i e A n m . 1 6 4 , S . 4 1 5 .
168
SCHMITZ 1 9 4 7 w i e A n m . 2 7 , S. 2 9 2 .
169
SCHMITZ 1 9 4 7 w i e A n m . 2 7 , S. 2 9 2 .
170
SCHMITZ 1 9 4 7 w i e A n m . 2 7 , S. 2 9 1 ; v g l . f e r n e r EBNER 1 8 9 0
wie Anm. 1 6 1 , S. 8 0 f., 1 5 6 . 171
EBNER 1 8 9 0
wie Anm.
161,
S.
156. Vgl.
auch
CHARLES
WITTMER, Die kulturgeschichtliche Bedeutung der Totenbücher am Oberrhein, in: Festschrift für Hermann Heimpel, 3. Bd., Göttingen 1972, S. 6 6 8 - 6 7 6 ( = Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 36,3). 172
EBNER 1 8 9 0 w i e A n m . 1 6 1 , S. 4 4 .
173
EBNER 1 8 9 0 w i e A n m . 1 6 1 , S. 4 , 4 4 .
174
SCHMID u n d WOLLASCH 1 9 6 7 w i e A n m . 1 6 1 , S. 3 7 3 .
Die Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche ner Dienst Formen angenommen, die die Grenzen des Möglichen und Durchführbaren überschritten haben." 173 Die Gebetsverbrüderung breitete sich im 8. und 9. Jh. gleichzeitig mit der Privatmesse aus, deren Entwicklung sie wesentlich trug. Sie erfuhr eine neue Steigerung von der Mitte des 10. Jh. an, um ihre „höchste Blütezeit" im 11. und 12. Jh. zu erreichen. 176 Als „Hauptinhalt der Gebetsverbrüderung" hat Otto Nußbaum die „stattliche Anzahl von Privatmessen" bezeichnet, 177 die bei jedem Todesfall die Partner zu erbringen hatten. Die cluniazensischen Gewohnheiten gingen ins Detail: Alle, die es vermögen, zelebrieren noch am selben Tag die Messe, da die Todesnachricht eintrifft, „alle Priester" singen die Messe, „jeder Priester" singt sie. 178 Um der unüberschaubar gewordenen Namenmassen Herr zu werden, führte Kloster Cluny dann den Allerseelentag ein, an dem die Priestermönche verpflichtet waren, private Messen für alle je Verstorbenen zu leisten. 179 In die Gebetsverbrüderungen ließ sich der Hochadel einschließen. Die Mönche von Montecassino beteten für die deutschen Kaiser des 11. und 12. Jh., für die langobardischen und normannischen Fürsten von Capua, für Robert Guiscard und seine Angehörigen und Nachfolger in Apulien, für König Roger von Sizilien sowie „die Grafen aus der engeren und weiteren Umgebung." 180 Das Totenbuch von Durham enthielt „die Namenreihen altenglischer Fürsten", 181 im Kloster Farfa scheint es sogar einen eigenen Friedhof für Weltleute gegeben zu haben, die sich dieses Totendienstes hatten versichern können. 182 Dank solcher Umstände und Verbindungen erlangte der Normannenherzog Drogo am Ende unseres Zeitraumes - im 12. Jh. gegen den Ansturm des Höllenfeuers eine TausendSeelenmessen-Gabe, wurde Joscellin Bodellus, einem französischen Adligen derselben Zeit, ermöglicht, sich gleichfalls 1000 Messen für den Sterbefall zu sichern. 183 Neben die religiöse Hilfe am Todestag selbst und kurz danach trat die langfristige Betreuung des Toten in Gestalt des Jahrgedächtnisses oder des „Seelgeräts", wie man im späten Mittelalter sagte, auch sie realisiert über die missa privata. Erst die kontinuierliche Versorgung der abgeschiedenen Seele mit geistlichen Gnadengaben verbürgte einen dauernden Erfolg. Auch das hat Aaron Gurjewitsch ausführlich und überzeugend belegt. Als reinen religiösen Liebesdienst darf man noch die liturgischen Übungen verstehen, die der schottische Mönch Marianus über zehn Jahre hinweg
25
am Grabe seines Mitbruders Animclades absolvierte. Ständig leuchteten hier Kerzen und ertönten Psalmen, „täglich habe ich zu Füßen (des Freundes) Messen gesungen." 184 Zu eindeutigen Instrumenten der Familienpolitik entwickelten sich die Totendienste der Herrscherhäuser, die so manche Klosterkirche in einen Ruhmestempel der Dynastie verwandelten. Wer hier das Begräbnisrecht erworben und die Verpflichtung zur Gedächtnispflege dem jeweiligen Konvent auferlegt hatte, ging nicht nur religiös gut gewappnet dem Jüngsten Tag entgegen: Der tat auch unter den Lebenden sein Möglichstes zur Mehrung von Ruhm und Autorität. Aus der Liste der von Karl Heinrich Krüger zusammengestellten fränkischen, angelsächsischen und langobardischen „Königsgrabkirchen" des 6 . - 8 . Jh., die durch zahllose weitere Beispiele landesherrlicher Grabkirchen bis weit in das 12. Jh. (und darüber hinaus) erweitert werden könnte, greifen wir das Königskloster St. Denis heraus. In der Nähe des hl. Dionysius, des ersten Apostels Galliens, des Apostels der Franken, zur letzten Ruhe gebettet zu werden, war seit Dagobert I. (f 639) vornehmstes Vorrecht der fränkischen Herrscher. Karl Martell ruht hier, Pippin, Bertrada, Karl der Kahle. Hier wollte Karl der Große bestattet werden. Mit jeder königlichen Beerdigung ergingen Gebetsauflagen, die vor allem „das Gebet pro stabilitate regni" betrafen, den „Gebetsdienst für die Dynastie". 185 Im Jahre 769 installierte hier Karl der Große 15 Priestermönche, die „die et nocte" Psalmen singen und Messen lesen soll-
175
HALLINGER 1 9 5 7 w i e A n m . 1 6 5 , S. 2 7 .
176
EBNER 1 8 9 0 w i e A n m . 1 6 1 , S. 3 2 f .
177
NUSSBAUM 1 9 6 1 w i e A n m . 8 9 , S. 1 6 2 .
178
NUSSBAUM 1 9 6 1
BERNARDUS
1726
w i e A n m . 6 4 , S. 1 9 8 ; UDALRICUS 1 8 8 2 w i e A n m . 2 0 , S p .
wie Anm.
89,
S. 2 2 3 ;
775;
WILHELMUS 1880 wie Anm. 95, Sp. 1 1 4 3 : „Unusquisque sacerdos cantat missam pro eo." 179
UDALRICUS 1 8 8 2 w i e A n m . 2 0 , S p . 6 7 3 , 6 8 9 ; GUIDO 1 8 8 0
wie Anm. 1 1 8 , Sp. 1 2 4 2 . 1 8 0 HEINRICH DORMEIER, Montecassino und die Laien im 11. und 12. Jahrhundert. Mit einem einleitenden Beitrag 2ur Geschichte Montecassinos im 11. und 12. Jh. von HARTMUT HOFFMANN, Stuttgart 1979, S. 121 ( = Schriften der Monumenta Germaniae Histórica 27). 181
BEYERLE 1 9 7 0 w i e A n m . 1 6 4 , S . 2 9 5 .
GUIDO 1880 wie Anm. 118, Sp. 1 2 5 1 : „cimiterium ubi laici sepeliantur." 182
183
NUSSBAUM 1 9 6 1 w i e A n m . 8 9 , S . 1 6 2 .
18/>
NUSSBAUM 1 9 6 1 w i e A n m . 8 9 , S . 1 4 3 .
185
K A R L HEINRICH KRÜGER, K ö n i g s g r a b k i r c h e n
der
Franken,
Angelsachsen und Langobarden bis zur Mitte des 8. Jh., München 1971, S. 184 ( = Münstersche Mittelalter-Schriften 4).
26
FRIEDRICH MÖBIUS
ten, 775 befahl er wieder einen immerwährenden Memorialdienst für ihn und seine Nachkommen einzurichten. 186 Im Speyerer Kaiserdom beteten täglich 12 verheiratete Laien - die sog. „Stuhlbrüder" „während im Chor die kirchlichen Tagzeiten gesungen und gebetet wurden, in ihren Betstühlen zu Seiten der Kaisergräber für die im D o m e beigesetzten deutschen Herrscher 200 Vaterunser und Ave." 187 Noch am Anfang des 15. Jh. stiftete der meißnische Markgraf Wilhelm der Einäugige über dem Grabe seiner Gemahlin in der Domkirche einen neuen Altar, dem er zwei Kleriker zuordnete mit der alleinigen Maßgabe, „das ganze Jahr hindurch alle Wochen, Montags, Dienstags, Mittwochs und Freytags Seelen-Messen, Sonntags aber eine Messe de sacra trinitate, Donnerstags eine Messe de sancto corpore Christi, und Sonnabends eine Messe de s. Maria Magdalena & beata virgine Maria zu lesen." 188 Seinen ,.Nachfolgern in der Regierung" 1 8 9 schärfte er gleichzeitig ein, die von ihm gestiftete Einrichtung in Ehren zu halten - totenkultisch motivierter Privatmessendienst vom frühen bis zum späten Mittelalter! i Eine Votivmesse mußte bezahlt werden. Sie unterschied sich darin nicht prinzipiell von anderen kirchlichen Amtshandlungen, die von der T a u f e über die Kommunion, Eheeinsegnung und Beichte bis zur Letzten Ölung und dem Begräbnis „Stolgebühren als Gegengabe" verlangten. 190 D e r mittelalterliche Pfarrzwang, der das Recht solcher Handlungen mitsamt deren Einnahmen einer bestimmten Kirche zuwies, war eine nutzbare Gerechtsame wie „Mühlen-, Backofen- und Gewerbebann" auch. 191 Auch die „missa publica", die öffentliche Gemeindemesse forderte Opfergaben vom Volk. Nach dem Urteil der katholischen Forschung haben während des Mittelalters „die Laien die Kommunion nie umsonst empfangen." 1 9 2 Manche Leute opfern Gold, manche Silber, manche „andere Sachen"-, schrieb Honorius von Autun. 1 9 3 Unter den „alia substantia" sind vor allem „Erzeugnisse der Naturalwirtschaft" zu verstehen. 194 Das Einsammeln der Opfergaben war in den cluniazensischen Klöstern Sache des „Apocrisiarius", des Schatzmeisters der Kirche. 195 Noch eine Synode des Jahres 1239 bestimmte, daß die Gläubigen nach der Spendung der Kommunion gezwungen werden sollen, das an materiellen Werten abzuliefern, „was frommem Herkommen entspricht." 196 „Das Opfergeld gehört(e) der Priesterschaft," 197 die „oblationes fidelium" bildeten „einen Teil der Einkünfte der einzelnen Kirchen und ihrer Diener" 1 9 8 . Es gab Opfermöglichkeiten „coram cruce",
„coram imagine" (vor einem Bildwerk), „in cimiterio" (auf dem Friedhof), „ad truncum" (am Opferstock). 199 Die vielen Hunderte von Münzen, die unter dem Fußboden mittelalterlicher Kirchen gefunden wurden, deuten - etwa seit dem 12. Jh. - auf den Gebrauch
186 187
pitels.
Ebenda, S. 185. Chortegel und jüngeres Seelbuch des alten Speierer DomkaHrsg.
v.
KONRAD
VON
BÜSCH
und
FRANZ
XAVER
GLAS-
SCHRÖDER, 1 B d , S p e i e r a m R h e i n 1 9 2 3 , S. X V I I I . 188
J O H A N N FRIEDRICH U R S I N U S , D i e
Geschichte
der
Domkirche
zu Meissen, aus ihren Grabmälern historisch und diplomatisch erläutert, Dresden 1782, S. 10. 189
Ebenda, S. 10 GEORG SCHWAIGER, Opfergänge im Bistum Passau am Beginn des 19 Jh., in: Liturgie. Gestalt und Vollzug. Joseph Pascher zum 70. Geburtstag, München 1963, S. 316 ff 190
191
ALFONS
FEHRINGER,
Die
Klosterpfarrei.
Der
der Ordensgeistlichen nach geltendem Recht mit schichtlichen Überblick, Paderborn 1958, S. 30. 192 PETER BROWE, D i e häufige Kommunion im Münster/W. 1938, S. 134 193
HONORIUS
AUGUSTODUNENSIS
wie
Anm. 93,
Pfarrdienst
einem
ge-
Mittelalter,
Sp. 5 5 3 :
„Qui-
dam de populo aurum, quidam argentum, quidam de alia substantia sacrificant." 19
'' SCHWAIGER 1 9 6 3 w i e A n m . 1 9 0 , S
193
316
WILHELMUS 1 8 8 0 w i e A n m . 9 5 , Sp 1 0 7 8 :
„Aprocrisianus,
qui custodit ecclesiae thesaurum et in cujus manu est quidquid a popularibus ad altaria offertur." 196
BROWE 1 9 3 8 w i e A n m . 1 9 2 , S.
197
SCHWAIGER 1 9 6 3 w i e A n m . 1 9 0 , S . 3 2 1
108
STEPHAN HILPISCH, D e r
136
Opfergang
in
den
Benediktiner-
klöstern des Mittelalters, in. Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 59, 1 9 4 1 / 4 2 (2/3),
S. 8 6 ,
e b e n s o THEODOR KLAUSER, K l e i n e
Liturgiegeschichte. 199
Bericht und Besinnung, Bonn
abendländische
1965, S. 111
GEORG SCHREIBER, U n t e r s u c h u n g e n z u m Sprachgebrauch d e s
mittelalterlichen Oblationenwesen. Ein Beitrag zur Geschichte des kirchlichen Abgabenwesens und des Eigenkirchenrechts, Diss. theol. Freiburg/Br. 1913, S. 10.
4
Rom, Westpartie der frühchristlichen Peterskirche
Die Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche von Klingelbeuteln während der Meßgottesdienste. 200 Die durch die Menge weitergereichten Münzen fielen offensichtlich öfters zu Boden. Um den geschäftlichen Aspekt des Handels mit der Gnade Gottes soweit wie möglich im Dunkeln zu belassen, gab die Kirche der Zahlung des messekaufenden Gläubigen einen „apotropäischen Zuschnitt", stilisierte sie das „Reichnis der oblatio" um in eine individuell wirkende „Schutzmacht gegen das Böse". 201 Die Abgabe des Volkes war der Priesterschaft so wichtig, daß katholische Geistliche noch im 19. Jh. gegen Versuche auftraten, die missalen Opfergänge vor den Gottesdienst oder an dessen Ende zu verlegen. Im ersteren Falle würden „gewiß sehr viele Pfarrkinder geflissentlich zu spät" kommen (um nicht opfern zu müssen), im letzteren könnten sie sich „ohne Opfergang davonschleichen". Die Patres waren eher bereit, eine empfindliche „Störung der Liturgiefeier" hinzunehmen und mit Gaben bedacht zu werden, „die in die Kirche wenig passen", etwa mit lebenden Tieren, als ihre Einkünfte geschmälert zu sehen. 202 Um den Charakter eines Kaufvertrages in Sachen Seligkeit zu verschleiern, durften die Priester die Zahlungen der Gläubigen erst während der Messe entgegennehmen: „Wir erneuern die Bestimmung, daß die kirchlichen Sakramente umsonst gespendet werden müssen - „ut sacramenta ecclesiastica gratis exhibeantur" - „und daß vorher nichts dafür erbeten oder verlangt werden darf", hieß
5 Cluny, Ostpartie der II. Klosterkirche (Mitte 10. Jh.)
27
es im Jahre 1239. 203 Die synadole Erklärung gebot jedoch im unmittelbar folgenden Satz, die Gläubigen „durch Verhängung kirchlicher Maßnahmen" zur anschließenden Opfergabe zu zwingen. Die Kirche verlangte von ihren Dienern, darauf zu achten, daß nicht gleichzeitig, sondern nacheinander „die eine Hand die Eucharistie reicht und' die andere das Geld nimmt." 204 Der „Amtsdienst der Erlösung" 205 war bereits im Kloster des frühen Feudalismus in die ökonomische Verwertung geraten. Als besonderer Quellpunkt kirchlicher, speziell klösterlicher Finanzwirtschaft bildete sich die privat bestellte Votivmesse heraus. Der ihrer
200
GÜNTER
P FEHRING,
Der
Beitrag
der
Archäologie
zum
„Leben in der Stadt des späten Mittelalters", in: Das Leben in der Stadt des Spätmittelalters, Wien 1 9 7 7 , S. 2 4 ( = Veröffentlichungen des Instituts für mittelalterliche Realienkunde 2 [Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist.-Klasse, SB 325]). 3 0 1 GEORG SCHREIBER, Die Zwölf Heiligen Nächte im französischen Eigenkirchenrecht. Rechtsbrauchtum und Volksliturgie in der Isle de France und in Flandern, in • Historisches Jahrbuch 77, 1 9 5 8 , S. 2 2 0 . 202
SCHWAIGER
203
Concilium Turonense, celebratum a. D M C C X X X I X , in
1963
wie
Anm. 190,
IOANNES DOMINICUS MANSI, S a c r o r u m
S
316,
321.
conciliorum n o v a
phssima collectio, Neudruck 1 9 0 3 , Sp 4 9 8 204
BROWE 1 9 3 8 w i e A n m . 1 9 2 , S. 2 3 6 f.
205
BROWE 1 9 3 8 w i e A n m . 1 9 2 ,
S.
137.
6 Cluny, Ostpartie der III. Klosterkirche (Ende 11. Jh.)
et
am-
28
FRIEDRICH M Ö B I U S
Heilkräfte Bedürftige leitete den Kaufkontrakt ein mit der Bitte: „missam celebrare pro me", 206 er erfüllte die Bedingungen des Vertrages durch die anschließende „oblatio ad altare" oder „oblatio ad manus presbyteri", die „oblatio ad manum suam, dum celebravit", die Gabe auf den Altar oder in die Hand des Priesters, während er zelebriert. 207 Es war auch erlaubt, dem Priester etwas auf das Ende der Stola zu legen, das hieß dann „ad stolam offere" 208 oder Vermögen zu geben „am Altar in die Stola". 209 Jenseits offizieller kirchlicher Sprachregelung hieß dieser Vorgang schlicht und einfach „missam comparare"; eine Messe erwerben. Noch heute fragt der katholische Gläubige „Was kostet die Messe?", den Preis legen die jeweiligen „Diözesantaxen" fest. 210 Die Bestellung einer Privatmesse besaß bereits im Mittelalter den „Charakter eines Rechtsgeschäftes", bei dem der Altar als „Zahlstätte" fungierte. 211 Die Annahme eines Meßstipendiums so der offizielle Ausdruck für die Bezahlung einer Privatmesse - begründete „echte vertragliche Pflichten", mit der Erfüllung des Meßauftrages „gehört die Gabe unwiderruflich dem Priester". 212 Das Geben von Meßstipendien galt der Kirche „als lobenswerte Sitte", sie hat es „als rechtmäßigen Brauch anerkannt." 213 Einzelgaben „ad manus presbyteri" blieben Eigentum des Zelebranten, die Priestermönche nahmen daher - „wegen der Oblationen" - „die vielen Meßaufträge . . . sehr gern an." 214 Größere Einkünfte, insbesondere die Uberweisungen von Grund und Boden, gingen an den ganzen Konvent, sie waren „sowohl dem Klosterökonomen als auch den einzelnen Priestermönchen für ihr peculium ( = Sondergut, Sparpfennig) sehr willkommen." 215 Als Gaben hat man in Cluny entgegengenommen: Weiden, Wiesen, Wälder, Gewässer, Mühlen, Ackerland, Wein- und Gemüsegärten, Herrenhöfe, Wohnhäuser, Kirchen, Dörfer, Knechte, Mägde, Hörige beiderlei Geschlechts („mancipia utriusque sexus"). 216 Mit entwickelterer Ware-Geld-Beziehung wurden Privatmessen dann in barer Münze bezahlt. In Lübeck entrichtete der Besteller einer Messe, die zum Jahrestag des Todes eines Menschen einmal stattfand, umgerechnet etwa 450 heutige Mark, in Augsburg waren es im 14. Jahrhundert 1500 heutige Mark. Eine Ewigmesse, die ein Priester für alle Zeiten zu festgelegten Terminen las, brauchte zu ihrer Stiftung 42000 heutige Mark, sie erforderte ein Kapital (wie gesagt: im 14. Jh.), das ungefähr „dem Kaufpreis eines großen Wohnhauses in guter Lage entsprach". 217 In solchen Fällen war natürlich das Kloster, nicht der zelebrierende Priester, der Nutznießer des gestifteten
Vermögens. Die klösterliche Form der Auszahlung von Anteilen aus Meßeinkünften an die jeweiligen Klerikermönche bestand gewöhnlich in Zulagen zur Mahlzeit an den Tagen, da die betreffende Stiftungsmesse gelesen wurde. In manchem großen Kloster oder Domherrenstift hieß deshalb das „Anniversarienregister", das die täglichen Privatmessenverpflichtungen enthielt, auch der „Speise- oder Freßzettel", 218 in Speyer nannte man eine Totenmesse, für deren Zelebration ein „Wecken" (eine Semmel) ausgegeben wurde, die „Wecksmesse". 219 Die Priestermönche konnten sich bei florierendem Privatmessengeschäft „fast bey einem jeden Tag im Jahre auf eine gute Mahlzeit sichre Rechnung machen." 220 Die kirchlichen Institutionen waren nicht eben wählerisch in den Mitteln, wenn es galt, sich eines lukrativen Meßauftrages zu versichern. Am Anfang des 12. Jahrhunderts stritten sich die Kleriker einer Pfarrkirche in der Nähe von Capua mit den Mönchen einer benachbarten Abtei um den Leichnam eines angesehenen Mannes. Sie fielen in das Kloster ein, verprügelten den Abt und mehrere
208
NUSSBAUM 1 9 6 1
207
MERK 1 9 2 8 w i e A n m . 1 4 6 , S. 3 2 .
208
MERK
1928
wie
w i e A n m . 8 9 , S. Anm. 146,
172.
S. 3 4 ;
ferner:
FRANZ
XAVER
REMLING, Urkundenbuch zur Geschichte der Bischöfe zu Speyer (Ältere Urkunden), Mainz 1 8 5 2 , S. 3 4 8 (Urkunde v o m 1 2 . Juni 1277): ne oblaciones ad stolam recipiat manuales;" S. 4 6 8 (Urkunde v o m 2 7 . A p r i l 1 3 1 3 ) : sacerdos . . . missam dicet et oblationes, quae sibi ad stolam offeruntur, recipiet." Vgl. SCHREIBER 1 9 1 3 w i e A n m . 1 9 9 , S .
14.
Urkundenbuch der Stadt Straßburg, 3. Bd. 1 2 6 6 - 1 3 3 2 , bearb. v o n ALOYS SCHULTE, Straßburg 1 8 8 4 (Urkunden und Akten der Stadt Straßburg, I. Abt.), S. 3 2 2 (Urkunde v o m 1 1 . Januar 1 3 2 5 ) : „pecuniam sacrificandam ad altaría ad stolam." 209
2 1 0 KLAUS MÖRSDORF, Erwägungen zum Begriff und zur Rechtfertigung des Meßstipendiums, in: Theologie in Geschichte und Gegenwart. Michael Schmaus zum 60. Geburtstag, München 1 9 5 7 , S. 1 0 5 , 1 1 8 ff. 211
MERK 1 9 2 8 w i e A n m . 1 4 6 , S. 9 4 ,
212
MÖRSDORF 1 9 5 7 w i e A n m . 2 1 0 ,
2,3
MÖRSDORF 1 9 5 7 w i e A n m . 2 1 0 , S .
214
NUSSBAUM 1 9 6 1
w i e A n m . 8 9 , S. 1 7 1
215
NUSSBAUM 1 9 6 1
w i e A n m . 8 9 , S. 1 7 2 f.
216
WILLIBALD
JORDEN,
Das
96.
S. 1 0 4 ,
108.
103. f.
cluniazensische
Totengedächtnis-
wesen vornehmlich unter den ersten Äbten Berno, O d o und A y mand ( 9 1 0 - 9 5 4 ) , Münster/W. 1 9 3 0 , S. 25 ( = Münstersche Beiträge zur Theologie 1 5 ) . 217
AHASVER
VON BRANDT,
Mittelalterliche
Bürgertestamente.
Neuerschlossene Quellen zur Geschichte der materiellen und geistigen Kultur, Heidelberg 1 9 7 3 , S. 2 1 ( = Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Jg. 1 9 7 3 , Abh. 3), 218
URSINUS 1 7 8 2 w i e A n m . 1 8 8 , S. X I I I .
219
CHORREGEL 1 9 2 3
220
URSINUS 1 7 8 2 w i e A n m . 1 8 8 , S. X I I I .
wie Anm. 187,
S. X X I .
Die Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche Priester, brachen den Sarg auf und „schleiften die Leiche mehrmals durch die ganze Kirche" - offenbar hatte es eine gewaltige Rauferei gegeben. Am nächsten Tag kamen die Pfarrkleriker wieder, nun aber „cum maxima multitudine clericorum, militum et aliorum laicorum". 221 Ihre gewalttätig angeeignete Beute schleppten sie auf den eigenen Friedhof. Sie hatten sich die Einkünfte der Totenmessen des Verstorbenen gesichert. Die Privatmesse hat auf geradezu expansionistische Art die klassische benediktinische Klosterliturgie überwuchert, die ihr Zentrum im gemeinsamen Stundengebet und in der Konventmesse besaß. Sie hat die gegen sie errichteten Dämme der Klosterdisziplin immer wieder durchbrochen. Sie hat sich auch unangefochten behaupten können gegen die Vorwürfe moralischer Rigoristen, die den „Zug zum privaten Nutzen", der dem Meßstipendium anhaftet, 2 2 2 für religiös unangemessen und sozial bedenklich gehalten haben. Petrus Damiani, Mönch jenes Klosters, das „zum guten Teil dem Totengedächtniswesen (und damit der Privatmesse, F. M.) seine Hauptblüte verdankte", 2 2 3 muß den Widerspruch zwischen christlicher Idee und kirchlicher Praxis besonders schmerzhaft empfunden haben. Der Herr, der am Kreuz für das Heil der ganzen Welt gelitten hat, „wird jetzt auf dem Altar geopfert für den Vorteil eines einzelnen und das Vermögen des Priesters" - „nunc mactatur in altari pro unius commodo et facúltate presbyteri". Der einst gekreuzigt wurde für die Menge des ganzen Volkes, dient jetzt als heilbringende Opfergabe „dem Nutzen eines Menschleins" - „pro unius homuncionis utilitate". 2 2 4 Schon ums Jahr 1000 hatte sich der Benediktinerabt Aelfric über Priester beklagt, die dem Volke keine Hostie reichen wollen, „wenn es sie nicht kaufen will". „Wenn wir die heiligen Dienste, die wir dem Heilande versehen, gegen Geld leisten, was wird er uns dann (dafür) geben?" 2 2 5 Im Jahre 1293 sprachen die Väter eines Konzils von der „Habgier, die fast alle erfaßt hat" und die die Priester für die Eucharistie und die übrigen Sakramente Geld erpressen läßt. 2 2 6 Judas, der Christus für 30 Silberlinge verraten hatte, wurde mit der Durchsetzung der Geldwirtschaft - im 12./13. Jh. - zum Prototyp des Verkäufers der Messe. 227 Vagantendichter spotteten: Die Braut Christi' ist käuflich geworden - „sponsa Christi fit mercalis" - , „käuflich ist uns der Altar, käuflich ist die Hostie gar" - „veneunt altaría, venit eucharistia". 228 Eine Begriffsschöpfung wie „gracia venalis" 2 2 9 - käufliche Gnade - signalisierte nicht zuletzt die Bitterkeit
29
derer, die sich die teure Sorge um das Seelenheil - ihr eigenes, das ihrer Angehörigen - nicht leisten konnten. Hoch- und spätmittelalterliche Erblasser haben in ihren Testamenten vorrangig für ihre Totenmessen gesorgt, Zeugnisse frommer Vergabungen „aus den städtischen Unterschichten fehlen beinahe völlig." 2 3 0 Noch krasser werden sich die Bauern des frühen Mittelalters, die weder Geld noch Boden stiften konnten, von der Möglichkeit ausgeschlossen gesehen haben, die Qualen der postmortalen Welt zu vermindern. Was war die Privatmesse eigentlich? W a r sie eine Form kirchlicher Dienstleistung, die die religiösen Bedürfnisse des Volkes erfüllen half? Der größere Teil der Gläubigen konnte sich der frommen Hilfe nicht bedienen. War sie Einkommensquelle der Mönchskonvente, Faktor des ökonomischen Austauschs zwischen Kloster und Territorium, Institution zur Befriedigung der „Raffgier des Klerus"? 2 3 1 Die Zuwendung von Gütern aus Adelsbesitz an die enterbten Söhne und Brüder im Mönchsgewand ist aus der Sorge ums Seelenheil - auch wenn diese Sorge in den Stiftungsurkunden als einziges Motiv genannt wird - allein kaum zu begreifen. Die Angst vor dem Tod und den Toten hat auch andere Kulturen beherrscht. Nur unter feudalen Bedingungen wurde sie jedoch - wenn wir richtig sehen - zu einem Hebel der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Wir stimmen mit jenem katholischen Kirchenhistoriker überein, der die Ansicht vertrat, die frühmittelalterliche Privatmesse sei nicht aus der „Devotion der Priestermönche", nicht aus einem „Subjektivismus in
221
DORMEIER 1 9 7 9 w i e A n m . 1 8 0 , S . 1 5 8 f .
222
MÖRSDORF 1 9 5 7 w i e A n m . 2 1 0 , S .
223
JORDEN 1 9 3 0 w i e A n m . 2 1 6 , S .
116.
112.
2 2 4 PETRUS DAMIANI, Opusculum vicesimum sextum. Contra inscitiam et inguriam clericorum, in: Patrología latina 1 4 5 , Paris
1873,
Sp. 5 0 1 ;
vgl.
auch
MÖRSDORF
1957
wie
Anm. 210,
S.
117.
BERNHARD FEHR, D i e Hirtenbriefe A e l f r i c s in altenglischer und lateinischer Fassung, Hamburg 1 9 1 4 , S. 1 8 7 ( = Bibliothek der angelsächsischen Prosa, Bd. 9 ) . 225
220
BROWE 1 9 3 8
w i e A n m . 1 9 2 , S.
137.
HELGA SCHÜPPERT, Kirchenkritik in der lateinischen L y r i k des 1 2 . und 1 3 . Jh., München 1 9 7 2 , S. 1 7 4 ( = M e d i u m A e v u m . Philologische Studien 2 3 ) . 227
228
KARL
229
E b e n d a , S. 2 9 6 .
LANGOSCH,
230
GERHARD
JARITZ,
Vagantendichtung,
Die
Leipzig
realienkundliche
1968,
Aussage
S.
der
296.
so-
genannten „ W i e n e r Testamentsbüchel", i n : D a s Leben in der Stadt des Spätmittelalters, W i e n 1 9 7 7 , S. 1 7 5 ( = Veröffentlichungen des Instituts f ü r mittelalterliche R e a l i e n k u n d e 2 [Österreichische A k a d e m i e der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, S B 325]). 231
MÖRSDORF 1 9 5 7 w i e A n m . 2 1 0 , S .
118.
30
FRIEDRICH
der Frömmigkeit" hervorgegangen und auch nicht aus dem „Streben der Priester, auf eine besondere Art der Früchte des Meßopfers teilhaft zu werden." 2 3 2 Auch wir meinen, daß die Privatmessen „nicht aus sich selbst" heraus hinreichend erklärt werden können und daß sie „weit davon entfernt" waren, „,privat', das heißt beliebig zu sein." 2 3 3 Was aber waren die „objektive(n) Gegebenheiten, die die Nebenmessen veranlaßten", wo ist der „objektive G r u n d " zu greifen, „der zu den vielen Messen" geführt hat?" 2 3 4 D e r Benediktinerpater Angelus Häußling ist an einer Erklärung der Privatmesse interessiert, die ihm erlaubt, deren Gebrauch in den heutigen Klöstern als „problemamatisch", „peinlich", „störend", „überflüssig" und als „unwiderruflich fragwürdig geworden" zu erweisen, 235 ohne ein großes Kapitel der Geschichte der katholischen Kirche denunzieren zu müssen. Er findet den objektiven Umstand, der die Privatmesse erzeugt hat, in dem Bestreben der frühmittelalterlichen Kirche, „die Nebenfeiern der römischen Stadtkirche in den Titeln und Memorialheiligtümern" zu kopieren. 2 3 6 Das „Leitbild" der römischen Stadtkirche habe zu einem „Messensystem" in jeder einzelnen Kirche geführt, „das den römischen Stationsgottesdienst" wiederholte. 237 D i e „Häufung" der Altäre im jeweiligen Gotteshaus gab ein Bild „der heiligen Stätten Roms", „die Nachahmung Roms gab die Gewähr apostolischer Tradition". 2 3 8 D i e vielen Altäre als die Fixpunkte einer sakralen Topographie wurden durch die Privatmessen genutzt. Ein „germanische(s) Empfinden", das „die Intensität der Wiederholung liebt", 2 3 9 soll den täglichen Gebrauch der Altäre - den Rom nicht kannte - in den mittelalterlichen Kirchen erklären. D i e „Sozialfunktion" einer großen Abtei erfüllte sich in der Feier der „richtigen", das heißt der „stadtrömische(n) Liturgie". 2 4 0 In Rom standen die verschiedenen Altäre freilich, an denen der Papst Gemeindemessen - nicht Privatmessen! - zelebrierte, in Kirchen unterschiedlicher Stadtteile. Ihre nach- und abbildende Zusammenfassung in einetn Kultgebäude und ihre gleichzeitige Nutzung durch zahlreiche Priestermönche - für Centula sind täglich 30 Privatmessen bezeugt - führte zwangsläufig zu einer Situation, die der „devotio zum Schaden" gereichte. 241 D i e heutige katholische Kritik an der Privatmesse trifft mittelalterliche Sachverhalte: „Meist ist die Zeit begrenzt (es warten schon wieder andere, die auch zelebrieren wollen), die Altäre stehen störend eng nebeneinander, so daß jeder die Zelebration der Nachbarn peinlich mithören muß", das „Messenge-
MÖBIUS
tümmel", das mit der zentralen Konventmesse konkurriert, macht einen unwürdigen Eindruck. D i e „Schwankungen . . . in der Zahl der Stipendienmessen je nach der allgemeinen Geldlage" - „fast wie bei einer Börse" - wecken Zweifel an der Christlichkeit der Institution. 2 4 2 Anspielungen etwa der Centulaer Wandergottesdienste auf die römischen Stationsgottesdienste sind unübersehbar. 2 4 3 Aber sie fungierten als nachträgliche symbolische Überhöhung eines Zustandes, den andere Umstände geschaffen hatten. Das „Leitbild Rom", dessen architektur- und ideologiegeschichtliche Bedeutung für das deutsche frühe Mittelalter nicht bestritten werden soll, erklärt weder die auffällige Entwicklung der Priestermönche in den Konventen noch die gleichfalls im wesentlichen an die Privatmesse gebundenen materiellen Zuwendungen des Adels an die Klöster seines Territoriums. 2 4 4 D i e objektiven Bedingungen, die zur Entstehung und Ausbreitung der Privatmesse führten, sind in den realen Lebensumständen der Menschen zu suchen, im historischen Zustand der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, in den Zwängen der Bündnispolitik und Herrschaftssicherung, kurz: in der sozialen Praxis des sich entfaltenden Feudalismus. Wir wagen Hinweise, die im gemeinschaftlichen Gespräch zwischen den verschiedenen, hier interessierten Disziplinen weiter zu differenzieren und auszubauen wären.
232 HÄUSSLING 1973 wie Anm. 12, S. 5 ; Ders., Konventamt und Privatmesse. D i e Eucharistiefeier in unseren Klöstern, in: Erbe und Auftrag. Benediktinische Monatsschrift N F 41, 1965 (4), S. 300. 233
HÄUSSLING
M
HÄUSSLING
wie Anm. 230
1973 1973
wie wie
A n m . 1 2 , S. 3 4 1 , Anm. 12,
316.
S. 3 2 0 ;
HÄUSSLING
1965
3 3 2 , S. 3 0 0 .
ANGELUS
HÄUSSLING,
Ursprünge
der
Privatmesse,
in:
Stimmen der Zeit. Monatsschrift für das Geistesleben der Gegenwart 90, 1964/65 (7. Heft des 176. Bandes), S. 27; HÄUSSLING 1965 wie Anm. 232, S. 294 f. 230
HÄUSSLING 1 9 7 3 w i e A n m . 1 2 , S . 3 1 6 .
237
HÄUSSLING 1 9 7 3 w i e A n m . 1 2 , S . 3 1 7 ,
238
HÄUSSLING 1 9 6 5 w i e A n m . 2 3 2 , S . 3 0 0 ,
235
HÄUSSLING 1 9 6 5 w i e A n m . 2 3 2 , S . 3 0 1 .
320. 301.
240
HÄUSSLING 1 9 7 3 w i e A n m . 1 2 , S . 3 3 9 ,
241
K A R L R A H N E R u n d A N G E L U S HÄUSSLING, D i e v i e l e n
343. Messen
und das eine Opfer. Eine Untersuchung über die rechte Norm der Meßhäufigkeit, 2. Aufl., Freiburg/Basel/Wien 1966, S. 116 ( = Quaestiones disputatae 31). 242 Ebenda, S. 116, 134. 243
VA
MÖBIUS 1 9 6 8 w i e A n m . 1 5 1 , S. 7 3 ff.
Ablehnung der HÄussLiNGschen These schon bei OTTO GERHARD OEXLE, Forschungen zu monastischen und geistlichen Gemeinschaften im westfränkischen Bereich, Münster 1978 ( = Münstersche Mittelalter-Schriften 31).
Die Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche Der Stand der Produktivkräfte ließ die einzelnen Grundherrschaften in der Borniertheit ihrer Streulagen, der Zersplitterung, der Autarkie und Isolierung der Fronhöfe verharren. Urwälder, unbesiedelte Landstriche schoben sich zwischen die Burgen, Pfalzen, Klöster und die wenigen Städte. Ständig verfielen Dörfer zu Wüstungen, breiteten sich neue Ödstrecken aus. Wenige Straßen durchzogen das Land, die zu bereisen langwierig und gefahrvoll war. Die Machtkämpfe der land- und leutegierigen Grundbesitzer verlegten immer wieder den Weg zu höheren Formen der gesellschaftlichen Produktion. Die ökonomischen und politischen Grundbedingungen drängten nach Kooperation, Verkehr, entwickelteren Kommunikationsverhältnissen, ohne sie in rechter Weise erzwingen zu können. Unter solchen Verhältnissen gewann der Dienst an den Toten eine eigentümliche Funktion: Er verband die Klöster miteinander. Durch die Gebetsverbrüderungen, „familiaritas", „fraternitas", „societas" genannt, 245 rückten sie näher aneinander heran. Die Verbrüderung beförderte den „freundschaftlichen Verkehr" zwischen ihnen „zu deren geistigem und materiellem Vorteile." 2 4 6 Es war, als bildeten die im Totendienst zusammengeschlossenen Klöster „zusammen nur ein Kloster: et quasi una haberetur congregatio." 247 Jeder Bote, der eine Todesnachricht überbrachte, informierte die Wirte von den Problemen der eigenen Mönchsgemeinschaft und denen anderer ihm bekannter. Er trug „Welt" in die Klostermauern hinein. Aber nicht nur für die Klöster untereinander, auch für das Verhältnis der Monasterien zu den herrschenden Familien ihres Territoriums wirkte der Totendienst kommunikationsstiftend. Der Seigneur, der einem Konvent die Sorge um das Seelenheil seiner Sippe übertragen hatte - und der womöglich eigene Angehörige im Kloster wußte - , war hier ständig präsent, zu den großen Kirchenfesten des Jahres wie zu den Jahrtagsmessen verstorbener Verwandter. Er mußte sich für den Schutz seines Klosters interessieren, ebenso aus wirtschaftlichen Gründen - denn florierte es, wirkte es als Produktivkraft im Herrschaftsbereich - wie aus religiösen: Als Sterblicher und Ungeweihter war er abhängig von der frommen Hilfe der geistlichen Brüder. Die klösterliche Totenpflege bildete sich als Teil, fast möchte man sagen: als Organ jenes umfassenden Homogenisierungsprozesses heraus, der Staat und Kirche zu Partnern eines wechselseitigen Austausches werden ließ. Die von der Teilhabe am praktischen Leben und vom di-
31
rekten Nießbrauch der Macht ausgeschlossenen Adelssöhne, von der fortschreitenden Arbeitsteilung zu Trägern von Bildung und Verwaltern der postmortalen Seligkeit gemacht, traten über den Totendienst in unersetzliche und unaustauschbare Beziehungen zu den Herren des Landes. Die gesellschaftsleitenden Kräfte wiederum erfuhren hier ihre religiöse Abhängigkeit von jener sozialen Schicht, die sie ständig zu reproduzieren halfen. Die über die Privatmesse geleistete Totenliturgie des frühen Mittelalters war „nicht eine formale und leere Spielerei weltfremder Mönche . . . , sondern ein propagandistisch hochwirksames Mittel der Einwirkung auf den weltlichen Adel." 2 4 8 Das Kloster erzog im frühen Feudalismus jedoch nicht nur den Adel (zu religiöser Ehrfurcht, zu Disziplin und kulturellen Verhaltensnormen). Der progressive Kern der herrschenden Klasse erzog ebenso seine Intelligenz. Der Totendienst orientierte weite Bereiche des klösterlichen Lebens auf die - in ritueller Form geleistete - Stärkung der Zentralgewalt bzw. der sich herausbildenden Landesherrschaft. Der ideologiebildende Charakter des auf das Reich, den König und den Adel bezogenen ununterbrochenen gigantischen Gebetsdienstes steht außer Zweifel. Noch der faschistische deutsche Staat scheint auf ihn reflektiert zu haben, als er - im 20. Jahrhundert! - von der katholischen Kirche „ein öffentliches Gebet für das Wohlergehen des Deutschen Reiches und Volkes am Schlüsse jedes sonn- und festtäglichen Hauptgottesdienstes" verlangte. 2 4 9 Über die Bildungs- und Erziehungsaufgaben, denen sich die Klöster mit ihren Adelsschulen zu stellen hatten, erreichte die per missam privatam in das Kloster hineingedrückte Reichsideologie, religiös hinterlegt, geistig vertieft, liturgisch trainiert, auch die Söhne aus der Ritterschaft und dem Hochadel, die hier ihre Zurüstung für den Dienst in der Welt erhielten. Die missa privata war Instrument des Herrscherkultes, Umschlagstätte feudaler Reichs- und Ordnungsideologie. Sie vertiefte die Bündnisbeziehungen innerhalb der grundbesitzenden Schichten unter dem Anblick der Ewigkeit. In der Privatmesse artikulierten sich objektive Ansprüche der Gesellschaftsentwicklung.
2 4 5
EBNER
1890
wie Anm.
161,
S. 4
f.
2 4 0
EBNER
1890
wie
Anm.
161,
S.
155.
2 4 7
EBNER
1890
wie
Anm.
161,
S.
248
TÖPFER
2 4 0
BIEHL 1 9 3 7
1957
wie
A n m . 6 8 , S.
wie Anm.
150,
S.
82. 36. 67.
32
FRIEDRICH MÖBIUS
Zweifellos wurde sie zu einer Triebkraft kultureller Prozesse durch den materiellen Anreiz, der von ihr ausging. Die Priestermönche haben sie nicht nur „erstrebt" 250 - sie haben sie begehrt. Das ist auch gegenüber Angelus Häussling, der diese Seite der Privatmesse zu übergehen versucht, mit Nachdruck festzustellen. Es bezeichnet jedoch die Universalität nicht nur der Institution Privatmesse, sondern des frühfeudalen Klosterwesens und seiner Liturgie überhaupt, daß zugleich mit den ökonomischen Prozessen grundlegende kulturelle Entwicklungsprobleme - man ist versucht zu sagen: in täglicher mühevoller Kleinarbeit - angegangen und weithin auch bewältigt wurden. Die herrschende Klasse investierte einen Teil ihres Mehrproduktes in den klösterlichen Totenkult und damit in die Förderung ihrer Intelligenz nicht nur aus Gewissensgründen, sondern auch - und vor allem - um der Ausbildung und tieferen ideologischen Begründung ihrer Herrschaft willen. Die feudale Kulturfunktion war es, die der Privatmesse die dominierende Stellung im klösterlichen Leben und ihren Vollziehern die höhere soziale Stellung in den Konventen verlieh. Die Priestermönche übernahmen Führungsfunktionen und eigene liturgische Aufgaben im Kloster des frühen Feudalismus, weil sie im Dienste spezifischer Forderungen des Gesellschaftsprozesses standen. Marxistischem Denken gilt als methodologisches Prinzip: „Alle Formen des kulturellen Lebens im Mittelalter sind nichts anderes als Funktionen der sozialen Lebenstätigkeit der Menschen dieser Epoche und das Resultat ihrer ,Modellierung' der Welt." 2 5 1 Gilt das auch für die Raumanordnung im Ostbereich des frühmittelalterlichen Kirchenbaues? Steht die Entwicklung vom einräumigen Altarhaus zum mehrschiffigen Presbyterium in einem inneren Zusammenhang mit der Herausbildung der Priestermönche als einer besonderen Schicht in den Klosterkonventen? Verkörpert die herrscherlich-repräsentative Erscheinung einer drei- bzw. fünfapsidialen Chorpartie
über monastisch-liturgische Tatbestände hinaus auch Wesenszüge des Feudaladels und der Feudalgesellschaft des l l . / l 2 . Jahrhunderts? Wir fragen zunächst nach der liturgischen Nutzung von Vierung und Altarhaus: Wer hielt sich unter welchen Bedingungen wo auf? Wo fand das Stundengebet statt, wo der Privatmessendienst?
Der liturgische Gebrauch der Ostpartie Als Hauptstätte des klösterlichen Gottesdienstes erscheint der „chorus", mit dem die „Gemeinschaft der Sänger" 252 ebenso bezeichnet wird wie der Ort, an dem sie ihrem Offizium nachgeht. Den Reichtum der Lebensbeziehungen, der die Mönche mit dem Stundengebet wie mit diesem Teil des Kirchengebäudes verband, bezeugt bereits die Fülle der Verben, die die Ortsbezeichnung „in choro" begleiten. Im 8. und 9. Jh. wird im Chor gesungen, psalliert und gebetet, man kommt hier zusammen, steht und sitzt. 253 Bis zum 11./12. Jh. erweitert sich das Vokabular auf: hineinschreiten, hineingehen, hineinführen und eintreten, herausgehen, weggehen, zurückkehren, umkehren und sich hinwenden. 254 Die Mönche lesen hier, beugen das Knie, sie führen die Vesper durch, sie besetzen den Chor, harren hier aus und vereinigen sich in ihm. 255 Die sprachliche Differenzierung der liturgischen Quellen ist zweifellos nicht nur dem gewachsenen Ausdrucksvermögen ihrer Autoren geschuldet, das vom 8. zum 12. Jh. fast sprunghaft ansteigt, sondern auch dem Zwang, liturgischen Grundvorgängen immer wieder neue Ausdrucksnuancen abzugewinnen. Das „liturgische Vokabular der frühen lateinischen Mönchsregeln" 256 findet sich voll ausgebildet dort, wo die Quellen von „chorus" sprechen. Als eigenständiger architektonischer Bezirk wird der chorus in den cluniazensischen Schriften ausgewiesen durch „Wände", 2 5 7 die an den Längsseiten 253 YG| Anm. 1 1 2 .
250
Vgl. Anm. 1 3 9 .
251
A A R O N J . GURJEWITSCH,
254
Das
Weltbild
Menschen. Mit einem Nachwort von 1 9 7 8 , S. 1 7 ( = Fundus 55/57). 2O2
ERNST
ULLMANN,
Architektur
des
mittelalterlichen
HUBERT MOHR, Dresden
und
724, 253
Gesellschaft.
Zu
den
£
Stichwort „chorus" bei HALLINGER 1 9 6 3 wie
UDALRICUS 1 8 8 2 w i e A n m . 2 0 , S p . 6 5 9 , 6 8 5 , 6 8 9 , 7 1 0 , 726;
WILHELMUS
UDALRICUS
HELMUS
Problemen des Gegenstandes und des Inhalts der W e r k e der Baukunst. Ein Beitrag zur Architekturtheorie, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Leipzig 1 3 , 1 9 6 4 , gesellschafts-sprachwissenschaftliche Reihe 5, S. 8 9 6 .
2
1880
wie
1882
1880 wie
Anm. 95,
wie
Anm. 95,
Anm. 20, Sp. 9 3 1 ,
Sp. 9 3 4 ,
Sp. 6 8 6 , 940,
673,
964,
715,
964. 702;
WIL-
971.
2D6 ELISABETH KASCH, D a s liturgische Vokabular der frühen lateinischen Mönchsregeln, Hildesheim 1 9 7 4 ( = Regulae Bened i c t ; Studia Supplementa, Bd. 1). 2 5 7 WILHELMUS 1 8 8 0 w i e Anm. 95, Sp. 9 6 1 : „qui ad parietes locum habent", „qui ad . . . parietes stant."
33
Die Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche (der Nord-und Südseite) standen und „Schranken", 2 5 8 die den West- und vielleicht auch dessen Ostteil begrenzten. E r besaß zwei Eingänge, von denen der „im oberen T e i l " direkt genannt und der im unteren Bereich mit Sicherheit erschlossen werden kann. 2 5 9 Sie lagen in der Mitte der Westseite und in der Osthälfte der südlichen „Wand". Jeder Eingang, vor allem aber der nach Süden gelegene, fungierte zugleich als „Ausgang". Als ein in der Fläche sich ausbreitender Bereich besaß der chorus eine „äußere Grenze" und eine „Mitte". 2 6 0 Über dem Chor hing in Cluny ein großer Leuchter, von hier aus wurde auch ein Glöckchen bedient. 2 6 1 Spätestens seit dem 10. Jh. besaß der chorus ein reich gegliedertes Gestühl. Zu karolingischer Zeit scheinen die Bänkchen des St. Galler Klosterplanes das Äußerste gewesen zu sein, was den Mönchen während des Chordienstes an Bequemlichkeit geboten wurde - beinahe ist man versucht zu glauben, daß sie das Stundengebet damals vielerorts im Stehen absolvierten. Mit Cluny aber erfuhr der nach allen vier Himmelsrichtungen geschlossene Raum des „chorus stallatus" eine innere Durchorganisation, die der eines klösterlichen Wohn- oder Arbeitsraumes hinsichtlich Logik, Bequemlichkeit und Effektivität kaum nachgestanden, sie in mancherlei Hinsicht sogar übertroffen haben dürfte. Vor den Einzelklappsitzen an den Wänden, die Misericordien besaßen, befanden sich Bänke mit dreh- bzw. hochstellbaren Betpulten, auf die sich die Mönche mit dem Ellenbogen stützen durften. 2 6 2 An Festtagen wurden sie mit Teppichen und Tüchern behängt. 2 6 3 Unter den Bänken standen Schemel. 2 6 4 Über die unteren Reihen des amphitheatralisch angeordneten Gestühls liefen unabgeteilte Bänkchen zum Sitzen und Schemelchen zum Knien für die rangniederen Mitglieder des Konventes. 2 6 5 Im Chor der Wienhausener Nonnenkirche fanden sich vor einigen Jahren unter den Bohlen, die noch heute das Chorgestühl tragen, Gebetszettel, Notizbüchlein, Brillen, Briefe, Kerzen, Rosenkränze, Eberzähne, Lesezeichen, Glasperlen, Fingerhüte, Puppen, Wurzelmännlein, Andachtsbilder. 2 6 6 Gegenstände der persönlichen Beschäftigung, die einmal zu Boden fielen und dann in den Ritzen und Spalten des Holzfußbodens verschwanden, sind jetzt in mehreren Museumsräumen zu besichtigen. Der chorus war der Hauptaufenthaltsbereich dermonastischen Gemeinschaft. Den sorgfältig bestuhlten Raum betraten und besetzten die Mönche nach strengen Gesetzen. Gemäß Benedikts Vorschrift, daß die Brüder „in der Reihen3
Architektur
folge, wie der Abt sie bestimmt hat", „im Chor ihren Platz einnehmen", 2 6 7 standen oder saßen die Sänger an den ihnen jeweils zugewiesenen Orten, jeder „an seinem Platz" und „in der richtigen Ordnung." 2 6 8 Im Chor sich an persönlichen Plätzen zu befinden, muß
2 5 8 WILHELMUS 1 8 8 0 wie Anm. 95, Sp. 9 6 1 : „qui ad cancellos . . . stant." 259 WILHELMUS 1 8 8 0 wie Anm. 9 5 , Sp. 9 6 6 : „per superiorem chori aditum"; BERNARDUS 1 7 2 6 wie Anm. 6 4 , S. 2 2 2 : „ab introitu Chori, in superiori parte" ; 2 2 7 : „prope introitum Chori" ; 3 3 0 : „ad ingressum Chori", „ad chori introitum;" WILHELMUS 1 8 8 0 wie Anm. 9 5 , Sp. 9 6 9 : „seniores caeterique ad parietes in inferiori parte majoris chori stationes habentes per minorem chorum intrant." 2 6 0 UDALRICUS 1 8 8 2 wie Anm. 2 0 , Sp. 7 0 2 : „novissimi (stant) in extremitate chori;" UDALRICUS 1 8 8 2 wie Anm. 2 0 , Sp. 7 4 3 : „forma . . . posita in medio chori." 2C1
PETRUS
VENERABILIS
1890
wie
Anm. 33,
Sp. 1 0 3 9 :
(co-
rona) „quae in medio chori forti catena sustentata dependet;" UDALRICUS 1 8 8 2 wie Anm. 2 0 , Sp. 7 5 6 : „ut scillam pulset in choro." 2 6 2 WILHELMUS 1 8 8 0 wie Anm. 9 5 , Sp. 9 5 8 : „sedilum ad pariet e s " ; 9 6 1 : „qui super sedilia sedent;" „super sedilium misericordias habuerit"; UDALRICUS 1 8 8 2 wie Anm. 2 0 , Sp. 6 5 9 : ( D e Cena Domini) „cum venerint in chorum, complicantur formae, sicut est consuetudo in his diebus in quibus vena non est petenda"; GUIDO 1 8 8 0 wie Anm. 1 1 8 , Sp. 1 1 9 9 : „tunc vertuntur formulae"; WILHELMUS 1 8 8 0 wie Anm. 95, Sp. 9 6 1 : „qui ad cancellos et parietes stant, super formas procumbunt"; UDALRICUS 1 8 8 2 wie Anm. 20, Sp. 6 5 7 : „super formas procumbi;" 6 7 5 : „procumbitur super formas"; 7 4 3 : „ad formas transversas procumbunt." 2 6 3 BERNARDUS 1 7 2 6 wie Anm. 6 4 , S. 2 4 2 : „formae tapetibus cooperiuntur" ; GUIDO 1 8 8 0 wie Anm. 1 1 8 , Sp. 1 2 3 0 : „tapetia coaptentur in formulas"; 1 2 3 2 : „super formas sternant tapetias"; 1 2 3 3 : „in formulis tapetia ordinentur"; 1 2 3 9 : „super formas mittat tapetias"; 1 2 0 3 : „chorum circumdent bancalia." 2 6 4 WILHELMUS 1 8 8 0 wie Anm. 9 5 , Sp. 9 6 1 : „qui in scamnis, quae infra ad formas posita, sedent." 2 6 5 WILHELMUS 1 8 8 0 wie Anm. 9 5 , Sp. 9 6 1 : „qui stant ante formas, super scabella ante se posita jacent"; „sedent super scamna"; vgl. zur Einrichtung des cluniazensischen Gestühls ferner ADOLF METTLER, Die zweite Kirche in Cluni und die Kirchen in Hirsau nach den „Gewohnheiten" des X I . Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichte der Architektur 4, 1 9 1 0 / 1 1 ,
S. 1 - 1 6 ;
DEHLINGER 1 9 3 6 w i e A n m . 8 ;
CORBINIAN G I N D E L E ,
Der
Mönchschor und seine Gebetsrichtung nach Osten, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Z w e i g e 7 6 , 2 6 6
1965
( 1 / 2 ) , S. 2 2 - 3 5 .
HORST A P P U H N u n d
CHRISTIAN VON HEUSINGER, D e r
Fund
kleiner Andachtsbilder des 13. bis 17. Jahrhunderts in Kloster Wienhausen, in: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 4, 1 9 6 5 , S. 1 5 7 - 2 3 8 ; HORST APPUHN, Das private Andachtsbild im Mittelalter an Hand der Funde des Klosters Wienhausen, in: Das Leben in der Stadt des Spätmittelalters, Wien 1 9 7 7 , S. 1 5 9 bis 177 ( = Veröffentlichungen des Instituts für mittelalterliche Realienkunde 2 [Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist.-KIasse, SB 3 2 5 ] ) . 267
BALTHASAR 1 9 6 1 w i e A n m . 4 5 , S. 2 5 0 .
GUIDO 1 8 8 0 wie Anm. 1 1 8 , Sp. 1 2 0 1 : „unusquisque stet in suo l o c o " ; HALLINGER 1 9 6 3 wie Anm. 1 1 2 , S. 2 3 1 : „stantes . . . in choro per ordinem". 268
34
FRIEDRICH MÖBIUS
zum Verhaltens- und Ehrenkodex des Mönchskonventes gehört haben, der täglich neu eingeübt worden ist. Wichtigster Bezugspunkt der Sitzordnung war nicht der Hochaltar im Osten des Kirchengebäudes, auch kein anderes kultisches Inventar, sondern der Platz des Abtes im Westen des chorus, auf der Südseite der westlichen Schranken. Neben ihm - jenseits des Eingangs, auf der nördlichen Seite - saß der Prior, sie beide umgeben von den Senioren des Klosters. „Vorn" befand sich im Chor, wer Abt und Prior am nächsten war. „Im Chor am Sitze des Abtes", „im Chor beim Abt" zu stehen, galt als besonderes Privileg derer, die am längsten zum Kloster gehörten: „Die von höherem Rang sind, sitzen zu Füßen des Abtes und Priors." 269 Den Ältesten und Würdigsten der Mönchsgemeinschaft direkt gegenüber, mit Blickrichtung nach Westen, das Gesicht „in den Chor" gerichtet, nahmen die Knaben und Novizen 270 am Stundengebet teil. Sie schauten auf die Gruppe der Senioren, damit sie von ihnen beobachtet werden konnten. 2 7 1 Falls Abt und Prior außerhalb weilten, sorgte ein Magister für die Disziplin der Schüler und Mönchskandidaten. 272 Die strukturbestimmende Bedeutung der beiden Klosteroberen äußerte sich schließlich noch in der Bezogenheit der im südlichen Gestühl Sitzenden auf den Abt und der nördlich Sitzenden auf den Prior und der Benennung der beiden einander südlich und nördlich gegenüberstehenden Mönchsgruppen als „chorus abbatis" und „chorus prioris", auch „chorus dexter" und „chorus sinister" genannt. 273 Die Ausdrücke „nördlicher" und „südlicher Chor" bezeichneten die beiden Hälften der einheitlich agierenden und auch räumlich zusammengefaßten Sängergemeinschaft. Die grundsätzliche Zweiteilung des Chores erlaubte ein zeremoniell geordnetes Einziehen des Konventes in das Gestühl und ebenso dessen geregelten Auszug. Der linke Chor betrat und verließ jeweils den chorus zuerst, dann folgte der rechte. 274 Die Aufteilung in einander gegegenüberstehende Untergruppen ermöglichte den feierlichen Wechselgesang, 275 der dem Stundengebet seine besondere Schönheit verlieh. Wahrscheinlich lagen der Form des Einzugs in den Chor auch disziplinäre Überlegungen zugrunde. Der Abt geht voran, die Mönche folgen, hatte Alkuin geschrieben, „der Abt führt, die Mönche gehorchen". 276 Linker und rechter Chor traten auch außerhalb der kanonischen Stunden als geschlossene Körperschaften auf. Während der Totenliturgie stand der Chor des Abtes zu Häupten und der des Priors zu Füßen des Verstorbenen. 277
Auf dem Friedhof flankierten rechter und linker Chor die beiden Seiten des offenen Grabes. 278 Den Priestermönchen kam im chorus kein besonderer Rang zu. Zwar konnte der Abt einzelnen von ihnen erlauben, in seiner Nähe Platz zu nehmen, 279 aber das wurde deutlich zu den Ausnahmen gerechnet. Für Laien- und Priestermönche galt dasselbe Gesetz: „Wer früher ins Kloster eintritt, steht im Chor an vorderer Stelle." 2 8 0 Auch der Priester nimmt den Platz ein, der ihm nach seinem Eintritt ins Kloster zukommt. 281 Sein kirchlicher Weihegrad entließ
2 6 9 Codex Hirsaugiensis, Stuttgart 1843, S. 4 : „in choro in sede abbatis stare" ( = Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart Bd. 1 ) ; GUIDO 1 8 8 0 wie Anm. 1 1 8 , Sp. 1 2 6 9 : „in Choro prope abbatem;" WILHELMUS 1 8 8 0 wie Anm. 95, Sp. 9 7 1 : „qui sunt altioris ordinis, sedeant juxta pedes domni abbatis vel prioris." 270
UDALRICUS 1 8 8 2
wie
Anm. 20,
Sp. 7 4 3 :
(De
pueris
et
eorum magistris) „Ad omnes horas facies eorum versa est contra occidentem ;" 743 : „pueri. . . sedent. . . versi faciem in chorum"; Sp. 7 0 2 : „novissimi (stant) in extremitate chori." 2 7 1 UDALRICUS 1 8 8 2 wie Anm. 20, Sp. 7 4 3 : „ut videri possint a prioribus qui in illa parte occidentale stare solent." 2 7 2 GUIDO 1 8 8 0 wie Anm. 1 1 8 , Sp. 1 2 6 4 : „si domnus abbas non est aut prior, magister ex suo choro faciat disciplinam." 273
WILHELMUS 1 8 8 0 wie Anm. 95, Sp. 1 0 0 7 : „qui in eo la-
tere stant, ubi est sedes domni abbatis"; A n m . 1 1 8 , Sp. 1 2 0 4 :
GUIDO 1 8 8 0
wie
„chorus abbatis"; OTTO LEHMANN-BROCK-
HAUS, Lateinische Schriftquellen zur Kunst in England, Wales und Schottland vom Jahre 901 bis zum Jahre 1307, München 1 9 5 5 - 1 9 6 0 , S. 1 1 8 9 : „de choro abbatis", „de choro prioris" ( = Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München 1 ) ; vgl. dazu METTLER 1910/11 wie Anm. 265, S. 2 ; UDALRICUS 1 8 8 2 wie Anm. 20, Sp. 6 5 2 : „de sinistro c h o r o . . . a dextro eadem" ; 720 : „dexter chorus vadit ad pacem" ; 756 : „hebdomadarius stat in choro sinistro"; BERNARDUS 1 7 2 6 wie Anm. 64, S. 221 : „per dextrum chorum, inde ad sinistram". 2 7 4 HALLINGER 1 9 6 3 wie Anm. 1 1 2 , S. 2 7 5 : „sinister chorus antecedat, post dexter chorus"; 2 5 8 : „sinister chorus exeat prius Ordinate, dextro vero postea." 2 7 5 UDALRICUS 1 8 8 2 wie Anm. 20, Sp. 6 7 2 : „in choro responsorium"; vgl. dazu JOSEPH PASCHER, Das Stundengebet der Römischen Kirche, München 1 9 5 4 , S. 248. 2 7 6 Epistolae Karolini aevi, torn. II, Berlin 1895, S. 1 1 6 : (Brief an einen Abt) „Tuum est praecipere, illorum oboedire; tuum praeire, illorum subsequi." ( = Monumenta Germaniae Historica. Epistolarum IV). 2 7 7 UDALRICUS 1 8 8 2 wie Anm. 20, Sp. 7 4 3 : (an der Bahre des Verstorbenen) „de choro dexteiy sedent ad caput, qui de sinistro ad pedes." 2 7 8 BERNARDUS 1 7 2 6 wie Anm. 64, S. 1 9 7 : „qui de dextro choro sunt, stant ad dextram partem . . . qui de sinistro ad sinistram partem." 279
BALTHASAR 1 9 6 1 w i e A n m . 4 5 , S. 2 4 8 .
BENEDIKT VON ANIANE, Codex Regularum Monasticarum et Canonicarum, in: Patrologia Latina 103, Paris 1 8 6 4 , Sp. 1 3 3 2 : „Qui prius in monasterio conversus fuerit. . . , in choro prior constet." 2 8 1 Ebenda, Sp. 1 3 2 4 : „Locum vero ilium semper attendat, quando ingressus est in monasterium." 280
Die Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche ihn zu keiner Stunde aus der Verpflichtung, gemeinschaftlich mit den nichtordinierten Brüdern und sich bedingungslos in ihre Reihen einordnend, der „Schichtarbeit zum Lobe Gottes" 282 nachzugehen. Aus dem St. Galler Klosterplan ersehen wir, daß die Priestermönche auch zusammen mit den Laienmönchen im selben Dormitorium schliefen, nur dem Abt, dem Arzt und einzelnen leitenden Klosterbeamten sowie den Handwerkern standen eigene Gebäude zur Verfügung. Die Genossenschaft der Laien- und Priestermönche duldete in ihren Reihen nur gesunde und kräftige Männer. Das mag dem anstrengenden, auch beträchtliche physische Leistungen fordernden Charakter des unendlichen Gotteslobes ebenso geschuldet sein wie nachwirkenden Vorstellungen und Idealen einer adligen Lebensweise. Den von einer großen Schwäche Befallenen, den Gichtkranken, Hinfälligen, den Lahmen, die des Stockes bedurften und denen, die nicht fähig waren, die langen Gesänge durchzustehen, wurde „aus Barmherzigkeit" der Zutritt zum Chor der Gesunden gesperrt. Zuhörend und still betend, fanden sie ihren Platz im „kleinen Chor" westlich davor. 2 8 3 Kräftigere Mönche, als Ordnungshüter in den kleineren Chor delegiert, sorgten dafür, daß hier die gleiche Disziplin herrschte wie im Raum nebenan. Weil es den kleineren Chor gab, erhielt der eigentliche chorus in den cluniazensischen Klöstern auch die Bezeichnung „größerer Chor". 284 „Chorus maior" und „chorus minor" bildeten eine geschlossene soziale Gruppe, insofern hier nur die „Gebildeten" Zutritt fanden. 2 8 5 Zwischen beiden Chören vermittelte eine Tür, durch die die Senioren auf ihre Plätze im großen Chor schritten. Nach übereinstimmender Ansicht der jüngeren Forschung, die wir durch einzelne Belege weiter erhärten werden, besetzte spätestens seit dem 10. Jh. der „chorus maior" den Vierungsbereich der kreuzförmigen Basilika, der cluniazensische „chorus minor" das Joch westlich davor, also den östlichen Bezirk des Langhauses. Die Querhausflügel verhielten sich zur Vierung wie die Seitenschiffe zum Mittelschiff. Sie waren der Hauptform unter- bzw. beigeordnete Nebenformen eigenen Ranges, in denen sich der Ausdruckswert der hierarchischen Staffelung erst erfüllte. Seitenschiffe und Querhausflügel waren auch funktionell aufeinander angewiesen. Die dem nördlichen Seitenschiff der St. Galler Plankirche auf seiner ganzen Länge angelagerten und mit ihm jeweils durch Türen verbundenen Wohnund Schlafräume des Klosterpförtners, des Schul3*
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dire'ktors und der hier zeitweilig anwesenden fremden Ordensbrüder entließen ihre Besitzer und Besucher zweifellos zu kultischen Verrichtungen in den nördlichen Querhausflügel. Vor allem den Gästen des Klosters dürfte dieses Gebiet als liturgischer Sonderbezirk gedient haben. Die auf der Nordseite des Klosters untergebrachten weltlichen „hospes" (Gäste) besaßen ihren inschriftlich genau bezeichneten Eingang am Westende des nördlichen Seitenschiffes. Der Aufenthaltsraum der mönchischen Durchreisenden öffnete sich direkt in den nördlichen Querhausbereich, in ihn mündete auch ein Gang, der das Wohnhaus des Abtes mit der Kirche verband. Die Handwerker des Klosters betraten die Kirche am Westeingang des südlichen Seitenschiffes. In den südlichen Querhausflügel führte ferner der der Kirche parallel laufende, mit Sitzbänken ausgestattete, vielleicht als Kapitelsaal fungierende nördliche Kreuzgangflügel, aber auch dessen östlicher Trakt, über dem das Dormitorium lag. Bereits zu karolingischer Zeit besaß der der Klausur zugewandte südliche Querhausflügel den Charakter einer Eingangshalle, die - wie Bänke und Altar bezeugen - kultisch genützt worden ist. Als „Vorräume" dürfen auf dem St. Galler Plan beide Querhausflügel auch insofern angesprochen werden, als sie die stollenförmigen Zubzw. Abgänge der Krypta enthielten. Der aus den Seitenschiffen kommende Prozessionsweg durchschnitt die Räume seitlich der Vierung ohne Rücksicht auf deren Rang als fromme Andachtsstätten. Die Abtrennung der Kryptenzugänge vom übrigen Raum der Querhausflügel durch die in den Plan deutlich eingetragenen Schranken minderte zwar die Störungen des Pilgerbetriebes, hob aber den Charakter des Kultisch-Zweitrangigen, des stärker mit profanen Prozessen Verbundenen der Querhausflügel nicht prinzipiell auf.
2 8 2 WOLFGANG BRAUNFELS, Abendländische Köln 1969, S. 47. 283
Klosterbaukunst,
WILHELMUS 1 8 8 0 w i e A n m . 9 5 , Sp. 9 7 0 .
UDALRICUS 1882 wie Anm. 20, Sp. 7 0 2 : „stant in minóte choro"; 7 2 6 : „secedens in minorem chorum"; WILHELMUS 1880 wie Anm. 95, Sp. 9 6 3 : „qui in minori chori sunt"; BERNARDUS 1726 wie Anm. 64, S. 221 : „his qui sunt in minori Choro", „qui sunt in parvo Choro"; 2 5 2 : „secedens in minorem chorum"; UDALRICUS 1882 wie Anm. 20, Sp. 7 1 8 : „his qui sunt in choro majori vel minori"; BERNARDUS 1726 wie Anm. 64, S. 2 2 2 : „qui sunt in Choro majori vel minori." 2 8 5 WILHELMUS 1880 wie Anm. 95, Sp. 9 3 2 : „in choro quoque, si est litteratus" ; 959 : „Si autem invalidior est, et litteratus,. . . in minori choro potest sedere." 284
36
FRIEDRICH M Ö B I U S
Korridor- oder Vorraumcharakter gewannen die St. Galler Querhausarme jedoch auch für Schreibstube und Bibliothek am nördlichen Querhausflügel und für die Sakristei und die Gewandkammer südlich des Sanktuariums. Nur durch Kirchenräume hindurch gelangte man nach den Intentionen des St. Galler Planautors an Orte, die mit dem liturgischen Dienst direkt nicht verbunden waren. Sogar der Zugang 2ur Oblatenbackstube, einem eigenen Gebäude östlich des Dormitoriums, führte durch den südlichen Querhausarm. Schreiber, Leser, Sakristane, Kleiderverwalter und Oblatenbäcker passierten die Querhausbereiche als Zwischen-Räume, um nicht zu sagen: als Hindernisse. Das transitorische Element in der praktischen Benützung dieser Raumpartien stand in unübersehbarem Widerspruch zu ihrer Ausstattung mit Altären, die Stillstand, feierliche Versenkung und Verinnerlichung aller Bewegungen verlangte. In der Spannung zwischen Vierung und Klausur, zwischen Chorgebet und mönchischem Alltagsleben verharrt noch das Querhaus der cluniazensischen Kirche im 11. und 12. Jh. Aus der Mittelachse des Kirchengebäudes herausgeschoben, abgedrängt in einen Nebenraum, fanden die Konversen hier ihren gottesdienstlichen Ort „außerhalb des größeren Chores" oder „vor ihm". 286 Ihr Gestühl stand „im äußeren Teil der Wand beim rechten Chor", 287 sie nahmen entweder Rücken an Rücken mit den Mönchen des „chorus dexter" bzw. des „chorus minor" an den liturgischen Veranstaltungen teil, lediglich durch die halbhohen gemauerten Chorschranken von ihnen getrennt, oder sie saßen an der südlichen Innenwand des südlichen Querhausflügels bzw. des südlichen Seitenschiffes. „Extra chorum" als terminus technicus im wesentlichen für „südliches Querhaus", den „Teil, der der Klausur benachbart ist", 288 verband sich funktionell mit der Pforte, die hier die Kirche mit den Wohn- und Schlafräumen der Mönche verband. 2 8 9 Bereits der Zeichner des St. Galler Klosterplanes hatte den Haupteingang für die „fromme Schar" der Mönche, wenn sie zum Stundengebet in die Kirche einzieht, an den südlichen Querhausflügel verlegt. Noch im cluniazensischen Kloster war der „Eingang der Kirche, der gegen die Klausur gerichtet ist", 2 9 0 zugleich der „allgemeine Eingang des Chores". 291 Die Konversen saßen als „Ungebildete" 292 und weil sie „wegen ihrer Menge" im Chor der Mönche nicht untergebracht werden konnten, 293 im Vorraum des eigentlichen Chores, praktisch also in einem Durchgangsraum, vom Hauptraum ebenso getrennt wie auf
ihn bezogen. Die mindere räumliche Wertigkeit der Querhausarme scheint ebenso sozialen Abgrenzungsaufgaben dienstbar gemacht worden zu sein wie ihre Verbindung mit der Vierung der übergreifenden Verpflichtung zur Herstellung geistiger Einheit. Die schriftlichen Quellen lassen des öfteren vermuten, daß man „chorus maior" und „chorus minor" auf der einen und den Bereich „extra chorum" oder „ante chorum" auf der anderen Seite durchaus auch als größere Einheit aufgefaßt wissen wollte, die dann „ganzer Chor" 294 oder abkürzend einfach „Chor" genannt worden ist. Formulierungen wie „alle Brüder innerhalb und außerhalb des Chores" 295 belegen die einheitliche Sicht der cluniazensischen Oberen auf Vierung und (südlichen) Querhausflügel ebenso wie etwa die Vorschrift, daß die Sitzordnung der Konversen im Querhaus „so sein soll wie innerhalb des (Mönchs-) Chores" 296 in der Vierung. Zwischen Innen- und Außenchor gab es Wechselgesänge, 297 zwischen Querhaus und Vierung zahlreiche liturgische Gänge, die
286 WILHELMUS 1880 wie Anm. 95, Sp. 1 1 3 3 : „stant extra chorum majorem" ; 963 : „qui extra chorum sunt" ; 969 : „a conversis, qui sunt extra chorum"; UDALRICUS 1882 wie Anm. 20, Sp. 7 1 8 : „qui extra chorum sunt;" WILHELMÜS 1880 wie Anm. 95, Sp. 964 : „ante chorum sedebit" ; 966 : „foris chorum remanebit" ; 966 : „qui. . . non fuit in choro, sed tantum ante chorum"; UDALRICUS 1882 wie Anm. 20, Sp. 7 7 0 : „foris chorum stare" ; 772 : „stant foris chorum." Die Belege dieser Anmerkung gelten der grundsätzlichen Raumbezeichnung, nicht in jedem Fall sind Konversen gemeint. 2 8 7 BERNARDUS 1726 wie Anm. 64, S. 2 7 4 : „forma extra chorum"; WILHELMUS 1880 wie Anm. 95, Sp. 9 6 0 : „ad alios conversos facit ire, qui sunt in extenori parietis parte ad dextrum chorum." 288
METTLER 1 9 1 0 / 1 1
wie Anm. 2 6 5 , S. 4 :
„membrum,
quod
est versus claustrum." 289 GUIDO 1880 wie Anm. 118, Sp. 1 2 6 9 : „australi parte extra chorum in introitu ecclesiae." 2 9 0 WILHELMUS 1880 wie Anm. 95, Sp. 1 0 8 9 : „ostium ecclesiae, quod est contra claustrum." 2 9 1 WILHELMUS 1880 wie Anm. 95, Sp. 9 6 6 : „per universalem chori aditum." 292
WILHELMUS
1880
wie
A n m . 95,
Sp. 9 5 9 :
„illiteratus . . .
extra chorum . . . sedet." 293 WILHELMUS 1880 wie Anm. 95, Sp. 960: „conversi prae multitudine in choro consuetudinaliter esse non valent"; 9 6 6 : „ut aliqui conversorum prae multitudine choro interesse non possint." 294
UDALRICUS 1 8 8 2 wie Anm. 20, Sp. 7 1 3 :
„circumeunt
per
totum chorum." 2 9 5 UDALRICUS 1882 wie Anm. 20, Sp. 1 0 9 0 : „omnes fratres infra et extra chorum." 296 UDALRICUS 1882 wie Anm. 20, Sp. 960: „Ordo est sedilium sicut infra chorum." 2 9 7 BERNARDUS 1726 wie Anm. 64, S. 235 : „primam dicit in choro, et secundam extra chorum."
Die Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche beide Raumteile und Klostergruppen immer wieder anschaulich zusammenschlössen. „Vor dem Chor" saßen gelegentlich auch diejenigen, denen zur Ader gelassen worden war oder die aus anderem Grunde sich unpäßlich fühlten. 298 Von besonderem Interesse ist das Verhältnis des Chores zu den Altären. Tätigkeitsangaben, die sich auf den Altardienst beziehen, kommen im Zusammenhang mit der Ortsbezeichnung „in choro" nicht vor. Das Stundengebet forderte keinen Altar. Die cluniazensische Anordnung der Sänger auf viereckigem Grundriß - Knaben und Novizen mit dem Rücken zum Hochaltar - vernachlässigte in auffallender Weise die Beziehung des psallierenden Konventes zur Stätte des heiligen Opfers. Lediglich während der Konventmessen gab es eine Blickbeziehung der Sänger in das Sanktuarium hinein. Gegenüber dem St. Galler Klosterplan, der vier Altäre mit dem Mönchsgestühl verbunden hatte, scheint Kloster Cluny Chorgebet und Messe in der liturgischen Alltagspraxis stärker voneinander getrennt zu haben. Es gab freilich Altäre „in der Nähe des Chores", „beim Chor", 299 die der Forschung bislang entgangen zu sein scheinen. Sie werden „kleinere Altäre" genannt und damit von größeren Altären abgehoben. Sie standen „auf der rechten und der linken Seite" sowie „im vorderen Teil". 3 0 0 Es ist nicht möglich, diese fünf 3 0 1 Nebenaltäre im Sanktuarium zu lokalisieren. Die „Constitutiones Hirsaugienses" lassen einen Priester die Altäre inzensieren, „die dem Chor benachbart sind", „zuerst den mittleren, dann den im linken Teil an der äußeren Grenze", dann alle übrigen und schließlich „kehrt er in das Presbyterium zurück". 302 Wären die „minora altaria" identisch mit den im Codex Hirsaugiensis genannten fünf Altären an der Ostwand des Presbyteriums, hätte die Angabe „redit in presbyterium" entfallen müssen. Mit „prope chorum" und „choro proxima" konnte nur die Nachbarschaft von chorus maior und chorus minor und damit das Querhaus und das östliche Joch der Seitenschiffe gemeint gewesen sein. Zumindest der Altar im südlichen Querhausflügel ist auch direkt und gesondert bezeugt. Es ist der Altar „außerhalb des Chores", der sich „beim Kircheneingang", in dessen „Nähe" befand. 3 0 3 D a der südliche Querhausarm, wie wir gesehen hatten, gelegentlich dem „chorus" zugezählt wurde, finden wir ihn auch als Altar „im rechten Teil des Chores" bezeichnet. 304 Adolf Mettler hatte bereits 1910/11 auf die vielfältigen Funktionen dieses Altars beim Konversengestühl verwiesen. Er
37
stand keinesfalls im südlichen Seitenschiff des Presbyteriums (wo es zudem auch keinen „Eingang" gegeben hätte). Die Querhausapsiden der cluniazensisch-hirsauischen Kirchen verweisen ebenfalls auf Altäre an diesem Ort. Mit dem Blick auf Edgar Lehmanns Rekonstruktionsvorschlag der Altäre in Centula 3 0 5 sowie die Altaraufstellung des St. Galler Klosterplanes wagen wir, den ersten und zweiten Nebenaltar in die beiden Querhausflügel und den dritten und vierten in die Ostjoche der Seitenschiffe zu verweisen. Westlich davor - im Mittelschiff - stand der Kreuzaltar. Der Standort des fünften Nebenaltars bleibt ungewiß. Als ein magischer Kranz umgaben Altäre im cluniazensischen Kloster den Ort des Stundengebetes im Süden, Westen und Norden - herausragende Zinnen einer kultisch gesicherten Gebetsburg, die sich nach dem Sanktuarium hin öffnete (Abb. 3). Das „sanctuarium", das die frühmittelalterlichen Quellen deckungsgleich mit „presbyterium" verwenden, 306 stellt sich - im Unterschied zum „chorus" als ein geschlossener Raum dar, der vom Fundament bis zum Giebel reichte und Teil der Architektur der
2 9 8 WILHELMUS 1 8 8 0 w i e A n m . 9 5 , Sp. 9 3 9 : „propter infirmitatem . . . ante chorum sedere"; 1 0 5 9 : „ante chorum v e r o sedens, sive minutus, sive alia infirmitate detentus." 2 9 9 UDALRICUS 1 8 8 2 w i e A n m . 2 0 , Sp. 7 1 5 : „altaria quaeque minora choro p r o x i m a " ; 7 2 5 : „altaria quaeque p r o x i m a choro;" 7 1 8 : „minora altaria quae sunt prope chorum." 3 0 0 UDALRICUS 1 8 8 2 w i e A n m . 2 0 , Sp. 7 1 8 : „minora altaria quae sunt p r o p e c h o r u m . . . , in anteriori parte, et in latere dextro, et in sinistro"; die gleiche Formulierung bei BERNARDUS 1 7 2 6 w i e A n m . 6 4 , S. 2 2 2 . 3 0 1 BERNARDUS 1 7 2 6 w i e A n m . 6 4 , S. 1 8 2 : „quinque minora altaria choro proxima." 3 0 2 WILHELMUS 1 8 8 0 w i e A n m . 9 5 , Sp. 1 0 2 2 : „illa altaria, quae sunt choro p r o x i m a ; primum medium, deinde ab eo quod in sinistra parte est extremum incipiens, et ita caetera pertransiens facit desuper incenso semel crucis Signum, et redit in presbyterium." 3 0 3 GUIDO 1 8 8 0 w i e A n m . 1 1 8 , Sp. 1 2 6 9 : „ante altare ... . extra chorum"; WILHELMUS 1 8 8 0 w i e A n m . 9 5 , Sp. 1 0 7 1 : „altare quod est p r o p e ostium ecclesiae ;" Sp. 9 6 0 : „altare quod juxta ostium ecclesiae est." 3 0 4 WILHELMUS 1 8 8 0 w i e A n m . 9 5 , Sp. 1 0 6 4 . u n d 1 1 1 2 : „altare quod est in dextra parte chori." 30
°
EDGAR
LEHMANN,
Die
Anordnung
der
Altäre
in
der
ka-
rolingischen Klosterkirche zu Centula, i n : K a r l der G r o ß e , Lebenswerk und Nachleben, Bd. 3 : Karolingische Kunst, Düsseldorf 1 9 6 5 , S. 3 7 4 - 3 8 3 . 306 O T T O
LEHMANN-BROCKHAUS,
Schriftquellen
zur
geschichte des 1 1 . und 1 2 . Jahrhunderts f ü r Deutschland, ringen und Italien, Berlin 1 9 3 8 , S. 4 1 8 : „presbyterium dicitur sanctum sanctorum."
Kunst-
Lothquod
38
FRIEDRICH M Ö B I U S
Basilika war. 3 0 7 Es besaß Fenster, an seine Wände wurden gelegentlich Kapellen angebaut. 308 Auch wenn es sich nicht über einer Krypta erhob, 309 lag es gegenüber Vierung und Langhaus um einige Stufen 310 erhöht. Als das Sanktuarium des Merseburger Domes eingestürzt war, baute der Bischof es wieder auf, nun im Verband mit zwei Türmen. 3 1 1 Festes Mobiliar enthielt das Sanktuarium nicht. Die Constitutiones Hirsaugienses erwähnen ein Bücherschränkchen, zu Handlungen am Altar werden aus der Sakristei Faltstühle oder Sessel ins Presbyterium getragen, an manchen Kirchenfesten hängen im Presbyterium Wandteppiche aus. 312 Der Kargheit der Ausstattung entspricht eine - im Vergleich zum „chorus" - auffallende Sparsamkeit in der Angabe von Tätigkeiten. Es fehlen sämtliche Verben, die das Verhalten von Betern und Sängern oder Gruppenbewegungen beschreiben. Mit Hineingehen, Eintreten und Ankommen, das sich zumeist auf einzelne Personen bezieht, scheint schon alles bezeichnet, was sich hier raumspezifisch abgespielt hat. 3 1 3 Das für das Sanktuarium überlieferte Räuchern der Altäre fand selbstverständlich auch an den anderen Orten der Kirche statt. Der Teil der frühmittelalterlichen Ostpartie, der die Bauherren ständig in Unruhe hielt, ihnen immer wieder neue architektonische Lösungen abverlangte, scheint außerhalb des Blickfeldes der liturgischen Gesetzgeber gelegen zu haben. Der sprachliche Ausdruck geht dort ins Detail, wo vom Hauptgegenstand des Sanktuariums gesprochen w i r d : von den Altären. 3 1 4 Sie machen den eigentlichen Inhalt des so stillen und menschenleeren Raumes aus. In seiner Mitte erhebt sich der Haupt- oder Herrenaltar, hinter ihm standen - an der östlichen Wand des Sanktuariums - drei, später fünf Altäre, 3 1 5 entweder ein Marien/Johannesaltar „in der Mitte", ein Petrusaltar auf der rechten und ein Paulusaltar auf der linken Seite 316 oder - wie in Hirsau - ein Benediktusaltar „in der Mitte der Ostwand", flankiert rechts vom Altar der römischen Päpste, links von einem Altar des hl. Emmeram. 3 1 7 Das südliche Seitenschiff des mehrschiffig gewordenen Sanktuariums nahm einen Andreasaltar auf, das nördliche einen Laurentiusaltar. 3 1 8 Diese fünf Altäre „hinter dem Hauptaltar" stehen in einem eigentümlichen Analogieverhältnis zu den fünf Altären „in der Nähe des Chores", mit denen sie, wie jetzt endgültig deutlich geworden sein wird, nicht identisch sein können. Das hirsauische Sanktuarium umfaßte demnach (mit dem Hauptaltar) sechs Altäre, sechs Altäre (mit dem
Kreuzaltar) enthielt auch der Quer- und östliche Langhausbereich (Abb. 3). Die Zwölfzahl der Altäre der regulären cluniazensisch-hirsauischen Basilika - deren christologischer und kosmologischer Sinn unbezweifelbar ist - scheint dem ungefähren Umfang nach karolingischer Tradition verpflichtet gewesen zu sein. Ihre Aufstellung allein in der östlichen Hälfte der Kirche ist das entwicklungsgeschichtliche Novum dieser Architektur. Adolf Mettler hatte bereits 1909/10 aus der Abwesenheit von Mobiliar geschlossen: „Im Presbyte-
3 0 7 PETER RAMM, Der Merseburger Dom. Seine Baugeschichte nach den Quellen, Weimar 1977, S. 4 9 : „duas turres una cum sanctuario a fundamento aedificari praecepit;" LEHMANN-BROCKHAUS 1938 wie Anm. 306, S. 29: „culmine sanctuarii", S. 1 8 : „in sanctuario basilice." 308
LEHMANN-BROCKHAUS 1 9 3 8 w i e A n m . 3 0 6 , S. 6 0 : „fenestra
sanctuarii," S. 1 3 : „capella que est in latere sanctuarii ad meridianam plagam." 3 0 9 RAMM 1977 wie Anm. 307, S. 52: „sanctuarium . . . , sub quo et criptam construens fundavit". 3 1 0 LEHMANN-BROCKHAUS 1938 wie Anm. 306, S. 5 3 : „ante gradus sanctuarii"; BERNARDUS 1726 wie Anm. 64, S. 2 0 5 : „ad gradum Presbyterii" ; 288 : „super gradum presbyterii". 3 1 1 Wie Anm. 307. 3 1 2 WILHELMUS 1880 wie Anm. 95, Sp. 1020: „reponit librum in armariolo, quod habet in presbyterio;" Sp. 9 3 4 : „sellae semper sunt in sacristía positae"; BERNARDUS 1726 wie Anm. 64, S. 2 3 6 : „et affertur Uli faldistolium, in quo sedeat" (super pravimentum ante altare); 2 3 6 : „et ibi quoque sedes lili affertur, in quae sedeat"; Chronicon s. Andreae Castri Cameracesii. Monumenta Germaniae Histórica. Scriptores VII, Hannover 1846, Neudruck 1925, S. 5 3 8 : „tapetia, quae in presbyterio pendere solebant." 3 1 3 GUIDO 1880 wie Anm. 118, Sp. 1214: „sacerdos pervenerit in presbyterium"; WILHELMUS 1880 wie Anm. 95, Sp. 1 0 0 9 : „sanctuarium intrat, ut altare incensat"; Sp. 1 0 0 3 : „in sanctuarium veniunt, ut ibi ab abbate aspergantur." 314
LEHMANN-BROCKHAUS
1955-1960
wie Anm. 273,
Register-
band (Bd. 5), S. 3 3 3 : „altare in medio presbyterii", „altare presbyterii", „presbyterium altaris"; BERNARDUS 1726 wie Anm. 64, S. 206 : „coram altari in presbyterio." 3 1 5 GUIDO 1880 wie Anm. 118, Sp. 1 2 3 7 : „altaría quae sita sunt post majus" (altare) ; BERNARDUS 1726 wie Anm. 64, S. 235 : „tria altaría, quae sunt post majus altare" ; 229 : „post ipsum tria habentur altaría"; WILHELMUS 1880 wie Anm. 95, Sp. 1024: „altare Dominicum, ad retro posita quinqué altaría." 3 1 6 BERNARDUS 1726 wie Anm. 64, S. 2 3 0 : „altare Beatae Mariae et Joh. ev. quod medium est" ; 230 : „in altari vero b. Petri, quod ad dexteram situm est"; 2 3 0 : „in altari quoque b. Pauli, quod ad laevam constructum est." 3 1 7 Codex Hirsaugiensis 1843 wie Anm. 269, S. 26: „altare medium ad orientalem plagam"; 26: „altare, quod est proximum medio in dextera parte"; 27: „altare, quod est proximum a medio in sinistra parte." 3 1 8 Codex Hirsaugiensis 1843 wie Anm. 269, S. 26: „altare tercium a medio in dextra parte"; 27: „altare tercium a medio sinistrorum."
Die Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche rium halten sich. . . nur diejenigen Personen auf, die als Zelebranten, Vorsänger, Vorleser, Gehilfen und Diener mit den besonderen Funktionen des Altardienstes betraut sind." 319 Der damit festgestellte Gegensatz zum chorus als dem Versammlungsraum des gesamten Mönchskollektivs besaß ebenso einen räumlichen wie soziologischen Aspekt. Der Sonderraum östlich von Querhaus und Vierung war zum liturgischen Arbeitsplatz allein der ordinierten Mönche, der Priester geworden, jener Schicht im Kloster des frühen Mittelalters, die über die Privatmesse in besonderer Weise mit der Welt außerhalb der Klostermauern in Verbindung stand. Das „presbyterium" wurde durch Cluny zum alleinigen Raum der Presbyter umfunktioniert (in Centula standen im Sanktuarium auch Laienmönche und Klosterschüler). „Das Bewußtsein des liturgischen Unterschieds zwischen Chor und Sanktuarium (blieb) bis ins späte 18. Jh. hinein lebendig." 320 Das zur Fastenzeit „zwischen Hauptaltar und chorus" aufgehängte große Tuch 321 trennte die beiden Räume zeitweise auch für den optischen Eindruck voneinander ab. Außerhalb dieser Zeit aber haben die Klosterleitungen großen Wert darauf gelegt, chorus und sanctuarium liturgisch zu verbinden. Das geschah zunächst und täglich zweimal durch die Konventmessen, die für den im chorus sitzenden Konvent an den Ostaltären des Sanktuariums zelebriert wurden, 3 2 2 wobei der beim Meßaltar sitzende Abt ausdrücklich verpflichtet wurde, sein Gesicht „dem Chore zuzuwenden". 323 Liturgische Gänge, die vom chorus in der Vierung zu einem Altar im Sanktuarium führten oder die etwa den Hebdomadar verpflichteten, nach der Räucherung des Hauptaltars „in seinen Chor" zurückzukehren,32/* leisteten den gleichen Dienst. Gleichzeitig und auch stilistisch einheitlich wurden Chor und Presbyterium an kirchlichen Feiertagen mit Tüchern, Wand- und Bodenteppichen ausgezeichnet, 325 wobei das Sanktuarium den größeren Schmuck erhielt: zwei Dorsalien für den Chor, sechs für das Presbyterium, vier Pallien für den Chor, acht für das Presbyterium, verlangten die Consuetudines Cluniazenses. 326 Verschiedentlich wird bezeugt, daß sich der Chor unmittelbar vor dem Sanktuarium befand. Im Kloster Petershausen führten Stufen vom Chor in den Altarraum hinauf, wer vom Altar die Stufen hinabstieg, gelangte sofort in den Chor. 327 „An den Stufen" zu sitzen, hieß, die architektonische Grenze zwischen dem Ort des Stundengebetes und dem des Altardienstes zu besetzen. 328
Kaumanordnung
als soziales
39 Modell
Wir schlagen vor, das räumliche Verhältnis von Altarhaus, Vierung und Querhausflügel genauer zu bedenken. Alle drei Bereiche sind ebenso voneinander getrennt wie miteinander verbunden. Als „liturgische Kernräume" 329 stellen sie eine geschlossene Gruppe dar, die in sich hierarchisch gestuft ist. Ihr „Grundmaß und Quellpunkt" ist die Vierung, in der sich - seit dem 10. Jh. endgültig - „der adlige Konvent zum Chorgesang versammelt." 330 Querhausflügel und Altarhaus hängen ihr als Teilräume an, wobei die auf der kultischen Mittelachse entwickelte
3 1 9 ADOLF METTLER, Die zweite Kirche in Cluni und die Kirchen in Hirsau nach den „Gewohnheiten" des XI. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichte der Architektur 3, 1909/10, S. 281. 3 2 0 ERNST GALL im Artikel „Chor" des Reallexikons der deutschen Kunstgeschichte, Bd. 3, München 1954, Sp. 489. 3 2 1 WILHELMUS 1880 wie Anm. 95, Sp. 1 0 9 1 : „suspendituir velum inter majus altare et chorum"; BERNARDUS 1726 wie Anm. 64, S. 2 5 7 : „appenditur velum inter altare et Chorum"; 2 5 9 : „velum quod pendet inter altare et chorum." 3 2 2 METTLER 1909/10 wie Anm. 319, S. 2 8 1 : An den drei Altären hinter dem Hauptaltar wurde „regelmäßig die allgemeine Frühmesse gefeiert, wenn sie zugleich missa pro defunctis war, und zwar am Sonntag, Montag und Mittwoch an dem mittleren, der der Maria und dem Ev. Joh. geweiht war, am Dienstag und Freitag rechts am Altar des Petrus, am Donnerstag und Samstag links am Altar des Paulus." Beleg bei BERNARDUS 1726 wie Anm. 64, S. 229. 3 2 3 WILHELMUS 1880 wie Anm. 95, Sp. 1 0 4 9 : „sella e j u s . . . ita est posita, ut facius illius ad chorum sit versa." 324 BERNARDUS 1726 wie Anm. 64, S. 2 2 1 : „per Chorum transit. . . ad Presbyterium redit"; 2 3 5 : „exit de choro, et veniens ante altare"; UDALRICUS 1882 wie Anm. 20, Sp. 7 1 5 : „exit de choro, e t . . . veniat ad altare"; WILHELMUS 1880 wie Anm. 95, Sp. 1 0 0 9 : „exit de choro . . . e t . . . ad altare veniat"; 1 0 0 9 : „Hebdomadarius . . . dextram cornu altaris . . . incensat, et in suo choro postea rediens stabit." 3 2 5 BERNARDUS 1726 wie Anm. 64, S. 3 1 6 : „pavimentum Chori et Presbyterii tapetibus constratum est"; GUIDO 1880 wie Anm. 118, Sp. 1 2 1 9 : „custos ecclesiam adornet, presbyterium atque chorum"; 1 2 3 2 : „ornetur presbyterium atque chorus"; 1 2 4 5 : „decorent presbyterium atque chorum." 3 2 6 UDALRICUS 1882 wie Anm. 20, Sp. 6 5 5 : „quod in choro duo dorsalia, et sex in presbyterio suspenduntur"; 6 5 5 : „quod in choro quatuor pallia et in presbyterio octo suspenduntur." 3 2 7 FEGER 1956 wie Anm. 94, S. 5 6 : „ad ipsum altare per gradus plures ascendebatur de choro"; 1 0 0 : „ab altari per gradus descenderet, per quos tunc ab altari in chorum descendebatur." 328
WILHELMUS 1 8 8 0 w i e A n m . 9 5 , Sp. 9 6 1 :
„hi ad
gradum
sedent"; 9 6 2 : „qui. . . ad gradus . . . sedebant;" vgl. auch LEHMANN-BROCKHAUS
1938
wie Anm. 306,
S. 5 3 :
„sepultus est in
medio chori ante gradus sanctuarii" - das Begräbnis lag in der Mitte des Chores, vor den Stufen des Sanktuariums. 3 2 9 WALTER BOECKELMANN, Die Wurzel der St. Galler Plankirche in: Zeitschrift für Kunstwissenschaft 6, 1952, S. 109. 330
ULLMANN 1 9 6 4 w i e A n m . 2 5 2 , S. 8 9 6 .
40
FRIEDRICH MÖBIUS
7 Sankt Gallen Plankirche (Anfang 9. Jh.). Altaraufstellung und Kommunikationssystem Sonderform des östlichen Altarhauses, gleich, ob einräumig oder mehrschiffig, deutlich über die Nebenräume der nördlichen und südlichen Querhausarme erhöht ist. Altarhaus und Vierung stehen in dieser Gruppe einander rangmäßig am nächsten. Dem geschlossenen Charakter der architektonischen Gruppe scheint auf der Ebene des „architektonischen Bildes" 3 3 1 die strenge Geschlossenheit der hier versammelten adligen Gruppe zu entsprechen, der architektonischen Binnengliederung die sich ausdifferenzierende Sozialstruktur der Mönchskonvente. In der Dualität von Vierung und Altarhaus, die der frühchristlichen Architektur noch unbekannt war, sprach sich offensichtlich die Konkurrenz von Stundengebet und Privatmessendienst aus. Wie sich den Mönchskonventen über die Privatmesse neue Zugänge zur Wirklichkeit erschlossen, so öffnete sich der Raum der Vierung in das räumlich relativ selbständige Altarhaus. D i e karolingische Grundrißerweiterung über das spätantike Querhaus hinaus (Abb. 1, 4) wäre dann ebenso Ausdruck gesellschaftlicher Funktionserweiterung über die traditionellen Grenzen des alten Mönchtums hinaus wie die Erweiterung des karolingischen Altarhauses zum mehrschiffigen cluniazensischen Presbyterium (Abb. 1, 5, 6). Über den wirtschaftlichen und ideologischen Aktivposten der Privatmesse zu besonderer liturgischer Aktivität geführt, bedurften die Priestermönche geeigneter Arbeitsstätten und einer eigenständigen architektonischen Repräsentation ihres sozialen Status. In Centula (Abb. 1) waren die Altäre noch über die ganze Kirche, ja das ganze Klostergelände verteilt. Dem Autor der Sankt Galler Plankirche galten vielleicht die Seitenschiffe als der eigentliche Ort der missa privata (Abb. 7). Der „Prozessiönsweg" 3 3 2 zur Krypta war dort „vollgestellt mit Al-
tären", 3 3 3 die die langschluchtenden Korridore „praktisch in Einzelkapellen" aufteilten. 3 3 4 Seit dem 10. Jh. wurden - beginnend in Burgund - die Langhäuser der Klosterkirchen, wie wir an anderer Stelle gezeigt haben, zu zeitweiligen Volksräumen. 3 3 5 Die an einer kontinuierlichen Privatmessenproduktion gehinderten Priestermönche suchten sich nun östlich des Langhauses neu einzurichten. Das heißt: Die architektonische Entfaltung des Sanktuariums ging auf den Zwang zurück, ehemals das Langhaus besetzende Altäre stärker im Ostbereich zu konzentrieren. Nicht die Gebete der Mönche wurden zur Triebkraft der architektonischen Entwicklung, sondern letztlich soziale Difierenzierungsprozesse außerhalb der Klostermauern, die die Meßzelebration der Kleriker in den Ostbereich abdrängten. Vierung und Altarhaus verkörpern zwischen Centula und Cluny unterschiedliche Entwicklungsphasen frühfeudaler Arbeitsteilung, unterschiedliche Intensitäten dieses Prozesses ebenso wie die wachsende Fähigkeit der Bauherren, kulturellen Anforderungen angemessene architektonische Räume zu schaffen. Die Raumanordnung im Bereich der herr-
331
SIEGFRIED TSCHIERSCHKV, Ü b e r die Mittel und Möglichkei-
ten des „architektonischen Bildes",
in:
Deutsche Architektur
9,
1 9 6 0 ( 6 ) , S. 3 4 2 - 3 4 5 . 332
EMIL REISSER, D i e
Reichenau, Berlin Kunstgeschichte
des
Kantons
1960,
Bd. 3 7 ) ,
St.
Gallen,
frühe Baugeschichte S. 5 2 f. ERWIN
POESCHEL,
Bd. 3 :
des Münsters
( = Forschungen Die
Die
Stadt
zur
zu
deutschen
Kunstdenkmäler
St. Gallen,
2. T e d
das Stift, Basel 1 9 6 1 , S. 2 0 ( = D i e Kunstdenkmäler derSchweiz). Gotteshausplan
von
St. Gallen, ein Spiegel des sich wandelnden Verständnisses
der
333
JOHANNES W A G N E R ,
Der
karolingische
eucharistischen F e i e r im frühen Mittelalter, in: Liturgie. Vollzug und
Gestalt.
Joseph
Pascher
zum
7 0 Geb.,
München
1963,
S. 3 3 0 . 334
POESCHEL 1 9 6 1
335
In einem Buch „Symbolwerte der mittelalterlichen
verfaßt
gemeinsam
Verlag Leipzig.
w i e A n m . 3 3 2 , S. 2 0
mit HELGA SCIURIE, erscheint im
Kunst",
Seemann-
Die Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche scherlich-repräsentativen Ostpartie der frühmittelalterlichen Klosterkirche besaß den Charakter eines sozialen Rangmodells und einer praktisch wirksam werdenden Ordnungsmacht. In der Kirche des frühen Feudalismus organisierte das gestaltete architektonische Bild als „Teil der Wirklichkeit" 3 3 6 täglich neu und immer konkret Einstellungen und Verhaltensweisen, die die „Welt" betrafen. Vielleicht hat der Gang durch die schriftlichen Quellen auch einen Beitrag zur Terminologie unseres Faches leisten können. Ernst Gall hatte 1954 den „mißverständlichen und zu vielen Irrtümern Anlaß gebenden Brauch" gerügt, „mit Chor auch den Altarraum . . . zu bezeichnen", er hatte in der Benennung des Sanktuariums als „Vorchor", „Chorquadrat" oder „Chorhals" eine „Verwirrung der Begriffe" gesehen und darauf hingewiesen, daß das Mittelalter selbst „sehr genau zwischen dem ,chorus' und dem ,sanctuarium' unterschieden" hatte. 337 Bis auf den Artikel „Basilika" des Lexikons der Kunst, der hier dem ent-
41
sprechenden Artikel im Reallexikon der Kunstgeschichte folgt, hat sich die Forschung jedoch Ernst Galls Standpunkt nicht angeschlossen. Noch heute wird in der Literatur allgemein und regelmäßig als „Chor" bezeichnet, was tatsächlich „Altarhaus", „Sanktuarium" oder „Presbyterium" genannt werden sollte. Ernst Gall hatte seine Einsicht ohne Literaturangaben vorgetragen und nur mit wenig überzeugenden Quellen aus dem 13.-15. Jh. gestützt. Wir glauben, der richtigen These die nötige Begründung für das frühe Mittelalter nun nachgereicht zu haben. Der eingeschliffene Sprachgebrauch scheint dennoch nicht mehr korrigierbar zu sein. Wir plädieren für eine problembewußte Verwendung des Begriffes „Chor".
3 3 6 Kunst um 1 4 0 0 am Mittelrhein. Ein Teil der Wirklichkeit. Ausstellung im Liebighaus Museum alte Plastik, Frankfurt/M. 1 9 7 5 . 337
GALL
1954
w i e A n m . 3 2 0 , S. 4 8 8
f.
Der Palast Ottos des Großen in Magdeburg V o n EDGAR LEHMANN
In den zehn Jahren von 1959 bis 1968 wurden auf dem Domplatz in Magdeburg Reste eines großen Gebäudes freigelegt (Abb. 1 und 2). Die Grabungen erfolgten im Auftrage der damaligen Deutschen Aka-
demie der Wissenschaften zu Berlin und standen unter der örtlichen Leitung von Ernst Nickel. Dieser hat in seiner zusammenfassenden Veröffentlichung der Grabungsergebnisse im Jahre 1973 den Bau als Palast
Magdeburg, 1 Lageplan des Gebiets um Dom und Liebfrauenkirche mit Einzeichnung des ottonischen Doms und Pfalzgebäudes. Nach Nickel 1973 wie Anm. 1
Der Palast Ottos des Großen in Magdeburg Ottos des Großen angesprochen. 1 Er schreibt dazu: „Alle Versuche, zum Vergleich ein Gebäude mit gleicher Gliederung zu finden, schlugen fehl. Die auf deutschem Gebiet bekannt gewordenen Pfalzgebäude sind im Grundriß rechteckig. Selbst das ältere Aachen kann als Vorbild nicht gedient haben. Es scheinen Anregungen aus Byzanz vorzuliegen. Byzanz hat im frühen Mittelalter einen gewaltigen Einfluß ausgeübt. P. E. Schramm spricht z. B. für die zweite Hälfte des 10. Jh. .geradezu von einem byzantinischen Zeitalter in bezug auf die kulturelle Vormachtstellung'. Von ihm stammt auch das bezeichnende Wort, daß Byzanz das .Versailles des Mittelalters' gewesen sei ( W A L T H E R OHNSORGE, Byzanz und Abendland, Bad Homburg v. d. Höhe 1963, S. 7). Charakteristisch für Byzanz sind u. a. die Symmetrie, die Apsiden, die sich im Scheitel berühren, und die Gliederung durch Lisenen. Bei der Durchsicht der zur Verfügung stehenden Literatur wurde kein ähnliches Gebäude gefunden. Bedauerlich ist, daß in Byzanz in späterer Zeit die meisten Bauten des frühen Mittelalters zerstört wurden." 2 Bei der Bedeutung Ottos des Großen und der Stadt Magdeburg für die deutsche Geschichte im 10. Jahrhundert, bei der Eigenart vor allem des zutage getretenen „Palastes" hätte erwartet werden dürfen, daß diesem Befund vielfältige Aufmerksamkeit zuteil geworden wäre. Das ist nicht geschehen. Seit 1973 hat sich, soweit ich sehe, niemand näher mit diesem Objekt befaßt. Es soll deshalb im folgenden versucht werden, das Gebäude in die Architekturgeschichte einzuordnen. Ein solcher Versuch stößt allerdings auf die größten Schwierigkeiten. Der wichtigste Grund: Das Gebäude konnte nicht in seiner vollen Ausdehnung ergraben werden. Die den Domplatz östlich begrenzende Straße zu untersuchen, war nicht möglich, obwohl man hier noch wichtige Befunde hätte erwarten können. Noch weiter östlich verwehrte das ehemalige Regierungsgebäude jegliche Untersuchungen, und im Hof dieses Hauses wurde wiederum nicht gegraben (Abb. 1). Der Palast kann also nur nach dem freigelegten westlichen Teilstück seines Grundrisses beurteilt werden, das wahrscheinlich etwa die Hälfte des Ganzen ausmacht. Eine zweite Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß vielfach lediglich Fundamentgräben festgestellt werden konnten. Die Fundamente selbst waren großenteils beseitigt. Aufgehende Reste hatten sich sogar nur an einer Stelle erhalten. 3 Sie lassen auf zweihäuptiges Mauerwerk mit einer Verblendung aus flachen Quaderschichten schließen. Infolge des Fehlens größerer
43
Partien des Aufgehenden, ja, weitgehend selbst der Fundamente, besteht keine Möglichkeit, die genauen Maße des Baues zu erfassen, zumal auch die Fundamentmaße im Aufgehenden bekanntlich sowohl unterals auch, wenngleich seltener, überschritten wurden. Dafür, daß das ergrabene Gebäude auf dem Domplatz mit der „aula regia" gleichgesetzt werden darf, wie es bereits der Ausgräber getan hat, gibt es ausreichend topographische Anhaltspunkte. Der Platz war seit karolingischer Zeit befestigt. 4 Innerhalb dieses befestigten Bezirks wurde 936 von Otto und seiner ersten Gemahlin Editha das Mauritiuskloster gestiftet, dessen Kirche der Kaiser 968 zur Kathedrale erhob. 5 Deren Lage - und teilweise auch deren Gestalt - ist bekannt. 6 Das ergrabene Gebäude folgt der glei-
1 ERNST NICKEL hat diese Ergebnisse in zwei Aufsätzen gleichen Titels und mit weitgehend gleichlautendem Text an zwei verschiedenen Stellen veröffentlicht: NICKEL 1 9 7 3 = ERNST NICKEL, Magdeburg in karolingisch-ottonischer Zeit, in: Zeitschrift für Archäologie 7, 1 9 7 3 , S. 1 0 2 - 1 4 2 ; NICKEL 1 9 7 3 (Göttingen) = ERNST NICKEL, Magdeburg in karolingisch-ottonischer Zeit, in: Vor- und Frühformen der europäischen Stadt im Mittelalter. Bericht über ein Symposium in Reinhausen bei Göttingen von 18. bis 24. April 1 9 7 2 , Teil I ( = Abhandlungen der A k a demie der Wissenschaften in Göttingen, philos.-hist. Klasse, 3. Folge, Nr. 83), Göttingen 1 9 7 3 . 3
V g l . NICKEL 1 9 7 3 w i e A n m . 1 , S. 1 2 7 - 1 2 9 .
3
V g l . NICKEL 1 9 7 3 w i e A n m . 1 , A b b . 1 6 . A u f
Abb. 20
sind
die Reste der Pfeiler im Südwestraum sicher richtig als Fundamente bezeichnet, auf Abb. 1 3 (unsere Abb. 2) eher irreführend als aufgehend. Dagegen könnte von der nördlichen Treppenspindel tatsächlich eine erste aufgehende Steinlage erhalten sein. Vgl. Abb. 1 8 . 4 Vgl. zur historischen Situation in karolingischer Zeit: BERENT SCHWINEKÖPER, Die Anfänge Magdeburgs (mit Berücksichtigung der bisherigen Grabungsergebnisse), in: Studien zu den Anfängen des europäischen Städtewesens. Reichenau-Vorträge 1 9 5 5 - 1 9 5 6 ( = Vorträge und Forschungen, Bd. 4), Lindau und Konstanz 1958,
S. 3 9 4 - 4 0 1 ;
HANS
GRINGMUTH-DALLMER,
Magdeburg,
Haupthandelsplatz der mittleren Elbe, in: Hansische Geschichtsb l ä t t e r 8 4 , 1 9 6 6 , S. 8 - 1 0 ; WALTER SCHLESINGER, Z u r
Geschichte
der Magdeburger Königspfalz, in: Blätter für dt. Landesgeschichte, N F des Korrespondenzblattes, 1 0 4 , 1 9 6 8 , S. 8 - 9 ; NICKEL
1973
wie
A n m . 1,
S. 1 0 4 - 1 0 7 ;
BERENT
SCHWINEKÖPER,
Artikel „Magdeburg" in: Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. 1 1 : Provinz Sachsen Anhalt. Hrsg. von B. SCHWINEKÖPER ( = Kröners Taschenausgaben, Bd. 3 1 4 ) , Stuttgart 1 9 7 5 , S. 2 8 8 - 2 9 2 . Zu der von NICKEL aufgefundenen karolingischen B e f e s t i g u n g v g l . NICKEL 1 9 7 3 w i e A n m . 1 , S. 1 1 4 - 1 1 6
und Abb. 5 . ° Zur historischen und topographischen Situation von Pfalz und Kloster bzw. Erzstift in ottonischer Zeit vgl. SCHWINEKÖPER 1 9 5 8 w i e A n m . 4 , S. 4 0 4 - 4 0 9 ; SCHLESINGER 1 9 6 8 w i e A n m .
4 , S. 1 - 8 ; ERNST SCHUBERT, D e r M a g d e b u r g e r D o m . A u f n a h m e n von
KLAUS
G.
1 9 7 5 wie Anm. 4, 6
Vgl.
BEYER, S.
SCHUBERT
Berlin
1974,
S. 1 1 f . ;
Anm. 5,
S. 1 3 - 1 6 ,
SCHWINEKÖPER
2 9 3 f. 1974
wie
und
trag von GERHARD LEOPOLD im vorliegenden Bande.
den
Bei-
44
EDGAR LEHMANN
chen Ausrichtung wie der ottonische Dom, beide beziehen sich also aufeinander (Abb. 1). D a das Domkloster südlich der Kathedrale lag, war die Pfalz nördlich von ihr zu erwarten. Östlich des ergrabenen Teils der Pfalz, nur wenig aus dessen Achse verschoben liegt zudem das „Regierungsgebäude" aus dem frühen 18. Jahrhundert, das frühere erzbischöfliche Palais, das doch wohl die Nachfolge der Wohngebäude der königlichen Pfalz angetreten hat. In der Mittelachse der „Regierung" liegt noch heute elbseitig der Chor der Gangolphi-Kirche, der einstigen erzbischöflichen Pfalzkapelle, auf die noch zurückzukommen sein wird. 7 D i e Bedeutung Magdeburgs in der Zeit der Sachsenkaiser ist von vielen Forschern hervorgehoben und eingehend erörtert worden. 8 Otto der Große hat sich an keinem Ort so häufig aufgehalten wie in Magdeburg.9 Hier sollte nach dem Willen Ottos neben den alten Hauptorten des Imperiums, Rom und Aachen, das Zentrum seiner eigenen Herrschaft entstehen, „theutonum novus metropolis", wie es in der Adalbertsvita des Brun von Querfurt heißt, oder „praecipua Saxoniae urbs" nach den Quedlinburger Annalen. 10 Otto wollte die Pfalz Magdeburg ebenso zu einer „nova Roma" machen, wie es Karl der Große mit seiner Pfalz in Aachen beabsichtigt hatte. 11 Beide haben Ausstattungsstücke und Bauglieder aus Italien, insbesondere aus Ravenna, in ihre Pfalzen geholt, beide ihre kirchlichen Stiftungen in Aachen und Magdeburg mit kostbaren Reliquien beschen'kt und ausgezeichnet, wobei im Falle Ottos I. möglicherweise daran gedacht war, den Mauritius- und Laurentiuskult zu einer Art Reichskult zu erheben. 12 Bei St. Mauritius, in der Kathedrale seiner neuen Stadt, wollte der Kaiser auch sein Grab bereitet wissen. D i e Bedeutung der Magdeburger Pfalz im 10. Jahrhundert kann also gar nicht überschätzt werden. Doch betrachten wir das ausgegrabene Gebäude näher (Abb. 2)! Den Haupteingang bildete vermutlich eine mächtige Apsidennische in der Mitte der westlichen Begrenzungsmauer des Gebäudes. Sie berührt mit ihrem Scheitel denjenigen einer noch etwas größeren Gegenapsis. Seitlich dieses Doppelnischenmotivs gab es Räume, die dem Bau außen einen rechteckigen Grundriß verliehen. D a ß diese ebenso wie die Nischen selbst gewölbt waren, lassen zwei in ihren Fundamenten erhaltene Rechteckpfeiler auf der Südseite vermuten. Spuren entsprechender Pfeiler wurden auf der Nordseite eigenartigerweise nicht gefunden. Ihre ehemalige Existenz wird wohl dennoch vorausgesetzt
werden dürfen, da der Bau streng axialsymmetrisch angelegt ist. Auf der Höhe der Grundlinie der inneren
7 Von dem 1373 erfolgten Neubau ist nur der Ostteil des Chores erhalten. Das Schiff wurde 1906 beim Umbau des ehemaligen erzbischöflichen Palais abgebrochen. Vgl. HARMS, Die St. Gangolfkapelle in Magdeburg, in: Die Denkmalpflege 8, 1906, S. 1 0 6 f. 8 Es wird hier nur eine kleine Auswahl aus der umfangreichen historischen Literatur zu Magdeburg zitiert: ROBERT HOLTZMANN, Otto der Große und Magdeburg, in: Magdeburg in der Politik der deutschen Kaiser, Heidelberg/Berlin 1936, S. 4 7 - 8 0 ; ALBERT BRACKMANN, Magdeburg als Hauptstadt des deutschen Ostens, Leipzig 1937; HANS-WALTER KLEWITZ, Königtum, Hofkapelle und Domkapitel im 10. und 11. Jahrhundert, in: Archiv für Urkundenforschung 16, 1939, unter anderem S. 120; ROBERT HOLTZMANN, Geschichte der sächsischen Kaiserzeit (900-1024), Berlin o. J. (Nachdruck der 3. Aufl., München 1955 = Unveränderter Nachdruck der 2. Aufl. von 1943), S. 111 und 184 f.;
SCHWINEKÖPER wie
Anm. 4;
1958
wie
SCHLESINGER
Anm. 4; 1968
GRINGMUTH-DALLMER wie
Anm. 4 ;
1966
SCHWINEKÖPER
wie Anm. 4 . Das wird deutlich aus seinem Itinerar, das zugleich für die Rolle Magdeburgs unter Otto I. sehr aufschlußreich ist. Vgl. die Darstellung des Itinerars als Kartenskizze bei THEODOR MAYER, Mittelalterliche Studien. Gesammelte Aufsätze, Baden und Konstanz 1959, Kartenanhang. Diese Karte auch wiedergegeben 1975 9
b e i NICKEL 1 9 7 3 ( G ö t t i n g e n ) w i e A n m . 1, S. 3 2 9 . 10
Zitiert nach SCHLESINGER 1968 wie Anm. 4, S. 15 f. Über Otto in der Nachfolge Karls vgl. z. B. HOLTZMANN 1943 wie Anm. 8, S. 112. Zur Absicht Ottos I., Magdeburg neben Aachen zu stellen, vgl. WALTER GREISCHEL, Der Magdeburger Dom, Berlin 1929, S. 12; BRACKMANN 1937 wie Anm. 8, S. 20; HANS JANTZEN, Ottonische Kunst, München 1947, S. 17 f. Aachen wurde als „Roma secunda" in dem Angilbert zugeschriebenen Preisgedicht auf Karl den Großen bezeichnet. Vgl. ALBERT HUYSKENS, Aachen zur Karolingerzeit, in: Aachen zum Jahre 1951 ( = Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Heimatschutz; Jg. 1951), S. 30. Zum Leitgedanken bei der Gründung der Aachener Pfalz vgl. auch WALTER SAGE, Zur archäologischen Untersuchung karolingischer Pfalzen in Deutschland, in: Karolingische Kunst. Hrsg. von W. BRAUNFELS und H. SCHNITZLER ( = Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, Bd. 3), Düsseldorf 1965, S. 327 f.; WOLFGANG BRAUNFELS, Die Welt der Karolinger und ihre Kunst, München 1968, S. 125. Die Bezeichnung „Lateran" für ein Gebäude der Pfalz in Aachen ist zwar in ihrem Aussagewert umstritten, aber doch wohl kennzeichnend. 11
Vgl.
HERMANN
1 9 5 0 , S. 5 ;
SCHNITZLER, D e r
Dom
zu
Aachen,
GÜNTER BANDMANN, M i t t e l a l t e r l i c h e
Düsseldorf
Architektur
als
B e d e u t u n g s t r ä g e r , B e r l i n 1 9 5 1 , S. 4 8 ; HEINRICH FICHTENAU, B y -
zanz und die Pfalz zu Aachen, in: Mitteilungen des Instituts für Österr. Geschichtsforschung 59, 1951, S. 47 f. Dagegen LUDWIG FALKENSTEIN, Der „Lateran" der karolingischen Pfalz zu Aachen, Köln/Graz 1966 ( = Kölner hist. Abhandlungen 13); gegen ihn SCHLESINGER 1 9 6 8
w i e A n m . 4 , S. 3 0 , A n m . 1 9 7 .
Für
die
Auf-
fassung von Magdeburg als „nova Roma" ist bezeichnend, daß dem ersten Erzbischof von Magdeburg, Adalbert, ein Kollegium von Kardinalspriestern „more Romae ecclesiae" beigegeben wurde, was vorher keiner deutschen Kirche zugestanden worden war. Auch die Tatsache, daß die Echtheit dieses Papstprivilegs nicht völlig gesichert ist, nimmt dem Vorgang wenig von seiner Bedeutung. 997 hat Otto III. das gleiche Privileg - hier mit Sicherheit - für Aachen erwirkt. Vgl. SCHLESINGER 1968 wie Anm. 4, S. 2 5 . 12
V g l . SCHLESINGER 1 9 6 8 w i e A n m . 4 , S. 1 7 .
Der Palast Ottos des Großen in Magdeburg Apsis verbreitert sich das Gebäude und bildet ein gestrecktes, querliegendes Rechteck, das durch einen Fundamentrost in zwei Schiffe und sieben Joche geteilt wird. An die mittleren drei Joche des Rechtecks lehnte sich östlich eine weitere Apsis an, etwas kleiner als die gegenüberliegende westliche; an die äußeren Joche im Norden und Süden grenzen dagegen zwei runde Treppenspindeln. Sie beweisen, daß der Bau mindestens zweigeschossig war. Auf den Kreuzungen des Fundamentrosts werden Stützen gestanden haben, die ein Gewölbe trugen, auf dem der Fußboden des Obergeschosses ruhte. D a ß dieser gesamte westliche Teil mit einer Lisenengliederung geschmückt war, lassen die Fundamente deutlich erkennen. Es konnte festgestellt werden, d a ß sich anschlie-
45
ßend an die Treppentürme sowie neben der östlichen Apsis Mauerzüge nach Osten fortsetzten. Von diesem östlichen Teil des Baues konnte nur der Teil einer vierten, in der Mittelachse liegenden Apside, die nun wiederum nach Osten geöffnet war, festgestellt werden; ihr Scheitel berührte denjenigen der vorgenannten Apsis, so daß sich hier das Doppelapsidenmotiv des Eingangs, kleiner, wiederholte. Innerhalb der Rundung der nach Osten geöffneten Apsis fanden sich Reste eines Steinpflasters. Es mußte unentschieden bleiben, ob es sich um die Pflasterung eines Hofes handelte oder um den Unterboden des Estriches in einem Innenraum. 1 3 D i e Mauern schließlich, die von 1 3
Vgl.
NICKEL
1 9 7 3
w i e
A n m .
1,
S.
1 3 1
f.
2 Magdeburg, Grundriß des ergrabenen ottonischen Pfalzgebäudes. Nach Nickel 1973 wie Anm. 1
aufgehendem
FV"}
Mauerwerk
" " "
vorhandene wahrscheinliche
¿JJLJ
St0'
u n
9
Fundamentgraben
F u n d a m e n f m oue
Verlauf
Abgrenzung der
Grabung
Pftasferung
46
EDGAR LEHMANN
den Treppentürmen nach Osten führen, gehen in kleine, nach Osten offene Apsiden über, mit denen der östliche Teil des Gebäudes wieder etwa die Breite des Kernrechtecks erreicht haben muß. Versucht man dieser buchstabierenden Beschreibung einen Sinn zu verleihen, so scheint es mir am einleuchtendsten, daß das westliche, querliegende Hauptrechteck im Obergeschoß von einem Saal, der „aula" der königlichen Pfalz, eingenommen wurde, der sich auf beiden Langseiten in der Mitte auf eine Apsis öffnete.
Man betrat ihn nach dem Durchschreiten des Untergeschosses über eine der beiden Wendeltreppen von Osten her. Es liegt daher nahe, in der Apsis, die sich im Westen an diesen Saal anschließt, die Thronnische des Kaisers zu vermuten. D i e Räume neben den westlichen Apsiden werden - schon auf Grund ihrer ungewöhnlichen Gestalt - untergeordneten Zwecken gedient haben. Die westliche Nische darf man sich im Aufgehenden als herrscherliches Eingangsmotiv vorstellen.
I\
tOJ
3 Aachen, Lageplan der karolingischen Pfalz. Nach Hugot 1965 wie Anm. 17
Der Palast Ottos des Großen in Magdeburg Schwieriger ist die Deutung des östlichen, eben in seinen Ansätzen noch erfaßten Teils der Anlage, da nicht genug davon bekannt ist. Handelt es sich bei dem Pflaster innerhalb der östlichen Mittelapsis um ein Hofpflaster, so wäre gut vorstellbar, daß sich ein Hof zwischen der „aula" und den Wohngebäuden im Osten erstreckte und daß dieser von doppelgeschossigen Arkadengängen flankiert war. So wären die kleinen, nach Osten offenen Apsiden am ehesten zu erklären. Sie hätten nämlich die Gänge westlich und - so wäre anzunehmen - auch östlich abgeschlossen, wie es aus den „Zangenatrien" - richtiger wäre „Zangennarthizes" - in ähnlicher Verwendung bekannt ist. 14 Auch der Hof selbst wäre, mindestens im Westen, von einer Apsisnische begrenzt gewesen. D i e kleinen Apsiden als Teile eines Ensembles von Innenräumen zu deuten, erscheint mir jedenfals schwieriger als die vorgetragene Erklärung. Aber natürlich bleiben hier ohne weitere Befunde alle Aussagen bloße Vermutungen. Immerhin bilden Reichssaal, Wohntrakt und Pfalzkapelle die normalen Bestandteile einer königlichen Pfalz. 15 Im weiteren Sinne gehören zu ihr noch der Wirtschaftshof, die „curtis", und - gewiß seit ottonischer Zeit - die Befestigung. Auch dieses beides ist durch die schriftlichen Quellen für die Magdeburger Pfalz nachgewiesen. 16 Versuchen wir nun den in der beschriebenen Weise interpretierten Palastbau nach den ihm zugrundeliegenden Ideen und der Herkunft seiner Motive zu analysieren ! D a ß der große Versammlungssaal den bedeutendsten Bauteil in einer frühmittelalterlichen Pfalz ausmacht, ist die Regel. Überraschenderweise liegt er in Magdeburg quer zur Hauptachse des Gebäudes und quer auch zur Achse der Kirche. In den karolingischen Pfalzen von Aachen und Paderborn erstreckt sich der Saal von Westen nach Osten und damit parallel zur Achse der Pfalzkirche (Abb. 3 und 4). 1 7 Nur in Ingelheim ist der Saal ebenfalls nordsüdlich ausgerichtet (Abb. 5). Doch ist hier von der karolingischen Pfalzkapelle nichts bekannt. 18 Die vom Ausgräber, Christian Rauch, als karolingisch angesprochene, normal orientierte Kirche ist erst im späten 9. oder 10. Jahrhundert in den Ingelheim er Pfalzbezirk eingebaut worden. 19 Freilich ist kaum denkbar, daß die karolingische Pfalzkapelle nicht orientiert gewesen sein sollte, aber sie kann, anders als in Aachen, nur ein bescheidenes Bauwerk gewesen sein. Wenig später als in Magdeburg, im frühen 11. Jahrhundert, findet sich die Querlage der Aula auch in Bamberg
47
und etwa gleichzeitig vielleicht auch in Goslar - mit Sicherheit dort um 1050 (Abb. 6). 20 Dennoch ist die Situation in Bamberg und Goslar insofern anders,
14 Vgl. z. B. die Narthizes von St. Gereon in Köln, spätes 4. Jh. ; des Lateranbaptisteriums in Rom, 2. Viertel 5. Jh. ; von San Vitale in Ravenna, 2. Viertel 6. Jh., oder der Bodrum Camii in Konstantinopel, 1. Viertel 10. Jh. 15 Zur Entwicklung der Pfalzen und ihrer Bestandteile vgl. A D O L F G A U E R T , Zur Struktur und Topographie der Königspfalzen, in: Deutsche Königspfalzen. Beiträge zu ihrer historischen und archäologischen Erforschung, Bd. 2 ( = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 11/2), Göttingen 1965, S. 1 - 6 0 . 1G
17
V g l . SCHLESINGER 1 9 6 8 w i e A n m . 4 , S . 1 - 8 .
Zu Aachen vgl. LEO HUGOT, Die Pfalzkapelle Karls des Großen in Aachen, in: Karolingische Kunst. Hrsg. von W. B R A U N FELS und H. SCHNITZLER ( = Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, Bd. 3), Düsseldorf 1965, S. 534-572, zu Paderborn W I L H E L M W I N K E L M A N N , Der Schauplatz, in: Karolus Magnus et Leo Papa Ein Paderborner Epos vom Jahre 799 ( = Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte, Bd. 8), Paderborn 1966, S. 101-107; Ders., Artikel „Paderborn" in: Kunst und Kultur im Weserraum 800-1600. Ausstellung des Landes Nordrhein-Westfalen, Corvey 1966, Bd. 2, Münster 1966, S. 7 4 1 - 7 4 3 ; Ders., Est locus insignis, quo Patra et Lippa fluentant, in: Château Gaillard. Etudes de castellologie médiévale. V. Colloque des Hindsgavl (1970), Caen 1972, S. 1 - 1 0 . 18 Vgl. S A G E 1965 wie Anm. 11, S . 328-332; C H R I S T I A N RAUCH, Die Ausgrabungen in der Königspfalz Ingelheim 19091914. Bearb. und hrsg. von H. J. J A K O B I ( = Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums 2. Studien zur Königspfalz Ingelheim 1), Mainz 1976, sowie die weitere Berichtigung der älteren Rekonstruktion bei K O N R A D W E I D E M A N N , Ausgrabungen in der karolingischen Pfalz zu Ingelheim, in: Ausgrabungen in Deutschland 2 ( = Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums 1/2), Mainz 1975, S. 437-446. 19 Unsere Abb. 5 zeigt noch die überholte Rekonstruktion des karolingischen Zustands mit der erst in ottonischer Zeit eingebauten Pfalzkirche. 20 Zu Bamberg vgl. H E I N R I C H M A Y E R , Bamberger Residenzen. Eine Kunstgeschichte der Alten Hofhaltung, des Schlosses Geyerswörth, der Neuen Hofhaltung und der Neuen Residenz zu Bamberg ( = Bamberger Abhandlungen und Forschungen, Bd. 1), München 1951, S. 11-15 mit Abb. auf S. 13. Zu Goslar vgl. Uvo H O E L S C H E R , Die Kaiserpfalz Goslar ( = Denkmäler deutscher Kunst. Hrsg. vom Deutschen Verein für Kunstwissenschaft. Die deutschen Kaiserpfalzen, Bd. 1), Berlin 1927, S. 103 f. H O E L S C H E R nimmt an, daß die Aula, die Heinrich II. um 10091017 gebaut habe, etwas östlich von der späteren gelegen hat (vgl. unsere Abb. 6). Der heutige Pfalzbau mit dem großen Saal ist nach seiner Meinung im wesentlichen unter Heinrich III. um 1050 entstanden; um 1188-1200 habe er eine prächtige Umgestaltung erfahren. Vgl. S. 105-107, 112-117 und 126-134. Seltsamerweise spricht W I L H E L M W I N K E L M A N N , Die Königspfalz und die Bischofspfalz des 11. und 12. Jahrhunderts in Paderborn, in: Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster, Bd. 4, Berlin (West) 1970, S. 407, sogar unter Berufung auf H O E L S C H E R davon, daß der Palast in Goslar von Heinrich II. errichtet und um die Mitte des 11. Jh. umgebaut worden sei - ein Irrtum? Ebenso aber bereits W A L T E R H O T Z , Kleine Kunstgeschichte der deutschen Burg, Darmstadt 1965, S. 82.
48
EDGAR
LEHMANN
Paderborn, 4 Lageplan der karolingischen Pfalz. Nach Winkelmann 1966 (Epos) wie Anm. 17
als hier nicht nur der große Saal, sondern die gesamte Anlage der Pfalz nordsüdlich und damit quer zur Kirche ausgerichtet ist. D e r querliegende Saal in Magdeburg bei westöstlicher Erstreckung der Anlage bleibt ungewöhnlich. Was Otto zur Drehung des Saales um 90° bewegte, bleibt der freien Spekulation überlassen. Sie könnte durch topographische Gegebenheiten veranlaßt worden sein. Vielleicht standen der Ausdehnung des Palastes nach Westen wie nach Osten örtliche Schwierigkeiten entgegen. 2 1 Doch könnte Otto auch den Wunsch gehabt haben, in der Mitte der Langseite der Aula zu thronen. In Goslar finden wir später die gleiche Situation, und sie ist noch für manche andere hochmittelalterliche Pfalz zu vermuten (Abb. 6). 22 Spielten hier etwa gar Vorstellungen der germanischen Königshalle eine Rolle? 2 3 Von Bedeutung könnte auch der Wunsch gewesen sein, daß die Blickrichtung des Kaisers nach Osten gehen sollte. So war es in Aachen, so war es wieder in Goslar. 2 4 D e r Thron in der westlichen Nische erforderte selbstverständlich, daß der Zugang von der Ostseite her erfolgte, wo denn auch die beiden Treppenspindeln angeordnet sind. Was an der Aula weiter auffällt, sind die beiden Apsiden, auf die sich die Langseitenmitten öffnen. Sie haben, soweit ich sehe, ihre einzige Parallele in der
21 N a c h NICKEL 1 9 7 3 w i e A n m . 1, A b b . 5, lagen die karolingischen Spitzgräben unmittelbar westlich der Palast-Westw a n d . Auch w e n n sie damals sicher schon v e r f ü l l t w a r e n , könnte die alte G r e n z e eine weitere A u s d e h n u n g des Palastes nach W e s t e n behindert haben. Im Osten w a r man mit den W o h n b a u ten vermutlich schon bis dicht an den Steilabfall zur E l b e herangerückt. Natürlich sind solche Überlegungen nicht zwingend. 22
V g l . HOELSCHER 1 9 2 7 w i e A n m . 2 0 , T a f . 4 . -
Der
Sitz
an
einer d e r beiden Langseiten z. B. gewiß auch in d e r Bischofsp f a l z zu W o r m s u n d in d e r H e r z o g s p f a l z zu Braunschweig. Vgl. HOTZ 1 9 6 5 w i e A n m . 2 0 , A b b . Z 5 6 u n d 2 23
57.
Z u r schwierigen und mit E m o t i o n e n belasteten F r a g e nach
d e r G e s t a l t d e r g e r m a n i s c h e n K ö n i g s h a l l e v g l . ALBRECHT HAUPT,
D i e älteste K u n s t insbesondere die Baukunst d e r G e r m a n e n von d e r V ö l k e r w a n d e r u n g bis zu K a r l dem G r o ß e n , 2. Aufl., Berlin 1923, S. 71 f. u n d 252, w o b e i freilich Sta. M a r i a d e N a ranco und Aachen sicher nicht in die R e i h e d e r „germanischen Königshallen" g e h ö r e n : N a r a n c o nicht, weil es ein königliches Lusthaus w a r (vgl. HELMUT SCHLUNK, Spanische Architektur aus der Zeit der asturischen Monarchie, i n : Forschungen und Fortschritte 13, 1937, S. 2 4 2 ) , u n d Aachen nicht, weil es sich an die „Basilika" in T r i e r anschloß. A b e r die schriftlichen N a c h richten ü b e r die nordischen Königshallen scheinen doch zu beweisen, d a ß der Platz des Herrschers dort in d e r M i t t e einer Langseite w a r . Vgl. auch OLE KLINDT-JENSEN, Illustrationen von SVENOLOV EHR£N, W e l t d e r W i k i n g e r , F r a n k f u r t a m Main 1967, S. 142, wonach d e r Platz des Königs o d e r Jarls „mitten v o r dem Langfeuer" war. 24
Vgl.
In Aachen f ü h r t e n zur westlichen Apsis drei Stufen hinauf. HUGOT
1965
wie
A n m . 17,
S. 5 5 0 .
Das
ist
ein
weiterer
G r u n d , hier den Herrscherthron anzunehmen. In G o s l a r ist die Stelle des T h r o n s durch die mächtige Ö f f n u n g in d e r Ostw a n d des Saales bestimmt, d. h. an d e r W e s t w a n d mit dem Blick nach Osten. Vgl. HOELSCHER 1 9 2 7 w i e A n m . 20, T a f . 4.
Der Palast Ottos des Großen in Magdeburg
49
5 Ingelheim, Rekonstruktion der karolingischen Pfalz. Nach Rauch
Empfangshalle Karls des Großen in Aachen (Abb. 3). 25 Allerdings besaß diese eine dritte Apsis an der westlichen Schmalseite, bildete also eine Art zerdehnten Trichorums.In der großen Westapsis wird sich auch der Thron Karls des Großen befunden haben entsprechend dem vorauszusetzenden Vorbild, dem Thronsaal Konstantins des Großen in Trier, der sogenannten Basilika, die ja nur eine Apsis, und zwar auf einer Schmalseite besitzt (Abb. 7). 26 Trotz dieses gravierenden Unterschieds dürfte die Vorbildlichkeit Aachens für Ottos Schöpfung in der Übernahme der beiden seitlichen Apsiden deutlich sein. Auch die Eingangssituation wurde der in Aachen zu vermutenden entsprechend gewählt: rechts und links neben einer der Apsiden. 27 War auf der Rückseite der vermutlichen Thronnische in Magdeburg eine Öffnung angebracht, Fenster oder Tür? Sie hätte es dem Herrscher erlaubt, sich dem Volke zu zeigen. Sie hätte auch der Weisung bestimmter Reliquien - oder gar der Reichsinsignien - dienen können. Das mag als phantastisch und durch keine Überlieferung begründet abgetan werden. Aber die Anordnung der beiden westlichen Apsiden ist in ihrer Monumentalität so auffällig, daß man an eine höhere Zweckbestimmung denken möchte. 4 Architektur
Etwas Drittes ist an der Empfangshalle wesentlich: Sie liegt im ersten Obergeschoß. So selbstverständlich diese Feststellung anmuten kann, sie ist es nur bedingt. Wohnräume lagen zwar bereits seit karolingischer Zeit vielfach im Obergeschoß - und gewiß auch schon früher. Das kann, um nur ein Beispiel zu nennen, der Plan von St. Gallen beim Abtshaus zeigen. 28 Aber in den Pfalzen Karls des Großen nahm die Aula das Erdgeschoß ein (Abb. 3-5). So war es in Aachen und in Ingelheim, und so war es gewiß
25
Vgl.
HUGOT
26
Vgl.
WILHELM
1965
wie
REUSCH,
A n m . 17,
S. 5 4 6 - 5 5 1
Kaiserliche
und
Profanbauten
Fig. 3. des
IV.
Jahrhunderts im Moseltal. D i e Palastaula (sog. Basilika) in Trier. D i e kaiserliche Sommerresidenz in Konz/Saar, in: Frühchristliche Zeugnisse im Einzugsgebiet von Rhein und Mosel. Hrsg. von TH.
K.
1965, 27 28
KEMPP
und
S. 1 4 4 - 1 5 0
W.
REUSCH.
Redaktion
mit Grundriß und
W.
REUSCH,
Trier
Rekonstruktion.
V g l . HUGOT 1 9 6 5 w i e A n m . 1 7 , S. 5 5 5 . Vgl.
HANS
REINHARDT,
Der
St.
Galler
Klosterplan
( =
92.
Neujahrsblatt. Hrsg. v o m Hist. Verein des Kantons St. Gallen), St. Gallen 1952, S. 13. Im Obergeschoß lag das „Solarium", der in Loggien geöffnete Aufenthaltsraum bei günstigem Wetter.
50
EDGAR
auch in Paderborn. 29 Demgegenüber bedeutete die Verlegung des großen Empfangssaales in die Höhe der Wohnräume, ins Obergeschoß, anscheinend eine Neuerung. 30 Sie wurde dann freilich bald in allen Pfalzen verbindlich. Wir sehen es entsprechend unserem derzeitigen Wissen besonders deutlich im 11. Jahrhundert in Paderborn und Goslar (Abb. 6), wo wie in Magdeburg ein zweischiffiges geteiltes Untergeschoß den Hauptsaal trägt. 31 Diesen selbst aber wird man sich wohl - jedenfalls in Magdeburg - entsprechend den karolingischen Vorbildern als ungeteilten, flachgedeckten Raum vorstellen dürfen. Trifft unsere Annahme zu, so bedeutete die Neuerung Ottos des Großen einen wichtigen Schritt auf dem Wege von der karolingischen, noch von Eigenheiten der spätantiken Villa geprägten Palastanlage zur hochmittelalterlichen, mehr und mehr der Burg sich nähernden Pfalz. 32 D i e technische Lösung der „Emporhebung" des Saals durch ein Gitter von Stützen war in der karolingischen Architektur vorbereitet, neuartig waren nur die Dimensionen. Zu denken ist an die karolingischen Hallenkrypten, etwa in St. Gallen, noch entschiedener natürlich an die Westwerk-Untergeschosse, von denen ja das in Corvey aus dem späten 9. Jahrhundert er-
LEHMANN
Kirche und Aula in einer Achse hintereinander, sie waren nur durch einen Gang verbunden. Die Aula war mit 26,5 m X 12,6 m wesentlich kleiner als die Säle in den anderen karolingischen Pfalzen, auch besaß sie keine Apsis. Der Saalbau war vermutlich durch vier Mittelstützen im Untergeschoß zweischiffig, was wohl ein Obergeschoß voraussetzt. Vgl. SAGE 1965 wie Anm. 11, S. 333 f. - In Paderborn erhielt der Saalbau unter Bischof Badurad (etwa 822-860) einen schmalen, länglichen Anbau im Süden und eine Verlängerung mit Thronnische nach Westen. Vgl. unsere Abb. 5. Ob das mit einer Aufstockung verbunden gewesen sein könnte, darüber sagt der Ausgräber nichts ; es ist eher unwahrscheinlich. Vgl. WINKELMANN 1966 (Epos) wie A n m . 1 7 , S. 1 0 6 f , u n d
1966
(Epos)
w i e A n m . 1 7 , S. 1 0 3 - 1 0 7 ,
u n d WINKELMANN
1972
wie Anm. 17, S. 6 - 7 , und unsere Abb. 4. Wenn die Aula zu ebener Erde lag, konnte Karl der Große von seinem „solium", dem ergrabenen Thronsitz im Hof aus, ohne Treppen zu steigen, den Saal betreten. - Zur Paderborner Pfalz vgl. auch die betont allgemeinverständlich geschriebene Zusammenfassung von WILHELM WINKELMANN.- D i e
karolingische
und
die
ottonische
Königspfalz in Paderborn, in: Historische Museen der Stadt Köln. Römer-Illustrierte 2. Das neue Bild der alten Welt. Archäologische Bodendenkmalpflege und archäologische Ausgrabungen in der Bundesrepublik Deutschland von 1945-1975, Köln 1 9 7 5 , S. 2 7 5 - 2 7 8 . 30 Nach unseren derzeitigen Kenntnissen scheint es einen Vorläufer gegeben zu haben: Frankfurt am Main. Diese Pfalz erhielt ihre Gestalt, wie sie die Ausgrabungen erschließen lassen, erst unter Ludwig dem Frommen (814-840). Hier lagen
1972
wie
A n m . 17,
S. 1 0 .
Zum Neubau der königlichen Pfalz unter Bischof Meinwerk (1009-1036) in Paderborn vgl. WINKELMANN 1970 wie Anm. 20, besonders S. 403-409 und Fig. 1, sowie WINKELMANN 1972 wie Anm. 17, S. 10-13. Danach ist unter Meinwerk der Saal hoch und eingeschossig gewesen. Der Umbau zur Zweigeschossigkeit mit zweischiffigem Untergeschoß erfolgte erst in der 2. Hälfte des 11. Jh. - Zum Neubau der Aula unter Heinrich III. (1039-1056) in Goslar vgl. HOELSCHER 1927 wie Anm. 2 0 , S. 1 0 5 - 1 0 7 u n d
112-117. -
JACQUES GARDELLES, L e s
pa-
lais dans l'Europe occidentale chrétienne du 10 e au 12 e siècle, in: Cahiers de civilisation médiévale 19, 1976, S. 121, weist darauf hin, daß auf dem Teppich von Bayeux die Aula für eine Szene in London im Obergeschoß, für eine in Rouen im Untergeschoß dargestellt ist. In Frankreich, Spanien und England sei jedoch das Obergeschoß für die Halle üblich. Seine Feststellungen betreffen aber im wesentlichen die Zeit nach dem 10. Jh., tragen also zur entwicklungsgeschichtlichen Situation Magdeburgs nichts bei. Vgl. zu dieser Frage auch PIERRE HÉLIOT, Sur les résidences princières du X e ou XII e siècle, in: Le Moyen Age, 4. série, Bd. 61, S. 300 und 305 f. - mit gleichem Ergebnis. 32
29 Auf den älteren Grundrissen von Aachen ist ein unteres Geschoß mit Quermauern eingetragen. Nach HUGOT 1965 wie Anm. 17, S. 546, sind diese Räume als Keller vermutlich erst in gotischer Zeit angelegt worden. Der karolingische Saal lag unmittelbar über dem Erdboden. In Ingelheim führten breite Tore in den Langseiten ebenerdig in den Saal. Vgl. unsere Abb. 5. Auch in Paderborn rechnet der Ausgräber mit keinem Obergeschoß des mehrfach erneuerten Saales. Vgl. WINKELMANN
WINKELMANN
31
V g l . SAGE 1 9 6 5 w i e A n m . 11, S. 3 3 4 : „ A n d i e Stelle d e s
großen, an spätantike Tradition anknüpfenden Einraums tritt in der Frankfurter Pfalz somit ein kleinerer, in zwei Schiffe und wohl ebenfalls zwei Geschosse unterteilter Saalbau und damit ein mittelalterlicher Typ, der in der Folge durch Jahrhunderte hindurch eine Vielzahl von Repräsentationsbauten kennzeichnen sollte . . . Vielleicht kennzeichnet das Auftreten eines anderen Saalbautyps eine erste Stufe in der Entwicklung von der unter Karl dem Großen noch bestimmenden antiken Palastidee zur mittelalterlichen Burg." Was hier in Frankfurt an einem bescheidenen Beispiel eingeleitet wird, findet offenbar in Magdeburg seine großzügige Weiterentwicklung. Erst nach Abschluß dieser Arbeit wurde mir der Aufsatz von ADOLF GAUERT, Das Palatium der Pfalz Werla. Archäologischer Befund und schriftliche Überlieferung, in: Deutsche Königspfalzen. Beiträge zu ihrer historischen und archäologischen Erforschung, Bd. 3 ( = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 11/3), Göttingen 1979, S. 263-277, bekannt. Danach wäre (S. 270-272) in Werla, Grone und Merseburg schon zur Zeit Heinrichs I. die Lage der „aula" im Obergeschoß sicher bzw. wahrscheinlich. Der Saal auf der Werla ist mit rund 23 m (im Höchstfall) Länge und 9 m Breite noch bescheidener als der in Frankfurt - falls der von GAUERT dafür in Anspruch genommene, vermutete Obergeschoßraum wirklich den Empfangssaal vorstellte. Der Saal in Grone war noch kleiner (S. 270, Anm. 53). Das „cenaculum" in Merseburg, das mit Gemälden der Ungarnschlacht ausgestattet wurde, muß nicht unbedingt die Aula gewesen sein. Insgesamt bleibt wohl festzustellen, daß die Verlegung der Aula ins Obergeschoß bei kleineren Sälen seit der 2. Hälfte des 9. Jh. vorkommt, aber erst durch den Bau Ottos des Großen in Magdeburg seine Übertragung in wirklich große Verhältnisse erfährt. - Was die Ausführungen GAUERTS zur Pfalzkapelle auf der Werla angeht, so bedürfen sie einer eingehenden Besprechung, die hier nicht eingeschoben werden kann.
51
Der Palast Ottos des Großen in Magdeburg
6 Goslar, Grundriß des Palas der Pfalz um 1050. Nach Hoelscher 1927 wie Anm. 20
halten ist. 33 Wurde dort ein Raum von 16,8 X 10 m gewölbt, so waren es in Magdeburg etwa, 42 X 12,5 m, die zu überdecken waren. In Corvey tragen Säulen die Gewölbe. In Magdeburg könnte es ebenso gewesen sein; freilich wären auch Pfeiler denkbar, zumal, wenn man die Fundamente zweier Rechteckpfeiler im südwestlichen Vorraum für hinweisend hält. Als Gewölbe wird man sich Kreuzgewölbe oder,
33 Zu den St. Gallener Krypten von 830-837 (Ostkrypta) bzw. 867 (Westkrypta) vgl. ADOLF REINLE, Kunstgeschichte der Schweiz, l.Band: Von den helvetisch-römischen Anfängen bis zum Ende des romanischen Stils, 2. Aufl. unter Benutzung der
4*
ersten
Aufl.
(1936)
von
JOSEPH
GANTNER,
Frauenfeld
1968,
S. 146 f. und Abb. 151. Zu Corvey vgl. schon WILHELM EFFMANN, Die Kirche der Abtei Corvey. Aus dem Nachlaß des Verf. hrsg. von A. FUCHS, Paderborn 1929, Abb. 14. Korrekturen bei WILHELM RAVE, Corvey. Geschichtlicher Überblick, kulturelle Würdigung, die Barockanlage, Stadt und Vorstadt, die Mauern der Freiheit, Erneuerungsarbeiten, das Westwerk, der Kaisersaal, die alte Abteikirche, Münster 1958; FELIX KREUSCH, Beobachtungen an der Westanlage der Klosterkirche zu Corvey. Ein Beitrag zur Frage ihrer Form und Zweckbestimmung ( = Beiheft der Bonner Jahrbücher, Bd. 9), Köln/Graz 1963; HERMANN BUSEN, Kloster und Klosterkirche zu Corvey, in: Kunst und Kultur im Weserraum 800-1600. Ausstellung des Landes Nordrhein-Westfalen, Corvey 1966, Bd. 1, S. 19-42; UWE LOBBEDEY, Neue Ausgrabungsergebnisse zur Baugeschichte der Corveyer Abteikirche. Ein Vorbericht, in: Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde 55, 1977, S. 285-297. Sie ändern wenig am grundlegend von EFFMANN erarbeiteten Bild des Untergeschosses im Corveyer Westwerk von 873-885.
52
EDGAR LEHMANN
da der Grundriß der Kompartimente nur in wenigen Fällen quadratisch gewesen zu sein scheint, Tonnen mit Stichkappen vorstellen dürfen. Lassen sich demnach alle wesentlichen Gestaltungsmerkmale der Aula aus der „heimischen", der karolingischen Tradition herleiten, so wäre immerhin bei diesem Punkt, bei der Emporhebung des Saales in ein Obergeschoß auf ein Gitter von Stützen, eine zusätzliche Anregung aus Byzanz denkbar, doch nur in diesem Punkt und eben auch nur denkbar, nicht notwendig. 34 Es hat in Byzanz wahrscheinlich nicht nur ebenerdige Empfangssäle gegeben 35 , sondern auch solche auf einem Gitter von Stützen im Obergeschoß. Erhalten ist in dieser Art freilich nur das sogenannte Tekfur Saraj, das in seinen wesentlichen Teilen erst dem 13. Jahrhundert angehört und vielleicht schon westeuropäische Gewohnheiten des hohen Mittelalter spiegelt 36 . D a ß es aber auch schon früher in Byzanz ähnliche Anlagen gegeben haben wird, legen die Paläste der bulgarischen Residenzen des frühen Mittelalters, Pliska und Preslav (Abb. 8), nahe, in denen ein Saal
7 Trier, Rekonstruktion der „Basilika", d. h. der Palastaula Konstantins des Großen. Nach Reusch 1965 wie Anm. 26 (Umzeichnung von Otto Haikenwälder)
im Obergeschoß auf einem gewölbten Erdgeschoß ruht. Bulgarien war damals kulturell stark von By-
34 M i t diesec B e m e r k u n g m u ß ich d e r Ansicht ERNST NICKELS, des Ausgräbers, widersprechen, o b w o h l ich ihr ursprünglich selbst anhing. Ü b e r die nach NICKEL angeblich byzantinischen M o t i v e - Symmetrie, D o p p e l a p s i d e n u n d Lisenen — w i r d weiter unten das N o t w e n d i g e gesagt w e r d e n . 33 D a ß es solche gab, ist eindeutig. Z u erinnern w ä r e an die Paläste d e r beiden G r o ß e n aus dem f r ü h e n 5. Jh., Antiochos und L a u s o s ; die G r u n d r i s s e ihrer Paläste sind weitgehend bekannt. Vgl. WOLFGANG MÜLLER-WIENER, Bildlexikon zur T o p o graphie Istanbuls. Byzanzion - K o n s t a n t i n o p e l — Istanbul bis zum Beginn des 17. J a h r h u n d e r t s , Tübingen 1977, S. 129 und 238 und A b b . 109. M a n vergleiche auch die ergrabene g r o ß e Apsishalle mit d a v o r l i e g e n d e m quadratischem Peristyl. Ihre genaue Bestimmung und D a t i e r u n g ist durch die Identifizierung mit einem in d e n schriftlichen Quellen genannten Palast nicht gesichert. Nach MÜLLER-WIENER, S. 231, w u r d e sie unter Justinian II. ( 5 6 5 - 5 7 8 ) errichtet, nach WALTER HOTZ, Byzanz, K o n stantinopel, Istanbul. H a n d b u c h d e r K u n s t d e n k m ä l e r , M ü n c h e n / Berlin (West) 1971, S. 86, schwankt die D a t i e r u n g zwischen dem 5. und 7. Jh. E r hält eine Entstehung unter Justian I. um 550 f ü r wahrscheinlich. Z u bemerken ist die Ähnlichkeit dieser Apsishalle mit d e r „Basilika" Konstantins des G r o ß e n in Trier, ein Zeugnis der noch ungebrochenen Einheit d e r spätantiken W e l t um das Mittelmeer. 36
V g l . z. B . RICHARD KRAUTHEIMER, E a r l y C h r i s t i a n a n d
By-
zantine Architecture ( = Pelican history of art 2 4 ) , Penguin Books 1965, S. 309, o d e r MÜLLER-WIENER 1977 wie A n m . 35, S. 247.
Der Palast Ottos des Großen in Magdeburg
53
Auch schriftliche Quellen bestätigen, daß es in Byzanz Paläste mit dem Empfangsraum im Obergeschoß gab. Vom Trikonchos des Kaisers Theophilos (829 bis 842) ist beispielsweise überliefert, daß er sich im Untergeschoß als Grotte, im Raum darüber erst als Empfangssaal darbot.' 10 Aber gerade diese Nachricht läßt auch ahnen, wie anders eine byzantinische Palastanlage im Vergleich mit Magdeburg ausgesehen haben wird. In Byzanz ist es eine Ansammlung von Einzelgebäuden um weite, begrünte, durch fließende Wasser angenehm gekühlte Höfe, die Gebäude teilweise durch Gänge miteinander verbunden. 4 1 Etwas ähnliches war in dem beengten Raum einer befestigten ottonischen Pfalz nicht nachzubilden. Obwohl in der Zeit Ottos des Großen die Beziehungen zwischen den beiden Kaiserhöfen eng waren und sogar zur Heirat Ottos II. mit einer byzantinischen Prinzessin führten, ist ein klarer Nachweis für die Anlehnung des Magdeburger Palastbaus an byzanti-
37
Vgl.
MILKO BITSCHEW, D i e
Architektur in B u l g a r i e n .
Von
der ältesten Zeit bis zur nationalen Befreiung 1878, ohne Ort und Jahr (1962), S. 19 f. und 23, sowie CYRIL MANGO, Byzantinische Architektur ( = Weltgeschichte der Architektur), Stuttgart 1975, S. 3 0 0 - 3 0 3 ; zu Preslaw auch V. IVANOVA-MAVRODINA, Preslav. Vodae za starinite i Muzeja, Sofia 1963. 38
Vgl.
ROBERT
DEMANGEL
des Manganes, Paris 1939 sowie
HOTZ
1971
wie
et
ERNST
MAMBURY,
Le
quartier
(war mir leider nicht zugänglich),
Anm. 35,
S. 8 6 - 8 8 ,
und
MÜLLER-WIENER,
1 9 7 7 w i e A n m . 3 5 , S. 8 6 - 8 8 u n d 1 3 6 f. 39
1o 1 2.3456769
M
8 Pliska, Grundriß des Palastes. Nach Bitschew 1962 wie Anm. 37 zanz abhängig. 3 7 Wie ihr byzantinisches Vorbild ausgesehen haben könnte, darf möglicherweise aus dem Palast bei den konstantinischen Manganen erschlossen werden, dessen Kellergeschoß 1 9 2 1 - 1 9 2 3 von französischen Forschern ausgegraben wurde (Abb. 9). 3 8 Wie in Pliska und Preslav ist innerhalb einer rechteckigen Gesamtanlage ein mittlerer Hauptteil von seitlichen Raumreihen begleitet. D a s Gebäude in Konstantinopel zeigt im Keller ein Gitter aus schweren Pfeilern und dazwischen gestellten Säulen, die Kuppeln trugen. D a s Erdgeschoß könnte diese Anordnung wiederholt und erst das folgende Geschoß den stützenlosen Saal enthalten haben, zumal wenn der Bau, wie einige glauben, fünfgeschossig war. 3 9
Nach
MÜLLER-WIENER
1977
wie
Anm. 35,
S. 1 3 6 f . ,
ist
dieser Palast von Konstantin IX. Monomachos ( 1 0 4 2 - 1 0 5 5 ) errichtet worden, und zwar für seine Mätresse Skierina in der Nähe des Georgsklosters bei den Manganen. Nach HOTZ 1971 wie Anm. 35, S. 86, ist Basileios I. ( 8 7 6 - 8 8 6 ) sein Erbauer, er habe sich fünf Stockwerke hoch erhoben. Auf die Quellen, die letzteres berichten, beruft sich auch KARL WÜLZINGER, Byzantinische Baudenkmäler zu Konstantinopel auf der Seraispitze, die Nea, das Tekfur-Serai und das Zisternenproblem ( = Mittelmeerländer und Orient. Sammlung kunstwissenschaftlicher Studien. Hrsg. von K. WÜLZINGER, Bd. 1), Hannover 1925, S. 19 f. Für beide Auffassungen gibt es offenbar Hinweise in den schriftlichen Quellen. Zur Frage, welche Identifizierung mehr Wahrscheinlichkeit für sich hat, vermag ich nicht Stellung zu nehmen. Für die vorliegende Studie ist das auch nicht entscheidend. Die bulgarischen Paläste lassen jedenfalls ältere hauptstädtische Vorbilder vermuten. 40
Vgl.
KRAUTHEIMER
1965
wie
Anm. 36,
S. 2 5 2 .
Ähnlich
war noch immer die Zisa bei Palermo angelegt, ein Bau der Normannenkönige
von
etwa
1165-1180.
V g l . WOLFGANG
KRÖ-
NIG, D i e Rettung der „Zisa", des normannischen Königsschlosses in Palermo, in: Kunstchronik 26, 1973, S. 1 3 3 - 1 5 1 , und Ders., II palazzo reale normanno della Zisa a Palermo. N u o v e osservazioni, in: Commentari (Roma) 26, 1975, S. 2 2 9 - 2 4 7 . So etwa beschreibt es KRAUTHEIMER 1965 wie Anm. 36, S. 2 5 1 - 2 5 5 . Als späten Verwandten dieser Anlagen verweist er auf die Alhambra zu Granada.
54
EDGAR
nische Vorbilder nicht zu erbringen. Ein solcher Nachweis wäre wohl auch dann nicht zu führen, wenn un-
LEHMANN
sere Kenntnis der möglichen byzantinischen Vorbilder besser wäre, als sie es leider ist. Eher könnten, so
9 Istanbul, Grundriß und Schnitt vom Kellergeschoß des Palastes bei den Manganen. Nach Hotz 1971 wie Anm. 35
Der Palast Ottos des Großen in Magdeburg möchte man meinen, in der Ausschmückung der Räume byzantinische Vorbilder und Originalstücke eine Rolle gespielt haben. Doch ist davon leider nicht mehr das geringste nachweisbar. Durch seine relativ gute Erhaltung - es waren noch einige Steinlagen des Aufgehenden zu sehen - hob sich nach der Ausgrabung das charakteristische Motiv der sich aneinanderlehnenden Apsiden im Westteil des Palastes besonders deutlich ab. 42 Betrachten wir zunächst die Westapsis für sich allein! Sie erinnert natürlich sofort an die hohe Eingangsnische des Aachener Münsters. 4 3 Freilich besitzt diese einen deutlich flacheren, segmentförmigen Grundriß, auch fehlen ihr die vorspringenden antenartigen Pfeiler (Abb. 3 ) ; vor allem aber hebt die Nische in Aachen die Pfalzkapelle, einen Sakralraum, hervor, während sie in Magdeburg einen profanen Saalraum auszeichnet. Trotz aller dieser Unterschiede fällt es schwer, hier nicht an eine Wiederaufnahme des Motivs und - möglicherweise - sogar an seine bewußte Verpflanzung an den Palast zu denken. Leider wissen wir nicht, wie hoch die Nische in Magdeburg hinaufreichte, ob sie eine ähnlich imposante Höhe besaß wie die Aachener. Wir wissen nicht einmal sicher, ob sie den Eingang bezeichnete, obwohl das auf Grund der topographischen Lage als sehr wahrscheinlich angesehen werden muß. 4 4 Wir wissen weiterhin nicht, ob sie in der Höhe ein Fenster oder sogar einen kleinen Balkon umschloß, womit sich die bereits oben berührten Möglichkeiten der Vorweisung hätten ergeben können. D a ß aber hier eine aus der Antike über Aachen übernommene Hoheitsform den Palast schmückte, die ihn weithin sichtbar heraushob, das läßt sich mit großer Gewißheit sagen. 45 Unentschieden muß dann wiederum bleiben, ob, Otto der Große vor dieser Eingangsnische eine Reiterstatue aufstellte, wie es Karl der Große vor seinem Palast in Aachen getan hatte. Doch ist das nicht unwahrscheinlich, wie erst kürzlich auf Grund neuer Überlegungen zum sogenannten Magdeburger Reiter und seiner ursprünglichen Bedeutung daigetan werden konnte. 46 Über die zweite große westliche Apsis wurde bereits im Zusammenhang mit der Aula gesprochen und für sie die Aufgabe, als Thronnische zu dienen, vermutet. Es erscheint mir jedoch notwendig, die beiden Apsiden im Westteil des Palastes zusätzlich als einheitliches Motiv zu werten, zumal es sich weiter östlich wiederholt. Im Aachener Palast und überhaupt in der karolingischen Architektur läßt sich kein Vor-
55
bild finden. Das Motiv der Doppelapsis ist offenbar der spätrömischen Architektur entlehnt. Man findet es dort im Palast-, Villen- und Thermenbau; freilich nirgends in so prononcierter, auffälliger Verwendung. 47 Mindestens im Palastbau ist es andeutungsweise auch in Byzanz nachzuweisen. 48 Am ähnlichsten erscheint die mächtige Doppelapsis am Tempel der Venus und Roma in der ewigen Stadt. 4 9 Sie dürfte im 10. Jahrhundert noch aufrecht gestanden haben, da in die westliche der Apsiden schon seit dem 9. Jahrhundert eine Kirche hineinragte. 50 Doch da ikonographisch dieser Rest eines heidnischen Tempels 42
V g l . NICKEL 1 9 7 3 w i e A n m . 1 , A b b .
16.
Vgl. FELIX KREUSCH, Kirche, Atrium und Portikus der Aachener Pfalz, in: Karolingische Kunst. Hrsg. von W . BRAUNFELS und H. SCHNITZLER ( = K a r l der Große. Lebenswerk und Nachleben, Bd. 3), Düsseldorf 1 9 6 5 , S. 4 6 3 - 5 3 3 , besonders Abb. 8 und 1 2 . 4 4 Der Zugang zum Gelände des „Castrum" dürfte stets von Westen her erfolgt sein, w o die alte Hauptstraße Magdeburgs, der Breite Weg, vorbeiläuft. 43
43
Zum
Bogen
als
Hoheitsform
vgl.
HANS
GERHARD
EVERS,
Tod, Macht und Raum als Bereiche der Architektur, München 1 9 3 9 , S. 1 0 4 - 1 0 7 , sowie BANDMANN 1 9 5 1 wie Anm. 1 1 , S. 1 0 7 f., wo von „weltlicher Apsis" gesprochen wird. (Doch soll damit nicht allen Folgerungen BANDMANNS an dieser Stelle zugestimmt werden.) Wichtig erscheint noch sein Hinweis auf das spätantike Beispiel eines monumentalen Nischenportals an der Basilika zu Leptis Magna. 46
Vgl.
ERNST SCHUBERT, M a g d e b u r g
und
der
Magdeburger
Reiter. Im Druck. 4 7 Im Palastbau: Im Palast des Domitian auf dem Palatin von 8 1 - 9 6 taucht das Motiv im Nordtrakt auf. Vgl. GUIDO KASCHNITZ VON WEINBERG,
Römische
Kunst,
Bd. 4 :
Die
Bau-
kunst im Kaiserreich ( = Rowohlts deutsche Enzyklopädie), Reinbek
1963,
S. 7 5 - 7 7
und
A b b . 9,
oder
FRIEDRICH
RAKOB,
Rö-
mische Architektur, in: THEODOR KRAUS, Das römische Weltreich ( = Propyläen Kunstgeschichte, Bd. 2), Berlin 1 9 6 7 , S. 1 8 9 und Abb. 29. - Im Villenbau: Villa zu Fliessem aus dem späten 2. oder frühen 3. Jh. im südöstlichen Ecktrakt. Vgl. KARL MARIA SWOBODA, Römische und romanische Paläste, Wien 1 9 1 9 , S. 1 4 1 und Abb. 66. - Im Thermenbau: Caracalla-Thermen in Rom, Anfang 3. Jh., hier begegnen sich freilich Halbrundnischen mit Segmentnischen. Vgl. auch Trier, Kaiserthermen, 1. Hälfte 4. Jahrhundert, hier stoßen Apsiden an den Rundraum des Tepidariums.
Vgl.
DANIEL
KRENCKER
und
EMIL
KRÜGER,
Die
Trierer Kaiserthermen. Ausgrabungsbericht und grundsätzliche Untersuchungen ( = Trierer Grabungen und Forschungen 1,1), Augsburg 1 9 2 9 , S. 2 7 0 und Taf. 2. Grundriß der CaracallaThermen auch bei RAKOB 1 9 6 7 , Fig. 20 auf S. 1 8 0 . 4 8 Vgl. z. B. die Paläste des Antiochos und des Lausos, wo sich gerundete Vorhöfe an runde Innenräume legen. Vgl. MÜLLER-WIENER 1 9 7 7 w i e A n m . 3 5 , S. 1 2 4 u n d 2 3 8 s o w i e A b b . 1 0 9 . 4 9 Der Tempel wurde 1 2 1 - 1 3 6 / 3 7 von Hadrian errichtet, brannte 2 8 3 ab und wurde 3 0 7 von Maxentius neu gebaut. Vgl. ERNEST NASH, Bildlexikon zur Topographie des alten Rom, Bd. 2, Tübingen 1961/62, S. 4 9 6 ; RAKOB 1 9 6 7 wie Anm. 47, 5. 1 6 1 , oder EBERHARD PAUL, Antikes Rom, Leipzig 1 9 7 0 ,
S.
173-176.
Sta. Maria Nuova, seit dem 17. Jh. gewöhnlich San Francesca Romana genannt. Vgl. PAUL 1 9 7 0 wie Anm. 49, S. 1 7 4 . 60
56
E D G A R LEHMANN
für die kaiserliche Architektur des 10. Jahrhunderts
Wenn wir uns nun den östlich des Saalbaus gelege-
keinen Be2ugspunkt bot, ist eine Anregung für Mag-
nen Teilen der Pfalz zuwenden, müssen unsere Aus-
deburg von dieser Ruine schwer vorstellbar. A m so-
führungen
genannten
Tempel
der Minerva
Medica
in
51
Gartenpavillon, wurde bald nach dessen Errichtung
nus.
sie wird um 3 2 0 angesetzt - ein „Zangenatrium"
angebaut, an dessen Apsiden sich Gegenapsiden anlehnten (Abb. 1 0 ) . 5 1 Hier ist also das Magdeburger Motiv exakt vorgebildet,
sogar mit Türen in den
Scheiteln der Apsiden. Doch ist hier wiederum kaum zu erwarten, daß die Gegenapsiden des Atriums, die erst im 2 0 . Jahrhundert wieder festgestellt wurden, im 10. Jahrhundert noch zu sehen gewesen sein könnten. So bleibt nur der Schluß, daß in Magdeburg ein spätrömisches Motiv von ausdrucksvoller, hoheitlicher Strahlungskraft wieder aufgegriffen wurde, ohne daß die Quelle genau benannt werden könnte. Bedeutete die Einfügung der großen Eingangsnische schon eine gewisse Sakralisierung des Palastbaus, so wurde diese Annäherung an das „palatium sacrum" der Spätantike noch verstärkt durch die volle axiale Symmetrie des Baues, die in dieser Weise sonst beim Profanbau nicht üblich w a r . 5 2 Auch die Wendeltreppen in ihrer symmetrischen Anordnung, die den Palast sogar turmartig überragt haben könnten, sind offenbar dem Kirchenbau entlehnt. D o r t sind sie in der Zeit vor dem Bau des Palastes Ottos des Großen mehrfach nachweisbar, nicht dagegen im Profanbau. 5 3 Ob man die Lisenengliederung als sakrales Motiv ansehen darf, ist weniger sicher. E s findet sich ebenso an den Aulagebäuden in Trier und Aachen, die somit für Magdeburg vorbildlich geworden sein könnten (Abb. 7 und 1 1 ) . Freilich wurde es auch bereits im späten 4. Jahrhundert in großartiger Weise auf den Kirchenbau übertragen und blieb dort bis ins 13. Jahrhundert hinein üblich. 54 D i e von hohen Bögen zusammengefaßte
Lisenengliederung
darf aber wie
die hohen Nischen als Hoheitsmotiv aufgefaßt werden. D a s gilt für den sakralen wie für den herrscherlichen Bereich. W i r wissen im übrigen nicht, ob die Lisenen in Magdeburg oben durch einen großen Bogen oder durch einen Rundbogenfries verbunden waren. Nach dem Aachener Vorbild ist gewiß das erstere wahrscheinlicher. Doch sollte man sich vielleicht auch daran erinnern, daß die von Ottos Bruder,
Erzbi-
schof Brun, geförderte Kirche, St. Pantaleon in Köln, am Schiff hohe Einzelbögen zeigte, am wenig jüngeren
Westwerk
(Abb 1 2 ) . 5 5
dagegen
bereits
noch
hypothetischer
Rom,
einem als großer Kuppelsaal gestalteten kaiserlichen -
notwendigerweise
Rundbogenfriese
D e r B a u stand in den Gärten des Kaisers P. Licinius G a l l i e Mit
dem
Nymphäen Sicherung
Atrium
und der
zusammen
die
rückwärtigen
Kuppel
angebaut.
wurden
auch
Strebepfeiler Vgl.
die
seitlichen
zur
statischen
MICHAEL STETTLER,
G e r e o n in K ö l n und der sogenannte T e m p e l der Minerva dica in R o m , i n : Jahrbuch des Römisch-Germanischen museums
Mainz 4,
4 9 , B d . 2, S. 1 2 7 ;
1957,
S. 1 2 3 - 1 2 8 ;
RAKOB 1 9 6 7
NASH
1961/62
wie A n m . 4 7 , S. 1 9 6
St. Me-
Zentral-
wie
Anm.
mit Fig.
37;
PAUL 1 9 7 0 w i e A n m . 4 9 , S . 1 3 1 f. 52
Zum T h e m a „palatium sacrum" gibt es eine weitverzweigte
Literatur. Ich beschränke mich hier auf ein Zitat von BANDMANN 1 9 5 1 , wie Anm. 1 1 , S. 1 2 6 : „Sein (des römischen Herrschers) Palast und alles ihm Gehörige galten als sacrum." In Anm. 2 1 auf dieser Seite und in Anm. 1 8 5 auf S. 8 4 finden sich einige weiterführende Literaturangaben zu diesem T h e m a . D a ß der Begriff noch im Frankenreich eine R o l l e spielte, zeigt FICHTENAU 1 9 5 1 , wie Anm. 1 1 , S. 1 3 , mit seinen Bemerkungen zum G e brauch des Ausdrucks am fränkischen H o f . 6 3 Symmetrisch angeordnete Wendeltreppen in Rundtürmen finden sich in Kirchenbauten aus der Zeit vor dem Magdeburger Palast an der Aachener Pfalzkapelle um 7 9 0 - 8 0 5 , vermutlich am D o m zu K ö l n um 8 0 0 (Periode V I ) , auf dem Plan von St. Gallen um 8 2 0 , an der Frankfurter Pfalzkirche im 3 . Viertel des 9. J h . und am D o m zu Würzburg (Bau I I ) in der 1. H ä l f t e des 1 0 . J h . V g l . Vorromanische Kirchenbauten. K a t a log der D e n k m ä l e r bis zum Ausgang der Ottonen. Hrsg. vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte. B e a r b . von FR. OSWALD,
L.
SCHÄFER,
H.
R.
SENNHAUSEN,
München
1966-1971,
S.
14-
1 6 , 1 4 0 f., 1 9 5 , 7 8 - 8 0 und 3 8 2 mit Grundriß. E i n e Zwischenstellung zwischen sakraler und profaner Architektur nimmt die Torhalle zu Lorsch ein, spätes 8. Jh., die j a ebenfalls von W e n deltreppen flankiert ist. Vgl. Vorromanische Kirchenbauten 1 9 6 8 . S. 1 8 3 . In der byzantinischen bzw. byzantinisch beeinflußten Architektur der Frühzeit gibt es, soweit ich sehe, runde W e n d e l treppen in paariger Anordnung nur an den Narthizes von San Vitale in Ravenna, um 5 3 0 - 5 4 7 , und an der Rundkirche zu Preslaw, 10. J h . Vgl. MANGO 1 9 7 5 , wie Anm. 3 7 , S. 1 2 9 - 1 3 8 und S. 3 0 0 - 3 0 5 . D a ß vor 9 5 0 im ostfränkischen G e b i e t auch schon Treppen mit geraden Läufen benutzt wurden, kann der sog. Granusturm in Aachen zeigen, der unter anderem die Außenlaufgänge an der Empfangshalle K a r l s des G r o ß e n zugänglich machen sollte. Vgl. HUGOT 1 9 6 5 wie Anm. 1 7 , S. 551— 5 5 3 . Im Sakralbau kenne ich aus der Frühzeit solche Treppentürme nur an den Westwerken von Corvey, 8 7 3 - 8 8 5 , und W e r den, nach 8 7 5 - 9 4 3 . Vgl. Vorromanische 1 9 7 1 , S. 5 5 - 5 7 und S. 3 6 8 - 3 7 1 .
Kirchenbauten
5 4 Im 4 . J h . z. B . an San Simpliciano in Mailand. EDOARDO ARSLAN, Ultime novità a San Simpliciano, i n :
1966Vgl. Arte
lombarda 6 , 1 9 6 1 , S. 1 4 9 - 1 6 4 . D i e Lisenengliederung, durch Bögen oder Bogenfriese verbunden, ist in den Ländern am westlichen Mittelmeer so verbreitet, daß sie PUIG Y CADAFALCH als ein wesentliches Element des „premier art roman" auffassen konnte. So in seinem B u c h : L a géographie et les origines du premier art roman. Paris 1 9 3 5 (katalanische A u s g a b e : Barcelona 1 9 3 0 ) . 5a Zu Geschichte HANS
ERICH
und B a u
KUBACH/ALBERT
von
St. Pantaleon
VERBEEK,
in
Romanische
Köln
vgl.
Baukunst
an Rhein und Maas. K a t a l o g der vorromanischen und romanischen D e n k m ä l e r ( = D e n k m ä l e r deutscher Kunst. Hrsg. vom Deutschen Verein für Kunstwissenschaft), B d . 1, Berlin (West) 1 9 7 6 , S. 5 8 2 591.
57
Der Palast Ottos des Großen in Magdeburg
10 Rom, Grundriß des „Tempels der Minerva Medica". Nach Günther Stanzl, Längsbau und Zentralbau als Grundthemen der frühchristlichen Architektur, Wien 1979
werden, als sie es schon für die westlichen
Teile
liche Villen bekannt und beide Gruppen
waren. W e g e n der drei nach Osten geöffneten Apsi-
nur
bedingt
mit
frühmittelalterlichen
natürlich
königlichen
den und den Resten eines vermutlichen Hofpflasters
Pfalzen vergleichbar. V o n den Herrschersitzen vor-
in diesem Bereich möchte ich, wie gesagt, annehmen,
karolingischer Zeit wissen wir wenig oder nichts. Al-
daß Aula und Wohngebäude durch einen Hof von
lein
die
Kontinuität
des
allgemeinen
Prinzips
etwa 2 6 m B r e i t e und nicht näher zu bestimmender
feststellbar. Sie ging im hohen Mittelalter
L ä n g e - er könnte etwa quadratisch gewesen sein
verloren, daß der Zwang zu stärkerer
-
ist
dadurch
Befestigung
getrennt waren, durch einen Hof, der im Norden und
die noch vom Villenbau geprägten Pfalzen der karo-
Süden von
Gänge
lingischen Zeit mehr und mehr verwandelte und sie
müssen zweigeschossig gewesen sein, denn der Herr-
den verschiedenen Typen der Burg anglich. 5 9 M a g -
scher dürfte, um von seiner Wohnung aus in den
deburg könnte hier eine gewisse
Empfangssaal
eingenommen haben.
Gängen
begleitet wurde. D i e s e
zu gelangen,
schwerlich eine
Treppe
Übergangsstellung
hinab- und dann in den Wendeltreppen des Saalbaus wieder hinaufgestiegen sein. Treppen zu steigen, war gegen die herrscherliche W ü r d e . 5 6 Auch in Aachen verband Halle, Obergeschoß des Torbaus und E m pore der Pfalzkapelle ein doppelgeschossiger G a n g . 5 7 M i t der hier vermuteten Anordnung würde sich die Pfalz Ottos des G r o ß e n in ihrer Anlage im Grundsätzlichen dem V o r b i l d Karls des G r o ß e n in Aachen wiederum insofern annähern, als sich beide vom spätantiken Villenbau beeinflußt zeigen. W i e bei diesem besteht das Ganze aus einzelnen Gebäuden, die durch H ö f e getrennt und durch ein- oder zweigeschossige G ä n g e zum T e i l miteinander verbunden sind. 5 8 Die
Herleitung
aus
dem
spätantiken
Villenbau
ist gewiß außerordentlich summarisch. E s fällt jedoch schwer, sie zu präzisieren. A u ß e r den Prunkvillen der spätrömischen K a i s e r sind aus späterer Z e i t nur länd-
5 6 Bezeichnend dafür ist, daß der Zugang zum Obergeschoß der Doppelkapellen oder zu den im Obergeschoß des Westbaus gelegenen Hofkapellen gewöhnlich über eine Brücke von den benachbarten Wohnräumen aus erfolgen konnte. Leider kenne ich keine ausreichende Zusammenstellung solcher Beispiele, auf die ich verweisen könnte. 57
Vgl.
KREUSCH
1965
wie
Anm. 43,
S. 5 1 1 - 5 2 9 .
Darüber-
hinaus war die Empore in Aachen offenbar auch über den nördlichen Annexbau ohne Treppen zu erreichen; möglicherweise war dieser Eingang mit dem Wohnteil des Palastes verbunden. Vgl. HUGOT 1965 wie Anm. 17, S. 565 und Abb. 9, wo die entsprechende Tür am Oktogon eingezeichnet ist. 5 8 In diese Gruppe gehört natürlich auch die Pfalz in Ingelheim, vgl. unsere Abb. 5. Zum spätantiken Villenbau vgl. vor allem die Beispiele bei SWOBODA 1919 wie Anm. 47. Vgl. weitet RAKOB 1967 wie Anm. 47, S. 157 und 1 8 3 - 2 0 1 , sowie REUSCH
1965
wie
Anm. 26,
S. 1 5 0 - 1 5 2
merresidenz in Konz/Saar). 69
V g l . GAUERT 1 9 6 5 w i e A n m . 1 5 .
(Die
kaiserliche
Som-
58
E D G A R LEHMANN
t AC
11 Aachen, Rekonstruktionen des Aufrisses der Aula Karls des Großen, Südseite. Nach Hugot 1965 wie Anm. 17
Ungewiß bleibt, ob und wie Pfalz und Klosterkirche bzw. Kathedrale, die so deutlich aufeinander Bezug nahmen, auch tatsächlich miteinander verbunden waren. Die Grabung hat am Saalbau keine nach Süden abzweigenden Mauern feststellen können. 60 Man wird, im Unterschied zu Aachen, hier auch kaum einen Übergang erwarten dürfen. Eher könnte man sich einen solchen von den Wohngebäuden aus vorstellen. Die erzbischöfliche Pfalz hat jedenfalls im 13. Jahrhundert einen Übergang in den Dom besessen. Noch heute ist die zugehörige ehemalige Tür im Bischofsgang zu erkennen. Auch berichten die schriftlichen Quellen davon, daß die Bürger diesen Übergang zerstört hätten und sich danach verpflichten mußten, ihn wiederaufzubauen. 6 1 Mit der Frage nach der Verbindung von Pfalz und Dom wird auch das nicht zu lösende Problem berührt, wo der Sitz des Kaisers beim Gottesdienst war. Daß Otto diesen während seiner relativ häufigen Aufenthalte in Magdeburg regelmäßig besuchte, wird von Thietmar und in den Gesta Norberti berichtet. 62 Karl der Große thronte auf der Westempore seiner Pfalzkapelle, so daß er „alle sehen und von allen gesehen
werden" konnte. 63 Eine entsprechende beherrschende Stelle gab es im Magdeburger Dom wohl nicht, ganz gleich, welche Westbaulösung der Bau zur Zeit Ottos des Großen besaß. 64 Im Zusammenhang damit steht u. a. auch die Tatsache, daß Otto nicht eine zentralgestaltige Pfalz- . kapelle zum Gegenstück seines Aulagebäudes machte, sondern eine basilikale, längsgerichtete Bischofskirche. Dem Zentralbau haftet stets Denkmalcharakter an; die Aachener Pfalzkapelle konnte daher zu einer Art Sinnbild der „Weltherrschaft" Karls des Großen werden. Der Kaiser konnte zudem in diesem Bau „erscheinen". Anders in Magdeburg. Hier war das nicht in gleiche Weise möglich; auch konnte hier nur 6 0 Vgl. unsere Abb. 2. Gewiß könnte man sich vorstellen, daß ein Übergang als eine Art Brücke, nur auf Einzelpfeilern gegründet, vorhanden war. Diese wären bei der Grabung nicht erfaßt worden. Doch ist diese Möglichkeit nicht eben wahrscheinlich, zumal wenn man an die Festigkeit des Ganges in Aachen denkt. 6 1 Vgl. S C H L E S I N G E R 1968 wie Anm. 4, S . 5 f. - Es darf allerdings nicht verschwiegen werden, daß infolge der Achsverschiebung des Doms der Abstand zwischen Pfalz und Domchor im 13. Jh. geringer geworden war als im 10. Jh. 63
V g l . SCHLESINGER 1 9 6 8 w i e A n m . 4 , S . 1 3 f .
So W I D U K I N D V O N C O R V E Y in bezug auf Otto I . bei seiner Krönung in Aachen. Zitiert nach F I C H T E N A U 1 9 5 1 wie Anm. 1 1 , S. 25. 0 4 W i r kennen sie nicht. Vgl. hierzu den Beitrag von GERH A R D L E O P O L D in diesem Bande. 63
Der Palast Ottos des Großen in Magdeburg
Köln, St. Pantaleon, Rekonstruktion des Aufrisses 12 im Zustand des frühen 11. Jh., Südseite. Nach Kubach/Verbeek 1967 wie Anm. 55 die Pfalz als Ganzes die Herrschaft Ottos versinnbildlichen. Daher mochte man es als angemessen angesehen haben, neben' der Kirche auch dem Aulagebäude eine Art sakraler Würde zu verleihen. 65 Doch ist dabei zu bedenken, daß Otto, wenn er hier das Aachener Vorbild nicht aufnahm, sich doch andererseits in jene alte Tradition stellte, die - um nur ein bedeutendes Beispiel zu nennen - bereits um 6 3 0 für König Dagobert I. bei der Gründung der Abtei von S. Denis maßgeblich war. Es ist der Gedanke der Vorsorge für das Heil des Herrschers und seiner Familie in dieser und in der anderen Welt durch die Errichtung einer kirchlichen Stiftung an der Stelle seiner Grablege. D i e immerwährenden Gebete der Geistlichen dieser Institution und die Kraft der darin versammelten Reliquien sollten den Stifter beschützen. D a Karl der Große in S. Denis und nicht in Aachen hatte bestattet werden wollen, war diese Tradition von ihm mit der Errichtung der Aachener Pfalzkapelle nur scheinbar unterbrochen worden. 66 Otto der Große nahm sie wieder auf, und auch Heinrich II. folgte ihr bei der Gründung des Bistums Bamberg bald nach der Sicherung seiner Herrschaft im Jahre 1002.
59
Obwohl der Magdeburger Dom seiner Lage nach deutlich die Stelle der Pfalzkapelle in Aachen einnimmt, darf dennoch nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden, daß eine Pfalzkapelle in Magdeburg gefehlt hat. Für persönliche und familiäre Andachten könnte ein eigener Sakralraum vorhanden gewesen sein, wie es im 11. Jahrhundert in Bamberg, Paderborn und Goslar der Fall ist. 67 Stimmt also die Vermutung, die Gangolphi-Kirche, die Kapelle der Erz-
6 5 Zum Bedeutungsgehalt der Aachener Pfalzkapelle zum Unterschied, Zentralbau in Aachen und Langbau in deburg, vgl. EDGAR LEHMANN, Kaisertum und Reform als herren in hochkarolingischer Zeit, in: Festschrift für Peter
sowie MagBauMetz.
H r s g . v o n U . SCHLEGEL u n d C . ZOEGE VON MANTEUFFEL,
Berlin
1 9 6 5 , S. 7 5 - 8 0 . 6 6 Zur Frage der Bestimmung der Aachener Pfalzkapelle zur Grablege Karls des Großen vgl. LEHMANN 1965 wie Anm. 65, S. 76. - Natürlich hätte theoretisch die Grablage Ottos des Großen auch in einer Kathedrale mit der Gestalt eines Zentralbaus eingerichtet werden können. Die Baugeschichte zeigt aber, daß ein solcher Grundriß für eine Bischofskirche im 10. Jh. nicht mehr üblich war. Die Verbindung von Zweck und Gestalt hatte eben bereits eine gewisse Festigkeit gewonnen, die sie in frühchristlicher Zeit noch nicht besaß. 6 7 In Bamberg sind zwei Kapellen im Pfalzenbereich bekannt
und
z.T.
erhalten;
vgl.
MAYER
1951
wie
Anm. 20,
S. 1 1 - 2 1 .
In Paderborn war die Bartholomäuskapelle die Pfalzkapelle: vgl. WINKELMANN 1972 wie Anm. 17, S. 13 und Plan 2. In Goslar gab es neben der Stiftskirche St. Simon und Juda stets auch eine Pfalzkapelle, erst Unser Lieben Frauen, später St. Ulrich, zeitweise beide nebeneinander; vgl. HOELSCHER 1927 wie Anm. 20.
60
EDGAR LEHMANN
bischöfe, die 1373 neu errichtet wurde, sei die Nachfolgerin der ottonischen Pfalzkapelle gewesen, obwohl sie erst 1310 urkundlich das erste Mal erwähnt wird? 6 8 Hat sie wirklich ursprünglich ein Marienpatrozinium gehabt, wie auf Grund ihrer Benennung als Kapelle St. Mariae und St. Gangolphi angenommen wird, ein Titel, der seit 1373, seit der Gründung eines Kollegiatstifts an dieser Kirche, mehrfach belegt ist? Geht das Gangolf-Patrozinium auf Reliquien zurück, die Otto I. nach Magdeburg geschenkt hat? 6 9 Ein wesentliches Indiz dafür, daß solche Vermutungen nicht unbegründet sind, ist durch die Freilegung einer „romanischen" Apsis in der Kapelle im Zuge der Restaurierung des Regierungsgebäudes im Jahre 1906 gegeben. 7 0 Demnach ist mit der Möglichkeit eines ottonischen Vorgängerbaus durchaus zu rechnen. Dagegen erscheint es wenig wahrscheinlich, daß die bei Thietmar erwähnte und möglicherweise von Otto dem Großen gegründete „ecclesia rotunda" die ottonische Pfalzkapelle war. Eher könnte sie die Vorläuferin der späteren Stifts-, dann Klosterkirche Unser Lieben Frauen gewesen sein, da es wahrscheinlich ist, daß sie ein Marienpatrozinium besaß. 7 1 Trifft diese Zuordnung das Richtige, so läge der Bau so weit nördlich der Pfalz, daß er kaum zum eigentlichen Bereich des „castellum" Magdeburg gehört haben könnte. Trotz ihrer Zentralgestalt und ihres Marienpatroziniums müßte dieser Gründung eine andere geistliche Funktion zugedacht gewesen sein. Über den Zeitpunkt von Errichtung und Zerstörung der Pfalz Ottos des Großen kann man nur Vermutungen äußern. War Magdeburg Ottos Lieblingssitz schon seit 929, an dem er sich mit seiner ersten Gemahlin, der englischen Königstochter Editha, meist aufhielt, w i e allgemein angenommen wird 7 2 , so dürfte er gewiß sofort mit dem Ausbau der dortigen karolingischen Pfalz begonnen haben. Doch ist anzunehmen, daß er zuerst die Wohngebäude errichten ließ, die wir aber nicht kennen. D e n Bau des ergrabenen Aulagebäudes mit seinen sakralen Anklängen und seinem monumentalen Anspruch wird man sich dagegen erst nach seiner Thronbesteigung im Jahre 936 vorstellen wollen. Seit 9 4 2 erwähnen die Urkunden mehrfach ein „palatium" in Magdeburg. 7 3 D a m i t braucht jedoch nicht der neue Aulabau gemeint zu sein, kann doch „palatium" ebensogut einfach „Pfalz" bedeuten. Es ist sogar wenig wahrscheinlich, daß Otto schon damals einen so aufwendigen Bau errichtete, denn die Jahre von 937 bis 955 waren bekanntlich
von schweren Kämpfen um die Sicherung seiner Herrschaft erfüllt. 7 4 Andererseits wird man den Bau nicht"
68
D a s D a t u m 1310 f ü r die erste urkundliche E r w ä h n u n g nach SCHWINEKÖPER 1958 wie A n m . 4, S. 407, A n m . 66. D o r t auch die Vermutung, die G a n g o l f k a p e l l e k ö n n e auf eine ottonische P f a l z k a p e l l e zurückgehen. D i e s e s von NICKEL 1 9 7 3 wie A n m . 1, S. 139, als F r a g e w i e d e r a u f g e n o m m e n . N o c h entschied e n e r ä u ß e r t e sich BERENT SCHWINEKÖPER i n : D a s Erzbistum M a g d e b u r g , 1. Bd., l . T e i l : D a s D o m s t i f t St. Moritz in M a g deburg, 2. T e i l : D i e Kollegiatstifter St. Sebastian, St. N i k o l a i , St. P e t e r und P a u l und St. Gangolf in M a g d e b u r g . B e a r b . von G . WENTZ und B. SCHWINEKÖPER ( = G e r m a n i a sacra. Hist.statist. Beschreibung der Kirchen des alten Reiches. Hrsg. v o m Max-Planck-Institut f ü r Geschichte, Abt. 1 : D i e Bistümer d e r Kirchenprovinz M a g d e b u r g , 1. Bd.), B e r l i n / N e w Y o r k 1972, S. 794 f. D a n a c h hält er die bei THIETMAR erwähnte „ecclesia r o t u n d a " f ü r identisch mit d e r G a n g o l f k a p e l l e , d a „noch in späterer Z e i t " die V e r e h r u n g M a r i e n s die des heiligen G a n golf übertroffen habe. SCHWINEKÖPER scheint mit einer karolingischen E n t s t e h u n g der K a p e l l e zu rechnen, da er f o r t f ä h r t , d a ß w o h l erst seit d e r Ü b e r f ü h r u n g v o n Partikeln des heiligen G a n golf durch O t t o I. die K a p e l l e zusätzlich diesen Heiligen als P a t r o n erhielt. Vgl. dazu auch A n m . 7 1 ! 69
Vgl.
dazu
SCHWINEKÖPER
SCHLESINGER
1968
1958
wie
wie
A n m . 4,
A n m . 4,
S. 4 0 7 ,
S. 1 3
mit
Anm.
Anm. 84
66:
und
84a, sowie SCHWINEKÖPER 1 9 7 2 wie A n m . 68, S. 7 9 4 - 7 9 6 . ERNST SCHUBERT wird in seinem in V o r b e r e i t u n g befindlichen Buch „ M a g d e b u r g . Bauten u n d B i l d w e r k e " die Sachlage eingehend erörtern. Ich möchte ihm auch an dieser Stelle meinen herzlichsten D a n k f ü r seine vielfältige H i l f e bei d e r E r a r b e i tung d e r vorliegenden Studie aussprechen. 70
Vgl. HARMS
1 9 0 6 w i e A n m . 7, S. 1 0 6 f.
71
Bei THIETMAR (zitiert nach d e r F r h . v. Stein-GedächtnisAusgabe) heißt es auf S. 324 ü b e r Erzbischof W a i t h a r d zum J a h r e 1 0 1 2 : „Ecclesiam r o t u n d a m post incendium huius civitatis magnum dilapsam a f u n d a m e n t o erexit." D a die K a p e l l e 1 0 1 2 bereits zusammenstürzte, liegt es nahe, ihre G r ü n d u n g auf O t t o den G r o ß e n zurückzuführen. D a ß sie wahrscheinlich eine Marienkirche w a r , legt d e r f o l g e n d e Passus aus THIETMARS Chronik auf S. 4 1 4 n a h e : „ A m b a e (sorores) . . . in ecclesia, quae R o t u n d a dicebatur, Christo eiusque dilectae genitrici sed u l u m exhibeant obsequium." D i e Feststellung SCHWINEKÖPERS 1 9 7 2 wie A n m . 68, S. 795, d a ß an der G a n g o l f k a p e l l e „noch in späterer Z e i t " das Marienpatrozinium überwogen habe, f ü h r t zu der Frage, ob das nicht vielleicht „erst in späterer Z e i t " d e r F a l l w a r , nämlich nach der E r h e b u n g d e r K a p e l l e zum Kollegiatstift im J a h r e 1373. N o t w e n d i g erscheint mir in diesem Z u s a m m e n h a n g der Hinweis d a r a u f , d a ß die „ecclesia r o t u n d a " , die THIETMAR e r w ä h n t , entgegen d e r Nachricht in d e r Schöppenchronik nichts mit d e r Nikolaikirche (Sti. Petri et Nicolai) zu tun hat. So auch schon SCHWINEKÖPER 1 9 5 8 wie A n m . 4, S. 4 0 6 f., A n m . 66. D i e Nikolaikirche ist 1 0 2 3 gegründet, 1107 in ein Kollegiatstift u m g e w a n d e l t u n d um 1 3 0 6 / 1 0 nach der N o r d w e s t e c k e des D o m p l a t z e s verlegt w o r d e n , weil sie d e r F a s s a d e des neuen D o m b a u s im W e g e stand. Vgl. SCHUBERT 1974 wie A n m . 5, S. 20 f. O b die Nikolaikirche auch ein Z e n tralbau w a r u n d aus einem ottonischen Baptisterium hervorgegangen ist, bleibt ungewiß. W e n n es so w a r , könnte das den Irrtum der Schöppenchronik vielleicht erklären. 72 Hingewiesen sei allein auf SCHLESINGER 1968 wie A n m . 4, S. 1 1 ;
SCHUBERT
1974
wie
A n m . 5,
S. 1 1 ,
und
SCHWINEKÖPER
1975 wie A n m . 4, S. 395. 73
Vgl.
SCHLESINGER
1968
74
Vgl.
HOLTZMANN
1 9 4 3 w i e A n m . 8 , S. 1 1 5 - 1 6 8 .
wie
A n m . 4,
S. 2
und
4.
61
Der Palast Ottos des Großen in Magdeburg später als im Jahrzehnt zwischen 955 und 965 ansetzen können, stellt man die Bedeutung in Rechnung, die Otto der Große Magdeburg zumaß. In diesen Jahren hatte der Kaiser gewiß auch die Möglichkeit, seine bevorzugte Pfalz prachtvoll auszugestalten. 75 Unter Heinrich II. rückten Bamberg und Merseburg als Pfalzorte in den Vordergrund, und Magdeburg trat dementsprechend in seiner Bedeutung zurück. Immerhin lassen sich noch etwa zwölf Aufenthalte Heinrichs in Magdeburg nachweisen, auch ließ sich der Kaiser 1010 in das Magdeburger Domkapitel aufnehmen. 76 Unter Heinrich III. wird Goslar zur wichtigsten Pfalz der deutschen Kaiser. 7 7 Der Saalbau zu Magdeburg verlor mehr und mehr seine Funktion. Spätestens im 13. Jahrhundert muß er verschwunden gewesen und die königliche Pfalz zum Sitz des Erzbischofs geworden sein. Ernst Nickel vermutet, daß die Räume des Palastes schon im 12. Jahrhundert zum Teil als Gießerwerkstätten dienten. 78 Das dürfte dann bereits seit der Mitte des Jahrhunderts gewesen sein, wenn man an die überlieferten Proben dieser Gießerwerkstatt denkt. 7 9 Bei dem Brand des Domes im Jahre 1207 wurde der Bau möglicherweise in Mitleidenschaft gezogen und dann vermutlich für die Verwirklichung der ehrgeizigen Dombaupläne Erzbischofs Albrecht II. ( 1 2 0 5 - 1 2 3 2 ) als Steinbruch benutzt. Die Reste des Saalbaus wurden danach von dem Bauschutt überlagert, der bei den Arbeiten am neuen Dom anfiel. 8 0 Die Antwort auf eine letzte Frage ist einstweilen und wohl auch in aller Zukunft nur von der Seite der Historiker zu erwarten. Gab es im 10. Jahrhundert neben der Pfalz des Königs auch eine eigene des Erzbischofs, oder residierte dieser von Anfang an in den vom König errichteten und genutzten Gebäuden? Schlesinger nimmt das an und formuliert, es habe gar nicht ausbleiben können, „daß aus der Königspfalz, in der der Erzbischof Unterkunft gefunden hatte, eine Erzbischofspfalz wurde, in der der König im Falle seiner Anwesenheit Unterkunft fand." 8 1 In Paderborn glaubt Winkelmann dagegen mit guten Gründen das Nebeneinander von Königs- und Bischofspfalz in karolingischer Zeit wie auch noch im 11. Jahrhundert nachweisen zu können. 82 Allerdings gab es in Paderborn auch keine königliche Schenkung der Pfalz an die Kirche wie in Magdeburg. Bedeutet aber der Passus in den Schenkungsurkunden an das Moritzkloster von 937, „curtis nostra cum edificio in ea stante" bzw. „curtis cum aedificio" werde an das Kloster übergeben, daß schon damals die königlichen
Pfalzgebäude diesem übereignet wurden, und ist mit dem „edificium" in der „curtis" etwa gar schon der hier betrachtete Saalbau gemeint? 8 3 Mir scheint das keineswegs sicher. Eher wäre wohl, wenn man überhaupt so weit in der Präzisierung gehen will, an die Wohngebäude der Pfalz zu denken. Jedenfalls mag durch die Schenkung an das Moritzkloster und das Erzstift eine andere rechtliche Situation geschaffen worden sein, als sie in Paderborn bestand. Dadurch könnte auch die Frage nach dem Sitz des Erzbischofs im 10. Jahrhundert berührt worden sein. 84 Versuchen wir zusammenzufassen! Von dem Ausbau des schon in karolingischer Zeit befestigten Platzes Magdeburg unter Otto dem Großen zum bevorzugten Regierungssitz im Lande der Sachsen ist uns der Empfangssaal seiner neu errichteten Pfalz durch Ausgrabungen in den Grundzügen bekannt geworden. 7 5 Seit 9 5 5 , seit dem Sieg über die Ungarn auf dem Lechf e l d , hatte O t t o der G r o ß e eine neue, gesicherte Machtposition gewonnen. Seit diesem Siege w u r d e die M a g d e b u r g e r K l o s t e r kirche zur K a t h e d r a l e umgestaltet, zudem hielt sich der K a i s e r 9 6 5 längere Zeit in M a g d e b u r g auf. D i e „Residenz" w i r d damals g e w i ß fertig gewesen sein. 76
Vgl.
SCHLESINGER
1968
wie
A n m . 4,
S. 2 1 f.
In
Merseburg
ist Heinrich freilich d o p p e l t so o f t nachweisbar. E r w u r d e dort bekanntlich als S t i f t e r v e r e h r t , da er die A u f h e b u n g des Bistums rückgängig gemacht hatte. 77
Vgl.
HOELSCHER
Vgl.
NICKEL
1927
wie
Anm. 20,
S. 1 7 - 2 7
und
105-
107. 78
1973
wie
A n m . 1.
S.
137.
D i e Bronzegrabplatte des Erzbischofs Friedrich v o n W e t t i n ist um dessen T o d e s j a h r 1 1 5 2 anzusetzen. D i e jetzt in N o w gorod befindlichen, in M a g d e b u r g gegossenen Bronzetüren sind 79
auf
1152/54
datiert.
Vgl.
HANS-JOACHIM
KRAUSE
SCHUBERT, D i e Bronzetür der S o p h i e n k a t h e d r a l e Leipzig 1 9 6 8 , S. 4 6 . 80
Vgl.
NICKEL
81
Vgl.
SCHLESINGER
1973
wie
A n m . 1,
1968
wie
S.
und
in
ERNST
Nowgorod,
111.
Anm. 4,
S. 2 1 ,
wo
auch
ge-
sagt w i r d , d a ß seit der U m w a n d l u n g des K l o s t e r s in ein Erzstift, also seit 9 6 8 , „ K ö n i g s p f a l z und Erzbischofspfalz identisch w a ren". 82
Vgl.
WINKELMANN
1970
wie
Anm. 20,
besonders
S.
413-
4 1 5 , sowie WINKELMANN 1 9 7 2 w i e A n m . 1 7 , S. 1 3 f. 83 Vgl. SCHLESINGER 1 9 6 8 w i e A n m . 4, S. 2. Danach nimmt SCHLESINGER an, daß das „aedificium" mit dem „palatium" „vielleicht" gleichzusetzen sei. W e i t e r oben ist f ü r ihn diese Gleichsetzung v o n „hoher Wahrscheinlichkeit". Es m u ß allerdings hinzugefügt w e r d e n , d a ß SCHLESINGER, als er das schrieb, die G r a b u n g auf dem D o m p l a t z in M a g d e b u r g noch nicht kannte. 84 Der Situationsplan (unsere A b b . 1) zeigt, daß zwischen der vorauszusetzenden ottonischen K ö n i g s p f a l z , d. h. ihren W o h n g e b ä u d e n , und dem D o m Platz genug w a r , um hier auch noch eine eigene P f a l z des Erzbischofs zu errichten. Zu e r w ä h nen ist hier vielleicht noch, d a ß spätestens seit dem 1 3 . Jh. zwischen der erzbischöflichen P f a l z und dem D o m der „ M ö l l e n hof" lag, der Sitz des bischöflichen Vogts. K ö n n t e dieser nicht der E r b e des ursprünglichen Sitzes des Erzbischofs g e w o r d e n sein, so w i e der Erzbischof den ursprünglich königlichen Sitz einnahm?
62
EDGAR LEHMANN
Zusammen mit den unbekannten, aber vorauszusetzenden Wohngebäuden weiter östlich und der teilweise zu erschließenden bzw. in Resten erhaltenen Domkirche des 10. Jahrhunderts südlich davon muß die Pfalz von beeindruckender Großzügigkeit gewesen sein. Das Aulagebäude war um die Mitte des 10. Jahrhunderts ein unerhörtes Unternehmen. Denn in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts scheint die Architektur im ostfränkischen Reich eher bescheiden gewesen zu sein. Demgegenüber kennzeichnet Ottos Pfalz in Magdeburg der Wille, die Macht des neuen Staates durch Großbauten glanzvoll zu dokumentieren. Auch die Grabkirche, die Otto für seinen Vater in Memleben errichten ließ, zeugt von dieser Absicht. 85 Es folgte die Reihe der Bischofskirchen, deren damalige Ausdehnung auch in gotischer Zeit nicht überschritten wurde; als erste vielleicht Halberstadt. 8 6 Dann kamen Mainz, Lüttich und Verdun, um nur noch diese zu nennen. 87 Hatte der Magdeburger Dom also Nachfolger von gleichem Anspruch und zum Teil ähnlicher Anlage, so läßt sich das von dem Aulagebäude nicht sagen. Es blieb einzigartig, vor allem in seinem gleichsam sakralen Charakter. Offenbar verhinderte, anders als bei den Kirchenbauten der Bischöfe, die rasche Wandlung in der Situation der deutschen Zentralgewalt jede Wiederholung. 8 8 Daher wird die Magdeburger Pfalz in besonderer Weise von Vergangenem und Zukünftigem geprägt. Monumentalisierung und Sakralisierung weisen zurück auf die spätrömische Architektur; sie geben dem Aulagebäude etwas vom antiken „palatium sacrum": Größe und Quadertechnik, axialsymmetrische Anlage, Eingangsnische, Apsiden, teilweise Wölbung, Treppentürme und Lisenengliederung. Eine andere spätantike Tradition nimmt die Gesamtanlage auf. Ihre Zusammenfügung aus Einzelkomplexen, die - wenigstens teilweise - durch doppelgeschossige Gänge miteinander verbunden sind, ist aus dem römischen Villenbau durch das Vorbild der Pfalz Karls des Großen in Aachen vermittelt. Demgegenüber bedeutete die Emporhebung des Saales ins erste Obergeschoß eine straffere Einbindung des Saalbaus in das Gesamtgefüge der Pfalz, wie es später hochmittelalterlicher Gewohnheit entsprach. Zugleich nahmen seine Drehung um 90° gegenüber der Kirche und die damit verbundene Anordnung des Thronsitzes an eine der Langseiten des Saales hochmittelalterliche Gewohnheiten vorweg. Auch blieb in der Folgezeit an den bedeutenden Pfalzorten die Verbindung der Pfalz
mit einer großen Stifts- oder Domkirche üblich. Das bedeutete zwar keinen Verzicht auf eine eigene Pfalzkapelle, wohl aber den Verzicht auf einen erhöhten, beherrschenden Thronsitz in dieser Hauptkirche. So steht die Magdeburger Pfalz mit ihrem Aulagebäude zwischen Spätantike und Karolingerzeit auf der einen und dem hohen Mittelalter des 11. bis 13. Jahrhunderts auf der anderen Seite, beiden zugehörig und von beiden durch diesen Doppelcharakter unterschieden. Eines bleibt festzuhalten: Mit dem "erhabenen" Palast und dem glanzvoll ausgestatteten Dom - man denke an die erhaltenen kostbaren Säulen, die aus Italien herbeigeschafft wurden, und an die Reliquien, die der Kaiser in deren Kapitelle einschließen ließ 8 9 wollte Otto der Große Magdeburg sichtbar neben Rom und Aachen zu einem Hauptort des Imperiums erheben. Doch wie schon die Tatsache, daß hier kein Zentralbau wie in Byzanz und Aachen das Imperium symbolisierte, wohl auch als Zeichen einer gewandelten Herrschaftsvorstellung zu deuten sein dürfte, mag es vielleicht auch als symptomatisch angesehen werden, daß die absolute Größe des Empfangssaals in Magdeburg geringer war als in Aachen, wo man aber bereits erheblich hinter der Aula des Konstantin in Trier zurückblieb. 90 Trier, Aachen, Magdeburg: Die Basis der Macht war jeweils schmaler geworden. Vgl.
85
FRIEDRICH
BELLMANN
und
GERHARD
LEOPOLD,
Die
ottonische Abteikirche Memleben, in: Varia Archaeologica. Wilhelm Unverzagt zum 70. Geburtstag dargebracht. Hrsg. von P. GRIMM ( = Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Schriften der Sektion für Vor- und Frühgeschichte 1 6 ) , Berlin
1964,
S. 3 5 4 - 3 6 3 ;
GERHARD
LEOPOLD,
Grabungen
im
Be-
reich der ottonischen Kirche in Memleben: Westchor, in: Siedlung, Burg und Stadt. Studien zu ihren Anfängen. Hrsg. von K.-H.
OTTO
und
J.
HERRMANN
( = Deutsche
Akademie
der
Wissenschaften zu Berlin, Schriften der Sektion für Vor- und Frühgeschichte 2 5 ) ,
Zur Datierung S.
Berlin
1969,
S. 5 2 5 - 5 3 2 ;
ERNST
SCHUBERT,
der ottonischen Kirche zu Memleben,
ebenda,
515-524.
D e r ottonische Bau wurde zwischen 9 6 5 und 9 9 5 errich-
86
tet.
Vgl.
GERHARD
LEOPOLD
und
ERNST
SCHUBERT,
Der
Dom
zu Halberstadt bis zum gotischen Neubau. Im Druck. 8 7 Zu Mainz, 9 7 5 - 1 0 0 9 , vgl. Vorromanische Kirchenbauten 1 9 6 8 , S. 1 9 1 f ; zu Lüttich, bald nach 9 7 8 - 1 0 1 5 , vgl. KUBACH/ VERBEEK
1024,
vgl.
1976
wie
Anm. 55,
HANS-GÜNTHER
S. 6 9 8 - 7 0 0 ;
MARSCHALL,
zu
Die
Verdun,
Kathedrale
990-
von
Verdun ( = Die romanische Baukunst in Westlothringen - T e i l l ) , Saarbrücken 1 9 8 1 ( = Veröffentlichungen des Instituts für Landeskunde im Saarland, Bd. 32). 88
Vgl.
80
V g l . SCHUBERT 1 9 7 4 w i e A n m . 5 , S . 1 1
HOLTZMANN 1 9 4 3
wie
A n m . 8 , S. 2 5 0 - 3 8 2 . f.
Zum Maßvergleich: Trier: 56,5 (mit Apsis 67) X 2 7 , 5 m. Aachen: 4 4 (mit Apsis 53) X 1 8 m. Magdeburg: 42 X 12,5 m. Diese Maße stellen nur Näherungswerte dar, gemessen im Lichten. 90
Der Dom Ottos I. zu Magdeburg Überlegungen zu seiner Baugeschichte*
V o n G E R H A R D LEOPOLD
Neben dem großen Saalbau seiner Pfalz, dessen Reste kürzlich freigelegt werden konnten, 1 hatte Kaiser Otto I. ( 9 3 6 - 9 7 3 ) in Magdeburg eine Kirche errichten lassen. Sie war zunächst für das Moritzkloster bestimmt, wurde aber schon zu Lebzeiten Ottos zur Kathedrale umgebaut. Nach verschiedenen Veränderungen und Erweiterungen brannte das Bauwerk im Jahre 1 2 0 7 aus. Der damals regierende Magdeburger Erzbischof Albrecht II. ( 1 2 0 5 - 1 2 3 2 ) ließ daraufhin den Dom abbrechen, um an seiner Stelle den noch heute stehenden spätromanisch-gotischen Neubau zu errichten. 2 Über die Gestalt des ottonischen Doms, der von den Zeitgenossen als besonders prächtig gerühmt wurde, und über seine Baugeschichte berichten zeitgenössische Quellen nur wenig. Am 21. September 937 stiftete der damalige König Otto I. in seiner Pfalz zu Magdeburg ein Benediktinerkloster zu Ehren des hl. Mauritius. In der Klosterkirche fand 946 seine erste Gemahlin Editha „auf der Nordseite nach Osten zu" ihre letzte Ruhe. 3 Spätestens seit 955 veranlaßte der Herrscher dann den Ausbau der Klosterkirche zum Dom des zukünftigen Erzbistums, das er in Magdeburg gründen wollte. Die neue Kathedrale wurde auf Befehl des Kaisers auf das reichste ausgestattet. Davon zeugen bis heute zahlreiche antike Säulenschäfte und -kapitelle aus edlem Gestein, die der Kaiser für den Neubau aus Italien herbeischaffen ließ und die später in den neuen Dom übernommen wurden (Abb. I). 4 Der Reichtum der Kathedrale wurde auch durch den Erwerb von kostbaren Reliquien erhöht. So konnte im Jahre 9 6 1 der Leib des hl. Mauritius feierlich von Regensburg nach Magdeburg übergeführt werden. 5 In demselben Jahre erfolgte eine Schenkung des Kaisers für eine Krypta des Doms, die damals also vermutlich schon stand. 965 machte Otto I. dann unter anderem eine Schenkung für die Beleuchtung des Doms, der demnach wohl mindestens teilweise benutzt werden konnte. 6 Im Jahre 9 6 8 konnte
der erste Magdeburger Erzbischof, Adalbert ( 9 6 8 981), inthronisiert werden. Kaiser Otto I. starb am 7. Mai 9 7 3 in Memleben. Sein Leichnam wurde, wie der Kaiser gewünscht hatte, nach Magdeburg über-
* Bei der Grabung und der Auswertung ihrer Ergebnisse sowie besonders auch der literarischen Quellen konnte ich immer auf die freundschaftliche Hilfe von Ernst Schubert zurückgreifen, dem ich dafür herzlich dankbar bin. Besonders danken möchte ich Pia Roland, ohne deren selbstlose Mitarbeit die Dokumentation am Ort kaum zu bewältigen gewesen wäre. Dankbar erwähne ich auch die vielen Kollegen, die mit Anregungen und Hinweisen halfen, unter ihnen vor allem Edgar Lehmann. Johannes Schneider unterzog sich dankenswerterweise der Mühe, die Funde der Domgrabung zu bearbeiten. Sein Bericht wird an anderer Stelle zur Veröffentlichung kommen. 1 Vgl. dazu ERNST NICKEL, Magdeburg in karolingisch-ottonischer Zeit, in: Zeitschrift für Archäologie 7, 1973, S. 1 2 5 - 1 4 0 , sowie den Beitrag von EDGAR LEHMANN in diesem Band. 2 Hierzu und zum Folgenden zuletzt ERNST SCHUBERT, Der Magdeburger Dom, Berlin 1974, S. 1 1 - 1 6 . Die „Quellen zur Geschichte
des
HAMANN u n d
Dombaues"
bei
FELIX
FELIX ROSENFELD, D e r
1910, S. 1 3 5 - 1 7 2 . 3 „ . . . in basilica
nova
latere
ROSENFELD
Magdeburger
aquilonali
ad
in:
RICHARD
Dom,
Berlin
orientcm . . ."
(ROSENFELD 1 9 1 0 w i e A n m . 2 , S . 1 5 2 , A n m . 2 ) . 4 Nach S. ROSENFELD (Vom Magdeburger Dombau. Zum 700jährigen Jubiläum der Domgründung, i n : Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 44, Magdeburg 1909, S. 2, Anm. 3) sind unter anderem 12 große Säulenschäfte im Chor des Doms, 9 Schäfte und einige Kapitelle im Remter sowie ein Schaft in der Krypta der Klosterkirche Jerichow erhalten. Dazu kommen 13 kleine schlanke Säulchen in der Marienkapelle und am Bündelpfeiler im Nordwesten des Bischofsganges. - Zu diesen Spolien gehören auch das 1926 gefundene antike Kapitell (ALFRED KOCH, Die Ausgrabungen am Dom zu Magdeburg im Jahre 1926. Der ottonische Dom. Sondernummer vom Montagsblatt der Magdeburgischen Zeitung, zu Nr. 68, 1926, S. 1 6 - 1 7 ) , sowie nach
ROBERT HEIDENREICH
(Die
Märmorplatte
auf
dem
Sarkophag
Ottos I. im Dom zu Magdeburg, in: Kunst des Mittelalters in Sachsen. Festschrift Wolf Schubert, Weimar 1967, S. 2 6 5 - 2 6 8 ) auch die Marmorplatte auf dem Sarkophag Ottos I. im Chor. 5
ROSENFELD
1910
wie
A n m . 2,
S. 152,
Anm. 6;
SCHUBERT
1974 wie Anm. 2, S . 12. 6 Urkundenbuch des Erzstifts Magdeburg, Teil 1 ( 9 3 7 - 1 1 9 2 ) : Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 18, Neue Reihe. Bearb. von FRIEDRICH ISRAEL und WALTER MÖLLENBERG, M a g d e b u r g
1 9 3 7 , S. 3 4 u n d
50.
Zur Baugeschichte des Magdeburger Doms geführt und im D o m in einem Marmorsarg beigesetzt. 7 Im Jahre 981 starb dann auch Erzbischof Adalbert. E r fand in der Mitte des Doms bei dem Kreuzaltar seine letzte Ruhestatt. 8 Damals - oder schon früher? dürfte der D o m in den wesentlichen Teilen fertig gewesen sein. Zu den wichtigen Nachrichten über das weitere Schicksal des Bauwerks gehören die Erwähnung einer Kryptenweihe im Jahre 1008 9 sowie der Bericht über die von Erzbischof Tagino (1004-1012) errichtete neue Krypta, vor der der Bauherr 1012 bestattet wurde. 1 0 Noch 1012 wurde rechts von Tagino im Südarm eines Querhauses sein Nachfolger, Erzbischof Waithard, beigesetzt, 11 von dem es heißt, er habe die von den Wenden zerstörte „ecclesia rotunda" von neuem errichtet. 12 Nach Walthards Tode konnte Bischof Thietmar von Merseburg im Jahre 1012 noch zwei Altäre weihen, einen dort, „wo Erzbischof Waithard ruht, und einen anderen im Nordteil derselben Kirche". 1 3 D e r nächste Erzbischof, Gero (1012 bis 1024), der 1017 „in Gegenwart des Kaisers eine nördliche Kapelle geweiht hatte", 1 4 erhielt 1024 neben Adalbert, also vor dem Kreuzaltar, seine letzte Ruhestätte. 1 5 D e r Nachfolger Geros, Erzbischof Hunfried (1024-1051), führte das Sanktuarium des Doms auf, indem er es größer und passender (an die Kirche) anfügte. Darunter stiftete er eine Krypta, er errichtete sie und weihte sie 1049 zur Ehre und am Festtage des hl. Kilian. 1 6 D i e Gräber seiner Vorgänger Tagino und Waithard verlegte er zum Kreuzaltar neben Adalbert und Gero. E r selbst wurde im Ostchor vor den Stufen des von ihm errichteten Sanktuariums begraben. 1 7 - Vor dem Kreuzaltar fanden außerdem 1063 Erzbischof Engelhard (1051-1063) und 1102 Erzbischof Hartwig (1079-1102) ihre letzte Ruhe. Erzbischof Werner (1063-1078) konnte 1077 den durch einen Brand beschädigten und danach wiederhergestellten Hochaltar neu weihen. - 1125 ließ Erzbischof Roger (1119-1126) die Gräber der vor dem alten Kreuzaltar liegenden Erzbischöfe umbetten. Sie wurden nun vor dem neuen Kreuzaltar begraben, den er neben dem von ihm entdeckten G r a b
1 Blick aus dem Chor über den Lettner hinweg in das Mittelschiff des Doms. Im Vordergrund der Sarkophag Ottos I., rechts und links von ihm unter den gotischen Diensten zwei der im 13. Jh. wiedereingebauten antiken Säulenschäfte; im Hintergrund vor der Westempore die Gräben von 1960 5
Architektur
65
des hl. Sekundus und seiner Genossen von der Thebäischen Legion hatte errichten lassen. Roger selbst wurde im Nordquerhaus bestattet. 1 8 Seit dem 19. Jahrhundert wurden die zufällig aufgefundenen Reste des ottonischen Doms, die bei Veränderungen im Inneren des Bauwerks zutage kamen, schriftlich festgehalten (Abb. 3). D e r Mauerrest südlich der östlichen N o r d a r k a d e (F) ist vermutlich bereits bei der Neuanlage des Fußbodens um 1830 im Grundriß verzeichnet worden, freilich ohne nähere Beschrei-
7
THIETMAR VON MERSEBURG,
Chronik.
Neu
übertragen
und
erläutert von WERNER TRILLMICH, Berlin 1957 ( = Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherrvom-Stein-Gedächtnis-Ausgabe 9), II, 43. W o das Grab im Dom lag, ist nicht bekannt. - 1844 wurde der - vermutlich vom ottonischen D o m übernommene - Sarkophag untersucht (FRIEDRICH WIGGERT, Ueber die Begräbnisse der Königin Editha, des Kaisers Otto d. Gr. und der Engela im D o m zu Magdeburg, in : Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 4, 1869, S. 7 1 80). Danach besteht der „Steinkasten" unter der Marmorplatte aus einer Mischung von Kalk, Gips, Sand, Quarz usw. Innen lagen in einem Holzkasten mit Deckel die Gebeine eines ausgewachsenen Menschen sowie Stoffreste. 8
„coram altari sancte Crucis . . .
in medio maioris ecclesie"
(ROSENFELD 1 9 1 0 w i e A n m . 2 , S . 1 5 3 , A n m .
18).
9
„VIII. Kai. Mart. anno MVIII die do(minica) dedicata est cripta nostrae basilicae" (E. DÜMMLER, Magdeburger Todtenbuch, in : Neue Mittheilungen aus dem Gebiet historisch-antiquarischer Forschungen, 10. Bd., 2. H., Halle/Nordhausen 1864, S. 260). 10 corpus . . . positum est occidentali parte in choro ante criptam, quam ipse fecit et consecravit et in qua se, quamdiu vixit, coram altari rogavit sepeliri. . . Sed Waltherdus locum hunc, in quo nunc pausat, quia non erat dedicatus, animae salubrem et introeuntibus cunctis conspicabilem dilecto suimet senióri providit." (THIETMAR wie Anm. 7, VI, 63). 11 corpus archipresulis tumulatur ad dexteram antecessoris sui in australi m a n i c a . . . " (THIETMAR wie Anm. 7, VI, 74). 12 THIETMAR wie Anm. 7, VI, 77. Zu der ecclesia rotunda vgl. zuletzt BERENT SCHWINEKÖPER, Magdeburg, in: Handbuch der historischen Stätten Deutschlands 11. Provinz Sachsen Anhalt, Stuttgart 1975, S. 293. 13 „Ego . . . duo altaria, unum, ubi archiepiscopus (Walthardus) requiescit, et aliud in septemtrionali eiusdem templi par-
t e . . . d e d i c a r e m . . ." (THIETMAR w i e
A n m . 7, V I , 8 1 ) .
14
THIETMAR wie Anm. 7, VII, 52. Vielleicht ist der Nordarm eines Querhauses gemeint. 15 HANS KUNZE, Der D o m Ottos des Großen in Magdeburg, in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 65, 1930, S. 56. 16 „Sanctuarium maioris ecclesie maius et competentius adiciens erexit sub quo et criptam construens fundavit, quam in honore ac festivitate beati Kiliani, prioris sui patroni . . . dedicavi"
(KUNZE
Anm. 2,
S.
1930
wie
Anm. 15,
S. 5 6 ;
SCHUBERT
1974
wie
12).
17 „Corpora quoque antecessorum suorum, id est Taginonis et Walthardi, de occidentali choro translata circa Adelbertum et Geronem in medio monasterii tumulavit; ipse . . . sepultus est in orientali choro ante gradus sanctuarii, quod ipse edificavit."
(ROSENFELD 1 9 1 0 w i e A n m . 2 , S . 1 5 3 , A n m . 18
ROSENFELD
1910
wie
A n m . 2,
S. 1 5 4 ,
27). Anm. 29.
66
GERHARD LEOPOLD
messung. 20 1901 wurde unter der Leitung von Baurat Harms das Kanalsystem einer Warmluftheizung unter dem Fußboden angelegt. D i e dabei angetroffenen und anschließend zerstörten Mauerzüge hat Harms beschrieben. Mehrere von ihnen folgten der Achsrichtung des ottonischen D o m s : das T-förmige Mau19 Er fehlt in dem Plan von HARMS (Ausgrabungen im Dom zu Magdeburg, in: Die Denkmalpflege 4, 1902, S. 26), ist aber in mehreren Domgrundrissen von ALFRED KOCH (im Planarchiv des Instituts für Denkmalpflege, Arbeitsstelle Halle) enthalten, der neben den 1901 ergrabenen Teilen auch die bei der
Neuverlegung des F u ß b o d e n s 1 8 2 6 - 1 8 3 4
(J. H . B . BURCHARDT,
Momente zur Geschichte des Dom-Reparatur-Baues in Magdeburg 1 8 2 6 - 1 8 3 4 , M a g d e b u r g 1 8 3 5 , S. 5 5 f f . , u n d FRIEDRICH WIGGERT,
Der Grabstein 2 des 1901 freigelegten Grabes C am Westende des Nordseitenschiffs, ehemals im Nordtrakt des Atriums, heute im Kreuzgang bung. 19 Bei der Verlegung der Rohrleitungen für die Gasbeleuchtung im Jahre 1876 traten südlich der dritten N o r d a r k a d e (von Osten) und im Bereich der dritten Südarkade zwei Fundamentreste (D und E) zutage. Von ihnen berichtete Domküster Heinrich, aber wieder ohne genauere Beschreibung und Ver-
Ueber die Begräbnisse der Erzbischöfe im Dom zu Magdeburg, in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 2, 1867, S. 190-208) angeschnittenen Gräber eingetragen hat. 20 HEINRICH, Neuere Beobachtungen in der Domkirche zu Magdeburg, in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 11, 1876, S. 4 4 9 - 4 5 0 : Die nördliche, außerordentlich feste Längsmauer (D) ist 6 Fuß dick; ihre „Außenseite" liegt 37 Fuß südlich der nördlichen Umfassungsmauer des Doms. Die südliche Längsmauer (E) ist 5 - 6 Fuß dick, „war theils Längs, theils Quermauer" und liegt 24 Fuß nördlich der südlichen Umfassungsmauer des Doms.
3 Der ottonische Dom. Rekonstruktionsversuch des Zustands vor 1207. A : 1901 festgestellte Mauerzüge, B: 1920/22 ergrabene Mauerzüge, C: 1901 festgestellte Bestattung mit Grabstein, D und E : Etwaige Lage der 1876 beobachteten Mauern, F: Mauerfund um 1830, G : 1926 ergrabene Teile einer Krypta, H : 1931 ergrabener Mauerrest, J : 1901 festgestellte Mauerzüge K : 1973 ergrabene Reste eines Rundbaus
Zur Baugeschichte des Magdeburger Doms
4 Der 1926 ausgegrabene Rest der Ostkrypta des ottonischen Doms. Das Innere der großen Ostapsis, von Westen
erstück (A) im dritten Joch des südlichen Seitenschiffs, einige im südlichen Chorumgang aufgedeckte Mauern (I) und eine Bestattung im vierten Joch des nördlichen Seitenschiffs (C) (Abb. 2). 2 1 D i e ersten planmäßigen Untersuchungen des Bodens begannen im Jahre 1896 mit den „Grabungen" des Baurats Angelroth, der durch Pioniere Suchstollen unter dem Fußboden des Chors vortreiben ließ. Nach der Beschreibung der aufgefundenen Grä21
HARMS
1902
wie
A n m . 19,
S. 2 6 - 2 7 ,
und
HARMS,
Die
Ausgrabungen im D o m zu Magdeburg aus neuerer Zeit, in: Geschichtsblätter f ü r Stadt und L a n d M a g d e b u r g 38, 1903, S. 3 6 1 - 3 6 4 : Im Südseitenschiff (A) f a n d HARMS Grundmauern aus festem Bruchsteinmauerwerk, die tiefer reichten als die Ausschachtung f ü r die Heizkanäle (tiefer als - 3 , 1 5 m ) ; nach d e m G r u n d r i ß geht von einer etwa 1,15 m dicken und damals noch 5,60 m langen Nord-Süd-Mauer eine nach Osten gerichtete, gleich dicke Mauer ab, die nach 5,30 m abbricht. - Die im südlichen Chorumgang aufgedeckten Mauern (I) bestehen aus Bruchstein und reichen etwa 2 m unter den Chorfußboden ( - 2 , 1 0 m ) ; nach dem G r u n d r i ß geht von einer etwa 3 m langen und noch 1 m dicken Nord-Süd-Mauer mit erhaltener Ostflucht an ihrem N o r d e n d e eine nach Osten gerichtete, 6,60 m lange und am Ostende 1,0 m dicke (?) Mauer mit erhaltener Süd- und Ostflucht (Nordflucht am Ostende unsicher) ab. Etwa 1,80 m weiter östlich beginnt eine 0,70 m dicke Ost-West-Mauer, deren Nordflucht nach 1,60 m in Richtung Südosten abschwenkt und sich in weiteren 1,50 m in einer Rundung allmählich wieder der Ostrichtung nähert. - D a s beigabenlose Skelett der Bestattung (C) im gotischen Nordseitenschiff lag unter einer 2,75 m unter dem F u ß b b o d e n ( - 2 , 9 0 m) freigelegten Sandsteinplattc mit Kreuzdarstellung (heute im N o r d t r a k t des Kreuzgangs aufgestellt). 5*
5 Der Schmuckfußboden der 1926 ausgegrabenen Krypta des ottonischen Doms
67
68
GERHARD LEOPOLD
ber und Mauern durch Baurat Harms 2 2 sind dabei jedoch keine Teile des ottonischen Doms erfaßt worden. - 1920/22 stellten P. J. Meier und H. Kunze westlich vor dem südlichen Westturm ein OstwestFundament (B) mit ottonischer Achsrichtung fest (Abb. 3 ) . 2 3 - Besonders aufschlußreiche Ergebnisse erbrachte die gezielte Grabung von A. Koch im Jahre 1926, der südöstlich des Chors den umfangreichen Rest einer Ostkrypta (G) freilegen konnte (Abb. 4). 2 4 - 1931 ließ H. Giesau durch A. Rudhardt einen Suchgraben im Nordflügel des Kreuzgangs anlegen, in dem der Rest eines mächtigen Ost-West-Fundaments (H) zutage kam. 2 5 Mit einem ersten Suchschnitt in dem Bereich, in dem der ottonische Westbau erwartet werden konnte, begann im April 1954 ein neues Grabungsvorhaben. 215 Außer Bestattungen, die offenbar erst im spätromanisch-gotischen Dom angelegt worden waren, kam in über 8,0 m Länge der Estrich-Fußboden eines Vorgängerbaus zum Vorschein, der im Westen bei einem dicken Nord-Süd-Fundament endete. D a dieses Ergebnis für weitere Arbeiten Erfolg versprach, wurde im Oktober 1959 mit einer Grabung begonnen, um anhand erhaltener Reste Auskunft über die Gestalt und die Baugeschichte des ottonischen Westbaus zu erhalten. Vorgesehen waren ein Längs- und ein Quergraben durch den Westteil des gotischen Langhauses und Erweiterungen an Erfolg versprechenden Stellen. Der Quergraben sollte im Norden nach Möglichkeit an die Grabung des Instituts für Vor- und Frühgeschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin auf dem benachbarten Domplatz 27 anschließen. Nach der ersten Grabungskampagne, die vom 6.10. bis zum 1. 12. 1959 dauerte, konnte mit der Akademie der Wissenschaften für beide Grabungen ein gemeinsames Koordinatensystem und eine einheitliche Kennzeichnung der Funde vereinbart werden, die seitdem auch zusammen aufbewahrt werden. 2 8 - Vom 2. 9. bis 7. 10. 1960 schloß sich eine zweite Grabungskampagne an, nach deren Abschluß die Gräben mit einer Bohlenabdeckung gesichert wurden. - 1963 mußte das Fundament der sechzehneckigen Kapelle im Langhaus freigelegt werden, um die Kapelle vom Chorumgang an ihren ursprünglichen Standort zurückversetzen zu können. Die bei dieser Gelegenheit festgestellten Befunde konnten in einem zweitägigen Einsatz dokumentiert werden. 2 9 Vom 20. 4. bis zum 8. 5. 1965 mußten die Gräben - leider unter Zeitdruck - abschließend dokumentiert und dann
zugefüllt werden, da die durch sie blockierte Fußbodenfläche im Westteil des Langhauses für größere Veranstaltungen benötigt wurde und mit einer baldigen Wiederaufnahme der Arbeiten nicht zu rechnen war (Abb. 6). 30 - Auch heute ist eine Weiterführung der Grabung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Deshalb erscheint es sinnvoll, das bisher Erreichte zu veröffentlichen und seine Einordnung in die Baugeschichte des ottonischen Doms zu versuchen. 22
HARMS 1 9 0 9 w i e A n m . 2 1 , S.
356-358.
KUNZE 1 9 3 0 w i e Anm. 1 5 , S. 1 1 : D i e Sohle des in Bruchstein (Grauwacke) ausgeführten Fundaments liegt 5 2 , 8 9 m über N N ( - 3 , 1 2 m ) ; unter der 0 , 9 5 m dicken aufgehenden Mauer mit sauber ausgestrichenen Fugen tritt auf der Südseite ab - 1 , 2 5 m ihr Fundament um 0 , 2 0 m bis 0 , 2 5 m vor. 2/' KOCH 1 9 2 6 wie Anm. 4, S. 7 - 2 3 : Ergraben wurde damals die südliche Hälfte des Ostschlusses einer K r y p t a und der Unterbau eines südlichen Flankenturms. Das Mauerwerk ist bis zu - 1 , 9 0 m erhalten; die Oberkante des im Innenraum in situ gefundenen Schmuckfußbodens liegt bei - 3 , 7 0 m. 2 5 A . RUDHARDT, Grabung im nördlichen Kreuzgangarm des Domes zu Magdeburg zur Feststellung eines Querschiffes des ottonischen Domes. Dokumentationszeichnung von 1 9 3 1 (Kopie im Institut für Denkmalpflege, Arbeitsstelle H a l l e ) : D i e Sohle des 2 , 1 0 m dicken Mauerrestes in ottonischer Achsrichtung lag 2 , 0 3 m unter dem Kreuzgang-Fußboden ( - 2 , 5 3 m). Vgl. auch 23
ERNST
VON
NIEBELSCHÜTZ,
Neues
vom
Magdeburger
D i e D e n k m a l p f l e g e 3 4 , 1 9 3 2 , S. 4 5 , u n d ERNST GALL,
Dom,
in:
Sammel-
referat Baukunst, in: Zeitschrift f ü r Kunstgeschichte, 1. Bd., Berlin/Leipzig 1 9 3 2 , S. 2 9 9 . 26 Die Grabung des Instituts f ü r Denkmalpflege, Arbeitsstelle Halle, wurde auf Anregung v o n F. Bellmann von Landeskonservator W . Schubert angeordnet und vom Verfasser durchgeführt. 2 7 Durchgeführt unter der Leitung von E. NICKEL in der Zeit von
1959
bis
1971.
Vgl.
dazu
ERNST NICKEL,
Vorottonische
Befestigungen und Siedlungsspuren auf dem Domplatz in Magdeburg. Vorbericht, i n : Praehistorische Zeitschrift 43/44, 1 9 6 5 / 66, S. 2 3 9 , und NICKEL 1 9 7 3 wie Anm. 1. S. 1 1 1 - 1 4 2 . - Dankbar sei hier die Hilfe der Akademie bei der Freilegung von Bestattungen im Dom erwähnt. 28 Die - gegenüber der zunächst benutzten leicht abweichende - Ost-West-Koordinate entspricht, annähernd der Längsachse des ottonischen Doms, die Nord-Süd-Koordinate verläuft mitten durch den Westbau. A l s Bezugshöhe w u r d e - nur für den D o m - die Oberkante der dem östlichen Mittelschiffsaltai vorgelegten Stufe ( = 5 6 , 0 1 m über N N ) benutzt. Es wird also z. B. ein 4 , 2 8 m östlich der Nord-Süd-Koordinate, 1 8 , 0 6 m nördlich der Ost-West-Koordinate und 2 , 3 8 m tiefer als die Bezugshöhe liegender Punkt bezeichnet mit: O 4 , 2 8 / N 18,06 - 2 , 3 8 (oder + 5 3 , 6 3 ) 2 9 Gemeinsam mit Ernst Schubert. 3 0 1 9 65 wurde die gesamte Dokumentation gemeinsam mit Pia Roland durchgeführt, die zeitweise auch schon 1 9 6 0 beteiligt war.
6 Westabschluß des ottonischen Doms. Rekonstruktionsversuch auf Grund der Grabungen von 1954-1965 und älterer Funde
70
GERHARD LEOPOLD
nicht mehr vorhandenen - Fundament-Oberteils (3) liegt neben der nördlichen Grabengrenze eine Holzsarg-Bestattung (6). 37 Aus der Zeit nach dem Mittelalter stammen vier Backsteingrüfte, drei (10a, 10b, 10c) am Westende des Grabens über den drei Erdbestattungen (8a, 8b, 9) und eine (13) östlich des Fundaments (3) an der südlichen Grabcngrcnzc. 3 * D e r Estrich-Fußboden (5) ist in Richtung Osten auf etwa 8,20 m Länge nachweisbar und lief ursprünglich noch weiter. Im Westen endet er, wie bereits gesagt, an der Ostflucht der ehemaligen aufgehenden Wand über demNord-Süd-Fundamcnt (3). E t w a 2,0m bzw. 5,0 m östlich von ihr sind in der Oberfläche des Estrichs quadratische Aussparungen von etwa 0,70 m Seitenlänge erkennbar, in denen früher sicher die Fußplatten von Stützen lagen. Als Unterbau für die westliche Fußplatte (12) :w konnte ein vermutlich von Norden nach Süden gerichtetes Fundament (2)/,() nachgewiesen werden, dessen Westflucht neben jener um
Im Westabschnitt des Ost-West-Grabens, 7 Fundament 2 mit seiner westlichen Vorlage (rechts), von Westen; unten der anstehende Löß, links die Kinderbestattung 1
Die Gräben Im westlichen Abschnitt des Ostwest-Grabens wurde das erwähnte mächtige Nord-Süd-Fundament (3) 31 angeschnitten, dessen zugehörige W a n d ehemals die Westgrenze des Estrich-Fußbodens (5) 32 bildete. Beim Bau dieses Fundaments ist das Fußende einer - demnach älteren - tiefen Steinkisten-Bestattung (7) 3 3 zerstört worden (Abb. 8 u. 10). Von ihr fehlt auch das Kopfende, das bei der Anlage von zwei westlich etwa in gleicher Tiefe anschließenden Erdbestattungen (8a, 8b) 3/l beseitigt wurde. Zwischen diesen und einer weiteren Erdbestattung in gleicher Tiefe (9) 3 '' (Abb. 9) an der Südgrenze des Grabens warneben d e m F u n d a m e n t eineSiedlungsgrube (11) 3G zu erkennen, in deren Zufüllung sowohl der Fundamentgraben (3) als auch alle benachbarten Bestattungen (7, 8a, 9) einschneiden. An der Stelle des - hier
31 E t w a 2,35 m dick, U n t e r k a n t e bei - 2 , 9 7 m bis - 3 , 0 3 m, oben abgebrochen bei - 1 , 3 7 m (Ostflucht) bzw. bei - 0 , 9 2 ra (Westflucht). D i e Bruchsteine sind unten (bis - 2 , 3 9 m bzw. - 2 , 5 1 m) mit L ö ß verlegt, d a r ü b e r in gelbem K a l k m ö r t e l mit teilweise hohl gebliebenen Fugen (bis - 1 , 8 5 m bzw. - 1 , 9 0 m). An d e r Westflucht befinden sich d a r ü b e r trocken verlegte Steine (mit offenen Fugen, bis - 1 , 4 0 m). Es folgt ein Abschnitt mit a u f f a l l e n d unregelmäßigen Fluchten (Ostflucht bis etwa zur H ö h e von - 1 , 7 5 m, Westflucht bis - 1 , 0 5 m). Z u o b e r s t liegen quaderartige Steine in festem K a l k m ö r t e l mit ebenen Fluchten. 32 Bräunlichgelber Kalkmörtel-Estrich mit eingegossenen Steinbrocken, O b e r k a n t e bei —1,32 m bis - 1 , 3 8 m. A n vielen Stellen sind Ausbesserungen e r k e n n b a r . 1,3 N u r Beckcnbereich erhalten mit unterer W i r b e l s ä u l e und Oberschenkel. Reste v o n der 0,31 m bis 0,41 m hohen, aus flachen Steinen mit K a l k m ö r t e l a u f g e m a u e r t e n Sargwand und dem gleichartigen K o p f t e i l des Sarges w u r d e n südlich und n o r d westlich des Skeletts freigelegt. y ' U n t e r k a n t c bei - 2 , 9 0 m bzw. - 2 , 8 5 m. 8a liegt teilweise unter der - demnach jüngeren — Bestattung 8b. Beide sind ohne Sarg und w u r d e n nur unterhalb des Beckens freigelegt. :, > ' U n t e r k a n t e bei - 2 , 7 5 m. V o n der ebenfalls sargloscn Bestattung w u r d e nur der Unterschenkel- u n d Fußbereich v o n N o r den her angeschnitten. N a c h d e m stratigrafischcn B e f u n d hat man das G r a b wahrscheinlich v o r dem Abbruch der a u f g e h e n d e n W a n d über F u n d a m e n t 3 eingetieft.
Vgl.
den
Bericht
von
JOHANNES
SCHNEIDER.
37
U n t e r k a n t c etwa bei - 0 , 7 0 m. Sie ist v o m gotischen N i veau aus eingetieft. 3S D a s G e w ö l b e über 10a, 10b und 10c ist mit Bruchsteinplatten, über 13 mit Backsteinen hergestellt. 3a V o n der Estrich-Aussparung ist nur die N o r d h ä l f t e erhal40
U n t e r k a n t e bei - 2 , 8 2 m, bis zu - 1 , 4 5 m erhalten. D i e K a l k bruchsteine sind im unteren Abschnitt trocken, z. T . mit L ö ß lagerfugen, verlegt (bis - 2 , 2 0 m), d a r ü b e r mit festem gelbem K a l k m ö r t e l u n d mit dichtem Fugenverstrich (bis - 1 , 7 0 m), zuoberst mit härterem, etwas gröbcrem K a l k m ö r t e l .
Zur Baugeschichte des Magdeburger Doms W 10.0/N 3,27
I
W3,0
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WB.O
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W7,0
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8 Nordprofil 3 des westlichen Grabens. a : Heutiger Plattenboden mit Sandbettung, b: Verfüllung über und neben Backsteingruft 10 a, c: Verfüllung über Bestattung 6, d : Verfüllung über Fußboden 5, vermutlich 13./14. Jh.. e: Verfüllung, vermutlich 13./14. Jh.,
ws.o
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71 W5.0
I
Wt.Q
I
f: Verfüllung über dem Stumpf des Westwand-Fundaments 3, vermutlich 13./14. Jh., g: Verfüllung, jünger als Kinderbestattung 1, h: Verfüllung, jünger als Steinkisten-Bestattung 7, i : Verfüllung des Steinkistensarges 7, k : Anstehender Löß
9 Südprofil 5 des westlichen Grabens, a : Heutiger Plattenboden mit Sandbettung, b: Störung unter dem Fußboden, vermutlich modern, c: Verfüllung auf und neben der unmittelbar hinter der Profilebene liegenden Gruft 10 c, d : Verfüllung vermutlich 13./14. Jh., e: Verfüllung über Bestattung 9, f: Verfüllung neben Fundament 3, g : Anstehender Löß e t w a 0 , 6 0 m nach Westen vorspringt (Abb. 7). Bei der A n l a g e dieses Fundaments ist in der T i e f e - an der Nordgrenze des Grabens - das F u ß e n d e einer Kinderbestattung ( l ) 4 1 zerstört worden. Von dem
Fundament ( 2 3 ) 4 2 unter dem östlichen Plattenabdruck ( 1 7 ) 4 3 wurden die Ost- und der Ansatz der Südgrenze festgestellt (Abb. 11). 2 , 6 0 m östlich dieses Plattenabdrucks, also annähernd in dessen Abstand zum
4 1 Unterkante bei - 2 , 5 9 m. Die sarglose Bestattung enthielt der Untersuchung Hans Grimms (Berlin) zufolge, dem an dieser Stelle für seine Hilfe gedankt sei, das Skelett eines zwölfjährigen Mädchens. 4 2 Oberkante bei - 1 , 3 1 m, Sohle nicht erreicht. Das sehr
unregelmäßig begrenzte Fundament ist bis - 1 , 6 2 m aus festem Kalkmörtel mit Steinsplitt gegossen, darüber mit Kalkbruchsteinen und gleichem Mörtel aufgemauert. 4 3 Im Südteil ist die Estrich-Kante ausgebrochen, vermutlich beim Herausnehmen der Fußplatte.
72
GERHARD LEOPOLD
10 Mittleres Südprofil 4 des westlichen Grabens, a: Heutiger Plattenboden mit Sandbettung, b: Verfüllung über und neben Backsteingruft 10 a, c: große Störung über Fundament 3 und Fußboden 5, d: Verfüllung, vermutlich 13./14. Jh., e: Verfüllung über Fundament 3 und Fußboden 5, 13./14. Jh., f: Verfüllung zwischen den Fundamenten 2 und 3, eingebracht nach Herstellung von Fundament 2, g: Verfüllung über Steinkistengrab 7, h: Verfüllung, älter als 2 und 3, i: Ungestörter anstehender Löß, oben in die Kulturschicht übergehend westlichen Abdruck (12), war auf einem mächtigen Nord-Süd-Fundament (24) 4 4 eine etwa 0,05 m hohe, fast quadratische, sockelartige Erhöhung (18) 4 5 von etwa der gleichen Größe wie die beiden Plattenabdrücke erhalten. D e r Estrich (5), der westlich von dieser Stelle allmählich abbricht, fehlt hier ganz. E t w a 2,40 m östlich dieses „Sockels" wurde wieder ein Nord-Süd-Fundament (27) 4 6 angeschnitten. Dieses weist in der Achse der Plattenabdrücke eine west-
Vi Sohle bei - 3 , 6 9 m, O b e r k a n t e bei - 1 , 5 0 m. D a s F u n d a ment ist oben 1,60 m dick und unterhalb von - 3 , 0 5 m um 0,30 m nach Osten verbreitert. D a s feste M a u e r w e r k aus Sandbruchsteinen u n d K a l k m ö r t e l besitzt eine f a s t e b e n e Ostflucht; seine Westflucht w u r d e nur oberflächlich freigelegt. 45 D a s aus Sandbruchsteinen u n d K a l k m ö r t e l hergestellte M a u e r w e r k ließ m a n vielleicht als U n t e r b a u f ü r die Stütze von der W a n d stehen, die sich vermutlich ursprünglich auf F u n d a m e n t 24 erhob. 46 Sohle e t w a bei - 3 , 1 5 m, oben bei - 1 , 4 5 m abgebrochen, Ostgrenze nicht freigelegt. D a s sehr unregelmäßige und wenig feste M a u e r w e r k besteht aus Bruchsteinen u n d K a l k m ö r t e l .
11 Der Ostabschnitt des Ost-West-Grabens mit Resten der Westkrypta, von Osten. Vorn das Nord-Süd-Fundament 24 mit der Aufmauerung 18 für die westliche Stütze, dahinter der Estrich-Fußboden 5 mit der Aussparung 12 für die Fußplatte der mittleren Stütze und darunter das Fundament 23
Zur Baugeschichte des Magdeburger Doms o k.O
0 6,0
0 5,0
73 0 5.0
±0 y
0 4,0 I
03,0
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-1,0
-2.0
-3.0
-¡i.O
12 und 13 Nord- und Südprofil 6 und 7 am Ostende des östlichen Grabens. a: Heutiger Plattenboden mit Sandbettung, b: Verfüllung, vermutlich 13./14. Jh., c: Pfostenloch, d: Verfüllung, eingebracht bei der Herstellung von Fundament 24, jünger als Fundament 37 und älter als Fundament 27, e: Anstehender Löß liehe Vorlage auf, die eine gerade Nord- und eine schräge Südflucht besitzt. Unter dem Fundament fand sich in der Tiefe die Südwestecke eines weiteren Fundaments (37) (Abb. 12 und 13). 4 7 Der Boden zwischen den beiden Nord-Süd-Fundamenten (24, 27) ist im Zuge der Errichtung des westlichen (24) schichtweise eingefüllt worden und zieht sich auch über die Oberkante des tiefen östlichen Fundaments (37) hinweg. Das obere östliche Fundament (27) wurde nachträglich in die Auffüllung eingetieft, ist also jünger als diese. Eine lockere Mauerung (34) 4 8 zwischen dem Fundament (23) unter dem östlichen Plattenabdruck und dem östlich benachbarten Nord-SüdFundament (24) wurde nur oberflächlich angeschnitten ; sie könnte als Unterbau eines Fußbodens angelegt worden sein. - In der Verfüllung über diesen Bauresten lag im Ostteil des Grabens ein flaches Fundament (14), das nach seiner Achsrichtung und seiner Höhenlage für den gotischen Dom angelegt worden ist. 49 In dem nach Norden abgehenden Quergraben endet
der Estrich (5) auf dem Rand eines Ost-West-Fundaments (22) 5 0 an der Südflucht seiner ehemaligen aufgehenden Wand (Abb. 14). Eine vom gotischen Niveau aus angelegte Holzsarg-Bestattung (25) 5 1 , für die der Estrich durchbrochen wurde, liegt unmittelbar südlich des Fundaments. Nördlich von diesem sind von einem Nord-Süd-Fundament (35) 5 2 zunächst nur
4 7 Sohle bei - 3 , 8 4 m, Oberkante bei - 3 , 3 2 m. D a s Fundament besteht aus kleinen, sehr harten Bruchsteinen und K a l k mörtel. 4 8 A u s Steinsplitt und K a l k m ö r t e l . 4 9 Sohle e t w a bei —0,80 m, Oberkante bei - 0 , 5 0 m ; eine Schicht großer Bruchsteine in K a l k m ö r t e l . - Hier stand bis zur Erneuerung des Fußbodens um 1 8 3 0 der gotische Katharinen-
altar,
der
IMMANUEL
bei
JOHANN
MELLIN,
ANDREAS
CARL
ALBERT
CLEMENS, ROSENTHAL
FRIEDRICH und
ALBERT
andere,
Der
D o m zu Magdeburg ( 1 8 3 1 - 1 8 5 2 ) , im unteren G r u n d r i ß (I. Lieferung, T a f e l 1 ) noch an der alten Stelle, im Längsschnitt (III. Lieferung, T a f e l 1 ) jedoch an seinem neuen Standort östlich v o r dem Gitter der Ernstkapelle eingetragen ist. 5 0 Sohle nicht erreicht, oben bei - 0 , 5 8 m abgebrochen. Das Fundament ist unten etwa 2 , 9 2 m, beim Ansatz des A u f g e henden 2 , 3 0 m dick. D a s mit festem K a l k m ö r t e l hergestellte Bruchsteinmauerwerk hat im Fundament sehr unregelmäßige, im Aufgehenden dagegen gerade und parallel laufende Fluchten. 5 1 Oberkante bei - 1 , 5 5 m, die Bestattung w u r d e nur oberflächlich angeschnitten. D i e Grabgrube hält auffälligerweise die ottonische Achsrichtung ein, vermutlich wegen des im Norden angrenzenden Fundaments. 5 2 N u r Oberteil freigelegt, erhalten bis in Höhe v o n - 0 , 9 0 m. Sohle tiefer als - 2 , 0 m. K l e i n e r e Sandbruchsteine sind ziemlich regellos in Lehm verlegt.
GERHARD LEOPOLD
Westprofil 8a und 8b des nördlichen Grabens. 14 a : heutiger Plattenboden mit Sandbettung, b : Verfüllung neben Heizkanal 15 von 1901, c: Störung durch Gasleitung, d : Schichten unter dem Fußboden, e: Verfüllung über Fundament 22 und Fußboden 5, 13./14. Jh., f : Verfüllung über Fundament 36, 13./14. Jh. oder älter, g: Ungestörte Kulturschicht
15 Der Nord-Süd-Graben, von Norden. Im Hintergrund das Nordwand-Fundament 22 des Westbaus, davor das Atrium-Fundament 35, das vorn nach Westen (rechts) abschwenkt, links das gotische Pfeiler-Fundament 26
Zur Baugeschichte des Magdeburger Doms NV*
N15 I
±0
-1,0
n n
i
75
N 15
I
N 16
N 17 I
%•
-2.0
-3.0 L16 und 17 Westprofile 9 und 10 am Nordende des nördlichen Grabens. a: Heutiger Plattenboden mit Sandbettung, b: Verfüllung des Heizkanals 15 von 1901, c: Störung von 1901, d: Horizont, von dem aus der Fundamentgraben 20 eingetieft wurde, e: Fundamentgraben des gotischen Nordwand-Fundaments 16, f: Ungestörte Kulturschicht, unten in anstehenden Löß übergehend
der Fundamentgraben - seine Ostflucht scheint 0,54 m nördlich des Fundaments 22 nach Osten abzubiegen 0,80 m weiter nördlich aber auch Teile des Fundaments selbst erkennbar, das 4,0 m nördlich von 22 nach Westen herumschwenkt (36) (Abb. 15). 53 Westlich dieses Fundamentwinkels ist der anstehende Boden auf 2,75 m Länge gestört (38). Auf der Ostseite ragt das Fundament (26) 5 4 des dritten Pfeilers der gotischen Nordarkaden in den Graben hinein. Bei der Anlage des weiter nördlich den Graben durchquerenden Heizkanals von 1901 (15) ist eine nachmittelalterliche Backsteingruft (19) bis auf einen geringen Rest beseitigt worden. D e r am Nordende des Quergrabens festgestellte Graben eines OstWest-Fundaments ottonischer Achsrichtung (20) 5 5 ist nachweislich älter als das benachbarte Fundament einer Vorlage der gotischen N o r d w a n d (16) (Abb. 16 u. 17). 56 Unter dem Fundament der sechzehneckigen Kapelle (28) 5 7 konnte das Spannfundament (29) 5 8 des ersten gotischen Langhausplanes mit südlicher (29 a) und
nördlicher (29 b) Vorlage für den an dieser Stelle vorgesehenen Zwischenpfeiler oberflächlich freigelegt werden (Abb. 18). Nördlich des Spannfundaments waren zwei Quader der Südflucht einer Mauer in ottonischer Achsrichtung (31) 5 9 erhalten. Südlich von ihm sowie südlich seiner Südvorlage (29 a) konnten zwei Restflächen eines Fußbodens (30) 6 0 aus großen, 53
36 hat gleiche Struktur wie 35. Sohle tiefer als - 1 , 9 4 m, Oberkante bei -0,87 m. Das Mauerwerk aus großen Sandbruchsteinen und festem Kalkmörtel ist oben mit ebenen Sandsteinplatten abgedeckt. 65 Sohle bei -2,88 m. Der Fundamentgraben ist von etwa -0,88 m aus in die Kulturschicht und die Einfüllschichten über dieser eingetieft. 56 Sohle tiefer als -3,15 m. Es ist aus großen Kalkbruchsteinen und festem Kalkmörtel hergestellt. 57 Sohle bei - 0 , 6 0 m bis -0,74 m. Das unregelmäßige, etwa 0,55 m dicke und 0,35 m hohe Ringfundament ist aus flachen Sandbruchsteinen und Kalkmörtel gemauert. 53 Bis zu - 0 , 4 9 m erhalten. Große Sandbruchsteine sind in Kalkmörtel verlegt; das Fundament steht mit der Vorlage 29b im Verband, bei 29a war eine Untersuchung des Anschlusses nicht möglich. 59 Oberkante bei - 1 , 0 m bis - 1 , 1 0 m. Auf der Oberfläche der mit Kalkmörtel aufgemauerten Quader zeichnete sich die um 0,07 m zurückgesetzte Südflucht der ehemaligen nächsthöheren Mauerschicht ab; an den westlichen Quader schließt im Norden zugehöriges Bruchsteinmauerwerk mit gleichem Mörtel an. Oberkante der Backsteinplatten etwa bei -1,16 m; bei der südlichen Fläche ist nur die Mörtelschicht erhalten. Die Platten sind 0,38 m lang, 0,02 m dick und waren mehr als 0,21 m breit. Sie werden an der einen Längsseite allmählich dicker bis fast 0,04 m und besitzen dort am Ende an der Unterseite einen 0,02 m breiten und 0,02 m hohen Falz, in den die benachbarte Platte eingreifen konnte. Vermutlich waren die Platten eigentlich für das Dach bestimmt. - Bruchstücke ähnlicher, an der Oberseite grün glasierter Dachplatten hatte 1926 auch AL54
FRED KOCH ( 1 9 2 6 w i e A n m . 4 , S. 1 6 - 1 8 )
gefunden.
76
GERHARD LEOPOLD
18 Das RingFundament 28 der sechzehneckigen Kapelle, von Westen. Unter diesem ist das Spann-Fundament 29 der gotischen Nordarkaden mit seinen Vorlagen 29 a (rechts) im Süden und 29 b im Norden erkennbar
in Kalkmörtel
verlegten
Backsteinplatten
ergraben
werden, deren Fugen der Achsrichtung des
ottoni-
befand sich
etwa
in gleicher Höhe wie der Boden im Langhaus
D
und E . 6 2 D e r Fußboden
(5)
(30).
schen D o m s folgten. D a s Fundament der sechzehn-
W o die Zugänge des Raums lagen, ließ sich bisher
eckigen K a p e l l e liegt auf einer Verfüllung über den
nicht klären. 6 3 Ü b e r diesem Untergeschoß wird sich
genannten älteren Bauresten. Sein Ostteil schließt an
ein rechteckiger Westchor - oder ein mehrgeschossiges
die Westvorlage ( 3 2 ) des ersten Pfeilers der gotischen
W e s t w e r k ? 6 4 - erhoben haben.
Nordarkaden an.
D i e Fundamente, auf denen die W ä n d e und Stützen des Raums gestanden haben, sind nicht gleichzeitig angelegt worden. Im östlichen Bereich wurde als letz-
Der Westbau
tes nachweislich das Fundament der Ostwand
D i e beiden Fundamente 3 im Westen und 2 2 im Norden sind offenbar Reste der Umfassungswand des
Bauzeit des Raums wie das in der
Westbaus
ähnliche Einzelfundament
(Abb. 6). 2 , 2 5 m südlich der
Nordwand
(27)
hergestellt. E s stammt wahrscheinlich ebenso aus der Mauerstruktur
( 2 3 ) unter der mittleren
Plintenabdrücke
Stütze ( 1 7 ) . In die gleiche Z e i t darf man wohl auch die
12 und 17 eine Stützenreihe rekonstruiert werden, zu
Fundamente der westlichen (3) und der nördlichen
der sicher eine dritte Stütze auf dem gemauerten U n -
( 2 2 ) Umfassungswand setzen, da bei ihnen wenigstens
kann
durch die beiden westlichen
terbau 1 8 gehörte. D i e östliche Abschlußwand
des
Raums dürfte auf dem Nord-Süd-Fundament 27 gestanden haben; jedenfalls entspricht der Abstand der
81
Ob
die
schräge
Südgrenze
ersten Stütze ( 1 2 ) zur W e s t w a n d etwa dem der letz-
zufällige U n r e g e l m ä ß i g k e i t
ten Stütze ( 1 8 ) zur westlichen Vorlage des Ostwand -
für einen
Fundaments ( 2 7 ) . 6 1 Zweifellos besaß der R a u m noch eine zweite südliche Stützenreihe. B e i Annahme gleicher B r e i t e der drei Schiffe ergibt sich eine Anlage von etwa 8 , 0 m B r e i t e und 1 1 , 5 m Länge im
Lichten.
E t w a in Verlängerung der N o r d - und Südwand des Raums lagen übrigens nach den Angaben von Heinrich die beiden von ihm beobachteten
Fundamente
entsprechenden
des V o r l a g e n - F u n d a m e n t s
der Bauausführung Oberbau
ist oder
angelegt wurde,
eine
bewußt
muß
offen
bleiben. 62
Vgl. Anm. 20.
63
Z w a r ist die W e s t w a n d
etwa 0 , 4 0 m höher erhalten
v o r dem
Mittelschiff
als die O b e r k a n t e
des
des
Raums
Fußbodens.
D o c h nach dem - hier leider etwas unsicheren - B e f u n d kann der westlich
anschließende
Außenhorizont
und
damit
eines westlichen Portals ebenfalls so hoch gelegen (i/*
Für
die
bei
ihm
notwendigen
seitlichen
die
Schwelle
haben.
Treppenzugänge
w ä r e in der M a u e r d i c k e oder beiderseits der O s t h ä l f t e des unteren R a u m s Platz.
Zur Baugeschichte des Magdeburger Doms im oberen Abschnitt die Übernahme von einem Vorgängerbau nicht erkennbar ist. 63 - Von einem - oder mehreren? - solchen stammen dagegen das mächtige Nord-Süd-Fundament (24) unter der östlichen Stütze (18), das unter dem Ostwand-Fundament (27) gelegene tiefe Fundament (37) sowie vermutlich auch das Fundament (2) unter der westlichen Stütze (12), da es bei seiner deutlich abweichenden Struktur und Grundrißform kaum gleichzeitig mit dem Fundament (23) der Mittelstütze entstanden sein kann. Weitere Schlüsse über ältere Bauten in diesem Bereich lassen die Fundamente nicht zu. Auch wurden keine Reste eines älteren Fußbodens gefunden. Daß ältere Sakralgebäude vorhanden waren, scheinen auch die von dem Westwand-Fundament (3) und von dem Fundament (2) unter der westlichen Stütze (12) gestörten, also älteren Bestattungen (7 und 1) zu beweisen.
Das
Atrium
Das Nord-Süd-Fundament (35) nördlich des Westbaus knickt an seinem Nordende nach Westen um (36); es lief wahrscheinlich parallel zu dem nördlichen Fundamentgraben (20) weiter und unmittelbar südlich an der von Harms freigelegten, der ottonischen Achsrichtung folgenden Bestattung (C) 6 6 vorbei. Ergänzt man diese Fundamentzüge und den Harmsschen Mauerfund A im Südseitenschiff 67 symmetrisch beiderseits der Mittelachse des Westchors, dann wird deutlich, daß neben den Außenwänden des Westbaus im Norden und Süden etwa 6 m breite Trakte ansetzten, die etwa 5,0 m nach Norden und Süden vorsprangen, um dann nach Westen herumzuschwenken. Das Außenfundament der Trakte (Fundamentgraben 20, Mauer A) ist jeweils dicker als das Innenfundament (35, 36). Es handelt sich hier zweifellos um die Reste eines dem ottonischen Dom auf der Westseite vorgelagerten Atriums, das von einem überdeckten, in den Ostarmen 4,50 m, nach dem Abknicken aber 3,80 m breiten, nach dem Hof zu geöffneten Gang umgeben war. Auf dem dickeren äußeren Fundament wird die Außenwand, auf dem dünneren inneren eine Stützenreihe gestanden haben (Abb. 3). P. J. Meier und H. Kunze haben bereits 1920/22 vor dem gotischen Südwestturm einen Fundamentrest der südlichen Außenwand (B) ergraben und schon damals als Teil eines Atriums gedeutet. 68 Das Atrium hat sich also in westlicher Richtung mindestens bis in diesen Bereich erstreckt. - Über das zeitliche Verhältnis des
77
Atriums zum ergrabenen Westbau und zum ottonischen Dom überhaupt konnte die Grabung keine Klarheit bringen. Der
Ostschluß
Auch für die Gestalt der Ostteile des Doms vor dem Brand von 1207 gibt es wichtige Hinweise. Nach dem Grabungsergebnis von 1926 69 besaß der Dom über einer Krypta (Abb. 4) ein Sanktuarium mit Apsidenschluß, begleitet von zwei Flankentürmen. An den von jener Krypta ergrabenen, unter einer Betondecke zugänglichen Mauer- und Fußboden-Resten (G) 70 waren wenige zusätzliche Beobachtungen möglich: 71 Der Putz der Kryptenwände griff offenbar um einige Zentimeter auf die Leibung des Turmzugangs über. Diese besaß aber weiter südlich wie der gesamte Turm-Innenraum keinen Putz, sondern nur einen Fugen-Verstrich. 72 Die Turmkammern, bei denen jede Spur für einen ehemaligen Fußboden fehlt, 73 gehören also vermutlich nicht zum Innenraum der Krypta. Sie können wohl auch kaum zur Aufstellung von Särgen benutzt worden sein - etwa des Editha-Sarges in der nördlichen Kammer des Nordturms 74 - , weil ein Sarg in die nur etwa 1,10 m breiten Kammern gar nicht hätte hineingebracht werden können. Die Ausbildung des Turm-Unterbaus mit einer mittleren Mauerzunge läßt dagegen erwarten, daß hier ehemals eine Treppe eingebaut war, die in kurzen geraden Läufen um einen mittleren Mauerkern - auf der Mauerzunge emporführte. - Der Kryptenraum selbst läßt sich am 6 5 Möglicherweise ist der untere Teil des Westwand-Fundaments (3) doch älter, da er bis zur Höhe von - 1 , 8 5 m bis - 1 , 9 0 m, ähnlich wie der obere Teil, aus einem unteren, trocken verlegten und einem oberen, gemörtelten Mauerwerk besteht. Dazu vgl. Anm. 3 1 . 0 6 Vgl. Anm. 2 1 . 6 7 Vgl. Anm. 2 1 . 0 8 Vgl. Anm. 23. 69
D a z u v g l . v o r a l l e m KOCH 1 9 2 6 w i e A n m . 4 , u n d
HERMANN
GIESAU, Die Krypta des ottonischen Domes in Magdeburg, in: Zeitschrift für Denkmalpflege 1, 1926/27, S. 1 0 7 - 1 0 9 . 7 0 Vgl. Anm. 24. 7 1 Sie wurden bei einer Begehung der Krypta zusammen mit Ernst Schubert gemacht. 7 2 Übrigens unterscheidet sich die Ostwand des Turms in ihrem Aufbau deutlich von den angrenzenden Wänden und hat mit der Nordwand keinen, mit der Südwand und der mittleren Mauerzunge nur einen losen Verband. Aus diesem Befund allein kann man jedoch kaum verschiedenzeitliche Entstehung herleiten. 7 3 Ein solcher müßte über den vorspringenden Fundamenten, also mehr als etwa 0,65 m höher als der Kryptenfußboden gelegen haben. 7 4 W i e man seit 1 9 2 6 durchweg angenommen hat.
78
GERHARD LEOPOLD
besten in Form einer fünfschiffigen Halle von etwa 11,0 m Breite ergänzen, deren mittlere drei Schiffe in dem Rund der großen Chorapsis endeten, während die beiden seitlichen auf die kurzen Ostwandstücke zuliefen. 7 5 Anzeichen für eine nachträgliche Erweiterung oder Veränderung der Krypta waren nicht festzustellen. - D e r Schmuckfußboden scheint, wie schon Koch bemerkte, mit seinem Muster und in seiner Begrenzung nicht zum Raum zu passen (Abb. 5). Das könnte für eine Übernahme von einem anderen Bau sprechen. Die Behauptung Kochs, 7 6 daß dieser Boden „die östliche Hälfte des Kryptarundes ehemals ausgefüllt hat", ist höchst fragwürdig, weil sich die von ihm dafür angeführten Ausbesserungen durch einen einfachen Gipsestrich an den Stellen befinden, die einer verhältnismäßig geringen oder sogar keiner Abnutzung ausgesetzt waren. Das Muster des Bodens, der nach H. Kier 7 7 „um 1049 verlegt (vermutlich römische Spolie)" wurde, entspricht - allerdings mit umgekehrten Farbwerten - dem eines im Dom zu Worms gefundenen, auf „um 1 0 2 2 " datierten Fußbodenrestes. 78 D e r 1931 im nördlichen Kreuzgangflügel ergrabene Rest eines Ost-West-Fundaments (H) 7 9 stammt seiner Lage und seiner beträchtlichen Mauerdicke zufolge vermutlich von der Südwand des Querhauses. Als Rest von dessen Westwand-Fundament oder-genauer gesagt - dem Spannfundament unter dem westlichen Vierungsbogen wird in der Forschung bisher der kurze quergerichtete Westabschnitt des Harmsschen Mauerfunds (I) 8 0 im südlichen Chorumgang angesehen, von dem jedoch nur die Lage seiner Ostflucht bekannt ist. E r müßte dann tiefer gegründet sein als das angrenzende Ost-West-Fundament. Symmetrisch zur Südwand konnte die Nordwand ergänzt werden, parallel zur Westwand die Ostwand, und zwar in der Voraussetzung, daß die Breite des Querhauses etwa ein Drittel seiner Länge ausmacht.
Das Langhaus
zu deuten ist. Nimmt man die Mittelachse des Langhauses als Verbindungslinie zwischen den Achsen des Westbaus und der Ostteile an, dann entspricht ihre Richtung auffälligerweise exakt der der Südflucht des Fundamentrestes der Langhaus-Nordwand (31). Bei symmetrischer Ergänzung von Südarkaden-Fundament und Südwand ergeben sich, von Fundament zu Fundament gerechnet, ein im Lichten etwa 10,40 m breites Mittelschiff und 4,10 m breite Seitenschiffe. 83 Wie das Langhaus im Westen endete und wie sein Anschluß an den Westbau aussah, ist bisher nicht geklärt. Die von Heinrich 84 bei E beobachtete „Quermauer" gehörte vielleicht zum östlichen Abschluß des Westbaus. Eine Frage bleibt, ob hier zwischen Langhaus und Westbau ein zweites, westliches Querhaus eingeschoben war wie bei vielen größeren Kirchen der Zeit. 8 5 7 5 So schon S. 1 0 8 ) . 76
rekonstruiert
KOCH 1 9 2 6 w i e A n m . 4 , S.
(GIESAU 1 9 2 7
wie Anm. 6 9 ,
10.
HILTRUD KIER, D e r mittelalterliche Schmuckfußboden unter besonderer Berücksichtigung des Rheinlandes (Die Kunstdenkmäler des Rheinlandes Beiheft 14. Hrsg. RUDOLF WESENBERG), 77
D ü s s e l d o r f 1 9 7 0 , S. 78
KIER
1970
123-124.
wie
Anm. 77,
S. 1 3 9 - 1 4 0
und
Abb. 34.
Vgl. Anm. 25. 8 0 Vgl. Anm. 2 1 . 8 1 Vgl. S. 7 5 und Anm. 5 9 . 8 2 Vgl. Anm. 19. 8 3 Die Breite des Mittelschiffs entspricht also etwa der der 1 9 2 6 ergrabenen Ostkrypta. 8 4 Vgl. Anm. 20. 8:> In der näheren Umgebung z. B. in Memleben (FRIEDRICH 79
BELLMANN
und
GERHARD
LEOPOLD,
Die
ottonische
Abteikirche
Memleben, in: Varia Archäologica. Wilhelm Unverzagt zum 70. Geburtstag dargebracht. Hrsg. PAUL GRIMM, Berlin 1 9 6 4 , S. 3 5 4 - 3 6 3 ;
GERHARD
LEOPOLD,
Grabungen
im
Bereich
der
ottonischen Kirche in Memleben: Westchor, in: Siedlung, Burg und Stadt. Studien zu ihren Anfängen [ = Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Schriften der Sektion für Vorund
Frühgeschichte
25],
JOACHIM HERRMANN,
Hrsg.
Berlin
von
1969,
KARL-HEINZ
S. 5 2 5 - 5 3 2 ;
OTTO
und
Das
Klo-
Ders.,
ster Memleben [ = Das christliche Denkmal 9 6 ] , Berlin 1 9 7 6 ; ERNST SCHUBERT, Zur Datierung der ottonischen Kirche zu Memleben, in: Siedlung, Burg und Stadt. Studien zu ihren Anfängen [ = Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Schriften der Sektion für Vor- und Frühgeschichte 2 5 ] , Hrsg. von KARLHEINZ 524),
Der Versuch, das Langhaus zu rekonstruieren, kann sich lediglich auf die unter der sechzehneckigen Kapelle gefundene Mauer ( 3 1 ) 8 1 und den nur annähernd im Grundriß bekannten Mauerrest F 8 2 im Mittelschiff stützen, beides Teile von Ost-West-Fundamenten. Mit 31 ist zweifellos ein Stück des NordwandFundaments mit der Innenflucht der Wand selbst erhalten, während der Mauerrest F wohl als Teil des Spannfundaments unter den nördlichen Schiffsarkaden
1927
OTTO in
St.
und
JOACHIM
Michael
in
HERRMANN,
Hildesheim
Berlin
(HARTWIG
1969,
S.
BESELER,
515HANS
ROGGENKAMP, Die Michaeliskirche in Hildesheim, Berlin 1 9 5 4 ) und in Nienburg (LUDWIG GROTE, Die Ausgrabungen in der Schloßkirche zu Nienburg im Jahre 1 9 2 6 , in: Jahrbuch der Denkmalpflege in der Provinz Sachsen und in Anhalt, Burg 1 9 3 1 , S. 1 1 - 7 1 ) . D a s westliche Querhaus fehlt aber z . B . in Halberstadt, wo der ottonische D o m gleichzeitig und gewissermaßen als Rivale des im Bau befindlichen Magdeburger Doms errichtet wurde
städter
(GERHARD
Dom
bis
LEOPOLD
zum
und
gotischen
ERNST
SCHUBERT,
Neubau.
Mit
Der
FRIEDRICH BELLMANN, P A U L G R I M M , FRIEDERIKE H A P P A C H , LEHMANN
und
ULRICH
HANS BERGER. I m
SIEBLIST
Druck).
sowie
einem
Halber-
Beiträgen
von
EDGAR
Geleitwort
von
Zur Baugeschichte des Magdeburger Doms
Datierung der Krypten Umstritten ist die Datierung der 1926 aufgedeckten Krypta. H. Giesau 8 6 und H. Kunze 8 7 hielten sie wegen ihrer ausgesprochenen „ottonischen" Gestalt für einen Teil des Doms Ottos I . ; danach wäre sie also ein Rest der 961 erwähnten Krypta. Um diese Datierung mit den überlieferten Nachrichten in Einklang zu bringen, versuchte H. Kunze zu beweisen, daß die Krypta des Erzbischofs Tagino, die nach seiner Meinung im Westen des Doms gelegen hat, von Erzbischof Hunfried dort erweitert wurde. E r meinte, daß der Bericht des Chronisten, in dem von der Bestattung Hunfrieds die Rede ist, nämlich „ipse sepultus est in orientali choro ante gradus sanctuarii, quod ipse edificavit" einen Schreibfehler enthalte und richtig lauten müsse: „sepultus est in occidentali choro . . , 8 8 Für eine solche Konjektur gibt es jedoch keinen Grund. Chor und Krypta - und die Bestattung Hunfrieds - dürften vielmehr im Osten des Doms gelegen haben. 89 Nach dem Wortlaut der Nachricht über Hunfrieds Bautätigkeit waren sie entweder ein Neubau oder die Erweiterung eines vorhandenen Bauwerks. 8 9 3 Wo hat aber die Krypta Taginos gelegen? Sein Leichnam wurde begraben „im Westteil im Chor vor der Krypta, die er selbst erbaut und geweiht hat". 9 0 Das Grab blieb aber nicht lange an dieser Stelle; denn von Hunfried wird berichtet, daß er die Leiber seiner Vorgänger Tagino und Waithard, der neben Tagino sein Grab gefunden hatte, 9 1 „de occidentali choro", also vom westlichen Chor, überführte und bei Adalbert und Gero in der Mitte der Kirche bestattete; er selbst wurde „in orientali choro", also im östlichen Chor, begraben, vor den Stufen des Sanktuariums, das er selbst erbaut hat. 9 2 Dabei unterscheidet der Quellentext ausdrücklich zwischen „orientalis chorus" und „occidentalis chorus". - 1938 schloß sich E . Lehmann 93 im wesentlichen der Meinung von H. Kunze an. Dagegen nimmt F. Bellmann 9 4 die Meinung von P. J. Meier 9 5 wieder auf und hält es für möglich, daß Erzbischof Hunfried anstelle der Krypta Ottos I. eine neue, nämlich die von A. Koch ergrabene Krypta, errichtet hat. Diese Ansicht vertraten danach auch H. Thümmler 96 sowie F. Oswald, 9 7 die die ergrabene Westkrypta für die Krypta des Erzbischofs Tagino hielten. Dagegen meinte E . Schubert 98 von Hunfried: „Vermutlich hat er - das lassen gleichzeitige Berichte über Grabverlegungen im Dom erkennen - lediglich die neue Ostkrypta Taginos nach Westen, ins Querhaus hinein, verlängert und den darüber aufstei-
79
genden Chor in angemessener Weise vergrößert. Der neue Chorbau wäre dann von Tagino begonnen worden, Waithard (1012) und Gero ( 1 0 1 2 - 1 0 2 2 ) hätten ihn fortgeführt, Hunfried aber erst nach Planänderungen vollendet." Schubert legt also die Nachricht von der Bestattung Taginos so aus, daß dieser im Westteil des (Ost-)Chors^ vor der von ihm hergestellten und geweihten Krypta begraben wurde, und den Bericht über die Verlegung der Gräber Taginos und Walthards so, daß diese vom westlichen (Ost-)Chor (-abschnitt)100 zum Kreuzaltar erfolgte. 101 Für diese Auslegung sprechen die noch „ottonische", nicht schon frühromanische Gestalt der Krypta 1 0 2 und auch das Fehlen einer Nachricht über Bauarbeiten im Westteil des Doms, die die Umbettung der beiden Erzbischofsgräber erzwungen haben könnten. Es gibt aber auch gewichtige Argumente dagegen. 1023
8 0 HERMANN GIESAU, Der Chor des Domes zu Magdeburg, die Herkunft seines Planes und seine stilistischen Voraussetzungen, in: Sachsen und Anhalt 4, 1 9 2 8 , S. 2 9 6 , Anm. 6. 87
KUNZE 1 9 3 0 w i e A n m . 1 5 , S. 5 7 - 5 8 .
83
KUNZE 1 9 3 0 w i e A n m . 1 5 , S.
89
SCHUBERT 1 9 7 4 w i e A n m . 2 , S . 1 2 .
8
57-58.
°a Vgl. Anm. 16.
Vgl. Anm. 1 0 . Vgl. Anm. 11. 9 2 Vgl. Anm. 17. 9 3 EDGAR LEHMANN, D e r 1 9 3 8 , 2. Aufl. 1 9 4 9 , S. 125. 90
91
94
FRIEDRICH B E L L M A N N ,
deburg, 95
frühe deutsche Kirchenbau,
Zu
den
älteren
in: Ausgrabungen und Funde 3,
Dombauten
1958,
Berlin
in
Mag-
S. 3 2 5 .
P A U L JONAS M E I E R , B e s p r e c h u n g z u R . HAMANN u n d F . R O -
SENFELD, Der Magdeburger D o m , Berlin 1 9 1 0 , in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 4 5 , 1 9 1 0 , S. 3 6 5 . 9 6 HANS THÜMMLER, Karolingische und ottonische Baukunst in Sachsen, in: Das erste Jahrtausend. Kultur und Kunst im werdenden Abendland an Rhein und Ruhr, Textband II, Düsseldorf 1 9 6 4 , S. 8 8 2 . 97
FRIEDRICH
WALD,
LEO
OSWALD,
SCHÄFER,
Magdeburg
HANS
RUDOLF
Dom,
in:
FRIEDRICH
SENNHAUSER,
OS-
Vorromani-
sche Kirchenbauten (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München 3), München 1 9 6 6 - 1 9 7 0 , S. 1 9 0 191. 9 8 SCHUBERT 1 9 7 4 wie Anm. 2, S. 1 2 ; Ders. ähnlich auch in: GEORG DEHIO, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. D e r Bezirk Magdeburg, bearbeitet von der Abteilung Forschung des Instituts für Denkmalpflege. Hrsg. EDGAR LEHMANN, Berlin 1 9 7 4 , S. 2 6 4 .
Vgl. Anm. 10. Vgl. Anm. 17. 1 0 1 Das meinten bereits GEORG SELLO, Dom-Altertümer, i n : . Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 26, 1 8 9 1 , 99
100
S. 1 1 3 - 1 1 5 , 102
und
ROSENFELD
1910
wie
Anm. 2,
S. 1 3 7 .
SCHUBERT 1 9 7 4 w i e A n m . 2 , S . 1 3 .
1 0 2 A ERNST SCHUBERT, mit dem ich auch diese Fragen, bei denen zahlreiche Einzelheiten in Übereinstimmung gebracht werden müssen, gründlich erörterte, hält die Argumente für nicht durchschlagend.
80
GERHARD LEOPOLD
Zunächst müssen gegen die Annahme, die Krypta sei unter Hunfried ins Querhaus hinein verlängert worden, Bedenken vorgebracht werden. Hier legte Harms 1901 den Mauerrest I frei. 1 0 3 Wenn die Beschreibung, die er lieferte, auch reichlich unzulänglich ist, wenn man sich auch bisher kaum vorstellen kann, wozu die aufgedeckten Mauern gedient haben könnten, ihre deutlich erkennbare Achsrichtung spricht dafür, daß sie vor dem Abbruch des ottonischen Doms angelegt wurden. Sie wären bei einer westlichen Erweiterung der Krypta zweifellos beseitigt worden. Ein andersartiger Umbau der Krypta 1 0 4 ist nach dem Befund schwer vorstellbar. 105 Man müßte denn annehmen, daß durch einen baulichen Schaden, z. B. durch Brand oder Einsturz, die Erneuerung des Gewölbes oder Ähnliches notwendig geworden war, wofür es jejedoch keinen Beleg gibt. D a ß Hunfried die Krypta Taginos nach 20 oder 30 Jahren schon wieder abbrechen ließ, um eine besser geeignete zu errichten, ist ebenfalls nicht sehr wahrscheinlich, zumal auch hierüber nichts verlautet. Es bleibt zu prüfen, ob Hunfried die Krypta Taginos etwa nur vollendet hat. Dafür könnte der nach seinem Wortlaut etwas unklare Bericht Thietmars über die Beisetzung Taginos 1 0 6 sprechen. Man kann ihn wohl so verstehen, daß die Krypta damals ungeweiht war - und nicht der Raum, in dem Tagino beigesetzt wurde! - und der Erzbischof deshalb nicht, wie er es gewünscht hatte, vor ihrem Altar, sondern draußen vor ihrem Eingang beigesetzt wurde. 1 0 7 D a eine Kryptenweihe jedoch für 1008 bezeugt ist, 108 müßte die Krypta kurz danach erneut umgebaut worden sein, so daß als Abschluß der Arbeiten wieder eine „dedicato" erforderlich, bis zum Tode Taginos aber noch nicht möglich war. Falls diese Deutung richtig ist, sollte sich der Umbau tatsächlich noch Jahrzehnte bis in die Regierungszeit Hunfrieds hingezogen haben? - Man darf auch nicht vergessen, daß am Westende des ottonischen Doms ein mächtiger Westbau mit Krypta nachgewiesen werden konnte, der an dieser Stelle mindestens einen, wahrscheinlich sogar zwei Vorgänger gehabt hat. Demnach handelt es sich um einen Bau, der dem Dom Ottos I. im 11. oder 12. Jahrhundert im Westen angefügt wurde. Seine Errichtung wäre in den überlieferten Schriftquellen überhaupt nicht erwähnt, wenn die Krypta Taginos wirklich am Ostende des Doms gelegen hat. Was kann also der Chronist mit der ausdrücklichen Unterscheidung zwischen dem „occidentalis chorus" als dem Ort der ursprünglichen Grabstätten Taginos und Walthards und dem „orientalis chorus" mit dem
Grabe Hunfrieds gemeint haben? Mag der Chor, der von der westlichen Chorschranke bis zu den Stufen zum Sanktuarium reichte und in dem die Sitze der Domherren standen, wie in Halberstadt 1 0 9 nur den Mittelabschnitt des Querhauses umfaßt 1 1 0 oder auch noch weiter nach Osten gereicht haben, ist es wirklich vorstellbar, daß von ihm der westliche Teil mit der Benennung „westlicher Chor" deutlich von dem Ostteil als „östlicher Chor" unterschieden wurde? Liegt es nicht näher, daß mit „orientalis chorus" der Ostchor des Doms und mit „occidentalis chorus" sein westlicher Gegenchor gemeint sind, daß also die Krypta Taginos im Westen des Doms gelegen hat und mit der dort ergrabenen identisch ist? Auch der Bericht Thietmars über die Bestattung Taginos „occidentali parte in choro" 111 würde einer solchen Deutung nicht widersprechen, wenn man ihn mit „im Westteil des Doms im Chor" übersetzt. 112 Tagino wäre dann im westlichen Chor beigesetzt worden, der wie im Osten vor der Krypta und dem über ihr sich erhebenden Sanktuarium gelegen hat. In diesem Bereich des ottonischen Doms, an der Grenze zwischen Westbau und Langhaus, ist, wenn man von dem Ostwand-Fundament (27) der Krypta absieht, nur der 1901 freigelegte Mauerrest A im gotischen Südseitenschiff bekannt. Vielleicht stammt er von einem zweiten, westlichen Querhaus - oder einem querhausähnlichen Bauteil - mit Emporen vor der Süd- und Nordwand. 1 1 3 Dessen nördliche und süd103 Y g [ A n m - 2 1 . Leider reichen die HARMSschen Angaben nicht aus zu Erwägungen über die ursprüngliche Funktion der Mauerteile. Wegen ihrer geringen Gründungstiefe können sie aber wohl kaum Reste einer Gangkrypta sein, wie es FRIEDRICH BELLMANN
(1958
wie
Anm. 94,
S. 3 2 4 )
und
nach
ihm
FRIEDRICH
OSWALD (1966/70 wie Anm. 97, S. 1 9 0 ) meinten. Zu der möglichen Zweckbestimmung des westlichen Nord-Süd-Fundaments vgl. auch S. 78. 1 0 4 Sie dürfte übrigens von vornherein bis an das Querhaus gereicht haben und fünfschiffig gewesen sein. Vgl. auch S. 78. 1 0 5 Vgl. S. 77. 1 0 8 Vgl. Anm. 10. 1 0 7 Nach freundlicher Auskunft von ERNST SCHUBERT. 1 0 8 Vgl. Anm. 9. 109
LEOPOLD/SCHUBERT,
Der
Halberstädter
Dom
. . . ,
wie
Anm. 85. 1 1 0 Hier w a r nach ERNST GALL (Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte 3, Stuttgart 1 9 5 4 , S. 5 0 0 - 5 0 2 ) bei allen bedeutenderen Kloster-, Stifts- und Domkirchen im frühen Mittelalter der Ort des Chores. 111
Vgl. Anm. 1 0 .
112
TRILLMICH
(THIETMAR
wie
A n m . 7,
VI,
63,
S. 3 1 3 )
über-
setzt demgegenüber „an der Westseite des Chors v o r der Krypta". 1 1 3 Ein westliches Querhaus wird bisher allgemein angenommen.
Zur Baugeschichte des Magdeburger Doms liehe Außenwände könnten etwa in Verlängerung der entsprechenden Atriumswände und die Ostwand etwa in Höhe der Westwand des gotischen Kreuzgangs gelegen haben. In seinem Mittelabschnitt wären dann das Grab Taginos, im Südarm das Grab Walthards, neben ihm vor der Ostwand der eine von Thietmar geweihte Altar und in seinem Nordarm an der entsprechenden Stelle der zweite Altar angelegt worden. Weshalb die Gräber Taginos und Walthards später durch Hunfried verlegt wurden, bleibt bei dem derzeitigen Forschungsstand offen, da die überlieferten Schriftquellen hierzu schweigen. 114 Sollte also Tagino der Erbauer des neuen Westbaus gewesen sein, und dafür spricht viel, dann stammt die 1926 freigelegte östliche Krypta aus der Regierungszeit Hunfrieds. Sie gehörte zu dem von diesem errichteten größeren und besser geeigneten Sanktuarium des Doms.
Ergebnis 937 stiftete der damalige König Otto I. in Magdeburg ein Benediktinerkloster zu Ehren des hl. Mauritius. Von der Klosterkirche, deren Bau in demselben Jahre begann, wird nicht viel mehr berichtet, als daß die erste Gemahlin Ottos I., Editha, in der neuen Basilika im Nordteil nach Osten zu beigesetzt wurde und daß die Anlage später, nach 955, zum Dom ausgebaut worden ist. Als nächstliegende Parallele für das Bauwerk muß die nicht viel jüngere, ebenfalls von Otto I. gestiftete Klosterkirche in der Pfalz Memleben genannt werden. 1 1 5 Aber von der Memlebener Klosterkirche ist auch nicht viel mehr als der Grundriß bekannt. Die wenigen aufrecht stehenden Teile zeugen von großartiger Monumentalität. Vielleicht sah die Magdeburger Klosterkirche ähnlich aus. Diese Annahme könnte mit der Tatsache gestützt werden, daß die Maße von Querhaus und Langhaus in dem rekonstruierten Grundriß des Nachfolgebaus, der Kathedrale, soweit sie bekannt sind, mit denen von Memleben annähernd übereinstimmen. Fertig geworden sind von der Magdeburger Klosterkirche mit Sicherheit die Ostteile mit dem Editha-Grab. Aber wahrscheinlich wurde bis zum Beginn des Umbaus zur Kathedrale weit mehr vollendet. Ob das EdithaGrab im Nordarm des Querhauses gelegen hat, wie man nach der Formulierung „latere aquilonali ad orientem" vermuten könnte, 116 oder doch an der für das Grab eines Stifters und seiner Gemahlin üblichen Stelle in der Mitte, also hier im Nordteil des 6
Architektur
81
Chors, ist nicht mehr zu entscheiden. Schon wegen des Editha-Grabes werden die Ostteile der Klosterkirche wohl zunächst keine großen Veränderungen erfahren haben. Der um 955 gefaßte Entschluß des Herrschers, die Klosterkirche zur erzbischöflichen Kathedrale auszubauen, hatte mit großer Wahrscheinlichkeit einen Neubau des Langhauses zur Folge. Denn nur für das Langhaus können die teilweise erhaltenen, aus Italien stammenden, kostbaren großen Säulen herangeschafft worden sein. Es liegt nahe, daß Otto I. eine Säulenbasilika nach dem Muster der römischen Stadtbasiliken 117 errichten ließ, wozu auch die Anlage des - sicher zugehörigen - Atriums gut passen würde. 1 1 8 Ob die „ecclesia rotunda", die Erzbischof Waithard erneuerte, 119 im Westteil des Atriums gestanden hat, wie man aus dem Bericht der Magdeburger Schöppenchronik 120 schließen wollte, konnte bisher archäologisch nicht überprüft werden. 121 Unklar bleibt auch, ob der von E. Nickel 122 „etwa 20,00 m westlich vom Haupteingang zwischen den Türmen des heutigen Doms" freigelegte Rest eines runden Turms etwa von dieser Rundkirche stammt. - Die unter dem Fußboden der Westkrypta ergrabenen ll'* V e r m u t l i c h w a r e n B a u a r b e i t e n d i e U r s a c h e . V i e l l e i c h t ren
es
ähnliche
ROGGENKAMP des Chors -
wie
1954
in
wie
St.
Anm. 85,
in
Hildesheim
S. 4 6 ) ,
wo
in d e r w e s t l i c h e n V i e r u n g -
BELLMANN/LEOPOLD
I15
Michael
1964
wie
man
das
nachträglich
Anm. 8 5 ;
wa-
(BESELER/ Niveau
anhob.
LEOPOLD
1969
w i e A n m . 8 5 ; LEOPOLD 1 9 7 6 w i e A n m . 8 5 ; SCHUBERT 1 9 6 9
wie
Anm. 85. 110
Vgl. A n m . 3.
117
D a s v e r m u t e t e n b e r e i t s RICHARD HAMANN
(Die
Kapitelle
im M a g d e b u r g e r D o m , i n : RICHARD HAMANN u n d FELIX ROSENFELD, D e r M a g d e b u r g e r D o m . B e i t r ä g e zur Geschichte u n d Ä s t h e tik m i t t e l a l t e r l i c h e r
Architektur, Ornamentik
und Skulptur,
Ber-
lin 1 9 1 0 , S . 7 1 ) u n d ERNST SCHUBERT ( 1 9 7 4 w i e A n m . 2 , S . 1 5 ) . Dagegen Dom,
h ä l t HANS KUNZE
in:
Montagsblatt,
Magdeburgischen
(Um
den
Magdeburger
wissenschaftliche
Zeitung 6 8 ,
1926,
ottonischen
Wochenbeilage
S. 1 4 5 - 1 4 6 )
diesen
der
Gedan-
ken f ü r „unverständlich". O t t o I. w o l l t e in M a g d e b u r g
118
t r u m nach r ö m i s c h e m das
Magdeburger
Vorbild
Kapitel
o f f e n b a r ein kirchliches
gründen.
ähnlich
wie
Es w i r d
berichtet,
das römische
Zendaß
Kardinals-
K o l l e g i u m eingerichtet w e r d e n s o l l t e (GÜNTER BANDMANN, M i t t e l a l t e r l i c h e A r c h i t e k t u r als B e d e u t u n g s t r ä g e r , B e r l i n 1 9 5 1 , 6. A u f l . 1 9 7 9 , S. 2 2 6 - 2 2 7 ) . 119 V g l . A n m . 1 2 . D i e F r a g e , ob sie als B a p t i s t e r i u m h a b e n k a n n , ist im R a h m e n diseses A u f s a t z e s nicht zu 120
V g l . v o r a l l e m KUNZE 1 9 3 0 w i e A n m . 1 5 , S. 1 2 .
121
Wenn
man v o n
A n m . 1 5 , S. 1 4 - 1 5 )
dem Versuch
KUNZES
(KUNZE 1 9 3 0
a b s i e h t , d e r v o r d e m W e s t p o r t a l des
erst in 3 m T i e f e auf d e n a n s t e h e n d e n B o d e n stieß u n d dort den Standort 122
dazu Band.
der Rundkapelle
den
Beitrag
von
wie Doms
deshalb
vermutete.
NICKEL 1 9 7 3 w i e A n m . 1, S . 1 3 5 - 1 3 6 auch
gedient erörtern.
HANS-JOACHIM
und Abb. 23. STOLL,
in
Vgl.
diesem
82
GERHARD
älteren Fundamente sind vermutlich Reste des westlichen Abschlußbaus des ottonischen Doms oder des Westbaus der Klosterkirche. 973 wurde Otto I. im Dom beigesetzt, 981 Erzbischof Adalbert (968-981) vor dem Kreuzaltar begraben. 1004 begann Erzbischof Tagino (1004-1012) wahrscheinlich einen neuen Westbau zu errichten, dessen Krypta 1008 geweiht werden konnte. 1012 wurde Tagino vor dieser Krypta begraben. In demselben Jahr bestattete man neben ihm, vermutlich im Südarm des westlichen „Querhauses", seinen Nachfolger Waithard (1012). Neben dem Grabe Walthards weihte Bischof Thietmar von Merseburg (1009-1018), ebenfalls noch 1012, einen und im Nordarm des „Querhauses" einen zweiten Altar. - Der alte Ostbau, vermutlich mit der 961 erwähnten Krypta, mußte unter Erzbischof Hunfried (1024 bis 1051) wahrscheinlich einem Neubau weichen. Dieser errichtete über einer neuen Krypta - die 1926 ergrabenen Reste werden wohl von ihr stammen - ein größeres und besser geeignetes Sanktuarium, das er 1049 weihen konnte. - Unter Erzbischof Roger (1119-1126) scheint der Chor mit dem Chorgestühl nach Westen verlängert worden zu sein. 123 Das war vermutlich der Anlaß für die Errichtung eines neuen Kreuzaltars, zu dem Roger alle vor dem alten Kreuzaltar liegenden Gräber seiner Vorgänger verlegte. 124 Dem Leser dieses Berichts wird deutlich geworden sein, daß bei der Erforschung der Baugeschichte des ottonischen Doms bis heute nur erste kleine Schritte getan werden konnten. Alles, was wir über diesen bedeutenden Bau des 10. Jahrhunderts und seine späteren Veränderungen zu wissen meinen, bedarf der Uberprüfung und Ergänzung. Nur eine umfassende Grabung im Dombereich kann hier weiterführen. Es ist zu hoffen, daß sie in nicht zu ferner Zeit durchgeführt werden kann.
123
LEOPOLD
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Dom
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PAUL JONAS M E I E R
(1910
wie
A n m . 95,
S. 3 6 6 )
dagegen
meinte, d e r K r e u z a l t a r sei 1125 weiter nach Osten verlegt w o r den. 12/1 Vgl. S. 65.
Verzeichnis der nicht in den Anmerkungen zitierten Literatur FRIEDRICH
BELLMANN
und
GERHARD
LEOPOLD,
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Republik, Berlin
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ADALBERT
MÜLVERSTEDT,
Verzeichniß
der
im
heutigen
landräthlichen Kreise M a g d e b u r g früher und noch jetzt bestehenden Stifter, Klöster, Kapellen, Calande, frommen Brüderschaften und Hospitäler sowie der Kirchen, deren geistliche Schutzpatrone (Schutzheilige) bekannt geworden sind, in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 3, 1868, 2 8 3 314. N . , D i e Ausgrabungen am Magdeburger D o m . Ein E r f o l g sachlicher, bauwissenschaftlicher Forschung, in: Denkmalpflege und Heimatschutz 29, 1927, S. 87/88. ERNST NICKEL, Magdeburg in karolingisch-ottonischer Zeit, in: Vor- und Frühformen der europäischen Stadt im Mittelalter T e i l I.
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6«
83
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in:
Reste eines Rundbaues vor der Westfassade des Magdeburger Doms V o n H A N S - J O A C H I M STOLL
Anfang April 1965 nahm man im Zuge der Bebauung der Magdeburger Karl-Marx-Straße (ehem. Breiter Weg) auf der Westseite des Domplatzes eine 2,80 m breite und etwa 2 m tiefe Schachtung für einen Heizkanal vor. Dieser Graben verlief von Nordnordwest nach Südsüdost und führte an der Turmfront des Domes vorbei. 1 Die heutige Oberfläche erreicht an dieser Stelle ein Niveau von 55,40 m N N . Etwa 25 bis 28 m vor dem Domportal stieß man während des Schachtens in etwa 1,40 m Tiefe bei 54,06 m N N auf Mauerwerk. D a die darüberliegenden Schichten aus locker aufgefülltem Erdreich und Schutt bestanden, mußten der Einsturzgefahr wegen die oberen Teile des Grabens sofort mit Hilfe von Holzverbau abgesteift werden, so daß sich für die Untersuchung des Mauerwerkes und für die Aufnahme schwierige Bedingungen ergaben. Folgendes konnte beobachtet werden: Es handelt sich um den Rest einer unregelmäßig abgebrochenen und gekrümmten Mauer (Abb. l a ) . An der W e s t seite des Grabens war sie am höchsten erhalten. Nach
Norden zu fiel die Mauer-Oberkante stark ab, so d a ß der weitere Verlauf der Innenseite nur durch Tieferschachtung festgestellt werden konnte (Abb. l b ) . Eine zweite Schachtung wurde an der Maueraußenseite niedergebracht (Abb. lc), so daß sowohl die Gründungstiefe als auch die Anlage der Baugrube für die Mauer ermittelt werden konnte. Abb. 2 zeigt das Profil an der Westseite der Grabenwand. N u r vor der südlichen W a n d wird die Folge der Erdschichten und ihre Beziehung zur Mauer deutlich. An den anderen Stellen ist durch weitgehenden Abbruch auch die Schichtenfolge größtenteils gestört. D e r anstehende Boden besteht aus Löß (Abb. 2 a), der mit fei1
Die Situation zeigt eine Abbildung bei ERNST NICKEL, Magdeburg m karolingisch-ottonischer Zeit, in: Zeitschrift für Archäologie 7, 1973, Abb. 5.
1 Magdeburg, Domplatz Planum in einer Grabenschachtung westlich der Domturmfront
1m
Reste eines Rundbaues
85
55.00-
54.00 -
53,00-
52.00
1m
nen Sandstraten durchset2t ist. Bei etwa 53,15 bis 53,25 m N N geht der L ö ß in Humus über (Abb. 2 b). 2 5 - 3 0 cm darüber bei 5 3 , 4 5 - 5 3 , 5 0 m N N legt sich über den Humus eine dunkle, schmale Schicht (Abb. 2 c ) , die wahrscheinlich die ehemalige Boden-Oberkante anzeigt - an anderer Stelle bei 54,20 m N N (Abb. 2 d ) . Weiter südlich ist die Schichtenfolge bis auf das untere Bodenniveau durch eine Einfüllung aus Bauschutt, Bruch- und Ziegelsteinen gestört (Abb. 2 e ) . Vor der Südseite der Mauer wird die Schichtenfolge durch die Baugrube für die Mauer durchstoßen (Abb. 2 f). D i e Gründungstiefe ist hier bei 51,85 m N N erreicht. An der tiefsten Stelle weist die Mauer eine Dicke von 2,20 m auf (Abb. 2 g). An der Außenseite wurde sie direkt gegen die Baugrubenwand gesetzt. Sie springt dort in 0,70 m und in 1,30 m Höhe jeweils um etwa 0,10 m zurück. D i e Abbruchkante liegt noch 0,70 m darüber. D i e Baugrubenwand reicht bis zum zweiten Rücksprung. Oberhalb dieses Rücksprungs verbreitert sich die Baugrube auf 0 , 3 0 - 0 , 4 0 m (Abb. 2 f ) . Auf der Nordseite war der B e f u n d weniger deutlich, d a dort die Mauer 52,80 m N N erhalten ist und die Einfüllschichten (Abb. 2 g) mit Bauschutt und Bruchsteinen bis 53,00 m N N herabreichen. Trotzdem konnte der Unterteil der B a u g r u b e (Abb. 2 h) mit
2 Magdeburg, Domplatz Profil in einer Grabenschachtung westlich der Domturmfront einer Breite von etwa 0,20 m festgestellt werden. E s ist auffällig, daß die Maueraußenseite aus behauenen, die Innenwand dagegen aus unregelmäßig zugerichteten Steinen besteht. Durch die Schachtung konnte weiter ermittelt werden, daß es sich bei gleichbleibender K r ü m m u n g des Mauerwerkes um einen Rundbau gehandelt haben dürfte, der an der tiefsten Stelle etwas mehr als 4 m Innen- und etwa 8,40 m Außendurchmesser aufwies. D a die Mauerstärke nach oben abnahm, hat man oben mit einem geringeren Außendurchmesser zu rechnen. Besondere Aufmerksamkeit verdient eine Beobachtung kurz vor der O s t w a n d der Baugrube. Hier stieß eine zweite Mauer (Abb. 1 d) im spitzen Winkel auf die äußere W a n d des Rundbaues. Dieser Maueransatz war nordsüd-orientiert. Desgleichen zeichnete sich im selben Winkel auch die dazugehörige Baugrube im B o d e n ab (Abb. 1 e). Wegen der darüber befindlichen Absteifungen konnte diese Mauer und ihre Baugrube nicht weiter verfolgt werden. D i e beschriebenen Reste eines Rundbaues vor der W e s t f a s s a d e des D o m e s legen die Vermutung nahe,
86
HANS-JOACHIM STOLL
daß sie zu der von Thietmar 2 erwähnten und von der Schöppenchronik 3 mit der Nikolaikirche gleichgesetzten ecclesia rotunda gehören, zumal aus zwei Urkunden des Domkapitels 4 hervorgeht, daß zu Anfang des 14. Jh. die ältere Nikolaikirche abgerissen wurde, um Platz für den Bau der Westfront des gotischen Domes zu schaffen. Schon Paul Jonas Meier und Hans Kunze hatten deshalb Nachgrabungen vor der westlichen D o m f r o n t vorgenommen. 5 Reste der älteren Nikolaikirche nachzuweisen, gelang ihnen aber nicht. Wahrscheinlich wird man die ecclesia rotunda vielmehr, wie Berent Schwineköper 6 vermutete, unter der Klosterkirche Unsere Lieben Frauen zu suchen haben. Jüngste Grabungen brachten dort einen Rundbau zutage, der mit der genannten Rundkirche identisch sein könnte. 7 Eine Reihe von Umständen sprechen tatsächlich dagegen, den von uns ergrabenen Rundbau mit der besagten Rotunde gleichzusetzen: Unser Baurest läßt sich weder in das Achssystem des ottonischen noch in das des gotischen Doms einordnen. Der Rundbau liegt nämlich in der Flucht der Südwand des Atriums des ottonischen Domes, während die Achse des gotischen etwas nördlich von ihm verläuft (Abb. 3 des Beitrags von Gerhard Leopold in diesem Band auf S. 66). D i e Stärke des Mauerwerkes spricht gegen eine Rundkirche. Abmessungen von mehr als 2 m Mauerdicke sind bei Rundkirchen nicht üblich; 8 und der Innendurchmesser des Rundbaues wird nicht wesentlich mehr als 4 m betragen haben! Die Maßverhältnisse lassen eher an einen Befestigungsturm denken. D i e im spitzen Winkel ansetzende nordsüd-orientierte Mauer (Abb. 1 d) wäre dann als Befestigungsmauer anzusehen. Vermutlich haben wir einen Teil der Ummauerung der Domimmunität gefunden, die an dieser Stelle freilich bisher weder vermutet noch gesucht wurde. 9
D i e Frage nach der Zeitstellung kann vorläufig nicht befriedigend beantwortet werden, denn datierende Funde sind nicht geborgen worden. Es ist anzunehmen, daß unser Bauwerk spätestens beim Errichten der Domtürme nach 1310 1 0 abgerissen wurde. D a wahrscheinlich auch das Atrium des ottonischen Domes bis in die Nähe des Rundbaues reichte, muß man davon ausgehen, daß er zu einer Zeit errichtet wurde, als das Atrium nicht mehr bestand. Man darf deshalb vermuten, daß der Befestigungsbau im 1. Viertel des 13. Jh. aufgeführt wurde, zu einer Zeit, als der Plan, den D o m bis zu seiner heutigen Länge zu vergrößern, noch nicht gefaßt war. 1 1
2 THIETMAR VON MERSEBURG, Chronik. Hrsg., neu übertragen und erläutert von WERNER TRILLMICH, Berlin (1966), S. 3 2 4 ( = Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. IX). 3 D i e Magdeburger Schöppenchronik. Bearb. von KARL JANICKE, Leipzig 1869, S. 84 ( = Chroniken der deutschen Städte 8 : Magdeburg, Bd. 1). 4 G. HERTEL, Urkundenbuch der Stadt Magdeburg, 1. Bd.,
Halle
1892,
S. 1 2 8
Nr.
238,
S. 1 3 6
Nr. 252;
ERNST
SCHUBERT,
D e r Magdeburger D o m , Berlin 1974, S. 20/21. 5 HANS KUNZE, D e r D o m Ottos des Großen in Magdeburg; in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 65, 1930, S. 8 - 1 6 , 6 2 - 7 0 . 6 BERENT SCHWINEKÖPER, Handbuch der historischen Stätten Deutschlands: Provinz Sachsen, Anhalt, Stuttgart 1975, S. 293. 7 HANS-JOACHIM KRAUSE, D a s Kloster als Bauwerk. Seine Gestalt, Geschichte und denkmalpflegerische Instandsetzung, in: Basilika Baudenkmal und Konzerthalle, Magdeburg o. J., S. 23. 8
HERBERT K Ü A S ,
MANFRED
KOBUCH,
Rundkapellen
des
Wip-
recht von Groitzsch, Berlin 1977, Abb. 20, 23, 49, 64, 68. 9 FRIEDRICH HÜLSSE, D e r Umfang des ältesten Magdeburg und dessen allmähliche Erweiterung, in: Festschrift zur 25jährigen Jubel-Feier des Vereins für Geschichte und Altertumskunde des Herzogtums und Erzstiftes Magdeburg, Magdeburg 1891, S. 4 7 - 5 7 ; OTTO PETERS, Reste der alten Mauerbefestigung von Magdeburg, in: Montagsblatt, Wissenschaftliche Wochenbeilage der Magdeburgischen Zeitung, 1911, S. 6 0 - 6 2 ; THEODOR VOLBEHR, D i e ottonische Mauer, in: Montagsblatt, Wissenschaftliche Wochenbeilage der Magdeburgischen Zeitung, 1925, S. 213 ff. 10
Siehe Anm. 4.
11
SCHUBERT 1 9 7 4 w i e A n m . 4 , S . 2 6 .
Die Darstellung von Persönlichkeit und Zeit in der mittelalterlichen Kunst (in Verbindung mit der Auffassung vom Tode und der jenseitigen W e l t )
V o n A A R O N GURJEWITSCH
Die mittelalterliche Auffassung von der Zeit ist durch Besonderheiten gekennzeichnet, die letztendlich aus dem theozentrischen Weltbild hervorgehen. Die von Gott geschaffene Zeit endet mit der Wiederkehr des Herrn. Im Jüngsten Gericht vollendet sich das irdische Dasein der Menschheit. Das Ende aller Zeiten ist die Rückkehr zur Ewigkeit. Das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit ist auf das engste verbunden mit der Doppelung von Himmel und Erde im Weltall und der Doppelung von Körper und Geist auf anthropologischem Gebiet. Der Gegensatz der vergehenden Zeit zur unbeweglichen, unendlichen Ewigkeit durchdringt die gesamte mittelalterliche Kultur. Das Problem der Zeit im geistigen Leben des westeuropäischen Mittelalters wurde durch die moderne Mediävistik bereits grundlegend behandelt. 1 In den letzten Jahren zeigte sich jedoch ein für die Geschichtsforschung neues Problem - der Tod in der Auffassung von Menschen einer bestimmten Kulturtradition. Im christlichen Weltbild ist die dem Menschen gegebene Zeit nicht auf dessen irdisches Dasein beschränkt, es gibt außerdem noch die Dauer der postmortalen Existenz. Damit erhob sich, für die Menschen des Mittelalters höchst eigenartig, die Frage nach der Struktur der Zeit als Form der individuellen Biographie. Diese schließt, genaugenommen, nicht mit dem physischen Tode ab. Der Mensch verharrt nach seinem Tod in Erwartung der Auferstehung und des Jüngsten Gerichts, danach geht er in die Ewigkeit paradiesischer Glückseligkeit oder auch der Höllenqualen ein. Der Zeiten Lauf jedes einzelnen wie der gesamten Menschheit endet erst mit dem Weltuntergang. Damit zerfällt die Biographie eines jeden Menschen in zwei Teile: Der erste Teil umfaßt das irdische Dasein, der zweite den Augenblick des Gerichts und der Vergeltung. Die Zeitdauer zwischen
beiden Abschnitten, also die Zeit zwischen Tod und dem Ende aller Zeiten ist niemandem bekannt. Ist den Menschen des Mittelalters nicht das Bedürfnis gekommen, diesen Zwiespalt, der durch die Doppelung von Körper und Geist hervorgerufen ist, zu überwinden, alle Etappen der menschlichen Existenz, das irdische wie das jenseitige Leben zu einem Ganzen zu verbinden? Die Vorstellungen von Tod und Zeit gehören zum Problem der menschlichen Persönlichkeit. Als einer der ersten befaßte sich der französische Historiker und Demograph Philippe Aries mit dem Verhältnis der Europäer zum Tod. Im Verlauf der siebziger Jahre publizierte er mehrere Werke zu diesem Thema. 2 Vorrangig unter dem Eindruck dieser Arbeiten erschien eine Reihe anderer Untersuchungen. 3 Teilaspekte des Problems Tod und Zeit waren schon vorher bearbeitet worden. 4 Gegenwärtig ist dieser Komplex in der westlichen, speziell der fran-
1 IRINA DANILOVA, Ot Srednich vekov k Vozrozdeniju. Slozenie chudolestvennoj sistemy kartin Kvatrocento, Moskva : „Iskusstvo" 1 9 7 5 , S. 63 f. ; AARON GUREVIÈ, Kategorii Srednevekovoj kul'tury, ebenda 1 9 7 2 (mit Bibliographie); JACQUES LE GOFF, La Civilisation de l'Occident médiéval, Paris 1 9 6 4 ; Ders., Pour un Autre Moyen Age. Temps, travail et culture en Occident. 1 8 essais, Paris 1 9 7 7 . 2 PHILIPPE ARIÈS, Essais sur l'histoire de la mort en Occident du Moyen Age à nos jours, Paris 1 9 7 5 ; Ders., Western Attitudes toward Death: from the Middle Ages to the Present, Baltimore and London 1 9 7 6 ; Ders., L'Homme devant la Mort, Paris 1977. 3 Siehe: Sonderausgabe der Zeitschrift: Annales 3 1 , 1 9 7 6 (1) (Autour de la Mort). 4 ALBERTO TENENTI, La vie et la mort à travers l'art du X V e siècle, Paris 1 9 5 2 (Cahiers des Annales 8) ; GABY et MICHEL VOVELLE, Vision de la mort et de l'au - delà en Provence d' après autels des âmes du purgatoire, X V e - X X e siècles, Paris 1 9 7 0 (Cahiers des Annales 29) ; FRANCOIS LEBRUN, Les hommes et la mort en Anjou aux 17 E et 18 E siècles. Essai de demographie et de psychologie historiques, Paris/La Haye 1 9 7 1 .
88
A A R O N GURJEWITSCH
zösischen Geschichtsschreibung, breit vertreten. 5 Das Thema des Todes wird hier vorrangig am Material des ausgehenden Mittelalters bzw. des Beginns der Neuzeit, also des 15. bis 18. Jahrhunderts, untersucht. Exkurse in frühere Epochen sind vergleichsweise selten und sporadisch. Aries selbst unternimmt den Versuch, das Verhältnis der Europäer zum Tod im Verlauf einer gewaltigen Zeitspanne, vom Beginn des Mittelalters bis in unsere Tage, zu interpretieren. Es ist für unsere Zwecke sinnvoll, auf einige Gedanken und Schlußfolgerungen dieses Gelehrten einzugehen und sie durch Beobachtungen seiner Kollegen zu ergänzen. Der Tod ist, ebenso wie das Leben, schreibt Aries, nicht nur ein individueller Akt, der den Einzelmenschen betrifft, er wird mit Zeremonien begangen, die die Solidarität des einzelnen mit dem Kollektiv unterstreichen. Das Kollektiv schreckt vor dem Tod zurück, der eine Bresche in das Verteidigungssystem der Gesellschaft vor der wilden Natur schlägt, und bemüht sich, mit ihm fertig zu werden. Die Ritualisierung des Todes ist ein Spezialfall der globalen Strategie des Menschen im Kampf gegen die Natur. Der Tod kann vertraut gemacht, ritualisiert, aber nicht neutralisiert werden. Er ist immer das Böse, ein Unglück. Das Verhältnis des Menschen zum Tod scheint unveränderlich zu sein, weil es sich in der Regel im Verlaufe großer Zeiträume nur geringfügig ändert, so daß diese Veränderungen für die Zeitgenossen unbemerkt bleiben. Sie sind jedoch vorhanden und werfen ein Licht auf das geistige Leben der Gesellschaft und des einzelnen. Im Mittelalter wußte der Mensch gewöhnlich vorher von seinem nahenden Ende und bereitete sich darauf vor. Das ritualisierte Sterben wurde vom Sterbenden selbst organisiert. In einer öffentlichen Zeremonie, an der Verwandte und Nahestehende teilnahmen, spielte er die Hauptrolle. Eine wesentliche Bedeutung hatten dabei seine Worte, Gesten und Posen. Die Zeremonie des Todes verlief nicht theatralisch und wurde nicht von stürmischen Emotionen der Angst oder des Leids begleitet. Im Gegensatz zur modernen Industriegesellschaft, die nach Meinung von Aries den Tod aus seiner Alltäglichkeit vertrieb, wurde er von den Menschen des Mittelalters als unausweichlich betrachtet, war er gut bekannt und verständlich. Diese Art des Sterbens nennt der Forscher den „gezähmten Tod". 6 Eines seiner Symptome war die Koexistenz Lebender und Toter. Mit dem 5./6. Jahrhundert begann man, die Toten nahe der Kirchengebäude oder in ihnen beizusetzen. Während des gesamten Mittelalters wurden
die Friedhöfe innerhalb der Ortschaften angelegt. Als wesentlich galt, den Toten so nahe wie möglich an der Ruhestätte eines Heiligen oder Märtyrers zu beerdigen, und die Grabstätten türmten sich übereinander. Massengräber für Ärmere wurden immer dann geöffnet, wenn es galt, erneut jemanden zu bestatten. Mehr als 1000 Jahre lang beunruhigte das Nebeneinander von Toten und Lebenden niemanden, die enge Bekanntschaft mit dem Tod war eine Form des Akzeptierens des natürlichen Laufs der Dinge. Es ist nicht verwunderlich, daß im Mittelalter der Friedhof, ähnlich dem antiken Forum, ein Zentrum des gesellschaftlichen Lebens war. Er diente als Zufluchtsort, Handelsplatz, zur Durchführung von Gerichtsprozessen u. a. m. Nach Chaunu führte die von Aries festgestellte „Eroberung des Raumes der Lebenden durch die Toten" zur Christianisierung des Todes, zur Vergeistigung des chthonischen „Doppelgängers", als welchen sich die Heiden, die den Begriff der Seele noch nicht hatten, den Tod vorstellten. 7 Wie begriffen die Menschen des Mittelalters den Tod? Die christliche Eschatologie besaß mehrere Versionen. Das Matthäusevangelium enthält eine Konzeption des Jenseits: Das Jüngste Gericht findet zum Ende aller Zeiten statt, nach der Wiederkehr Christi, der das Menschengeschlecht richten wird, die Gerechten ins Himmelreich aufnimmt und die Sünder zu ewigem Feuer verdammt, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet wurde (Matth. 25, 41). Ein pathetisches Bild vom Weltuntergang zeichnet die Offenbarung des Johannes. Das Lukasevangelium gibt eine etwas andere Sicht auf das Schicksal der Seele des Verstorbenen. Der arme Lazarus wird sofort nach seinem Tod von den Engeln in Abrahams Schoß gebracht, der Reiche jedoch findet sich in der Hölle wieder, von wo aus er die himmlischen Freuden des
5 MICHEL VOVELLE, Mourir autrefois. Attitudes collectives devant la mort aux XVII E et XVIII E siècles, Paris 1974; PIERRE
CHAUNU, L a m o r t à Paris. X V I E , X V I I E et X V I I I E siècles, P a r i s
1978. Là Mort au Moyen Âge. Colloque de l'Association des Historiens médiévistes français réunis à Strasbourg en juin 1975,
Strasbourg
1977;
HUGH NEVEUX, L e s l e n d e m a i n s
de
la
mort dans les croyances occidentales (vers 1250 - vers 1300), in: Annales 34, 1979 (2). Zu den Kolloquien in der BRD und Frankreich zum Thema des Todes in der Geschichte siehe: BERNARD VOGLER, À propos de deux colloques récents sur la mort, i n : A n n a l e s 3 1 , 1 9 7 6 ( 1 ) , S. 1 3 6 - 1 4 0 . 6 CHAUNU 1978 wie Anm. 5, unterstreicht in größerem Maße als ARIÈS die „andere konstante Größe" im Verhältnis der Gesellschaft zum Tod — die Angst, welche im Mittelalter jedoch hinter der Angst vor dem Jüngsten Gericht zurücktrat (S. 107, 118). 7
CHAUNU 1 9 7 8 w i e A n m . 5, S. 1 2 8 f.
Persönlichkeit und Zeit in der mittelalterlichen Kunst
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Lazarus beobachten kann (Luk. 16, 2 2 - 2 3 ) . An anderer Stelle bezeugt Lukas, daß Christus dem mit ihm zusammen gekreuzigten Übeltäter, der an ihn glaubte und der ihn bat, sich seiner zu erinnern, wenn er in sein Reich zurückkehre, antwortete: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein" (Luk. 23, 43). Bei Lukas gelangen die Verstorbenen sofort nach ihrem Hinscheiden in die Hölle oder ins Paradies, ohne auf das Ende aller Zeiten und das Jüngste Gericht zu warten.
wird. Das Jüngste Gericht ist nicht dargestellt. Aries erklärt dies damit, daß man sich den Tod als Schlaf vorstellte, der bis zur Wiederkehr Christi dauert. Danach werden alle, mit Ausnahme der schweren Sünder, erweckt und gehen ins Himmelreich ein. Ursprünglich bestand nach Chaunu die Vorstellung, daß alle an Christus Glaubenden gerettet und nur die Nichtchristen verurteilt würden. Diese Konzeption schloß das Problem der individuellen Verantwortlichkeit aus.
D e r Unterschied zwischen der Version des Matthäus- und der des Lukasevangeliums ergibt sich nicht nur aus der uneinheitlichen Vorstellung vom Zeitpunkt des Gerichts über die Seele des Verstorbenen. Matthäus legt den Akzent auf ein kollektives Gericht: Christus verurteilt Völker, während bei Lukas vom individuellen Schicksal die Rede ist. 8 Möglicherweise wurde in der Epoche der Entstehung der christlichen Texte die Diskrepanz zwischen beiden Versionen nicht empfunden, lebten doch die ersten Christen in Erwartung des nahenden Weltuntergangs. D i e Offenbarung des Johannes endet mit dem Ruf der Ungeduld: „Ja, ich komme bald. Amen, ja komm, Herr J e s u ! " (Off. 22, 20). Anders ist die Situation im Mittelalter, wo die Wiederkehr Christi, obwohl zeitweise scheinbar unmittelbar bevorstehend, immer wieder in eine unbestimmte Zukunft verlegt wurde. Das letzte Alter der Menschheit, ihre Reife konnte nach dem Willen des Schöpfers andauern, und niemandem außer ihm war die letzte Frist bekannt. Mit dem Verschieben des Weltuntergangs auf unbestimmte Zeit entstand das Geheimnis der Zeit. D e r Begriff der Ewigkeit, die man im Mittelalter als zusätzliche Dauer, als eine gewisse verlängerte Zeit zu definieren geneigt war, erhielt eine neue Bedeutung.
Das Bild ändert sich, nach Meinung von Aries, in der zweiten Periode des Mittelalters. E t w a seit dem 12. Jahrhundert beginnt man an den Portalen der Kirchen das Gericht über die Seelen der Menschen darzustellen: Christus als Richter trennt die Gerechten von den Verdammten. Im 12. und 13. Jahrhundert dominiert die Idee vom Gericht in der Ikonographie. Das menschliche Leben wurde nun aufgefaßt als eine Prozedur, in der jeder Akt juristisch sanktioniert ist. Man begann, das „Buch des Lebens", in das Verdienste und Sünden eines jeden eingetragen wurden, als eine Art individuellen „Ausweis" oder „Kontoauszug, den man am Tor zur Ewigkeit vorlegt" zu betrachten, wodurch sich die Idee des Jüngsten Gerichts mit der der individuellen Biographie verband. Aus dieser Wandlung sprach der „neue buchhalterische Geist der tätigen Menschen, die ihre neue eigene Welt zu entdecken beginnen". 9 D a s Buch, das anfänglich ein Buch der Auserwählten war, wird zum Buch der Verdammten. In einem Fresko des 14. Jahrhunderts hält der thronende Christus als Richter ein geöffnetes Buch mit der Überschrift: „Wer in diesem Buche steht, sei verflucht". Die Seelen sind als Gerippe dargestellt, die ihre Bücher in den Händen halten. Ungeachtet dessen ist der Augenblick, in dem sich das Schicksal des Individuums entscheidet, nicht die Stunde seines Todes, sondern der Tag des Jüngsten Gerichts.
D i e religiöse Praxis des frühen Mittelalters wählte aus dem Fonds der eschatologischen Ideen solche aus, die tiefe Tendenzen des Kollektivverhaltens ausdrückten. In den ersten Vorstellungen vom Weltuntergang kommt nach den Beobachtungen von Aries der Begriff des Gerichts nicht vor. D i e Menschen dieser Periode erwarteten die Wiederkehr Christi ohne Furcht. Aries stützt sich auf eine Darstellung auf dem Sarkophag des heiligen Agilbert, der 6 8 0 in der Kirche des heiligen Paulus in Jouarre (Frankreich) begraben wurde. D e r triumphierende Christus ist hier von den Evangelisten umgeben. D i e auferstehenden Toten rühmen Christus, der in der Hand eine Schriftrolle hält, offensichtlich das „Buch des Lebens", auf welches in der Offenbarung des Johannes verwiesen
Im 15./16. Jahrhundert wird nach Aries die Idee von einer Zeitspanne zwischen physischem Tod des Menschen und dem Ende der Welt durch eine neue Vorstellung verdrängt: Das Schicksal eines jeden entscheidet sich auf seinem Totenbett. Stiche jener Zeit stellen den Sterbenden auf dem Bett liegend dar, um das sich die höheren Mächte (die göttliche Dreieinigkeit, die Gottesmutter und die Heiligen) auf der einen Seite sowie der Satan mit seinen Dämonen
8
CHAUNU 1 9 7 8 w i e A n m . 5 , S . 7 6 f . , 9 3 .
9
ARI£S 1 9 7 7 w i e A n m . 2 , S. 1 0 7 .
90
A A R O N GURJEWITSCH
auf der anderen gruppieren. Das Drama spielt sich nicht mehr im Jenseits, sondern im Zimmer des Sterbenden ab. Gott tritt in diesen Szenen, so meint Aries, weniger als Richter denn vielmehr in der Rolle des Beobachters auf. Vom Verhalten des Sterbenden in seiner letzten Stunde hängt ab, ob seine Seele ins Paradies oder in die Hölle gelangt. Folglich ist, entgegen der Ansicht Alberto Tenentis, der das Thema Tod in der Graphik des 15. Jahrhunderts untersuchte, der Mensch hier sein eigener Richter. Das Schicksal verlagert sich auf das Einzelwesen, das danach strebt, die „Moleküle" seiner Biographie zu vereinen, und gerade der Funke des Todes gestattet ihm, sie zu einem einheitlichen Ganzen zu verschmelzen. Daraus folgt, daß in dieser Etappe die Vorstellung vom Tod enger als früher mit dem Selbstbewußtsein der Person verbunden ist. Die individuelle Vorstellung vom Tod ist einer seiner wesentlichen Aspekte. Tatsächlich kommt es in dieser Zeit zu einer Individualisierung der Beerdigungen. Das mittelalterliche Grab blieb, im Unterschied zur Antike, anfänglich anonym. Der Verstorbene wurde der Sorge der Kirche übergeben. Um seinen Leichnam und um dessen Verbleib machte man sich keine Gedanken. Eine Ausnahme bildeten nur die Gräber der Heiligen. Im weiteren Verlaufe des Mittelalters erschienen wieder, wie in der Antike, Grabinschriften und Darstellungen der Entschlafenen. In den Aufschriften, Statuen, Grabsteinen wird zunehmend die Identität des Individuums und seiner Geschichte demonstriert, die ihre Fortsetzung im Jenseits findet. Der Wille, man selbst zu sein, führte zur Abwendung von der Anonymität der Grabstätten. Der Prozeß der Personalisierung zeigt sich auch in den Testamenten: Ihre Verfasser sorgen sich um Gottesdienste für ihr Seelenheil. „Das Testament war ein religiöses Mittel, die ewige Glückseligkeit ohne Verlust der irdischen Güter zu erlangen, eine Art Versicherungsvertrag des Menschen mit Gott unter Vermittlung der Kirche." Das Testament stellte eine Kontinuität her zwischen irdischer und jenseitiger Welt. Reichtum und Tod begannen, sich aufeinander zu beziehen. Eine besondere Bedeutung gewann in diesem Zusammenhang die Vorstellung vom Fegefeuer. Wie die Forschungen Michel und Gaby Vovelles zeigen, breitete sich die Idee vom Fegefeuer, die besonders im 12. Jahrhundert mehr und mehr Gestalt gewinnt, in der kirchlichen Ikonographie vor allem des 15. Jh. aus. 10 Chaunu meint, daß die Einführung des Fegefeuers in das System des Jenseits zunächst
nicht dessen bipolare Struktur zerstörte. Das Fegefeuer galt lediglich als Vorraum des Paradieses. Im Gegensatz dazu stellt sich das Fegefeuer am Ausgang des Mittelalters schon als eine Art Höllenersatz dar. Es ist in dieser Zeit verbunden mit dem neuen Bewußtsein des Menschen, der bestrebt war, sein persönliches Geschick selbst zu gestalten und der die Zeit nützen wollte, die die Spanne zwischen Tod und Weltuntergang ausfüllte. 1 1 Damit und mit der „Auffächerung" des Lebens (infolge der Verdichtung der Kommunikationswege, der Entwicklung der Kartographie usw.) ist, nach Le Goff, eine vollständige Umgestaltung der Topographie des Jenseits verbunden, die ihren Ausdruck in der „Göttlichen Komödie" fand. Zu dieser Zeit waren die ursprünglichen, binären „manichäischen" Schemata der sozialen Struktur (Kleriker - Weltliche, Gebildete - Ungebildete) schon ersetzt durch eine Dreiteilung (Obere - Mittlere - Untere, Betende - Kämpfende - Arbeitende). Der Untergang der alten und das Entstehen neuer Schemata war eine Folge der Entwicklung der Städte. Die neue Struktur ermöglichte es den aufstrebenden Klassen, der Hölle auszuweichen. Die Kaufleute konnten jetzt ihre Sünden in dieser oder in jener Welt sühnen: Im Leben durch Buße und gute Taten und nach dem Tode - im Fegefeuer. 12 Somit erfüllte das Fegefeuer eine höchst wichtige Funktion im geistigen Leben der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Chaunu nennt es einen Zufluchtsort aus Angst vor der Hölle, eine Möglichkeit, dem christlichen Radikalismus auszuweichen. Das Fegefeuer vereinigte zudem die Lebenden mit den Toten, indem es den ersteren die Möglichkeit gab, den letzteren durch Fürbitte-Gebete zu helfen. Dadurch wurde das Fegefeuer zur Einkommensquelle der Kirche, die zwischen Lebenden und Toten vermittelte. Das Fege-
1 0 In seiner Arbeit über die Entstehung des Fegefeuers (Vortrag auf einem Symposium über den Tod im Mittelalter) schreibt JACQUES LE GOFF, daß erste Hinweise auf das Fegefeuer bis in das 2. Jahrhundert zurückreichen (Passion der hl. Perpetua): der Verstorbene wird sofort nach dem Tode einer Versuchung unterworfen, aber diese Versuchung (die Nichtbefriedigung des Durstes u. a. m.) hat nichts gemein mit den Höllenqualen. D i e Idee vom Fegefeuer, meint LE GOFF weiter, wurde vorbereitet v o m hl. Augustin, und trotzdem findet man im V e r l a u f e vieler Jahrhunderte nicht einmal das W o r t purgatorium. Offensichtlich glaubte niemand an die reinigenden Leiden. La Mort au Moyen
Äge
wie
A n m . 5,
S. 7 - 1 0 .
Das
Buch
von
JACQUES
LE
GOFF,
La Naissance du Purgatoire, Paris 1 9 8 1 , konnte ich erst nach Abschluß der Arbeit einsehen. 11 12
CHAUNU 1 9 7 8 w i e A n m . 5 , S . 9 5 f . LE GOFF 1 9 8 1 w i e A n m . 1 0 , S.
9-10.
Persönlichkeit und Zeit in der mittelalterlichen Kunst feuer wirkte außerdem pädagogisch, denn die Angst vor ihm zähmte die Menschen. Es war ein Faktor des sozialen Fortschritts und zugleich der Strukturierung des Lebens und des Todes, des Raumes und der Zeit, eine Art Kulturintegrator. 13 Im Verlaufe des Mittelalters entwickelte sich schrittweise ein Verhältnis zwischen dem Tod des Menschen und seinem Selbstbewußtsein. „Im Spiegel seines eigenen Todes konnte jeder das Geheimnis seiner Individualität entdecken. Und dieses Verhältnis. . . hat seit jener Zeit nicht aufgehört, der westlichen Zivilisation seinen Stempel aufzudrücken." 14 Die Analyse des Verhältnisses der Gesellschaft und des einzelnen zum Tod ist bei Aries und Chaunu nicht auf das Mittelalter beschränkt. Aries führt sie bis in unsere Zeit, während Chaunu (gemeinsam mit seinen Schülern) speziell das Paris des 16. bis 18. Jahrhunderts untersucht. Es seien noch zwei wesentliche Besonderheiten der Auffassung vom Tod der Menschen des 20. Jahrhunderts erwähnt, die in den Arbeiten von Aries hervorgehoben werden und die die Spezifik des mittelalterlichen Verständnisses dieses Phänomens verstehen helfen. Während sich in der gesamten von ihm untersuchten gewaltigen Epoche das Verhältnis der Gesellschaft zum Tod sehr langsam ändert, nimmt es im 20. Jahrhundert gleichsam sprunghaft neue Formen an. Deshalb hört der Tod auf, unauffällig zu sein, und er verläuft nicht mehr außerhalb des Blickfeldes der Kulturwissenschaftler. Trotzdem bleibt der Tod, nach Aussage Vovelles, ein tabuisiertes Objekt. 1 5 In den industrialisierten Ländern des Westens entsteht eine völlig neue, nie dagewesene Art des Todes, sein invertiertes, umgekehrtes Bild: Die Gesellschaft verneint den Tod, und er verschwindet aus dem Bild des emotionalen Lebens der Öffentlichkeit. W a r der Tod früher allgegenwärtig und allen bekannt, so wird er jetzt schmachvoll und verboten; man tut so, als ob es ihn nicht gäbe. Dieser Tendenz liegt nicht so sehr das Streben zugrunde, die Gefühle des Sterbenden zu schonen, als vielmehr der Versuch der Gesellschaft, den Bildern des Todes auszuweichen. Das Leben hat glücklich zu sein, und nichts darf diese Illusion zerstören. Das Verschwinden eines Menschen berührt nicht mehr die in der Gesellschaft existierende Kontinuität, alles läuft so weiter, als ob überhaupt niemand gestorben sei, „der Tod ist ausgeschlossen". 16 Er wird als Skandal empfunden und mit Schweigen umgeben.' Er ist in die Hände der Ärzte gegeben und zum Objekt der Tätigkeit von Unternehmern gemacht, die die unauf-
91
fällige Entfernung seines Anblicks aus der Gesellschaft sichern. Solcherart sind, in allgemeinen Zügen, die Gedankengänge von Aries. Sie werden in ihren Hauptpunkten auch von anderen Forschern geteilt. Die Arbeiten von Aries und seinen Kollegen beleuchten einen der Aspekte der kollektiven Psychologie der Menschen vergangener Epochen. Sie verdienen große Aufmerksamkeit. Die von ihnen vertretene Richtung der Kulturgeschichte untersucht die von der Kultur angebotenen Klischees, Symbole, kollektiven Vorstellungen und Glaubensrichtungen breiterer Kreise. Nicht klar durchdachte Konzeptionen oder ausgearbeitete und nuancierte Ideen haben für die Mehrheit der Gesellschaft das Erleben der Wirklichkeit bestimmt, sondern vielmehr Mentalität, geistige Haltungen und bestimmte Weisen der Weltsicht. Die Produktivität und Perspektive dieser Arbeitsrichtung kann keinem Zweifel unterliegen. 17 Aries, Chaunu und die ande-
13
CHAUNU
1978
wie
Anm. 5,
S. 1 2 0 f . ,
1 4 0 f.
Vgl.
PIERRE CHAUNU, Mourir â Paris ( X V I e - X V I I e - X V I I I e Annales 3 1 , 1 9 7 6 (i), S. 38. 14
ARIÈS 1 9 7 6 w i e A n m . 2 , S . 5 1 ,
15
VOVELLE 1 . 9 7 4 w i e A n m . 5 , S. 1 0 .
16
ARIÈS
1977
wie
A n m . 2,
ferner
siècles),
52.
S. 5 7 3 .
CHAUNU
beurteilt
die
gegenwärtige Situation etwas anders. Die Richtigkeit der Behauptung von ARIÈS über das Verschweigen des Todes anerkennend, verweist er auf eine zusätzliche, entgegengesetzte Tendenz: an Stelle des „verbotenen Todes" tritt der „zerredete Tod", über den viel gesprochen wird. CHAUNU 1 9 7 8 wie Anm. 5, S. 4. 1 7 Siehe: BORIS PORSNEV, Social'naja psichologija i istorija (2e izd. 1 9 7 9 ) , Moskva 1 9 6 6 ; AARON GUREVIÌ, Nekotorye aspekty izucenija social'noj istorii (Obscestvenno - istoriceskaja psichologija), in: Voprosy istorii, 1 9 6 4 ( 1 0 ) ; Ders., Istoria i social'naja psichologija: istocnovedceskij aspekt, in: Istocnikovedenie, teoreticeskie i metodiceskie problemy, Moskva 1 9 6 9 ; Ders., Marc Bloch i Apologija istorii, in: MARC BLOCH, Apologija istorii ili remeslo istorika, Moskva 1 9 7 3 ; Ders., Historyczna psychologia spoleczna a „postawowe zadanie" nauki historycznej, in: Studia metodologiczne 5, Poznan 1 9 6 8 ; LUCIEN FEBVRE, Le problème de l'incroyance au X V I e siècle. La religion de Rabelais, Paris 1 9 4 2 ; Ders., Combats pour l'histoire, P a r i s ' 1 9 6 5 ; ALPHONSE DUPRONT, Problèmes et méthodes d'une histoire de la psychologie collective, in: Annales 16, 1 9 6 1 ( 1 ) ; GEORGES DUBY, Histoire des mentalités, in: L'Histoire et ses methodes (Encyclopédie de la Pléiade), Paris 1 9 6 1 , S. 9 3 7 f . ; Ders., Hommes et structures du moyen âge, Paris/La Haye 1 9 7 3 ; ROBERT MANDROU, Introduction â la France moderne ( 1 5 0 0 - 1 6 4 0 ) . Essai de psychologie historique, Paris 1 9 6 1 ; Ders. Magistrats et sorciers en France au X V I I e siècle. Une analyse de psychologie historique, Paris 1 9 6 8 ; JACQUES LE GOFF, Les mentalités. Une histoire ambiguë, in: Faire de l'Histoire III, Paris 1 9 7 4 ; Louis TRÉNARD, L'histoire des mentalités collectives: les pensées et les hommes. Bilance et perspectives, in: Revue d'histoire moderne e t c o n t e m p o r a i n e X V I , 1 9 6 9 ; ROLF SPRANDEL, M e n t a l i t ä t e n
und
Systeme: Neue Zugänge zur mittelalterlichen Geschichte, Stuttgart 1 9 7 2 ; ARNO BORST, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt/M. 1 9 7 3 .
92
AARON GURJEWITSCH
ren Forscher richten ihre Aufmerksamkeit sowohl auf die Formeln, die durch Theologen ausgearbeitet wurden, als auch auf den Volksglauben. Aries legt das Gewicht auf die spontane Auswahl solcher Ideen und Zeichen durch die Menschen des Mittelalters, die ihren zwar nicht völlig bewußten, aber tiefen psychologischen Bedürfnissen entsprachen. In diesen Vorstellungen kann man „Archetypen der Zivilisation" aufdecken, die in einen zeitgemäßen „Code" übertragen wurden. 1 8 Chaunu verweist auf Unterschiede zwischen dem entwickelten Denken der Elite und dem sozialen Verhalten der Massen und auf die Kompliziertheit ihrer Wechselwirkung. Jedoch erkennt Chaunu im Gegensatz zu Aries, der meint, daß die tiefen Rhythmen der kollektiven Psychologie in bedeutendem Maße unabhängig sind von den vom theoretischen Bewußtsein entwickelten Systemen, das Primat des herrschenden Bewußtseins an. Er behauptete, daß der entscheidende Einfluß, obwohl langsam und teilweise mit jahrhundertelangen Unterbrechungen, von oben nach unten verläuft, weil die Volkskultur im Verhältnis zur schriftlichen höheren Kultur nur relative Autonomie besitzt. 19 Le Goff dagegen zieht es vor, die Evolution der Vorstellungen von der postmortalen Welt auf der Grundlage der sozialen Fortschritte in Westeuropa zu verfolgen. Die genannten Autoren untersuchen den spontanen Ausdruck der mittelalterlichen Kultur, jene Schicht, die unter der Ideologie liegt. Letztendlich interessiert sie das Entstehen des persönlichen Selbstbewußtseins des Westeuropäers. Nach ihrer Überzeugung besteht eine unmittelbare Verbindung zwischen der Vorstellung vom Tod und dem Selbstbewußtsein des Menschen. Die Transformationen dieser Vorstellungen lassen zugleich den allmählichen Prozeß der Herausbildung der menschlichen Individualität deutlich werden. In der Darstellung des Bildes des Todes, der postmortalen Existenz der Seele, des Gerichts und der Vergeltung offenbarten die Menschen des Mittelalters das Geheimnis der eigenen Person. Die Überzeugungskraft der erwähnten Arbeiten hängt in hohem Maße von ihrer quellenkundlichen Basis ab. Für Vovelle 2 0 und Chaunu dienen als Hauptquellen Testamente, in denen das sich im Angesicht des Todes befindliche oder sich auf ihn vorbereitende Individuum sein Verhältnis zum verbrachten Leben und zur bevorstehenden anderen Welt ausdrückte. Einige zehntausend Testamente in den Archiven der Provence und von Paris gestatteten es diesen Forschern, quantitative Methoden anzuwen-
den und auf der Grundlage eines umfangreichen und relativ einheitlichen Materials wesentliche Schlußfolgerungen zu ziehen. Solche Untersuchungen waren möglich für das 16.-18. Jahrhundert. Ariès nutzte gleichfalls Testamente, jedoch auch die Aussagen der mittelalterlichen Ikonographie, ferner archäologische Zeugnisse aus Grabstätten und Friedhöfen, Liturgietexte und andere literarische Überlieferungen. Ariès geht subjektiver, intuitiver, zugleich aber auch globaler vor als seine Kollegen. 2 1 Im folgenden möchte ich einige Schlußfolgerungen dieses Gelehrten (und teilweise auch Chaunus) überprüfen und vielleicht auch bestreiten : 1) das Dominieren der Idee des posmortalen Schlafs in Erwartung der Wiederkehr Christi; 2) die Vorstellung vom Gericht am Ende der Welt als einzig denkbares Gericht über die Seele des Toten bis zum 15. Jahrhundert; 3) die Unentwickeltheit des individuellen Bewußtseins - unter dem Aspekt seiner Beziehungen zum Tod - wiederum bis zum Ende der mittelalterlichen Epoche. Machte das Selbstbewußtsein der Westeuropäer wirklich erst in der Epoche der Renaissance merkliche Fortschritte und nicht schon im Mittelalter? Meinen Meinungsverschiedenheiten mit Ariès und Chaunu liegt die Interpretation des Problems der Zeit zugrunde. Während des gesamten Mittelalters entstanden und zirkulierten Erzählungen über Besuche im Jenseits und Reisen von Seelen solcher Menschen, die nur für kurze Zeit gestorben waren. Ihnen wurde erlaubt, ins Leben zurückzukehren, um von ihren Visionen zu berichten. Was kann für denjenigen, der das Verhältnis des Menschen zum Tod untersucht, interessanter sein als eine Reportage aus dem Jenseits? Ariès wertet diese umfangreiche Literatur leider nicht aus. 22
18
ARIÈS 1 9 7 7
19
CHAUNU 1 9 7 8 w i e A n m . 5 , S . 4 , 2 5 , 2 8 f .
w i e A n m . 2, S.
99-100.
2 0 MICHEL VOVELLE, Piété baroque et déchristianisation Provence au X V I I K siècle, Paris 1 9 7 3 (2. cd. 1 9 7 8 ) . 21
ARIÈS
1975
wie
A n m . 2,
S.
en
17.
CHAUNU erwähnt nebenbei das IV. Buch der Dialoge Gregors des Großen, aber er untersucht w e d e r die datin enthaltenen Erzählungen aus dem Jenseits noch irgendein anderes Beispiel mittelalterlicher Visionsliteratur. Zeugt dieses Schweigen nicht davon, daß W e r k e dieses Genres traditionsgemäß im Schatten der „Göttlichen Komödie" verbleiben? Vgl. AARON GUREVIC, Zapadnoevropejskie videnija potustoonnego mira i „realizm" Srednich vekov, in: Trudy po znakovym sistemam VIII, Tartu 1 9 7 7 , S. 4 (Vortrag, gehalten an der Universität Tartu im Januar 1 9 7 4 ) . Übrigens bemerkt selbst CHAUNU völlig zu Recht, daß bei der Untersuchung von Religionen und Ritualen Schriftdenkmäler den Vorrang v o r darstellenden haben sollen. 22
Persönlichkeit und Zeit in der mittelalterlichen Kunst W e r die postmortalen Visionen ignoriert, kann die Zeugnisse der Ikonographie wohl kaum richtig verstehen. D i e Erzählungen vom Irren der Seelen durch Hölle und Paradies und die Auferstehungsszenen bzw. die Darstellungen des Jüngsten Gerichts an den Westportalen der Kirchen verschmolzen im Bewußtsein der mittelalterlichen Menschen zu einer Einheit. Dem Gläubigen, der solche Szenen beim Eintritt in die Kirche betrachtete, waren diese Geschichten zweifellos gut bekannt. Sie wurden mündlich verbreitet und besaßen eine außerordentliche Anziehungskraft. D i e Geistlichen verlasen oder erzählten ihren Gemeinden den Inhalt frommer Berichte vom Jenseits, und deren belehrende Bedeutung w a r offensichtlich. 23 Auf diese Weise überlagerten sich die Erzählungen über Besuche im Jenseits und die apokalyptischen Szenen der bildlichen Darstellungen im geistigen Raum der Menschen jener Epoche, und die Deutung ihres Sinns ist deshalb nur in der Konfrontation beider Genres, in wechselseitigem Verständnis beider möglich. D i e Szenen des Weltuntergangs, der Auferstehung und des Jüngsten Gerichts an den Hauptportalen der Kirchen flößten dem Gläubigen Zittern und Ehrfurcht vor der Gottheit und Angst vor Zorn und Strafe ein. D i e mittelalterlichen Meister, die die Kirchen errichteten und ausschmückten, wurden durch die Vorgaben des Klerus gesteuert. Ihre Werke waren inspiriert durch die Apokalypse, das Matthäusevangelium und die Prophezeiungen Christi. Zur richtigen Auslegung der Heiligen Schrift nutzte man Arbeiten mittelalterlicher Kommentatoren. Der Übergang vom Wort zum Bild stellte den Bildhauern, Schnitzern und Glasmalern jedoch auch völlig neue Aufgaben. Symbole mußten veranschaulicht, neue Motive gefunden werden. Die Weltauffassung des Volkes ging in die künstlerischen Gestaltungen ein, natürlich nicht in die Konzeption und nicht in die Darstellung des Ganzen, aber in viele Details und in die Art der Interpretation des vorgegebenen Konzepts. D a s Bild vom Weltuntergang verwandelte sich an den Fassaden der Kirchen in Serien aufeinanderfolgender Handlungen, die der Gläubige zeitlich ablaufend zu betrachten lernte. Den ersten A k t bilden, gem ä ß der Offenbarung des Johannes, die apokalyptischen Reiter, die Vorboten des nahenden Gerichts. Im Zentrum des Portals, im Tympanon, thront Christus als Richter. Er ist umgeben von den Engeln, die den Beginn des Gerichts verkünden, aber auch von der Jungfrau M a r i a und Johannes dem. Täufer, den Fürsprechern für die sündige Menschheit.
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Auf den Ruf der Posaunen öffnen sich die Gräber, und aus ihnen erheben sich die Toten. Unter den Auferstandenen, die normalerweise nackt dargestellt werden, finden sich Personen mit Kronen oder Tiaren auf den Häuptern. Vor Gottes Gericht sind alle Menschen gleich. Gemäß der Lehre der mittelalterlichen Theologen geht jeder im Alter von dreißig Jahren zum Gericht, in dem Alter also, in dem Christus den Tod besiegte, als er nach der Kreuzigung auferstand. Deshalb fehlt an den Kirchenportalen die Darstellung von Kindern und Greisen. Alle Menschen, die ihre Gräber verlassen, sind jung und schön, unabhängig davon, in welchem Alter sie tatsächlich starben. D i e Szene des Jüngsten Gerichts entspricht weniger den Worten der Heiligen Schrift als vielmehr den Hinweisen ihrer Kommentatoren. Im Zentrum steht der Erzengel Michael mit einer W a a g e in der Hand, neben ihm eine klägliche, in Erwartung des Urteils zitternde Seele. In der einen Schale der W a a g e befinden sich ihre guten Taten, in der anderen die Sünden. Der Teufel, der als Ankläger auftritt, versucht vergeblich, die höhere Gerechtigkeit zu betrügen, indem er die Schale mit den Sünden herabdrückt (Autun). D i e groteske Vermengung von Hohem und Niederem, des Feierlich-Abschreckenden mit dem Lächerlichen, des Vergeistigt-Schönen mit dem Körperlich-Mißgestalteten durchdringt die gesamte visuell-gedankliche Folge. Die körperliche Darstellung der Sünden und guten Taten - in der Kathedrale von Autun sind sie als kleine Wesen, die auf der W a a g e sitzen, dargestellt entsprach am besten der volkstümlichen Interpretation dieser Metapher. In anderen Fällen - Bourges, Amiens - ist auf der W a a g e der guten Taten ein Gotteslamm abgebildet, womit einprägsam die These illustriert wird, daß die Rettung der Seele nicht von den menschlichen Verdiensten abhängt, sondern von der göttlichen Güte. Zu beiden Seiten der Figur des Erzengels Michael sieht man zwei sich von ihm entfernende Gruppen. Diese Teile der Darstellung vermitteln eine Vorstellung von dem, was nach dem Gericht geschieht. Zur rechten Hand Michaels wandeln die Auserwählten, erfreut über das gute Urteil, zum Tor des Paradieses. Der Apostel Petrus am Eingang in das Paradies, sym-
23
E i n direkter K o n t a k t mit solchen W e r k e n w a r breiten Schichten der B e v ö l k e r u n g nicht möglich, w e i l die meisten M e n schen nicht lesen konnten. Auch w a r e n die Visionen in lateinischer Sprache v e r f a ß t . Erst später übertrug man sie in die V o l k s sprache.
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bolisiert mit den Schlüsseln die Kirche, die allein den Weg zur Rettung eröffnet. Das Paradies selbst ist nicht darzustellen. Trotzdem erhält das Wort, nach dem die Seligen in „Abrahams Schoß" eingehen, seinen plastischen Ausdruck: dem auf dem Thron sitzenden Abraham führen die Engel die Seelen der Auserwählten in Gestalt sehr kleiner Menschen zu, und diese ruhen dann auf seinen Knien (Reims). Doch kehren wir zur Weltgerichtsdarstellung zurück. Die verurteilten, mit einer gemeinsamen Kette gefesselten Sünder zur Linken des Erzengels werden von Dämonen zur Hölle geschleppt (Paris, Reims, Bamberg). Die Gesichter und Körper der Verdammten sind - anders als die verklärten und strahlenden Seligen - von Verzweiflung und Trostlosigkeit gezeichnet. Die Gruppe der Auserwählten Gottes bewegt sich geordnet auf das Tor zum Paradiese hin, die Verdammten stürzen unruhig, chaotisch der Hölle zu. Die fratzenziehenden Dämonen, halb Tier, halb Mensch, stoßen die Verurteilten voran, packen sie und treiben sie entweder in den weitgeöffneten ungeheuerlichen Rachen Leviathans (Conques, Amiens) oder in einen Kessel (Reims), unter dem das Höllenfeuer brennt. Dämonen mit Blasebälgen fachen die tosenden Flammen an. Mit Stöcken schlagen sie die Verurteilten und rühren die Höllenbrühe. Im Unterschied zur Visionsliteratur, die verschiedene Sünder verschiedene Qualen erleiden läßt, differenzieren die bildlichen Darstellungen nicht. Die ganze Herde der Verdammten wird von den Teufeln in das Höllenfeuer getrieben. Unter den Sündern sind Prälaten und Monarchen zu sehen, an der Kathedrale von Reims sind sie in vollem Ornat dargestellt, mit Mitra und Krone. Die bildkünstlerische Darstellung der Hölle beruht nicht auf theologischen Texten. Die Kröten und Schlangen, die die Verdammten fressen; die in der Hölle herumwirbelnden ungeheuerlichen Tiere mit riesigen Pfoten, die die Köpfe der heulenden und brüllenden Sünder zerquetschen, ihre Körper mit den Krallen zerreißen und sich mit spitzen Zähnen in ihnen festbeißen; Dämonen als Köche, die um den Höllenkessel mit kochenden Verdammten herumwirtschaften; schrecklich verrenkte und verzerrte Körper der von Gott Verworfenen, Gesichter, grotesk verzerrt oder von irrem Gelächter erschüttert - alle diese Bilder sind in der Phantasie der Bildhauer und Schnitzer entstanden. Sie schöpften ihr Material von überall her, aus Predigten und Viten, aus Folklore und Jenseitsvisionen. Der Glaube an die Realität der Hölle
und ihre Qualen 2 4 scheint die Menschen jener Epoche nicht im geringsten daran gehindert zu haben, künstlerische Befriedigung bei der Herstellung und Rezeption ihrer Darstellung zu empfinden. Erfuhr der Mensch eine psychische Entspannung, wenn er seine Ängste vor der jenseitigen Vergeltung anschaulich verkörpert sah? Ich möchte noch kurz auf das Tympanon der Kathedrale von Autun eingehen, dessen Darstellung des Jüngsten Gerichts sich durch außerordentliche Dynamik und Expressivität auszeichnet. Sein Schöpfer (Gislebert) verlängert und verzerrt die menschlichen Figuren. Die Teilnehmer des Gottesgerichts zittern. In einem Orkan von Gesten vermischt sich das Stöhnen und Jammern der Verurteilten mit dem Gejohle der Dämonen, die sie ins Höllenfeuer führen. Es zittern auch die Apostel, die den schrecklichen Richter umgeben. Hier ist nirgends Ruhe außer in der kolossalen Figur Christi selbst, die durch ihre völlige Symmetrie die Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Von den leicht abgespreizten Händen geht eine Spannung aus, die die gesamte Komposition durchdringt. Die Auferstandenen verlassen ihre Gräber mit dem Ausdruck der Ekstase oder des Schreckens. Emile Mâle 2 5 vermutet, daß Gislebert die Lehre von der Prädestination vertrat. Die Auferstandenen, vermutet er, wissen schon, ob sie zur Errettung ausgewählt oder ob sie zu Höllenqualen verdammt sind. Die Aufschrift über den Häuptern der Seligen und der Sünder lautet entsprechend: „So wird derjenige auferstehen, der kein gottloses Leben führte", und: „Wer in irdische Verwirrungen gefallen ist, mag vor Schrecken erzittern, weil so, wie es hier gezeigt wird, sein schreckliches Schicksal sein wird." Die Bilder der postmortalen Welt und ihrer Qualen waren bedeutend vielfältiger als die von der paradiesischen Glückseligkeit der Auserwählten. Dennoch bildeten alle Szenen miteinander verbundene Glieder einer einheitlichen Erzählung. Alle sind sie auf den Augenblick der Vollendung der Geschichte des Menschengeschlechts in einer unbestimmten, jedoch ständig erwarteten Zukunft bezogen. Die kirchliche Ikonographie verlegte die Vergeltung für das
2 4 FRITZ NEUGASS, Teufel, Tiere und Dämonen im mittelalterlichen Chorgestühl, in: Kunst und Künstler 25, 1 9 2 7 ( 1 1 ) ; ROBERT HUGHES, Heaven and Hell in Western Art, London 1 9 6 8 , K a p . 5. 2:1 EMILE MÂLE, L'art religieux du XII E siècle en France, Paris 1 9 2 4 , S. 4 1 7 ; AARON GUREVIÈ, Populjarnoe bogoslovie i narodnaja religioznost' Srednich vekov, in: Iz istorii kul'tury Srednich vekov i Vozrozdenija, Moskva 1 9 7 6 , S. 74 f.
Persönlichkeit und Zeit in der mittelalterlichen Kunst irdische Leben auf den Weltuntergang. Ich möchte weiterhin bemerken, daß die darstellende Kunst des 12./ 13. Jahrhunderts kein Fegefeuer kennt und das jenseitige Reich im Sinne der Bipolarität Hölle - Paradies interpretiert. 26 Nach den Beobachtungen von Gaby und Michel Vovelle 2 7 tritt das Fegefeuer erst am Ende des Mittelalters in Erscheinung. Diese eschatologische Konzeption lag der Darstellung des Jenseits in der kirchlichen Kunst zugrunde. W i e wirkten die Szenen auf den mittelalterlichen Betrachter? Die Ikonographie allein kann darauf kaum eine Antwort geben. Literarische Texte müssen hinzugezogen werden. Was sagen uns die Visionen vom Jenseits? Ich kann hier nicht die Genesis des literarischen Genres der Visionen oder die Frage nach den Beziehungen der mittelalterlichen Aufzeichnungen zu entsprechenden Werken der Antike bzw. die Unterschiede zur „Göttlichen Komödie" diskutieren, die dieses Genre gleichzeitig krönt und überwindet. In gleicher Weise bin ich gezwungen, von der schwierigen Frage abzusehen: W a s sind, genau genommen, die mittelalterlichen Erzählungen über Reisen durch Hölle und Paradies - rein literarische Fiktionen oder Niederschriften von Visionen und Träumen der Menschen, die an ihre Realität glaubten wie an Fakten der eigenen geistigen Erfahrungen? Hier gibt es offensichtlich nicht die Alternative Entweder - Oder. Der Mensch des Mittelalters, der in seinen Träumen und Alpträumen jene Welt besucht hatte, bemühte sich, Bilder und Eindrücke zu beschreiben. Das war ihm nur möglich in der Sprache der traditionellen Bilder und Zeichen. 28 In den mittelalterlichen Vorstellungen von der postmortalen Welt verschmolz die christliche Lehre mit antiken oder östlichen Legenden, mit dem Volksglauben und den Sagen. „Unkraut im Garten des christlichen Gedankengutes" nennt sie ihr Erforscher. 29 Sie waren nicht auszurotten. Sogar Theologen wie Gregor der Große nutzten den Fonds des primitiven Aberglaubens und der Legenden, um die Ideen des Christentums breiten Schichten zugänglich zu machen. Anders als in der einfachen Sprache ihres Glaubens mit den Frommen zu sprechen war unmöglich. Die Übersetzung der Hauptideen der Religion in die Volkssprache war unausweichlich mit ihrer Vulgarisierung verbunden. Auch über Werke der Kirchenliteratur können wir uns in bestimmtem Maße den Quellen der Volksphantasie nähern. Die lateinischen Erzählungen über Besuche im Jenseits waren nicht nur abhängig von literarischen Werken früherer Zeiten,
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sondern auch von der Folklore. Neben ihnen existierten mündliche Erzählungen, Lieder und Balladen mit Motiven aus der lateinischen Literatur, die ihrerseits auf die Visionsliteratur einwirkten. Die Aufzeichnungen von Reisen durch die andere Welt sind ein äußerst wertvolles Zeugnis der kollektiven Psychologie der Epoche. Man muß Aries zustimmen: Der Historiker, der das Problem des Todes im Mittelalter untersucht, liest die Quellen, die von geistlichen Personen geschaffen wurden, anders als ein Religionshistoriker. Er sucht in ihnen hinter der Sprache der Kirche den Bestand an Vorstellungen, die sowohl Kleriker als auch Laien beherrschten. 30 Für das mittelalterliche Bewußtsein gab es keine radikale Grenze zwischen Leben und Tod. In der antiken Literatur entstehen die Bilder des Totenreiches vor dem Auge des Wanderers, der sich als Lebender dahin verirrt hatte. Die mittellateinischen Werke lassen nur den Gestorbenen ins Jenseits gelangen. Wer ins Leben zurückkehrt, kann darüber berichten. Die Auferstehung der Toten ist die Bedingung für die Existenz der Visionsliteratur, eine im Mittelalter allgemein anerkannte Konvention. Die Auferstehung wird zum Mittel der Kommunikation beider Welten, der irdischen und der jenseitigen, zu einem Wunder, einem Ausdruck der Allmacht sakraler Kräfte. Über derartige wunderbare Reisen in die jenseitige Welt wurde im gesamten Mittelalter berichtet, für unsere Zwecke reicht es jedoch, bei den Mitteilungen zu verweilen, die in den älteren Visionen enthalten sind. Ich erinnere daran, daß man sich nach Aries und anderen Autoren im frühen Mitelalter den Tod als einen Schlaf gedacht haben soll, der bis zum Weltuntergang andauert. Diese Behauptung stimmt nicht mit den Nachrichten der in den Visionen vorkommenden Personen überein, denen die Gunst zuteil wurde, in die postmortale Welt zu schauen. Sie fanden sie durchaus nicht schlafend und unbeweglich. In der Hölle herrscht beängstigende Dynamik und Aufregung; die physischen und moralischen Qualen, die die Sünder durchleben, haben mit Ruhe nichts gemein. Wirkliche Ruhe kann man nur im Himmelreich
20
M A L E 1 9 2 4 w i e A n m . 2 5 , S. 4 2 8 .
27
VOVELLE 1 9 7 0 w i e A n m . 4 .
Genauer siehe: AUGOST RÜEGG, übrigen literarischen Ein quellenkritischer 28
29
30
ARIÈS 1 9 7 5
GUREVIÈ 1 9 7 7 wie Anm. 22, S. 4 f. Jenseitsvorstellungen vor Dante und die Voraussetzungen der „Divina commedia". Kommentar, Bd. I, Köln 1 9 4 5 , S. 1 9 7 .
w i e A n m . 2, S. 1 8 .
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erlangen. Aber auch das Paradies ist, soweit man das erkennen kann, nicht etwa voller Lethargie. Seine Bewohner leben vielmehr in unsagbaren Freuden und erfüllen das himmlische Jerusalem mit feierlichen Gesängen. Schon in den „Dialogen" von Papst Gregor dem Großen (6. Jahrhundert) wird an einen vornehmen Mann erinnert, der im Jenseits weilte. Er sah dort ein Feuer, das für einen bekannten Geistlichen vorbereitet war. Dieser weilte noch unter den Lebenden und gab sich fleischlichen Genüssen hin. Es wird nicht klar, wo sich die Hölle befindet und wie sie gebaut ist. Der Papst berichtet nichts Bestimmtes, außer daß in ihr ein Feuer brennt, aber die Verurteilten erleiden entsprechend ihren Sünden verschiedene Strafen, ihre Leiden sind unendlich. 31 Das Leiden in Analogie zu den begangenen Sünden hat in der Visionsliteratur eine besonders anschauliche Ausprägung erfahren. Falschen Zeugen und Meineidigen schlagen die Teufel auf die Zunge. Mit Hunger straft man den Vielfraß, mit Durst den Trinker. Vor den Augen der Mütter, die in Unzucht gezeugte Säuglinge ermordeten, schweben diese ständig als Mahnung und Anklage. Einem wegen seiner Habgier berühmten Mitkämpfer Karls des Großen gießen böse Geister geschmolzenes Gold in den Hals und sprechen dabei: „Danach giertest du im Leben und konntest nicht genug bekommen, hier hast du, trink dich satt!" 3 2 Irdischer Genuß wird zur Qual im Jenseits, der Quäler zum Gequälten. In der Hölle herrscht das Gesetz: „Auge um Auge, Zahn um Zahn." Die Gerechten mit ähnlichem Leben und Verhalten finden sich im Paradies vereint. Die bösen Geister ordnen auch die Sünder nach ihren Vergehen und unterziehen sie entsprechenden Strafen. 33 Ein genaueres Bild der postmortalen Welt gibt ein anderer Zeuge Gregors des Großen. Ein Krieger, der gestorben war und auferstand, erzählt von einer Brücke in jener Welt, die sich über einen schwarzen und übelriechenden Strom spannte. Die Gerechten gelangten ohne Schwierigkeiten an das gegenüberliegende Ufer. Auf herrlich duftenden Wiesen wandelten weiß gekleidete Menschen. Dort gab es helle Häuser, wie ihm schien, sogar solche aus Gold. Die Sünder jedoch fielen bei dem Versuch, die Brücke zu überqueren, in den stinkenden Fluß. Die Brücke über den düsteren Strom, der das Ufer der Seligen vom Ufer der Verdammten trennt, wird zur Zeit Gregors I. zu einem wesentlichen Teil der Vorstellung vom Jenseits. 341 Der Krieger, von dem der Papst erzählt, sah einen vor vier Jahren gestorbenen Priester, der mit dem Kopf
nach unten und mit einem Gewicht um den Hals aufgehängt war. Der Schmied Stephan stolperte beim Überqueren der Brücke. Aus dem Strom auftauchende Männer, die ganz schrecklich aussahen, begannen ihn in die Tiefe hinabzuzerren. Jedoch in diesem Augenblick packten ihn geflügelte und schöne Männer und zogen ihn nach oben. Ein Kampf zwischen bösen und guten Geistern entbrannte. „So kämpfte das böse Fleisch in Stephan mit den Taten der Güte", erklärt der Papst. 33 Es ist nicht klar, welche Funktion dieser Strom hat - ist er die Hölle oder das Fegefeuer? Das Thema des Feuerstromes mit einer schmalen Brücke darüber findet man auch bei Gregor von Tours. 36 Nachrichten aus der anderen Welt können der Erleichterung der Sünder, die in der Hölle leiden, dienen, d. h. die Lebenden, die von ihren Leiden erfahren haben, beginnen für sie zu beten und gute Taten zu vollbringen. Damit erleichtern sie die Strafe. Dieses Thema entwickelt der Autor der „Vision Bernolds", Hinkmar von Reims. Im Jenseits traf Bernold mehr als vierzig Bischöfe, die sich in äußerst traurigem Zustand befanden. Einmal zitterten sie vor unerträglicher Kälte, ein andermal verschmachteten sie in der Hitze. Bernold übermittelt den Geistlichen wie Laien die Bitte der Leidenden, für ihre Seelen zu beten, was sofort eine wohltätige Wirkung auf sie hat. Er findet sie gewaschen, rasiert und ordentlich gekleidet. 3 7 Das Gebet für den Verstorbenen kann helfen, dessen Schuld zu sühnen. So geschah es mit einem jungen Mann, der im Kloster wohnte, aber nichts Gutes vollbrachte und ein bekannter Schmäher und Spötter war. Als er starb, begannen die um ihn versammelten Mönche für seine Seele zu beten. Der Sterbende jedoch unterbrach sie: „Geht weg, geht weg, ich bin dem Drachen verschrieben, der mich frißt, aber mich wegen eurer Anwesenheit nicht verschlingen kann. Meinen Kopf hat er
S. Gregorii Dialog., IV, 3 1 , 4 1 - 4 4 . Visio cujusdam pauperculae mulieris. WILHELM WATTENBACH, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, I. Bd., Berlin 1 8 9 3 , S. 2 7 7 . 3 3 Dialog, IV, 35. 31
32
34
LEOPOLD PETER KRETZENBACHER, B i l d e r u n d L e g e n d e n ,
genfurt 1 9 7 1 ;
PETER DINZELBACHER, D i e
Jenseitsbrücke
im
KlaMit-
telalter, W i e n 1 9 7 3 . DINZELBACHER bemerkt, daß das Bild der Brücke, die von einer W e l t in die andere reicht, trotz außerordentlicher Verbreitung in der mittelalterlichen Literatur fast überhaupt nicht in der Ikonographie auftritt (S. 1 6 5 ) . 3 5 Dialog, IV, 36. 3 6 GREGOR VON TOURS, Zehn Bücher Geschichten, Bd. I = Buch 1 - 5 , Berlin o. J., S. 240/1 ( = Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe). 3 7 P. L „ t. 1 2 5 , col. 1 1 1 5 ff.
Persönlichkeit und Zeit in der mittelalterlichen Kunst schon im Rachen. Tretet beiseite, damit er mich nicht quäle und das Nötige vollbringe. Ich bin ihm zum Zerfleischen gegeben. Welchen Sinn hat es zu warten?" Er hatte nicht mehr die Kraft, sich zu bekreuzigen, erdrückt durch den schuppigen Drachen. Doch das Gebet der Brüder erleichterte ihm den Kampf mit dem Untier, und es floh letztendlich, das Gebet nicht ertragend. Nachdem der Sünder gesundet war, bereute er und wurde Mönch. 38 D i e Dialoge Gregors des Großen bringen viele Beschreibungen der postmortalen Welt, die dann in die lateinische Visionsliteratur übergingen. Die Dialoge erfreuten sich einer außerordentlichen Popularität während des gesamten Mittelalters. D i e Beschreibung von Besuchen im Jenseits trifft man, wie erwähnt, auch bei dem Zeitgenossen Gregors des Großen, dem Bischof Gregor von Tours. D e m A b t eines Klosters, so erfährt man dort, der sich durch D e m u t auszeichnete, träumte, daß er an Orten weilte, wo ein feuriger Fluß fließt und zu dem eine gewaltige Menschenmenge strömte, ähnlich den Bienen zum Bienenstock. Sie stürzten sich in den Feuerstrom, die einen bis an die Hüften, die anderen bis an die Achseln, manche auch bis ans Kinn, und alle schrien und stöhnten und erlitten schreckliche Qualen. Über dem Fluß hing eine Brücke, die so schmal war, daß man mit Mühe gerade einen Fuß auf sie setzen konnte. Am anderen Ufer erhob sich ein großes weißes Haus. D e m Abt wurde erklärt, daß von der Brücke herabgestürzt wird, wer sich bei der Leitung der ihm anvertrauten Herde nachlässig zeigt. D e r eifrige Hirte dagegen gelangt gefahrlos an das andere Ufer und erreicht voller Freude das Haus, das dort zu sehen ist. Bei diesen Worten erwachte der A b t und war von diesem Tage an strenger zu seinen Mönchen. 3 9 Die Beschreibungen des Paradieses bleiben an Drastik und Realistik hinter denen der Höllenqualen zurück. D e r heilige Salvius, von dem Gregor von Tours berichtet, erzählte den Mönchen, wie zwei Engel ihn nach seinem Tode in den Himmel trugen, so d a ß er zu seinen Füßen nicht nur diese traurige Erde, sondern auch Sonne und Mond, Wolken und Sterne erblickte. Durch ein strahlendes Tor führte man ihn in ein Haus, dessen Fußboden wie Gold und Silber glänzte. D i e Helle darin war unfaßbar und seine Ausdehnung nicht zu beschreiben. Es war gefüllt mit einer solchen Menge Menschen beiderlei Geschlechts, d a ß es unmöglich schien, die Länge und Breite der Schar überhaupt zu übersehen. D i e Engel bahnten Salvius 7
Architektur
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den Weg zu einem Platz, wo eine Wolke hing, die heller als alles Licht erstrahlte, und aus der Wolke ertönte eine Stimme „wie ein großes Wasserrauschen" (Off. 1, 15): „Dieser kehrt zurück in die Welt, denn unsere Kirche bedarf seiner." 40 Welch eine erstaunliche Verbindung von äußerster D e m u t und äußerstem Hochmut! D e r Heilige selbst bezeugt seine Auserwähltheit. Detaillierte Beschreibungen von Visionen finden wir in der „Kirchengeschichte der Angelsachsen" von Beda Venerabiiis aus dem Beginn des 8. Jahrhunderts. Wir greifen die Vision des Irländers Furseus heraus. 4 1 E r erkrankte, und seine Seele trennte sich in der Nacht vom Körper, so daß er die Möglichkeit erhielt, die himmlischen Heerscharen zu sehen und ihren Gesang zu vernehmen. Als er auf die von ihm zurückgelassene Welt herabblickte, sah er ein Jammertal und darüber vier Feuer, die nicht weit voneinander entfernt loderten. Nach den Worten der Engel, die ihn begleiteten, verbrennen diese Feuer - Lüge, Habsucht, Hader und Gottlosigkeit - die Welt. Furseus erblickte auch Dämonen, die in den Flammen umherflogen und bemüht waren, sie auf die Gerechten zu lenken. Weiter werden von Beda die Anklagen aufgezählt, die die bösen Geister gegen Furseus erhoben, und die Argumente der Verteidigung, die von den guten Geistern vorgebracht wurden. Man kann daraus schlußfolgern, d a ß über die Seele des Heiligen Gericht gehalten wurde. Als die Engel begannen, seine Seele wieder in den Körper einzusetzen, packten die bösen Geister eine der Seelen, die in den Flammen litten und stießen sie direkt auf Furseus, so daß er Verbrennungen an der Schulter und am Kinn erlitt, die bis zum E n d e seiner Tage auf seinem Körper verblieben. Ein anderer Mensch, der nach den Worten Bedas 4 2 in der anderen Welt weilte, Drycthelm, sah auf der linken Seite eines gewaltigen Tals ein schreckliches Feuer lodern und auf der rechten eine unerträgliche Kälte mit Schneeund Hagelstürmen herrschen. Unzählige menschliche Seelen rannten zwischen Hitze und Kälte hin und her. Wenn sie die Glut nicht mehr aushalten konnten, stürzten sich die Unglücklichen in die Umklammerung
38
Dialog, IV, 38.
39
GREGOR VON TOURS w i e A n m .
40
GREGOR
VON
TOURS
wie
36.
Anm. 36,
Bd. 2,
S. 9 1 - 9 3 ,
hier
gekürzt zitiert. 41
BEDA
VENERABILIS,
E d . E . HOLDER 1 8 8 2 , 3 , 42
Ebenda, 5, 12.
Historia 19.
ecclesiastica
gentis
Anglorum.
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des Frostes, aber auch dort fanden sie keine Erholung und wandten sich wieder den Flammen zu - und so immer wieder. Drycthelm glaubte, daß das die Hölle sei, aber sein Führer, der seine Gedanken erraten hatte, antwortete ihm: „Das ist noch nicht die Hölle." An einem anderen Ort erhoben sich vor ihm gräßliche Feuersäulen, die mit mächtigem Lärm aus einem gewaltigen Brunnen hervorbrachen und wieder in ihn zurückfielen. Drycthelm sah, daß die Zungen der qualmenden und flackernden Flammen voller menschlicher Seelen waren - sie flogen wie Funken umher und wurden wieder vom Abgrund verschlungen. Ein unerträglicher Gestank herrschte dort. Plötzlich hörte er hinter seinem Rücken verzweifeltes Geschrei, das von wildem Lachen begleitet war, als ob eine grobe Menge mit einem gefangenen Opfer abrechnete, und er sah Myriaden böser Geister, die mit Hetzrufen und Geschrei die stöhnenden und heulenden Seelen in die Finsternis stießen. Als die Unglücklichen im Flammenschlund verschwanden, vermischten sich das Gejammer und die freudigen Rufe der Dämonen. Einige der dunklen Geister krochen aus dem feurigen Abgrund und umringten Drycthelm. Ihre Augen flammten, eine gräßliche Lohe brach aus ihren Mäulern und Nüstern hervor. Die Teufel drohten, ihn mit glühenden Zungen zu packen, aber sie konnten sich nicht entschließen, ihn zu berühren. Sein Begleiter befreite ihn und führte Drycthelm zur Seite des Aufgangs der Wintersonne. Im Licht des Tages erblickte unser Wanderer eine gewaltige Wand, die von unendlicher Länge und unsagbar hoch schien. Es gab weder Fenster noch Türen, noch Treppen, und trotzdem, unerklärlich, auf welche Art und Weise, gelangte er auf ihr oberstes Plateau. Dort sah er ein weites, herrliches Feld mit wohlriechenden Blumen. Das Licht, das den Ort durchdrang, übertraf den Glanz der Sonne. Auf dem Feld wandelten heiter und freudig bewegt zahllose Menschen in weißen Gewändern. Drycthelm glaubte, daß dies das Himmelreich sei, von dem er oft gehört hatte, sein Führer jedoch las wieder seine Gedanken und sagte: „Nein, das ist noch nicht das Himmelreich, wie du glaubst." Und weiter entfernt erblickten sie Orte, an denen das Licht noch viel heller strahlte, und der Duft war noch angenehmer als an den früheren Stätten. Von da her erklang süßer Gesang. Hier jedoch kehrte der Führer um, nachdem er Drycthelm den Sinn des Geschehens erklärt hatte. Das Tal, an dessen einer Seite die Flamme tobt und auf dessen anderer Seite unerträgliche Kälte herrscht, ist ein Ort, an dem die See-
len derer versucht und gereinigt werden, die bis zu ihrem Tode als Sünder lebten. Sowie sie bereuen, und sei es auf dem Totenbett, werden sie am Tag des Gerichtes ins Himmelreich eingehen; vielen von ihnen helfen außerdem Gebete, Almosen und Fasten und insbesondere Seelenmessen, die für sie gelesen werden. Der stinkende Feuerbrunnen ist der Eingang in das Gehenna, wer dahinein gerät, kehrt niemals zurück. An die blühenden Orte bringt man die Seelen derer, die im Leben gute Taten vollbrachten, aber nicht ein solches M a ß an Vollkommenheit erreichten, daß sie sofort den Zutritt ins Himmelreich verdienten; trotzdem werden sie zum Tag des Jüngsten Gerichts der himmlischen Freuden gewürdigt. Derjenige, der in all seinen Worten, Taten und Gedanken vollkommen ist, gelangt sofort ins Paradies. Das Bild von der postmortalen Welt ist bei Beda bzw. seiner Quelle genauer gezeichnet als anderswo. Neben der Hölle, an deren Tor der Reisende weilte, und dem Paradies, dessen Töne und Düfte er aus der Ferne kosten konnte, existieren noch andere Örtlichkeiten. Eine davon könnte man Fegefeuer nennen, obwohl die Theologen des frühen Mittelalters den Begriff des Fegefeuers noch nicht kannten. An jenem Ort werden die Seelen vor dem Eintritt ins Paradies wahrhaftig versucht und geläutert. Nach einer anderen Version, die Beda überliefert, führte ein Krieger ein unordentliches Leben. Er erkrankte schwer und eröffnete seiner Umgebung, daß ihm nichts mehr helfen werde. Danach erschienen in seinem Haus zwei anmutige Jünglinge. Der eine setzte sich ans Kopfende, der andere an das Fußende des Bettes. Sie nahmen ein schönes, aber sehr kleines Buch und gaben es ihm zu lesen. Der Krieger fand in ihm seine guten Taten niedergeschrieben, aber es waren wenige, und sie waren unbedeutend. Schweigend nahmen die Jünglinge das Buch zurück, und im gleichen Augenblick brachen böse Geister mit schrecklichem Aussehen herein. Sie setzten sich rings um das Bett des Kranken, und jener, der nach seiner düsteren und schrecklichen Fratze der Älteste Zu sein schien, gab ihm ein anderes Buch zu lesen. Aber diesmal war es ein schrecklich anzusehender Kodex von kolossalen Ausmaßen und unglaublichem Gewicht. Beim Lesen seiner abnormen Schriftzeichen entdeckte der Kranke in ihm eine genaue Niederschrift aller seiner Missetaten, der gedachten, gesagten und getanen. Der Teufel sagte zu den Jünglingen in den schönen Gewändern : „Weshalb sitzt ihr hier, ihr seht doch selbst, daß er unser ist!" Jene antworteten: „Ihr sprecht die
Persönlichkeit und Zeit in der mittelalterlichen Kunst Wahrheit, nehmt ihn und reiht ihn in die Verdammten ein" - und verschwanden. Dann traten zwei der gemeinsten bösen Geister an den Kopf und an die Füße des Kriegers und gruben ihre Dolche in sein Inneres. Jetzt, so beschloß er seine Erzählung, fahren sie mit ihren Folterungen fort, und sowie sich ihre Messer treffen, sterbe ich und komme in die Hölle. Der schreckliche Tod des Sünders, schließt Beda, dient der Belehrung der anderen: „Was die Bücher angeht, die die guten und bösen Geister herbeibrachten, so sind sie durch Gottes Gnade geschaffen worden, damit wir wissen, daß alle unsere Gedanken und Taten aufbewahrt werden. Beim Jüngsten Gericht werden sie gewogen und bei unserem Ende gezeigt." 43 In der Offenbarung des Johannes gibt es das Buch mit den sieben Siegeln, in dem das Schicksal der Welt insgesamt aufgeschrieben ist und das nur während des Jüngsten Gerichts geöffnet wird. Bei Beda wird für jeden einzelnen Menschen im Paradies und in der Hölle ein besonderes Register seiner Verdienste und Sünden geführt. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht also die Errettung oder Verdammung des individuellen Menschen. Die Verurteilung bzw. die Rechtfertigung wird in den Visionen nicht auf den Weltuntergang verschoben. Sie ereignet sich in dem Augenblick, da der Mensch stirbt. Eigentlich wird hier zweimal Gericht über den Verstorbenen gehalten. Beda kennt die schweren Sünder, die sofort nach ihrem Tod in die Feuerhölle gelangen und sie niemals mehr verlassen, und solche, die der Prüfung und Läuterung durch Qualen unterworfen werden, aber am Tag des Gerichtes ins Himmelreich eingehen. Selbst unter den Gerechten unterscheidet er solche, die des Paradieses noch nicht würdig sind, von denen, die, sobald sie ihre körperliche Hülle verlassen haben, ins Paradies eingehen. Zwei verschiedene Eschatologien koexistierten im Bewußtsein des mittelalterlichen Menschen - eine „kleine", personengebundene für den individuellen Sterbefall und eine „große", welthistorische im Augenblicke der Wiederkehr Christi. Aries und Chaunu haben deshalb nicht recht, wenn sie behaupten, daß die Idee des individuellen Gerichts über die Seele des Verstorbenen erstmals am Ende des Mittelalters auftrat. Es gibt keinen Bruch zwischen der frühen und späten Periode des Mittelalters in der Auffassung des Todes und des Gerichts. Die „kleine Eschatologie" kann nicht erst dem „buchhalterischen Geist des sachlichen Menschen" der Vor7*
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renaissance oder der Renaissance zugeschrieben werden. Der Gedanke von der allgemeinen Vergeltung, von der jeder gleichzeitig mit allen anderen Menschen erfaßt wird, fand seinen Niederschlag vor allem in den'bildkünstlerischen Darstellungen der Kirchengebäude. Die Erzählungen von den Besuchen in der anderen Welt lassen den individuellen Bezug der Lehre vom Tod und der Vergeltung stärker in den Vordergrund treten. Die Begriffe Individuum und Individualität müssen für das frühe Mittelalter eingegrenzt und präzisiert werden. Das Christentum erlegt jedem die persönliche Verantwortung für die Wahl des richtigen oder falschen Weges auf. Aber gleichzeitig werden die Handlungen des Individuums nicht als spontane Äußerungen seines Willens verstanden. Ihre Quelle befindet sich vielmehr irgendwie außerhalb seiner Persönlichkeit. Obwohl es seine Gedanken, Wünsche und Taten sind, hängen sie doch nicht allein von ihm ab, sondern sind irgendwelche selbständigen Wesen. In den Aufzeichnungen des Bonifatius (8. Jh.) 44 wird von einem Mönch erzählt, der im Jenseits seinen Sünden begegnete. Sie beschwerten sich mit lauter Stimme. Jede Sünde war personifiziert und berichtete: „Ich bin deine Fleischeslust", „Ich bin dein Hochmut", „Ich bin die Verlogenheit", „Ich bin das Geschwätz". Eine andere rief: „Ich bin deine Augen, mit denen du sündigtest, als du auf Verbotenes schautest", und eine andere: „Ich bin die Starrköpfigkeit und die Ungehorsamkeit". Es erschallten Stimmen: „Ich bin die Faulheit und Trägheit, die dich das Studium der heiligen Dinge vernachlässigen ließ", „Ich bin die Torheit und die sinnlose Sorge" usw. Danach erklärten die Dämonen den Mönch für schuldig und zu ihrer Beute. Aber zu seinen Gunsten zeugten seine kleinen, kläglichen Verdienste. Eines rief: „Ich bin der Gehorsam", ein anderes: „Ich bin das Fasten", ein drittes: „Ich bin das reine Gebet", und noch eines: „Ich bin die Sorge um die Schwachen", ein anderes: „Ich bin der Psalm, den er zum Ruhme Gottes sang, um seine Torheit zu sühnen", und so trat jedes Verdienst für ihn ein. Wie die Beichte den Gläubigen veranlaßte, sein eigenes Leben zu bewerten, so stellte auch die Vision einen eigentümlichen Versuch der Analyse der Persönlichkeit dar. Hölle und Paradies kämpfen in der menschlichen Seele - der Mönch überdenkt seine
Ebenda, 5, 13. S. Bonifatii et Lullii epistolae. Ed. MICHAEL TANGL. M G H , Epistolae selectae 1.1., n. 10. i3
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Verdienste und Sünden und stellt sie einander gegenüber. Die Visionen lassen den Raum der postmortalen Welt strukturiert erscheinen. Im Unterschied zur strengen Dreiteilung bei Dante zeigen sie analog zur kirchlichen Kunst einen vorrangig zweiteiligen Aufbau. Er ist jedoch nicht eindeutig ausgewiesen. An den Polen des Bewußtseins befinden sich wirklich das Paradies und die Hölle, aber dazwischen existieren Übergänge. Die Reisenden durch das Jenseits besuchen verschiedene „Orte" (loci). Wie sind sie angeordnet, wie miteinander verbunden? All das bleibt unklar. Der einzige Versuch einer Strukturierung des Jenseits ist die Einführung des bereits erwähnten Bildes von der Brücke, die über den Strom gespannt ist; über diese Brücke müssen die Seelen hinweg. Das Jenseits ist ein Konglomerat isolierter Punkte. So sind auch die Hölle und das Paradies in den späteren irländischen „Visionen von Tnugdal" (oder Tungdal) organisiert. Dieses Werk des 12. Jahrhunderts beschreibt mit großer Kraft und seltener Folgerichtigkeit die postmortale Seligkeit der Auserwählten und die Strafen, denen die Sünder unterworfen werden. Dem Anwachsen der Leiden in der Hölle entspricht hier die Zunahme an Seligkeit der Auserwählten. Die Forschung hat darin eine Vorstufe zum Danteschen Plan des Jenseits gesehen. Nach seiner Wanderung durch die Hölle gelangt Tnugdal nicht sofort ins Paradies - zwischen beiden befinden sich Orte, wo die Seelen „der nicht sehr Bösen" (non valde malorum) maßvollen Strafen unterworfen werden, und Felder, wo die der „nicht sehr Guten" (non valde bonorum) verweilen: eine Art Fegefeuer und eine Art Vorraum zum Paradies. Diese Orte verbindet lediglich die Logik der anwachsenden Strafen oder Ehrungen. Hölle und Paradies bestehen aus voneinander isolierten Orten (Bergen, Tälern, Sümpfen, Löchern, Gebäuden usw.). Zwischen ihnen herrscht unerklärliche Leere. Jene Welt ist eigentlich kein einheitlicher Raum, sie ist unzusammenhängend wie der Raum der mythologischen Welt unzusammenhängend ist. 45 Aber dürfen wir eigentlich von einer Topographie das Jenseits sprechen? M u ß man nicht eher annehmen, daß die räumliche Terminologie auf nichträumliche Erscheinungen angewendet wurde? Haben hier nicht Schrecken und Verzweiflung ihren Ausdruck in geometrisierten Bildern gefunden? Der Norden, worauf die Blicke der Sünder gerichtet sind, die ihrer Bestrafung harren, und wohin man gehen muß, um in die Hölle zu gelangen, ist nicht schlechthin eine
Himmelsrichtung, sondern das Bild einer seelischen Verzweiflung - so wie der Osten der Ausdruck der Hoffnung auf Rettung ist. Im Raum der Visionen exteriorisiert sich der geistige Raum des mittelalterlichen Menschen. Die Karten der postmortalen Welt, die der Geist jener Epoche zeichnete, hatten symbolischen Inhalt. Wenden wir uns jetzt dem Problem der Zeit zu. Es erscheint vielleicht seltsam, über die Zeit und ihr Fließen im Jenseits nachzudenken, wo doch Ewigkeit herrscht. Trotzdem wird in den Visionen jener Epoche, so paradox es klingen mag, eher über die Zeit als über die Ewigkeit gesprochen. Besonders oft handeln die irländischen Visionen von der Zeitrechnung in der Hölle. Dank der Güte des Herrn können sich die Sünder sonntags von ihren Qualen erholen. Der Autor der „Reisen Brendans" weiß von Judas Ischariot zu berichten, daß er den schrecklichsten Foltern in zwei Höllen, der heißen und der kalten, unterworfen ist. Dienstags, donnerstags und sonnabends leidet er in der unteren Hölle, montags, mittwochs und freitags in der oberen. Aber an Sonn- und Feiertagen darf er sich auf einem einsamen Meeresfelsen erholen: Denn er hatte einige Male im Leben auch Gutes getan. Gemäß der „Vision Adamnans" werden Geistliche, die das Gelübde verletzt haben, sowie alle Betrüger abwechselnd stundenweise zum Himmel erhoben und in die Hölle gestoßen. Den in der Hölle schmachtenden Seelen wird, nach der „Vision Baronts", aus dem Paradies Manna gesandt, das sie täglich in der sechsten Stunde erhalten, und das ihre Kräfte erneuert. Auch im Jenseits herrscht die kirchliche Zeit. Im Paradies zeigen die Vögel durch ihren Gesang die kanonischen Stunden an. Zu Beginn der Messe beginnen die Kerzen von selbst zu brennen. Die Zeit fließt auch im Jenseits Dantes, aber sie ist dort mit der reisenden Person verbunden, sie ist eine „Zeit des Beobachters", keine objektive Zeit der Existenz von Hölle und Fegefeuer. Nicht der Bewohner des Jenseits „mißt das Jahr mit einem irdischen Kalender", sondern der von auswärts kommende Besucher. 46 Im Jenseits der mittelalterlichen Visionen sind dem Gang der kanonischen Zeit beide Welten
45
Siehe:
JURY
LOTMAN,
BORIS
USPENSKIJ,
Mif
-
imja
-
kul'tura, in: Trudy po znakovym sistemam III, Tartu 1 9 7 3 , S. 2 8 8 . 4 6 Purgatorium X V I , 26/27. Zur Schwierigkeit der Verbindung von Zeit und Ewigkeit bei Dante vgl. MICHAIL ANDREEV, Veenost' v „Bozestvennoj komedii", in: Vestnik M G U , filologija, 1 9 7 7 (1).
Persönlichkeit und Zeit in der mittelalterlichen Kunst gleichermaßen untergeordnet. Das Auftauchen Dantes in der Hölle ist ein Ereignis, das ihre Bewohner in Aufregung versetzt, „es bringt in die Unveränderlichkeit des ewigen Schicksals einen kurzen Augenblick historischer Dramatik"/' 7 Dante stellt sich selbst in den Mittelpunkt der Erzählung vom Jenseits. Die Besuche der mittelalterlichen Visionäre finden jedoch keinerlei Widerhall unter den Bewohnern des Jenseits. Unsere Reisenden sind nur fremde Beobachter, passive Zeugen. Es könnte scheinen, als wären in den mittelalterlichen Visionen die Vorstellungen von der irdischen Zeit direkt auf die jenseitige Welt übertragen worden. Dem ist jedoch nicht so. In einer Reise durch das Jenseits umrundeten Teigu und seine Begleiter das irdische Paradies, wie es ihnen schien, innerhalb eines Tages. Es stellte sich jedoch heraus, daß sie ein ganzes Jahr dort verbrachten, ohne auch nur die Zeit zu finden, Hunger und Durst zu verspüren/' 8 Ähnlich erging es Bran, dem Sohn Febals, der mit seinen Begleitern ins irdische Paradies („das Land der Frauen") gelangte, und annahm, ein Jahr dort verbracht zu haben, aber in Wirklichkeit viele Jahre dort war. Das war keine subjektive Zeitempfindung. Als die von Heimweh erfaßten Reisenden zu den Ufern Irlands zurückkehrten und einer von ihnen das Land betrat, zerfiel er sofort zu Staub, „als ob er schon viele hundert Jahre in der Erde gelegen hätte"/' 9 Im Paradies und auf der Erde floß die Zeit unterschiedlich, und was im „Lande der Frauen" ein Jahr war, waren in Irland Jahrhunderte. Offensichtlich besitzt die Zeit hier und dort unterschiedliche Eigenschaften: Auf der Erde führt sie zur Zerstörung aller Dinge, in der Welt der Seligen ist sie unvergänglich. Die Berührung mit der Ewigkeit ändert ihre Natur. Die Besucher des Jenseits sind den Reisenden zu vergleichen, die mit einem Raumschiff in ferne Regionen der Galaxis fliegen: Ihre Zeit verläuft gemäß der Relativitätstheorie anders als auf der Erde. Im „Pantheon" des Gottfried von Viterbo reisen einige Mönche über den Ozean ins Paradies. Dort entspricht ein Tag einem irdischen Jahrhundert. Bei der Heimkehr trafen sie niemanden ihrer Zeitgenossen mehr unter den Lebenden an, die Gesetze hatten sich geändert, die alten Kirchen und Städte waren zerstört. Andere Mönche, denen es geglückt war, das Paradies zu besuchen, baten, 15 Tage bleiben zu dürfen und mußten erstaunt erfahren, daß sie sieben Jahrhunderte in ihm verweilten! Ihnen wurde verheißen, daß ihre Namen in das Buch der Seelen-
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messen eingetragen seien und sie sich deshalb vierzig Tage nach ihrer Rückkehr auf der Erde in Staub verwandeln werden. Und so geschah es.°° Die Jahre des irdischen Lebens können freilich auch mit Jahrhunderten und Jahrtausenden im Jenseits korrelieren. Ein Mensch, dem seine Sünden nicht vor dem Tode vergeben wurden, wählte sich selbst eine Strafe: 2000 Jahre Aufenthalt im Fegefeuer. Einige Zeit nach seinem Tod erschien er dem Bischof und berichtete, daß die Gebete für seine Seele und die vom Bischof gegebenen Almosen die 2000 Jahre Höllenqualen vermindert hätten auf zwei; deshalb sei er jetzt schon von der Hölle befreit. 5 1 Die christliche Religion verspricht die Vergeltung zum Ende aller Zeiten. Das Jüngste Gericht vollzieht sich in der Zukunft. In den literarischen Visionen wird jedoch die Idee des Weltgerichts überlagert von Vorstellungen, die sich auf die Ehrungen und Qualen der Seele nach ihrer Loslösung vom Körper beziehen. Das Buch mit der Aufzählung der Sünden und Verdienste bleibt nicht mit sieben Siegeln verschlossen bis zur Vollendung der Zeiten - es öffnet sich im Augenblick des Todes für jeden Verstorbenen, und um seine Seele entbrennt sofort der Streit zwischen bösen und guten Geistern. Die Vergeltung erwartet den Menschen nicht irgendwann, sondern eben jetzt. Ein Geistlicher, der in Ekstase geraten war, sah sich selbst vor dem göttlichen Gericht. Rechterhand von Christus stand ein Engel mit einer Posaune, der auf Befehl des Herrn schon einmal geblasen hatte. Christus befahl gerade, das zweite Mal den Ruf erschallen zu lassen, als sich die Gottesmutter einmischte, wohlwissend, daß nach dem zweiten Posaunenton die Welt umkommt. Sie rettete die Welt mit ihrer Bitte. 5 2 Christus verurteilte am Tag des Jüngsten Gerichts einen reichen deutschen Bürger zur Hölle, weil er den Armen keine Almosen gegeben hatte. 53 4 7 ERICH AUERBACH, Mimesis. Dargestellte W i r k l i c h k e i t in der abendländischen Literatur, B e r n 1 9 4 6 , S. 2 0 0 . 48
HOWARD
ROLLIN
PATCH,
The
other
World
according
to
description in m e d i e v a l literature, Cambr. Mass 1 9 5 0 , S. 3 8 , 4 3 , 4 7 , 5 8 ff., 9 4 , 1 5 0 . V g l . N a v i g a t i o s. Brendani. Ed. by C A R L SELMER, N o t r e D a m e , I n d . 1 9 5 9 . S . 6 7 . 4 9 St. JOHN D . SEYMOUR, Irish Visions of the London 1 9 3 0 , S. 6 2 ff. 50
51 52 53
PATCH 1 9 5 0 w i e A n m . 4 8 , S . 1 5 9 ,
Orther-World,
166.
Caesarii Heisterbacensis D i a l o g u s M i r a c u l o r u m II, E b e n d a , V I I I , 5. R U D O L F VON SCHLETTSTADT,
Historiae
Memorabiles,
2. Nr.
22.
Hier w i r d auch eine Erzählung über einen sündigen A d l i g e n wiedergegeben, der nachts unterwegs eine Prozession V e r s t o r b e n e r traf, unter denen er sich selbst als bereits verstorben und von G o t t gestraft erblickte! (Nr. 3 4 ) .
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AARON GURJEWITSCH
D i e Rückkehrer aus jener Welt berichteten manchmal von Q u a l e n , die sie im Fegefeuer bzw. in der Hölle erleiden mußten. D e r heilige Furseus entsprang der Hölle mit Verbrennungen am K ö r p e r ; ein anderer Visionär sah seinen zukünftigen Platz in der H ö l l e ; einzelne Sünder erzählten, bevor sie ihren Geist aufgaben, von den Q u a l e n , die ihnen der Teufel zugedacht hat. D a s Jenseits ist räumlich wie zeitlich nahe. Ängste und Hoffnungen übertragen es in die Gegenwart. D a s Jenseits ist in der Zukunft, aber das Zukünftige nimmt real an der Gegenwart teil. G e r a d e die Visionen lassen in einzigartiger Weise diese „verfügbare Z u k u n f t " erleben. D i e lineare Zeit der Theologie fließt ununterbrochen aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft, von der Erschaffung der Welt über die Leiden Christi bis zum Weltuntergang und dem Triumph der höchsten Gerechtigkeit. In den Visionen - und in den Viten der Heiligen, die gleichzeitig beiden Welten und demzufolge zwei Zeitformen angehören - wird die irdische und die jenseitige Zeit in einer einheitlichen Projektion dargeboten, sie existiert in einer seltsam anmutenden Gleichzeitigkeit. D i e s e Denkweise modelliert die Zeit räumlich und stellt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nebeneinander. D a s Modell der Welt ist flach, es ist der zeitlichen T i e f e beraubt. D i e Jahrhunderte, die seit der Schöpfung vergangen sind, sind nicht spürbar. D a s Gedächtnis erstreckt sich höchstens auf einige Generationen, es verliert sich dann in den märchenhaften Überlieferungen, im E p o s und Märchen. E s fehlt auch die Vorstellung von der lang andauernden Z u k u n f t : D e r Weltuntergang steht ja nahe bevor. D i e Idee des Jüngsten Gerichts wird vom Gedanken an die postmortale Vergeltung verdrängt, die sofort auf den T o d des Individuums folgt. D i e Theologen mochten ständig wiederholen, daß das Jüngste Gericht und damit die Vollendung der irdischen Geschichte erst am „ E n d e aller Zeiten" stattfinden wird - dem einfachen Gläubigen fiel es schwer, sich die Vergeltung irgendwo in einer unbestimmten fernen Zukunft vorzustellen. E r orientierte sich im allgemeinen am N a hen, Konkreten, anschaulich Spürbaren. Für ihn folgte das E n d e der Welt unmittelbar auf die eigene Gegenwart. E r verfiel in panischen Schrecken, wenn er daran dachte. In dem Maße, in dem sich das Volksbewußtsein von der offiziellen Eschatologie entfernte, verstärkten sich dessen „personalistische" Züge, die man eher bei der Elite als bei den Massen vermuten sollte. D i e
dogmatische Christenheit beharrte auf der Lehre vom Gericht über die Seelen aller Menschen, die irgendwann einmal gelebt hatten. D i e Visionsliteratur dagegen pflegte den G e d a n k e n vom Gericht über die Seele des einzelnen Menschen, das sofort nach seinem Dahinscheiden zu erwarten ist. D a s Schicksal der Seele des Einzelnen entscheidet sich unabhängig vom Schicksal der Seelen der anderen Menschen. Als ob er aus der Geschichte der Rettung herausgerissen sei, erscheint der Mensch einzeln vor dem obersten Tribunal. Philippe Aries bezog die Idee des individuellen Gerichts über die Seele erst auf das E n d e des Mittelalters, wobei er sie mit dem Zerfall der spezifisch mittelalterlichen Kultur verband. D i e Visionen weisen diese Idee jedoch schon für das 6 . - 8 . Jahrhundert nach. Mit anderen Worten, die Bezogenheit auf die eigene Person war ein untrennbarer Bestandteil der gesamten mittelalterlichen Weltsicht, insbesondere der Vorstellung vom T o d , und nicht erst ein Symptom ihres Zerfalls. Wirft das nicht auch neue Fragen auf für die bildkünstlerische Darstellung der jenseitigen Welt und des T o d e s ? Nach Aries versteht auch Roger Chartier 5 4 die im 15. Jh. entstandenen Bilder des kollektiven Gerichts als Ausdruck einer traditionellen Idee, die zurückgeht auf die Offenbarung des Johannes, während das Motiv eines besonderen Gerichts über die einzelnen Seelen die Geburt einer individualistischen Haltung anzeigt. D i e Quellen der von ihm reproduzierten Stiche jedoch, auf denen sich am Totenbett Engel und Dämonen versammeln, gehen auf B e d a und seine Zeitgenossen zurück! D i e Gleichzeitigkeit der D a r stellung beider Varianten des Gerichtes auf einem Stich - einmal unter Teilnahme der Teufel und Engel, die die Sünden und Verdienste am Totenbett vorweisen, ein andermal unter Teilnahme Christi, des Erzengels, der die Seelen wiegt, und von Engeln und Dämonen, die abwarten, wem von ihnen die Seele zuerkannt wird, - diese Nachbarschaft beider Varianten symbolisiert nicht zwei aufeinanderfolgende E t a p pen der Vorstellung vom postmortalen Schicksal des Menschen, sondern eher die p a r a d o x e Koexistenz der „kleinen" und der „großen" Eschatologie im mittelalterlichen Bewußtsein. D a s Paradoxe, die Vereinigung des Unvereinbaren, das Groteske, sind untrennbare Züge der mittelalterlichen Kultur, und in der
6 4 ROGER CHARTIER, L e s Annales 31, 1976 (1), S. 55.
arts
de
mourir,
1450-1600,
in:
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Persönlichkeit und Zeit in der mittelalterlichen Kunst Darstellung des Jenseits fanden diese Besonderheiten breite Verwirklichung. 5 5 Dazu gehört auch die Behandlung der Natur der Seelen in unserer Literatur, die offensichtlich volkstümlichen Quellen verdankt wird. Die Umhüllung der Seelen der Verstorbenen mit Fleisch, lehrten die Theologen, vollzieht sich zu Beginn des Jüngsten Gerichts. Für die Autoren der mittelalterlichen Visionen aber besaß die Seele neben nichtmateriellen Eigenschaften auch physische. Ich erinnere noch einmal an die Verbrennungen, die Furseus im Jenseits erhalten hatte und die er bis zum Ende seiner Tage trug. Rudolf von Schlettstadt erzählt von Sündern, deren Seelen die Teufel hinwegtrugen. Die Körper ließen sie zu Hause zurück. In der Geschichte von einem Ritter aber, der zur Beichte gekommen war, lesen wir, daß ihm vorhergesagt wurde: „Die Dämonen müssen deinen Körper nehmen und in die Hölle tragen". 5 6 Wie Thomas Cantimpratanus berichtet, drückte jemand, der sich in einer Taverne betrunken hatte, Zweifel daran aus, daß die Seele nach dem Tode des Körpers weiter existiert. Im Scherz verkaufte er seine Seele einem der Anwesenden, und nach Ende des Mahls nahm sie der Teufel - wer auch sonst hätte der Seelenkäufer sein sollen? - mitsamt dem Körper: „denn der, der das Pferd kauft, erhält auch den Zaum!" 5 7 Die Leiden, denen die Sünder in der Hölle unterworfen sind, bezeugen eine materielle, körperliche Beschaffenheit der Seele. Im Jenseits werden die „Körper" der Seelen gequält, man brennt sie, reißt sie mit Zangen, röstet sie auf Herden, frißt sie, kocht sie in Kesseln usw. Sie unterscheiden sich von menschlichen Körpern eigentlich nur durch ihre Unverletzlichkeit: geschmolzen in der Höllenschmiede, von Teufeln gefressen, entsteht die Seele immer wieder neu, zu neuen unendlichen Foltern. Die „Visionen Tnugdals" überliefern ein flammenausstoßendes Ungeheuer mit zwei Beinen und einem Flügelpaar, einem langen Hals, eisernem Schnabel und eisernen Krallen, das in einem zugefrorenen Sumpf sitzt und Seelen von Sündern verschlingt, sie verdaut und als Mist auf das Eis ausscheidet; hier wachsen sie erneut heran, um ebendiese Qualen erneut zu durchleben - eine Szene, die Hieronymus Bosch inspirierte. 58 Der Mensch sah sich am Scheideweg: ein Weg führt zur Seligkeit, der andere in die Hölle. Die Visionen sprechen deshalb nicht eigentlich von der Hölle, sondern vielmehr von den Leiden, die die Seele des Sünders reinigen können und sie zum Übergang in die Seligkeit vorbereiten. Ein großer Teil der Versuchungen,
die die Seelen in der postmortalen Welt erdulden müssen, sind nicht nur Strafe für die Sünden, sondern auch ein Mittel zur Erlösung von der ewigen Verdammnis. Der Begriff des Fegefeuers als eines Teils der postmortalen Welt, der sowohl von der Hölle als auch vom Paradies abgetrennt ist, wurde tatsächlich in den frühen Visionen nicht genannt. Aber in gewissem Sinne nahmen sowohl die Hölle als auch die irdische Welt Funktionen des Fegefeuers wahr. In der Tat ist das Fegefeuer ein Ort, an dem man sich von seinen Sünden reinigt. Aber büßen kann der Mensch auch schon in dieser Welt. Das jenseitige Fegefeuer trägt irdischen Charakter. Die Kirchenbußen trugen in der frühen Periode vorrangig den Charakter körperlicher Leiden: Durch Fasten und Qualen sollte die Seele geläutert werden. Mitunter war die Buße von Folterungen nicht zu unterscheiden, wenn z. B. der Büßer gezwungen war, eine Nacht im Grab gemeinsam mit einer Leiche zu verbringen. Zwischen Hölle und Fegefeuer gibt es oft keine exakten Grenzen. Manche, die ins Jenseits geraten waren, hielten das Fegefeuer für die Hölle und umgekehrt. 59 Neben Hölle und Fegefeuer treten in einzelnen Visionen Orte auf für „weniger Böse" und für „weniger Gute", so daß die Reisenden durcheinander gerieten. Erfüllte nicht der Feuerstrom, den die Seelen auf einer engen Brücke überschreiten müssen, um die Stätten ihrer Erqickung zu erreichen, reinigende Funktion? Später begann man genauer zwischen der Reinigung der Seele des Sünders im Leben - durch die Kirchenbuße - und dem Ausbrennen seiner Sünden in den Flammen des Fegefeuers zu unterscheiden. Gleichzeitig wurde die postmortale Welt stärker von den irdischen Zeitvorstellungen befreit, was den Gegensatz zwischen dem Fegefeuer - als Ort des zeitweiligen Aufenthaltes der Seele - und der Hölle, wo die Qualen der von Gott Verstoßenen kein Ende finden, deutlicher hervortreten ließ. Die bipolare Struktur jener Welt begann, einer Dreiteilung Platz zu machen, wie wir sie bei Dante vollendet vorfinden.
5 5 Ausführlicher darüber siehe: AARON GUREVIC, Problemy srednevekovoj narodnoj kul'tury, Moskva 1 9 8 1 . 5 6 Historiae Memorabiles, Nr. 18, 48. Vgl. Nr. 54. 57
GEORGE
GORDON
COULTON,
Life
in
the
Middle
Ages
I,
Cambr. 1 9 3 0 , S. 1 3 1 . 5 8 H. DOLLMAYR, Hieronymus Bosch und die Darstellung der vier letzten Dinge in der niederländischen Malerei des X V . Jahrhunderts, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses, 1 9 . Bd., Wien 1 8 9 8 , S. 3 4 1 f. 5 9 Dialogus miraculorum XII, 23, 24.
104
A A R O N GURJEWITSCH
Direkte Verbindungen zwischen der Idee des Fegefeuers und den Fortschritten in der sozialen Struktur der Gesellschaft, wie sie einige französische Forscher behaupten, sehe ich jedoch nicht. Kehren wir noch einmal zur Gegenüberstellung der Jenseitsauffassung in der mittelalterlichen darstellenden Kunst und der Visionsliteratur zurück. Der Aufeinanderfolge der Szenen des Jüngsten Gerichts in der Interpretation der Bildhauer bzw. ihrer Auftraggeber steht die fast einhellige Ignorierung der Eschatologie in den mittelalterlichen Reisebeschreibungen durch das Jenseits gegenüber. Das Gericht über die Sünder und das Erreichen der Seligkeit durch die Gerechten ist dort in die Gegenwart übertragen, genauer, Gegenwart und Zukunft verschmelzen zu einer mythologischen Ebene. Aber offensichtlich empfanden die mittelalterlichen Menschen diesen Unterschied nicht so deutlich. Das Abgehen der Autoren der Visionen vom theologischen Kanon wäre sonst als nicht zulässig, wenn nicht gar als häretisch angesehen worden. Die Kirche war davon nicht beunruhigt, wie sie auch die Verkörperlichung der Seelen in der Visionsliteratur nicht untersagte. Die Pfarrkinder dürften den an den Portalen der Kirchen abgebildeten Text vom Jüngsten Gericht eher synchronisch als diachronisch gelesen haben. Die visuelle Kunst orientiert ihrer Natur gemäß auf die Vereinigung unterschiedlicher Szenen in einem simultanen Bild. Die Gläubigen, die von Besuchen im Jenseits gehört hatten, von Reisen durch die Hölle und das Paradies, übertrugen zweifellos ihre dort gewonnenen Vorstellungen auch auf das an den Tympana Dargestellte. Auch die Messe orientierte sie auf eine solche Sicht der sakralen Geschichte.
Das Volksbewußtsein, das für die „große" Eschatologie nur geringfügig empfänglich war, verlegte in die Gegenwart, in die Zeit des Lebens eines jeden Menschen den gesamten Inhalt der Geschichte. Es verband den Augenblick mit der Ewigkeit. Es wechselte ohne Schwierigkeiten aus der Welt der Lebenden in das Reich der Toten und zurück, und es versah die Seelen auf groteske Art mit materiellen Eigenschaften. Der Mensch empfand sich gleichzeitig in zwei Zeitebenen - in der Ebene des vergänglichen individuellen Lebens und in der Ebene der das Schicksal der Welt entscheidenden Ereignisse. Das waren die Erschaffung der Welt, die Leiden Christi, die Wiederkehr Christi und das Weltende. Das flüchtige und nichtige Leben eines jeden fügte sich in das welthistorische Drama ein und erhielt dadurch einen neuen, höheren und unvergänglichen Sinn. Die Dualität der Zeitauffassung ist eine integrierende Eigenschaft des Bewußtseins des mittelalterlichen Menschen. Er lebte niemals allein nur in der irdischen Zeit, sondern immer zugleich auch in jener anderen. Er konnte sich nicht aus seiner inneren Bindung an die Heilsgeschichte der Kirche lösen. Diese Bindung war die Grundlage seiner Persönlichkeit, weil die Rettung seiner Seele davon abhing. 60 Die eschatologischen Szenen, die auf den Westportalen der Kirchen des 12.-13. Jahrhunderts dargestellt sind, und die Szenen, die die Jenseitswanderer erzählten, verkörpern die geistige Situation der menschlichen Persönlichkeit in der zweischichtigen Welt der mittelalterlichen Kultur. 6 0 Siehe: AARON GURJEWITSCH, D a s Weltbild des mittelalterlichen Menschen, Dresden 1 9 7 8 , S. 1 6 7 .
Spezifische Züge der böhmischen Kunst im 12. Jahrhundert V o n ANEZKA MERHAUTOVÄ u n d D U S A N
Die Frage nach den spezifischen Zügen romanischer Kunst dieses oder jenes Gebietes wurde längst schon gestellt, und diese einzelnen Züge nach Kennzeichen der Form bestimmt. Es fällt nicht leicht, sie an der bömischen Kunst des 12. Jahrhunderts zu definieren. Der böhmische Staat betrat das Feld der bildenden Kunst zu einer Zeit, als andere Länder längst eine Kunsttradition besaßen. Aus politischen Gründen überwog bis zur Gründung des Prager Bistums um 973 die Tradition großmährischer Kunst. Erst danach, im Laufe des 11. Jahrhunderts, gab es Impulse aus dem deutschen Bereich, gleichzeitig dauerte jedoch der großmährische Einfluß an. Seit dem 12. Jahrhundert beteiligte sich dann auch Böhmen aktiv an der Entwicklung der Kunst. Dies kann man vor allem an den Werken der Architektur verfolgen, deren Anzahl sich damals rasch vergrößerte - parallel zu der sich ausbreitenden Besiedlung, der Ankunft neuer Mönchsorden usw. - und die im Unterschied zu denen anderer Kunstzweige besser erhalten sind. So findet man erst im 12. Jahrhundert in der heimischen Kunst einige spezifische Züge, wie z. B. die Bereicherung der Rundkirche um einen Westturm mit Empore, die große Verbreitung einschiffiger Saalkirchen mit Westturm, Empore und Ostapsis, die Fortdauer der Herrscherkirche mit Empore in verschiedenen Ausformungen, und zwar bis zum Ende der romanischen Periode, sowie auch der Rotunde mit oder ohne Turm. Die europäische Entwicklung wurde dadurch nicht beeinflußt. Damit ist jedoch erst eine Komponente der böhmischen Kultur des frühen Mittelalters benannt, jene, die vom Christentum und der Kirche bestimmt ist. Sie war jedoch für das Gesamtgepräge der böhmischen Kultur eigentlich nicht typisch. 1 Die dienende und ausgesprochen instrumentale Stellung der Kirche im premyslidischen Staate des 10. und 11. Jahrhunderts 2 spiegelt sich darin wider. Die christliche Komponente gehörte zu einer fremden Kultur nicht nur ihrer spätantiken Herkunft nach, sondern auch mit Rücksicht auf deren Träger. Die böhmische Landes-
TRESTIK
kirche befand sich im 10. und 11. Jahrhundert vorwiegend in Händen der Fremden, der „hoste" (Gäste) mit Tonsur. Erst am Ende des 11. und im Laufe des 12. Jahrhunderts vergrößerte sich die Zahl eingeborener Böhmen (Tschechen), die bedeutendere Benefizien im Lande innehatten. Schon in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts begannen einige tschechische Priesterfamilien ihre Söhne zu Studien ins Ausland zu schicken, und im Laufe des 12. Jahrhunderts wurde das zur Regel 3 , freilich zunächst beschränkt auf den Kreis der höheren Laienpriester an den bischöflichen Kapiteln von Prag und Olmütz. Dieser Brauch ist dann auch an zahlreichen kleineren Kapiteln nachweisbar, die seit dem 11. Jahrhundert an einigen zentralen Burgkirchen entstanden. Neben diesen böhmischen Laienpriestern bildete sich eine durch Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen verbundene, eigenständige soziale Gruppe heraus. Sie lebte im engen Kontakt mit der herrschenden Schicht, vor allem dem Hof. Ihre Lebenserfahrungen, die in der einheimischen Kultur tief verwurzelt waren und mit den Zielen und Sehnsüchten der gesamten Gesellschaft harmonierten, übersetzte sie in den Begriffs- und Symbolapparat der lateinischen Buchbildung; sie formulierte darin ihre eigenen Probleme und legte sie ihren Zuhörern dar. Auf diese Weise entstand ein ganzer Komplex von Vorstellungen über Staat und Nation, eine für diese Zeit sehr fortgeschrittene Staatsideologie. Sie fand in der Kunst ihre Widerspiegelung, und zwar mit einer solchen Intensität, daß davon deren Gedankengehalt weitgehend
1
D a z u u n d z u m f o l g e n d e n v g l . A . MERHAUTOVÄ / D . TRESTIK,
Frühmittelalterliche oder romanische Kunst in Böhmen? In: Uméni 27, 1 9 7 9 , S. 5 1 5 - 5 3 3 , bes. S. 5 2 2 ff. 2 Am besten darüber immer noch F. HRUBY, Cirkevni zrizeni v Cechäch a na Morave a jeho pomér ke stätu, in: Cesky casopis historicky 22, 1 9 1 6 , S. 1 7 - 5 3 , 2 5 7 - 2 8 7 , 3 8 5 - 4 2 1 ; 23, 1 9 1 7 , S. 3 8 - 7 3 . 3
W.
WATTENBACH/R.
HOLTZMANN, D e u t s c h l a n d s
Geschichts-
quellen im Mittelalter, Bd. II (Neuausgabe von F.-J. SCHMALE), Weimar 1 9 6 7 , S. 720.
106
ANEZKA MERHAUTOVÄ / D U S A N TRESTIK
bestimmt wurde. Ein Lütticher Lehrer des Kosmas, Meister Franco, befaßte sich mit dem Problem der Quadratur des Kreises. Sein böhmischer Schüler war jedoch vor allem damit beschäftigt, seinem Volke zu sagen, was er sei, woher er komme und was er beabsichtige. Das gleiche Anliegen hatten auch seine Freunde und Verwandten. Die böhmische Komponente setzte sich mehr im Inhalt als in der Form der Kunstwerke durch, was im folgenden mit Hilfe der einheimischen Version der Vorstellung von der Civitas dei, der St. Wenzelsikonographie und der Darstellung konkreter historischer Ereignisse illustriert werden soll.
I. „Boemenses" in der Civitas dei Irgendwann gegen Ende der Regierungszeit des zweiten böhmischen Königs, Viadislaus II. (um 1170), wurde - wahrscheinlich in Prag - Augustinus' De civitate dei abgeschrieben 4 . Auf ihrem Titelblatt ist die Handschrift durch ein ganzseitiges Bild der Himmlischen Stadt geschmückt. Unter deren Bürger werden auch „Boemenses" aufgenommen. Das ist vielleicht innerhalb der romanischen Ikonographie die erste Darstellung eines Volkes 5 . Wir werden im folgenden am Beispiel dieser Darstellung die Situation des böhmischen Denkens im 12. Jahrhundert zu charakterisieren versuchen, vor allem hinsichtlich der Problematik der Nation. Unser Bild gehört zu den wenigen Darstellungen von Augustinus' Gottesstadt, obwohl die Thematik der Himmelsstädt insbesondere des Himmlischen Jerusalem, sonst weit verbreitet war 6 . Es unterliegt keinem Zweifel, daß das Bild die Civitas dei des Augustinus darstellen soll und nicht etwa das Himmlische Jerusalem, das einer anderen ikonographischen Tradition angehört. Freilich hat Augustinus selbst die Civitas dei mit dem Himmlischen Jerusalem verglichen 7 . Obwohl das Bild bereits den augustinischen Text interpretiert - bestimmt durch die ideelle und soziale Lage Europas im 12. Jahrhundert im allgemeinen und Böhmens im besonderen - gehen wir bei unserer Betrachtung direkt von dem Text aus, der zu illustrieren war. Fragen, wie Augustinus selbst seine Gottesstadt (mit dem Gegenpol „Teufelsstadt") verstand, in welchem Verhältnis sich dazu die „Erdenstadt" befand und wie sich diese Konstruktionen auf die aktuelle Kirche und den Staat bezogen, sind noch immer nicht eindeutig beantwortet. 8
Für uns ist vor allem wichtig, daß das Mittelalter in der Civitas dei des Augustinus anfangs das Ideal des „theokratischen" Christenstaates erblickte, welcher auf Erden im Rahmen des konkreten „Imperium christianum" verwirklicht werden sollte. Kaisertum und Papsttum hatten an ihm in gleicher Weise Anteil 9 . Bereits Konstantins Hofbischof Eusebius von Caesarea verstand die Kirche - die Gemeinschaft der Gläubigen - als „Gottes Volk" (ethnos christianon, gens Christianorum) und indentifizierte das christliche römische Imperium mit dem Reich dieser christlichen Nation. Ihm zufolge war es kein Zufall, daß Christus zur Zeit des Augustus geboren war: Mit Christus begann das im 20. Kapitel der Apokalypse verkündete tausendjährige Reich, dessen Ende mit dem Jüngsten Gericht zusammenfiel. Es lag auf der Hand, auch dem Imperium eine bestimmte Funktion zuzuschreiben. Diese Funktion, die in Erlösung oder Verdammnis einmündet, übertrug dem Kaiser - wenn er es wünschte - die Herrschaft über Christenheit und Kirche.10 Diese Gedanken wurden jedoch erschüttert, als im Jahre 410 Alarichs hungernde Goten leicht und ohne Schwierigkeiten das weltbeherrschende Rom plünderten. Der Schock traf ebenso die traditionellen „Heiden", die die Schuld an der Katastrophe den Christen zuschieben wollten, da diese sich an den Schutzgöttern des Imperiums vergangen hatten, wie die Christen, die zwangsläufig die Verknüpfung des Imperiums mit dem Christentum bezweifeln mußten. Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Ge-
'' Zur Literatur und Datierung s. Anm. 1 2 1 . 5 z. B. J. KV£T, in: Praha romanskä (Osmera knih o Praze dil druhy), Praha 1 9 4 8 , S. 1 7 6 . 6 J. SAUER, Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Auffassung des Mittelalters, 2. Aufl., Freiburg i. Br. 1 9 2 4 ; L. KITSCHELT, Die frühchristliche Basilika als Darstellung des himmlischen Jerusalem, München 1 9 3 8 . 7 z.B. D e civ. dei. XIX, S. 1 1 (Migne PL 4 1 , col. 6 3 7 ) : „Nam et ipsius civitatis mysticum nomen, id est Jerusalem . . . visio pacis interpretatur". 8 Vielleicht die beste neuere Übersicht der immensen Literatur bietet R. LORENZ, in: Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 1. Lief. C l , Güttingen 1 9 7 0 , S. 5 4 ff. 9 Ebenda, S. 75 ff. Einflußreich w a r seinerzeit E. BERNIIEIM, Mittelalterliche Zeitanschauungen in ihrem Einfluß auf Politik und Geschichtsschreibung I, Tübingen 1 9 1 8 . Den Begriff des „politischen Augustinismus" prägte H. X. ARQUILI£RE, L'augustinisme politique, 2. Aufl., Paris 1 9 5 5 ; vgl. Ders., L'essence de l'augustinisme politique, in: Augustinus Magister II, Paris 1 9 5 4 , S. 9 9 9 - 1 0 0 1 . 1 0 TH. E. MOMMSEN, Saint Augustine and the Christian Idea of Progress. The Background of the „City of God", in: Ders., Medieval and Renaissance Studies, Ithaca N Y 1 9 5 9 , S. 2 6 5 298, bes. S. 2 8 1 f.
Spezifische Züge der böhmischen Kunst schehens sollten Augustinus' 22 Bücher über die Stadt Gottes geben. D i e Metapher selbst wurzelte in einer älteren biblischen Tradition. Es kann jedoch kaum bezweifelt werden, daß Augustinus vor allem die Ewige Stadt und das Imperium vor Augen hatte. Er war zwar nicht geneigt, dem weltlichen Reich eine Rolle in der Erlösung zuzuschreiben, die „theokratische" Auffasung vom Verhältnis zwischen Staat und Kirche lag ihm fern und ebenso fern erschien ihm die Vorstellung eines einheitlichen „Gottesvolkes". Er unterschied, wie immer, radikal. Seiner manichäischen Vergangenheit treu, stellte er zwei Städte als potentielle Varianten gegeneinander, die sich verwirklichten, ohne sich jedoch vor dem jüngsten Gericht auch schon voll realisieren zu können und ohne d a ß es klar sein könnte, wer in die Gottesstadt und wer in die des Teufels gehört. D i e Christen, für Eusebius das Volk Gottes, sind zugleich Bürger der göttlichen oder der teuflischen Stadt; deren Gemeinschaft ist die „civitas permixta" 1 1 . Es existieren zwei Gemeinschaften, die civitas dei und die civitas diaboli, und der Ort wo sie sich treffen ist das „saeculum". Es ist — wie jede menschliche Schöpfung - ein Gemisch von G u t und Böse 12 , in ihm kann nie ein auserwähltes „Volk Gottes" existieren. Es kann dort auch keine Gemeinschaft zwischen Staat und „Gottesstadt" bestehen, denn „solange die Stadt Gottes an der Seite der irdischen Stadt gleichsam das Gefangenenleben der Pilgerschaft führt . . ., fügt sie sich unbedenklich den Gesetzen der irdischen Stadt, wodurch das für die Erhaltung des irdischen Lebens Zweckmäßige geregelt wird. D a n n besteht Eintracht zwischen beiden Städten in den Dingen, die zum Bereich des vergänglichen Lebens gehören. 13 Hinsichtlich der Unsterblichkeit fällt der „irdischen Stadt" keine besondere Aufgabe zu. Die „civitas terrena" nimmt Augustinus als „universale vocabulum" für verschiedene „regna terrarum", in die die Gesellschaft aus Begierde zerfällt 1 4 . D i e menschliche Gesellschaft ist jedoch auch in viele Völker geteilt, unterschieden durch Sprache, Sitten und Bräuche 15 . Diese „varietas gentium" ist letzten Endes die Folge der Erbsünde und Strafe für die Überheblichkeit der Erbauer des Babylonischen Turmes, 1 6 so d a ß heute der Mensch lieber mit seinem H u n d als mit einem Fremden lebt. Rom versuchte zwar den unterworfenen Völkern seine Sprache aufzuzwingen, doch dadurch verstieß es nicht gegen Gottes Ratschluß, es kostete nur viel Blut und Gemetzel. 1 7 „Was liegt schon daran, unter welcher Regierung der sterbliche Mensch lebt?" 1 8 , fragte Augustinus im-
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mer wieder, doch seine Leser schienen es nicht zur Kenntnis zu nehmen. Bereits sein Schüler und Freund Orosius 1 9 kehrte in seiner „Historia gegen die Heiden" zu Eusebius' „politischer Theologie" zurück. Unter anderem führte er namentlich die Parallele zwischen Christus und Augustus aus, zwischen der „pax Augusti" und dem Königreich Christi. 20 D i e politische Theologie des Imperius lebte fort - die Frage allerdings ist, in welchem Maße. Die ältere Literatur nahm an, d a ß eben auf diesem Erbe der universelle Charakter des mittelalterlichen Kaisertums Karls des Großen und der deutschen Kaiser aufgebaut wurde. Kaisertum und Papsttum wurden als Kräfte, welche die „Einheit des Abendlandes" garantierten, als all-
11 D e civ. dei I, S. 35 (Migne P h 4 1 , col. 46) : „sicut ex iliorum numero etiam D e i civitas habet secum, quamdiu peregrinatur in mundo, connexos communione sacramentorum, nec secum futuros in aeterna sorte sanctorum, qui partim in occulto, partim in aperto sunt. . . Perplexae sunt istae duae civitates in hoc saeculo, invicemque permixtae, donec ultimo juditio dirimatur . . ." 12 Vgl. dazu H. J. MARROU, Civitas Dei, civitas terrena: num tertium quid? In: Studia Patristica II, Berlin 1957, S. 3 4 2 350. 13 D e civ. dei XIX, S. 17 (Migne PL 41, col. 645) : „Ac per hoc dum apud terrenam civitatem, velut captivam vitam suae peregrinationis agit. . . legibus terrenae civitatis, quibus haec administratur, quae sustentandae mortali vitae accomodata sunt, obtemperare non dubiat; ut quoniam communis est ipsa mortalitas, servetur in rebus ad earn pertinentibus inter civitatem utramque concordia". Diese strenge Position vermochte aber Augustin selbst nicht zu halten, er billigte die Zwangsgewalt des Staates gegen Häretiker und Heiden und öffnete damit wieder die Tür für den theokratischen Amtsgedanken der abendländischen Kirche des Mittelalters. Vgl. B. LOHSE, Augustins Wandel in seiner Beurteilung des Staates, in: Studia Patristica VI, Berlin 1962, S. 4 4 7 - 4 7 5 . 14
D e civ. dei XVIII, 2 (Migne PL 41, col. 5 6 0 ) : inter plurima regna terrarum, in quae terrenae utilitatis vel cupiditatis est divisa societas, quam civitatem mundi huius universali vocabulo nuneupamus. . ." 15 D e civ. dei XIX, 1 (Migne PL 41, col. 4 0 3 ) : „Ac per hoc (durch die Sünde Adams) factum est, ut cum tot tantaeque gentes per terrarum orbem diversis ritibus moribusque viventes, multiplier linguarum, armorum, vestium sint varietate distinetae, non tarnen amplius quam duo quaedam genera humanae societatis existerent, quas civitates duas secundum scripturas nostras merito appellare possimus." 16 Dazu A. BORST, Der Turmbau von Babel II, 1, Stuttgart 1958, S. 401 f. 17 D e civ. dei XIX, S. 7 (Migne PL 41, col. 6 3 3 - 6 3 4 ) . 18 D e civ. dei V, S. 17 (Migne PL 41, col. 160): „ . . . quid interest sub cuius imperio vivat homo moriturus . . ." 19
TH. E .
MOMMSEN, O r o s i u s
and
Augustine,
in:
MOMMSEN
1959 wie Anm. 10, S. 3 2 5 - 3 4 8 . 20 TH. E. MOMMSEN, Apolonius and Orosius on the significance of Epiphany, in: MOMMSEN 1959 wie Anm. 10, S. 2 9 9 - 3 2 4 ; I. OPPELT, Augustustheologie und Augustustypologie, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 4, 1961, S. 4 4 - 5 7 .
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ANEZKA MERHAUTOVÄ / D U S A N TRESTIK
gemein anerkannte Autoritäten, als gültig für die gesamte lateinische Christenwelt angesehen. 21 Erst in letzter Zeit zeigte sich, daß diese Vorstellung, die vor allem die deutschen Historiker vertreten haben, korrigiert werden muß. In Wirklichkeit setzte sich der „orbis christianus" aus einer Reihe starker Staaten zusammen, deren Herrscher ihr eigenes „imperium christianum" schon lange innerhalb ihrer Landesgrenzen durchgesetzt hatten, bevor die Maxime aufkam: „rex est imperator in regno suo" 22 . Hierzu führte schon die Christianisierung des königlichen „Amtes", die dem Herrscher Verantwortung für das Heil seiner Untertanen auferlegte. Im Unterschied zum Weltbild konstantinischer Theologen galt nicht mehr der Grundgedanke, daß die Welt einen Gott und einen Kaiser haben soll und daß der Herrscher vor dem Weltenrichter verantwortlich sei für die Erlösung seiner Untertanen. Von Zeit zu Zeit tauchten allerdings die Gedanken der „Reichsmetaphysik" auch in der politischen Ideologie des Reiches auf. So wurde z. B. im bekannten Evangeliar Ottos III. - in direkter Anknüpfung an Orosius - Otto als neuer Augustus präsentiert, als Friedenskaiser, dem die Provinzen huldigen. Sclavinia, die unter ihnen erscheint, erinnert an die Gewinnung des Ostens, jenes Ostens der im Jahre 29 durch Augustus erworben worden war, dessen Triumph Orosius mit der Epiphanie Christi am 6. Januar in Parallele setzte 23 . Im Jahre 1146 versuchte Otto von Freising in seinem großen historisch-theologischen Werk, die mystische, eschatologische Verknüpfung der Kirche und des Kaisertums zu verteidigen. 2/4 Sonderbarerweise tat er das unter dem Titel der Civitas dei des Augustinus. Seine „Historia de duabus civitatibus" stützte sich aber auf Orosius und auf die Tradition der konstantinischen Reichstheologie, die sich mit der augustinischen Auffassung des Imperiums nicht vertrug. Die Reichstheologie gründete sich letzten Endes auf die monistische platonische Ontologie, die behauptete,daß Gott nur Vollkommenes schaffen kann, weil er selbst die Vollkommenheit ist. Dies ermöglichte die irdische und göttliche Herrschaft in Parallele zu setzen und die Geschichte als allmähliche Verwirklichung des großen Gottesplanes, der in die Erlösung aller Menschen einmündet, zu betrachten. 25 In den letzten Folgerungen führte dies zur Verneinung der Erbsünde. Augustinus hatte freilich seine Prädestinationslehre auf der Erbsünde aufgebaut, die ein Akt des freien Willens war und die Natur des Menschen auf die Dauer durch das Böse korrumpierte. 26 Diese Welt
war daher unvollkommen, wiewohl sie durch einen vollkommenen Schöpfer geschaffen wurde. Für Otto von Freising war - seinem Pessimismus zum Trotz - diese Welt des Heils und daher auch der Vollkommenheit möglich in der Gestalt des christlichen Romanum imperium, welches mit Christi Geburt geboren wurde 2 7 und dessen Bürger Christus war. 2 8 Dieses Imperium wurde den Franken übertragen und zuletzt den „Theutonici". 29 Der Freisinger Bischof wollte dem desakralisierten Kaisertum seinen Platz in der göttlichen Heilsordnung zurückgeben, 30 andererseits entstand seine Lehre zu einer Zeit, in der die Stauferpolitik auf die Idee des hegemonialen „heiligen" Kaisertums hinzuarbeiten begann. 31 Die theologischen Erwägungen Ottos waren selbstverständlich keine Staatspropaganda 32 , sie stimmten jedoch mit den Bestrebungen der ersten Staufer überein. Er war bestrebt, sich universal zu orientieren, wie J. Spörl zu Recht bemerkt hatte, „ohne zu merken, daß er universal im deutschen Sinne denkt". 3 3 Indem also um das Jahr 1170 ein unbekannter Kleriker in Böhmen in die Gottesstadt des Augustinus die „Boemenses" einfügte, das böhmische (tschechische) Volk, handelte er genau wie Otto von Freising.
2 1 V g l . z. B . K . BOSL, i n : B . GEBHARDT, Handbuch der deutschen Geschichte, 3. A u f l . , Stuttgart 1 9 5 4 , S. 6 7 8 . 22 K. F. WERNER, D a s hochmittelalterliche Imperium im politischen B e w u ß t s e i n Frankreichs ( 1 0 . - 1 2 . J a h r h u n d e r t ) , i n : H Z 2 0 0 , 1 9 6 5 , S. 1 - 6 0 , hier S. 1 8 f. 2 3 K . HOFFMANN, D a s Herrscherbild im „ E v a n g e l i a r Ottos III." (clm 4 4 5 3 ) , i n : Frühmittelalterliche Studien 7, 1 9 7 2 , S. 3 2 4 3 4 1 . A n diese G e d a n k e n hatte schon L e o III. mit seinem
P r o g r a m m der M o s a i k e n der A u l a L e o n i n a im L a t e r a n angek n ü p f t . V g l . C . DAVIS-WEYER, Eine patristischc A p o l o g i e des Imperiums R o m a n u m und die M o s a i k e n der A u l a L e o n i n a , i n : Munuscula diseipulorum. Kunsthistorische Studien H. K a u f m a n n zum 7 0 . G e b u r t s t a g , Berlin 1 9 6 8 , S. 7 1 - 8 3 . 2 4 Übersicht der Literatur bietet W . LAMMERS in der Einleitung zu seiner A u s g a b e der C h r o n i k ( A u s g e w ä h l t e Q u e l l e n zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Bd. X I , Berlin 1 9 6 0 , S. LXIII
ff.).
F . G . MAIER, Augustin und das antike R o m ( = T ü b i n g e r B e i t r ä g e zur A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t 3 9 ) , Stuttgart 1 9 5 5 . 25
2(5 G . NYGREN, D a s Prädestinationsproblem Augustinus, L u n d 1 9 5 6 . 27
LAMMERS
1960
28
LAMMERS
1960
wie
wie
Anm. 24,
Anm. 24,
III, S. 6 ,
III,
S.
29
LAMMERS
1960
wie
Anm. 24,
VI,
in der
Theologie
4-5.
S. 2 4 ,
226. 468.
D a s betont mit Recht O . BRUNNER, A b e n d l ä n d i s c h e s G e schichtsdenken, i n : Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter ( = W e g e d e r Forschung 2 1 ) , D a r m s t a d t 1 9 6 1 , S. 4 4 8 . 3 1 G . KOCH, A u f dem W e g e zum Sacrum Imperium ( = Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 2 0 ) , Berlin 1 9 7 2 . 3 2 E b e n d a , S. 1 6 6 f. 33 J. SPÖRL, G r u n d f o r m e n hochmittelalterlicher Geschichtsanschauung, D a r m s t a d t 1 9 6 8 , S . 4 5 . 30
Spezifische Züge der böhmischen Kunst Nach Augustinus gab es kein einzelnes Volk und überhaupt kein Volk als solches in der Stadt Gottes. Die Grenze zwischen der Stadt Gottes und der des Teufels ging quer durch die Völker und Staaten. Derjenige, der unser Bild bestellte und dessen Plan entwarf, 3 4 war sich jedoch dieses Widerspruchs nicht bewußt. Seine Vorstellungen von der „Universalität" der Gottesstadt unterschieden sich gänzlich von denen des Augustinus und denen Ottos. Welchen Sinn gab der Autor seinem Plan? W i r befragen vor allem die Inschriften, die einzelne Komponenten des Bildes kommentieren und sicherlich auch in Beziehung stehen zu dem das Bild illustrierenden Text. Die Gesamtcharakteristik des Textes erhellt aus der Inschrift: „Hec urbs ex vivis constat constructa lapillis". Sie knüpft an die 1. Epistel Petri 2,5 an, wo die Christen mit lebendigen Steinen verglichen werden, von denen das Haus Gottes, d. h. die Kirche erbaut ist.3r> Die Christen werden da ferner für ein neues Volk erklärt, das früher „kein Volk war", für „genus electum, regale sacerdotium, gens sancta, populus acquisitionis". 36 Augustinus berührt diese Metapher nur am Rande im 18. Buch seines Werkes über die Voraussagen der Ankunft Christi. Er beweist hier, daß dieses Haus Gottes, bestehend aus lebenden Steinen, kein neuer Tempel Salomons der Juden sein wird, sondern daß es die zeitgenössische Kirche ist, auf welche die Juden als auserwähltes Volk keinen Anspruch erheben können. 37 Das neue Gotteshaus ist nämlich erbaut aus lebendigen Steinen, die aus allen Völkern erkoren sind 38 und nicht aus einem einzigen. Augustinus tat dies zweifellos in Opposition zu der These der Reichstheologie von einem einzigen christlichen Volke und Imperium. Der Autor unseres Bildes teilte jedoch wohl kaum diese Meinung, er hielt sich vielmehr an den biblischen Originaltext. Für ihn wurde wohl die Vorstellung von dem erwählten Volke wichtig, aus dessen lebendigen Steinen die Stadt Gottes erbaut wird. Die andere, untere Inschrift steht in keinem direkten Zusammenhang mit den augustinischen Text, sie deutet lediglich allgemein das andere Hauptthema des Bildes an. Die Worte „Hic sunt tranquille sedes ex(!) gaudia mille" bedeuten, daß jene friedlichen Sitze des Gottesvolkes, in denen tausende Freuden walten, die augustinische Stadt Gottes im ungemischten, reinen Zustand darstellen, in dem Zustand, der nach dem Jüngsten Gericht eintreten wird, wo das Volk Gottes die erwartete Belohnung erhält, die vor allem in unendlicher Kontemplation bestehen wird. Die Thema-
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tik des oberen Bildteiles konzentriert sich tatsächlich auf den Gedanken der Gottesschau von „Antlitz zu Antlitz." Dies betont die von Engeln getragene Inschrift über die Freuden der Gottesschau: „Celicolam trinum dominum delectat et unum ad faciem facie contemplare sine fine" und namentlich die Patriarchenfigur Jakobs mit Inschrift "Video dominum facie ad faciem". Jakob war der Urvater Israels. Gott prophezeite ihm in der bekannten Vision, daß seine Nachkommenschaft zum auserwählten Volke Gottes wird 3 9 . Augustinus vermerkt dazu, daß Jakob mit anderem Namen auch Israel hieß. Daher nannte man seine Nachkommenschaft die Israeliten. „Israel" bedeutet jedoch „der den Gott sehende", und diese Gottesschau wird Augustinus zufolge „am Ende zur Belohnung aller Heiligen", 4 0 also der rechten Israeliten als des auserwählten Volkes Gottes. Eben aus diesem Grunde stellte der Autor unseres Bildes Jakob auf Gottes rechte Seite. Die Formel von „Antlitz zu Antlitz" ist ein Zitat aus 1. Cor. 13, 12. Unser Autor entnahm sie jedoch dem 22. Buche des Augustinus, das von der Belohnung der Gläubigen handelt. 4 1 An die linke Seite Gottes stellte er die Weisheit, wiederum ganz in Augustinus' Sinn. Augustinus unterschied nämlich streng zwischen „scientia" und „sapientia", wobei allein die sapientia ermöglicht, Gottes Ideen durch Kontemplation zu begreifen, während die „scientia" lediglich die irdischen Dinge zu erkennen erlaubt. 42 In der Inschrift heißt es, daß die sapientia „in altissimis habitat". Die Gottesschau ist allerdings allein der Lohn des Glaubens. Augustinus behielt immer den Standpunkt 3 4 Der Maler war sicher nicht mit dem Besteller des Bildes identisch, der auch den ganzen Plan entwarf und die Texte der Spruchbänder bestimmte. 3 a I. Petr. 2, 4 - 5 : „Ad quem accedentes lapidem vivum, ab hominibus quidem reprobatum, a Deo autem electum et honorificatum, et ipsi tanquam lapides vivi superaedificamini, domus spiritualis, sacerdotium sanctum, offerte spirituales hostias, acceptabiles Deo per Jesum Christum." 3 6 I. Petr. 2, 9 - 1 0 : „Vos autem genus electum, regale sacerdotium, genus sancta, populus aequisitionis, ut virtutes annuntietis ejus qui de tenebris vos vocavit in admirabile lumen suum: qui aliquando non populus, nunc autem populus Dei." 3 7 De civ. dei XVIII, S. 47 (Migne PL 4 1 , col. 6 0 9 - 6 1 0 ) . 3 8 D e civ. dei XVIII, S. 48 (Migne PL 4 1 , col. 6 1 0 - 6 1 1 ) . 3 9 Gen. 28, 1 0 - 2 2 . 4 0 D e civ. dei XVI, S. 39 (Migne PL 4 1 , col. 5 1 8 ) : „Interpretatur autem Israel videns Deum: quod erit in fine praemium omnium sanctorum". 4 1 D e civ. dei XXII, S. 29 (Migne PL 4 1 , col. 7 9 6 - 8 0 1 ) . 4 2 Dazu E. GILSON, Introduction à l'étude de saint Augustin (ich benutzte die polnische Übersetzung: Wprowadzenie do nauki swiçtego Augustyna, Warszawa 1 9 5 3 , S. 1 5 3 ff.).
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A N E L K A MERHAUTOVA / D U S A N TRESTIK
bei, daß kein Volk, kein Staat im voraus zu dieser Belohnung auserwählt ist. Für den böhmischen Autor jedoch war dieser Gedanke des auserwählten Volks - der rechten, durch Jakob repräsentierten Israeliten - offenbar der Zentralgedanke des Bildes. In seine Gottesstadt stellte er außer dem dreieinigen Gott und den Engeln vor allem Heilige, hierarchisch geordnet nach mittelalterlichen Vorstellungen (die Augustinus noch fremd waren): Apostel, Propheten weltlichen und geistlichen Standes, Bekenner (darunter neben Bischöfen auch einen Laien) und heilige Jungfrauen nach der fehlenden Kopfbedeckung unverheiratete Frauen. Die Apostel und die Propheten tragen eine Inschrift, die sich abermals auf die Belohnung für den Glauben bezieht, die in der Kontemplation Gottes besteht: „Quod non audivit auris nec vidit ocellus id factor nobis tribuit pius atque redemptor". Dasselbe besagt die Inschrift bei den „virgines": „Quod credendo prius audivimus, ecce videmus." Lediglich die Bekenner werden durch den Gedanken vom ihnen anvertrauten Geld 4 3 charakterisiert: „Hi sibi conmissa reddunt duplicata talenta." Das ganze Bild stellt somit die Civitas dei in ihrem reinen, unvermischten Zustand nach dem Jüngsten Gericht, den Augustinus kurz als „redempta civitatis, hec est congregatio societasque sanctorum" charakterisierte, dar. 44 Dem auserwählten Volke Gottes, den wirklichen Israeliten, d. h. den Engeln, Aposteln, Propheten, Märtyrern, Bekennern und den heiligen Jungfrauen, wird hier die Belohnung in Gestalt der Kontemplation Gottes von „Antlitz zu Antlitz" zuteil. In diese „societas sanctorum" stellen jedoch die Hoffnung, die Liebe und der Glaube auch die Gerechten Böhmen: „Spes amor atque fides iustos locat hic Boemenses" lautet die Inschrift an der Gruppe von vier Halbgestalten in der äußersten unteren Ecke. Auch die Böhmen sind also auserwählt, zusammen mit Engeln und Heiligen, sie sind jene Gerechten (iusti), die am Ende der Tage zur Erlösung auserkoren sein werden. 4 0 Augustinus hätte dem wohl nicht beistimmen können, der böhmische Autor ging aber offensichtlich über ihn hinaus. Demnach verwendete er Worte des Augustinus, mit denen jener das Verhältnis zwischen der irdischen und der himmlischen Stadt beschrieb: „Beide genießen zeitliche Güter in gleicher Weise und leiden gleicherweise an zeitlichen Übeln, indem sie ungleichen Glauben (fides), ungleiche Hoffnung (spes) und ungleiche Liebe (amor) besitzen, solange sie vom Jüngsten Gericht nicht geteilt werden und solange jede von den beiden nicht an ihr Ende gelangt, dem
kein Ende sein wird." 4 6 Eben der angeborene Glaube, die Liebe und die Hoffnung versetzten die Böhmen in die Gottesstadt und nicht in die irdische. Sie verwandeln sie in Gerechte, die beim Jüngsten Gericht durch die Engel von den Bösen, die in die Hölle geworfen werden, abgesondert werden. Den Schlüsselbegriff in dieser Bestimmung liefert die Liebe. Es ist nicht nur die Liebe zu Gott oder dem Nächsten, für Augustinus ist es der Zentralbegriff seiner Gesellschaftslehre. Für die Römer war die menschliche Gesellschaft also organisierte Kulturgemeinschaft praktisch auf ihre Oikumene beschränkt. Außerhalb ihrer Grenzen lebten nur kulturlose, in keiner Gesellschaft organisierte Barbaren, eher nach tierischer als nach menschlicher Art. Die organisierte Kulturgesellschaft, am häufigsten als „populus" bezeichnet, ist eine durch Vereinigung der Menschen durch Unterordnung unter ein einheitliches Recht entstandene Gemeinschaft. Das Motiv für diese Vereinigung gab das Streben nach gemeinsamem Nutzen ab. Für die Stoiker waren es die Philosophen, Könige des goldenen Zeitalters, die die Menschen in der Stadtgemeinschaft versammelten und ihnen Gesetze gaben. Die Barbaren, denen diese Wohltat nicht zuteil wurde, lebten zwar auch in Gemeinschaften, doch diese sind durch gemeinsame Herkunft und nicht durch das Recht bestimmt, es sind bloße „gentes". 47 Daher gebrauchte auch Hieronymus grundsätzlich in seiner Bibelübersetzung für das auserwählte Gottesvolk Israel den terminus „gens". Er bestimmte damit nicht unwesentlich das spätere mittelalterliche Verständnis dieser Begriffe, namentlich des Begriffs „populus". 48 M a t t h . 2 5 , 1 4 ff. D e civ. dei X , S. 6 (Migne P L 4 1 , col. 2 8 4 ) : „ . . . tota ipsa r e d e m p t a civitas, hoc est congregatio societasquc sanctorum . . ." und w e i t e r (X, S. 7, col. 2 8 4 ) : „ M e r i t o illi in coelestibus sedibus constituti i m m o r t a l e s et beati, qui C r e a t o r i s sui participatione congaudent, cuius aeternitate firmi, cuius v e r i t a t e certi, cuius m u n e r e sancti sunt . . . Cum ipsis enim sumus una civitas dei . . . cuius p a r s in nobis peregrinatur, pars in illis opitulatur." Matth. 2 5 , 3 7 . 4 0 D e civ. dei X V I I I , S. 5 4 (Migne P L 4 1 , col. 6 2 0 ) : „Ambae tarnen temporalibus v e l bonis p a r i t e r utuntur, v e l malis pariter afflinguntur, d i v e r s a fide, d i v e r s a spe, d i v e r s o a m o r e , doncc ultimo judicio separentur, et percipiat u n a q u a e q u e suum fincm, cuius nullus est fines." 43
44
47 A. DOVE, Studien zur Vorgeschichte des deutschen V o l k s namens, i n : Sitzungsberichte der H e i d e l b e r g e r A k a d e m i e d e r Wissenschaften, phil.-hist. K l a s s e , 1 9 1 6 . 48 K . HEISSENBÜTTEL, D i e B e d e u t u n g d e r Bezeichnungen f ü r V o l k und N a t i o n bei den Geschichtsschreibern des 1 0 . - 1 3 . J a h r hunderts, Diss. G ö t t i n g e n 1 9 2 0 , S. 1 4 ff, 2 1 ff.; B. ZIENTARA, Populus - gens - natio. Z zagadnien wczesnosredniowiecznej terminologii etnicznej, i n : Cultus et cognitio (Festschrift A . G i e y s z t o r ) , W a r s z a w a 1 9 7 6 , S. 6 7 3 - 6 8 1 .
Spezifische Züge der böhmischen Kunst Augustinus polemisierte gegen diese althergebrachte römische Vorstellung auf das heftigste. 49 Er konnte vor allem nicht darin einstimmen, daß Menschen sich nur zusammentun, um gemeinsamen Nutzen zu haben. Er unterschied daher streng zwischen „utere" (genießen, nützen) und „frui" (sich an etwas ergötzen). Der Nutzen ist instrumental, die genützte, gebrauchte Sache dient als Mittel zur Gewinnung einer anderen Sache, während das Ergötzen an etwas bedeutet, seinen Willen direkt darauf zu wenden, aus Liebe für diese Sache selbst. 50 In diesem Sinne treibt die Menschen nicht bloßer Nutzen zusammen, sondern die Liebe. Die Liebe zu einer Sache gebiert spontan eine geschlossene Gesellschaft, gebildet aus allen denen, deren Liebe sich auf diese eine Sache konzentriert. Wer Gott liebt, betritt automatisch die Gemeinschaft aller, die ihn lieben, derjenige, der irdische Dinge liebt, wird zum Mitglied der irdischen Gemeinschaft. So entstehen die Stadt Gottes und die Irdische Stadt, zwei Gemeinschaften, die unterschiedliche Dinge lieben. 5 1 Augustinus stellt daher gegen Ciceros Definition des Volkes seine eigene: „Volk ist die Vereinigung einer vernünftigen Menge, die durch eine bestimmte Übereinkunft über Dinge, die sie liebt, gesellschaftlich verbunden lebt", 52 er verneint also, daß das Volk durch das den Menschen gemeinsame Recht gebildet wird und daß dessen Ziel der gemeinsame Nutzen ist. Der Zweck menschlicher Gesellschaft ist nicht der Nutzen, sondern der Frieden, Menschen lieben vor allem den Frieden und diese Liebe zum gemeinsamen Ziele vereinigt sie zur Gesellschaft. 53 Jeder Frieden erfordert jedoch als notwendige Voraussetzung die Ordnung - ordo darin sind alle Dinge an ihrem richtigen Ort wie im menschlichen oder jedem anderen Organismus. 54 Der Friede ist also letzten Endes „Ruhe der Ordnung" - „tranquillitas ordinis" - 5 5 , und der endgültige Friede wird erst in der Stadt Gottes erreicht, wo die vollkommene und endgültige Ruhe - tranquillitas - walten wird. 5 6 Dies schwebte wohl auch dem Autor unseres Bildes vor, als er schrieb, daß in der Gottesstadt „tranquille sedes" sich befinden. 57 Dachte er dabei jedoch auch an des Augustinus Definition des Volkes durch die Liebe, als er schrieb, daß die Böhmen ein Teil der Gottesstadt sind, wegen ihrer Liebe, ihres Glaubens, ihrer Hoffnung? W i r sahen, daß die Vorstellung vom auserwählten Volke Gottes neben dem Thema „Gottesschau" das Hauptmotiv des Bildes ausmacht. Wir können daher voraussetzen, daß es dem Autor bei der Charakteristik der
111
Böhmen darum ging, sie als Volk im Sinne der augustinischen Definition zu bestimmen. Dafür spricht auch der Umstand, daß die Böhmen im Bilde deutlich in eine hierarchisch geordnete Gesellschaft einbezogen werden: vier Halbfiguren, ein Bischof mit Mitra und Hirtenstab, ein Mönch (der Kleidung nach Benediktiner) mit Tonsur, ein bärtiger Laie und eine Frau, die durch ihre Kopfbedeckung als verheiratet gekennzeichnet wird. Keine dieser Gestalten trägt einen Heiligenschein wie alle übrigen Gestalten, die Heiligen und die Engel. Deshalb können mit der Darstellung der Böhmen nicht böhmische Heilige gemeint sein: Vojtech (Bischof), Prokop (Mönch), Wenzel (Laie) und Ludmila (Witwe), wie oft angenommen wurde. 5 8 Der Autor des Bildes hatte wohl das Volk Gottes im Sinne und nicht die Heiligen. Ohne die hier auf Erden lebenden Christen wäre wohl die Gottesstadt unvollständig. Deren Bürger müssen die Engel, V)
D e civ. dei X I X , S. 2 1 ff.
50
GILSON 1 9 5 3 w i e A n m . 4 2 , S . 2 2 7 ff.
D e civ. dei X I V , S. 2 8 (Migne PL 4 1 , col. 4 3 6 ) : „Fecerunt itaque civitates duae amores duo: terrenam scilicet amor sui usque ad contemptum dei, coelestem vero amor dei usque ad contemptum sui." 5 2 D e civ. dei X I X , S. 2 1 (Migne PL 4 1 , col. 6 4 8 ) : „Populum enim esse definivit (CICERO, D e re publica, S. 39) coetum multitudinis, juris consensu et uttilitatis communione sociatum . . ." (col. 6 4 9 ) : „Non est hic ergo juris ille consensus qui hominum multitudinem populum facit, cuius res esse respubiica." S. 2 4 (col. 6 5 5 ) : „Si autem populus non isto, sed alio definatur modo velut si dicatur: Populus est coetus multitudinis rationalis, rerum quas diligit concordi communione sociatus; profecto ut videatur qualis quisque populus sit, ilia sunt intuenda quae diligit." 5 3 D e civ. dei X I X , S. 1 2 (Migne PL 4 1 , col. 6 3 7 ) : „Quod enim mecum quisquis res humanas naturamque communem utcumque intuetur agnoscit, sicut nemo est qui gaudere nolit, ita nemo est qui pacem habere nolit." 54 De civ. dei X I X , S. 1 3 (Migne PL 4 1 , col. 6 4 0 ) : „Pax itaque corporis est ordinata temperatura partium. Pax animae rationalis, ordinata cognitionis actionisque consensio. Pax corporis et animae ordinata vita et salus animantis. Pax hominis mortalis et dei, ordinata in fide sub aeterna lege obedientia. Pax hominum, ordinata concordia. Pax domus, ordinata imperandi atque obediendi concordia cohabitantium. Pax civitatis, ordinata imperandi atque obediendi concordia civium. Pax coelestis, civitatis, ordinalissima et concordissima societas fruendi deo et invicem in Deo. Pax omnium rerum, tranquillitas ordinis. Ordo est parium dispariumque rerum sua cuique loca tribuens disposilo." 5 ü Vgl. Anm. 5 4 : „Pax omnium rerum tranquillitas ordinis". 5 0 Vgl. Anm. 5 4 ; D e civ. dei X I X , S. 9 (Migne PL 4 1 , col. 637). 5 1 Zu „sedes" vgl. Anm. 4 4 . 5 8 KVÉT 1 9 4 8 w i e Anm. 5, S. 1 7 6 ; M. KOSTÌLKOVÀ, Iluminované rukopisy pokladu svatovitského chràmu, Praha 1 9 7 5 . D a gegen stellte schon A . MATEJÒEK (in: Déjepis vytvarného uméni v Cechach I, Praha 1 9 3 1 , S. 7 6 ) fest, daß es sich hier nicht um die böhmischen Heiligen handeln kann. 51
112
ANEZKA MERHAUTOVÄ / D U S A N TRESTIK
Heiligen und Gläubigen sein. 59 Es handelt sich also tatsächlich um eine Gemeinschaft der' Gläubigen, geordnet nach der Vorstellung von der Zusammensetzung der christlichen Gesellschaft, die im hohen Mittelalter vor der Verbreitung der Lehre vom dreifachen Volke geläufig war. Unser Autor ging wahrscheinlich von Augustinus' Teilung in „tria genera hominum" 60 aus, in „praepositi, qui regunt et gubernant Ecclesiam" (Bischof), „continentes" (Mönch) und „conjugati" (Laie und verheiratete Frau). Jedenfalls wird hier die damals geläufige „sakramentale Hierarchie" widergespiegelt, 6 1 die die Kirche in Kleriker, Mönche und Laien teilte. Die „Bohemenses" unseres Bildes stellen also die menschliche Gesellschaft vor. Sie sind der „populus", charakterisiert durch dessen Liebe, also wohl am ehesten nach Augustinus' Definition ,-,eine Vereinigung der vernünftigen Menge, die durch eine einstimmige Übereinkunft über Dinge, die sie liebt, in gesellschaftlicher Verbindung lebt." Diese Hypothese wird zur Gewißheit, wenn man gewahr wird, daß der „populus" im antiken Sinne des souveränen Staatsträgers (res publica = res populi) 62 in Böhmen schon vor der Entstehung unserer Handschrift eine wichtige Rolle gespielt hatte. Als vor dem Jahre 1120 der Prager Dechant Kosmas an den Anfang seiner Chronik die alte Erzählung von der Entstehung des Staates bei den Tschechen stellte, interpretierte er die Wahl des ersten Fürsten Premysl ganz im Geiste der römischen Lehre von der lex regia als der Übertragung der Volkssouveränität auf den Herrscher, als eine Art Gesellschaftsvertrag zwischen dem Volk und seinem Fürsten. 63 Als dann um das Jahr 1134 der Znaimer Teilfürst in seiner Kirche die genealogische Reihe der Premysliden malen ließ, stellte er an deren Anfang die Szene der Berufung Premysls auf den Thron, natürlich deren konstitutiver Bedeutung wegen. 6 4 Der Fürst selbst verstand wohl seine Macht als eine ihm - allerdings unwiderruflich durch das Volk anvertraute. 6 5 „Populus" ist bei Kosmas und anderen böhmischen Chronisten des 12. Jahrhunderts der Gegensatz zum Fürsten, es sind alle die, die irgendwie politisch handeln oder wenigstens gleichsam den Hintergrund politischer Handlungen bilden, also wohl alle persönlich freien Böhmen (Tschechen), vor allem die Großen. 66 Sehr oft verwenden die Chronisten anstatt „populus" einfach die Bezeichnung Bohemi, Bohemenses, omnes Bohemenses et Moravienses. 67 Diese Böhmen (und Mährer) wählen den Fürsten und setzen ihn ein. Mit ihnen hält der Fürst Rat, sie sind „der Schild des Landes Böhmen". 68
1
Denar des mährischen Teilfürsten Konrad I.
In den vierziger Jahren erscheint für sie eine neue Bezeichnung, sie sind nun die „familia sancti Venceslai", also das Gesinde (nicht die Familie) des hl. Wenzel. 6 9 Gleichzeitig wird der hl. Wenzel zum ewigen Herrscher - rex perpetuus - , der im Himmel siedelt als „Erbe des Landes Böhmen", und er verleiht seine ewige Regierung über Böhmen dem jeweilig regierenden Herrscher. Dies bringt die Umschrift des Siegels Vladislavs II. und aller seiner Nachfolger zum Ausdruck. Sie lautet: „Pax ducis Vlädislai in manus sancti Wencezlai". 7 0 Pax wird hier also zum Ziel der Regierung gemacht, sie ist als allgemeiner Schutz der Untertanen im ganzen Lande „in die Hände", d. h. in den Besitz des unsterblichen Fürsten ge-
5 9 Vgl. dazu z. B. Anm. 4 4 : „Cum ipsis (sanctis) enim sumus una civitas dei". 6 0 Quaestiones Evangeliorum II, S. 4 4 (Migne PL 35, col. 1 3 5 7 , im Anschluß an Matth. 24, 4 0 f. und .Luc. 17, 3 4 ff.). Dazu Y . CONGAR, Les laics et l'ecclésiologie des „ordines" chez les théologiens des XI C et XII e siècles, i n : I laici nella „societas Christiana" dei secoli X I e XII ( = Miscellanea del Centro di Studi Medievali 5), Milano 1 9 6 8 , S. 85 ff. G . TELLENBACH, Libertas. Kirche und Weltordnung, im Zeitalter des Investiturstreites ( = Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte 7), Stuttgart 1 9 3 6 , S. 6 1 ff. 6 2 Vgl. Anm. 5 2 . 63 D. TfcEä-riK, K o s m o v a kronika, Praha 1 9 6 8 , S. 1 7 4 ff.; Ders., K sociälni strukture premyslovskych Cech, in: Ceskoslovensky casopis historicky 1 9 , 1 9 7 1 , S. 5 3 8 ff. 6 4 Dazu ausführlicher im Abschnitt II. 6 5 Dies w a r der Sinn der Kosmasschen Interpretation der Premyslidensage. A l s Vorlage diente ihm eine Fälschung des Privilegs Leos VIII. aus dem Jahre 1 0 8 4 ( M G H Const. I, n. 4 4 9 ; vgl. zuletzt KOCH 1 9 7 2 wie Anm. 3 1 , S. 1 3 6 ff.). 6 6 TRESTIK 1 9 7 1 w i e Anm. 63, S. 5 5 2 f. 6 7 TRESTÌK 1 9 6 8 wie Anm. 63, S. 2 0 2 f. 0 8 Canonicus von Vyächrad, Fontes rerum bohemicarum II, Prag 1 8 7 4 , S. 2 0 9 . 6 9 TRESTÌK 1 9 6 8 wie Anm. 63, S. 2 0 0 ff. Zur Bedeutung der „familia" vgl. K . Bosi, D i e „Familia" als Grundstruktur der mittelalterlichen Gesellschaft, i n : Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 3 8 , 1 9 7 5 , S. 4 0 3 - 4 2 4 . 7 0 TRESTÌK 1 9 6 8 w i e Anni. 63, S. 2 0 7 ff.
Spezifische Züge der böhmischen Kunst geben. Zweck der menschlichen Gesellschaft ist aber auch bei Augustinus pax, und dieser Gedanke begründete bekanntlich das Wesen des politischen Augustinianismus das ganze Mittelalter hindurch. 71 Der Lebensweg des hl. Wenzel ist für die Entwicklung der böhmischen Staatsideologie höchst bezeichnend. 72 Um 907 geboren, war er in seiner Jugend - vielleicht unter dem Einfluß der Mönche aus dem Regensburger St. Emmerams-Kloster, die damals den Bischof in Prag vertraten - , einer der Eiferer für den neuen Glauben geworden. So verhielt es sich bei den neu bekehrten aristokratischen Schichten der entstehenden mitteleuropäischen Staaten damals noch selten, dieser Vorgang bildete aber bereits eine typische Ausnahme. 73 Es hat Wenzel auch nicht gehindert, sich als Herrscher zu bewähren. Dennoch mußte er den Vorwurf über sich ergehen lassen, daß er eher zum Mönch denn zum Fürsten tauge. Im Jahre 935 wurde er dann von seinem Bruder ermordet. Dieser unnatürliche Tod trug ihm in den Augen des Klerus den Anschein der Heiligkeit ein und dies um so mehr, als es sich um einen Brudermord handelte. 74 Offiziell wurde er jedoch erst in den siebziger Jahren des 10. Jahrhunderts während der Errichtung des Prager Bistums zum Heiligen erhoben, und man gewinnt den Eindruck, daß es sich dabei um eine gezielte Propagandaaktion der Prager Kleriker handelte, die immer noch Beziehungen zu Regensburg hatten und durch Otto II. unterstützt wurden. Die ersten Legenden über Wenzel wurden in dieser Zeit geschrieben. 75 Seine Verehrung breitete sich rasch auch im Reiche aus. 76 Aber das alles spielte sich noch ausschließlich im kirchlichen Bereich ab. Eine rasche und auffällige Wende brachte erst die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts. In der Ikonographie zeichnet sie sich sehr klar ab. Auf den Denaren Vratislavs II. erscheint Wenzel schon nicht mehr als heiliger Bischof, sondern als Fürst und Kämpfer, und dieses Bild blieb in Zukunft bestimmend. 77 Wenzel wird nun zum Patron des Landes - nicht des Herrschers.78 Sein Fest wird zum Staatsfest, an dem der Fürst ein großes „Colloquium" mit seinen Getreuen hält. 79 Er tritt als Schlachthelfer für das Land auf. Die heilige Lanze, die Reichsinsignie, die Kaiser Heinrich IV. Vratislav aus der Beute des gefallenen Gegenkönigs Rudolf überlassen hatte, 80 wurde schnell zu einer Lanze des hl. Wenzel und verschmolz mit der Fahne des hl. Adalbert. 81 Das Bild Wenzels dient auf dem Siegel Vratislavs und seiner Nachfolger 82 nicht nur zur Siegelung der Urkunden, sondern 8
Architektur
2
113
Denar Vratislaus II.
auch als „sigillum citationis", als ein Zeichen der Boten des Landesgerichtes, mit dem man vor Gericht lud. 83 Alle diese Aspekte münden dann in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in die Vorstellung, daß Wenzel der eigentliche Herrscher des Landes sei, der Inhaber der fürstlichen Güter 84 , und daß der jeweils herrschende Fürst nur sein Vertreter ist, während die Böhmen seine „familia" sind. 71 Vgl. Anm. 9. AKQUILLIÉRE betonte eher die zentrale Bedeutung von „iustitia", für uns spielt aber diese Frage keine größere Rolle. 72 Neueste Übersicht bietet F. GRAUS, St. Adalbert und St. Wenzel. Zur Funktion der mittelalterlichen Heiligenverehrung in Böhmen, in: Europa Slavica - Europa Orientalis (Festschrift H. Ludat), Berlin (West) 1980, S. 205-231. 73 Dazu D. TKESTÍK, Pocátky kíestanství v Cechách. Im Druck. 74 Widukind I, 35, S. 50-51. 75 D. TÜESTÍK, Pocátky Premyslovcú, Praha 1981, S. 45 ff. 76 F. GRAUS, Böhmen zwischen Bayern und Sachsen, in: Histórica 17, 1969, S. 5-42. 77 Siehe dazu das nächste Kapitel. 78
TÜESTÍK 1 9 6 8 w i e A n m . 6 3 , S. 1 9 8 ff.
79
Das wird von Kosmas (III, 1, S. 160) als „ritus huius terre" bezeichnet. 80 Frutolf (Mh SS VI, S. 203). 81 O. BAUER, Kopí sv. Václava, in: Cesky casopis historicky 3 6 , 1 9 3 0 , S. 3 5 1 - 3 5 9 . - W . WEGENER, D i e L a n z e d e s H e i l i g e n
Wenzel, in: ZRG GA 72. 83 Wie Anm. 77. 83 Der Siegelstempel des Landesgerichtes aus dem 13. Jahrhundert trug die Inschrift: „Sanctus Venceslaus citat ad iudicium". Dazu vgl. J. CAREK, O pecetéch ceskych knízat a králú z rodu Pfemyslova, Praha 1934, S. 26 ff. - V. HRIJBÍ, Tri Studie k ceské diplomatice, Brno 1936, S. 166 ff. - TÄE5T/K 1968 wie Anm. 6 3 , S. 2 0 7 ff. 84 I n d e n U r k u n d e n 1 1 8 6 ( C D B I, Ir. 3 9 9 , S. 2 8 3 - 2 8 4 ) u n d X I I ex. ( C D B I , Ir. 3 9 9 , S . 4 1 2 ) . - D a z u TRESTÍK 1 9 6 8 w i e Anm. 6 3 , S. 2 1 3 .
114
A N E Z K A M E R H A U T O V Á / D U S A N TRESTÍK
Wenn wir also feststellen können, daß im 12. Jahrhundert in Böhmen der „populus" (oder die „ B o e m i " ) als „politisches Volk" verstanden wurde, das einst in ferner Vergangenheit seine Souveränität (Freiheit) dem Fürsten aus premyslidischem Geschlecht übertrug und das daher eine Korporation darstellt, Untertan nicht dem zur Zeit regierenden Fürsten, sondern dem ewig regierenden, dem heiligen Wenzel im Himmel, in dessen Händen das höchste Gut des Staates - der Frieden - liegt, sind uns damit zugleich die Koordinaten gegeben, in die unser Autor seine Vorstellungen von der „Universalität" der Stadt Gottes einfügte.
präsentiert wird durch Papsttum und Kaisertum. Seine Welt ist die neue Welt der mittelalterlichen Völker, die sich seit dem 12. Jahrhundert stürmisch zu entfalten beginnt. 87 Böhmen steht an der Spitze dieses Prozesses. Es sei nur an folgendes erinnert: „dux perpetuus" erscheint in Venedig in der Mitte des 12. Jahrhunderts, gleichzeitig in Böhmen und erst in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts in Norwegen, 88 „Corona regni" erscheint fast gleichzeitig in Frankreich, England und Böhmen, 89 die Transpersonalisierung des Staates und die Bildung eines neuen Natio-
Die wichtigste davon ist das Bild vom böhmischen Staat als Einheit von Fürst und Volk. Dabei wird Volk nicht ethnisch, sondern politisch verstanden. Der Zweck dieser Gemeinschaft ist Frieden, nicht ausschließlich irdischer Frieden, sondern ewiger, dem ewigen Herrscher des Landes Böhmen anvertraut. Die „Bohemenses" unseres Bildes sind also das Staatsvolk, die hierarchisch geordnete christliche Gesellschaft, entstanden aus der Liebe zum gemeinsamen Ziel, dem ewigen Frieden.
Z i v o t a d í l o ( 1 3 1 6 - 1 3 7 8 ) , P r a h a 1 9 7 9 , S. 2 9 5 ff., d i e E i n s t e l l u n g
Die christliche Gesellschaft ist allerdings immer zugleich die Kirche, die Gemeinschaft der Gläubigen, die universal ist. Der Autor unseres Bildes ordnete sein böhmisches (tschechisches) Volk nach den allgemeinen Vorstellungen von der Ordnung der christlichen Gesellschaft, d. h. nach allgemeiner Vorstellung von der universalen Kirche. Augustinus, dessen Werk er illustrierte, zum Trotz bezog er aber die Vorstellung der Kirche auf ein einziges - und zwar nicht auf ein beliebiges - Volk. W i r sahen ja, daß das ganze Programm des Bildes klar auf den Begriff des auserwählten Volkes zielt. Bereits die Hauptinschrift spricht davon, daß diese Gottesstadt von lebendigen Steinen erbaut ist, d. h. von Gläubigen, die das erwählte Volk Gottes sind. Zur Rechten Gottes erscheint Jakob-Israel, Urvater des auserwählten Volkes Gottes, der Israeliten (nicht jedoch nur der Juden). Und zu diesem auserwählten Volk gehören auch die „gerechten", d. h. die auserwählten „Bohemenses". Sie sind dazu berechtigt auf Grund ihres Glaubens, ihrer Hoffnung und ihrer Liebe zum höchsten Gut der Gesellschaft, zum Frieden, was sie zum „populus" macht, zur organisierten Kulturgesellschaft. Die Welt unseres Autors ist keineswegs universal, sondern „bohemozentrisch", 85 seine Welt ist die aus einzelnen Christenvölkern zusammengesetzte „christianitas" 86 , nicht die universale „ecclesia", wie sie re-
Mit
8d
diesem
Ausdruck
bezeichnete
K a r l s I V . z u m Reich. K a r l
J.
SPËVÀÈEK, K a r e l I V .
b e g r ü n d e t e seine V o r s t e l l u n g e n
von
d e r „ t r a n s l a t i o i m p e r i i a d S l a v o s " , d. h. nach B ö h m e n m i t
dem
ganzen K o m p l e x
d e r staatlichen u n d „ n a t i o n a l e n " I d e o l o g i e
der
P r e m y s l i d e n , w i e sie im 1 2 . J a h r h u n d e r t f o r m u l i e r t w a r , u n d
er
v e r s u c h t e d a h e r m i t E r f o l g d i e s e I d e o l o g i e v o n n e u e m zto b e l e ben. J . RUPP,
80
L'idée
de
Chrétienité
dans
la
pensée
pontificale
d e s origines à Innocent III., P a r i s 1 9 3 9 ; P. ROÜSSET, L a
notion
d e C h r é t i e n i t é a u x X I e et X I I e siècles, i n : L e M o y e n A g e 1 9 6 3 , S. Das
87
69,
191-203. ist
heute
communis
opinio
der
Mediävisten
(vgl.
K . F. WERNER, L e s n a t i o n s et le s e n t i m e n t n a t i o n a l d a n s l ' E m p i r e m é d i é v a l e , i n : R e v u e H i s t o r i q u e 4 9 5 , 1 9 7 0 , S. 2 8 7 ) , d i e N a t i o n e n als
geschichtliche
Realität
sind
aber
bedeutend
älter
(vgl.
die
t r e f f e n d e n B e m e r k u n g e n v o n WERNER 1 9 7 0 , S. 2 8 8 f . , u. a . auch über Böhmen). A u f
die verwickelte Problematik der
mittelalter-
lichen N a t i o n e n k a n n ich h i e r nicht e i n g e h e n u n d v e r w e i s e n u r auf die w i c h t i g e S t u d i e v o n J . S z ü c z , „ N a t i o n a l i t ä t " u n d „ N a t i o n a l b e wußtsein"
im
Mittelalter.
Versuch
einer
einheitlichen
Begriffs-
sprache, i n : A c t a H i s t ó r i c a A c a d e m i a e S c i e n t i a r u m H u n g a r i a e 1 8 , 1 9 7 2 , S. 1 - 3 8 , 2 4 5 - 2 6 6 , die sich u m ein einheitliches M o d e l l bemüht
Szücz
unterscheidet
streng
zwischen
dem
d. h. d e m an d i e A b s t a m m u n g s g e m e i n s c h a f t e n
„gentilismus",
gerichteten
Denk-
m o d e l l e i n e r „ N a t i o n a l i t ä t " u n d d e r „politischen N a t i o n " , d i e a l s e i n e „societas" o d e r „ p o p u l u s " b e g r i f f e n w i r d . H i e r w ü r d e
Böh-
m e n g e r a d e z u ein P a r a d e b e i s p i e l d e r „politischen N a t i o n " sein wenn
eine
solch
strenge
Unterscheidung
berechtigt
wäre.
-
Man
k a n n a b e r doch nicht e i n f a c h leugnen, d a ß die als A b s t a m m u n g s g e meinschaft verstandene „politischen
Nation"
nicht ausschließlich
„Nationalität" die breite Grundlage
bildete und daß auf
die
diese
„politische
der
Nation"
herrschende K l a s s e beschränkt
war.
V g l . zur K r i t i k v o n S z ü c z ' A n s i c h t e n B . ZIENTARA, S t r u k t u r y n a r o dowe
sredniowiecza,
in:
Kwartalnik
Historyczny
84,
1977,
S. 2 8 7 - 3 1 1 , u n d auch R . CH. SCHWINGES, „ P r i m ä r e " u n d „ S e k u n d ä r e " N a t i o n . N a t i o n a l b e w u ß t s e i n u n d s o z i a l e r W a n d e l im mittelalterlichen B ö h m e n , i n : E u r o p a S l a v i c a - E u r o p a O r i e n t a l i s . F e s t schrift f ü r H . L u d a t z u m lungen Ostens, die
zur
Agrar-
Bd. 100),
vollständige
und
70. Geburtstag
( = Gießener
Wirtschaftsforschung
Berlin
(West)
Literatur.
1980,
des
S. 4 9 0 - 5 3 2 .
Nachzutragen
wäre
Abhand-
europäischen Hier
W.
auch
WEGENER,
Tschechisches N a t i o n a l g e f ü h l u n d N a t i o n a l b e w u ß t s e i n bei C o s m a s von
Prag,
in:
Humanitas
Wien/Stuttgart 1 9 6 7
ethnica.
Festschrift
für
Th.
( = E t h n o s 5, 1 9 6 7 ) , S. 2 0 8 - 2 2 5 ,
Veiter, der
aber
nichts n e u e s bietet. 88
TRESTIK 1 9 6 8
89
F. HÄRTUNG, D i e K r o n e a l s S y m b o l d e r monarchischen H e r r -
wie Anm.
schaft im a u s g e h e n d e n
6 3 , S. 2 1 5
Mittelalter,
in:
ff.,
228
Corona
d e r Forschung 3 ) , D a r m s t a d t 1 9 6 1 , S. 6 2 .
ff.
regni
( = Wege
Spezifische Züge der böhmischen Kunst nalbewußtseins kam wohl in Böhmen schneller voran als anderswo in Europa. Den Hintergrund dieses Prozesses bilden zwei Tatsachen: die konkrete Situation eines starken Staates mit kontinuierlicher Tradition und die bewußte ideelle Arbeit mittelalterlicher böhmischer Gelehrter, die einen Ausdruck für die Bestrebungen und Sehnsüchte der böhmischen Gesellschaft in den Formen und Traditionen der lateinischen christlichen Bildung suchten und fanden. Manchmal übersetzten sie lediglich die einheimischen und oft sehr alten Vorstellungen in diesen neuen Kontext. Klar wird dieses z. B. bei der Vorstellung des Friedens als des Hauptzweckes des Staates, die mindestens so alt ist wie der böhmische Staat selbst. Eine der ersten Staatssteuern, in Geld entrichtet von allen Freien, war der Friedenszins, tributum pacis, so benannt wahrscheinlich deshalb, weil er allgemein als Bezahlung für den „Schutz" galt, der den Untertanen vom Herrscher gewährt wurde. Mit einer Beeinflussung von Seiten der Kirchenideologie ist hier wohl kaum zu rechnen. Die Vorstellung vom fürstlichen Frieden war weltlich und einheimisch. 90 Auf der Prager Burg, gleich hinter der Kathedrale, in deren Bibliothek unsere Handschrift aufbewahrt wurde, stand übrigens ein steinerner Tisch, auf dem die böhmischen Fürsten bis zum Ende des 12. Jahrhunderts nach altem, im Grunde immer noch heidnischen Brauch eingesetzt wurden. 9 1 Sie gründeten ihre Macht auf diesen durch Alter geschwärzten Klumpen, 92 auf den sie „durch ihr Volk" gesetzt wurden und nicht auf die Salbung oder irgendeine andere Legitimation. Niemals waren die böhmischen Fürsten „vicarii Christi"; dieser Begriff ist den böhmischen literarischen Quellen unbekannt. Sie vertraten immer nur den ewigen Fürsten Wenzel, ihren Ahnen. Die Böhmen waren um Prag konzentriert, um die Burg mit dem Steintisch, der dort „in medio civitatis" stand. 93 Alle „universalen" Bindungen an Kaisertum und Papsttum waren für sie zweitrangig. Ihre Beziehung zum Reich verstanden sie als eine Beziehung zu Herrschern, die zwar eine gewisse Suprematie besaßen, die durch ihren Kaisertitel beglaubigt war, 9 4 die aber keine anderen Ansprüche geltend machen konnten als die, welche durch die Tradition 95 seit Karls des Großen Zeit verbürgt waren. 9 6 Es ist daher begreiflich, daß für den böhmischen Kleriker die Gottesstadt des Augustinus mit der böhmischen Landeskirche zusammenfiel, daß er die universale Vorstellung dadurch „bohemozentrisch" gestaltete, daß er das böhmische (tschechische) Volk zum aus8*
115
erwählten „Volke Gottes" erhob, welches das ausschließliche Recht auf einen Platz in der Stadt Gottes besitzt. Vieleicht fand nirgends sonst in Europa der nationale Gedanke, der sich im 12. Jahrhundert überall bemerkbar machte, eine so prägnante und anspruchsvolle Ausdrucksform. 97
II. Civitas dei „Vornehmlich die Stadt, das himmlische Jerusalem, ist eine Metapher, die immer wieder in der Literatur den Gottesstaat und die Kirche vertritt. Kirche - Stadt - Gottesstaat erscheinen bis weit in das 13. Jahrhundert unter gemeinsamen Anschauungsfor90
B.
KRZEMIEÄSKA / D .
TSESTIK,
Wirtschaftliche
Grundlagen
des frühmittelalterlichen Staates in Mitteleuropa (Böhmen, Polen, Ungarn im 10.—11. Jahrhundert), in: Acta Poloniae Historica 40, 1 9 7 9 , S. 21 (hier die Literatur). Eine auffallende Analogie bildet die Steuer, die die Schweden nach der Darstellung Snorri Sturlusons (Heimskeingla, Yuglingasaga, c. 8) Odin zahlten, als er noch der König der Schweden war. Als Gegenleistung des Königs wird dort sein Schutz des Landes nach Außen und Opfer für Frieden und „gutes Jahr" angeführt. 9 1 R. SCHMIDT, Die Einsetzung der böhmischen Herzöge auf den Thron zu Prag, in: Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter ( = Nationes 1), Sigmaringen 1 9 7 8 , S. 4 3 9 - 4 6 3 . 9 2 Die Einsetzung, die Inbesitznahme des Stuhles „machte" erst den Herrscher, nicht die Wahl. Darum ist z. B. Boleslaw Chrobry nie in die Reihe der böhmischen Herrscher aufgenommen worden. Er w a r eben nicht formell inthronisiert, obwohl er regulär gewählt war. Sein Vorgänger Vladivoj kam dagegen in die „offizielle" Liste (obwohl er kein Premyslide war). Vgl. dazu B. KRZEMIEI^SKA, Krize ceskeho statu na pfelomu tisfcieti, in: Ceskoslovensky casopis historicky 18, 1 9 7 0 , S. 506, 5 1 1 . 9 3 I. BoRKOvsKi, Die Prager Burg zur Zeit der Premyslidenfürsten, Prag 1 9 7 2 , S. 1 0 2 . Die Hauptstadtfunktion Prags wäre noch zu untersuchen. Prag war nämlich schon seit der Entstehung des tchechischen Staates das einzige und unbestrittene Zentrum Böhmens und deshalb vielleicht die älteste Hauptstadt Europas mit einer praktisch ununterbrochenen Tradition. 9 4 Zum Streit über die „auctoritas" des mittelalterlichen Kaisertums
vgl.
WERNER
1965
wie
Anm.
22,
S. 5 0 ff.
Das Verhältnis zwischen Böhmen und dem Reich war von der tschechischen Seite klar umrissen: man erkannte gewisse Rechte des Kaisers oder Königs (der Unterschied im Rang spielte keine Rolle) in Böhmen an; diese hatten aber feste Grenzen, die von der Tradition bestimmt waren. W a s darüber hinaus verlangt wurde, erschien als Willkür, als Verletzung des „guten alten Rechtes". Vgl. dazu: Z. FIALA, Vztah ceskeho statu k nemecke risi do .pocatku 13. stleti, in: Sbornik historicky 6, 1 9 5 9 , S. 6 8 ff. 9 6 Es handelt sich um den Tribut, der 805/806 den Böhmen auferlegt worden war (Cosmas 1 1 8 . Ed. B. BRETHOLZ, S. 9 3 - 9 4 ) . Die Tradition ist m. E. völlig authentisch. 9 7 Man sollte diese Feststellungen aber nicht allzu modern verstehen. D i e komplexe böhmische nationale Ideologie war eher ein Ausdruck einer archaischen Totalität, die das Denken der Laien wie der Kleriker beherrschte. Vgl. MERHAUTOvA/TftEäTfK 1 9 7 9 wie Anm. 1, S. 5 2 7 . 9[>
116
ANEZKA MERHAUTOVÁ / D U S A N TRESTÍK
men." 98 Diese Idee wurde mehr oder weniger auch durch die Ausstattung der Architektur unterstrichen, in der böhmischen Kunst seit der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Das Bild einer befestigten Stadt, wodurch die Civitas dei gewöhnlich dargestellt wurde, war in Böhmen schon früher üblich, wie Münzbilder zwar nicht böhmischer, aber mährischer Teilfürsten zeigen. So erscheinen auf einem D e n a r " des Brünner Fürsten Konrad I. ( 1 0 6 1 - 1 0 9 2 ) auf einer Seite zwei Türme mit einem Kreuz dazwischen, während auf der anderen zwei ähnlich aufgefaßte Türme einen dritten mit Kreuz darüber flankieren, überragt von einer primitiv angedeuteten Festungsmauer. In beiden Abbildungen brachte der unterschiedlich konzipierte Bau, hinten um eine Mauer bereichert, wohl einen etwas unterschiedlichen Sinn zum Ausdruck; auch die Inschriften waren nicht die gleichen. 100 In älteren böhmischen Darstellungen fehlt das Bild von ähnlichen Türmen über einer Mauer; die geeignete Vorlage könnten deutsche Siegel und Bullen geliefert haben, z. B. die Bulle Konrads II. und Heinrichs III. aus' den Jahren 1033-1038 1 0 1 mit der Inschrift A U R E A ROMA. Rom vertritt hier die himmlische Stadt und symbolisiert. zugleich als „aula regia" die herrscherliche Macht. 102 Nach diesem Beispiel kann man das Architekturbild über der Mauer auf Fürst Konrads Denar für das Himmlische Jerusalem oder die Civitas dei halten, womit die fürstliche Macht zum Ausdruck gebracht werden soll. Im Zusammenhang mit dem Fürsten. wurde die Erwähnung Roms logischerweise nicht übernommen. Die bildkünstlerische Abkürzung auf dem Avers von Konrads Münze, beschränkt auf zwei Türme beiderseits eines Kreuzes, sollte vielmehr eine Kirche darstellen, 103 aber in anderer Form als die Christiana religio, die bereits auf böhmischen Münzen Boleslavs I. und später vorkam. Einige Münzen Svatopluks trugen Varianten der Darstellung des Himmlischen Jerusalem, 1 0 4 ähnlich der bereits erwähnten Münze Konrads. Das Stadtbild zeigen dann auch die Denare des Olmützer Fürsten Otto II. (des Schwarzen) (1107-1110, 1113-1125), jedoch ohne Mauer und mit dem Namen des hl. Wenzel in der Umschrift. 105 Die andere Seite dieser Münze schmückt der Kopf Ottos, und in der Umschrift steht sein Name. So geht es wohl auch diesmal um eine Vorstellung des Himmlischen Jerusalem oder der Civitas dei, vor allem wegen des Namens von Wenzel in der Umschrift. (Die Olmützer Kirche war nämlich St. Peter geweiht, und die neugegründete Kirche
3
Denar des Olmützer Teilfürsten Wenzel
des hl. Wenzel war noch nicht vollendet.) Das Stadtbild mit Wenzels Namen knüpfte an die einheimische, damals entstandene Vorstellung von Wenzel als ewigem Herrscher Böhmens an, der im Himmel wohnt und somit der Civitas dei angehört. Wenzel verlieh den Premysliden dieser Vorstellung zufolge die Regierung, wie das in konkreter Weise auf einem Denar 1 0 6 des böhmischen Fürsten Vratislaus II. (1061-1092), der ab 1086 König war, veranschaulicht wurde. Hier erscheint eine aus einer Rotunde - wohl der von St. Wenzel erbauten - herausgestreckte Hand, die eine Fahne als Herrschaftssymbol überreicht. Da die Umschrift Wenzels Namen nennt, handelt es sich wohl um Wenzels Hand. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Bauwerke auf jenen Denaren die Gottesgemeinde verbildlichen sollten, kann auch das Bild einer Stadt auf einem Denar des Olmützer Fürsten Wenzel (1125-1130 und vor 1125 in Olmütz gemeinsam mit Heinrich) zusammen mit dem Namen St. Peters 107 nahelegen. Dieser Name als Ersatz für die Inschrift A U R E A R O M A auf den erwähnten Bullen mit sehr
98
G . BANDMANN, M i t t e l a l t e r l i c h e
Architektur
als
Bedeutungs-
t r ä g e r , B e r l i n 1 9 5 1 , S. 8 5 . 99
F.
CACH,
Nejstarsi
ceske
mince
II.
Ceske
a
d e n ä r y o d m i n c o v n i r e f o r m y B r e t i s l a v a I. do d o b y
moravske
brakteätove,
Praha 1 9 7 2 , Nr. 3 6 6 . 100
D i e U m s c h r i f t auf
d e m A v e r s d e r M ü n z e ist u n k l a r ,
auf
d e m R e v e r s steht Scs. Petrus. 101
BANDMANN 1 9 5 1 w i e A n m . 9 8 , T a b . I V , A b b . 3 .
102
BANDMANN 1 9 5 1 w i e A n m . 9 8 , S. 9 5 .
103
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r . 4 6 0 . D a ß es sich h i e r nicht
z. B . um eine E r i n n e r u n g an K o n r a d s K l o s t e r g r ü n d u n g in T r e b i c h a n d e l t , b e w e i s t das B i l d auf d e r M ü n z e d e s T e i l f ü r s t e n
Svato-
p l u k ; seine B ü s t e hält in den H ä n d e n ein K i r c h e n m o d e l l , u n d dies e r i n n e r t an seine S t i f t u n g e i n e r K i r c h e auf
der Burg
Olomouc,
w i e es auch aus den schriftlichen Q u e l l e n b e k a n n t ist. 104 105 106
z. B . CACH 1 9 7 2 . w i e A n m . 9 9 , N r . 4 3 6 . CACH
1972
wie
Anm. 99,
J . HÄSKOVÄ, C e s k e m i n c e v
i k o n o g r a f i i ceskych d e n ä r ü 1 0 . - 1 2 . 107
Nr. 484. dobe romanske, Pnspevek stoleti, C h e b 1 9 7 5 , A b b .
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r . 4 9 6 .
k 25'.
Spezifische Züge der böhmischen Kunst
Denar Vladislaus I.
ähnlichen Stadtdarstellungen besagt, daß auf der Münze wie auf den Bullen ein allgemeines Symbol für die Civitas dei gemeint ist, bezeichnet durch St. Peter. Diese allgemeine Vorbildlichkeit der Civitas dei erfuhr auf dem Denar des böhmischen Fürsten Vladislaus I. (1109-1118, 1120-1125) 1 0 8 einen Wandel: Wenzels Kopf ist in der Mauer mit Türmen abgebildet. Dort wird Wenzel, dessen Namen die Umschrift nennt, in der Gottesstadt und nicht als Patron der Prager Bischofskirche dargestellt, während die Patrone Veit und Vojtech-Adalbert fehlen. Veit begegnet übrigens auf den Denaren nie, Adalbert beginnt zwar in dieser Periode auf Münzen zu erscheinen, aber nicht als Kirchenpatron, sondern auf anderer Bedeutungsebene. Das in Frage stehende Bild Vladislaus' I. ist also wohl für eine bohemisierte Civitas dei zu halten. Sie kommt auch auf einer Münze Vladislaus II. ( 1 1 4 0 - 1 1 7 2 ) vor, wo eine Arkade über der Mauer die Figur Wenzels rahmt. Zuweilen erscheint Wenzel auch zusammen mit der Gestalt Adalberts, mit oder ohne Nimbus. 109 Die andere Seite der Münze trug stets die Gestalt des Herrschers oder ein ihn vertretendes Symbol. Die echt heimische Auffassung der Civitas dei entstand offenbar und entfaltete sich im Zusammenhang mit der erwähnten Vorstellung von Wenzel als ewigem Herrscher Böhmens. Im Laufe der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts kam dann das erwachende Nationalbewußtsein hinzu; ein Beleg dafür könnte die Hinzufügung Adalberts zu Wenzel sein. In diesem Heiligenpaar, dem ersten Märtyrerpaar des Landes, kann man auch die im Himmel wohnenden Fürsprecher für das Wohl der herrschenden Dynastie sehen, und diese Dynastie repräsentierte die Nation. Die Form der Stadtabbildung auf unseren Münzen, übernommen wahrscheinlich von deutschen Vorbildern und später sogar in der Komposition von deutschen Münzen abhängig, 1 1 0 wurde
117
durch die Einsetzung böhmischer Heiliger inhaltlich bohemisiert. Die oben skizzierte These der Bohemisierung der Civitas dei bestätigten auch die Reliefs der südlichen Eingangsfassade der einschiffigen Emporkirche des hl. Jakob im Dorfe Jakub vom Jahre 1165. 1 1 1 Das Zentralmotiv im Portaltympanon, die Halbfigur Christi auf den Wolken oder dem Regenbogen mit segnender Rechten und mit einem Buch in der Linken sowie mit den Figuren zweier fliegender Engel mit Weihrauchfaß und Palme wird in den Seitenarkaden, die in zwei Reihen übereinander die gesamte Fassade gliedern, von den Ganzfiguren der hll. Peter und Paul begleitet. Die drei Einzelfiguren in der oberen Reihe stellen die hll. Vojtech-Adalbert, Wenzel und den damals noch nicht kanonisierten Procop dar. 1 1 2 Die stehende Figur der Dreiergruppe unter der Arkade über dem Portal kann man für Christus halten, dessen Sieg die palmtragenden Engel am Tympanon andeuten. Zu diesem Christus wenden sich betend zwei knieende Gestalten, wohl Slavibor und Pavel, die Söhne der Stifterin Marie, die in der schriftlichen Überlieferung erwähnt werden. Die Anbringung des Hauptmotivs am Portal und neben diesem ist durch die rechteckige Form der Fassade und durch das aus der Achse verschobene Portal bedingt. Die Wiederholung der Gestalt Christi in der oberen Reihe geschah, um die Beziehung der böhmischen Heiligen zu ihr und zum Hauptthema klarer hervortreten zu lassen.
108
CACH 1 9 7 2
109
CACH 1 9 7 2 w i e A n m .
wie Anm.
99, Nr.
541.
99, Nr. 591,
594,
608-610.
Die Zeit der Stauf er II. Geschichte - Kunst - Kultur. Katalog der Ausstellung . . ., Stuttgart 1 9 7 7 , Abb. 93/1, 2. 1 1 1 Literatur zur Baugeschichte: A . MERHAUTOVA, Rane stredovekä architektura v Cechäch, Praha 1 9 7 1 . — Die Reste des Reliefs auf dem Turm in: A . MERHAUTOVA, Romanische Kunst in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Jugoslawien, Prag 110
1974,
S. 1 3 9 .
-
Zur
Plastik:
J. MASIN,
E . B A C H M A N N / J . MASI'N/H. FILLITZ,
in:
Romanik
K.SCHWARZENBERG/ in
Böhmen,
Mün-
chen 1 9 7 7 , S. 1 8 1 , und die dort angeführte ältere Literatur. MA§1N deutete die zwischen den zwei Knienden stehende Gestalt (in der oberen Blendarkadenreihe) als den hl. Jakob, obwohl kein Attribut vorhanden ist. Ich nehme an, daß es sich hier nicht um Jakob sondern um Christus handelt, wie es der Gestus der Figur vermuten läßt. - Die neben dem Portal angeordneten Figuren des hl. Petrus und Paulus, zusammen mit der Halbfigur Gottes im Tympanon, repräsentieren Gott mit den zwei kirchlichen Hauptfürsten, also eine Komposition, die der Traditio legis entstammte. 1 1 2 Procop ist erst 1 2 0 4 kanonisiert worden. Seine Gestalt entspricht aber der späteren Ikonographie und paßt auch zu den zwei weiteren hier abgebildeten Gestalten Wenzel und Adalbert. Andere männliche Heilige außer diesen dreien gab es damals in Böhmen noch nicht, und Procop wurde schon als Heiliger verehrt.
Spezifische Züge der böhmischen Kunst Gegenüber den Münzen w a n d e l t e sich der Inhalt der Fassadenausschmückung nicht wesentlich. Freilich blieben hier nur die A r k a d e n als Andeutung der Stadt oder des Stadtpalastes. Ihre Kompositionsform, die früher schon auf deutschen und böhmischen Darstellungen vorgekommen w a r , mag die A r k a d e n verteilung der Stirnwand beeinflußt haben. 1 1 3 A l l e m Anschein nach kann die Südfassade von St. J a k o b ebenfalls für eine heimische Redaktion des allgemeinen Themas der Civitas dei gehalten werden. D a es sich hier um eine Herrscherkirche handelt, w u r d e St. Wenzel wohl nicht ausdrücklich als ewiger Herrscher vor Augen geführt, sondern, nach seinem Helm und den anderen Attributen zu urteilen, eher als Glaubenskämpfer, als miles christianus, ebenso w i e vermutlich auch A d a l b e r t und Procop gemeint waren. W i e bei den Münzen muß man auch hier die Initiatoren des Programms unter Angehörigen des
5
Jakobskirche im Dorfe Jakub, 1165
119
weltlichen Klerus in höfischen Kreisen vermuten. Ihnen stand auch die Stifterin M a r i e nahe, zumal der Überlieferung zufolge V l a d i s l a u s selbst an der W e i h e des B a u w e r k s teilnahm. D i e Ausmalung der Kirche ist nicht erhalten. D i e übermalten Figuren in der Apsiskonche stellten ursprünglich wohl die M a i e s t a s domini dar, hier vielleicht in der üblichen, nicht bohemisierten Fassung. In der Reihe der bohemisierten Civitas-dei-Darstellungen folgt dann die typisch böhmische Ausma-
1 1 3 In der Achse des T y m p a n o n s finden w i r z w a r nicht die übliche M a i e s t a s domini, denselben Sinn hat aber die H a l b f i g u r Christi über den W o l k e n oder auf dem R e g e n b o g e n ( ? ) . D a s M o tiv d e r E n g e l mit den W e i h r a u c h f ä s s e r n , welches in Böhmen erst später häufiger anzutreffen ist, kann man bei der sitzenden M a donna auf d e m Glasfenster in Chartres (siehe H. SCHRADE, D i e romanische M a l e r e i . Ihre M a i e s t a s , Köln 1 9 6 3 , S. 1 7 3 ) beobachten.
6 Znojmo (Znaim), Wandgemälde in der Rotunde, vermutlich 1134, Detail des premyslidischen Zyklus
120
ANEZKA MERHAUTOVÄ / DUSAN
lung der Rundkirche, 114 die ursprünglich in der Vorderburg der mährischen Teilfürsten von Znaim stand, geschaffen nach dem Umbau und der Einwölbung im 2. Viertel des 12. Jahrhunderts. In zwei übereinanderliegenden Streifen ist hier unter Bögen, die eine bemalte Quadermauer tragen, die Szene der Berufung Premysls auf den Thron nebst 27 stehenden Premysliden dargestellt, davon 18 mit und 9 ohne Mantel. Nur eine der mit einem Mantel bekleideten Figuren trägt eine Krone auf dem Kopf und hält außer der Fahne und dem Schild, die allen gemeinsam sind, noch das Zepter in der Rechten. Der übrige ikonographische Inhalt entspricht dem damals Üblichen: den Streifen unterhalb der Premysliden füllen Szenen eines christologischen Zyklus bis zur Anbetung der Könige und den ganz unten eine gemalte Draperie. Die Apsiskonche schmückt die Maiestas domini mit den Evangelistensymbolen, ihren inneren Bogen bedecken Halbfiguren von Engeln in rechteckigen Feldern, und die Wand unter der Maiestas zeigt eine Apostelreihe unter Arkaden. Der übrige Rest der Ausmalung ist nicht mehr erhalten. Zu Seiten des Apsisbogens - in der Höhe der Premyslidenreihe - fand das Ehepaar der fürstlichen Stifter Platz: Der Stifter erhebt das Kirchenmodell, die Stifterin ein Gefäß in Richtung auf die Hand Gottes, die aus einer über der Konche gemalten Wolke auf die beiden weist. Über der oberen Premyslidenreihe - in der Kuppel - sieht man vier Cherubingestalten auf Rädern im Wechsel mit den vier Evangelisten, jeweils mit dem zugehörigen Symbol über dem Kopf. Im Scheitel der Kuppel erscheint die Taube des Hl. Geistes. In der neuesten Literatur werden die Gemälde nach den Stilmerkmalen und einer späteren Inschrift, 115 die bei der vorletzten Restaurierung in den Jahren 1 9 4 7 - 1 9 4 9 entdeckt wurde, auf das Jahr 1134 datiert und das Stifterpaar als Konrad von Znaim und seine Frau Marie, Tochter des serbischen Uros identifiziert. Die die Inschrift untersuchenden Fachleute 116 ließen jedoch die Inschrift nicht als Fixpunkt für die zeitliche Eingliederung der Gemälde gelten, sowohl, weil sie offenbar viel später entstanden ist, als auch ihres fälschungsverdächtigen Textes wegen. Sie schlössen aber nicht aus, daß der Text sich auf eine nicht erhaltene Urkunde ähnlichen Inhalts stützt. Die Pfemyslidengenealogie könnte jedoch an sich schon zu einer genaueren Datierung der Malerei verhelfen; denn wir wissen, daß ähnliche Reihen durch den noch lebenden Herrscher bestellt oder vervollständigt zu werden pflegten. Im Einklang mit der
TRESTÎK
Literatur kann man die Mantelfiguren für die Prager Fürsten halten, zumal eine von ihnen nur Vratislaus II. (König 1086) 1 1 7 darstellen kann. D a ß dessen Figur aus der Reihenfolge der Prager Premysliden herausgelöst und in die Achse der Rundkirche gerückt wurde, erklärt sich wahrscheinlich aus seiner königlichen die anderen Premysliden überragenden Stellung. Die Gestalt des ersten Fürsten mit Mantel, die der Szene der Berufung Premysls auf den Thron folgt, stellt höchstwahrscheinlich Borivoj dar, nicht Premysl bereits als Fürsten, wie Friedl meinte, der in den nachfolgenden sieben Gestalten sieben mythische Fürsten Böhmens erkannte. Unter Borivoj nämlich wandelte sich, wie zeitgenössische Texte zeigen, 118 der Mythus der Heiligen Hochzeit des Ackermanns Premysl mit Libuse in der historischen Überlieferung. Borivoj beanspruchte die Herrschaft als Nachkomme Premysls. Hinter Borivoj reihen sich logischerweise Gestalten der Prager Premysliden an (in Mänteln), und unserer Meinung nach ergibt sich aus deren Anzahl (18), daß Sobeslaus I. ( 1 1 2 5 - 1 1 4 0 ) der letzte von ihnen sein müßte. Er ist, auch Cosmas' Ansicht zufolge, von den Herrschaftsunterbrechungen einiger Fürsten abgesehen, der 18. Herrscher auf dem böhmischen Thron. So gesehen bestätigt sich die Richtigkeit der Aussage in jener späteren Inschrift und die Identifizierung des vorerwähnten Stifterpaares. In den mantellosen Gestalten könnte dann eine Darstellung der mährischen Premysliden gesehen werden, obgleich die spärlichen historischen Nachrichten hier eine genauere Bestimmung nicht erlauben. Wenn diese Über-
1 1 4 J. MASÎN, Românskâ nâstënnâ malba v Cechâch a na Morave, Praha 1 9 5 4 , S. 1 7 ff., und die dort zitierte ältere Literatur. - A . MERHAUTOVÄ-LIVOROVÄ, Ikonografic znojemského premyslovského cyklu, in: Umeni X X X I , 1 9 8 3 , S. 1 8 ff. - A . MERHAU-
TOVÄ
in:
A.
MERHAUTOVÂ/D.
TRESTÎK,
Românské
umëni
v
CC-
chich a na M o r a v ë , Praha 1 9 8 3 , S. 1 5 5 ff. 115
Die
Inschrift
in
FRIEDELS
Rekonstruktion
(FRIEDL
1966
w i e A n m . 1 1 4 ) lautet: In reg(no) d(omi) ni n(ost) ri Ih(es)u X(risti) A n n o d(omi)nice ab incarnati(onis) ei(us)d(em) Mill(esim)o C X X X I I I I p(er)act(is) pict(uris) re(gum) aux(it) celam beat(e) v(irginis) Ma(rie) et S.Cathar(ine) . . . dux Conrad(us) s(e)c(un)d(us) f(un)d(a)tor (et) (nou)am (fec)it const(ruc)tio(nem) eius . . . 1 1 6 A . VIDMANOVÄ, Zur rätselhaften Inschrift in Znaim (Znoijmo), in: Études de civilisation médiévale. Mélanges E. R. LAEANDE. Poitiers 1 9 7 4 . D o r t weitere Literatur. - J. BISTRICKÎ erklärte soeben, daß die Inschrift der Jahreszahl 1 1 3 4 entspricht. (Zur Zeit im Druck). 1 1 7 Nach Vratislaus ist erst Vladislaus II. ( 1 1 5 8 ) zum K ö n i g erhoben worden. Seine Figur findet sich in der Reihe nicht mehr. D i e W a n d m a l e r e i dürfte also v o r 1 1 5 8 entstanden sein. 118
TRESTÎK 1 9 6 8 w i e A n m .
63.
Spezifische Züge der böhmischen Kunst legungen richtig sind, dann können wir auch die Jahreszahl 1134 für die Entstehung der Malerei von der Inschrift übernehmen, denn in diesem Jahr kehrte K o n r a d aus der Gefangenschaft in sein Teilfürstentum zurück. D i e Wahl der Premyslidengenealogie fände dann in K o n r a d s Ansprüchen auf den Prager Thron ihre Erklärung. E r hat im Jahre 1142 Prag erfolglos belagert. 1 1 9 E s ist begreiflich, daß er als Stifter im Unterschied zu den übrigen mährischen Premysliden hier im Mantel erscheint. D i e Premyslidengenealogie sollte K o n r a d s Zugehörigkeit zur Ahnenreihe demonstrieren und seinen berechtigten Anspruch auf den Prager Thron unterstreichen. Diesen Wunsch K o n r a d s unterstützt das Programm auch mit theologischen Argumenten. D e r zugehörige Teil des christologischen Zyklus bot die Voraussetzung für die Erlösertat Christi und illustriert zugleich die Sendung Mariens, der die Rotunde ursprünglich geweiht worden war. Hinzu k a m ein Hinweis auf Christi himmlische Macht in Gestalt der T a u b e des Hl. G e i s t e s : denn in der neutestamentarischen A u f f a s s u n g vertritt dieser Geist die „von G o t t gegebene Macht". D e r Geist stellt nämlich Christus dar, mit dessen H i l f e die Christenheit sich über ihre Fehler hinwegträgt und von ihm geführt wird. U n d die Anknüpfung an die alttestamentarische A u f f a s sung soll dadurch zum Ausdruck kommen, daß „Propheten, aber auch besondere Herrschergestalten (Richter, Könige) für bestimmte A u f g a b e n ausgewählt und ermächtigt werden. Über solche Menschen kommt der Geist als eine Macht, die sie in Bewegung setzt und ihnen die für den A u f t r a g nötige Vollmacht verleiht." 1 2 0 Nach der Platzierung der Premyslidengestalten unter der K u p p e l und zugleich über den christologischen Szenen ist anzunehmen, daß hier erst die christlichen und nicht schon die mythischen Premysliden dargestellt sind. D i e Figuren des Zyklus sind ohne Votivgestus dargestellt. Sie sind deshalb vermutlich als Angehörige der Gottesgemeinde, der Civitas dei aufgefaßt. D a f ü r spricht auch die Tatsache, daß die A r k a d e n über ihnen aus einer gemalten, durchlaufenden Q u a d e r m a u e r ausgeschnitten sind, die ähnlich wie auf den Münzen wohl eine bildkünstlerische Abkürzung des Himmlischen Jerusalem sein sollten. Zugleich konzentrieren sich die premyslidischen Gestalten auf den Himmelsherrscher in Begleitung der Apostel in der Apsis, aber hier, im Unterschied zur St. J a k o b s f a s s a d e , sind es nicht Heilige, sondern Mitglieder des premyslidischen Geschlechts. Inhaltlich wurde die Ausstattung von K o n r a d s Burg-
121
kirche auf seine Machtansprüche zugeschnitten, die mit Zustimmung Gottes und der verstorbenen Ahnen im Himmel realisiert werden sollten. D i e Annahme, die Pfemyslidenfiguren der Znaimer Malereien seien auch als Mitglieder der Civitas dei zu verstehen, könnte noch eine andere Darstellung stützen, die den Inschriften zufolge mit Sicherheit die Civitas dei abbildet. 1 2 1 E s handelt sich um das Titelblatt der oben beschriebenen Handschrift von Augustins Civitas dei, die vermutlich böhmischen Ursprungs ist und etwa aus dem dritten Viertel des 12. Jahrhunderts stammt. D a s ganzseitige B i l d der Civitas dei zeigt freilich anders als in Znaim den Premyslidenzyklus nicht. E s ist aber um andere Figuren bereichert, die wiederum Böhmen vertreten, vier Halbfiguren ohne Nimben, mit der Beischrift B O E M E N S E S über den K ö p f e n . D i e Erklärung für ihre Aufnahme in die Civitas dei liefert das Spruchband in ihren H ä n d e n : S P E S A M O R A T Q U E F I D E S I V S T O S L O C A T H I C B O E M E N S E S , wie im ersten K a p i t e l erklärt wurde. D a s gemeinsame Kennzeichen der Znaimer Gemälde, der St. J a k o b s f a s s a d e und der Münzbilder ist die mit H i l f e von Heiligen oder weltlichen Figuren der einheimischen Geschichte bohemisierte Form der Civitas dei. Obwohl in Znaim die Civitas dei nicht zum Hauptprogramm wurde, ist sie doch in dem
119 Konrads Persönlichkeit und seine Ambitionen charakterisierte V . NOVOTNY-, C e s k e dejiny 1/2, Praha 1 9 1 3 , S. 7 7 2 ff. 1 2 0 Theologisches Lexikon. Hrsg. von H . JENSSEN/H. TREBS in Verbindung . . ., Berlin (West) 1978, S. 196 ff., Stichwort HL. Geist, Geist Gottes. - D i e T a u b e d. h. der Heilige Geist inspirierte die schreibenden Evangelisten, deren Figuren in der K u p p e l abgebildet sind. D i e Platzierung der premyslidischen Reihe direkt unter der K u p p e l deutet wahrscheinlich an, daß diese Gestalten auch in die himmlische Stadt gehören. D a s bestätigten vielleicht auch die Farben der Streifen im Hintergrund dieser Figuren, die grün und blau sind, w a s an den Regenbogen in der Maiestas domini erinnert. 121 Die Handschrift Civitas dei wird im Archiv der Prager Burg aufbewahrt, früher in der Kapitelbibliothek von St. Veit.
- A . MERHAUTOVÄ i n : MERHAUTOVÄ/TRESTIK 1 9 8 3 w i e A n m .
114,
S. 214, und dort zitierte ältere Literatur. - L a Gerusalemme Celeste. Catalogo della mostra . . ., Milano 1983. L a dimora di D i o con gli uomini. Immagini della G e r u s a l e m m e Celeste dal III al X I V secolo a cura di M. L . Gatti Perer, Milano 1983, S. 218. - D i e Komposition des Titelblattes, die A u f f a s s u n g der Figuren, die Farben erinnern an die Handschriften des dritten Viertels des 12. Jahrhunderts aus Helmarshausen (siehe: E.KRÜGER, D i e Schreib- und Malwerkstatt der Abtei Helmarshausen bis in die Zeit Heinrichs des Löwen, 3 Bde., D a r m s t a d t / M a r b u r g 1 9 7 2 ) was unsere Datierung unterstützt und nicht die des Mailänder Katalogs.
122
ANEZKA MERHAUTOVÄ / DUSAN TRESTifC
HITMW'MP
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f. A V l i f f f
Gesamtprogramm enthalten. Die bohemisierte Civitas dei kam in Kunstwerken vor, die im engeren oder weiteren Umkreis des Herrscherhofs gestiftet wurden und in ihrem Programm vermutlich auf denselben Klerus zurückgingen, durch dessen Verdienst eine Art Bewußtsein von böhmischer Geschichte entstand, das der einheimischen Regierung entgegenkam. In anderen Abbildungen des Himmlischen Jerusalem oder der Civitas dei, ist die spezifisch böhmische Ikonographie nicht nachweisbar. Zum Beispiel wurde dieses Thema in der St. Georgsbasilika der Prager Burg sogar zweimal gemalt: 122 am Kreuzgewölbe im Chor und am Gewölbe der Kapelle, die an
7 Civitas dei, Titelblatt, Archiv der Prager Burg A 7, vor oder um 1170
die Südseite angefügt ist. In beiden Fällen handelt es sich um eine gemalte Mauer mit Türmen und Toren, vervollständigt mit Heiligen- und Evangelistenfiguren, wie wir sie von nichtböhmischen Wandmalereien kennen. In fragmentarisch erhaltenen Malereien einschiffiger Herrscherkirchen auf dem Lande 1 2 3 kann die bohemisierte Fassung überhaupt nicht nachgewiesen werden. 122 MAäiN 1954 wie A n m . 114, S. 4 3 ff. - MASIN 1 9 7 7 w i e A n m . 111, verschob seine f r ü h e r e D a t i e r u n g aus d e m 13. Jh. in d a s 12. Jh. 123 M a S I n 1954 w i e A n m . 114, siehe die L o k a l i t ä t e n im Katalog.
Spezifische Z ü g e der böhmischen K u n s t
III. Wenzel, der ewige Herrscher Die
Ikonographie
Böhmens fand
beträcht-
liche A u f m e r k s a m k e i t in d e r t s c h e c h i s c h e n
Fachlite-
ratur;124
d e s hl. W e n z e l
sie kann t r o t z d e m
n o c h in m a n c h e m
ver-
v o l l s t ä n d i g t w e r d e n . I n d e r St. W e n z e l - L e g e n d e G u m p o l d s , 1 2 5 e n t s t a n d e n auf W ü n s c h d e r b ö h m i s c h e n F ü r stin E m m a ( f 1 0 0 6 ) , d e r G e m a h l i n B o l e s l a u s II., b e -
123
- J. CIBULKA, Obraz sv. Václava, in: Uméní III, 1930," Sv 157 ff., konstatierte, daß die Figur Wenzels in der Legende aus Wolfenbüttel nach dem Muster von kaiserlichen Domestiken als Herzog aufgefaßt wurde und später, im sog. Vysehrader Kodex dann als Herrscher mit einer Mitra auf dem Kopf - im Unterschied zur Legende, nach der Christus Wenzel mit der Märtyrerkrone geschmückt hat. Der wehrlose Fürst Wenzel verwandelte sich langsam auf den Münzen zum bewaffneten Ritter. - KVÉT 1948 wie Anm. 5, S. 208, schrieb der Figur Wenzels eine sehr repräsentative Rolle zu. - A. MATÉJCEK, SV. Václav v ceském uméni vytvarném, in: Prilcha Národnich listú k c. 267 ze dne
g e g n e t m a n der ersten D a r s t e l l u n g W e n z e l s , u n d zwar
28.9.1927.
gleich dreimal.
daß in der zweiten Denarenepoche (vom ersten Dezennium bis zu den siebziger Jahren des 11. Jahrhunderts) auf den böhmischen Münzen die Namen von Heiligen nach den westlichen Beispielen auftauchen, auch der Name des Landespatrons (z. B. auf der Münze des Herzogs Jaromir). Die Figur Wenzels schmückte zum ersten Mal die Münzen des Herzogs Oldrich (Ulrich), hier als Heiliger mit Kreuz. Auf der späteren Münze Bíetislaus I. ist das Kreuz durch eine Fahne ersetzt worden. Daraus kann man schließen, daß der Märtyrer Wenzel sich zum Landespatron wandelte. In der weiteren Denarenepoche - im 12. J a h r h u n d e r t wurden Wenzel und Adalbert auf den Münzen als Landespatrone angesehen (S. 14), wobei Wenzel sowohl als ewiger Herrscher Böhmens als auch als Märtyrer dargestellt wird. Auf dem Denar Vladislaus II. wurde seine Krönung abgebildet, also ein konkretes historisches Ereignis (vgl. dazu auch den folgenden Text). In der zweiten Hälfte des 12.. Jahrhunderts nahm die künstlerische Qualität der Münzen ab und die Ikonographie vereinfachte und wiederholte sich. 125 Die Provenienz und die Werkstatt stehen nicht fest. A. FRIEDL, Iluminace Gumpoldovy legendy o sv. Václavu, Praha
Auf
dem
Titelblatt
erscheint
Wenzel
in e i n e k u r z e T u n i k a u n d - e i n e n M a n t e l
stehend, gekleidet,
m i t d e r F a h n e n l a n z e in d e r H a n d . C h r i s t u s , H a l b f i g u r m i t B u c h in d e r L i n k e n , i n d e m
dessen
halbrun-
den F e l d im oberen B i l d t e i l erscheint, krönt W e n z e l . D i e z u s e i n e n F ü ß e n k n i e n d e F ü r s t i n E m m a b e t e t zu ihm. In den im T e x t befindlichen Szenen (Trinkspruch, Ermordung Wenzels)
finden
wir W e n z e l ohne Attri-
b u t e , in d e r E r m o r d u n g s s z e n e ist er i n s c h r i f t l i c h a l s S ( a n c t u s ) b e z e i c h n e t . Ä h n l i c h w i e d e r K ö n i g s i n d auch seine Mörder gekleidet. D i e Kopfbedeckung Wenzels auf d e m T i t e l b l a t t , g e g l i e d e r t durch d r e i h o r i z o n t a l e Streifen m i t K r e u z darüber, w u r d e e n t w e d e r als Siegeskrone in G e s t a l t eines H e l m e s bezeichnet126
oder
1926.
124 TftESTiK 1968 wie Anm. 63, S. 183 ff. - Ders., Kosmas, Praha 1972, S. 113 ff. - G. SKALSKY, Ceske mince a peceti 11. a 12. stoleti, in: Sbornik Närodniho musea, 1938, S. 1 ff., machte darauf aufmerksam, daß der in der Umschrift eingeschriebene Name Wenzels sich auf das Bild auf derselben Seite der Münze bezieht, daß der Name Wenzels auf der Münze Jaromirs direkt in die abgebildete Architektur eingeschrieben wurde und daß das Bild Wenzels für die böhmischen Denare vom 11. Jahrhundert bis zum Ende der Denarenepoche am Anfang des 13. Jahrhunderts typisch war. - P. RADOMERSKY/V. RYNES, Spolecnä ücta sv. Väclava a Vojtecha zvlääte na ceskych mincfch a jejf historicky vyznam, in: Numismaticke listy XIII, 1958, S. 35 ff., konstatierten, daß die Verehrung Wenzels als des Märtyrers und Mitglieds des pfemyslidischen Geschlechts vergleichsweise viel mehr als in anderen Ländern in der Staats- und Regierungsideologie benutzt wurde. Die jeweilige Gestalt auf dem Avers der Münze und die des Wenzel auf dem Revers betonten die Verbindung der realen Regierung mit dem Himmel. Der hl. Adalbert wurde erst zur Zeit des Kosmas ( t 1125) hinzugenommen, und seine Figur tauchte erst auf den Münzen aus der gemeinsamen Regierungszeit Borivojs II. und Vladislaus I. auf, nachdem ihm der nördliche Chor der bischöflichen Basilika in Prag geweiht worden war und nachdem das Geschlecht der Vrsovici, die die Burg Libice, den ehemaligen Besitz der Eltern Adalberts, bewohnten, ausgerottet war. - V. RYNES, SV. Vaclav a mince v nasich zemich, in: Rocenka Üstfedni zälozny lidove za rok 1941; Ders., Sv. Vojtech a ceska mince, in: Rocenka Üstfedni zälozny lidove za rok 1942; E. NOHEJLOVÄ-PRÄTOVÄ, Kräsa ceske mince, Praha 1955, S. 66, meint von den Figuren Wenzels und Adalberts auf dem Denar Vladislaus I., daß „der premyslidische und slavnikingische Heilige hier die Patrone des vereinigten Landes vorstellen".
-
-
HÁSKOVA 1 9 7 5 w i e A n m . 1 0 6 , S. 1 1 , s t e l l t e f e s t ,
MATÉJCEK
1931
wie
Anm. 58,
S. 6 2 ,
schloß
die
Ent-
stehung in einem fremden Kloster nicht aus; der Maler soll nach ihm im Fuldaer Umkreis geschult worden sein. - KVÉT 1948 wie Anm. 5, lokalisierte die Entstehung des Buches in Prag, obwohl die Ausschmückung an Fulda-Hildesheim anknüpfe. - MASÍN 1977 wie Anm. 111, S. 141, führte die Provenienz der Mininaturen auf die Reichenau und Echternach zurück, schrieb das Buch aber einem böhmischen Skriptorium zu. - MERHAUTOVÁ, in
MERHAUTOVÁ/TRESTÍK
1983
wie
A n m . 114,
S. 6 5 ,
sucht
die
formale Provenienz und auch die Entstehung des Buches in westlichen Skriptorien, etwa im Umkreis Fulda-Hildesheim, wo die Fürstin Emma das Buch während ihres Aufenthaltes in Bayern herstellen lassen konnte. - Der Palaeographie nach meinte P. SPUNAR, Paleografické poznámky k wolfenbüttelskému rukopisu Gumpoldovy legendy, in: Listy filologické 4, 1956, S.44, an fremden Ursprung des Buches, .im Umkreis von Fulda-Hildesheim denken zu müssen. - A. FRIEDL, Nové poznatky k déijnám ceského malírstvi v raném a vrcholném stfcdovéku, in: Umení XXI, 1973, S. 257 ff., leitete die Ausschmückung von dem Echternacher Skriptorium ab, aber der Illuminator arbeitete in Böhmen und vermischte die fremden Vorlagen mit heimischen Elementen, z. B. bei der Form des Helms usw. 126 D. HEJDOVÁ, Prilba zvaná „svatováclavská", in: Sbornik Národniho muzea v Praze, rada A-historie, sv. XVIII, 1964 (1/2), S. 94 ff., meinte, daß der Helm eine zu allgemeine Form hat und den Rang des Herzogs im Sinne einer älteren Tradition gut andeutet. Das Titelblatt in der Gumpolds-Legende sollte Wenzels Verdienst um die Vereinigung des Landes betonen. KL. BENDA, Svatováclavská prilba ve vytvarném vyvoji premyslovskych Cedí, in: Uméní XX, 1972, S. 114 ff., sah auf dem Titelblatt auch einen Helm, der nach seiner Ansicht aber Spytihnév II. (1055-1061) zusammen mit Schwert und Lanze zum Zeichen der Fürstenmacht in Böhmen verliehen ward. Er datiert den Helm in die zweite Hälfte des 10. bis in die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts.
124
A N E Z K A MERHAUTOVÁ / DUSAN TRESTÍK
S Gumpold-Legende aus Wolfenbüttel, Titelblatt, vor 1006
als Märtyrerkrone 1 2 7 oder nur als Helm mit Kreuz-
Vorlage, die sich zur Verdeutlichung der fürstlichen
Symbol der herrscherlichen M a c h t 1 2 8 - aber auch als
Stellung des Heiligen eignete. Beispielsweise bot sich
Mitra.
das Titelblatt im Evangeliar Ottos I I I . 1 3 1 , entstanden
129
beurteilt,
D e r Helm wurde nach der älteren Tradition 130
wo
er
als
Herrschaftszeichen
bei
der
vor 1 0 0 0 , und hier besonders die Herzogsfigur zur
Krönung überreicht zu werden pflegte; sonst wurde
Rechten Ottos an. Bis auf die Fußbekleidung ist W e n -
angenommen, daß Helm, Schwert und Lanze bis zu
zel tatsächlich ähnlich gestaltet. D i e Figur trägt eben-
Spytigneus I I .
( f 1 0 6 1 ) Kennzeichen
der fürstlichen
Macht der Premysliden waren. Schriftliche
Quellen
über die Insignien böhmischer Herrschaft sind nicht überliefert.
Auf
Denaren
wird
die
Büste
Boles-
laus I I . nicht von Attributen begleitet; sie wird nur durch
das
Kreuz
vervollständigt.
Die
Gumpold-
Legende entstand wohl nicht in Böhmen, wo es ein tätiges Skriptorium schwerlich gegeben hat, und daher stützte sich der Typus Wenzels auch auf eine fremde
127
TRESTÍK
128
CIBULKA 1 9 3 0 w i e A n m .
1968
129
TRESTÍK
1968
wie Anm. 63, S. 193.
wie
124.
Anm. 63,
S. 1 9 3 ,
wies
nach,
daß
es
sich hier nicht - wie SCHRAMM meinte - um eine M i t r a h a n d e l e ; erst Spytihnév I I . b e k a m die päpstliche Genehmigung, eine Mitra zu tragen. 130
HEJDOVÁ
1964
wie
Anm. 126.
-
BENDA
1972
126. 131
SCHRADE
1963
wie
Anm. 113,
S. 2 5 7 ,
Abb. 2.
wie
Anm.
Spezifische Züge der böhmischen Kunst falls nur die Fahne 1 3 2 und auf dem Kopf eine Krone ähnlichen Umrisses, bereichert' nur um das kleine Kreuz. W ä h r e n d die Krone des Herzogs im Evangeliar durch drei geschmückte Streifen gegliedert ist, erscheint diejenige Wenzels nur mit glatten Streifen versehen. 1 3 3 Demnach handelt es sich bei Wenzel mehr um eine Krone als um einen Helm, das Kreuz machte sie vielleicht zur Märtyrerkrone. Von dem E v a n g e l i a r konnte auch die Idee der Krönung übernommen werden, 1 3 4 in unserem Falle freilich abweichend dargestellt. Im Unterschied zu dem Evangeliar drückt unsere Darstellung vor allem das Märtyrertum und die Heiligkeit des Fürsten Wenzel aus. Diesen Heiligen und zugleich Geschlechtsahnen bittet die Fürstin E m m a um Fürsprache im Himmel, für das Wohl und die Fortdauer der premvslidischen Dynastie. Beinahe gleichzeitig mit der Legende erschien auf einem böhmischen D e n a r Wenzels N a m e in der Umschrift des kreisrunden Feldes mit einem eingeschriebenen, gleicharmigen Kreuz mit vier Halbkugeln zwischen den Armen. 1 3 5 Ein ähnliches B i l d auf karolingischen und auf einigen deutschen Münzen bis zum 12. Jahrhundert symbolisiert Christus und seine W u n d male. 1 3 6 Von daher w u r d e das Kreuzzeichen für böhmische D e n a r e übernommen, hier aber mit Wenzels Namen und nicht mit dem des Münzherren verbunden. Dessen N a m e erscheint in der Umschrift auf dem Avers unseres Denars mit der Abbildung der Kapelle, die nach den älteren einheimischen und den karolingischen Münzen die Christiana religio vorstellt. Wenzels N a m e , der auf der Jaromir-Münze zum ersten M a l e v o r k a m (und dann beinahe regelmäßig auf einer Seite der D e n a r e bis zum E n d e ihres Gebrauchs w i e d e r ) , stand wohl für die Person Wenzels, wahrscheinlich im Sinne von Märtyrer und Fürsprecher für den bestehenden Herrscher. Diese Bedeutung ergibt sich aus der beschriebenen Münzseite, die mit der Angleichung Wenzels an Christus zum Leitfaden in der ersten altslawischen Wenzelslegende wurde. Dort liest man z. B . : „Denn sein Leiden glich wahrhaft dem Leiden Christi, . . . Wohl hielt man Rat über ihn w i e die J u d e n über Christus, man hieb ihn in Stücke w i e Petrus und mordete unschuldige K i n d e r seinetwegen wie auch Christi wegen." 1 3 7 Vielleicht geht auf diese Legende auch die Kombination des Kreuzbildes mit Wenzels Namen zurück, so d a ß das Märtyrertum Wenzels, des Heiligen und Fürsprechers der Dynastie, w i e auf dem Titelblatt der Gumpold-Legende hervortritt.
9
125
Denar Jaromirs
Infolge der erwähnten und weiterer Legenden fand auch die Bildangleichung Wenzels an Christus auf Oldrichs (Ulrichs) Münzen eine Fortsetzung und w u r d e sogar durch eine A u s w a h l verschiedener Symbole bereichert. Auf den Denaren erscheint mit W e n 132 j e n Herzögen in der ottonischen Handschrift, so dient auch bei W e n z e l in der Gumpold-Legende nur die Fahne als Signum seiner W ü r d e . D i e Lanze bezeichnete den Krieger, .den heiligen Krieger, den Erzengel Michael usw. Siehe A . BÜHLER, Die heilige Lanze, in: D a s Münster 1 6 , 1 9 6 3 . Nicht e t w a e i n e T i a r a , siehe d a s S t i c h w o r t P a p s t i n :
H.
SACHS/E. BADSTÜBNER/H. NEUMANN, C h r i s t l i c h e I k o n o g r a p h i e
in
133
Stichworten, Leipzig 1980. 13/* E i n e K r ö n u n g d e s H e r r s c h e r s durch Christus finden w i r auf d e r E l f e n b e i n t a f e l a u s d e r Z e i t u m 1 0 0 0 : mit Christus in d i e F o r m d e r M a i e s t a s d o m i n i einen H e l m auf den K o p f d e s hl. V i k t o r u n d G e r e o n s setzend, d i e b e i d e ein P a l m b l a t t a l s M ä r t y r e r z e i c h e n in d e r H a n d h a l t e n . N u r d e r H e l m v e r r ä t , d a ß sie K r i e g e r w a r e n . S i e h e E . KUBACH/V. H . ELBERN, D a s f r ü h m i t t e l a l t e r l i c h e I m p e r i u m , B a d e n - B a d e n 1 9 6 8 , A b b . 3 7 , 3, S. 2 1 4 . V o n ä l t e r e n A n a l o g i e n s. z. B . : D i e G o t t e s h a n d krönt den Herrscher in d e m schon e r w ä h n t e n E v a n g e l i a r Ottos, o d e r in det B u c h i l l u m i n a t i o n a u s d e r Z e i t u m 8 7 0 i n : W . BRAUNFELS, D i e W e l t der Karolinger und ihre Kunst, München 1968, A b b . 313 usw. 135
HÄSKOVÄ 1 9 7 5 w i e A n m . 1 0 6 , A b b .
10.
P. BERGHAUS, D a s M ü n z w e s e n , i n : K a r l d e r G r o ß e - W e r k u n d W i r k u n g , A a c h e n 1 9 6 5 , S. 1 4 9 f., 1 5 5 : „ E n t s p r e c h e n d den v i e r K r e u z e s w u n d e n Christi w e r d e n in d i e K r e u z e s w i n k e l K u g e l n gesetzt, e i n e K o m b i n a t i o n , d i e b e r e i t s in d e r M e r o w i n g e r zeit b e g e g n e t . . ." In d e r U m s c h r i f t ist d e r N a m e d e s H e r r schers e i n g e s c h r i e b e n . 137 N e j s t a r s i l e g e n d y p r e m y s l o v s k y c h Cech. E d . O . KRÄLIK, P r a h a 1 9 6 9 , S. 5 7 . - A u f d i e P a r a l l e l e C h r i s t u s - W e n z e l in der ersten a l t s l a w i s c h e n W e n z e l - L e g e n d e machte schon F . GRAUS a u f m e r k s a m i n : D e j i n y v e n k o v s k e h o l i d u v Cechäch v d o b e p f e d husitske I, P r a h a 1 9 5 3 , S. 6 2 , u n d d a b e i m e r k t e er a n , d a ß d i e ses M o t i v „ d i e H e i l i g s p r e c h u n g d e s F ü r s t e n - M ä r t y r e r s " , d i e Festigung der pfemyslidischen Regierung bezeugt. 130
Anelka MerhautovA / DuSan TftEäTiK
126
zels N a m e n in der Umschrift die D e x t e r a dei, 1 3 8 die Profilbüste Wenzels mit erhobener H a n d , geformt nach Christi Gestalt auf dem D e n a r Jaromirs, 1 3 9 und eine Wenzelsbüste en face mit einem als Zepter gehaltenen Kreuz an der Seite. 140 Diese Büste ist eigentlich eine Replik von Oldrichs Büste auf dem Avers der gleichen Münze, aber natürlich mit anderen Attributen. D a s Stabkreuz 1 4 1 in der Rechten Wenzels war eigentlich ein Attribut Christi und der Herrschaft allgemein. D a s Kreuz an der Seite folgt älteren einheimischen Münzen seit Boleslaus II. D e r Sinn des Kreuzes an der Seite der Büste ist aber nicht klar. Auf Oldrichs D e n a r e n begegnet man einem neuen Formelement, nämlich einer A r k a d e oder einem Triumphbogen (?) oder Baldachin mit Wenzels N a m e n , direkt an diese Architektur eingeschrieben. 142 D i e durch ihre Form an die Buchmalerei erinnernde Architektur des triumphbogenartigen Sockels behielt wahrscheinlich den Sinn der Christiana religio bei. 1 4 3 D i e Verbindung dieser Architektur mit dem Namen Wenzels bezeichnet ihn vermutlich als Glaubenskämpfer und Märtyrer.
weiteren Kreuz zur Seite. 1 4 5 D i e Hahnengestalt, 1 4 6 Symbol Christi und des Sieges des Guten über das Böse, unterscheidet dieses Bild von den älteren nicht durch neuen Sinngehalt, sondern nur in der Symbolauswahl. D i e stehende Figur Wenzels, 1 4 6 " geformt nach dem Vorbild der Bretislaus-Figur auf seiner anderen Münze unterscheidet dieses Bild inhaltlich nicht von der oben erwähnten Münze Jaromirs. Auch hier geht es um die Paralelle: Wenzel - Christus. D i e bisher verfolgten Darstellungen der Wenzelfigur betonten vor allem seine Heiligkeit. N u r manchmal wurde zugleich angedeutet, d a ß der Heilige oder Mär-
138 F. CACH, Nejstarsi ceske mince I. Ceske denäry do mincovni reformy Bretislava I., Praha 1970, Nr. 288. - Die Abbildung der Dextera dei war von den Münzen Boleslaus I. an üblich, auf seiner Münze z. B. mit seinem Namen in der Umschrift. Manchmal, auch später noch, war das Bild der Dextera dei von der Inschrift D E X T E R A D E I begleitet und die andere Seite der Münze dann mit der Büste des Herrschers geschmückt. Durch die Verbindung des Bildes der Dextera dei mit dem Namen Wenzels wollte man wahrscheinlich andeuten, daß Wenzel, selbst einmal Dei gratia Fürst, jetzt Gott, für den regierenden Herrscher bittet, der in Prag wohnt und dort diese Münze prägen ließ, wie die Inschrift PRAGA in der Mitte und der Name des Herrschers Odalricus auf der anderen Seite erkennen lassen. 139
CACH 1 9 7 0 w i e A n m . 1 3 8 , N r . 2 9 6 .
140
CACH 1970 wie Anm. 138, Nr. 293. Diese Abbildung Wenzels erinnert an Christus, den Sieger über das Böse, betont also eher Wenzel als Märtyrer denn als Fürst. Es geht dabei um eine ähnliche Darstellung wie die des Christus auf einer Elfenbeinplatte von dem Buchdeckel des Evangeliars aus Chelles, aus der Zeit um 800, abgebildet bei BRAUNFELS 1968 wie Anm. 134, Abb. 183. Eine ähnliche Vorstellung liegt auch dem thronenden Christus mit Kreuz auf der Pala d'oro in S. Ambrogio in Mailand aus der Zeit um 850 zugrunde, siehe J. HUBERT/J. PORSCHER/W. F. VOLBACH, L'empire carolingien, Paris 1968, Abb. 1 8 8 . 141 Wie Wenzel hält das Kreuz auch die thronende Maria, siehe Karl der Große wie Anm. 136, Abb. 102 und 104. 142
CACH 1 9 7 0 w i e A n m . 1 3 8 , N r . 2 5 8 , 2 8 6 . -
SKALSK*
1938
wie Anm. 124, S. 5, bemerkte, daß das Bild der kirchlichen Architektur von karolingischen Münzen abstammt. 143 Das allgemeine Symbol der Ecclesia und zugleich der Himmlischen Stadt kann man nach karolingischen Münzen dort annehmen, wo die Inschrift Xpistiana religio das Bild eines Sakralbaus umgibt, z. B. auf der Münze Ludwigs d. Fr., siehe
10
Denar Oldrichs (Ulrichs)
Auf den D e n a r e n Bretislaus I. treten zu den D a r stellungen älterer Münzbilder neue hinzu, so eine Hahndarstellung mit Wenzels N a m e n in der Umschrift, 1 4 4 ferner eine stehende Wenzelfigur im Fürstengewand mit Zepter in Kreuzform und mit einem
BERGHAUS 1 9 6 5 w i e A n m . 1 3 6 , T a b . 3 1 , A b b . 2 9 4 . A u f
unserem
Denar geht es eher um die allgemeine Ecclesia als Civitas dei als um die bischöfliche Basilika in Prag, deren Hauptpatron Veit zusammen mit Wenzel und Adalbert war. 144
CACH 1 9 7 0 w i e A n m . 1 3 8 , N r . 3 1 3 .
143
CACH 1 9 7 0 w i e A n m . 1 3 8 , N r . 3 1 7 .
146
D. FORSTER, OSB, Die Welt der Symbole, Innsbruck/Wien/ München 1961, S. 321. 14Ca Das Kreuzzeichen neben der Figur war offensichtlich ein traditionelles einheimisches Motiv von den Münzen Boleslaus II. an, siehe CACH 1970 wie Anm. 138, Nr. 316 mit der Figur Bretislaus I.
Spezifische Züge der böhmischen Kunst
127
r V.LI b b v l ^ i S t ^ ^ ^ k J ^ Q y ^
Kodex 11 vysehradensis, Init. D , fol. 68 r, SKU X I V A 13
h
YEN-IT
A D M e . F r N O T ^ T ^ O D l T P.ATRE 5 W 6 T M Ä - m e M 6 T V A O R t M f-T Fi Li.05" e t " f M r a . e s W o - r o m s ' , A D H V C J W T 6 T H M I M Ä S V R ' V FöTE M e v s BS'SI" V I S c P L 5 - f ? ' * r q ntqm R 2 U 0 L A T G R V c i SVA €TV€NTT P06T M 6 * N O N P O J E S T M € V S F S S f OTfC/pts* Q s CMJ t ' X V 0 l € U S T V R f U M € 0 i F i ICH R e ß PE J V S S f . D F. N 5 COp v T Ä f
tyrer einmal ein F ü r s t w a r , wie z. B. in der G u m pold-Legende. 1 / l 7 Z u einer ikonographischen N e u e r u n g k a m es in der Z e i t Vratislaus II., der ab 1086 K ö n i g von B ö h m e n w a r . E i n e von seinen M ü n z e n ziert die Wenzelsbüste mit einem Z e p t e r u n d mit einer K r o n e auf dem K o p f , 1 4 8 eine a n d e r e d a n n die W e n z e l s - G e s t a l t im
147 Man kann HASKOVA 1975 wie Anm. 106, S. 12, nicht Recht geben, wenn sie meint, d a ß schon auf den Münzen Bretislaus I.
der W a n d e l vom Wenzel-Märtyrer zum Wenzel-Herrscher oder zum ewigen Herrscher vollzogen wurde. D a s Motiv der Fahne kann sie nicht als Begründung anführen, weil die Fahne mit der Figur Wenzels schon auf dem Titelblatt der Gumpold-Legende vorkam - obwohl Wenzel hier ganz klar als Märtyrer und nicht als Herrscher des böhmischen Landes gemeint ist. Meiner Meinung nach w u r d e auf der Münze Bretislaus I. auch Wenzels Heiligkeit betont, wie das ebenso auf seinen anderen Münzen der Fall ist. D i e Fahne deutet nur an, d a ß Wenzel auch einmal Fürst w a r - wie das Titelblatt der Gumpold-Legende. 148 CACH 1972 wie Anm. 99, N r . 341. D i e Form der K r o n e des Königs Vratislaus ist unbekannt, man kann nicht nachweisen, daß die K r o n e auf dem D e n a r die damalige wirkliche Krone abbildet.
128
ANEZKA MERHAUTOVA / DUSAN
TRESTIK
:
12
Denar Borivojs II.
Profil mit der Lanze. 1 4 9 Dann ist Wenzels Kopf auch mit einer M i t r a bekrönt, 1 5 0 die Vratislaus (als zweiter nach Spytigneus) mit päpstlicher Genehmigung tragen durfte. Aber es kommt auch die Wenzelsbüste mit Lanze oder nur eine H a n d mit Lanze vor. 1 5 1 Typisch w a r die schon erwähnte Darstellung der aus der Rotunde herausgestreckten H a n d mit Lanze oder Fahne. 1 5 2 Dieses Bild, mit dem Namen Wenzels in der Umschrift, steht am A n f a n g einer Entwicklung der Gestaltung Wenzels als Erben des böhmischen Landes, die spätere Siegel des 12. Jahrhunderts zeigen, und ebenso auch das böhmische Lied von Wenzel als dem Erben des Landes. Jetzt, in der Vratislauszeit, w i r d die Betonung Wenzels als Herrscher in den Vordergrund gestellt, bezeichnenderweise ähnlich auch in einer M i n i a t u r im sog. Vysehrader Kodex, der zur Krönung Vratislaus' oder bald nach seiner Krönung geschrieben und mit Miniaturen versehen wurde. Wenzels Gestalt in der D-Initiale dieses Buches 1 5 3 thront im geschmückten Untergewand auf einem Faldistorium und segnet mit der erhobenen Rechten, während seine Linke eine Fahne hält. Auf dem Haupt trägt er eine Pelzbedeckung mit herabhängenden Tatzen. D i e Inschrift neben der Initiale teilt mit, d a ß hier S. V E N Z E Z L A V S D V X dargestellt ist. Der eigentliche Text wird eingeleitet mit: In natali sc. Venzezlavvi ducis et mart. Im Bild fehlt j e d w e d e Andeutung von Wenzels H e i l i g k e i t ; Wenzel w i r d hier als Herrscher vorgestellt. D i e H a n d Gottes über seinem Kopf segnet ihn, ähnlich w i e die des Kaisers auf nicht „böhmischen" Miniaturen. 1 0 4 D a s
73
Denar Borivojs II.
Faldistorium 1 5 5 und Wenzels Kopfbedeckung, die als M i t r a gedeutet w u r d e , 1 5 6 finden sich in demselben Kodex ebenso bei der Pilatus-Figur wieder. Es w ä r e denkbar, d a ß Pilatus als Vertreter des Herrschers und als Richter als geeignetes Vorbild für die Gestalt Wenzels angesehen wurde, zumal man nicht wußte, welche Form die Herrschaftszeichen Wenzels hatten bereichert freilich um die Fahne, ein altes einheimisches Motiv. M i t einer ähnlichen Kopfbedeckung ist ein wenig später auch ein römischer Richter dar-
M 9
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r . 3 4 4 .
150
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r . 3 4 7 .
151
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r . 3 4 9 - 3 5 1 .
152
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r . 3 5 4 .
153
MERHAUTOVA/TRESTIK 1 9 8 3 w i e A n m . 1 1 4 , S . 8 6 ff.
1 5 4 Zu den (in A n m . 1 3 4 ) zitierten A b b i l d u n g e n kann man noch d a s M o t i v der H a n d Gottes hinzufügen, die über dem Kopf des Herrschers angeordnet ist. V g l . z. B. im karolinigischen E v a n g e l i a r aus St. E m m e r a n in Regensburg, siehe HUBF.RT/POR-
CHER/VOLBACH
1968
wie
Anm. 140,
Abb. 137,
S. 139,
wo
der
Herrscher e b e n f a l l s seine rechte H a n d erhebt. S e i n e Insignien - Schwert, Lanze, Schild - tragen d i e Figuren zu Seiten des Thrones. 155 D a s Faldistorium benutzten meistens die Bischöfe, w i e die ältere Literatur und auch SCHRADE 1 9 6 3 w i e A n m . 113, S. 2 3 4 , konstatieren. Es diente aber auch den Aposteln und Christus als Thron, siehe M o n u m e n t a Annonis. Köln und Siegburg. W e l t b i l d und Kunst im hohen M i t t e l a l t e r , Köln 1 9 7 5 , A b b . D/2 S. 164, A b b . D/3 S. 165, A b b . C/14 S. 154. 1 5 6 Zum Beispiel FRIEDL 1 9 6 6 w i e A n m . 1 1 4 , S. 5 7 : „Mitra mit zwei Hörnern in Orthogonale gesehen . . . " - mit A n a l o gien aus der römischen Kaiserzeit. - Ich meine, d a ß man die Kopfbedeckung W e n z e l s aus P e l z mit Tiertatzen nicht als M i t r a bezeichnen d a r f , w e i l sie auf gleichzeitigen D e n a r e n eine g a n z a n d e r e Form hat.
Spezifische Züge
böhmischen Kunst
129
Denar Borivojs II.
14
gestellt worden, und zwar in einer Szene des M a r tyriums des hl. Paulus in einer Handschrift des zweiten
Viertels
Zwiefalten. 1 5 7
des
12. Jahrhunderts,
D i e Anlehnung
der
an fremde Vorbilder ist ohnehin lich, weil in
der Vysehrader
Böhmen
entstand. 1 5 8
vermutlich sehr
wahrschein-
K o d e x vermutlich In
aus
Wenzels-Gestalt
Böhmen
hätte
Denar Borivojs II.
15
nicht man
wahrscheinlich die F o r m der Vratislaus-Krone wie-
sondern auch mit dem Heiligen Buch, das er laut einer
derholt, wie sie von den D e n a r e n bekannt ist. D i e
Legende aus dem
Auffassung Wenzels
vermutlich
sich trug . . . es unter dem K l e i d verbergend, an jeder
auf die Verleihung der Königswürde an Vratislaus
geeigneten Stelle daraus lesend". 1 6 7 D i e schon ange-
als Herrscher geht
10. Jahrhundert „andauernd
mit
zurück. Sie ist auch auf den Münzen der nachfolgen-
führte Parallele Wenzel - Christus findet damit also
den Herrscher mehr und mehr nachweisbar. D i e B e -
eine Fortsetzung. Durch die Legende wurde wohl auch
tonung Wenzels als Heiliger ist dennoch nicht ganz
das B i l d des Engels angeregt, der die Seele davon-
verlorengegangen. A u f den Münzen des Fürsten Borivoj kommt die thronende G e s t a l t Wenzels zumeist mit Fahne und analog
den
deutschen
Herrschern
mit
Reichsapfel
( W e l t k u g e l ) 1 5 9 vor, aber auch der Thronende im Profil mit K r e u z auf dem Reichsapfel. 1 6 0 Außerdem begegnet Wenzels Büste en face im Fürstenmantel mit Buch, Reichsapfel und Z e p t e r . 1 6 1 Wenzel wird ferner als D e u s virtutis charakterisiert, und zwar in einer Szene als Hercules, der Cacus den K o p f abschlägt. 1 6 2 E i n anderer D e n a r zeigt Wenzels Büste mit Helm, Fahne und Schild. 1 6 3 Als neues M o t i v erscheint er als bewaffneter Reiter im Profil, mit Helm auf dem K o p f sowie mit oder ohne Schild. 1 6 4 H i e r ist Wenzel als miles christianus und zugleich als Ritter
gemeint.
Diese
von zeitgenössischen oder älteren Vorlagen abhängige Darstellung entspricht dem heraufkommenden RitterIdeal. E i n e r anderen Traditionslinie gehört die W e n zelsbüste mit Nimbus an, wo er mit einer Hand segnet, während die andere ein Buch hält, 1 6 5 oder eine Engelsgestalt, die eine kleine Figur in Händen
trägt. 1 6 6
Im
ersten B i l d , das von Darstellungen der Figur Christi oder der Apostel angeregt ist, wird Wenzel als Heiliger vorgestellt, nicht nur mit Nimbus und im Gestus, 9
Architektur
Die Zeit der Staufer II wie Anm. 110, Abb. 521. Die Hauptgründe in MERHAUTOVÄ/TRESTIK 1979 wie Anm. 1. Die Entstehung des Vysehrader Kodex ist ohne große Bibliothek undenkbar, sowie auch ohne Kunstschätze wie Elfenbein usw. Aber dergleichen hat es damals in Böhmen nicht gegeben. Ein böhmischer oder ein fremder Illuminator dieses Buches, der in Böhmen arbeitete, wie man angenommen hat, hätte den Kopf Wenzels wahrscheinlich nicht mit einer solchen Mütze bekrönt. Denkbar wäre eher eine Krone, deren Form die Krone des Vratislaus nachahmte, besonders dann, wenn der Vysehrader Kodex für die Vigilien der Königskrönung und nicht für sie selbst geschaffen wurde (wie TftEäTiK meint). 157
158
159
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r . 4 1 3 .
160
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r . 4 1 9 .
161
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r . 4 2 1 .
162 CACH 1972 wie Anm. 99, Nr. 418. Diese und weitere Szenen aus der Hercules-Legende vgl. A. MERHAUTOVA-LIVOROVÄ, Antickä tradice na ceskych denärech, in: Umeni X X V , 1977, S. 5 4 0 ff. 163
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N . 4 2 3 .
CACH 1972 wie Anm. 99, Nr. 414 und 415. - Bewaffnete Ritter auf einem Pferd mit Schild und Lanze waren schon in der karolingischen Kunst üblich, siehe HUBERT/PORCHER/VOL164
BACH 1 9 6 8
wie
Anm. 140,
Abb. 164,
S. 1 7 8 .
165
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r . 4 2 2 .
160
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r . 4 2 4 .
KRÄLIK 1969 wie Anm. 137, S. 31, hier Crescente fide. Ähnlich auch Kristiän, siehe Kristiänova legenda. Zivot a umuceni svateho Väclava a jeho bäby svate Ludmily. Ed. J . LUDYfKOVSKi Praha 1978, S. 45. 167
130
A N E Z K A MERHAUTOVA / D U S A N TRESTIK
trägt: „Möge Gott seine Seele im Schoß Abrahams, Isaaks und Jakobs aufbewahren, wo alle Gerechten ruhen und der Auferstehung ihrer Körper in Jesu Christo harren". 1 6 8 Diese Szene 169 deutet wohl an, daß Wenzels Seele im Himmel weilt, und weist zugleich auf Wenzels Fürsprache für die Erlösung des derzeit in Böhmen regierenden Herrschers hin.
Auf einem anderen Denar, mit dem Namen Wenzels und Adalberts in der Umschrift, werden ihre Figuren durch zwei Engel ersetzt, die die Seele in Gestalt einer kleinen Figur zum Himmel tragen.i-77 Dieses Bild hat einen ähnlichen Sinn wie das bereits erwähnte mit einer einzigen die Seele erhebenden Engelsfigur. Es ist um Adalberts Seelenträger erweitert.
Auf einem von Borivojs Denaren wurde der Büste Wenzels mit Schwert und Kreuz eine andere Büste angefügt. Durch den Hirtenstab ist sie wohl als diejenige des hl. Vojtech-Adalbert 170 gekennzeichnet. Zepter und Schwert 171 bezeichnen Wenzel hier als Herrscher. Adalbert ist als böhmischer Bischof dargestellt. Neben Wenzel als Herrscher und Beschirmer des lebenden Herrschers Böhmens mußte auch Adalbert als Schutzherr und Fürsprecher abgebildet werden, der erste als Vertreter der weltlichen, der zweite als der der geistlichen Macht. Sie waren ja beide gleich entscheidend. Daß Adalbert erst jetzt in den Staatskult Aufnahme finden konnte, hatte dynastische Ursachen. Nach der Ausrottung der Slavnikinger sahen die Premysliden keinen Grund, Adalbert, deren Sproß, zu verehren. Erst Bfetislaus I. erkannte wieder die Vorteile des Adalbert-Kults. Er erbeutete dessen Gebeine in Gniezno (Gnesen) und versuchte beim Papst eine Bewilligung zur Errichtung eines Erzbistums Prag zu erlangen. Wegen seiner räuberischen Tat ist dieser Plan jedoch gescheitert. 172 Um eine Korrektur der Haltung zu Adalberts Andenken war auch Vratislaus II. bemüht. Wohl auf seinen Wunsch wurde Adalbert einer der Patrone der Prager Bischofsbasilika. 1 7 3
Ein neues Motiv auf Vladislaus I. Münzen ist eine quadratische Mauer mit Türmen, die den Kopf Wenzels umgibt. 1 7 8 D a ß hier Wenzel vermutlich als Mitglied des himmlischen Jerusalem oder der Civitas dei 1 7 9 gemeint wurde, ist schon im zweiten Kapitel geschildert worden, vermutlich als ein Fürsprecher der Dynastie. Einen ähnlichen Sinn dürfte ein weiteres Münzbild haben, das Wenzels Büste über einer Mauer zwischen zwei Türmen zeigt, 180 denn diese Architektur ist lediglich eine künstlerische Abkürzung der eben erwähnten Stadtform. Beiden ähnelt auch das Bild Wenzels in einer offenen Tür, 1 8 1 wohl als Himmelspforte gemeint, die die ausführliche Stadtdarstellung ersetzte. Zum ersten Mal begegnet dort Wenzels Name als Umschrift einer Szene mit einer Thronfigur, wohl Wenzels, glorifiziert von einer gegenüberstehenden, weihrauchspendenden Engelsfigur. 1 8 2 Das Bild
Borivoj II. sowie Vladislaus I., die ja sogar kurze Zeit zusammen herrschten und der Literatur zufolge 1 7 4 eben damals die Figur Adalberts mit derjenigen Wenzels verbanden, propagierten mittels dieses Münzbildes natürlich eine veränderte Stellungnahme der Premysliden Adalbert gegenüber. Mit dem Paar Wenzel - Adalbert auf den Münzen wurde übrigens niemals der hl. Veit vereint, und daher wurden die beiden nicht als die Patrone der Kirche angesehen, sondern als die wirksamsten Fürbitter der Dynastie. Vielleicht spielte auch der Gedanke eine Rolle, daß Wenzel und Adalbert als die Männer betrachtet wurden, die die Pfemysliden in ihren Thronkämpfen versöhnten. 175 So berichtet es die Chronik des Cosmas. Von dem erwähnten Denar mit der Büste von Wenzel und Adalbert unterscheidet sich ein weiterer nicht wesentlich. Er zeigt die Ganzfigur von Wenzel mit Lanze und Schild und Adalbert mit Hirtenstab. 1 7 6
1 6 8 KRAL(K 1969 wie Anm. 137, S. 57. H i e r : Erste altslawische Wenzel-Legende. 1 6 9 Ikonographisch vermutlich abhängig von dem Echternacher Evangeliar aus den Jahren 1 0 4 3 - 1 0 4 6 , hier aber ein wenig umgebildet. D i e Christus-Figur wurde auf dem Denar durch die weniger übliche Gestalt eines Engels ersetzt - siehe das Stichwort Abraham in: SACHS/BADSTÜBNER/NEUMANN 1980 wie Anm. 133, S. 15. 1 7 0 CACH 1972 wie Anm. 99, N r . 420. 1 7 1 Analog anderen bömischen Denaren könnte man hier auch an ein Zepter denken, aber das Zepter wurde vom Herrscher anders gehalten. D e r Haltung nach könnte man hier auch ein K r e u z erwarten und dann die Figur als eine Nachahmung der Christus-Figur im Sinne der Legendenparallele Christus-Wenzel ansehen. 1 7 2 NOVOTN* 1913 wie Anm. 119, S. 27 ff. 1 7 3 Vratislaus schenkte vermutlich ein Buch der Vysehrader G r u p p e an das Kapitel in Gnesen, um die böse T a t Bfetislaus I. in Gnesen vergessen zu machen. 1 7 4 RADOMMSKY/RYNES 1958 wie Anm. 124. 1 7 5 RADOM£RSKY/RYNE5 1958 wie Anm. 124, betonten, daß schon E . NOHEJLOVÄ in diesem Figurenpaar ein Symbol des Friedens nach den Thronkämpfen sah. 1 7 6 CACH 1972 wie Anm. 99, N r . 547 und 554. 1 7 7 CACH 1972 wie Anm. 99, N r . 548. Schon RADOMERSKY/ RYNES 1958 wie Anm. 124, meinten, daß die zwei Engelsfiguren Wenzel und Adalbert vertreten. 1 7 8 CACH 1972 wie Anm. 99, N r . 553. 1 7 9 Ähnliches Bild der Stadt schon auf dem älteren mährischen D e n a r mit dem N a m e n Petrus, der erwähnt wurde. 1 8 0 CACH 1972 wie Anm. 99, N r . 541. 1 8 1 CACH 1972 wie Anm. 99, N r . 552. 1 8 2 CACH 1972 wie Anm. 99, N r . 559.
Spezifische Züge der böhmischen Kunst
Denar Sobeslaus I.
11
16
Denar Svatopluks
Wenzels als Herrscher, von einem Engel glorifiziert, angeordnet nach Vorlagen, die die Glorifizierung Christi darstellen - später ähnlich auch in der böhmischen Monumentalskulptur 183 - sollte demnach Wenzel gleichsam als ewigen Herrscher akzentuieren und zugleich dessen gottesähnliche Stellung andeuten. Auf Svatopluks Denaren wurde die Herrscherqualität Wenzels mit Hilfe seines Profilkopfs mit Helm oder Mitra 1 8 4 zum Ausdruck gebracht. Ein anderes Mal erschien er en face als stehender Kämpfer mit Lanze und Schild. 1 8 5 Wenzels Würde als Heiliger und die Kraft seiner Fürsprache betonte die Abbildung seines Kopfes über Mauer und Türmen, 1 8 6 oder das Bild der Civitas dei selbst mit seinem Namen in der Umschrift. 1 8 7 Auf einer von Svatopluks Münzen erscheint der Name Wenzels in der Umschrift einer stehhenden Männergestalt, die unter den Armen jeweils einen Tierkopf an den Körper preßt. 1 8 8 Sollte es sich dabei wirklich um Tierfiguren handeln, dann symbolisiert hier die Figur Daniels in der Löwengrube 1 8 9 die Erlösungstat Christi, dessen Beispiel Wenzel gefolgt war. Ähnlich im Sinngehalt und ebenfalls neu ist das Motiv des Lammes mit Kreuznimbus und Triumphkreuz. 190 Bemerkenswert ist auch eine in der Umschrift mit „Wenzel" bezeichnete Darstellung eines thronenden Mannes, vor dem eine kleine Figur mit Stabkreuz steht. Ein zweiter Mann reicht dem Thronenden einen Gegenstand von nicht identifizierbarer Form. 1 9 1 D i e Fachliteratur 1 9 2 erkennt hier die Erteilung der Würde des Schenken an Svatopluk im Jahre 1108. Wenzels Name stimmt diesmal nicht wie sonst 9*
131
mit dem Bild überein, worauf noch zurückzukommen sein wird. Auf Münzbildern der Denare Sobeslaus I. werden die schon traditionellen Typen der Wenzeldarstellung variiert: Wenzel als Kämpfer mit Fahne und Schild, diesmal begleitet von zwei Assistenzfiguren, die Schwert und Schild halten. 1 9 3 Als ein neues Element kommt die Figur eines sitzenden Engels mit Orantengestus vor. 1 9 4 Dabei handelt es sich wohl um den Erzengel Michael, den Wenzel vor seinem Märtyrertod beschwor: „Im Namen des seligen Erzengels Michael trinken wir diesen Kelch aus mit der Bitte, daß er nun unsere Seele zur Ruhe der ewigen Freude führe, Amen". 1 9 5 Demnach wird hier vielleicht auf den Märtyrertod und die Erlösung Wenzels hingedeutet. Auf einem weiteren Denar erscheint eine thronende Gestalt mit Schwert und Fahne, nach der Umschrift wohl ebenfalls Wenzel. Eine andere Person bringt der sitzenden ein Gefäß, das anscheinend gefüllt ist. 1 9 6 Auf den Kopf des Thronenden weist Gottes Hand. Dem Herrscher Wenzel bringt also ein ihm gesellschaftlich sub1 8 3 Spätere einheimische Beispiele: das Pörtaltympanon der Jakobskirche im D o r f e J a k u b und das Portaltympanon der Kirche in Citov, siehe A . MERHAUTOVÄ, R a n e stredovekä architektura v Cechäch, Praha 1 9 7 1 , A b b . 8 9 und 41. 184
CACH 1 9 7 2 w i e A n r n . 9 9 , N r .
440.
185
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r .
454.
186
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r .
431.
187
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r .
442.
188
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r .
433.
1 8 9 Daniel in der Löwengrube ist auch auf einer FußbodenTonfliese abgebildet, siehe A. MERHAUTOVA-LIVCROVA, Stredoveke podlahy s obrazem cisare Nerona, i n : Umeni X X V I I I , 1 9 8 0 , S. 2 4 6 ff. 190
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r .
191
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r .
193
Zuletzt
193
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r .
579.
194
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r .
577.
HASKOVA
1975
wie
439. 460. Anm.
106,
Abb.
33.
Crescente fide i n : KRALIK 1 9 6 9 wie Anm. 1 3 7 , S. 3 3 , und ähnlich auch in der Legende Kristians. 195
196
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r .
580.
132
18
19
A N E L K A MERHAUTOVA / D U S A N T R E S T I K
Denar Viadislaus II.
Siegel Viadislaus II. - Fürst
ordinierter Mann etwas dar. D e r Legende 1 9 7 nach, wäre das wohl sein Diener Podiven, der mit Wenzel die Geschenke an die Armen verteilte, Hostien buk, Wein kelterte usw. D a ß es sich höchstwahrscheinlich um Podiven handelt, geht auch aus einem Münzbild aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts hervor, wo er vor dem stehenden Wenzel beim Weinkeltern dargestellt ist. 1 9 8 D a die Wenzelikonographie in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts nichts Neues brachte, 1 9 9 darf man annehmen, daß auch die Szenen mit Podiven in der Zeit der größten ikonographischen Buntheit der Münzbilder in der ersten Hälfte des Jahrhunderts erfunden wurden. Eben dieser Szene auf dem Sobeslaus-Denar ähnelt die schon erwähnte auf dem Denar von Svatopluk, die als Erteilung der Schenkenwürde gedeutet wurde. In beiden Fällen reicht eine stehende Gestalt dem thronenden Wenzel (den Namen nennt die Umschrift) einen Gegenstand oder ein Gefäß. Doch wird das Kreuz vom Svatopluk-Denar auf dem Münzbild des Denars von Sobeslaus I. durch das Symbol der Dextera dei ersetzt. D i e winzige Gestalt, die auf dem Svatopluks-Denar das Kreuz hält, kann man hier beiseite lassen. Sie hat keine wesentliche Bedeutung. Vermutlich handelt es sich also auch auf dem Denar Svatopluks um eine Szene mit Wenzel und Podiven, wofür ja auch Wenzels Name in der Umschrift spricht, nicht um die Erteilung der Würde eines Schenken an Svatopluk, dem die andere Münzseite gewidmet ist. Auf fürstlichen und seit 1158 königlichen Denaren Vladislaus II. findet man Wenzel zumeist als Herrscher. Die andere Bedeutungslinie, die seine Heiligkeit betont, zeigt das Thema des thronenden Wenzel, der mit einem Zepter in Kreuzesform einen vor ihm knienden Mann anrührt. 2 0 0 Die Szene ist nicht sicher zu bestimmen. Vielleicht wird eines der legendären Wunder geschildert, 201 etwa wie Wenzel einen Lahmen heilte. Die immer wiederkehrende Parallele Wenzel - Christus wurde hier dadurch zum Ausdruck gebracht, daß Wenzel auf dem Regenbogen sitzt und das Lilienzepter 2 0 2 trägt, wie bei einer Maiestas do-
197
Z u m B e i s p i e l in der K r i s t i a n s - L e g e n d e , siehe LUDVIKOVSKY
1 9 7 8 wie A n m . 1 6 7 . 198
Siehe die M ü n z e des Fürsten Bedrich in CACH 1 9 7 2
wie
Anm. 9 9 , Nr. 5 2 6 . 199
20
Siegel Vladislaus II. - König, Rev.
B e t o n t schon von RADOMERSKY/RYNES 1 9 5 8 wie Anm. 1 2 4 .
2 0 0
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r .
201
D i e s e W u n d e r sind auch in der K r i s t i a n s - L e g e n d e
590.
LUDVIKOVSKY 1 9 7 8 wie A n m . 1 6 7 ) geschildert. 2 0 2
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r .
592.
(siehe
Spezifische Züge der böhmischen Kunst mini. Wenzel als Herrscher repräsentiert seine Büste im Mantel mit Fahne, Schild und Zepter. 203 Auf dem Avers dieser Münze erscheint der thronende Kaiser, wie er Viadislaus II. die Königskrone übergibt. 204 Beide Bilder zusammen stellen den ewigen und den gegenwärtigen Herrscher Böhmens dar. Diese Idee dokumentieren noch anschaulicher Vladislaus II. Königssiegel. 205 Doch bevor wir diesen unsere Aufmerksamkeit zuwenden, erinnern wir noch an die Darstellung Wenzels mit Helm, Lanze und Schild, die sich an der schon erwähnten Fassade der Jakobskirche im Dorfe Jakub befindet. Diese Figur bringt ikonographisch nichts Neues. 20 " Auf dem einseitigen Siegel Fürst Vladislaus II. aus den Jahren 1146-48 2 0 7 ist die frontale, bewaffnete Figur Wenzels mit Fahne und Schild auf dem Faldistorium sitzend dargestellt. In der Umschrift ist zu lesen: PAX SCI WAZEZLAI IN MANUS DUCIS VLADIZLAUS. Im Typus der Wenzelgestalt und in der Form des Faldistoriums knüpfte die Darstellung an ältere heimische Vorstufen an. 208 Im Unterschied zum Vysehrader Kodex ist Wenzel hier als Ritter, als miles christianus vorgestellt, der ewig herrscht und sein Land beschützt. Vladislaus II. verwaltet es nur zeitweilig, wie die Inschrift mitteilt. Zwei weitere beiderseitige nun bereits königliche Siegel sind Urkunden der Jahre 1160 und 1169 angefügt. In beiden Fällen trägt eine Siegelseite das Bild des thronenden Vladislaus II., die andere das des thronenden Wenzel. Wenzel hält auch hier Fahne und Schild; sein unbedeckter Kopf trägt einen Nimbus. Auch sitzt er auf einem Throne ohne Rückenlehne, ähnlich wie Vladislaus II. auf der anderen Seite, und er ist traditionell in Untergewand und Mantel gekleidet. Durch die Inschrift: PAX REGIS WLADISLAI IN MANUS SANCTI W E N C E Z L A I wird mitgeteilt, daß Vladislaus II. auf Zeit den Frieden verwaltet, während sein ständiger Bewahrer Wenzel ist. Einen ähnlichen Gedanken verkündet auch ein ungefähr gleichzeitig entstandenes Lied: „Heiliger Wenzel, Fürst des böhmischen Landes, laß uns und die Nachkommenden nicht vergehen . . ." Die auf den Siegeln zu einem Höhepunkt gelangte Vorstellung hat im Ausland keine direkten Analogien. Sie war aber für den böhmischen Staat charakteristisch, wie Dusan Tfestik belegen konnte. Die Siegel weiterer böhmischer Fürsten heranzuziehen ist hier nicht nötig. Das Bild Wenzels wandelte sich bis zum Ende des 12. Jahrhunderts nicht wesent-
133
lich. Nicht einmal die Münzbilder brachten etwas Neues. Ihre künstlerische Form vereinfachte und vergröberte sich lediglich. 209 Der Erwähnung wert sind nur einige wenige Münzen, z. B. ein Denar des Fürsten Bedrich (Friedrich), mit einer knienden Figur, die sich betend an Wenzels Büste über einer Mauer mit Turm wendet. 210 Auf einem anderen Denar desselben Fürsten wird der thronende Wenzel abgebildet, wie er beim Weinkeltern zuschaut (siehe oben). 211 Hier waren heimische Legenden der Ausgangspunkt.
203
CACH 1 9 7 2 w i e Anra. 9 9 , N r . 6 0 0 .
204
D i e Krönung ist auch auf dem Relief abgebildet, das im nächsten Kapitel behandelt wird. 205 Zu den Siegeln Vladislaus II. siehe CAREK 1934 wie Anm. 8 3 . 206 m a c l j e n darauf aufmerksam, daß die Figur Wenzels auch in den deutschen Handschriften abgebildet wurde, formal ähnlich den böhmischen Vorstellungen. So 2. B. im Stuttgarter Passionale und in einem Legendarium. Zur ersten Handschrift (hier ist Wenzel als Ritter abgebildet) siehe J. LuDviKOVSKi, N o v e zjisteny rukopis legendy Crescente fide a jeho vyznnm pro datoväni Kristiäna, in: Listy filologicke V I - L X X X I , 1958, S. 56 ff. Er bemerkte, daß A. BOECKLER (Das Stuttgarter Passionale, Augsburg 1923) einen Teil der ganzen Handschrift, und zwar den mit dieser Legende in die Zeit 1 1 1 0 - 1 1 2 0 datierte, also auch die Initiale I mit der Wenzels-Figur. Er machte weiter darauf aufmerksam, daß die Beziehungen des Prager Hofes zum Kloster in Zwiefalten sehr eng waren: Richenza von Berg war die Gemahlin des Fürsten Vladislaus I., Heinrich von Berg hatte das Kloster in Zwiefalten gegründet, Meinhardus - von 1122 an Prager Bischof - war früher vermutlich Mönch in Zwiefalten. - Zur zweiten erwähnten Handschrift: E. KLEMM, D i e romanischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek. D i e Bistümer Regensburg, Passau und Salzburg, Teil 1, Wiesbaden 1980, Textband, S. 106: Legendarium Clm 2 2 2 4 0 - 2 2 2 4 5 , 6 Bde., Windberg, vor 1191, Provenienz Windberg. Nach gleichlautenden Einträgen jeweils am Beginn von Clm 2 2 2 4 2 - 2 2 2 4 5 wurde das Legendär im Auftrag Abt Gebhards ( 1 1 4 1 - 1 1 9 1 ) geschrieben. Bildband, S. 108: D i e Initiale O mit Wenzels-Figur in Clm 22243, fol. 93 v. Es handelt sich um die Legende Oportet nos fratres. Der stehende Wenzel hält nach KLEMM in der rechten Hand das Zepter und in der Linken eine Erdkugel. 207 Abgebildet in: Letopisy Vincenciüv a Jarlochiiv, Praha 1957, Abb. 8. - Auf dem Faldistorium saß Wenzel schon im Vysehrader Kodex, und zwar auch mit einer Fahne in der Hand. Nur die Fahne als Herrschaftszeichen trägt Wenzel auf dem Titelblatt der Gumpold-Legende. Ähnlich schon Wenzel auf den Denaren Vladislaus I. Ähnliche Schildform zudem bei den Pfemysliden-Gestalten der Wandmalerei in Znaim-Znojmo. Hier ist die Gestalt Wenzels durch kein besonderes Attribut hervorgehoben. 208 £ ) e r Thron ohne oder mit Rücklehne schon auf den älteren einheimischen Denaren geläufig; beide auch anderswo allgemein üblich. 209 Im Einklang mit der älteren Literatur vgl. auch: RADO-
MERSKY/RYNES
1958
wie
Anm. 124;
HÄSKOVÄ
1975
wie
106. 210
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r .
211
Zuletzt
RADOMERSKY/RYNES
622.
1958
wie
Anm. 124.
Anm.
134
A N E Z K A M E R H A U T O V Ä / DUÌSAN TSESTÌK
21 Flores s. Bernardi, Titelblatt (nach 1148), Olomouc, Kapitelbibl.
Interessant ist ein D e n a r Sobeslaus II. ( 1 1 7 3 - 7 8 ) mit der Büste Wenzels als O r a n t u n d mit der Figur A d a l b e r t s , der vor einem A l t a r stehend eine vor ihm sich b e u g e n d e G e s t a l t einsegnet. 2 1 2 Sofern die E r scheinung Wenzels auf der einen u n d A d a l b e r t s auf der a n d e r e n Seite nicht nur eine N o t l ö s u n g w a r , 2 1 3 w e r d e n diesmal die beiden Heiligen als P a t r o n e der Kirche - A d a l b e r t steht vor einem A l t a r - oder des L a n d e s dargestellt. D a ß diese G e s t a l t u n g vermutlich
nicht zufällig w a r , deuten spätere D e n a r e mit Wenzels Bild auf der einen Seite u n d A d a l b e r t s auf der anderen an, die u n t e r der kurzen Regierung des Fürsten
212
213
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r . 6 1 9 .
A. FIALA, Ceske denäry, Praha 1895, S. 377, meinte, daß es sich um eine Prägung aus der Zeit von Sobeslaus' Thronverbannung handeln könnte, und deswegen ersetzte man den Herrscher durch Adalbert.
Spezifische Züge der böhmischen Kunst Vaclav (Wenzel) 2 1 4 und unter Premysl I. 2 1 5 geprägt wurden. Unter dem König Premysl I. wurden die Denare durch Brakteaten ersetzt, und mit den Denaren verschwindet Wenzels Bild auf Münzen. Sollte sich die von uns ausgesprochene Meinung bestätigen, daß Wenzel auf Münzen der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts auch als Patron dargestellt zu werden begann, dann bot wohl das Titelblatt in Flores sancti Bernardi 2 1 6 das ikonographisch-künstlerische Vorbild dafür, also ein einheimischer Kodex, entstanden auf Initiative des Prager Bischofs Daniel. 2 1 7 Auf diesem Titelblatt erscheinen unter einer Arkade, die sich von den Münzbildern unterscheidet, die Halbfiguren Veits, Adalberts und Wenzels. Daniel widmet ihnen das ihm von Bernoldus überreichte Buch. Adalbert ist mit den Attributen seiner Bischofswürde versehen, der bärtige Wenzel wie Veit mit einer Palme. Eine ähnliche Abbildung Adalberts finden wir auf Münzen. Dort kommt aber Wenzel mit der Palme nicht vor. Zusammenfassend darf festgestellt werden, daß die Haupttypen der Wenzeldarstellung zumeist an fremde Vorlagen anknüpfen, die dann aber umgewandelt und weiterentwickelt wurden. Auf den Münzen bis zur Zeit von König Vratislaus überwog die Heiligkeit und das Märtyrertum Wenzels die des ewigen Herrschers. Danach war es umgekehrt. Eine Besonderheit der böhmischen Denare war der Verzicht auf den Ortsheiligen zugunsten des böhmischen Heiligen und einstigen Herrschers, der zum Vertreter des Staatskultes und zugleich zum Repräsentanten der Staatsideologie wurde. Erst am Anfang des 12. Jahrhunderts wurde ihm Adalbert zugestellt. Wenzel als Heiliger und Märtyrer wurde nun auch in dieser Funktion in die heimischen Legenden eingegliedert. Dabei schwang auch die Vorstellung von Wenzel als Mitglied der Civitas dei mit. „Bevor jener selige Kämpfer (Wenzel) aus Leiden und Erniedrigung zu vermehrtem Ruhm aufersteht . . . wird er zum Gesellen der Engel, der Apostel, der Märtyrer . . . und erhält die Krone der ewigen Jugend und die Schönheit der unvergänglichen Anmut". 2 1 8 D a ß auch Legenden zum inhaltlichen Ausgangspunkt von Münzbildern wurden, darf man der Darstellung von Szenen des Wenzel mit Podiven entnehmen. Dies läßt eine Eigenart der böhmischen Denare erkennen. Erst durch die Erhöhung Vratislaus' zum König stärkte sich das Bewußtsein der böhmischen Herrscher, und durch das Verdienst der ersten in der Fremde studierenden Tschechen begann sich das Nationalbewußtsein zu regen. Von dieser Zeit an trat die Darstellung
135
Wenzels als Herrscher ikonographisch in den Vordergrund, bis er schließlich unter Viadislaus II. zum ewigen Herrscher wurde. Nach diesem Höhepunkt ging die Wenzelikonographie stetig zurück und erst dann tauchte wahrscheinlich die Vorstellung von Wenzel und Adalbert als Landespatrone auf, die später - in gotischer Zeit - typisch war.
IV. Darstellungen von historischen Ereignissen in Böhmen Das nationale Bewußtsein, im Umkreis des böhmischen Herrscherhofes gepflegt, äußerte sich in der
22
Denar Viadislaus II.
Kunst auch noch dadurch, daß konkrete historische Ereignisse Böhmens dargestellt wurden. Das bezeichnendste Beispiel dafür ist das Bild der Krönung Vla-
214
CACH 1 9 7 2 w i e A n m . 9 9 , N r . 6 4 5 .
215
RADOMEÜSKI/RYNEÄ. 1 9 5 8
wie Anm. 1 2 4 ,
machten
im E i n -
klang mit FIALA 1 8 9 5 wie Anm. 2 1 3 , Typus X I X , 13, aufmerksam auf den Denar Premysl I. mit dem Avers-Bild Wenzels mit Schwert und Schild und dem Revers-Bild Adalbert mit Bischofsstab und Mitra. Beide Büsten sind namentlich bezeichnet. 216
MATEJÖEK
1931
wie
Anm. 58,
S. 6 8 .
-
Kvfrr
1948
wie
Anm. 5, S. 164. X I . - X V I . stoleti.
A. FRIEDL, Ceskä a moravskä knizni malba Katalog vystavy v Pamätniku närodniho
pisemnictvi,
1955/56.
145. 217 218
Praha
-
MASIN
1977
wie
Anm. 111,
S.
MERHAUTOVA/TRESTIK 1 9 8 3 w i e A n m . 1 1 4 , S. 1 7 5 .
Daniel wurde im Jahre 1148 zum Bischof erwählt. Kristians-Legende, LuDviicovsKi 1978 wie Anm. 167, S. 75.
136
ANELKA MERHAUTOVÄ / DUSAN TFCEÄTFK
23 Relief auf dem Turm der ehemaligen Judithbrücke. Originalkopf des Knienden im Museum der Stadt Prag
Spezifische Züge der böhmischen Kunst dislaus II. 219 auf einem seiner Denare: Der mit Krone und Zepter thronende Friedrich Barbarossa überreicht dem knienden Vladislaus die Krone. Der Denar wurde nach der Krönung des Jahres 1158 geprägt. Eine Krönungsdarstellung war gewiß keine seltene Erscheinung. W i r kennen sie aus der Buchmalerei und von Elfenbeinreliefs. Auf den Darstellungen weltlicher Persönlichkeiten ist es jedoch Christus, bzw. die Hand Gottes, welche die Krone auf das Haupt legt. 220 Die Erhebung zum König ist wohl nirgends so konkret ausgedrückt wie auf diesem Denar. Eine diesem Denar ähnliche Komposition weist auch das Relief in dem Turm der ehemaligen Judithbrücke auf, die einst Bestandteil des Königlichen Weges von der Brücke zum Westtor der Prager Burg war. Auch auf diesem Relief wendet sich einer en face thronenden Figur die Gestalt einer diesmal knienden und ebenfalls barhäuptigen, in eine kurze Tunika gekleideten Mannes mit einer erhobenen Hand zu. 2 2 1 Leider ist der Gegenstand in seiner Hand, wohl ein Symbol seiner königlichen Würde, abgeschlagen worden. Die thronende Figur, auch sehr beschädigt, ist ohne Nimbus wie auf dem Denar. Anders als in der mehr erzählend behandelten Szene auf dem Denar ist die Krönung im Relief monumental aufgefaßt. Es ist nicht sicher, ob auch hier die Krone überreicht wurde oder nicht. Den erhaltenen Spuren zufolge wäre es durchaus möglich. D a ß es sich bei dem Belehnenden eher um die Figur Barbarossas handelt als um die Wenzels, die nach einheimischen Vorstellungen eventuell in Betracht käme, zeigt das Fehlen der bei Wenzel sonst üblichen Zeichen seiner Würde. Königin Judith, eine Verwandte des Kaisers und zugleich Stifterin der Brücke und des Turms, ließ ihren Gemahl von einem fremden, wohl rheinischen Bildhauer in der Würde eines Königs verewigen und zwar an erhöhter Stelle und in dauerhaftem Material, so daß - im Unterschied zum Denar - das Krönungsbild in ferner Zukunft fortdauerte. Die Bedeutung des Ereignisses führte zur Anbringung des Reliefs am Königlichen Wege. „Es fiel die Krone des böhmischen Königreichs" schrieb später der Chronist Franz von Prag über den Untergang der Judithbrücke im 14. Jahrhundert und charakterisierte damit das Relief in seiner ursprünglichen Bedeutung: Ein Monument von Vladislaus' Triumph, auch dadurch hervorgehoben, daß es sich über dem Eingangsbogen des Turmes befand wie über einem Triumphbogen. Außerdem begegnet man Werken, in denen historische Augenblicke festgehalten sind, wenn sie auch
137
nicht die einzige Bedeutungsschicht des Ganzen ausmachen. Ein Beispiel dafür ist ein Titelblatt des sogenannten Horologium Olumucense, das Werk eines Hildebert, eines Everwin und eines Schreibers „R", 2 2 2 hergestellt auf Wunsch des Olmützer Bischofs Heinrich Zdik zur Eröffnung des Kapitelhauses an der St. Wenzelbasilika vonOlomouc (Olmütz) im Jahre 1141. Das Jahr des Bauabschlusses ist aus der Chronik des Vincentius bekannt. Die inhaltliche Hauptschicht des Titelbildes schildert eine Proklomation der pastoralen
219
HASKOVA
1975
wie
Anm. 106,
Abb. 42.
Auf
dem
Revers
des Denars die Büste Wenzels mit der Fahne in der Rechten sowie Schild und Kreuz in der Linken. In der Umschrift: + CEZLAV. 2 2 0 SCHRADE 1 9 6 3 wie Anm. 1 1 3 , S. 1 0 4 : Palermo, Martorana, der stehende Christus krönt Roger II., S. 257, Abb. 2 : Aachener Evangeliar Ottos III.: Die Hand Gottes vor einem Kreuz legt die Krone auf den Kopf Ottos usw. 2 2 1 A . MERHAUTOVA-LIVOROVA, Reliéf na vëzi byvalého Juditina mostu, in: Umëni XIX. 1 9 7 1 , S. 70 ff. Dort wird auch die kunstgeschichtliche Problematik behandelt. Die Deutung als K r ö nung Vladislaus II. ist auch deswegen am wahrscheinlichsten, weil sie ein besonders wichtiges Ereignis der böhmischen Geschichte war. Die eventuelle Deutung, daß hier Vladislaus II. seinen Sohn krönt, ist nicht überzeugend: denn in diesem Fall hätte man das Relief aus politischen Gründen später beseitigen müssen. 2 2 2 J. BISTÄICKY, Dedikacni obraz olomouckého kolektâre, in : Umëni X X I V , 1 9 7 6 , S. 4 0 7 ff. Dort auch die ältere Literatur. — Ders., Jestë k dedikacnimu listu olomouckého kolektâre, in: Umëni
XXVIII,
1980,
S. 3 8 2 .
-
MASÎN
1977
wie
Anm.
111,
S. 1 4 4 . - J. M. PLOTZEK, Zur rheinischen Buchmalerei im 1 2 . Jahrhundert, in: Rhein und Maas. Kunst und Kultur 8 0 0 - 1 4 0 0 , II, Katalog der Ausstellung . . . , Köln 1 9 7 3 , S. 3 1 7 . - BISTRICKÎ hat überzeugend nachgewiesen, daß das sg. Horologium olomoucense von dem olmützer Bischof Heinrich Zdik für das Domkapitel in Olomouc bestellt wurde und spätestens in den ersten zwei Monaten des Jahres 1 1 4 2 (nachher lebte dann Zdik in Prag) entstehen konnte. Eine von mehreren inhaltlichen Schichten des Titelbildes proklamiert die pastorale Tätigkeit, vgl. die Inschrift: Pastor ovis, querit predam lea mistica quadam, est bos pastor ovis et lea vacca bovis. Die von BISTRICKY richtig beurteilten Figuren des Bildes widerlegen die These einiger Forscher, daß diese Handschrift für das Kloster Strahov hergestellt wurde. Tidskrift
So
z.B.
22,
PLOTZEK
1953,
1973;
S . 6 6 ff. ; a u c h
A. A.
BOECKLER,
Konsthistorisk
GRABAR/C.
NORDENFALK,
La peinture romane du XI E au XIII E siècle, Génève 1 9 5 8 , S. 205. Richtig ist die Feststellung der deutschen Forschung, daß die Miniaturen rheinische Provenienz erkennen lassen. - Das K a pitelsgebäude in Olomouc, jetzt auch archäologisch untersucht, lag an der Nordwand der ursprünglichen Basilika. Die Reste dieses Bauwerks - mit den bekannten gekuppelten und ornamentierten Fenstern im ersten Stock - wurden bisher fälschlich als Palast der olmützer Pfemysliden oder als Bischofspalast bezeichnet. D a ß man hier das Kapitelsgebäude v o r sich hat, siehe A . MERHAUTOVA-LIVOROVA, Poslâni a datovâni budovy na severni stranë svatovâclavské baziliky v Olomouci, in: Acta Univ. Palack. Olom., Fac. philos., Philos.-Aesthet. 5, Praha 1 9 7 9 , S. 67 ff. - hier findet man noch keine genauere Analyse des ganzen Bauwerkes. Das ist erst nach der Publikation der Grabungsergebnisse möglich.
138
Anezka Merhautovä / Dusan Tresti'k
24 Sog. Horologium Olomucensc, Titelblatt, Stockholm
Tätigkeit im Geiste Gregors d. G r o ß e n . D a s ergibt sich aus begleitenden T e x t e n und aus der t h r o n e n d e n G e s t a l t Gregors mit der T a u b e auf dem Kopf im Z e n t r u m der D a r s t e l l u n g . D e r P a p s t lauscht der Bitte des h e r a n t r e t e n d e n Z d i k , der von einem Geistlichen mit Zdiks H i r t e n s t a b begleitet w i r d . H i n t e r Z d i k reihen sich eine Fürstenfigur mit der Inschrift „dux", wohl Viadislaus II., u n d zwei weitere Gestalten, von
denen eine das fürstliche Schwert f ü h r t . Von der G e genseite nähert sich ein Bischof, bezeichnet I. E., der, wie man feststellte, ein Vorgänger Bischof Zdiks w a r . O b e n steht eine G r u p p e Benediktinermönche mit ihrem A b t . E i n e r aus dieser G r u p p e , mit dem Buchstaben „ R " auf der Brust, soll wohl der Schreiber der H a n d s c h r i f t sein. E r erscheint noch einmal unter dem Bilde, w i e d e r u m mit „ R " , hier aber mit dem Zusatz
Spezifische Züge der böhmischen Kunst
25 Originalteile des südlichen Portaltympanons der St. Georgsbasilika auf der Prager Burg, jetzt in der Nationalgalerie im Georgskloster „scriptor". In der letzten Untersuchung zur Datierung der Handschrift wurde nachgewiesen, daß es sich um Benediktiner des nahen Klosters Hradisko (Hradisch) handelt und daß die Handschrift für das Olmützer Kapitel und nicht für die Strahover Prämonstratenser hergestellt wurde. Zugleich wurden einige früher nicht gedeutete Gestalten identifiziert, darunter die neben dem Thron stehende Figur mit dem „T" auf dem Knie, die den Olmützer Teilfürsten Tetleb darstellt. Dieser kam im Jahre 1140 aus dem Exil nach Olomouc zurück. Danach erst kann die Handschrift geschaffen worden sein. Die obere Zeitgrenze ist das
139
Jahr 1142, in dem sich Zdik nach Zwistigkeiten mit den mährischen Premysliden nach Prag begab. Die anderen durch die Forschung identifizierten Figuren des Bildes sind aus unserer Sicht weniger wichtig. Die Gestalten des Hauptbildes, um die Figur Gregors d. Großen konzentriert, konnten sich in dieser Zusammenstellung nur zu einem bedeutenden Vorgang versammeln: nach der Inschrift mit pastoralem Inhalt eigentlich nur zum Abschluß der Stiftsgründung, was auf dem Titelblatt vermutlich deutlich zu erkennen war, obwohl es nicht den Hauptgedanken des Bildes ausmachte. Der historische Hintergrund fehlt auch im Tympanonrelief des südlichen Portals der St. Georgsbasilika auf der Prager Burg nicht. Bereits früher vermerkte Anezka Merhautovä bei einer Analyse des Tympa-
140
A N E Z K A M E R H A U T O V Ä / D U S A N TRESTIK
nons, 223 daß dieser Aspekt durch die drei Äbtissinnenfiguren zum Ausdruck kommt: M l a d a war die erste Äbtissin des Klosters, Berta, inschriftlich die „secunda fundatrix", ließ das Kloster und die Basilika nach dem Brand im Jahre 1142 umbauen, und die Äbtissin Agnes, die in einem Kalendarium als „restauratrix" bezeichnet wird, ließ das Ganze erneuern. Agnes starb 1228. Alle drei stellen gleichsam die Hauptetappen der Baugeschichte bis zum Jahre 1228 dar. Wie die vorangehenden Werke entstand auch dieses Tympanon auf Initiative aus dem Umkreis des Hofes - im 13. Jahrhundert, aber doch noch im Geiste der vorangehenden Zeit. Die drei hier verfolgten Themenkreise ermöglichen viel deutlicher als die künstlerischen Ausdrucksmittel, die böhmische Kunst in ihrer Spezifik einzugrenzen und abzuheben von der Kunstentwicklung, die sich in ganz Mitteleuropa vollzog. Alle drei Darstellungs-
arten verwendeten zeitgemäße Formen, nicht immer in der besten künstlerischen Qualität, aber sie ordneten sie einheimischen Vorstellungen unter, um auf diese Weise das böhmische Bewußtsein und die nationale Tradition zu fördern. Ein weiterer Hinweis mag erlaubt sein. Vordergründig gesehen haben wir fast nur versucht, ikonographisch-ikonologische Fragen mit größtmöglicher Klarheit zu beantworten. W i r müssen es uns versagen, in aller Ausführlichkeit auch die Absichten aufzudecken, die die Herrscher veranlaßten, gerade diese ikonographischen Mittel zu ihrem Nutz und Frommen einzusetzen. Das wäre ein weites Feld und eines mit besonderem Reiz.
2 2 3 A. MERHAUTOVÄ-LIVOROVÄ, K ikonografii ceskych rane stredovekych tympanonü, in: Umcni XXIV, 1976, S. 4 1 7 ff.
Die Klosterkirche Jerichow Geschichtliche und kunstgeschichtliche Aspekte
V o n PETER R A M M
Über den hohen künstlerischen Rang der Prämonstratenserstiftskirche Jerichow ist man sich, seit der Bau im frühen 19. Jahrhundert „entdeckt" worden ist, stets einig gewesen. Noch immer aber besteht kein Konsens über seine Entstehungszeit und seine Baugeschichte, insbesondere über die Datierung der Krypta mit ihrer hervorragenden Kapitellornamentik. Ebenso ist die Rolle umstritten, die Jerichow für die kulturgeschichtlich bedeutsame Einführung des Backsteinbaus in Norddeutschland zukommt. Die Erforschung der Baugeschichte wurde zusätzlich kompliziert durch ihre Einbeziehung in die Geschichte des Bistums Havelberg, zu dem Jerichow gehörte: Rückschlüsse von der vermeintlichen Bedeutung des Stifts für die Diözese auf den Rang der Stiftskirche haben die Ansicht über deren ursprüngliche Gestalt und Entstehungszeit beeinflußt. Für die Bearbeitung der Baugeschichte ist nicht zuletzt deshalb zunächst eine Sichtung der Quellen zur Geschichte des Prämonstratenserstifts Jerichow aus der Hauptbauzeit von Kirche und Klausur, d. h. bis etwa zur Mitte des 13. Jahrhunderts, unerläßlich. Die Quellenlage scheint auf den ersten Blick besonders ungünstig zu sein, da Archiv und Bibliothek von Jerichow verloren gegangen sind und eine Stiftschronik nicht existiert. Es sind jedoch zahlreiche Urkunden besonders aus der Gründungszeit des Stifts - zum Teil in Abschriften, zum Teil auch in Regestenform aus dem 16. Jahrhundert - überliefert, so daß sich gerade über die für die Baugeschichte wichtigen Anfänge des Klosters ein recht guter Überblick gewinnen läßt. 1 Die Stiftungsurkunde wurde Ende 1144 vom Stifter, dem Magdeburger Domherrn und Dompropst (und späteren Erzbischof) von Bremen, Graf Hartwig von Stade, selbst ausgestellt. Sie verbriefte die Erstausstattung des Stifts und seine Gründung an der bestehenden Pfarrkirche in Jerichow in der Diözese Havelberg und sprach ihm das Recht der freien Wahl des Vogts zu. 2 Eine erste erzbischöfliche Bestätigung im Zusammenhang mit Gütertransaktionen für die
Klostergründung erfolgte etwa gleichzeitig, 3 und auch der König, Konrad III., bestätigte die Voraussetzungen der Gründung noch im gleichen Jahr. 4 1146 erweiterte Bischof Anselm von Havelberg die Ausstattung des Klosters um die Marienburg bei Kabelitz mit 11 zugehörigen slawischen Ortschaften, die, wie man vermutet hat, vielleicht erst wieder urbar zu
1 Vgl. die Zusammenstellung der urkundlichen Überlieferung bei GOTTFRIED WENTZ, Die staatsrechtliche Stellung des Stiftes Jerichow, in: Sachsen und Anhalt, 5. Jg., Magdeburg 1 9 2 9 , S. 2 9 1 - 2 9 9 . - Das Kloster wurde 1 5 5 2 aufgehoben; zu seiner Geschichte vgl. ERNST WERNICKE, Die Kreise Jcrichow, Halle 1 8 9 8 ( = Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der Prov. Sachsen und angrenzender Gebiete, XXI. Heft), S. 3 0 7 - 3 1 1 , und GOTTFRIED WENTZ, Das Bistum Havelberg, Berlin/Leipzig 1 9 3 3 ( = Germania Sacra, 1. Abt., Die Bistümer der Kirchenprovinz Magdeburg, 2. Bd.), S. 1 8 7 - 2 1 0 . 2
Gedruckt
bei:" FRANZ
WINTER,
Die
Prämonstratenser
des
zwölften Jahrhunderts und ihre Bedeutung für das nordöstliche Deutschland, Berlin 1 8 6 5 , S. 3 4 9 - 3 5 2 . 3 Urkundenbuch des Erzstifts Magdeburg, Tl. 1 (937-1192). Bearb.
v o n , FRIEDRICH
ISRAEL u n t e r
Mitwirkung
von
WALTER
MÖLLENBERG, Mägdeburg 1 9 3 7 ( = Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete NR 18), S. 3 2 0 f., Nr. 255. Erzbischof Friedrich beurkundet einen umständlichen Rechtshandel: Das Liebfrauenkloster Magdeburg kauft für Kloster Jerichow von Hartwig von Stade den Ort Wulkow und erhält dafür von Bischof Anselm von Havelberg als dem für Jerichow Verantwortlichen 2 Hufen in Erxleben, die Richardis, die Mutter Hartwigs und Mitstifterin von Jerichow, der neuen Gründung geschenkt hat (in Hartwigs Stiftungsurkunde erscheint Wulkow dann als Schenkung von ihm und Richardis). Die Urkunde hat WENTZ
( 1 9 3 3 w i e A n m . 1 , S . 1 9 1 , i h m f o l g e n RICHARD
G.HUCKE,
Die Grafen von Stade 9 0 0 - 1 1 4 4 . Genealogie, politische Stellung, Comitat und Allodialbesitz der sächsischen Udonen, Diss. phil. Kiel 1 9 5 6 , gedruckt Stade 1 9 5 6 , S. 1 6 9 , und DIETRICH CLAUDE, Geschichte des Erzbistums Magdeburg bis in das 12. Jahrhundert, Tl. II, Köln/Wien 1 9 7 5 [ = Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 67/11], S. 350) zu der Annahme veranlaßt, daß das Liebfrauenkloster erhebliche finanzielle Vorleistungen für die Gründung von Jerichow erbracht habe, wofür indes kein eindeutiger Beleg vorliegt. Das Liebfrauenkloster hat hier vermutlich auch eigene Interessen verfolgt - eine Feststellung, die nicht die Tatsache mindert, daß vom Mutterkloster in Magdeburg wesentliche Impulse zur Gründung von Jerichow ausgingen (CLAUDE 1 9 7 5 , S. 350). 4 Urkundenbuch wie Anm. 3, S. 3 2 1 f., Nr. 256. Konrad III. bestätigt u. a. eine zur Ausstattung Jerichows verwendete Schenkung Hartwigs an Havelberg.
1 Jerichow, Prämonstratenserstift S. Maria und Nikolaus, Grundriß von Kirche und Klausur. Nach Alfred Schirge (Hrsg.), Dom zu Havelberg, 2. Aufl., Berlin 1970
Volk (generatio illa prava atque perversa - gemeint sind die Slawen) gebessert werden möge". 5
machen waren. Vor allem aber überließ er ihm den Zehnten von allem bereits bebauten oder noch zu kultivierenden Land im Südteil seiner Diözese und ernannte den Stiftspropst zum Archipresbyter dieses Gebiets; alleinige weltliche Obrigkeit für die Stiftsuntertanen sollte der Klostervogt sein. Als ein Ziel der Gründung wird erwähnt, daß „durch den heiligen Lebenswandel der Brüder jenes schlechte und böse
FRIEDRICH RIEDEL, B e r l i n
5
Codex Diplomaticus Brandenburgensis. Hrsg. von ADOLPH 1 8 3 8 ff., I, 3 , S. 8 0 f . , N r . 3 ,
irrtüm-
lich unter dem Jahr 1145. Die Handschrift, Kop. 390 des Staatsarchivs Magdeburg (alte Signatur Kop. XXXII), S. 92 f., hat 1146, ebenso das Regest bei HERMANN KRABBO, Ein Verzeichnis von Urkunden des Prämonstratenserstifts Jerichow, in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg, 56.-59. Jg., 1921/ 24, Magdeburg 1924, S. 99, Nr. 4. - In der Urkunde wird der erste Propst von Jerichow, Baldram, namentlich genannt. - Zum Zustand der slawischen Ortschaften vgl. WENTZ 1929 wie Anm. 1, S. 271 f., der in ihrer Aufzählung nur eine historische Reminiszenz an ottonische Zeiten vermutet. '
Die Klosterkirche Jerichow Der missionarische Aspekt ist allerdings wohl kaum zum Tragen gekommen. Schon 1147 erfolgte der berüchtigte Wendenkreuzzug, der das Land verwüstete und entvölkerte. Nicht durch Mission, sondern durch Einwanderer aus dem alten Reichsgebiet wurde das Bistum Havelberg christianisiert. 6 1148, ein Jahr nach dem Kreuzzug, stimmte Erzbischof Friedrich von Magdeburg auf Bitten von Bischof Anselm von Havelberg und Propst Dietrich von Jerichow einem Gütertausch zu, damit die Brüder, die an der Jerichower Pfarrkirche „wegen des Lärms des Marktvolkes (propter tumultum forensis populi) das Ziel ihres Mönchslebens keineswegs erreichten", an anderer Stelle „bauen und Gott in mehr Ruhe dienen könnten". 7 1150 erhielt Bischof Anselm eine umfangreiche königliche Bestätigung der Privilegien seiner Diözese, wobei auch die durch ihn erfolgte Einrichtung der Propstei in Jerichow Erwähnung fand. 8 1159 schließlich erlangte Propst Isfried die kanonisch notwendige Bestätigung der Gründung des Stifts und seiner Rechte, wie sie sich aus den oben aufgeführten Urkunden ergaben, durch den Papst. Neben der Pfarrkirche Jerichow ist hier die Rede von dem Fundus, „in quo prefata ecclesia sita est" - offenbar bereits also von einer neuen Anlage. 9 1162 verlehnte Markgraf Otto von Brandenburg die Schutzvogtei des Klosters, die er bisher mit seinem Vater, Albrecht dem Bären, wahrgenommen hatte, an die Burggrafen von Jerichow. 10 1172 rekapitulierte Erzbischof Wichmann von Magdeburg aus gegebenem Anlaß - Streit zwischen dem Erzbistum und dem Bistum Havelberg um ihre Rechte am Stift Jerichow, der dessen Geschichte mit Unterbrechungen bis zu seiner Auflösung begleitete - die Gründungsgeschichte von Jerichow. Die Urkunde ist aus zwei Gründen von besonderem Interesse: Zum einen geht sie in der Darstellung der Rechte und des Besitzes von Jerichow in keinem Punkt über die bekannten Urkunden hinaus, läßt also den Schluß zu, daß tatsächlich alle wichtigen Urkunden der Gründungszeit überliefert sind - was für die rechtliche Stellung des Stifts von Belang ist. Zum anderen aber enthält sie die Aussage, daß die Brüder am neuen Ort, „wie der Augenschein lehrt, eine Kirche mit Kloster erbaut haben (templum cum claustro, sicut re ipsa apparet, exstruxerunt)". 11 1178 wird, in einer Schenkungsurkunde desselben Erzbischofs, noch einmal von dem Kirchenbau gesprochen : so wie wir einst einen frommen Diener
143
Gottes" (das bezieht sich vermutlich auf den bisherigen Propst Isfried, der seit kurzem Bischof von Ratzeburg war) „bei der Errichtung der Kirche mit unseren Mitteln unterstützt haben, so beabsichtigen wir )etzt auch . . . die Pfründen aus unserem Besitz aufzubessern". Das Kloster erhielt zu diesem Zweck Grundbesitz im Fiener Bruch, der noch urbar zu machen war; von Bauarbeiten an Kirche oder Kloster ist nicht die Rede. 12 Etwa zur gleichen Zeit, kurz vor 1178, erfolgte die Gründung von Gramzow, dem einzigen Tochterkloster von Jerichow. 13 Das Stift muß sich also damals bereits so weit stabilisiert haben, daß es imstande war, einen Tochterkonvent abzugeben. Betrachtet man diese drei Nachrichten im Zusammenhang, so liegt es nahe, aus der Formulierung der Urkunde von 1172 einen gewissen Abschluß der wichtigsten Baumaßnahmen zu erschließen: Am neuen Ort des Klosters haben offensichtlich nutzungsfähige Gebäude für Gottesdienst und Unterkunft bestanden. Das hieße weiter, daß zwischen 1172 und 1178 ein zeitliches Intervall läge, in dem keine größeren Bauarbeiten notwendig gewesen wären, und man hätte damit einen Fixpunkt für die Festlegung der Bauzeit gewonnen: Die Hauptbauperioden müßten demzufolge vor 1172 oder/und nach 1178 liegen. Zwischen 1187 und 1191 erlangte das Stift eine erneute päpstliche Bestätigung. 14 1193 verbriefte Bischof Helmbert von Havelberg eine Schenkung des Klostervogtes Rudolf von Jerichow. 15 Damit sind alle Urkunden aus dem 12. Jahrhundert aufgeführt, die für Jerichow überliefert sind. Sie ergeben ein recht klares Bild von den Einkünften und den Rechten des Klosters. Man ist deshalb zunächst überrascht, wenn man erfährt, daß Bischof Wilhelm von Havelberg 1226 in 6
ALBERT
HAUCK,
Kirchengeschichte
Deutschlands,
5 Bde.,
9. Aufl., Berlin 1958, IV, S. 6 2 8 - 6 3 7 . 7 Urkundenbuch wie Anm. 3, S. 336 f., Nr. 268. 8 Codex wie Anm. 5, I, 2, S. 438 f., Nr. 4. 9 Codex wie Anm. 5, I, 3, S. 83 f., Nr. 6. Diese Urkunde wie auch die folgenden von 1172 und 1178 wurde in unterschiedlichen Interpretationen für die Baugeschichte der stehenden Klosterkirche herangezogen, vgl. dazu unten Anm. 22. 10
R e g e s t KRABBO 1 9 2 4 w i e A n m . 5 , S. 1 0 1 , N r . 9 mit A n m . 2 9 .
11
Urkundenbuch wie Anm. 3, S. 443 ff., Nr. 338. Urkundenbuch wie Anm. 3, S. 468, Nr. 356. - Isfried ist seit der päpstlichen Bestätigung von 1159 als Propst in Jerichow nachweisbar, Wichmann war Erzbischof seit 1152. 12
13
V g l . WINTER
1865
wie
A n m . 2,
S. 2 1 0 f . ; WENTZ
1933
wie
Anm. 1, S. 196. 14
R e g e s t KRABBO 1 9 2 4 w i e A n m . 5 , S. 1 0 0 , N r . 8 mit A n m . 2 8 .
15
R e g e s t KRABBO 1 9 2 4 w i e A n m . 5 , S. 1 0 1 , N r . 1 0 .
144
PETER RAMM
Jerichow „einen Schiedsspruch getroffen hat zwischen der Havelberger und der Jerichower Kirche über das Recht, das die Jerichower bei den Wahlen des Havelberger Bischofs haben." 1 6 Leider ist von dieser Urkunde weiter nichts bekannt als eben dieses hier vollständig in Übersetzung zitierte Regest, das in Verbindung mit einem Analogieschluß aus dem Verhältnis von Leitzkau zu Brandenburg zu Spekulationen über die rechtliche Stellung des Stifts Jerichow geführt hat. Sie gipfelten in der Ansicht, daß dem Stift Jerichow „bei seiner Gründung von Bischof Anselm der Charakter eines provisorischen Domkapitels verliehen worden" sei und daß Anselm der Stiftskirche von Jerichow „bis zu der erhofften Wiederbegründung des Havelberger Domes provisorisch die Geltung einer Kathedralkirche seines Bistums beigelegt" habe. 1 7 D a m i t ist das Regest aber entschieden überfordert; denn tatsächlich erfährt man weder, welcher Art die Jerichower Rechte an der Wahl des Havelberger Bischofs waren, noch seit wann und mit welcher Begründung sie in Anspruch genommen wurden. Keine der Urkunden aus der Gründungszeit berichtet von einem so fundamentalen Recht - übrigens durchaus im Unterschied zu Leitzkau, dem die Rechte eines Domkapitels für die Diözese Brandenburg urkundlich verliehen worden waren und das sie bis zur erneuten Einrichtung eines Domkapitels in Brandenburg im Jahre 1161 wahrgenommen und auch späterhin - bei Bischofswahlen zumindest teilweise zu behaupten gewußt hat. 1 8 D e r erste Havelberger Propst Walo begegnet dagegen bereits in der Gründungsurkunde für Jerichow, und im Jahre 1155, bei der ersten Bischofswahl für Havelberg nach der Neugründung des Bistums und nach der Gründung von Jerichow, existierte das Domkapitel von Havelberg schon seit einigen Jahren wieder am Ort. 1 9 Aber selbst wenn Anselm 1144 noch beabsichtigt haben sollte, zunächst Jerichow zu seinem Sitz zu machen (worauf de facto nichts hindeutet) - die Kirche, die nach dem Gütertausch von 1148 in Jerichow gebaut wurde, war gewiß nicht mehr zur Kathedrale bestimmt: Zu dieser Zeit begann die Errichtung des Doms in Havelberg. Zwei bischöfliche Bestätigungsurkunden aus der ersten H ä l f t e des 13. Jahrhunderts sind noch nachzutragen: die eine aus dem Jahre 1215 von Bischof Segebodo über eine Schenkung Rudolfs d. Ä. von Jerichow, die andere ohne Jahresangabe von Bischof Wilhelm (1219-1244) über alle Urkunden und Schenkungen seiner Vorgänger an das Stift. 2 0 Erst nach
der Mitte des 13. Jahrhunderts sind dann wieder stetige Gütererwerbungen größeren Umfangs zu registrieren. 21 D i e zahlreichen Hypothesen zur Baugeschichte lassen sich im wesentlichen auf die beiden Fragen zurückführen, ob man die Urkunde von 1172 auf den stehenden Bau beziehen darf, d. h., ob Jerichow tatsächlich der früheste Backsteinbau Norddeutschlands ist, 22 und ob die Krypta, deren in dieser Kunstlandschaft fremder Dekor Datierungsschwierigkeiten mit sich bringt, dem ursprünglichen Bau zuzurechnen
16
R e g e s t KRABBO
1924
wie
A n m . 5 , S. 1 0 2 ,
Nr.
14.
17
WENTZ 1933 w i e Anm. 1, S. 174 und 1 9 1 ; so auch noch BERENT SCHWINEKÖPER (Hrsg.), Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. 1 1 : Provinz Sachsen Anhalt, Stuttgart 1975, S. 2 2 8 : „Hat wohl zunächst auch als Kathedralkirche des Bistums Havelberg gedient". D a s ist auch nicht aus der Formulierung in der Datumzeile der Stiftungsurkunde von Jerichow zu erschließen („anno ordinacionis domini et venerabilis Anselmi Havelbergensis episcopi et eiusdem Jerichontine ecclesie XVI", siehe Anm. 2), wie
es
WENTZ
getan
hat
(1929
wie
A n m . 1,
S. 2 7 1 ) .
18
Urkunde von 1139, Codex wie Anm. 5, I, 10, S. 70, Nr. 2. Zum Streit zwischen Leitzkau und Brandenburg vgl. GEORG SELLO, Zur Geschichte Leitzkaus, in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 26, Magdeburg 1891, S. 245 ff.; HERMANN KRABBO, D i e brandenburgische Bischofswahl im Jahre 1221, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte XVII, Leipzig 1904, S. 2 ff. - Denkbar wäre z. B., daß Jerichow den Streit zwischen Leitzkau und Brandenburg als Präzedenzfall für eigene Forderungen benutzt haben könnte. 19
HUCKE
1956
wie
Anm. 3,
S. 1 6 8 ff.,
nahm
gegen
WENTZ
1933 w i e Anm. 1, an, „daß der erste Konvent von Jerichow das Havelberger Domkapitel einschloß und beide unter einem Propst, nämlich Walo, dem späteren Bischof (ab 1155) standen", und gibt als Begründung an, daß in Hartwigs Stiftungsurkunde kein Propst von Jerichow genannt wurde! Gegen diese Vermutung spricht u. a., daß in der ersten Urkunde Bischof Anselms für Jerichow, die 1146, vor den für Havelberg entscheidenden Veränderungen durch den Wendenkreuzzug, ausgestellt wurde, für Jerichow bereits ein eigener Propst genannt wird (siehe oben Anm. 5). 20
R e g e s t e n KRABBO
1 9 2 4 w i e A n m . 5 , S. 1 0 1 , N r . 1 1 u n d
12.
21
WENTZ 1933 wie Anm. 1, S. 206 f., gibt an Erwerbungen von Dörfern an: M e l k o w (1254), wüst Smersow bei Melkow (1265), wüst Rehagen (1266), wüst Galm ( 1 2 8 5 / 9 8 ) , Rehberg (1286). Unklarheit besteht über den Zeitpunkt der Erwerbung von Briest und wüst Visica (WENTZ: vor 1172) sowie Molkenberg (WENTZ: v o r 1 2 3 9 ) . 22
FERDINAND
VON
QUAST,
Zur
Charakteristik
des
älteren
Ziegelbaus in der Mark Brandenburg mit besonderer Rücksicht auf die Klosterkirche zu Jerichow, in: Deutsches Kunstblatt 1, Leipzig/Berlin/Stuttgart 1 8 5 0 : Jerichow begonnen zwischen 1147 und 1152, „der erste sicher dokumentierte Backsteinbau in der Mark Brandenburg" (S. 2 3 3 ) ; FRIEDRICH ADLER, Mittelalterliche Backstein-Bauwerke des Preussischen Staates, Bd. I, Berlin 1 8 6 2 : Anlage 1 1 4 9 - 5 9 (außer Krypta, Hauptapsis, Nebenchören, Westbau) ; dagegen CARL SCHÄFER, Wanderungen in der Mark Brandenburg, I: Jerichow, in: Zentralblatt der Bauverwaltung, Berlin 1884 (a): die Urkunden können sich nicht auf den stehenden Bau beziehen, ganzer Bau einheitlich bald nach 1200 im Osten begonnen, „bedenklich, anzunehmen, daß ein so reifer Backsteinbau
Die Klosterkirche Jerichow ist. 23 Bevor auf diese Datierungsfrage eingegangen werden kann, sollen zunächst der Baubefund und die relative Bauchronologie dargelegt werden. Bei der Betrachtung des Außenbaus fällt auf, daß für die Klosterkirche zweierlei Baumaterial verwendet worden ist: bis in etwa 1 m Höhe Bruchstein, darüber Backstein. Man hat diesen Bruchstein-„Unterbau" für den Rest eines älteren Baus 24 oder für einen bewußt als Schutz gegen Bodenfeuchtigkeit angelegten Sockel gehalten, wie er sich bei vielen märkischen Backsteinbauten findet.25 Wahrscheinlicher ist jedoch, daß ursprünglich beabsichtigt war, den ganzen Bau in Bruchstein aus Plötzkyer Grauwacke, dem Baumaterial des um 1150 begonnenen und 1170 geweihten Havelberger Domes, aufzuführen; 26 denn wenn man den „Sockel" wirklich als (dann übrigens stark überdimensionierte) Isolierungsschicht angelegt hätte, dann hätte man gewiß bei den jüngeren Bauteilen (nördlicher Nebenchor, Westtürme, westliches Langhausjoch) und bei der Klausur nicht darauf ver. . . der erste deutsche Backsteinbau gewesen wäre" (S. 235); FRIEDRICH ADLER, Die Klosterkirche von Jerichow, in: Zentralblatt der Bauverwaltung, Berlin 1884: gegen SCHÄFER, Kernbau (wie 1862) von 1149-59, dazu aber sämtliche Kranzgesimse außer denen der Seitenschiffe erst 1200-12101; CARL SCHÄFER, Die Zeitstellung der Klosterkirche von Jerichow, in: Zentralblatt der Bauverwaltung, Berlin 1884 (b): Erwiderung auf ADLER, bekräftigt seinen Standpunkt von 1884 (a); OTTO STIEHL, Der Backsteinbau romanischer Zeit besonders in Oberitalien und Norddeutschland, Leipzig (1898): Gesamtbau 1. Hälfte 13. Jh.; WERNICKE 1898 wie Anm. 1: 1149 Bruchsteinbasilika, nach 1165 (d. h. nach Brandenburg-Dom) Westbau als ältester Backsteinteil, anschließend Erneuerung des gesamten Baus von Osten in Backstein, Langhaus nach 1212 (Schönhausen); JULIUS KOHTE, Friedrich Adler in seiner Bedeutung für die Geschichte der Architektur, in Zeitschrift für Geschichte der Architektur II, Heidelberg 1908/ 09, S. 2 1 2 - 2 2 1 : Grauwackebau nach Bauunterbrechung um 1200 als
Backsteinbau
weitergeführt;
JOSEF
MARIA
ZEISNER,
Die
Klosterkirche in Jerichow - Ein Beitrag zur Frage des Backsteinbaus in Deutschland, Diss. phil. Königsberg 1934, gedr. postum Berlin 1940 ( = Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. XXVI): Baubeginn zwischen 1150/52 und 1159, vollendet mit Ausnahme der Türme gegen 1180/90, 1172 noch nicht geweiht, weil in der Urkunde keine Weihe erwähnt wird (d. h. keine Bauzäsur); ALFRED KAMPHAUSEN, Die Baudenkmäler der deutschen Kolonisation in Ostholstein und die Anfänge der nordeuropäischen Backsteinarchitektur, Neumünster/Holstein 1938 ( = Studien zur schleswig-holsteinischen Kunstgeschichte 3): Baubeginn 1150/60, Langhaus um 1170, Chor erneuert um 1200; GEORG SCHEJA, Die romanische Baukunst in der Mark Brandenburg, Diss. phil. Berlin 1939, gedr. Gütersloh 1939: Notbau bis 1159, der auch 1172 noch stand, Baubeginn des stehenden Baus zwischen 1172 und 1178 (er bezieht die Urkunde von 1178, die doch ausdrücklich der Verbesserung der Pfründen galt, auf Bauförderung), konstatiert „längere Bauzeit", die „bei Datierung zu berücksichtigen"
wäre
(S. 3 8 ) ;
HANS MÜTHER
mit
WALTRAUD VOLK,
Die
Klosterkirche zu Jerichow, Berlin 1958 ( = Das Christliche Denkmal, Heft 36): in 50er Jahren 12. Jh. begonnen und vollendet bis 10
Architektur
145
ziehtet, zumal Feldsteinsockel später bei den märkischen Backsteinbauten zur Regel wurden. In Parenthese: Wie das bis über 7 m tiefe, vollständig aus Backstein bestehende Fundament der Ostteile und des Langhausmittelschiffs des Brandenburger Doms aus den 1160er Jahren beweist, hat man in der Frühzeit des märkischen Backsteinbaus solche Fundamente für ausreichend gehalten. 27 In Jerichow hatte die Verwendung verschiedenen Materials offenbar andere Gründe. Es war dies, wie sich zeigen wird, nicht die einzige Planänderung während des Baus. Dem Materialwechsel von Bruch- zu Backstein folgten Modifizierungen des Grundrisses. An Stelle der Nebenchöre waren in der Mitte der Ostwände der Querhausarme Nebenapsiden von deren halber Breite begonnen worden (die den Querhausstirnwänden zugewandten Fugen sind deutlich zu sehen, auch wurde das Fundament der nördlichen Nebenapsis bei Restaurierungsarbeiten aufgedeckt 28 ). Diese Nebenapsiden wurden nach Weiterführung des auf Obergeschosse der Türme; HELGA MÖBIUS, Studien zur mittelalterlichen Bauornamentik in Sachsen, Thüringen und der Mark Brandenburg, Diss. phil. Halle/Saale 1970 (Ms): (nach ZEISNER) 1150/52-1180/90
ohne
Zäsur;
GEORG
DEHIO,
Handbuch
der
deutschen Kunstdenkmäler. Der Bezirk Magdeburg, Berlin 1974. Bearb. von der Abt. Forschung des Instituts für Denkmalpflege: nach 1148 bis 1172 inklusive Nebenchöre, Krypta gegen 1178, Westbau um 1240 weitergeführt. 23 Datierung der Krypta bei ADLER 1862 wie Anm. 22: nachträglich
1200/1210;
SCHÄFER
1884
(a, b)
wie
Anm. 22:
bau-
einheitlich mit Chor, spätromanisch nach 1200 in 2 Bauabschnitten, erst Chor-, dann Vierungskrypta; STIEHL 1898 wie Anm. 22: Krypta ursprünglich beabsichtigt, 1. Hälfte 13. Jh.; RICHARD HAMANN, Deutsche und französische Kunst im Mittelalter, Bd. II: Die Baugeschichte der Klosterkirche zu Lehnin und die normannische Invasion in der deutschen Architektur des 13. Jahrhunderts, Marburg 1923: um 1220; OTTO GAUL, Die romanische Baukunst und Bauornamentik in Sachsen, Diss. phil. Köln 1932: um 1170; ZEISNER 1934/1940 wie Anm. 2: in voller Länge von Anfang an vorgesehen, aber ursprünglich tiefer begonnen, baueinheitlich u m 1 1 6 0 / 7 0 ; SCHEIA 1 9 3 9 w i e A n m . 2 2 : u r s p r ü n g l i c h , i n 2 B a u a b -
schnitten 4. Viertel 12. Jahrhundert; MÖBIUS 1970 wie Anm. 22: u r s p r ü n g l i c h , u m 1 1 6 0 / 7 0 ; DEHIO 1 9 7 4 w i e A n m . 2 2 : n a c h t r ä g l i c h
gegen 1178. 24
WERNICKE 1 8 9 8 w i e A n m . 1.
25
MÜTHER/VOLK 1 9 5 8 w i e A n m . 2 2 ; DEHIO 1 9 7 4 w i e A n m . 2 2 .
26
STIEHL
1898
wie
Anm. 22;
KOHTE
1909
wie
Anm. 22;
SCHEJA 1 9 3 9 w i e A n m . 2 2 . 27
V g l . d e n G r a b u n g s b e r i c h t v o n KLAUS GREBE ( A u f d e r S u c h e
nach dem ottonischen Dom, in: 800 Jahre Dom zu Brandenburg. H r s g . v o n JÜRGEN HENKYS, B e r l i n 1 9 6 5 , S . 1 0 - 1 9 ) . Z u r D a t i e r u n g
von Brandenburg vgl. Anhang, S. 158 f. - Übrigens ist auch in Jerichow im Fundament des Bruchsteins-„Sockels" bereits Backstein verwendet worden; vgl. Abb. 12 (Westwand des südlichen Querhausflügels). 28 Von der sonst nicht dokumentierten Grabung um 1950 ist wenigstens ein Foto im Bildarchiv des Instituts für Denkmalpflege, Arbeitsstelle Halle, erhalten.
146
2
PETER R A M M
Ansicht von Nordosten
Baus in Backstein aufgegeben und'durch apsidial geschlossene Nebenchöre von der Länge des Hauptcho-
res ersetzt - eine Grundrißvariante, die sich bei verschiedenen Augustinerchorherrenkirchen findet (z. B. in Hamersleben und Halberstadt-Liebfrauen, auch Ratzeburg-Dom). An die Chorwände, deren Außen-
Die Klosterkirche Jerichow sockel man in den Nebenchören ebenso sieht wie die noch auf die Nebenapsiden berechneten, bis 2um Dachgesims durchlaufenden Lisenen in den Winkeln zwischen Chor- und Querhauswänden, sind sie ohne Verband angelehnt bzw. nachträglich eingeklinkt, d. h., der Chor war weitgehend, vielleicht sogar vollständig hochgeführt, als die Nebenchöre angefügt wurden. D e r nördliche Nebenchor zeigt Backsteinmauerwerk vom Fundament an, beim südlichen, der in den untersten Schichten des aufgehenden Mauerwerks aus Bruchstein besteht, ist noch das alte Baumaterial, vielleicht aus dem Abbruch der Nebenapsiden gewonnen, verwendet worden. D i e Hauptapsis hat das einfache, nur von einer Schräge gebildete Sockelgesims, das den ganzen Bau umzieht. D i e Nebenapsiden und die Außenwand des nördlichen Nebenchors besitzen dagegen ein reiches, Formen des Werksteinbaus nachgebildetes Gesims aus doppelter Schräge, Wulst, doppeltem Plättchen, Kehle, Plättchen und Wulst mit Plättchen. Wohl nur wenig später als die Nebenchöre ist die Krypta gebaut worden. Auch sie war im ursprünglichen Bauplan nicht vorgesehen: Trotz des Putzes kann man in der Krypta die Grenze zwischen Chorfundament und aufgehendem Mauerwerk deutlich erkennen; 2 9 auch weisen die Seitenwände keine Spuren von Fenstern auf, wie sie bei Krypten sonst die Regel sind (eine nachträgliche Einbringung von Fenstern an dieser Stelle erübrigte sich dann wegen der Nebenchöre). D i e drei Apsisfenster der Krypta sitzen dagegen für den Innenraum ungewöhnlich hoch. Sie sollten wohl wegen des bereits ausgeführten, wie ein Sockel wirkenden festen Bruchsteinmauerwerks, auf dem sie mit flacher Sohlbank unmittelbar aufsitzen, nicht tiefer gelegt werden und sind sehr sorgfältig (so daß man es kaum bemerkt und nicht einmal mit Sicherheit behaupten kann) und offensichtlich auch nur wenig später in die Apsiswand eingefügt worden (die Bildung der Fenstergewände aus Formsteinen und deren Form stimmt überein mit der an den Obergadenfenstern des Chores). Im Chor selbst ist nur am Fehlen von Basen für die Vierungspfeiler der nachträgliche Einbau der Krypta zu erkennen. D i e Fugen zwischen den westlichen Vierungspfeilern und den seitlichen Kryptenwänden hingegen sind zwar am einleuchtendsten damit erklärt worden, daß die Vierungspfeiler bei Anlage der Krypta bereits standen; sie könnten aber auch statische Gründe haben (unterschiedliche Be10*
147
lastung). 30 Ein weiterer Anhaltspunkt für die nachträgliche Einfügung der Krypta findet sich am südlichen Nebenchor, der nach seiner Fertigstellung in zwei Geschosse unterteilt wurde (das jetzige, gotische Zwischengewölbe ersetzte vermutlich eine ältere Balkendecke), 3 1 weil man für den nun höher gelegenen Chor ein Sakristei brauchte. D i e Baufolge war also Chor und Querhaus, Nebenchöre, Krypta. E s läge daher nahe anzunehmen (schon aus praktischen, liturgischen Gründen), daß der Chor vor der Einfügung der Krypta fertiggestellt war. Sicher ist dieser Schluß jedoch keineswegs, zumal alle Bauvorgänge wohl recht schnell aufeinander folgten. D a s Steinformat ist übrigens überall das gleiche. D a s Langhaus hatte im ursprünglichen Bauzustand nur eine Länge von zwei Vierungsquadraten: D i e im unteren Teil aus Bruchstein bestehenden westlichen, rechteckigen Langhauspfeiler (die übrigen sind rund) erweisen sich als der Rest der westlichen Langhauswand, die auch nach dem Materialwechsel an der ursprünglich vorgesehenen Stelle für alle drei Schiffe in voller Höhe aufgeführt wurde. D i e Spuren des Abbruchs sind in den Dachräumen über den Seitenschiffen und im Langhaus selbst, trotz der nachträglichen Verblendung, deutlich zu erkennen. A m Außenbau markieren breite Lisenen und das E n d e des Bruchstein-„Sockels" den ehemaligen Abschluß. 3 2 Z w e i Portale, beide sehr schlicht, mit einfach gestuftem Gewände bereits in Bruchstein angelegt, wurden folgerichtig in dem neuen Material zu E n d e geführt: das nördliche Seitenschiffsportal und eine Pforte in der Westwand des südlichen Querhausarmes. Hinzu kam nach dem Materialwechsel das große Portal in der nördlichen Stirnwand des Querhauses, das zumindest nicht in dieser Breite vorgesehen war. Ein schönes Säulenportal aus Werkstein im östlichen Joch des südlichen Seitenschiffs - vermutlich aus Pro-
2 9 ZEISNER 1 9 3 4 / 1 9 4 0 wie Anm. 22, sah in der Fundamentoberkante (die er nicht als solche erkannte) und in zwei großen „ B o s s e n " in Höhe der östlichen Vierungspfeiler das Auflager für die „Wölbung einer ursprünglich in tieferer L a g e beabsichtigten K r y p t a " (S. 34). 3 0 So ZEISNER 1 9 3 4 / 1 9 4 0 wie Anm. 22, S. 38. 31 Das Fenster der Nebenapsis wurde noch in romanischer Zeit tiefer gelegt; der ursprüngliche Z u g a n g zum Obergeschoß befand sich in der Westwand und mündete auf einen der Querhauswand vorgelegten L a u f g a n g . D i e jetzige Verbindungstür in der südlichen Chorwand stammt aus dem 19. Jahrhundert. 32 Ob auch im ursprünglichen Bauplan bereits ein westlicher Turmbau (als Mittelturm?) vorgesehen war, ist nur mit einer Grabung festzustellen.
149 4 Langhaus nach Osten
zessionsgründen angelegt, weil durch den Einbau der Krypta der Zugang zum Chor aus dem Querhaus ins Langhaus verlegt worden war - ersetzte später die Pforte vom Klausurhof ins Querhaus. 33 Zwei weitere Türöffnungen in der Südwand des Querhauses führten direkt vom östlichen Klausurtrakt in die Kirche: die eine in Erdgeschoßhöhe nahe der Querhausecke, die andere weiter westlich in Höhe des Obergeschosses. 3 '' Durch sie konnte man vom Dormitorium über einen Laufgang an der Querhaussüd- und -ostwand, auf den übrigens auch die Tür zur Sakristei im Ober3
Langhaus und Türme von Süden
geschoß des südlichen Nebenchors mündete, direkt in den Chor gelangen. 3 : ! D c t e n V c r m a u c r u n g ist alt. - D i e O r n a m e n t i k des Seitcnschiffsportals zeigt A n k l ä n g e an die der K r y p t a (Portalkapitelle und nördliche Apsiskonsole). D a s Portal w u r d e vor A n l a g e des spätromanischen K r e u z g a n g s in die Scitenschiffswand eingebrochen, w i e man an der nachträglichen E i n f ü g u n g der Kreuzgangkonsolen ablesen kann. 34 Beide Türöffnungen w u r d e n im Kirchcninneren bei der Restaurierung im 19. J a h r h u n d e r t sorgfältig zugesetzt; von der östlichen ist auf der Klausurseite ihr in den Bruchstein-„Sockel" in Backsteinverband eingefügtes G e w ä n d e mit vorgelegtem kräftigen Rundstab noch in Resten e r h a l t e n ; die ehemalige Türöffnung zum Obergeschoß ist möglicherweise nachträglich eingebrochen worden.
150
PETER R A M M
5 Blick ins nördliche Seitenschiff D e r Einbau der K r y p t a hatte den Laienraum eingeengt. D e r nächste Bauabschnitt - vielleicht nach einer Unterbrechung, denn das Steinformat wird größer 3 5 - war folgerichtig eine Langhausverlängerung: Westlich der Kirche wurde eine der Leitzkauer ähnliche repräsentative Doppelturmfront mit leicht vortretendem Mittelbau 3 6 begonnen und dann durch ein halbes Zwischenjoch mit dem Langhaus verbunden, dessen alte Westwand nun niedergelegt werden konnte. 3 7 D i e Hallen im Untergeschoß der Türme waren vermutlich wie der Zwischenbau frei von massiven Einbauten (für die Westempore des 19. Jahrhunderts ist keine Vorgängerin nachgewiesen).
So weit die modifizierte, am ehesten wahrscheinliche Bauchronologie. Sie ist eigentlich nur verständlich, wenn man eine längere Bauzeit voraussetzt. 3 8 Problematischer noch ist die zeitliche Fixierung der
3 5 Steinformat von Ostteilen und Langhaus 0 8 X 14 X 28 cm, Langhausverlängerung und Westbau 0 9,5 X 14 X 29,5 cm. 3(5 Wie der Leitzkauer Westbau den von Magdeburg-Liebfrauen variiert, so ist Jerichow eine Weiterentwicklung von Leitzkau. 37 Daß der Zwischenraum zwischen den Türmen und dem alten Langhaus von den Türmen her geschlossen wurde, ist an Unregelmäßigkeiten des Bogenfrieses zu erkennen. 3 3 Zumindest darüber besteht Konsens in der Forschung, vgl. oben Anm. 22.
Die Klosterkirche Jerichow
6
151
Chor nach Osten
einzelnen Bauabschnitte, da bisher kein in seinen D a tierungen gesicherter Katalog der Detailformen des romanischen Backsteinbaus vorliegt und darüber hinaus die einmal entwickelten Formen über längere Zeiträume hin unverändert weiterverwendet worden sind. Bis der Westbau seine endgültige Höhe erhielt, verging geraume Zeit. D i e achteckigen Schieferhelme, ähnlich denen der Marienkirche in Stendal, entstanden w i e diese wohl erst in der zweiten H ä l f t e des 15. Jahrhunderts, und möglicherweise sind auch die
beiden obersten Turmgeschosse und das Obergeschoß des Mittelbaus erst im 15. Jahrhundert errichtet worden. 3 9 W a n n der Westbau begonnen wurde, ist ebenfalls nur ungefähr zu erschließen: D a das bis zur Dachgesimshöhe reichende Untergeschoß den Detail3 9 DEHIO 1974 w i e A n m . 22, S. 2 1 3 . D a s Steinformat bleibt bis oben hin d a s gleiche. D i e T u r m h e l m e sind übrigens bei der Quastschen R e s t a u r i e r u n g nicht erneuert w o r d e n , w i e aus einem 1 8 5 3 in einen Turmknopf eingelegten Bericht des B a u f ü h r e r s BRECHT hervorgeht (publiziert in der Festschrift 8 0 0 J a h r e Backsteinbau Kloster Jerichow. H e i m a t w o c h e vom 1 0 . - 1 6 . Oktober 1949).
152
7
PETER RAMM
Krypta nach Osten
formen zufolge erst um die Mitte des 13. Jahrhunderts fertiggestellt war, wird man den Baubeginn kaum früher als gegen 1220 anzusetzen haben. 4 0 Besondere Schwierigkeiten bietet auch weiterhin die Datierung der Krypta. D e r Spielraum der stilkritischen Untersuchungen schwankt zwischen Ansetzungen um 1160 und 1220 ! 4 1 Man hat zwar in Einzelzügen Verwandtes im Elsaß (vor allem St. Fides in Schlettstadt, wo man es wiederum entweder aus Burgund oder aus Lothringen herleitet), im Poitou und dem Languedoc sowie in der Normandie gefunden, 4 2 aber (abgesehen von einer nicht genügend genauen Datierung der Vorbilder) doch nirgends im Ganzen ähnliche Bildungen. Man kommt so nicht
H a u p t p o r t a l , vermutlich a u ß e r den Patronen M a r i a und N i k o l a u s den Ordensheiligen Augustinus darstellend, w e r d e n um 1240 datiert
(DEHIO
1974
ADLER
A n m . 22,
S. 2 1 5 ) .
-
SCHÄFER
1884
(a)
1884
und
1884
(b)],
S. 2 4 3 ) .
41
Vgl. oben A n m . 23. 42 A m ausführlichsten bisher MÖBIUS 1970 w i e A n m . 22, die A n r e g u n g e n v o n ZEISNER 1 9 3 4 / 1 9 4 0 wie A n m . 22, a u f g r e i f t . W ä h r e n d ZEISNER Schlettstadt (auf das schon STIEHL 1898 wie A n m . 22, hinwies) auf Burgund zurückführt, nimmt sie in Ü b e r einstimmung mit d e r französischen Forschung (zuletzt ROBERT WILL, Alsace r o m a n e , 2. Aufl. o. O . 1970 [ Z o d i a q u e ] , d e r f ü r Schlettstadt einen Baubeginn um 1170 erschließt) Anregungen aus Lothringen an
' , 0 D a s dreigeteilte g r o ß e frühgotische Mittelfenster ist originaler Bestand. D i e T e r r a k o t t a f i g u r e n in den Nischen über dem
wie
w i e A n m . 22, v e r m u t e t e , d a ß die „das Portal e n t h a l t e n d e Mitt e l w a n d zwischen den T ü r m e n , welche streckenweise des M a u e r v e r b a n d e s mit diesen T ü r m e n ermangelt und am P o r t a l eine technische N e u e r u n g (Glasuren) zeigt, eine Z e i t l a n g " (bis etwa 1240) „auf F u n d a m e n t h ö h e liegen gelassen w o r d e n ist, weil man möglichst lange sich eine offene E i n f a h r t in den im G a n g e befindlichen N e u b a u b e w a h r e n wollte." (CARL SCHÄFER, Von deutscher K u n s t . G e s a m m e l t e A u f s ä t z e u n d nachgelassene Schriften, Berlin 1910 [ D a r i n die Aufsätze 1884 (a) mit d e r Replik von
( e b e n s o FRIEDRICH u n d H E L G A MÖBIUS,
Sakrale
Baukunst. Mittelalterliche Kirchen in d e r Deutschen D e m o k r a tischen Republik, Berlin 1 9 6 3 ) ; d e r H i n w e i s auf die N o r m a n d i e stammt von HAMANN 1923 wie A n m . 23. D i e s e Fragen müssen einer eigenen, detaillierten Untersuchung v o r b e h a l t e n bleiben.
Die Klosterkirche Jerichow
um die Feststellung herum, daß der Stilkritik noch immer sichere Anhaltspunkte für eine überzeugende Datierung der Jerichower Krypta fehlen. 4 3 Weisen Vorbilder der Kapitellplastik nach Frankreich, so wird der Architekturtypus der zum Langhaus in Arkaden geöffneten Vierungskrypta einhellig auf oberitalienische Vorbilder zurückgeführt. 4 4 D a bei ist ungeklärt, auf welchem Wege diese Form vermittelt worden ist. D i e Krypta des Magdeburger Liebfrauenklosters, bisher immer als Vorbild für Jerichow angesehen und dementsprechend gedanklich rekonstruiert, scheidet als Mittlerin aus, da nach den Grabungsergebnissen keine Vierungskrypta vorhanden war. 4 5 D i e Krypta des Brandenburger Doms hingegen, die der Jerichower Krypta am engsten verwandt ist, stammt nach den neuesten Forschungsergebnissen nicht aus dem 12., sondern erst aus dem 13. Jahrhundert und ist jünger als Jerichow, 46 so daß dieses als Vorbild von Brandenburg gelten darf. Für die Hauptbauzeit der Jerichower Klosterkirche ist das oben ermittelte zeitliche Intervall zwischen 1172 und 1178 zu beachten. Es stellt sich somit die
153
43
A u f f ä l l i g ist, d a ß die Kryptenkapelle im Unterschied zu den Backsteinformen keinerlei Nachfolge gefunden zu haben schienen. E n t f e r n t e Anklänge finden sich an der Benediktinerinnen-Klosterkirche Hecklingen (Kapitelle der südlichen Langhaussäulen). H i e r - wie übrigens auch in der K r y p t a des Brandenburger D o m s — ist auch die f ü r Jerichow charakteristische Technik unterschiedlicher Oberflächenbearbeitung zu beobachten. li Vgl. z. B. San Z e n o in V e r o n a , dessen Krypta freilich wie bei vielen oberitalienischen Kirchen nicht nur die Vierung, sondern auch die Querhausflügel ausfüllt. In San Z e n o gibt es auch Kapitelle von der F o r m der Jerichower W a n d p f e i l e r k a p i telle (schon STIEHL 1898 wie A n m . 22, S. 66, hatte darauf hingewiesen, d a ß die W a n d s ä u l e n „stark an italienische F o r m g e b u n g " erinnerten). 4a
Vgl.
HANS-JOACHIM
KRAUSE,
Das
Kloster
als
Bauwerk.
Seine Gestalt, Geschichte und denkmalpflegerische Instandsetzung, i n : Basilika, B a u d e n k m a l und Konzerthalle. Kloster Unser Lieben Frauen M a g d e b u r g (Magdeburg 1977), S. 23. Ein ausführlicher
Grabungsbericht
von
H.-J.
KRAUSE,
R.
RÜGER
und
J.
SCHNEIDER ist in Vorbereitung. - Ü b e r h a u p t ist zu konstatieren, d a ß auch die ursprüngliche Anlage Jerichows doch beträchtlich v o m M a g d e b u r g e r Mutterkloster a b w i c h : eine zunächst kryptenlose, kreuzförmige Basilika mit N e b e n a p s i d e n und auffällig kurzem Langhaus. 46 ERNST SCHUBERT, d e r das Manuskript kritisch durchsah, gewährte mir Einsicht in das im Satz befindliche Manuskript der DEHio-Neubearbeitung Brandenburg. F ü r seine Hinweise und seinen freundschaftlichen Rat möchte ich ihm auch an dieser Stelle herzlich danken.
154
PETER R A M M
Frage (und das ist die Frage nach dem Zeitpunkt der Einführung der Backsteintechnik), ob der Kernbau (ohne Turmfront, westliches Langhausjoch, Krypta und Nebenchöre) und dazu der Ostflügel der Klausur'' 7 die Gebäude sein können, auf die die Urkunde von 1172 Bezug nimmt. Wenn man diese Frage, auf die es - das sei betont - beim heutigen Stand der kunstgeschichtlichen Forschung noch keine definitive Antwort gibt, 48 bejaht (das ergäbe einen Baubeginn der bestehenden Anlage unmittelbar nach dem die Umsiedlung des Klosters ermöglichenden Grundstückstausch des Jahres 1148), dann wäre die Klosterkirche Jerichow tatsächlich der früheste Backsteinbau Nord- und Mitteldeutschlands (selbst in Süddeutschland ist bislang kein älterer romanischer Backsteinbau sicher nachgewiesen). Diese Hypothese geht freilich letzten Endes nur von der Urkunde aus. Sie ist bis jetzt durch keine überzeugende Herleitung von Material und Technik gestützt, die in Jerichow bereits voll entwickelt sind/*9 Die Schmuckformen der Sandsteinkämpfer in Lang-
haus, Vierung und Chor allein - im Unterschied zur Kryptenornamentik einheimisch sächsische Arbeit ermöglichen keine beweiskräftig genaue Datierung. u 0 /i7 Die Jerichower Klausur, deren Ostflügel von seinen Formen her in enger zeitlicher Nachbarschaft zur Krypta zu sehen ist, bedarf einer eigenen gründlichen Untersuchung. '*8 Sie setzt - abgesehen von der Klärung der Herkunftsfrage - u. a. eine Neubearbeitung wichtiger romanischer Backsteinbauten Nord- und Mitteldeutschlands auch nach den Quellen voraus. Daß die hierfür vorhandenen Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft sind, zeigen die Beispiele Jerichow und Brandenburg (s. u. Anhang, S. 158 f.).
49 Y G I D E H I O 1974
w
; e Anm. 22, S. 2 1 5 : die (bei der Früh-
datierung) „vorauszusetzenden Vorstufen noch nicht zu benennen". - ADLER 1884 w i e Anm. 22, der gegen SCHÄFER auf einer
Frühdatierung beharrte, sah sich bezeichnenderweise gezwungen, für alle entwickelten Backsteinformen (d. h. Nebenchöre, Krypta, Hauptapsis, alle Kranzgesimse an den Ostteilen und am Langhausobergaden!) eine zweite Bauzeit um 1200/1210 zu postulieren. 50 Auf die Tatsache, daß diese Werksteinteile dort, wo sie in den Backsteinbau eingefügt sind, von ihren Maßen her nicht überall genau passen, hat bereits WERNICKE 1898 wie Anm. 1, S. 319, hingewiesen. Er vermutete deshalb, daß sie für den ursprünglich vorgesehenen Werksteinbau gearbeitet waren (S. 324).
Die Klosterkirche Jerichow
155
12 Winkel zwischen südlichem Querhausarm und Südseitenschiff mit Seitenschiffsportal
Auch das Fehlen einer Einwölbung in Jerichow, mehrfach als Argument für die Frühdatierung herangezogen, hat sich als nicht stichhaltig erwiesen, 5 1 zumal die Prämonstratenser der sächsischen Circarie zunächst Flachdecken bevorzugt zu haben scheinen (vgl. Magdeburg, Veßra, Leitzkau, Havelberg, Brandenburg). Im übrigen ist auch hier bei Analogieschlüssen Zurückhaltung angebracht: Der Orden hat keine eigenen Baugewohnheiten entwickelt; seine Kirchen zeichnen sich durch Vielfalt der Grundrißlösungen aus, die von den jeweiligen liturgischen Anforderungen bestimmt sind. Als Alternativvorschlag zu der Frühdatierung von Jerichow wäre der terminus post quem für den stehenden Bau in der Urkunde von 1178 zu sehen, was eine Hauptbauzeit in den 80er und 90er Jahren des 12. Jahrhunderts bedeuten würde. 5 2 Die frühesten norddeutschen Backsteinbauten wären dann die in ihren ältesten Teilen - soweit noch nachweisbar sehr schlichten Kathedralen von Brandenburg (begonnen zwischen 1161 und 1165 als große kreuzförmige Saalkirche ohne Nebenapsiden; Brandenburg darf bisher als die älteste annähernd genau datierbare Backsteinkirche Norddeutschlands gelten) 53 , Lübeck (begonnen 1173) und Ratzeburg (Baubeginn in den 1170er Jahren vermutet), dazu am 1170 geweihten
Dom zu Havelberg der ursprüngliche obere Abschluß des Westbaus (übrigens im gleichen Steinformat wie Jerichow) und der Ostflügel der Klausur. 5 4 Auf sie würde dann stilgeschichtlich zwanglos und ohne zu großen zeitlichen Abstand zu den Nachfolgebauten
Schon von SCHÄFER 1884 (b) wie Anm. 22, widerlegt. Diese Datierung deckt sich im wesentlichen mit der von SCHEJA 1939 wie Anm. 22, vorgeschlagenen - mit Ausnahme der Interpretation der Urkunde von 1178 (vgl. oben Anm. 22). 53 So u. a. schon KURT MEYER, Zur Baugeschichte des Doms in Brandenburg a. H., in: Zeitschrift für Geschichte der Architektur I, Heidelberg 1907/08, S. 1 7 3 - 1 8 6 . Die Datierung von Oldenburg zu 1156, in dem KAMPHAUSEN den frühesten norddeutschen Backsteinbau sieht, wäre zu überprüfen (ALFRED KAMPHAUSEN, Der Ratzeburger Dom, 3. Aufl., Heide in Holstein 1978, S. 18). Zur Baugeschichte von Brandenburg siehe Anhang, S. 158 f. 5 4 W i e in Brandenburg ist auch in Havelberg der Ostflügel der Klausur - nicht nur wegen des unterschiedlichen Baumaterials - sicherlich nicht gleichzeitig mit dem Dombau entstanden. Das ursprüngliche Hauptportal des Domes zum Klausurhof hin im östlichen Joch des südlichen Seitenschiffs „verschwindet" jetzt im anschließenden Raum der Klausur, von seiner Einfassung mit flachen Palmettenreliefs ist nur ein Rest unter dem Fußboden des Klausurobergeschosses erhalten. Aufenthaltsgebäude für die Kleriker waren aber natürlich schon früher vorhanden, wie der vielzitierte Brief B. Anselms aus der Zeit um 1149/50 zeigt (Codex wie Anm. 5," I, 3, S. 82 f., Nr. 5). Vgl. auch, unten Anm. 59. 51
52
156
PETER R A M M
Lehnin, Diesdorf und Arendsee 5 5 die Klosterkirche Jerichow folgen, für die sich auch zu der unmittelbar von ihr abhängigen Basilika von Schönhausen (Weihe des Hauptaltars 1212) ein verständlicheres zeitliches Verhältnis ergäbe. 50 Es ist sicherlich nicht daran zu zweifeln, daß die Jerichower Prämonstratenser bald nach 1148 mit dem Bau von Kirche und Kloster begonnen haben, und man muß nicht einmal annehmen, daß diese Gebäude als Provisorien angelegt waren. 5 7 Aber das können durchaus Holz- bzw. Fachwerkbauten gewesen sein, was ja für Zeit und Ort keineswegs ungewöhnlich gewesen wäre: Noch der erste Lübecker Dom von 1163 war ein Holzbau, 58 und in Ratzeburg wurde erst 1251 mit der Errichtung einer Klausur in Backstein begonnen, als der Dom vollendet war. 5 9 Auch könnte man sich vorstellen, daß die Steinkirche in Jerichow dann zunächst um diese kleinere Holzkirche herumgebaut wurde (das wäre zugleich eine Erklärung für die gleichmäßige Höhe des Bruchstein-„Sokkels"). Dieses Wachsen des Baus aus bescheidenen, den ökonomischen Möglichkeiten des Klosters entsprechenden Anfängen macht auch die verschiedenen Planänderungen für die Kirche verständlich. Ein ähnlich wechselvoller und doch stetiger Bauprozeß läßt sich übrigens an der Kirche des askanischen Hausklosters Lehnin beobachten, 60 und es sind wohl hier wie dort die zunehmenden Einkünfte der Klöster aus ihrem nach und nach kultivierten und zu Ertrag gebrachten Grundbesitz, die sich auf solche Weise in der Baugeschichte ihrer Kirchen widerspiegeln. Aufschlußreich ist auch ein Vergleich zu Leitzkau, das man ja immer wieder als Parallele zu Jerichow angeführt hat: In Leitzkau, als dessen primus et summus fundator sich Markgraf Albrecht der Bär selbst bezeichnete, 61 entstand in kurzer Zeit nach einheitlichem Plan und mit großen Mitteln eine Kathedrale für den Bischof von Brandenburg. Diese herbe Kirche, begonnen 1147 (?), geweiht 1155 mit großem Gepränge, 62 ist steingewordener Herrschaftsanspruch. In Jerichow erwuchs dagegen aus kleinen Anfängen in offensichtlich längerer Bauzeit und mit den wesentlich bescheideneren Mitteln eines Klosters am Rande der „Zivilisation", ohne zielgerichtete Förderung durch große Feudalherren, 6 3 die Kirche für eben dieses Kloster, das zwar ebenfalls das erste in einer noch zu erschließenden Diözese war, dessen Bischof mit seinem Kathedralkapitel aber zur gleichen Zeit den Bau seiner Kathedrale am Sitz des Bistums in Ha-
velberg vorantrieb. Es entstand zwar schließlich in Jerichow eine nicht weniger monumentale Kirche als in Leitzkau, aber diese Kirche hat andere, „humanere" Proportionen. Von den Kämpfen der Jahrhundertmitte ist hier nichts mehr zu spüren. So stellt sich abschließend die Frage nach der Herkunft der in Jerichow so virtuos gehandhabten Backsteintechnik. Während man für Süddeutschland (Thierhaupten am Lechrain, um Höf})6'4 und Mittel-
5 5 Für keinen dieser drei Bauten liegt ein gesichertes Datum für den Baubeginn vor. Bei Lehnin wird indirekt ein Baubeginn
um
1195
erschlossen
(ERNST
ULLMANN,
Die
Klosterkirche
zu
Lehnin, 4. Aufl., Berlin 1 9 8 0 [ = Das Christliche Denkmal, Heft 4 1 ] ) , Diesdorf stilkritisch in das frühe 1 3 . Jahrhundert datiert (DEHIO 1 9 7 4 w i e Anm. 22), während bei Arendsee Gründungsund Bestätigungsurkunde von 1 1 8 4 bzw. 1 2 0 8 auf den stehenden Bau bezogen werden (DEHIO, 1 9 7 4 wie Anm. 22). Für Diesdorf steht eine gründliche Untersuchung im allgemeinen Zusammenhang des märkischen und altmärkischen Backsteinbaus noch aus; bauliche Details ( z . B . sind einige Stützen unter der baueinheitlichen Nonnenempore im Nordquerarm identisch mit den Wandpfeilern der Brandenburger Krypta aus den 1 2 3 0 e r Jahren) deuten jedoch darauf hin, daß diese Kirche nicht schon im frühen 1 3 . Jahrhundert, sondern vielleicht doch erst im 2. Viertel des Jahrhunderts errichtet wurde (so auch die Datierung von STIEHL 1 8 9 8 wie Anm. 2 2 ) . Bei der engen Verwandtschaft Arendsees zu Diesdorf und den z. T. ausgesprochen späten Formen in Arendsee (Basen der Vierungsbogenvorlagen) wird man zu überprüfen haben, ob nicht in der Urkunde von 1 2 0 8 für Arendsee eher ein terminus post quem zu sehen sein könnte. 5 6 Von Schönhausen aus wären auch die Datierungen von Berge und Königsmark zu überprüfen. 5 7 So SCHEJA, 1 9 3 9 wie Anm. 22. Immerhin hatten die Stiftsherren eine Bleibe an der nur 1 km entfernten Pfarrkirche, an der ihr Stift 1 1 4 4 gegründet worden war. 5 8 Annales Palidenses, M G S , X V I , S. 9 2 . Man möchte in diesem Datum geradezu eine Bestätigung dafür sehen, daß der Backsteinbau damals dort noch nicht bekannt w a r — um nicht von einem terminus post quem f ü r die Einführung des Backsteinbaus in Norddeutschland zu sprechen. 59
KAMPHAUSEN
1978
wie
Anm. 53,
Brandenburg (vgl. Anhang, Anm. 5 4 ) zu konstatieren. 60
ULLMANN 1 9 8 0 w i e A n m .
S. 1 5 8 f.)
S. 1 9 f.
und
Ähnliches
Havelberg
ist
für
(vgl.
55.
Codex wie Anm. 5, I, 1 0 , S. 7 3 f., Nr. 7. 6 2 Baubeginn 1 1 4 7 nach WINTER 1 8 6 5 w i e Anm. 2, S. 1 2 6 (angeblich nach Abbas Cinnensis, Codex w i e Anm. 5, IV, dort jedoch nicht nachweisbar); W e i h e 1 1 5 5 nach Urkunde Erzbischof Wichmanns für Leitzkau 1 1 5 5 , Codex wie Anm. 5, I, 1 0 , S. 7 1 , Nr. 3. 61
153 Auch bei der Gründung von Jerichow begegnen große Namen, was nicht nur ADLER dazu veranlaßt hat, von „wahrhaft glänzenden Auspizien" zu sprechen, unter denen die „neue Stiftung ins Leben trat" ( 1 8 8 4 , im Neudruck bei SCHÄFER 1 9 1 0 wie Anm. 4 0 , S. 4 5 5 ) . Diese These ist jedoch schon von WERNICKE 1 8 9 8 w i e Anm. 1, S. 3 2 3 , überzeugend widerlegt worden. 64
GEORG
DEHIO,
Handbuch
der
Deutschen
Kunstdenkmäler,
3. B d . : Süddeutschland, 3. Aufl., Berlin 1 9 2 5 , S. 5 2 6 : „ältester größerer Backsteinbau auf der schwäbisch-bayrischen Hochebene. V o n schlichtesten Formen . . . Einheitlicher Bau durch A b t Heinrich I. ( t 1 1 7 0 ) " . Vgl. auch MAX ZODER, Studien zur Entwick-
D i e Klosterkirche Jerichow
157
deutschland (hier w ä r e n v o r allem die K i r c h e des A u -
l ä n d i s c h e H y p o t h e s e ist - o b w o h l i m m e r w i e d e r a u f -
gustinerchorherrenstifts
gewärmt
nennen,
Altenburg
daneben Altzelle
Landsberg
(um
tragung von
1170))65
Material
(1165-1172?)
(1170er
Jahre)
allgemein
von
und
auch
der
und Technik aus
Über-
Oberitalien
ü b e r z e u g t ist, h a t m a n d i e s f ü r N o r d d e u t s c h l a n d , die neue
Technik
etwa
gleichzeitig
zu
auftritt,
wo
immer
w i e d e r b e s t r i t t e n , seit F e r d i n a n d v o n Q u a s t , d e r v e r diente Restaurator Jerichows, erstmals darauf wiesen hatte.66 M a n
hinge-
hat statt dessen e n t w e d e r
ver-
-
längst bündig widerlegt w o r d e n , 6 9
und
auch f ü r d i e z w e i t e A n n a h m e f e h l t es an B e w e i s e n . Aber
wenn
in e i n e r
Zeit
lebhaftester
Beziehungen
zu O b e r i t a l i e n (es ist d i e Z e i t F r i e d r i c h und seiner Italienzüge!) t i g in v e r s c h i e d e n e n Technik
neu
auftritt
Barbarossas
unvermittelt und
Gegenden und
sich
gleichzei-
Deutschlands dabei
der
diese
gleichen
S c h m u c k f o r m e n b e d i e n t w i e in I t a l i e n , w o sich i h r e Entwicklung über einen langen Zeitraum folgen
eigenständiger
d o r t e i g e n t l i c h k e i n Z w e i f e l sein, s o l a n g e nicht b ü n -
Entwicklung
darzustellen68.
Die
hol-
läßt,
dann
kann
an
ihrer
zurückver-
sucht, sie a u s H o l l a n d h e r z u l e i t e n 6 7 o d e r a l s E r g e b n i s
Übertragung
von
dige Gegenbeweise erbracht sind.70 A l s Herkunftsgebiet kommt v o r allem die Lombarlung des mittelalterlichen Backsteinrohbaues in Niederbayern, Diss. ing. T H München 1927, S. 7 f., der die ältesten Backsteinbauten Niederbayerns in St. Martin auf dem Domplatz zu Freising („wahrscheinlich kurz nach dem Brande des Doms um 1159 begonnen") und der „etwa gleichaltrigen" Gottesackerkapelle zu Moosburg sieht. 60
Z u A l t e n b u r g v g l . HANS-JOACHIM KRAUSE, E i n ü b e r s e h e n e r
Backsteinbau der Romanik in Mitteldeutschland, i n : Festschrift Johannes Jahn, Leipzig (1958), S. 93 ff.; zu Altzelle HEINRICH MAGIRIUS, Kloster Altzella, Berlin 1962 ( = Das Christliche Denkmal, Heft 60/61), S. 27 („manche Eigenheit der Zierbögen und Steinverbände weisen unmittelbar auf oberitalienische Anregungen, besonders Pavia, hin"). Zu Landsberg vgl. GEORG DEHIO, Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Der Bezirk Halle. Bearb. von der Abt. Forschung des Instituts für Denkmalpflege, Berlin 1976, S. 242 f. („in Mitteldeutschland eines der frühesten Beispiele für die Benutzung von Backstein als Baumaterial", der hier neben Werkstein am Obergeschoß der drei Apsiden verwendet w i r d ; die Herkunftsfrage wird nicht berührt). - Vgl. auch HANS-JOACHIM KADATZ, Mittelalterlicher Backsteinbau in Obersachsen, Diss. phil. Leipzig 1965 (Ms.). 66
VON
QUAST
1850
wie
Anm. 22,
S. 2 4 :
„An
den
älteren
Kirchen zu Mailand, Pavia, Verona und anderen Orten finden wird nicht nur die Lisenen und Rundbogenfriese, welche ja im romanischen Stile Italiens und Deutschlands überhaupt vorherrschen, sondern auch speciell jene Ziegelrundbögen in der oben geschilderten gedoppelten Art und genau mit allen Details denen der Kirche zu Jerichow und so vieler anderen im nördlichen Deutschland völlig entsprechend." Diesem Hinweis, von dem sich dann ADLER zugunsten seiner Holland-Hypothese abwandte, ist auf SCHÄFERS Anregung vor allem STIEHL nachgegangen, dessen Monumentalwerk von 1898 noch immer grundlegend ist. Er hat seinen Standpunkt mehrfach bekräftigt und in dieser Form auch in den von ihm verfaßten Artikel Backsteinbau im Reallexikon
zur
deutschen
Kunstgeschichte
(1937,
Sp. 1 3 4 8 - 1 3 5 1 )
aufgenommen. 07
FRIEDRICH ADLER,
Die
niederländischen
Kolonien
in
der
Mark Brandenburg, in: Märkische Forschungen VII, Berlin 1861, S. 1 1 0 - 1 2 7 , und später. Noch vertreten von MÜTHER/VOLK 1958 wie Anm. 22, S. 31. 6 8 Zuerst RICHARD HAUPT, Die Erfindung der deutschen und nordischen Backsteinbaukunst und ihre Erfinder, in: Zeitschrift für Geschichte der Architektur V, Heidelberg 1911/12, S. 7 2 80, 1 2 1 - 1 4 1 , dessen These von der bodenständigen Entstehung des Backsteinbaus in Wagrien (mit Segeberg, nach ihm begonnen 1134, als Gründungsbau) allgemein auf Ablehnung stieß. Nach ihm war es vor allem die Forschung der 30er Jahre (ZEISNER
1934/40
wie
Anm. 22,
KAMPHAUSEN
1938
wie
Anm. 22),
d e i , w o sich i m z w e i t e n D r i t t e l d e s 1 2 . J a h r h u n d e r t s ein e i g e n e r B a c k s t e i n b a u s t i l e n t f a l t e t e , 7 1 d a n e b e n V e -
die „den deutschen Charakter der Bauweise in Jerichow" (ZEISNER, S. 51) spüren zu können meinte. Bezeichnend das Nachwort
des H e r a u s g e b e r s
ROHLING ZU ZEISNER
(S. 6 0 ) :
„Gerade
aber das Aufspüren eines .fremden Klanges' in Jerichow erfährt heute allgemein entschiedene Ablehnung, während die Wucht seiner .deutschen Sprache' (ZEISNER) erneut vernommen und herausgestellt wird", wohingegen OTTO STIEHL „hartnäckig im alten Vorurteil verharrt"! — ZEISNER spricht von einer „spärlichen, aber zweifellos von der Spätantike her durchgehenden Tradition" in Deutschland (S. 56) - ohne freilich die Träger dieser „Tradition" namhaft machen zu können. 69
THEODOR
RUDOLPH,
Die
niederländischen
Kolonien
der
Altmark im XII. Jahrhundert, Berlin 1889. 70 Um von den zahlreichen Kontaktmöglichkeiten nur zwei zu nennen: Im Januar 1160 fand sich auf Einladung Friedrich Barbarossas die Führung des deutschen Klerus zu einem Konzil in Pavia ein. Ebenfalls in Pavia, in S. Pietro in Ciel d'Oro, befindet sich noch heute das Grab von Augustinus, dem Ordensheiligen der Augustinerchorherren, zu denen auch die Prämonstratenser gehörten. In die 60er Jahre des 12. Jahrhunderts fällt dann übrigens auch der Baubeginn der ältesten Backsteinbauten in Dänemark, Ringsted und S o r a ; vgl. LEONIE REYGERS, Die Marienkirche in Bergen auf Rügen und ihre Beziehungen zur dänischen Backsteinarchitektur, Diss. phil. Greifswald 1934 ( = Pommernforschung, Beiträge zur pommerschen Kunstgeschichte, H. 2). 7 1 STIEHL 1898 wie Anm. 22, besonders S. 4 8 - 5 5 , „Zur Chronologie oberitalienischer Baukunst". Er betont dabei, daß durch den „Mangel an einwandsfreien Nachrichten über die Entstehung der wichtigsten Baudenkmäler . . . eine völlig exacte Beweisführung . . . nicht möglich ist" (S. 48). Diese Schwierigkeiten der Datierung bestehen nach wie vor. Eingehende neuere Untersuchungen über den lombardischen Backsteinbau liegen m. W . nicht vor; der Zugang zu Monographien, wo sie existieren (das kunstgeschichtliche Interesse in Italien gilt am wenigsten der romanischen Epoche), ist schwierig. Allgemeine Darstellungen gehen auf die vorliegende Problematik nicht ein (G. T. RIVOIRA, Le origini della architettura lombarda c delle sue principali derivazioni nei paesi d'oltr'Alpe, 2. Bde., Roma 1901/07; CORRADO RICCI, Romanische Baukunst in Italien, Stuttgart 1925; PIETRO TOESCA, Storia dell'arte italiana, I. II medioevo, II, 2. Aufl., Torino 1965; HEINRICH DECKER, Italia Romanica. Die hohe Kunst der romanischen Epoche in Italien, 2. Aufl., Wien/Mün-
158
PETER RAMM
nezien in B e t r a c h t . H i e r scheint sich d e r r e g e l m ä ß i g e B a c k s t e i n v e r b a n d aus e i n h e i t l i c h e m Z i e g e l f o r m a t , d e r charakteristischerweise
in N o r d d e u t s c h l a n d
von
f a n g a n b e f o l g t w i r d , f r ü h e r d u r c h g e s e t z t zu
An-
haben
als in d e r L o m b a r d e i , w o m a n l ä n g e r a n e i n e m freien Verband
aus
Ziegeln
wechselnden
Formats
festge-
halten h a t . 7 2
Ende 12./1. Hälfte 13. Jahrhundert; Bologna, S. Sepolcro Mitte 12. Jahrhundert; Modena, Dom Baubeginn 1096, Schlußweihe 1184. 74 Jerichow bliebe auch bei der vorgeschlagenen Datierung ein Bau von Rang, der den Vergleich mit lombardischen Bauten dieser Zeit nicht zu scheuen brauchte; bei der Frühdatierung dagegen wird man wohl, um mit WERNICKE (1898 wie Anm. 1, S. 323) zu sprechen, nicht umhin kommen, gegenüber Italien „die Priorität der Erfindung in Jerichow anzunehmen".
In J e r i c h o w lassen sich f ü r alle B a c k s t e i n s c h m u c k formen
und -bauelemente Vorstufen
oder
Entspre-
chungen in I t a l i e n n a c h w e i s e n . 7 3 G r u n d r i ß u n d chitektur
des B a u s
a b e r sind einheimisch
Z i e h t m a n d a z u seine h o h e technische Q u a l i t ä t die
Sicherheit,
mit
der
das
Ar-
sächsisch. gehand-
h a b t w i r d , in B e t r a c h t , so w i r d m a n k a u m
glauben
wicklung
des n o r d -
und
mitteldeutschen
Ent-
Backstein-
b a u s stehen k a n n 7 4 - w e n n sich auch d a s G e g e n a r g u m e n t a n b i e t e t , d a ß ein B a u dieses R a n g e s , a n so
selbstverständlich
Bautraditionen
dem
verschiedener
R e g i o n e n d i e s e r einen m i t t e l a l t e r l i c h e n K u l t u r z u s a m m e n f l i e ß e n , letzten E n d e s nicht a u f ein V o r b i l d zurückgeführt w e r d e n kann.
chen 1966; SANDRO CHIERICI, La Lombardia [Italia Romanica], 2. Aufl., Milano 1980). Zumal DECKER, der gänzlich ohne Literaturhinweise auskommt, ist außerdem in seinen Angaben zur Datierung der Bauwerke recht großzügig; um nur einen wichtigen Bau zu erwähnen: Die Zisterzienser-Klosterkirche Chiaravalle bei Mailand wurde nicht 1136 mit dem Nordflügel begonnen mit Vierungsturm um 1160, sondern 1135 war das Gründungsjahr des Klosters, während der Kirchenbau erst gegen 1150/60 mit dem 1196 geweihten Nordflügel des Querhauses begonnen wurde (Gesamtweihe 1221, Vierungsturm nachträglich 2. Viertel 14. Jahrhundert in romanisierenden Formen, vgl. P. ANGELO M. CACCIN, O. P., L'abbazia di Chiaravalle Milanese, Milano [1979], mit weiteren Literaturhinweisen. 72 STIEHL 1898 wie Anm. 22, S. 38 f.; er weist darauf hin, daß für das Festhalten an wechselnden Steingrößen „ästhetische Gründe maassgebend" gewesen sein können, „eine uns ungewohnte Feinfühligkeit in der Durchbildung der Flächen". Für ZEISNER war das regelmäßige Steinformat ein wesentliches Argument für die von Italien unabhängige Entwicklung des norddeutschen
Backsteinbaus
(ZEISNER
1934/1940
wie
Z u r B a u g e s c h i c h t e des B r a n d e n b u r g e r D o m e s
und
neue Material
w o l l e n , d a ß ein so r e i f e r B a u a m A n f a n g d e r
Anhang:
Anm. 22,
S. 5 3 ) . 73 Beispiele für Vorstufen oder Entsprechungen Jerichower Formen in Italien: Gewändebildung der Apsisfenster aus paßgenau gebrannten schalenförmigen Formsteinen (in dieser Form in Norddeutschland nur in Jerichow) : Pavia, S. Pietro in Ciel d'Oro; aus dem halben Achteck gebildete Lisenen mit eigenen Basen und Kapitellen (Hauptapsis) : Pavia, S. Maria in Betlemme; unterschiedlich geformte Konsolsteine: Pavia, S. Lanfranco; gemauerte Rundpfeiler: Bologna, S. Sepolcro; Trapezkapitelle: Modena, Dom. Die Zahl der Beispiele (aus eigener Anschauung bestätigte Belege bei STIEHL 1898 wie Anm. 22) ließe sich beliebig erweitern. Schwierig bleibt die Frage der Datierung (vgl. Anm. 7 1 ) : Pavia, S. Pietro in Ciel d'Oro Hauptaltarweihe 1132; S.Lanfranco Weihe 1236; S.Maria in Betlemme
Die Brandenburger Urkunden sind erst zum Teil für die Baugeschichte erschlossen; das Ergebnis erster Recherchen sei hier kurz skizziert: Nach einer Notiz in dem Tractatus de captione urbis Brandenburg des Brandenburger Dompriors Heinridi von Antwerpen (urkundlich nachweisbar zwischen 1217 und 1227) wurde bisher immer der 11. 10. 1165 als Tag der Grundsteinlegung des Brandenburger Domes angesehen. Der Text Heinrichs von Antwerpen kann jedoch auch anders verstanden werden; er lautet vollständig: „Eodem siquidem anno prefatus episcopus Wilmarus, bonum inceptum meliori fine consummare disponens, basilicam beati Petri apostoli,' fundamento X X I V pedum supposito, V. Idus Octobris in nomine domini Ihesu Christi devotus fundavit." (MGS, XXV, S. 484). Das bedeutet doch wohl, daß zumindest das enorm tiefe Fundament (die Gründungstiefe von über 7 m wurde durch die jüngsten Ausgrabungen bestätigt, vgl. GREBE 1965 wie Anm. 27) 1165 bereits ausgeführt war. Für eine Grundsteinlegung wäre auch das späte Datum kurz vor Einbruch des Winters ungewöhnlich. Wenn man dazu erfährt, daß kurz zuvor (am 8. 9.) die Kanoniker von ihrem bisherigen Sitz an der Godehardikirche in Brandenburg-Parduin (dort wirkten sie seit 1161 als Domkapitel) in feierlicher Prozession an den neuen (und ursprünglichen) Bischofssitz in der Burg Brandenburg übersiedelten, darf man wohl annehmen, daß dort inzwischen geeignete Räumlichkeiten auch für den Gottesdienst vorbereitet waren. Vielleicht war also 1165 schon der Chor des neuen Domes nutzungsfähig. Daß der Bau wahrscheinlich vor 1165 begonnen wurde, geht auch aus einigen Urkunden hervor: 1164 erhält das Domkapitel von Rudolf von Jerichow den Ort Damme, „ut in eadem ecclesia memoria beati Johannis ante portam latinam celebri devotione agatur" (Codex wie Anm. 5, I, 8, S. 106, Nr. 17). In der markgräflichen Bestätigung heißt es über den Zweck der Schenkung lakonisch: „in usus necessarios" (1164, Codex wie Anm. 5, I, 8, S. 106 f., Nr. 18) und 1173 in einer bischöflichen Bestätigung aller Rechte und Besitzungen des Domkapitels sozusagen rückblickend: „villam, Dambe dictam, a Rodolfo de Jerichowe in opus ejusdem ecclesiae . . . ecclesiae oblatam" (Codex wie Anm. 5, I, 8, S. 109 f., Nr. 22). Man hatte also spätestens 1164 vor zu bauen. Vermutlich hat Bischof Wilmar - was ja naheliegt - seinen Dombau bald nach der Erhebung des aus Leitzkau stammenden Prämonstratenserkonvents in Parduin zum Domkapitel von Brandenburg im Jahre 1161 (Codex wie Anm. 5, I, 8, S. 105 f., Nr. 16) begonnen (ohne Urkundenbeleg bereits vermutet von PAUL EICHHOLZ, Stadt und Dom Brandenburg, Berlin 1912 [ = Die Kunstdenkmäler der Provinz Brandenburg, Bd. II, 3]). Noch einige weitere, nur z. T. bekannte Hinweise auf den Brandenburger Dom des 12. Jahrhunderts sind erwähnenswert: 1166: „illos (canonicos) in ipsum Castrum Brandeburg in sedem pontificalem . . . transposui" (B. Wilmar, Codex wie Anm. 5, I, 8, S. 107, Nr. 19).
D i e Klosterkirche Jerichow 1 1 7 0 : „sicut cathedralem ecclesiam beati Petri apostoli in Brandeburch . . . reedificavimus" (B. Wilmar, Codex wie Anm. 5, I, 8, S. 108, N r . 20). 1 1 7 0 : „canonicis in ecclesia beati Petri in sede pontificali in Brandenburg juxta regulam beati Augustini deo ministrantibus" (Codex wie Anm. 5, I, 8, S. 108 f., N r . 21). 1 1 7 3 : „cathedralem nostram . . . ecclesiam . . . a d dei et beati Petri . . . honorem secundum (praeceptum) praedecessoris nostri p i a e memoriae Wilmari episcopi ceptam quibuscumque modis valui sublimare, dilatare atque defensare summopere invigilavi" (B. Siegfried, Codex wie Anm. 5, I, 8, S. 109 f., N r . 22). 1 1 7 3 : Beisetzung der Markgräfin Juditha im D o m , deren Grabstein noch im 16. Jahrhundert „fast in der Mitte der Kirche" (JOACHIM FAIT, D o m und Domschatz zu Brandenburg, Berlin 1975 [ = D a s Christliche D e n k m a l , H e f t 20/20 A], S. 13), d . h . doch wohl im Langhaus vor dem Kreuzaltar, gelegen hat (nicht in der Krypta, wie FAIT annimmt). 1174 lautet die• Schlußformel einer U r k u n d e erstmals: „authoritate D e i omnipotentis et apostolorum Petri et Pauli" (Codex wie Anm. 5, I, 8, S. 110 f., N r . 23), d . h . , nicht erst 1194 wird „der Apostel Paulus als .Conpatron eingesetzt" (so FAIT 1975 wie oben, S. 17, der daraus Rückschlüsse auf den Langhausbau ableiten will). 1 1 7 9 : „ecclesiam Brandenburgensem, in honore dei ad titulum beati Petri, principis apostolorum in sede episcopali contra faciem paganorum constructam sub tutelam defensionis nostre suscipimus . . . Confirmamus . . . immunitatem fundi, in quo mona-
159
sterium et claustrum cum oßicinis suis edificatum est" (K. Friedrich I., Codex wie Anm. 5, I, 8, S. 111 f., N r . 24). D i e zitierten Urkunden enthalten eindeutige Hinweise auf die Benutzbarkeit des D o m s in den 70er Jahren des 12. Jahrhunderts, ohne d a ß man Genaueres über den Stand der Bauarbeiten sagen könnte. Vermutlich ist auch das Langhaus um 1170 zumindest zum Teil bereits benutzbar gewesen und w a r 1179 ein vorläufiger Abschluß der Bauarbeiten erreicht. Bau- und Grabungsbefund (die Fundamente von Ostteilen und Langhausmittelschiff stimmen in Material und Struktur überein; das Mittelschiffsfundament ist nicht für die jetzigen A r k a d e n ausgelegt; die Seitenschiffsfundamente, in denen Granit verw e n d e t wurde, sind offensichtlich jünger, wie auch die Seitenschiffswände keinen V e r b a n d mit dem Querhaus haben) belegen hinlänglich deutlich, d a ß das Langhaus zunächst als großer einschiffiger Raum geplant und wahrscheinlich, so ist nach den urkundlichen Hinweisen zu vermuten, auch ausgeführt war. Zu diesem Bau gehörte nach den Feststellungen ERNST SCHUBERTS und EDGAR LEHMANNS (vgl. oben Anm. 46) entgegen der bisherigen A n n a h m e (FAIT 1975 wie oben) keine Krypta. D e r B a u b e f u n d macht zugleich deutlich, d a ß zwar von der „ecclesia constructa" bzw. dem „monasterium edificatum" der Urkunde des Jahres 1179 noch beträchtliche Teile erhalten sind, nicht aber von dem gleichzeitig erwähnten „claustrum cum oificinis suis edificatum"; erst im 2. Viertel des 13. Jahrhunderts wurde die Klausur in Backstein aufgeführt.
Der Westchor des Naumburger Doms, der Chor der Klosterkirche in Schulpforta und der Meißener Domchor V o n E R N S T SCHUBERT
Der Westchor des Naumburger Doms besteht aus einem längsrechteckigen Vorjoch von 12,70 X 10,90 m und einem 5/8 Polygon von 9,40 m Länge; er ist also insgesamt 22,10 m lang und 10,90 m breit. 1 Chorquadrat und Polygon sind jeweils von sechsteiligen Rippengewölben überspannt. Das Quadrum des Chors der Zisterzienserklosterkirche in Schulpforta ist in zwei querrechteckige, kreuzgewölbte Joche von jeweils 5,30 X 8,10 m unterteilt. Das 6,20 m lange Polygon setzt sich wiederum aus fünf Seiten des Achtecks zusammen und ist wie das Naumburger sechsteilig gewölbt. Der Pförtner Chor ist also insgesamt 16,80 m lang und 8,10 m breit. Die Gewölberippen sind in dem Zisterzienserchor anders profiliert als im Westchor des Naumb'urger Doms: dort bestehen sie aus einer „zugespitzten Leiste", hier „im Verhältnis breit und zierlich aus einem mittleren Birnstab und seitlichen Wülsten zwischen Kehlen". 2 - Der Chor des Meißener Doms entfaltet sich in drei Räumen : das längsrechteckige, sechsteilig gewölbte Hauptjoch von 11,30 X 8,50 m, das querrechteckige, kreuzgewölbte Zwischenjoch von 5,70 X 8,50 m und das 7,60 m lange, sechsteilig gewölbte 5/8 Polygon. Der Meißener Chor ist also insgesamt 24,60 m lang und 8,50 m breit. Seine Gewölberippen besitzen wiederum ein anderes Profil, „ein birnenförmiges mit vorgelegtem Steg". 3 Obwohl die angegebenen Maße nur Annäherungswerte sind/1 erlauben sie den Schluß, daß der Westchor des Naumburger Doms der im Verhältnis zu seiner Länge breiteste der drei Chöre ist, 22,10 X 10,90 m, also fast genau halb so breit wie lang. Der Pförtner Chor hat eine Länge von mehr als der doppelten Breite, 16,80 X 8,10 m, und der Meißener ist fast dreimal so lang wie breit, 24,60 X 8,50 m; selbst wenn man das - singuläre - Zwischenjoch abrechnet, bleibt ein Verhältnis von 18,90 X 8,50 m, also beträchtlich länger als die doppelte Breite. Ein Vergleich der Höhenmaße läßt eine ähnliche
Steigerung erkennen: Der Naumburger Westchor ist bei einer Breite von 10,90 m 17,30 m hoch, der Pförtner bei einer Breite von 8,10 m 15,40 m hoch, der Meißener bei einer Breite von 8,50 m 17,50 m hoch.5 Ebenso aufschlußreich sind die Maße der Mauerdicken. Sie werden hier jeweils für die unteren Teile des Polygons, unterhalb des Laufgangs, angegeben. Die Dicke beträgt in Naumburg 1,10 m, in Schulpforta 1,70 m und in Meißen 2,60 m. 6 Der Laufgang
1 Die angegebenen Maße sollen die Möglichkeit des Vergleichs eröffnen. Sie sind nicht exakt. Genaue Aufmaße in Höhe des Laufbzw. Umgangs liegen für alle drei Chöre nicht vor. Für den Westchor des Naumburger Doms wurden benutzt: „Grundriß des Domes zu Naumburg a. S. Ausgabe des Domkapitels 1904" mit den dort eingetragenen und abgreifbaren Maßen; Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Naumburg. Bearb. von HEINRICH BERGNER. Hrsg. Histor. Commission für die Provinz Sachsen und das Herzogtum Anhalt, Halle 1 9 0 3 ; sowie „Dom zu Naumburg, Querschnitt Westchor
und
Türme".
Aufmaß
von
THILO H Ä N S E L u n d
MANFRED
BODEN-
STEIN, Maßstab 1 : 5 0 , Juli 1 9 6 1 , im Planarchiv des Instituts für Denkmalpflege, Arbeitsstelle Halle. A l l e Maße sind im Lichten gemessen und auf volle Dezimeter aufgerundet. 2 Maße nach: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Naumburg (Land). Bearb. von HEINRICH BERGNER. Hrsg. Histor. Commission für die Provinz Sachsen und das Herzogtum Anhalt, Halle 1 9 0 5 , S. 7 8 ; sowie „Vertikalschnitt durch Chor und Nebenräume. Klosterkirche in Pforte." Maßstab 1 : 5 0 , 1 9 6 0 , im Planarchiv des Instituts für Denkmalpflege, Arbeitsstelle Halle. Das erste Zitat vgl. BERGNER 1 9 0 3 wie Anm. 1, S. 72, das zweite vgl. BERGNER 1 9 0 5 , S. 80/81. 3 Vgl. Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler in Sachsen. Unter Mitwirkung des Sächs. Altertumsvereins hrsg. vom Sächs. Ministerium d. Innern, 40. Heft: Meißen (Burgberg). Bearb. von CORNELIUS GURLITT, Dresden 1 9 1 9 , S. 46/47. 4 Das trifft insbesondere auf die Meißener zu. Sie sind aus FußMaßen umgerechnet. Vgl. GURLITT 1 9 1 9 wie Anm. 3, S. 17. 5 Vgl. die in Anm. 1 und 2 nachgewiesenen Pläne, auf dem Grundriß von 1 9 0 4 Schnitt c - d in Verbindung mit BERGNER 1 9 0 3 wie
Anm. 1,
S. 6 9 ;
BERGNER
1905
wie
A n m . 2,
S. 7 9 ,
Fig. 4 4 ;
GURLITT 1 9 1 9 wie Anm. 3, S. 33, Fig. 44. Die Maße sind auf den Fußboden im Quadrum bezogen, und zwar von Schlußsteinunterkante gerechnet. 6
V g l . d e n G r u n d r i ß v o n 1 9 0 4 (s. A n m . 1 ) , BERGNER 1 9 0 5
A n m . 2 , S. 7 8 ;
GURLITT 1 9 1 9
wie
A n m . 3 , S. 2 6 , Fig. 3 1 .
wie
1
Der Dom zu Naumburg von Südwesten
ist in Naumburg mindestens 0,40 m breit, in Schulpforta mehr als 0,60 m und in Meißen über 1,0 m. 7 D e r Tendenz zu größerer Längenerstreckung und Höhe entspricht demnach die zu breiterer Ausbildung des Laufgangs und zu größerer Mauerstärke. Auch die Zunahme der Gesamtfläche der Fenster ist offensichtlich. Sie sind nur in Naumburg noch ringsherum von breiten Wandstreifen umgeben; in Schulpforta reichen sie schon bis in den Scheitel des Schildbogens hinauf; in Meißen füllen sie auch seitlich die ganze Fläche zwischen den Strebepfeilern aus. Die damit bestätigte These von der stilgeschichtlichen Entwicklung der drei Chöre wird durch andere Feststellungen bekräftigt. Basen, Kapitelle, Schlußsteine und Laubfriese unterscheiden sich, 8 ebenso die Fenstermaßwerke, und auch die stilgeschichtliche Analyse der Glasfenster-Reste und der figür11
Architektur
lichen Skulptur aus der Bauzeit der Chöre führt zum gleichen Ergebnis. D i e im folgenden besonders interessierende Frage ist jedoch nicht die nach der stilgeschichtlichen Abfolge, sondern die nach der Verwandtschaft der drei Bauwerke. 9 Um hier einer Antwort näher zu kom7
In N a u m b u r g und Schulpforta nach eigener Messung, für
M e i ß e n v g l . GURLITT 1 9 1 9 w i e A n m . 3 , S. 2 6 , F i g . 3 1 . 8
V g l . d a z u E R N S T SCHUBERT, D i e D a t i e r u n g d e r
frühgotischen
Bauornamentik im N a u m b u r g e r Westchor, in: Alba Regia. Annales musei Stephani regis XVII, Szekesfehervär 1979, S. 1 6 9 - 1 7 2 . 9
JOSEF
ADOLF
SCHMOLL,
gen.
EISENWERTH,
Mainz
und
der
Westen. Stilistische Notizen zum „Naumburger Meister", zum Liebfrauenportal und zum G e r h a r d k o p f , in: Mainz und der Mittelrhein in der europäischen Kunstgeschichte. Studien für W o l f gang Fritz Volbach zu seinem 70. Geburtstag ( = Forschungen zur Kunstgesch. und christl. Archäologie. Hrsg. FRIEDRICH GERKE, Bd. VI), Mainz 1966, S. 2 8 9 - 3 1 4 , trennt m. E . zu wenig stilgeschichtliche Verwandschaft bzw. Abhängigkeit von stilgeschichtlicher Abfolge. Verwandtschaft und Abhängigkeit haben unmittelbare Zusammenhänge der Kunstwerke zur Zeit ihrer Entstehung zur Voraussetzung, die Abfolge nicht.
162
E R N S T SCHUBERT
2 Die Klosterkirche zu Schulpforta von Westen men, muß man weiter ins Detail gehen. Ich beginne wieder mit dem Westchor des Naumburger Doms. Sein Äußeres ist in der Vertikalen und in der Horizontalen straff gegliedert. Die Vertikale betonen sechs Strebepfeiler, die, nach oben dreimal verjüngt, relativ schlank wirken und durch alternierende, kräftige Fialen-Türmchen bekrönt sind, sowie fünf gedrückt spitzbogige, zweigeteilte Fenster, deren Maßwerk eine Sechspaßrosette in einem Kreis bzw. vier in einem Vierpaß zusammengefaßte Vierpässe aufweist.
Die Füllungen der Rosetten und Vierpässe sehen merkwürdig altertümlich aus; sie sind kantig aus Platten geschnitten. Alle andern Details der Fenster haben dagegen Formen, wie man sie erwartet: ein schlanker Rundstab mit Basis und Kapitell, der an der Vorderkante im Fenstergewände umläuft, rahmt die zwei Bahnen mit Spitzbögen und aufgelegter Rosette. Die Unterteilung in diese zwei Bahnen er3
Der Dom zu Meißen von Südosten
164
E R N S T SCHUBERT
nachdrücklich betont. Eine weitere Horizontale bildet der Wasserschlag der Strebepfeiler etwa in halber Höhe der Fenster. Die als bestimmende Horizontale in Erscheinung tretende Attika auf der Mauerkrone ist am Ende des vergangenen Jahrhunderts nach erhaltenen Resten vollständig erneuert worden. 1 0 Darf man aber sicher sein, daß die dabei benutzten Fragmente aus dem 13. Jahrhundert stammten?
4 Naumburg, Dom, Grundriß des Westchors folgt durch ebensolche Rundstäbe, wiederum mit Kapitell und Basis. Der Kontrast zwischen den weichen Formen der Rundstäbe und den harten der Rosettenbzw. Vierpaßfüllung ist auffällig. Die schweren Strebepfeiler-Bekrönungen in Gestalt von Türmchen mit je fünf Zeltdächern haben nach den drei äußeren Seiten Öffnungen, die sich wie Pförtchen ausnehmen. Aus ihnen hängen nach vorn große, nach den Seiten kleine, wirklichkeitsnahe Wasserspeierfiguren und -figürchen heraus, von Nordosten beginnend: Mönche, Kühe, Tiger, Hirsche, Löwen und Nonnen. Die Horizontale wird durch das Sockel-, Kaff- und Dachgesims und durch den Fialenzyklus zur Geltung gebracht. Für das Sockelgesims behielt man bezeichnenderweise die Form des am spätromanischen Langhaus benutzten bei. Es umzieht auch die Strebepfeiler, wurde dort aber reduziert. Das Kaffgesims, das ebenfalls um die Strebepfeiler herumläuft, besitzt unter dem Wasserschlag eine breite Kehle mit einem kräftigen Knospenfries. Das Dachgesims wurde durch einen aufwendigen, verschieden gestalteten Blattfries
Die für den Westchor des Naumburger Doms charakteristische Ausgewogenheit der Senkrechten und Waagerechten kommt erst recht im Innern zur Geltung. Kräftige Dienstbündel leiten die Last der Gewölbe auf hohe, starke Sockel ab. Die Fenstergewände bleiben hier ohne die begleitenden Rundstäbe. Dagegen sind die Fenster selbst ebenso gestaltet wie an der Außenseite. Die breiten Mauerstreifen hinter den Diensten verlaufen in Schrägen in den Fenstergewänden. Das Quadrum besitzt keine Fenster. 11 Aber es ist in seiner östlichen Hälfte durch je eine hohe, breite Spitzenbogennische auf jeder Seite und in der westlichen durch je eine mächtige Blendarkade aufgelokkert. Die Waagerechte wird im Quadrum durch das Dorsale, im Polygon unten durch den breiten Wandsockel mit abschließendem schwerem Gesims am Fuße des Laufgangs deutlich zum Bewußtsein gebracht. Sie wird dann noch betont durch die breite und prächtige Zone der Stifterstandbilder mit dem Gitter der Laufgangarkaden und den Baldachinen. Ein letztes Mal tritt sie noch in den Dienstkapitellen in Erscheinung, die mit prächtigem Laubwerk geschmückt sind. Alles in allem spürt man trotz der schon verhältnismäßig großen gotischen Maßwerkfenster, trotz der gotischen Konstruktion aus Diensten und Gewölberippen, trotz des wirklichkeitsnahen pflanzlichen De-
10
V g l . BERGNER 1 9 0 3 w i e A n m .
1 , S . 7 3 , u n d BRUNO K A I S E R ,
Baugeschichte der Naumburger Domkirche seit dem Brande vom Jahre 1 5 3 2 . Mit einem Abriß der mittelalterlichen Baugeschichte. Ms. im Archiv des Domkapitels zu Naumburg, o. J., 3 Teile, insges. 3 3 7 Seiten, vollendet vermutlich um 1 9 5 0 , Teil I, S. 25 und Teil III, S. 3 2 9 . Danach spricht mehr dafür als dagegen, daß der Westchor eine Attika besaß. Sie ist vor allem in der von G. Werner rekonstruierten Form eine optisch wirksame Horizontale. Man vgl. dagegen die entsprechenden Galerien auf der Mauerkrone des Magdeburger Doms, die zugleich die Vertikale betonen. 1 1 Das große Rundbogenfenster in der Ostwand der südlichen Westchornische gehört nicht zum Westchor. Vermutlich ist es nicht einmal mittelalterlich.
5 Der Westchor des Naumburger Doms von Südwesten
166
E R N S T SCHUBERT
6 Der Wcstchor des Naumburger Doms, Inneres von Osten
kors, trotz der lebensnahen Statuen immer noch die Gestaltungswelt des Spätromanischen. D a s Problem von Stütze und Last w i r d nicht in Abrede gestellt, die W a n d nicht negiert, das schmückende Detail einem verhältnismäßig schweren und jedenfalls robusten Raumkörper appliziert. Der R a u m beeindruckt nicht durch gotische Konstruktion, Höhe und Länge, sondern durch ruhige Ausgewogenheit. So also sieht eine Weiterentwicklung spätromanischer deutscher Architektur im Sinne der französischen Gotik durch einen dort angeregten und aus-
gebildeten, aber in der heimischen Tradition noch fest verwurzelten Baumeister aus. Der Naumburger Westchor ist zwar in vielen Einzelheiten von der französischen Gotik bestimmend geprägt, aber er blieb zugleich unverwechselbar mitteldeutsch: mitteldeutsche frühe Gotik, Gotik der Mitte des 13. Jahrhunderts! Bei aller Freiheit und Delikatesse des Details ist er insgesamt viel kompakter als die französischen Vorbilder. 1 2 D i e in letzter Zeit wiederholte These stilgeschichtlicher Abhängigkeit des Chors der Klosterkirche in
Der Westchor des Naumburger Doms
Naumburg, Dom, 7 Westchor, Nordwand mit Dorsale
Schulpforta von dem Westchor des Naumburger Doms erweist sich bei der Überprüfung als eine wenig überzeugende Hypothese. Es dürfte nicht leicht sein, die Behauptung, daß die beiden Chöre „stilgleich" seien, 13 d a ß der Schulpfortaer Chor von dem
12
Vgl. dazu WEKNER GROSS, D i e Hochgotik im deutschen Kirchenbau. D e r Stilwandel um 1250, in: Marburger Jahrb u c h f ü r K u n s t w i s s e n s c h a f t . H r s g . RICHARD HAMANN u n d ROBERT
FREYHAN, 7. Bd., 1933, S. 3 3 1 : „ D e r N a u m b u r g e r Meister brachte das gotische System mit Strebepfeiler und Rippenwölbung von Frankreich mit. G e k a n n t hat er sicher die Reimser Chorkapellen (Chor 1241 vollendet), also das vollentwickelte gotische Chorsystem, dies bezeugen u. a. die Laufgänge in der W a n d . W a s in
167
.HJKBJg
N a u m b u r g anders ist, ist folglich als bewußte Umgestaltung, nicht als mangelhafte Kenntnis zu bewerten. Jene dokumentiert sich auf den ersten Blick in den breiten Wandflächen neben den Fenstern und der Schwächung der Rippen- und Dienstglieder . . . Nach all dem stellt sich der Naumburger Chor dar als ein aus mehreren Stilen eigentümlich gemischtes Gebilde. Spätromanisches, Deutschund Französisch-Gotisches durchdringt sich und ist gemeistert von der individuellen Gestaltungskraft eines überragenden Künstlers . . . Vergleicht man den Naumburger oder einen ihm zeitlich benachbarten Chor (Schulpforta, 1251; Niederhaslach, St. Florentin, ca. 1250) mit den im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts entstandenen Chören, so fällt auf, wie sehr diese alle, seien sie nun mehr französisch-gotisch oder hochgotisch, in den Proportionen gcsteilt sind." 13
DIETRICH SCHUBERT, V o n Halberstadt nach Meißen. Bildwerke des 13. Jahrhunderts in Thüringen, Sachsen und Anhalt, Köln 1974 ( = D u M o n t - D o k u m e n t e ) , S. 81.
Der Westchor des Naumburger Doms Naumburger „künstlerisch abhängig" sei, 1 4 oder d a ß er „eine enge Anlehnung an das Vorbild des Naumburger Westchores" zeige, 1 5 mit nachprüfbaren Argumenten zu belegen. D i e beiden Chöre sind weder gleicher Provenienz noch miteinander v e r w a n d t , sie w u r d e n nicht nur für unterschiedliche liturgische Bedürfnisse geschaffen, sondern besitzen auch trotz fast gleicher Zeitstellung, trotz engster geographischer Nachbarschaft verhältnismäßig wenig nachweisbare Übereinstimmungen im Formenapparat. D i e Forschung w a r bislang zumeist gegenteiliger Ansicht. Heinrich Bergner schrieb über den Westchor des Naumburger D o m s : „Der A u f b a u klingt lebhaft an den gleichzeitigen Chor in Pforta an, im Einzelnen ist er durch Klarheit und Einfachheit, durch schönere Verhältnisse und sparsame Zierglieder überlegen." 1 6 Bei der Beschreibung des Pförtner Chors formulierte er zwei J a h r e später: „Der Naumburger Westchor ist bei aller Verwandtschaft doch viel vorsichtiger und robuster entworfen. Dort steht zwischen den Fenstern noch die volle M a u e r an, und die Lichter sind nicht bis zur vollen Ausnützung des Schildbogens hochgeführt." 1 7 - Friedrich Haesler bemerkte 1926 zum Westchor: „Die ,Auflösung der M a u e r ' w a r dabei noch nicht so weit gediehen w i e im benachbarten Pforta." 1 8 U n d über den L a u f g a n g des Pförtner Chors kann man dort lesen: „wie in N a u m b u r g . " 1 9 - Johannes Jahn konstatierte bei der A n a l y s e einer Kapitellgruppe an der Ostwand des Westlettners des Naumburger D o m s : „Vermutlich liegt hier eine Einw i r k u n g von der benachbarten Zisterzienserkirche Schulpforta vor." 2 0 Zum Beleg w i r d eine der Dienstkonsolen des Nordwest-Vierungspfeilers jener Kirche abgebildet, die m. E. aber formgeschichtlich jünger sein dürfte als die Westchor- und Westlettner-Ornamentik des Naumburger Doms. Aber es bleibt bemerkenswert, d a ß Jahn es überhaupt für möglich hielt, man könne in der frühgotischen Naumburger Ornamentik Pförtner Einfluß wiederfinden. - Hermann Giesau, Herbert Küas und E d g a r Lehmann nehmen nicht Stellung. Richard H a m a n n - M a c L e a n ist der Meinung, d a ß „im benachbarten Schulpforta, gotischer U m b a u begonnen 1251, . . . im Chor das Reimser Architektursystem, in der Nachfolge des Naumburger Westchors, ganz rein w i e d e r durchschlägt. . ." 2 1 A m Äußeren des Pförtner Chors dominiert weit mehr als bei dem Naumburger Westchor die Vertikale. Acht noch schlanker als die Naumburger ausge8
Schulpforta, Klosterkirche, Chor von Südosten
9
169
Schulpforta, Grundriß des Chors, Archivaufnahme
bildete Strebepfeiler stützen, im oberen Teil zweimal beträchtlich verjüngt, das B a u w e r k ab. Sie enden in schlichten Pultdächern in Höhe des Traufgesimses. Fialentürmchen und eine A t t i k a gibt es hier nicht. Nur die Fenster in den drei östlichen Polygonwänden sind w i e in Naumburg zweiteilig. D i e beiden westlich folgenden im östlichen Chorjoch sind vier14 15
E b e n d a , S. 3 1 5 . JOSEF ADOLF SCHMOLL, g e n . E I S E N W E R T H , D a s K l o s t e r
Chorin
und die askanische Architektur in d e r M a r k B r a n d e n b u r g 1 2 6 0 bis 1320, Berlin 1 9 6 1 , S. 107. 16
BERGNER
17
BERGNER 1 9 0 5 w i e A n m . 2 , S . 7 9 .
1 9 0 3 w i e A n m . 1, S. 6 9 .
1 8 HEINRICH BERGNER, N a u m b u r g und M e r s e b u r g , 2., u m g e a r b . A u f l . , Leipzig 1 9 2 6 (die U m a r b e i t u n g besorgte FRIEDRICH HAES-
LER), 10 2:)
S. 16.
E b e n d a , S. 116. JOHANNES JAHN, Schmuckformcn
des N a u m b u r g e r
Doms.
A u f n a h m e n v o n ERICH KIRSTEN, L e i p z i g 1 9 4 4 , S . 1 2 9 , A n m . 21
HERMANN GIESAU, D e r D o m z u N a u m b u r g , 3 . ,
48.
veränderte
A u f l . , Burg b. M a g d e b u r g 1939 ( = Deutsche Bauten, 9. B d . ) . R i e r w u r d e das F a h n e n e x e m p l a r benutzt, der B a n d ist nicht erschienen; HERBERT KÜAS, D i e N a u m b u r g e r W e r k s t a t t . A u f nahmen von ERICH KIRSTEN, Berlin 1 9 3 7 ( = Forschungen zur deutschen Kunstgeschichte. Hrsg. vom dt. V e r . f. Kunstwissenschaft,
Bd. 26);
EDGAR
LEHMANN
und
ERNST
SCHUBERT,
Der
M e i ß e n e r Dom. B e i t r ä g e zur Baugeschichte und Baugcstalt bis zum E n d e des 13. Jahrhunderts, 2. Aufl., Berlin 1 9 6 9 ; RICHARD HAMANN-MACLEAN, D i e B u r g k a p c l l e von Iben. B e i t r ä g e zum Problem des N a u m b u r g e r Meisters II, i n : M a i n z und der Mittelrhein in der europäischen Kunstgeschichte w i e A n m . 9, S. 260, Anm. 5 8 . V g l . auch D. SCHUBERT 1974 w i e A n m . 13 und 14 sowie SCHMOLL 1 9 6 1 w i e A n m .
15.
170
E R N S T SCHUBERT
bahnig. Das westliche Chorjoch öffnet sich in der Höhe des Laufgangs mit je einem großen Spitzbogen auf der Nordseite zur Trinitatis-, auf der Südseite zur Margaretenkapelle. Über diesen Öffnungen befinden sich in der Chor-Nordwand eine achtspeichige, in der Südwand gegenüber eine sechsspeichige Fensterrose. Die Maßwerke aller dieser Fenster haben mit denen des Westchors des Naumburger Doms nichts gemein. In Schulpforta dominieren Dreipässe, und ein Fenster ist ausgestattet „mit weich sich rundenden Herzen in freier Zeichnung. Die feinen Pfostensäulchen erscheinen als Verjüngung der Dienstbündel, und die in Formen hessischer ZisterzienserKirchen der Zeit gehaltenen Maßwerke, innen und außen mit Rundstäben besetzt, scheinen die Druckkräfte der Decke in ein Spiel geometrischer Verspannung aufzulösen." 22 Figürliche Wasserspeier gibt es in Pforta ebenfalls nicht. Das Sockelgesims wurde zurückhaltender als in Naumburg ausgebildet. Und das gleiche gilt für das Kaff- und Dachgesims: Auf die Knospen- und Blattfriese hat man in Pforta verzichtet. Infolge dieser durchgehenden Vereinfachung tritt die Horizontale in Schulpforta - im Vergleich mit Naumburg - zurück, und die Vertikale dominiert. Der Gesamtaufbau wirkt zisterziensisch-nüchterner und zugleich französischer. Auch im Innern des Pförtner Chors herrscht nicht die Ausgewogenheit von Waagerechten und Senkrechten, die für den Westchor des Naumburger Doms charakteristisch ist. Auch hier ist die Vertikale betont, so daß der Raum steiler erscheint. Im Pförtner Chor besitzen einzelne Dienste und ganze Dienstbündel Schaftringe, die im Westchor des Naumburger Doms bezeichnenderweise nicht vorhanden sind. Die Dienste können in Schulpforta dennoch ungehindert aufsteigen, da die Unterbrechung durch Standbilder und Baldachine sowie die horizontale Verklammerung durch die Laufgangarkaturen entfällt. Wichtig für die Vertikal-Ausrichtung ist weiter die Tatsache, daß der untere Teil der Mauer, der im Naumburger Westchor als breite, ungegliederte Horizontale in Erscheinung tritt, in Schulpforta in zahlreiche, die Senkrechte unterstützende Architekturmotive aufgelöst wurde: Hier fanden drei von Wimpergen gerahmte, große doppeltürige Rechteckschränke Platz, zwei Arkosolgräber, verziert mit besonders reichen Wimpergen auf dreifachen Säulchen mit Phantasiearchitekturen sowie zwei Nischen für einen Zwei- und einen Dreisitz, die wiederum von aufwendigen Wimpergen überdacht sind. Das prächtige steinerne Dor-
sale, das die Horizontale im Quadrum des Naumburger Westchors durch gleichmäßige Reihung nachdrücklich zur Geltung bringt, 23 ist in Pforta nicht vorhanden. Statt des sechsteilig gewölbten, annähernd quadratischen Jochs des Westchors besitzt der Pförtner zwei querrechteckige Joche mit Kreuzrippengewölben. Die Reste der Vollmauer hinter den Diensten haben in dem Zisterzienserchor oberhalb des L a u f g a n g s - a n ders als im Naumburger Westchor - gleichsam die Form von Strebepfeilern. Ihre Kantenflächen sind nicht schräg, sondern senkrecht gegen die dünne Restwand neben den Fenstern geführt. Spitzbogentonnen gleicher Tiefe verbinden diese „Strebepfeiler" untereinander und stützen sie gegeneinander ab. Dadurch entstanden vor den Fenstern tiefe Nischen. In Naumburg findet man nichts Vergleichbares, wohl aber in Reims. Den spitzbogigen Durchgängen des Naumburger Laufgangs entsprechen in Schulpforta solche mit bekrönenden Dreipässen, die wohl ebenfalls durch das Reimser Vorbild inspiriert sind. Abgesehen von der ähnlichen, seit der Mitte des 13. Jahrhunderts in Deutschland allenthalben üblichen24 Grundrißdisposition des Polygons, abgesehen auch von der Anlage eines inneren Laufgangs und von der fast gleichen Stilstufe des Laubwerkdekors 2 5 bestehen beträchtliche Unterschiede zwischen den beiden Bauwerken. Es ist bedenkenswert, daß Georg Dehio kein Wort über eine stilgeschichtliche Verwandtschaft oder Abhängigkeit verlor, als er resümierte: Der Chor der Klosterkirche in Schulpforta „hat nichts Zisterziensisches mehr an sich. Die Konstruktions- und Zierformen aus genauer Kenntnis der champagnischen und burgundischen Schule. Der Grundriß die früheste" (sie!) „ganz reife und klare Formulierung des in Deutschland fortan am meisten verbreiteten Chortypus . . . Maßwerk, ähnlich wie bei den hessischen Zisterzienserkirchen dieser Zeit, aus Dreipässen und kleeblattförmig gebrochenen Spitz-
22
HAESLER 1 9 2 6 w i e A n m . 1 8 , S . 1 1 6 .
Diese Feststellung trifft auch für die ursprünglich ja anders gestaltete Baldachinreihe zu. Vgl. dazu WERNER HIRSCHFELD, Die Erneuerung der Baldachinreihe im Westchor des Naumburger Domes, in: Jahrbuch der Denkmalpflege in der Provinz Sachsen 23
u n d in A n h a l t 1 9 3 5 / 3 6 , S. 4 8 - 5 8 . 2 4 Vgl. dazu außer dem im folgenden abgedruckten ÜEHio-Zitat MANFRED FATH, Die Baukunst der frühen Gotik im Mittelrheingebiet. Dargestellt an charakteristischen Beispielen, in: Mainzer
Zeitschrift
63/64,
1968/69,
S. 1 - 3 8 ,
und
65,
1970,
S. 4 3 - 9 2 ,
bes. S. 8 0 mit Anm. 3 7 . 2O SCHUBERT 1979 wie Anm. 8, wo auch die wichtigste ältere Literatur angegeben ist.
Der Westchor des Naumburger Doms
171
10 Chor der Klosterkirche in Schulpforta, Inneres von Westen
bögen . . . An Kapitellen und Schlußsteinen reiches naturalistisches
Laubwerk.
Schulcharakter
mittel-
rheinisch-hessisch." 2 6
form, während der untere in den engen, steilen, kleeblattbogig geschlossenen Arkaden eine feste seitliche Begrenzung besitzt." 2 8 D i e Grundform der Strebepfei-
D e n M e i ß e n e r Chor haben E . Lehmann und ich
ler stimmt mit der am Chor der Zisterzienserkirche
1 9 6 8 stilgeschichtlich analysiert und sowohl mit dem
in Schulpforta überein. D i e M e i ß e n e r wirken ebenso
Westchor des Naumburger D o m s als auch mit dem
schlicht wie die Pförtner, nur noch schlanker.
Pförtner Chor in Verbindung gebracht. 2 7 „Von außen
Strebepfeilertiefe nimmt jedoch in Meißen
Die
zwangs-
entzieht sich der Hochchor fast überall den Blicken.
läufig beträchtlich zu, weil der breite
N u r vom Südflügel des Kreuzgangs aus ist er in einem
sige Chorumgang durch die Streben hindurchgeführt
zweigeschos-
Ausschnitt zu erfassen. D e r Chor scheint über dem unteren Umgang wie auf einem Sockel zu stehen. Seine W ä n d e sind nur durch die großen Fenster und die kantigen Strebepfeiler gegliedert. W i e im Innern ist der Aufbau klar und straff. D i e Strebepfeiler überschneiden nicht das Kranzgesims. Zusammen mit der
2 6 GEORG DEHIO, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, B d . 1 : Mitteldeutschland, 3. Aufl., 1 9 2 4 , S. 2 9 8 . - Auch verweist DEHIO in dem T e x t über den Westchor des Naumburger Doms nicht auf den Pförtner Chor, vgl. wie oben S. 2 6 3 . 27
LEHMANN/SCHUBERT
1969
wie
Anm. 21,
bes.
S. 5 5 - 8 0 .
Arkatur des unteren Umgangs ergibt das eine leichte
a u c h E D G A R L E H M A N N u n d E R N S T SCHUBERT, D e r D o m z u
Horizontalbetonung . . .
Aufnahmen
Der
obere
Umgang,
ohne
steinerne Brüstung, wirkt wie eine einfache
Platt-
S. 13, 1 6 - 1 7 , 28
von
KLAUS
112.
Ebenda, S. 14.
G . BEYER,
2. Aufl.,
Berlin
Vgl.
Meißen.
1974,
bes.
Der Westchor des Naumburger Doms werden mußte. Diese Durchgänge sind wie die Umgänge selbst ungewöhnlich geräumig, also bequem begehbar. Die Dreipaß-Arkaden, die den unteren Umgang eingrenzen, besitzen keine Kapitelle. Sie verdecken nicht nur den Mauersockel hinter einer senkrechten Gittergliederung, sondern sie bewirken auch die Vorstellung des Sich-in-die-Höhe-Streckens. Die Strebepfeiler unterstützen diese Aufwärtsbewegung, zumal sie ihrer Tiefe im unteren Teile wegen weiter oben stark verjüngt wurden. Die gotische Architekturstruktur wird dann besonders sinnfällig in den Fenstern, die im Meißener Chor anders als in Schulpforta und erst recht in Naumburg sämtlich vierteilig sind, also wesentlich breiter als in den beiden älteren Chören. Die viel schlankeren Teilungspfosten und die für Deutschland ungewöhnlichen Maßwerke, die vielleicht auf zisterziensische Herkunft zurückzuführen sind, 29 unterstützen diesen Eindruck. Aufhebung der Last und Auflösung der Mauer werden suggeriert. Die Energien scheinen aufwärts zu streben. Ähnliche Feststellungen trifft man bei der Betrachtung des Innern. Der viel schmalere und höhere Meißener Domchor ist auch stärker achsial ausgerichtet. Der Eintretende wird von Westen nach Osten geleitet, wo sich die Standbilder der Patrone und Stifter und der Hochaltar befinden. Diese „Lenkung" ist nur zum Teil eine Folge der großen Länge des Chors. In hohem Maße trägt auch die Lichtführung dazu bei. 30 Der quadratische westliche Chorteil blieb nämlich ohne Fenster, weil die Osttürme ihn flankieren. Der querrechteckige mittlere besitzt nur halbhohe Fenster. Sie konnten dort erst oberhalb der Wendeltreppen und der Standbilder angelegt werden, und neben ihnen blieb noch für Wandabschnitte Platz. Dagegen füllen die Polygonfenster den Raum zwischen den Strebepfeilern und Dienstbündelrücklagen bis in den Schildbogen hinauf vollständig aus. Sie sind auch tiefer herabgezogen als die vergleichbaren in Naumburg und Schulpforta. Die Lichtfülle nimmt infolge dieser Fensteranordnung kontinuierlich und deutlich spürbar von West nach Ost zu. 31 Es ist gewiß keine Übertreibüng, wenn man behauptet, daß der Meißener Dom-Chor von seinen Fenstern gleichsam beherrscht wird. Man hat hier eigentlich zwei Raumabschnitte zu unterscheiden. Das Polygon bildet zusammen mit dem querrechteckigen östlichen Joch den ersten, das quadratische westliche einen zweiten. Dieser liegt jetzt um eine Stufe tiefer als der erste Raumabschnitt, und 11
Meißen, Dom, Chor mit Umgang von Süden
173
die Höhe der Dienstbasen spricht dafür, daß die gleiche oder eine ähnliche Differenzierung schon von Anfang an, im 13. Jahrhundert, bestand: Polygon und querrechteckiges Joch mit gleicher Fußbodenhöhe sind höher gelegen als das quadratische Westjoch. Nur der Altarraum und das anschließende Joch, das doch wohl in erster Linie für die Verehrung der Patrone und Stifter errichtet wurde, sind durch leuchtende farbige Glasfenster ausgezeichnet. Hier empfindet man den Unterschied zu den Chören in Naumburg und Schulpforta besonders stark. Dieser Raumabschnitt wirkt steil und vergleichsweise eng. Da auf einen Innen-Laufgang verzichtet wurde und die Fenster folgerichtig auf die Innenkante der mächtigen Mauer gesetzt sind, vermutet man sehr dünne Wände, so dünn wie die Fenstergewände aussehen. Die im Vergleich mit dem Naumburger Westchor verdoppelte und auch im Vergleich mit dem Pförtner Chor vergrößerte Anzahl der Fensterpfosten, die im Meißener Chor zudem sehr dünn gehalten sind, kommt wiederum der Vertikaltendenz zugute. In die Höhe lenken auch die ohne jede Unterbrechung bis in die Kapitellzone hinauf aufsteigenden Dienstbündel. Ein Gesims in Höhe der Fenstersohlbänke, das - wie in Naumburg und Schulpforta am Fuß des Laufgangs - die Horizontale betont, gibt es hier nicht. Entscheidend für die einseitig vertikale Ausrichtung ist auch, daß die Standbilder nicht - wie in Naumburg - vor den Diensten stehen und diese unterbrechen. Sie stehen vielmehr vor der glatten Wand und gliedern diese vertikal. Auch die Treppentürmchen in den Westecken dieses Jochs akzentuieren die Senkrechte. Dagegen befindet man sich in dem quadratischen westlichen Joch gleichsam in einer andern Welt, in einem schlichten Raum aus ungegliederten, glatten Wandflächen, bedeckt von einem hohen Gewölbe auf schlanken Diensten - aber ohne Nischen, Fenster und Blenden, ohne jede weitere Architekturgliederung. Desto entscheidender hebt sich der untere Teil der Wände ab. Wie im Ostabschnitt des Chors Altar und Standbilder dem Raum Bedeutung verleihen, so hier Chorgestühl und Dorsale. Der Bereich, in dem das Kapitel seinen täglichen Offizien nachkam, empfängt jetzt - ohne Wandmalerei - seine Bestimmung ausschließlich durch die Kapitularensitze.
29
LEHMANN/
30
LEHMANN/SCHUBERT
SCHUBERT
31
Vgl.
1969 1974
wie wie
LEHMANN/SCHUBERT 1 9 7 4
Anm. 21,
S. 6 3 .
Anm. 27,
S.
12.
w i e A n m . 2 7 , S.
12.
D e r Westchor des N a u m b u r g e r D o m s
i
12
i
i
175
i I
M e i ß e n , D o m c h o r , Inneres von W e s t e n
13 Meißen, D o m , G r u n d r i ß des Chors mit U m g a n g in Fensterhöhe
176
E R N S T SCHUBERT
14 Meißen, Dorsale, Ausschnitt
D a s in Stein gehauene Meißener Dorsale, das einzige bekannte außer dem Naumburger, weist im Vergleich mit diesem bezeichnende Unterschiede auf. In Naumburg beginnen die Rippen der Baldachingewölbe auf den Kämpferplatten der Arkadenkapitelle. Dagegen sind in Meißen Arkaden und Baldachine deutlich gegeneinander abgesetzt. Ein kräftiges Gesims, das über dem Arkadenscheitel durchläuft, trennt beide. D i e Baldachine werden auf diese Weise von den zugehörigen Arkaden isoliert. Sie ragen auch weiter aus der W a n d hervor als die Naumburger. Alles in allem eine seltsame Bildung, besonders, wenn man bedenkt,
daß es sich doch um nichts anderes als um Gestühlslehnen in Stein handelt. Gibt es auch Holzgestühl, bei dem die unmittelbare Beziehung von Stallus-Rückwand und Baldachin aufgehoben ist? Bei dem Meißener Dorsale ist das der Fall. Das horizontale Gesims unterbricht die Verbindung zwischen Kapitularensitz und zugehörigem Baldachin. 32 32 D a r f man zu e r w ä g e n geben, d a ß d e r geschlossene N a u m b u r ger Stallus den R a n g des einzelnen D o m h e r r n betont, w ä h r e n d der oben gleichsam offene M e i ß e n e r mit d e r d a r ü b e r schwebenden Baldachinreihe nicht die H o h e i t des einzelnen Kapitularen zum Ausdruck bringt, sondern die der K ö r p e r s c h a f t , des K a p i t e l s ?
Der Westchor des Naumburger Doms
177
E i n hohes M a ß an Selbständigkeit der drei Chöre ergab sich zwangsläufig aus ihrer unterschiedlichen N u t z u n g . D e r Westchor des N a u m b u r g e r D o m s , u m mit ihm w i e d e r zu beginnen, w a r von A n f a n g an nicht als Chor des bischöflichen D o m k a p i t e l s konzipiert, sondern als Chor eines S e k u n d ä r s t i f t s . 3 3 Dieses w u r d e später zwar ausgesiedelt, seinen wichtigsten liturgischen Verpflichtungen m u ß t e es aber weiter im W e s t chor nachkommen. D e r P f ö r t n e r Chor diente Zisterziensermönchen f ü r ihre gemeinsamen Offizien, der M e i ß e n e r D o m c h o r einem bischöflichen K a p i t e l . E s m u ß a n g e n o m m e n w e r d e n , d a ß die N a u m b u r g e r Stiftsherren einen I n n e n l a u f g a n g f ü r erforderlich hielten u n d die Zisterziensermönche in Schulpforta ebenfalls. D i e K a p i t u l a r e n des M e i ß e n e r Hochstifts dagegen müssen ihn f ü r überflüssig gehalten haben. Sie ließen aber einen zweigeschossigen ä u ß e r e n U m g a n g anlegen. D e r u n t e r e G a n g w a r vielleicht als Prozessionsweg gedacht, der obere ermöglichte einen bequemen Z u g a n g vom Obergeschoß des Kla.isur-Ostflügels, also v o m D o r m i t o r i u m , in die beiden Sakristeien u n d den Chor. 3 4 E r d ü r f t e täglich benutzt w o r d e n sein. G r u n d genug, ihn in b e q u e m begehbarer Breite zu errichten. Naumburg, Dom, Grundriß des Westchors 15 in Laufganghöhe
In Schulpforta erschloß der L a u f g a n g die große K a p e l l e im Obergeschoß des südlichen Chornebenraums, die M a r g a r e t e n k a p e l l e . D e r W e g zu ihr f ü h r t e über die stattliche T r e p p e im nördlichen A r m des Q u e r h a u s e s in die K a p e l l e im Obergeschoß des nördlichen C h o r n e b e n r a u m s , die Trinitatiskapelle, von d o r t über vier Stufen zum L a u f g a n g u n d über diesen in die K a p e l l e auf der Gegenseite. E i n e zweite Möglichkeit, in die M a r g a r e t e n k a p e l l e zu gelangen, bot eine W e n d e l t r e p p e an der C h o r n o r d w a n d . M a n k o n n t e über sie vom Chor aus den L a u f g a n g direkt u n d über diesen die M a r g a r e t e n k a p e l l e erreichen. D a in der K a p e l l e ebenfalls täglich gebetet w u r d e , e m p f a h l es sich auch hier, den L a u f g a n g gehörig breit zu halten. E r ist mit über 60 cm lichter Breite v e r h ä l t n i s m ä ß i g geräumig - im Gegensatz zum Westchor des N a u m b u r g e r D o m s , w o m a n sich mit 40 cm im Lichten begnügte. D e r N ä u m b u r g e r L a u f g a n g ist so schmal, d a ß m a n sich in den D u r c h g ä n g e n beengt f ü h l t . B e s a ß er e t w a
16 Schulpforta, Klosterkirche, Grundriß des Chors in Laufganghöhe, Archivaufnahme 12
Architektur
Vgl. ERNST SCHUBERT, Der Westchor des Naumburger Doms. Ein Beitrag zur Datierung und zum Verständnis der Standbilder, Berlin 1964. 2. Aufl., Berlin 1965 ( = Abh. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst, Jg. 1964, Nr. 1), S. 3 0 - 3 9 . LEHMANN/SCHUBERT
1969
wie
Anm. 21,
S. 5 7 .
178
E R N S T SCHUBERT
doch in erster Linie wandgliedernde Funktion? 30 Nachrichten über seine Nutzung sind offenbar nicht überliefert. Wurde er vielleicht nur bei bestimmten Anlässen, nicht täglich betreten? Bei Versuchen, diese Frage zu beantworten, kann die folgende Beobachtung möglicherweise helfen: Über den Köpfen der Naumburger Stifterstandbilder befinden sich in den Gewölbediensten jeweils entweder zwei oder drei sauber eingeschlagene Dübellöcher. Sie sind zum Teil vermörtelt, und deshalb nicht leicht zu erkennen, aber überall, außer über der Statue des Konrad, nachweisbar. Es ist anzunehmen, daß in diese Dübellöcher ursprünglich Haken eingelassen waren. Diese könnten zur Befestigung von Tüchern oder Teppichen, aber auch von Reliquien oder anderem gedient haben. Wurden die Standbilder vielleicht bei bestimmten, ihnen geltenden liturgischen Handlungen verhüllt und wieder enthüllt, mit Reliquien bedeckt oder mit anderen Maßnahmen bedacht? Der Naumburger Laufgang wäre dann für liturgische Offizien an den Standbildern angelegt worden, zu denen er den Zugang vermittelte - zumal er nur zu den Statuen, nirgendwo sonst hinführt. Wenn die Laufgänge in Naumburg und Schulpforta und der zweigeschossige Umgang in Meißen um liturgischer Zwecke willen errichtet wurden, dann müssen sie nicht unbedingt ¿-¿¿¿geschichtliche Verwandtschaft bezeugen. 36 Könnte nicht vielmehr die Notwendigkeit, sie zu errichten, zwangsläufig zu Ähnlichkeiten in Grund- und Aufriß geführt haben? 37 Enger verwandt als die Architekturform der drei Chöre scheint ihre Bauornamentik zu sein. In Naumburgfinden sich die der Wirklichkeit am nächsten kommenden Pflanzenbildungen, insbesondere an der Ostfassade des Westlettners, aber auch an den Kapitellen des Dorsale und der Dienste im Westchor und an den Schlußsteinen des Westlettners, des Westchors und des mittleren und östlichen Mittelschiifsjochs im Langhaus. D i e Kapitelle von den Säulchen der Treppenspindeln des Westlettners, der Arkaden des Laufgangs und wenigstens teilweise - der Fensterpfosten im Westchor können hier außer Betracht bleiben, da sie in Schulpforta und Meißen keine Entsprechung finden.38 Die frühgotische Naumburger Bauornamentik ist, von den eben erwähnten andersartigen Stücken abgesehen, von einer erstaunlichen und sonst nirgends auf gleicher Höhe nachweisbaren Naturnähe. Diese ist immer wieder hervorgehoben worden und scheint für die mitteldeutsche Frühgotik charakteristisch zu sein. 39 In Mitteldeutschland findet man im zweiten
Viertel des 13. Jahrhunderts, abgesehen vom Knos35
WILLIBALD SAUERLÄNDER, Die Naumburger Stifterfiguren. Rückblick und Fragen, in: Die Zeit der Staufer. Geschichte Kunst - Kultur. Katalog der Ausstellung Stuttgart 1977, Bd. V, Stuttgart 1979, S. 182. 36
Vgl.
LEHMANN/SCHUBERT
1969
wie
Anm.
21,
S.
56-57
und 75, wo die sich aus der unterschiedlichen Nutzung ergebenden Veränderungen ausdrücklich erwähnt werden. SAÜERLÄNDER 1979 wie Anm. 35, S. 182/184: „Der aus der französischen Hochgotik übernommene Laufgang, der .passage Rémois', erfährt so eine letzte, erstaunliche und, wie man übertreibend behaupten könnte, theatralische Sinnveränderung. Er erscheint als Sockel und umlaufende Bühne, an deren Rampe die lebensgroßen und lebensnahen Stifterstatuen auftreten. Negativ ausgedrückt führte also die Rezeption des Reimser Modells in Naumburg zu einem Abbau von Distanz, zur Auflösung einer von der französischen Gotik zu höchster Kunst entwickelten Topik der Gliederung, positiv ausgedrückt zur Verwandlung eines baulichen Funktionssystems in ein Ausdrucksgefüge, das sich schließlich in den spektakulären Figuren bis zu einer Art architektonischen Animismus steigerte." Von einer möglichen Benutzung des Laufgangs ist dort nirgends die Rede! 37 Neben der Frage der liturgischen Nutzung von Lauf- und Umgang wären statische Überlegungen zu berücksichtigen ; denn sie bedingten auch das allen drei Chören gemeinsame Aufbauschema: unten ein sehr dicker Mauersockel und in Höhe des Lauf- bzw. Umgangs ökonomische Beschränkung auf das tragende Gerüst, das allein in voller Stärke aufgeführt ist. 38 Zu diesen umstrittenen, nach unserer Meinung gleichzeitigen, andern Ansichten zufolge älteren oder jüngeren, jedenfalls andersartigen Kapitellen vgl. zuletzt JAHN 1944 wie Anm. 20, S. 118/119 u n d 1 3 0 , A n m . 5 1 ; GERHARD LEOPOLD u n d ERNST SCHUBERT, Z u r
Baugeschichte des Naumburger Westchors, in: Kunst des Mittelalters in Sachsen. Festschrift Wolf Schubert dargebracht zum sechzigsten Geburtstag am 28. Januar 1963, Weimar 1967, bes. S. 1 0 4 / 1 0 5
und
Anm. 31-33.
Die
Nachweise
der
älteren
For-
schung in diesen beiden Publikationen. 39 Ebenso auch für die mittelrheinische. Vermutlich in beiden Fällen zurückzuführen auf den sog. Naumburger Meister bzw. seine Werkstatt. Durch ihn wird „eine organische Weiterentwicklung" von dem Knospen- „zum Blattkapitell unterbrochen" (FATH 1968-70 wie Anm. 24, S. 91) ; er bringt unvermittelt das fertige Blattkapitell in höchster Vollendung an den Rhein und nach Mitteldeutschland. Aber am Rhein „werden alle Formen fast gleichzeitig verwendet. Es gibt Kelchkapitelle mit Palmettenschmuck neben Kelchblockkapitellen mit natürlichem Laub." (FATH 196870 wie Anm. 24, S. 91) In Mitteldeutschland dagegen scheint der Übergang konsequenter vollzogen worden zu sein. Alle drei hier behandelten Chöre besitzen nur noch Laubkapitelle, Kapitelle, mit (spätromanischem) stilisiertem Palmettendekor werden nicht mehr verwendet. Wahrscheinlich ist der Entwicklungssprung in allen drei Fällen auf den Neuanfang einer frühgotisch arbeitenden Hütte zurückzuführen. Als Gegenbeispiel kann der Magdeburger Domchor angeführt werden, wo zwar auf die spätromanische Bauhütte des Chorerdgeschosses unvermittelt die zisterziensische des Bischofsgangs mit neuen Formen folgt, dann aber oberhalb des Bischofsgangs zisterziensischer und frühgotischer Blattdekor gemischt vorkommen. Hat man hier eine Baupause mit Hüttenwechsel zwischen dem ersten und zweiten Bauabschnitt zu rekonstruieren, während im dritten ein gleitender Übergang anzunehmen ist, in dem die „Zisterziensersteinmetzen" durch „frühgotischen Zuzug" verstärkt wurden? Aber: Um die Mitte des 13. Jahrhunderts hat sich auch in Magdeburg allgemein das frühgotische Blattkapitell durchgesetzt - wenngleich nicht mit so wirklichkeitsnahen Formen wie in Naumburg.
Der Westchor des Naumburger Doms pendekor der 2isterziensisch beeinflußten Bauwerke, noch verbreitet das stilisierte Palmetten-Blattwerk der deutschen Spätromanik. Um die Mitte des Jahrhunderts beginnt sich dann der frühgotische Dekor aus wirklichkeitsnahen Pflanzenbildungen durchzusetzen. Aber schon im dritten Viertel, gegen 1260, macht sich eine erneute Stilisierung bemerkbar. Die Pflanze wird nun verbeult, vereinfacht und zunehmend verhärtet. Die Naumburger Ornamentik bezeichnet den Anfang der frühgotischen Entwicklung und zugleich den Höhepunkt. Sie wurde durch den spätromanischen Dekor vorbereitet, der, seit Generationen üblich, in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts immer lebendiger, saftvoller, sprießender geworden war. D a ß im Naumburger Westchor dann unvermittelt ein unerhörter Grad an Wirklichkeitsnähe erreicht wurde, wäre mit der Adaption französisch-gotischer Vorbilder allein wohl kaum zu erklären. Weil aber das stilisierte spätromanische mitteldeutsche Palmettenkapitell und analog der Dekor der Friese und Tympana schon seit langem mehr und mehr mit Leben erfüllt worden waren, konnte der Schritt zur Wiedergabe natürlicher, wirklichkeitsnaher Pflanzen als konsequente Fortsetzung des eingeschlagenen Weges empfunden werden. Johannes Jahns Monographie „Schmuckformen des Naumburger Doms" 4 0 behandelt beinahe ausschließlich die Naumburger Bauzier. Die Pförtner Klosterkirche wird nur am Rande erwähnt, der Meißener Dom lediglich in einer Anmerkung. Jahn schrieb: „. . . so gewiß der Bamberger Reiter sein Vorbild an der Reimser Kathedrale hat, von diesem im Geist und in der Form aber . . . verschieden ist . . ., so gewiß gibt es gotische Laubkapitelle von der Art der Naumburger nirgendwo in Frankreich. Ihre unmittelbare Vergegenwärtigung der pflanzlichen Erscheinung ist einmalig und ohne eineSpur jener Trockenheit, die den französischen Schöpfungen zuweilen anhaftet." 4 1 Auch auf die spätromanische Herkunft der frühgotischen Naumburger Kapitelle machte Jahn schon aufmerksam : „Werner Groß bemerkt in seiner ausgezeichneten Analyse des Naumburger Westchors . . .: 'Spätromanisches, Deutsch- und Französisch-gotisches durchdringt sich und ist gemeistert von der individuellen Gestaltungskraft eines überragenden Künstlers.' Genau das kann man auch von den Lettnerkapitellen sagen. Daß sie von den naturalistischen Blattkapitellen der französischen Gotik wesentlich verschieden sind, ist zwar immer betont worden, ihre spätromanische Komponente wurde aber bisher noch nicht genügend hervorgehoben." 42 „Diese Blätter," so formu12*
179
lierte Jahn an anderer Stelle, „sind mehr als Natur, sie haben über die sachliche Treue der Nachbildung hinaus noch etwas empfangen, was von treibenden Kräften des Frühlings redet, von lustvollem Sichöffnen dem Licht entgegen, vom Sichentfalten in feuchter Frische und sanftem Wind." 4 3 Neben diesen gibt es aber auch an der Fassade des Westlettners schon Gestaltungen, die einer andern Formensprache entstammen. Jahn charakterisierte die mit Weinlaub dekorierte nördliche Kapitellgruppe der Südseite mit den folgenden Worten: „Die Behandlung dieses Weinlaubs ist ganz anders als die des bereits besprochenen 44 und entbehrt der stillen Schönheit jenes Meisterwerks. Die Trauben sind verdeckt, auf den Blättern kriechen die Wickelranken .gleich Würmern' dahin (Bergner), eine höchst merkwürdige, Unruhe erzeugende und dem Meister jenes ersten Weinlaubkapitells nicht zuzutrauende Weise; auch die Blätter selbst sind unruhig und sehen da und dort wie gekräuselt und gebeult aus. Das sind Merkmale einer etwas späteren Entwicklungsstufe." 45 Und in einer Anmerkung wird dann erläutert: „Vermutlich liegt hier eine Einwirkung von der benachbarten Zisterzienserkirche Schulpforta vor, unter deren nicht ganz einheitlicher Ornamentik auch dergleichen gebeulte Blätter mit aufgebogenen Rändern und kriechenden, eingerollten Ranken vorkommen. Daher darf dieses Weinlaub in seiner .barocken Wirrheit' nicht, wie Weigert tut, als Endergebnis der Ornamentik der Lettnerfront bezeichnet werden, denn es ist in seinem Wesen gar nicht Naumburgisch." 46 Ehe aus diesen Feststellungen Schlüsse gezogen werden, muß Jahn noch ein letztes Mal zu Wort kommen mit Ausführungen, die expressis verbis nach Meißen überleiten: „Die Kapitelle der Dienste des Westchors," resümiert er, „und der Schlußstein im Scheitel des Chorschlußgewölbes stehen auf einer Stufe des Übergangs zwischen den naturalistischen Lettnerfrontkapitellen und jenen einer späteren, etwa in Schulpforta ausgiebig vertretenen Richtung, innerhalb der aus dem Pflanzenwerk Saft und Kraft herausgesaugt zu sein scheinen, so daß die Blätter nach einem öfters gebrauchten Vergleich aussehen wie aus Blech gestanzt. So weit ist es in 40
Wie Anm. 20.
4»
JAHN 1 9 4 4 wie A n m . 20, S. 1 1 2 / 1 1 3 .
42
JAHN 1 9 4 4 w i e A n m . 2 0 , S . 1 2 8 , A n m . 4 6 .
43
JAHN 1 9 4 4 w i e A n m . 2 0 , S. 1 1 4 / 1 5 .
Gemeint ist das südliche der beiden Einzelkapitelle der Nordseite der Nischenarkatur. 44
45
JAHN 1 9 4 4 w i e A n m . 2 0 , S . 1 1 5 .
46
JAHN 1944 wie Anm. 20, S. 129, Anm. 48, siehe auch oben
S. 1 6 9 .
180
E R N S T SCHUBERT
ein, daß ein „wesentlicher Zeitunterschied" nicht bestehen kann; denn Chor und Lettner dürften in nicht mehr als zehn Jahren entstanden sein. 4 9 Erinnert man sich hier, daß die jüngere, die Pförtner Ornamentik, nach Jahn auch schon am ältesten Teil, an der Fassade des Lettners, nachweisbar ist, dann wird schnell deutlich, daß die Definition des stilgeschichtlichen Nacheinander zur Erklärung allein nicht ausreicht. Neben
11 Naumburg, Dom, Westchor, Schlußstein des Polygongewölbes
Naumburg noch nicht. Aber vergleicht man die Weinblätter und Trauben des Schlußsteins (des Polygons) mit denen jenes Lettnerkapitells (von der Nordseite), so sieht man, wieviel jetzt an Masse verlorengegangen ist." 4 7 In einer Anmerkung wird ergänzt: „Die weitere Stufe dieser Entwicklung - es ist die gleiche Entwicklung wie in der Plastik von den Naumburger Stifterfiguren zu den Portalstatuen der Straßburger Westfassade - zeigt ein im Motiv von dem Naumburger offenbar abhängiger Schlußstein im Chor des Doms zu Meißen mit Blättern wie aus dünnem Blech, stark hervortretenden Rippen, Vereinfachung der Naturformen und einer in Naumburg schon leise angedeuteten, hier vollkommen durchgeführten Rotation des Ganzen." 4 8 Jahn ging zu Recht davon aus, daß die Schauwand des Lettners, seine östliche Fassade, die älteste Ornamentik besitzt. Die Dorsalekapitelle hielt er für jünger, für noch jünger die der Chordienste und das Blattwerk der Schlußsteine. Aber er räumt selbst
Schulpforta, Chor der Klosterkirche, 18 Schlußstein des Polygongewölbes. Archivaufnahme der stilgeschichtlichen Abfolge und der Tradition am Ort müßten immer auch Ausbildung und Alter von Steinmetz und Hütte berücksichtigt werden. In Naumburg - und ebenso natürlich andernorts - können Steinmetzen oder Bildhauer mit verschiedener persönlicher Entwicklung, aus verschiedenen Hütten und verschiedenen Alters nebeneinander tätig gewesen sein. Stilgeschichtlich Neues und Andersartiges könnte neben stilgeschichtlich Älterem und Gleichartigem
47
JAHN 1 9 4 4 w i e A n m . 2 0 , S .
48
JAHN 1 9 4 4 w i e A n m . 2 0 , S . 1 3 0 , A n m .
121.
49
JAHN 1 9 4 4 w i e A n m . 2 0 , S .
119.
57.
Der Westchor des Naumburger Doms
181
Platz gefunden haben. Im vorliegenden Falle ist es vermutlich müßig, sich darüber Gedanken zu machen, wie der Austausch der K r ä f t e und Stilphänomene im einzelnen zustande kam, aber man m u ß ihn als Gegebenheit in Rechnung stellen. Weitergehende Schlüsse würde man aus dieser Tatsache vielleicht ziehen dürfen, wenn in Schulpforta umgekehrt auch frühgotische Naumburger Ornamentik der ältesten Art begegnete. D a v o n ist aber nichts zu bemerken. Im Gegenteil: Die Ornamentik in Naumburg und Schulpforta entstand offenbar trotz örtlicher N ä h e weitgehend unabhängig voneinander. 5 0 Die Pförtner Bildungen sind stilgeschichtlich zwar nur wenig, aber doch merklich jünger als die Naumburger, obwohl sie tatsächlich kaum später geschaffen sein dürften als diese. D a f ü r kann es eigentlich nur eine Erklärung geben: D e r Naumburger Westchor wurde auch nach Ausweis seiner Ornamentik von andern Kräften geschaffen als der Chor der Klosterkirche in Schulpforta. D i e Pförtner Steinmetzen lebten offenbar in einer andern Hüttentradition als die in Naumburg tätigen. N u r der Pförtner Chor, so auffällig mitteldeutsch er sich gibt, ist zugleich das Werk von „Zisterziensern." Diese Feststellung trifft übrigens ebenso auf die noch spätromanische Ornamentik im Pförtner Querhaus zu. Auch dort gibt es trotz stilgeschichtlicher Gleichzeitigkeit mit der Ornamentik in der Westhälfte des spätromanischen Langhauses des Naumburger Doms keine mit dieser unmittelbar vergleichbaren Stücke. Abt und Konvent des Zisterzienserklosters beschäftigten offensichtlich während des spätromanischen und des frühgotischen Bauprozesses andere Steinmetzen als der Bischof und seine Kapitularen im benachbarten Naumburg. D i e Verschiedenheit der Hütten wird auch in der künstlerischen Qualität unübersehbar deutlich, die sowohl bei der spätromanischen als auch bei der frühgotischen Naumburger Ornamentik beträchtlich höher ist als bei der Pförtner. Ein Überwechseln von der einen in die andere Hütte war, wie Jahns Beobachtungen nahelegen, wohl prinzipiell möglich, kam aber anscheinend selten vor. D i e Pförtner frühgotische Hütte schuf eine stilgeschichtlich schon ein wenig entwickeltere Ornamentik als die Naumburger. Es ist möglich, d a ß sie auch erst etwas später ihre Arbeit aufnahm als diese. Man kann aber nicht einmal ausschließen, daß beide nahezu gleichzeitig ihre Aufträge erhielten und ihre Arbeit begannen. Ihre Herkunft war verschieden und ihre Aufträge waren verschieden. Ihre Werke unterscheiden sich
19 Meißen, Domchor, Schlußstein des Polygongewölbes
deshalb natürlicherweise, und zwar offenbar mehr als man gemeinhin angenommen hat. Ich kann mich deshalb der folgenden, in jüngerer Zeit mehrfach vertretenen Argumentation nicht anschließen: D e r Pförtner Chor wurde nachweislich 1251 begonnen. Er ist jünger als der Westchor des Naumburger Doms und ohne dessen Vorbild nicht verständlich. Deshalb muß der Naumburger Chor längere Zeit vor dem Pförtner errichtet worden sein, spätestens in der ersten H ä l f t e der 40er Jahre des 13. Jahrhunderts. 5 1 Die Bauornamentik des Chors des Meißener Doms ist der frühgotischen Naumburger und Pförtner motivisch eng verwandt, stilgeschichtlich aber jünger als
50
51
Vgl.
JAHN
1944
wie
A n m . 20,
S. 1 1 5
u.
129,
Anm.
48.
Vgl. SCHMOLL 1966 wie Anm. 9, S . 289, nach ihm vergröbernd D. SCHUBERT 1974 wie Anm. 13, S . 81 u. passim; vgl. auch S A Ü E R L Ä N D E R 1979 wie Anm. 35, S . 245, Anm. 216. Zu dieser Problematik vgl. auch SCHUBERT 1979 wie Anm. 8, passim.
182
ERNST SCHUBERT
beide. 52 Der Meißener Chor ist nicht mehr früh-, sondern schon hochgotisch und seine Ornamentik auch. Eine unmittelbare stilgeschichtliche Verwandtschaft liegt weder mit Naumburg noch mit Schulpforta vor. Kürzlich wurde die Meinung vertreten, daß „die Konzeption des Naumburger Chores sich an einer entscheidenden Stelle einen Grundgedanken der Reimser Wandgestaltung zu eigen gemacht und auf die besondere Aufgabenstellung eines Saalchores hin abgewandelt hätte." 5 3 Gemeint ist der Laufgang im Westchor des Naumburger Doms, dessen „Grundgedanke" auf die Innenlaufgänge von Notre-Dame in Reims zurückgehen soll. Diese Anregung aus Reims wird dann sogar indirekt für die Datierung des Westchors in Anspruch genommen: „Es sieht so aus, als gingen die Naumburger Bildwerke von eben jener Kathedrale in Reims aus, deren mögliche Vorbildlichkeit für die Architektur des Naumburger Westchors bereits zur Sprache gekommen ist." 54 Nimmt man die dort ebenfalls geäußerte Feststellung hinzu, die Werke des Naumburger Kreises wurzelten „in der Reimser Bildhauerei der dreißiger Jahre des 13. Jahrhunderts," 5 5 dann ist die Frage naheliegend, ob nicht auch für die frühgotische Naumburger Bauornamentik die Reimser der 30er Jahre zum Vorbild genommen wurde. Das scheint nun aber nicht der Fall zu sein. Gerade der Vergleich der Bauornamentik zeigt vielmehr, daß entsprechende Reimser Vorstufen für Naumburg - sofern man daran festhält, sie zu postulieren - nicht aus den dreißiger Jahren stammen, sondern aus den vierziger oder sogar fünfziger. Auch dazu hat sich übrigens Jahn schon geäußert, als er über die Kapitelle der Naumburger Westlettner-Fassade schrieb: „Die Naturnähe dieses Pflanzenwerks bildet den Höhe- und Endpunkt einer Entwicklung, deren Anfänge in Frankreich liegen. Hier hatte bereits in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts da und dort die Neigung hervorzutreten begonnen, in die überkommene formelhafte Pflanzenwelt der Kapitelle Formen einzuführen, die der unmittelbaren Beobachtung von Pflanzen in W a l d und Wiese, Hecke und Hausgarten entstammten. Ganz hat sich diese Neigung aber erst in der Hochgotik durchgesetzt, wie man am besten in der Sainte-Chapelle in Paris (1243-1248), an den Langhauskapitellen der Kathedrale von Reims (nach 1241) und vor allem an der etwas späteren Innendekoration der Westwand der gleichen Kathedrale beobachten kann." 5 6 Die Frage nach der stilgeschichtlichen Abfolge der Chöre in Naumburg, Schulpforta und Meißen ist zwar beantwortbar, überzeugende Beweise für ihre unmit-
telbare stilgeschichtliche Abhängigkeit voneinander stehen aber noch aus. Im Gegenteil: Ihre stilgeschichtliche Verwandtschaft ist höchst zweifelhaft. Der Chor des Meißener Doms ist stilgeschichtlich jünger als die beiden andern Chöre. Er muß später als sie entstanden sein. 57 Offen bleibt, ob der Pförtner Chor später errichtet wurde als der Naumburger Westchor oder gleichzeitig mit diesem. Der geringe, aber bemerkbare Unterschied zwischen beiden - der Naumburger ist stilgeschichtlich etwas älter als der Pförtner - schließt gleichzeitige Entstehung keineswegs aus, zumal wenn man berücksichtigt, daß die Chöre von verschiedenen Bauhütten erbaut wurden. Die fortgeschrittenere „Zisterzienserhütte" könnte durchaus gleichzeitig mit der des Naumburger Doms bzw. Stifts gearbeitet haben. Ohne Zweifel entstanden die beiden Bauwerke, obwohl zeitlich und örtlich in unmittelbarem Nebeneinander, weitgehend unabhängig voneinander. Entweder nahm man sich in Schulpforta - und in Meißen - die Naumburger Ornamentik motivisch zum Vorbild oder Naumburg, Schulpforta und danach indirekt auch Meißen folgten in der Ornamentik einem gemeinsamen Vorbild oder sogar mehreren. Die Architektur läßt dagegen viel weniger motivische Parallelen erkennen. 58 Der Einfluß des Auftraggebers dürfte be52
Vgl.
LEHMANN/SCHUBERT
1969
wie
Anm. 21,
S. 5 5 - 6 2
und
75-76. 53
SAUERLÄNDER
1979
wie
Anm. 35,
S.
54
SAUERLÄNDER
1979
wie
Anm. 35,
S. 2 2 8 .
55
SAUERLÄNDER
1979
36
JAHN 1 9 4 4 w i e A n m . 2 0 , S .
wie
Anm. 35,
182.
S. 2 3 4 .
111.
5 7 Für spätere Entstehung sprechen auch die Meißener Standbilder. Sie sind eindeutig jünger als die Naumburger, nicht mehr früh-, sondern schon hochgotisch, wie demnächst ausführlicher nachzuweisen sein wird. — Es wird wohl dabei bleiben müssen: D e r Westchor des Naumburger Doms und die Stifterstatuen wurden nicht um 1 2 4 0 , sondern um 1 2 5 0 geschaffen. Für den Pförtner Chor liegt die Grundsteinlegung zu 1 2 5 1 und die Weihe zu 1 2 6 8 fest, für Meißen die Nutzung des neuen Domchors ebenfalls 1 2 6 8 , die Errichtung der Portalvorhalle Jahre danach. W e r bei dieser Sachlage an der Datierung der Meißener Standbilder in die frühen 5 0 e r Jahre festhalten möchte (SAUERLÄN-
DER 1 9 7 9
wie
Anm. 35,
S. 2 3 7 ,
D.
SCHUBERT 1 9 7 4
wie
Anm.
13,
S. 3 2 1 ) , müßte überzeugende neue Argumente dafür beibringen. 6 8 Trotz der zu Recht betonten Parallelen zwischen dem Meißener Domchor und dem Westchor des Naumburger D o m s : Gliederung der Pfeiler, Dienstbündel und Fenstergewände, Teilung der Gewölbe, Weinlaub- und Weintrauben-Motiv als Dekor der Schlußsteine im Polygon des Naumburger und im Rechteckjoch des Meißener Chors sowie die Tatsache, daß über dem Chorgestühl . Dorsale aus Stein und in beiden Chören in vergleichbarer Höhe Standbilder angeordnet wurden. Vgl. dazu LEHMANN/ SCHUBERT 1 9 6 9 wie Anm. 2 1 , S. 5 5 - 6 2 u. passim. - D i e andere Herkunft verdeutlicht schon ein Blick auf das Ä u ß e r e ; besonders auffällig ist die Verschiedenheit der Fenstermaßwerke, aber auch die der gesamten Dachzone, der Strebepfeiler und der Sockel.
Der Westchor des Naumburger Doms züglich der Gesamterscheinung der Architektur stärker gewesen sein als hinsichtlich der Ornamentdetails. D e s h a l b behauptete sich das „Zisterziensische" in der Architektur deutlicher als in der Bauornamentik. Wie weit motivische Abhängigkeit in der Architek-
183
tur gehen kann, zeigt der Vergleich des zwei Generationen später entstandenen Ostchorpolygons des Naumburger D o m s mit dem Polygon des Westchors. D a b e i wird auch schlagartig klar, wie groß die Unterschiede zum Pförtner Chor sind.
Klosterbaukunst und Landesherrschaft Zur Interpretation der Baugestalt märkischer Klosterkirchen
V o n ERNST BADSTÜBNER
Kirchen, die ihre Entstehung den mittelalterlichen Mönchsreformen verdanken - und um solche Kirchen handelt es sich in den folgenden Ausführungen gelten in ihrer Baugestalt als durch verbindliche Regeln festgelegt. Tatsächlich sind seit dem beginnenden 9. Jahrhundert Bemühungen des Mönchtums um eine geeignete Bauform für Kirche und Kloster nachweisbar. Das älteste Zeugnis dafür ist der Sankt-Galler Klosterplan aus der Zeit um 820. Aus der Mitte des 11. Jahrhunderts stammt die Beschreibung des italienischen Klosters Farfa, von der man vermutet, daß sie sich eigentlich auf das Kloster des burgundischen Reformzentrums Cluny bezieht und somit Mustercharakter für den erneuerten Benediktinerorden besaß. 1 Zisterzienser und Bettelorden warteten schließlich mit Bauvorschriften ihrer Generalversammlungen für die Klosterkirchen auf, die allerdings mehr den Charakter von Verboten als von Empfehlungen hatten. Empfohlene Muster, Vorschriften und Verbote verdeutlichen die Gesinnung des Mönchtums, das Erbauen der Kirchen in erster Linie als einen vom Nutzen und vom Zweck her bestimmten Vorgang zu verstehen. Aus keinem anderen gesellschaftlichen Bereich des Mittelalters gibt es so sachliche Äußerungen über Baunotwendigkeiten wie aus dem des Reformmönchtums. Beinahe modern mutet der Bericht von der Klostererweiterung in Clairvaux in der Vita des heiligen Bernhard an: Die ständig wachsende Zahl der Mönche verursachte „Wohnungsmangel", aber wegen des Kostenaufwandes widersetzte sich der Abt zunächst den Neubauabsichten. Doch die „ehrwürdigen Brüder im Rat" argumentierten: „Wenn Gott aufgehört hätte, Bewohner zu schicken, nachdem das, was zum Kloster gehört, vollendet war, könnte Deine Absicht bestehen, und es wäre ein vernünftiger Spruch, von den Arbeiten abzulassen. Da Gott nun aber täglich seine Herde vervielfacht, sind die, welche er schickt, entweder abzuweisen, oder es ist für eine Unterkunft Sorge zu tragen, in der sie aufgenommen werden können. Es ist nicht zu be-
zweifeln, daß, wer Bewohner im Sinn hat, auch Wohnungen bereitet. Gott aber verhüte, daß wir aus Angst vor den Kosten eine Entscheidung treffen, die zu solcher Verlegenheit führt." Also stimmte Bernhard schließlich den Plänen zu. 2 Diese auf das Praktische, auf Zweck und Nutzen und nicht auf Repräsentation gerichtete Mentalität hat die den Lebensformen der Mönche entsprechende Klosteranlage hervorgebracht, die, einmal im Sankt-Galler Klosterplan gefunden, mit nur geringfügigen Wandlungen während des ganzen Mittelalters gebaut worden ist. Und die gleiche aus reformmonastischer Intellektualität entspringende Gesinnung hat auch den Charakter der Kirchen des Mönchtums geprägt. Sachliches Denken ist die Ursache für die einfache schmuckarme Gestalt der Klosterkirche - mit klaren überschaubaren Begrenzungen von Baukörper und Raum, ohne hohe Türme, ohne figurenreiche Portale, ohne farbige Glasbilder und anderen bildnerischen Schmuck. Sicher hat das vom Mönchtum vertretene und immer wieder erneuerte Armutideal Anteil an dem Verzicht auf repräsentative Bauformen und Details. Sicher resultieren die Verbote dagegen aus dem auch im Mönchtum schwer zu unterdrükkenden Hang zur „Darstellung" im kultischen Dienst. Entscheidende Wirkung auf die Baugestalt aber hatte die reformmonastische Auffassung vom Kirchenbau als einem Werk, dem über seinen Zweck hinaus keine Bedeutung zukam. Wie jedes Kunstwerk schlechthin galt auch das Kirchengebäude dem Reformmönch als eine Sache, zu deren Herstellung Arbeit und Kosten aufgewendet werden mußten. So konnte seine Existenz auch keine transzendenten Inhalte ausdrücken und war über den Zweck hinaus 1 ADOLF METTLER, Die zweite Kirche in Cluni und die Kirchen in Hirsau nach den „Gewohnheiten" des 1 1 . Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichte der Architektur 3, 1909/10, S. 2 7 4 ff. Danach u. a. auch WOLFGANG BRAUNFELS, Abendländische K l o sterbaukunst, Köln 1 9 6 9 , S. 2 8 9 mit Quellenübersetzung. 2 Ebenda, S. 303.
Klosterbaukunst und Landesherrschaft bedeutungslos. Der Zweck war die Schaffung einer bergenden Hülle für die kultische Aktion. Es ist das frühchristliche Bau- und Raumideal, das vom Reformmönchtum tradiert wurde, und bei der Realisation waren die konstantinischen Basiliken Roms die Leitbilder, nicht nur bei den Cluniazensern und Hirsauern, auch bei den Zisterziensern und Prämonstratensern sowie bei den Bettelorden. Es mag zur Dialektik des Phänomens gehören, daß nun gerade durch diese Bezugnahme ein über den Zweck hinausweisender Inhalt in die Kirchenbaukunst des Reformmönchtums gekommen ist, der des Erinnerns und Gedenkens, ein Inhalt allerdings, der dem Rationalismus des Reformmönchtums nicht widerspricht und nichts gemein hat mit den Inhalten, die Kirchenbauten außerhalb des Mönchtums „tragen",um nichtzu sagen, verkörpern. In diesen schaute der Gläubige die „Stadt des großen Königs", das „Himmlische Jerusalem", den „Neuen Himmel", das „Neue Paradies." 3 Die Kirchenbaukunst des abendländischen Mönchtums hat Architektur- und Kunsthistoriker seit eh und je fasziniert. Der den Bauten abzuspürende Wille zu Form und Gestalt, die Ahnung von der diesen Willen durchsetzenden Kraft mag dazu beigetragen und vor allem den Historiker des vorigen Jahrhunderts angezogen haben. Die Behauptung von der Existenz regelrechter Ordensbauschulen, die ihre Kirchbautypen und auch ihre architektonischen und dekorativen Einzelformen über weite geographische Räume verbreitet hätten, kam schon am Ende des 19. Jahrhunderts auf. 4 Merkwürdiger- wie auch bezeichnenderweise wurde gegen diese Auffassung von der Internationalität der Ordensbauweisen vor und nach dem zweiten Weltkrieg Stellung bezogen mit dem Hinweis auf das angebliche Überwiegen kunstlandschaftlicher Eigenheiten auch in der Baukunst des Mönchtums. 5 Auffallend hielt sich die architekturikonologische Forschung gegenüber der Kirchenbaukunst der reformierten Mönchsorden zurück, vermutlich deshalb, weil die Klosterkirchen im Sinne der „Darstellung" oder des „Bedeutungstragens" tatsächlich nur wenig oder gar nichts hergeben. 6 Hinweise darauf fanden allerdings kaum Echo. 7 Die Vorstellung vom ausschließlichen Zweckcharakter eines dem Gottesdienst geweihten Werkes der Baukunst paßte schlecht in das traditionelle Kunstgeschichtsbild vom Mittelalter. Doch dürfte die Beobachtung, daß das Mönchtum an einer im Ursprung frühchristlichen, der bedeutungstragenden Bildhaftigkeit mittelalterlicher Sakralbau'kunst entgegengesetzten Baugesinnung fest-
185
hielt, den Widerspruch zwischen Internationalität und kunstlandschaftlicher Einbindung, der einer Würdigung der Kirchen der Reformorden im Wege steht, aufheben können. Gerade wenn man die als spezifisch erkannte Ordensbauweise im Blickfeld behält, fallen die Abweichungen oder Kompromisse, zu denen sich das Mönchtum auch in seiner Architektur „zwischen Ideal und Wirklichkeit" gezwungen sah, nur umso deutlicher ins Auge. Man wird die Ursachen architektonischer Demonstrationen repräsentativer wie antirepräsentativer Art eher zu erkennen vermögen und die ureigenste ästhetische Position wie auch die daraus resultierenden neuen künstlerischen Werte besser zu würdigen in der Lage sein. Unter diesen Gesichtspunkten soll im folgenden versucht werden, die Baugestalt von Kirchen der Prämonstratenser, der Zisterzienser und der Bettelorden in der Mark Brandenburg aus ihrem Entstehungszusammenhang mit der Schaffung einer Territorialherrschaft im 12. und 13. Jahrhundert heraus zu interpretieren. Der Aufbau dieser Territorialherrschaft begann, als 1134 Albrecht der Bär mit der Nordmark belehnt wurde. Albrecht entstammte dem Geschlecht der Askanier, dem vor allem im nördlichen Harzgebiet begüterten und mit Weifen und Staufern gleichermaßen verwandten Hause der Grafen von Ballenstedt-Aschersleben. Das Lehen erhielt er durch den Sachsenherzog und damaligen deutschen König Lo3 Von den grundlegenden Arbeiten zum angedeuteten Problem seien genannt: GÜNTER BANDMANN, Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger, Berlin 1 9 5 1 ; ROSARIO ASSDNTO, Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln 1 9 6 3 ; OTTO VON SIMSON, Die gotische Kathedrale, Darmstadt 1 9 6 8 . 4 Zusammenfassend C. H. BAER, Die Hirsauer Bauschule, Freiburg und Leipzig 1 8 9 7 . 5 Gegen die „Hirsauer" Bauschule; MANFRED EIMER, Über die sog. „Hirsauer Bauschule", in: Blätter für württembergische
Kirchengeschichte 4 1 ,
1 9 3 7 , u n d WOLFBERNHARD HOFFMANN,
Hir-
sau und die „Hirsauer Bauschule", München 1 9 5 0 . - Umfassend und
programmatisch
HANS
ERICH
KUBACH,
Ordensbaukunst,
Kunstlandschaft und „Schule", in: Die Klosterbaukunst. A r beitsbericht der deutsch-französischen Kunsthistoriker-Tagung Mainz 1 9 5 1 . 6 BANDMANN 1 9 5 1 wie Anm. 3, S. 2 3 6 ff., und Ders., Ikonologie der Architektur, Neudruck Darmstadt 1 9 6 9 (zuerst in Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 1 9 5 1 , S. 6 7 1 0 9 ) , S . 3 8 ff. 7
KARL HEINZ ESSER, Ü b e r d i e B e d e u t u n g d e r
Zisterzienser-
Kirchen, in: Die Klosterbaukunst, Mainz 1 9 5 1 , und Ders., Über den Kirchenbau des Heiligen Bernhard von Clairvaux, in: A r chiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 5, 1 9 5 3 . Auch ERNST BADSTÜBNER, Bemerkungen zur Kirchenbaukunst der monastischen Reformen im Mittelalter, in: Akten des Internationalen Kunsthistoriker-Kongresses 1 9 6 9 (Budapest 1 9 7 3 ) .
186
E R N S T BADSTÜBNER
thar von Süpplingenburg. Zum Belehnungszeitpunkt bestand das Lehnsgebiet nur aus der später so genannten Altmark westlich der Elbe. Gemeint war aber ohne Zweifel das schon einmal im 10. Jahrhundert bis 983 zum Reich gehörige und seitdem kontinuierlich beanspruchte Land der Slawen zwischen Elbe und Oder. 8 Dem Belehnungsakt muß der Gedanke der Wiedereroberung zugrunde gelegen haben: Die Ostexpansion war geplanter Bestandteil des Landesausbaues. Zur Gewinnung des slawischen Gebiets um die mittlere Havel scheint Albrecht zunächst die Mittel der Diplomatie eingesetzt zu haben, umso mehr, als ihm dort die entwickeltere Form einer Stammesherrschaft gegenüberstand, die vermutlich Reichsschutz genoß. 9 Das Land fiel ihm durch Schenkung und Erbe aus den Händen des letzten, bereits christlich getauften Hevellerfürsten Pribislaw-Heinrich zu: die Zauche als Eigengut schon um 1130 angeblich in Form eines Patengeschenks an seinen Sohn Otto, das gesamte Havelland mit dem Herrschaftsmittelpunkt Brandenburg nach dem Ableben Pribislaws um 1150. Das Erbe machte ihm allerdings Jacza von Copnic streitig. Albrecht mußte es im Bündnis mit Erzbischof Wichmann von Magdeburg kriegerisch erobern. Erst 1157 war er Herr von Brandenburg. Kriegerisch waren auch die Vorstöße Albrechts in die Prignitz 1136 und 1147. Im Zuge des Wendenkreuzzuges annektierte der den Askanier begleitende westelbische Grenzadel nach 1147 die Prignitz und die nordöstlich angrenzenden Gebiete um Dosse und Rhin. Er errichtete dynastische Kleinherrschaften, von denen einige, bei Anerkennung markgräflicher Landeshoheit, längeren Bestand hatten, die bedeutendste der Grafen von Ruppin bis 1524. 10 Wie es für den kleineren Territorialadel üblich war, sind auch in den erworbenen Landesteilen Klöster gegründet worden, doch gelangten diese Fundationen über eine lokale Bedeutung nicht hinaus. 11 Soweit die Gebäude der ersten Klosteranlagen nicht durch eine spätere Bautätigkeit aufwendig überformt worden sind wie in Heiligengrabe, zeigen sie sich von der herben Zweckmäßigkeit der Gründungszeit geprägt wie in Lindow und Zehdenick. Eine Ausnahme stellt die Dominikanerkirche in Neuruppin dar, auf die zurückzukommen sein wird. Den Vorstoß der Askanier in das ostelbische Slawenland begleiteten auch die Bischöfe von Brandenburg und Havelberg. Die Ämter waren nach dem Verlust der Bischofsburgen beim Slawenaufstand 983 ständig weiter besetzt worden. Seit Norbert von Xan-
ten 1126 den Magdeburger Erzbischofsstuhl bestiegen und im Magdeburger Liebfrauenkloster ein Stift des von ihm ins Leben gerufenen Klerikerordens der Prämonstratenser eingerichtet hatte, nahmen die ostelbischen Bischofssitze regulierte Kleriker ein. Solange und soweit die Ostexpansion missionarischen Charakter hatte, waren die Prämonstratenser Verbündete des landnehmenden Markgrafen. Die Kreuzzugsvorstellungen dürften zunächst mit aus prämonstratensischen Reihen gekommen sein. Nach der entscheidenden Predigt Bernhards von Clairvaux auf dem Frankfurter Reichtstag am 13. März 1147 beschritten auch die Zisterzienser diesen Weg. 12 Aus der Tatsache, daß die Askanier nach der Konsolidierung ihrer Herrschaft im Havelland um 1170 bemüht waren, den Einfluß der Prämonstratenser zurückzudrängen und für den weiteren Landesausbau Unterstützung bei den Zisterziensern suchten, wird geschlossen, daß die prämonstratensischen Domkapitel und ihre Bischöfe selbst territorialpolitische Interessen verfolgten, von denen vor allem die des Brandenburgers mit denen des Landesherrn kollidierten. 13 So kommt es, daß der monumentale Sakralbau in der Mark Brandenburg mit den Kirchen der Prämonstratenser einsetzt. Seine Anfänge sind verbunden mit den Namen Leitzkau, Jerichow, Brandenburg und Havelberg.
8 JOHANNES SCHULTZE, D i e Mark Brandenburg I, Berlin 1961, S. 65 ff. 9 HANS-DIETRICH KAHL, Slawen und Deutsche in der Brandenburgischen Geschichte des 12. Jahrhunderts, Bd. 1, Köln/ Graz 1964, vor allem S. 2 6 - 7 6 . 10
JOHANNES
SCHULTZE,
Der
Wendenkreuzzug
1147
und
die
Adelsherrschaften in Prignitz und Rhingebiet, in: Jahrbuch für Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 2, 1953. Siehe auch die Beiträge in: Heidenmission und Kreuzzugsgedanke in der deutschen Ostpolitik des Mittelalters. Hrsg. von H. BEUMANN, Darmstadt 1963. 11 WOLFGANG RIBBE, Zur Ordenspolitik der Askanier. Zisterzienser und Landesherrschaft im Elbe-Oder-Raum, in: Zisterzienser-Studien 1 (Berlin 1975), S. 89. - D i e Ähnlichkeit des Titels dieser Arbeit mit dem des vorliegenden Beitrages verdeutlicht, daß ich v o n ihr - dem Autor sei unbekannterweise gedankt - wesentliche Anregung empfangen habe. 12 LUDWIG SCHMUGGE, Zisterzienser, Kreuzzug und Heidenmission, in: D i e Zisterzienser, Ausstellungs-Katalog Aachen 1980,
S. 6 0 ;
HELENA
CHLOFOCKA
und
WINFRIED
breitung des Zisterzienserordens östlich von ebenda, S. 94. Vgl. auch Anm. 10. 13
RIBBE 1 9 7 5 w i e A n m . 1 1 , S . 9 4 .
SCHICH,
Elbe
Die
und
Aus-
Saale,
Klosterbaukunst und Landesherrschaft Stifts- und Domkirchen Leitzkau und
der
Prämonstratenser
Jericbow
Die Ortswahl der Prämonstratenser-Niederlassungen in Leitzkau und Jerichow hat spürbar strategischen Charakter. Leitzkau ragt förmlich auf seinem 60 Meter hohen Hügel aus den Elbniederungen empor und bildet gleichsam den Anfang des sich nach Osten erstreckenden Höhenzuges des Flämings, den die Erzbischöfe von Magdeburg als Weg für ihren Vorstoß in das Land Jüterbog, später auch in die Niederlausitz und bis an die Oder nutzten. Schon um die Jahrtausendwende hatte Leitzkau bei Kämpfen der Deutschen mit den Elbslawen und Polen eine strategische Rolle gespielt. Aber auch der Weg nach Brandenburg ist von naturbedingten Hindernissen verhältnismäßig frei, und so dürfte bereits die Besetzung des Ortes durch den Bischof Hartbert von Brandenburg zu Anfang des 12. Jahrhunderts und die bezeugte Weihe eines steinernen Kirchbaues 1114 die Absicht der Wiedereroberung des 983 verlorenen, aber als Institution nicht aufgegebenen Bischofssitzes an der Havel verraten. Das genannte Gotteshaus war der Maria, den Aposteln Petrus und Paulus, dem Erzdiakon Stephan und den Heiligen Martin und Cäcilie geweiht, wird aber meist als Peterskirche geführt. 14 Das Stephans-Patrozinium weist auf eine ursprüngliche Zugehörigkeit zum Bistum Halberstadt und auf die Tradition einer christlichen Einrichtung in Leitzkau hin, die älter als das Moritzkloster, auf jeden Fall aber älter als das Erzbistum in Magdeburg ist. Martin und Cäcilie deuten darüberhinaus auf frühe fränkische und rheinische Besiedlung. Das Peter-Pauls-Patrozinium schließlich wird später das der Brandenburger Kathedralkirche und scheint schon diese älteste Leitzkauer Kirche - ihre baulichen Reste sind in der heutigen Dorfkirche enthalten - als provisorischen Bischofsdom auszuweisen. Die Daten der Einrichtung eines Prämonstratenserstifts an dieser Kirche in Leitzkau schwanken zwischen 1128/33 dann unter Anteilnahme des Ordensgründers und Erzbischofs Norbert - und 1138/39 - dann durch den 1138 als Bischof von Brandenburg inthronisierten Magdeburger Prämonstratenser Wigger. 1 5 Der Konvent sollte als Domkapitel fungieren und besaß das Recht zur Bischofswahl. Vogt des Stifts wurde Albrecht der Bär, und zum ersten Mal begegnet uns hier die Gründung einer Ordensniederlassung in Zusammenhang mit der Entstehung der askanischen Landesherrschaft östlich der Elbe.
187
Die Kirche des Ortes Leitzkau - 1114 bezeugt, damals nur eine kleinere Kapelle, später dann (bis zur Weihe 1140?) zu einer kreuzförmigen Pfeilerbasilika mit Türmen über den Querschiffarmen neben der Vierung und einem langgestreckten, apsidial geschlossenen Chor, möglicherweise mit einer Krypta, ausgebaut 16 - , diese Kirche war nur kurze Zeit Sitz des Konvents. Um 1140 oder 1142/45 verlegte man ihn, angeblich unter Mitwirkung des Markgrafen, auf eine Höhe nördlich der Siedlung und begann dort mit dem Bau einer neuen Kirche und eines Klosters „Sancta Maria in Monte". 1155 wurde die Kirche durch Bischof Wigger geweiht; Erzbischof Wichmann und Albrecht der Bär waren zugegen. Gebaut worden war eine dreischiffige Basilika niedersächsischer Prägung. Der kreuzförmige Ostteil schloß mit halbkreisförmigen Apsiden am Chorquadrat und an den Armen des Querschiffes. Im Langhaus trugen Säulen und Pfeiler in unregelmäßigem Wechsel über neun Arkaden - die Neunzahl ist eine Reminiszenz an die Mutterkirche Unser Lieben Frauen in Magdeburg 17 die Obergadenwände des Mittelschiffes. Den westlichen Abschluß sollten zwei quadratische Türme zuseiten eines hohen Mittelbaues bilden. Die Türme sind nicht vollendet worden, lassen aber ebenfalls das am Vorbild der Liebfrauenkirche in Magdeburg orientierte Konzept deutlich erkennen. Typisch ist das
1 4 KAHL 1 9 6 4 wie Anm. 9, I, S. 1 1 4 . - Handbuch der historischen Stätten Deutschlands 1 1 : Provinz Sachsen Anhalt. Hrsg.
BERENT SCHWINEKÖPER, S t u t t g a r t 1 9 7 5 , S . 2 7 3 . , D GEORG DEHIO, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, Neubearbeitung. Der Bezirk Magdeburg, Berlin 1 9 7 4 , S. 2 4 5 : 1 1 3 3 . Historische Stätten 1 1 wie Anm. 1 4 , S. 2 7 3 : nicht 1 1 2 8 , sondern 1138/39. So auch KAHL 1 9 6 4 wie Anm. 9, II, S. 9 4 7 ,
und
SCHCJLTZE 1 9 6 1
w i e A n m . 8,
S. 6 9 .
DEHIO 1 9 7 4 wie Anm. 15, S. 2 4 5 f . : „Die romanische A n lage aus Rechteck-Chor (mit Krypta und Apsis?), Türmen über den Kreuzarmen und abgesetztem Westbau entwicklungsgeschichtlich bemerkenswert." Die Ableitung der Bauform von Marbach im Elsaß durch HANS KUNZE, Die kirchliche Reformbewegung des zwölften Jahrhunderts im Gebiet der mittleren Elbe und ihr Einfluß auf die Baukunst, in: Sachsen und Anhalt 1, 1 9 2 5 , S. 4 1 2 ff., wird unter Zuhilfenahme von RUDOLF KAUTZSCH, Der romanische Kirchenbau im Elsaß, Freiburg 1 9 4 4 , von KAHL bestritten ( 1 9 6 4 wie Anm. 9, II, S. 9 4 6 ff. entgegen I, S. 1 0 6 ff. und S. 4 5 9 ff.). Die Leitzkauer Peterskirche gilt KAHL nun als „in sehr viel unmittelbarer Weise der ältesten ostelbischen Prämonstratenserbaukunst" eingeordnet und als „ihr eindeutig frühestes Denkmal." 16
1 7 Sie tritt auch an der Kirche einer thüringisch-fränkischen Filiation des Magdeburger Liebfrauenstifts, an der 1 1 3 8 geweihten Klosterkirche zu Veßra auf (vgl. ERNST BADSTÜBNER, Die Prämonstratenser-Klosterkirche zu Veßra in Thüringen, Berlin 1 9 6 1 [ = Corpus der romanischen Kunst Mitteldeutschlands, Reihe A , Band 1]).
188
E R N S T BADSTÜBNER
1 Magdeburg, Liebfrauenkirche, Westbau aus den Westfluchten der flankierenden Türme vorspringende mittlere Turmhaus mit den zwei Rundfenstern über dem Portal. Breite gewölbte Treppen führen in den Seitentürmen zur Empore im Mittelbau. Wie in Magdeburg ist in diesem Westbaukonzept die Drei-
türmigkeit älterer Westwerke enthalten, einschließlich der mittleren Westempore für den Herrscher. Sollte nicht auch etwas von dem Bedeutungsgehalt 2
Jerichow, Prämonstratenserkirche, Westbau
190
ERNST BADSTÜBNER
der Westwerke - Zeichen des Da-Seins des weltlichen Herrschers in der Ekklesia - dem Leitzkauer Westbau innewohnen? Im regionalen Ordensverband der sächsischen Prämonstratenser könnte der Westbau aber auch als eine so bedingte, für die Baukunst des Ordens typische Form gelten, zumal sie in Jerichow nochmals mit deutlicher Bezugnahme auf Liebfrauen in Magdeburg, dem Mutterkloster der Circarie, auftritt.
3 Magdeburg, Liebfrauenkirche, Westbau. Nach Kunze 1925 wie Anm. 16
Der Gründungsvorgang in Jerichow war dem in Leitzkau nahezu gleich. Der Ort fiel 1144 aus dem Besitz der Grafen von Stade an das Erzbistum Magdeburg, und im gleichen Jahr richtete dieses auf Bitten des Havelberger Bischofs Anselm ein Prämonstratenserstift dort ein. Es wurde zunächst bei der Ortskirche St. Peter im zur Burg gehörigen Suburbium angesiedelt und 1148 auf bischöflich-havelbergisches Eigenland verlegt. 18 Die neue Kirche war der Maria und dem Heiligen Nikolaus geweiht, war Stiftskirche und Pfarrkirche für eine Marktsiedlung zugleich. Zusätzlich aber war ihr die vorläufige Funktion als Kathedralkirche des Bischofs von Havelberg zugedacht; der Jerichower Konvent beanspruchte noch bis ins 13. Jahrhundert, bei der Bischofswahl mitzuwirken. D a die Burg in Havelberg aber fast gleichzeitig wieder in Besitz genommen wurde und der zukünftige Dom dort um 1150 bereits im Bau gewesen zu sein scheint, hat die Jerichower Kirche in der Gestalt, in der sie erst in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstanden ist 19 - und in der wir sie heute kennen 18
Leitzkau, Prämonstratenserkirche St. Marien, 4 Rekonstruktion. Umzeichnung nach Kahl 1964 wie Anm. 9
Historische Stätten 11 wie Anm. 14, S. 228 ff. Bis jetzt letzte Zusammenfassung der noch nicht eindeutig geklärten Baugeschichte m DEHIO 1 9 7 4 wie Anm. 15, S. 213 ff., vgl. jetzt den Beitrag von PETER RAMM in diesem Band. 19
• • •
=T
Klosterbaukunst und Landesherrschaft
5 Jerichow, Prämonstratenserkirche. Nach Kunze 1925 wie Anm. 16 diese Funktion nie erfüllt: Als mäßig gestreckte Säulenbasilika mit Querschiff, dreischiffigem Chorteil und dreiteiligem Turmwerk ist sie durchaus mehr Stifts- oder Klosterkirche als Kathedrale. Mit dem Backstein, der möglicherweise erst im Verlauf der Baugeschichte den Bruchstein als Baumaterial ablöste, aber wurde sowohl gegenüber der Leitzkauer Marienkirche als auch gegenüber dem Havelberger D o m , die beide aus dem um Magdeburg verbreiteten Grauwacke-Bruchstein errichtet sind, ein neuer Ton in der ostelbischen Baukunst angeschlagen.
191
Abfolge etwas verwischten Stützenwechsel 2 1 keine deutlicheren Merkmale einer „Reform"-Kirche des 12. Jahrhunderts aufzuweisen hat,, verfügt die Prä-
D i e „defensio", die Schutzvogtei des Stiftes Jerichow, übernahm Albrecht der Bär, nach seinem T o d e wurde sie den Askaniern durch den Erzbischof streitig gemacht. W i e in Leitzkau finden wir den landnehmenden Markgrafen an der Grundlegung eines Chorherrenstifts beteiligt. Unter dieser Voraussetzung wird nun doch der dreitürmige Charakter der Westbauten in Leitzkau und Jerichow im Sinne einer Gestalt- und Bedeutungsrezeption relevant: D i e spürbare Bezugnahme auf Formen, die ihren Ursprung in der kaiserlichen und reichsadligen Bautradition haben, muß mehr als architektonische Manifestation des erobernden Territorialherren gesehen werden denn als Bestandteil ordenstypischer Baukunst. 2 0 D e r gefundene Bautyp erscheint dabei zusammen mit den Architekturformen der monastischen Reform durchaus als Zeichen des gemeinsamen Ziels der politischen und geistlichen Aktion.
20 Es sei die Vermutung geäußert, daß nicht nur der Westbau der Magdeburger Liebfrauenkirche, sondern auch der des erzbischöflichen Doms aus dem 10. und frühen 11. Jahrhundert das in Leitzkau und Jerichow rezipierte Vorbild war. Immerhin läßt der Westbau des gotischen Doms zumindest im Grundriß ein Konzept durchscheinen, das dem der in Rede stehenden prämonstratensischen Westbauten des 12. Jahrhunderts ähnelt, und es erscheint nicht ausgeschlossen, daß der im 13. Jahrhundert begonnene gotische Westbau des Doms eine Form wiederholen oder wenigstens Bezug auf sie nehmen sollte, die schon der Vorgänger besaß, ein dreitürmiges Westwerk, aus dem dann die Doppelturmfront mit hohem Zwischenbau wurde. Einen vorspringenden Mittelbau hatte der ottonische Dom nach den bisher veröffentlichten Grundrissen (ERNST SCHUBERT, Der Magdeburger Dom, Berlin 1974). Nicht bekannt ist, in welcher Höhe, und der Nachweis von Flankentürmen konnte durch Ausgrabungen nicht erbracht werden (Auskünfte von GERHARD LEOPOLD). Solange also die Westbaugestalt des Magdeburger Doms aus ottonischer Zeit unbekannt bleibt, wird man den Westbau der Liebfrauenkirche nur mit ferner liegenden Vorbildmötiven in Zusammenhang bringen können, was an sich unbefriedigend ist, weil die Rezeption territorial gebundener Bauformen gerade für diesen mit der Herrschaft und ihren Symbolen verbundenen Bauteil überzeugender wäre. Die tragenden Kräfte der Ostexpansion waren im 10. und 12. Jahrhundert Adelsgeschlechter aus dem Harz; Markgraf Gero spielte eine ähnliche Rolle in der frühen Phase wie Albrecht der Bär in der späten. So könnte auch der ottonische Westbau der Gernröder Stiftskirche in die Ahnenkette der prämonstratensisch-askanischen Westbauten des 12. Jahrhunderts gehören. Aus der Reihe der Vorfahren auf dem Wege des für den Magdeburger Raum nie versiegenden Einflußsttomes vom Niederrheingebiet (den Zusammenstellungen im Tafelteil von EDGAR LEHMANN, Der frühe deutsche Kirchenbau, Berlin 1949, zu entnehmen) sei nur der Westbau der Liebfrauenkirche in Maastricht erwähnt, der auch über die Okuli in der Westwand des Mittelhauses verfügt, ein Motiv, das um Magdeburg bis nach Berlin (St. Nikolai) Verbreitung fand.
Während die Marienkirche der Prämonstratenser in Leitzkau außer ihrer Längsstreckung, ihrer flachen Decke und ihrem zugunsten einer ununterbrochenen
21 DEHIO 1974 wie Anm. 15, S. 247: „ungewöhnlich der Rhythmus der engstehenden Stützen im Langhaus, ein einfacher Stützenwechsel ohne übergreifende Blendbögen beginnt im Osten mit zwei und endet im Westen mit einem Freipfeiler."
Klosterbaukunst und Landesherrschaft monstratenserkirche in Jerichow über ein ganz entscheidendes Element des benediktinischen Reformbautyps. An das Querhaus mit ausgeschiedener Vierung schließt sich ein dreischiffiger Chorteil an, mit drei halbkreisförmigen Apsiden in einer Flucht endend. Jerichow besitzt also zumindest als Motiv das cluniazensische dreischiffige Presbyterium. Aber das Jerichower Presbyterium hat keine „kommunizierenden", sondern durch geschlossene Wände vom Haupt-
6 Jerichow, Prämonstratenserkirche, Ansicht von Osten
7 Leitzkau, St. Marien, Mittelschiff nach Westen 13
Architektur
193
chor getrennte Kapellen als Nebenchöre, und in den Hauptchor und die Vierung ist eine Krypta eingebaut. Der Außenbau jedoch bietet das vollkommene Bild einer Choranlage der benediktinischen Reform. Eine solche muß neben der Magdeburger Liebfrauenkirche für Jerichow Vorbild gewesen sein. Nun haben die Augustiner-Chorherren mit der Liebfrauenkirche in Halberstadt und der Klosterkirche in Hamersleben schon früh, am Ende des 11. und
194
E R N S T BADSTÜBNER
8 Jerichow, Prämonstratenserkirche, Mittelschiff nach Osten
zu Beginn des 12. Jahrhunderts, vermutlich von Ilsen-
an eine Vorbildwirkung der genannten Bauten
am
burg her - entscheidend ist das Fehlen von Apsiden an den Querhausarmen, wie sie für hirsauische Filiationen typisch sind -
das Baukon2ept der clunia-
zensischen R e f o r m übernommen. Sie haben allerdings, was
den
Ostteil
anbetrifft,
Presbyteriumsschiffe
die A r k a d e n ,
miteinander
die
verbinden
die
sollen,
zu geschlossenen W ä n d e n gemacht. 2 1 3 B e i der Artverwandtschaft der (älteren)
Augustiner-Chorherren
und der (jüngeren) Prämonstratenser Klerikerorden
der Reformzeit -
beide sind
möchte man
doch
21a
Die
vom
Hauptchor
gustiner-Chorherren
und
getrennten
Nebenchöre
Prämonstratensern
bei
Au-
(Halberstadt,
Ha-
mersleben und J e r i c h o w ) erinnern an die „ C r y p t e s " seitlich v o m dort in
allerdings
Cluny
Interesse und
dreischiffigen
(Cluny I I ) .
In
sein,
die
daß
Chorquadrat
an
(eigentlich ein v o m
Presbyterium
diesem „Bunte
der
der
zweiten
Zusammenhang
könnte
Kapelle"
Nordseite
des
zwischen
Kirche es
Brandenburger
Hauptchor getrennter N e b e n c h o r
von
Querschiff Doms
oder
eine
C h o r n e b e n k a p e l l e nach dem V o r b i l d der Zisterzienserkirche
Leh-
nin) in einer Q u e l l e des 15. Jahrhunderts als „ K r y p t a " net
wird
und
nicht
etwa
V i e r u n g und Chorquadrat.
die
tatsächliche
bezeich-
Hallenkrypta
unter
Klosterbaukunst und Landesherrschaft Harz für Jerichow denken. 2 2 Hinzukommt die oberitalienische Erscheinung, verursacht nicht zuletzt durch das Backstein-Material, aber auch durch die Bauzier und die A r t der zum Schiff hin geöffneten, relativ hochgelegenen Krypta. Sie weist auf einen Zusammenhang mit Bauvorgängen am Harz und seinem nördlichen Vorland, auf Quedlinburg und Königslutter, hin, wo sich Reformerisches und Imperiales unter Beteiligung oberitalienischer Bauleute begegnet, vereinigt und überlagert hat. Aus diesen Quellen gespeist, entstand in Jerichow eine Kirche, deren Gestalt der Repräsentation der landnehmenden Mächte ebenso entsprach wie den Idealen der Reform. Trotz Turmfront und Krypta eignet dem Bau und vor allem seinem Raum in starkem M a ß e etwas vom Wesen frühchristlicher Basiliken als den eigentlichen Leitbildern der reformmonastischen Baukunst des Mittelalters. D a ß es sich aber nicht nur um Impulse der Reform gehandelt hat, sondern gleichsam um die Freilegung tieferer, älterer Schichten der Sakralbaugeschichte überhaupt, zeigt eine Analyse der „prämonstratensischen" D o m e in Brandenburg und Havelberg.
Brandenburg
und
Havelberg
D i e Prämonstratenserstifte in Leitzkau und Jerichow waren als provisorische Sitze der Bischöfe von Brandenburg und Havelberg gegründet worden. D i e Amtsinhaber übersiedelten, sobald die alten Bischofsburgen aus slawischer H a n d erobert waren, Anselm von Havelberg spätestens nach 1147 - als Diplomat in kaiserlichem Dienst hat er aber nur selten in seiner Residenz geweilt - und Wilmar von Brandenburg frühestens nach 1161. Wilmars Vorgänger, der 1160/61 starb, konnte die schon 1157 zurückgewonnene bischöfliche Burg auf der Havelinsel selbst noch nicht einnehmen. Ungeklärte Rechtsverhältnisse zwischen dem Markgrafen und einem reichsherrlichen Burggrafen scheinen dem entgegengestanden zu haben. 2 3 Aber Wigger hatte für seine und seines Ordens Anwesenheit in unmittelbarer N ä h e schon früher gesorgt, und zwar noch zu Lebzeiten des slawischen Inhabers der Burg und mit dessen, von Pressionen wohl nicht ganz freier Zustimmung. Zur Abwendung des Wendenkreuzzuges wird der bereits getaufte Pribislaw-Heinrkh 1147 die Ansiedlung eines Prämonstratenserstifts zugelassen haben. 2 4 Als O r t der Gründung wurde - wohl einem Wunsch des mis13*
195
sionsbewußten Ordens folgend - ein Platz zwischen dem slawischen Suburbium mit Namen Parduin und dem Harlunger Berg gewählt, auf dem sich eine der bedeutendsten heidnischen Kultstätten, das Triglawheiligtum, noch in Aktion befand. Aus dieser Gründungssituation heraus ergab es sich von selbst, daß die zum Stift gehörige Kirche nicht nur Zweckgebäude, sondern auch ein Zeichen sein mußte. Es hat sich vom Gründungsbau der Prämonstratenser in Brandenburg, von der Gotthardkirche, die später zur Pfarrkirche der aus dem Suburbium hervorgegangenen Altstadt Brandenburg wurde, der Rest einer aus Feldsteinquadern errichteten Doppelturmfassade erhalten. Über die Form des zugehörigen Langhauses und des Chores wissen wir nichts, dürfen uns aber analog zu Leitzkau eine basilikale Anlage in Kreuzform vorstellen. Auch der Brandenburger Gotthardkirche war Kathedralfunktion zugedacht, möglicherweise weit weniger provisorisch als in Leitzkau. D i e Baugestalt des doppeltürmigen Westbaus weicht entschieden von dem der Magdeburger Liebfrauenkirche ab, lediglich der große Entlastungsbogen über dem Portal erinnert an den Vorhallenbogen zwischen den Flankentürmen in Magdeburg. Aber die Dominanz des mittleren Turmhauses, die in Leitzkau und Jerichow so deutlich gewahrt blieb und diesen prämonstratensischen Westbauten den dreitürmigen Charakter gab, ist verschwunden. Es dominieren die beiden T ü r m e ; die mittlere Eingangsachse springt nicht vor, sondern tritt zurück. Neu ist das Radfenster über dem Portal, das den Eindruck einer Kathedralfassade verstärkt. 2 5 Im Grundriß erweisen sich die Türme als längsrechteckig mit tonnengewölbten Räumen, die mittlere Eingangshalle ist querrechteckig kreuzgratgewölbt. Im
22 Die Geschichte der Kirchenbaukunst des 12. Jahrhunderts im Gebiet der mittleren Elbe schrieb zuerst HANS KUNZE (1925 wie Anm. 16). D i e auf dem neueren Forschungsstand beruhenden
K o r r e k t u r e n in DEHIO 1 9 7 4 w i e A n m . 1 5 . 23
SCHULTZE 1 9 6 1
24
KAHL
25
1964
wie
wie
A n m . 8,
A n m . 9,
I,
S. 7 7 S. 2 3 6
ff. ff.
Es war bis 1906 vermauert. In der Vermauerung befand sich eine gekuppelte Rundbogenöffnung (Abbildung bei FRIEDRICH ADLER, Mittelalterliche Backstein-Bauwerke des Preußischen Staates, Band 1, Berlin 1862, S. 25). Bei der Herausnahme der Vermauerung wurden die beiden inneren Abtreppungen der Leibung hinzugefügt. PAUL EICHHOLZ, D i e Kunstdenkmäler von Stadt und D o m Brandenburg, Berlin 1912 ( = Kunstdenkmäler der Provinz Brandenburg II, 3), S. 3 f., vermutet als ursprünglichen Zustand nur eine Kreisblende. KUNZE 1925 wie Anm. 16, S. 452, hält dieses Radfenster für das älteste auf deutschem Boden, lombardisch oder burgundisch beeinflußt.
Klosterbaukunst und Obergeschoß findet sich die gleiche Raumdisposition und Wölbung, aber vereinigt zu einer im Mittelteil zum Schiff hin geöffneten Empore. Während die innere Einteilung mit den Westbauten der Stammklöster immerhin Vergleichbares aufweist, trägt die äußere Gestalt der Brandenburger Doppelturmfassade ganz andere Züge, die eine auch über die Funktion als Stiftskirche hinausgehende Bestimmung erwarten lassen. Diese Bestimmung ist in der beabsichtigten Nutzung als Kathedralkirche zu sehen. Es scheint beim Baubeginn in Parduin noch unklar gewesen zu sein, wann die angestrebte Rückkehr auf die als rechtmäßigen Besitz betrachtete Havelinsel möglich sein würde. Die Erhebung des Gotthardkonvents zum Domkapitel im Jahre 1161 durch Bischof Wilmar als Nachfolger des verstorbenen Wigger soll im Hinblick auf die alsbald bevorstehende Übersiedelung und mit Unterstützung Albrechts des Bären erfolgt sein. Im gleichen Jahr bestätigte Friedrich I. Barbarossa ebenfalls auf Betreiben Wilmars den
9
Brandenburg,. Gotthardkirche, Westbau
10 Brandenburg, Gotthardkirche, Westbau. Umzeichnung nach Eichholz 1912 wie Anm. 25
11
Brandenburg, Dom, Rekonstruktion
198
E R N S T BADSTÜBNER
Bistumsbesitz aus ottonischer Zeit auf dem nördlichen Teil der Burginsel. Trotz der so geschaffenen Voraussetzungen kam es erst 1165 zur endgültigen Niederlassung des Bischofs am angestammten Ort. Es müssen also Hindernisse im Wege gestanden haben, vermutlich die noch nicht gesicherten Ansprüche des Markgrafen auf das Eigentum an der Burg, mit denen er gegenüber der Domkirche die Rechte des Patrons und des Landesherrn zu gewinnen suchte. 26 Die Übersiedelung soll dann auf den Rat Albrechts des Bären vonstatten gegangen sein, woraus man auf eine Klärung der Verhältnisse schließen können müßte. Auf jeden Fall wurde am 11. Oktober 1165 der Grundstein für den Neubau des Brandenburger Doms gelegt. 1166 übersiedelte auch das Kapitel. St. Gotthard blieb bloße Pfarrkirche, und vielleicht sind die Nichtvollendung der Doppelturmfassade und die Reduktionen an der Eingangsseite eine Folge dieses Bedeutungsverlustes. Die Prämonstratenser in ihrer Eigenschaft als Herren der Diözese bauten auf dem Teil der Havelinsel, der schon in der ottonischen Gründungsurkunde von 948 dem Bischof als Residenzplatz zugewiesen worden war, nach 1165 eine Kirche - von Grund auf aus Backsteinen - über komplizierten Fundamentierungen und von beträchtlichen Ausmaßen. Als Baukonzept läßt sich unter einer gotischen Überbauung aus der Zeit um 1400 die Kreuzform der Ostteile, eine Halbkreisapsis nur am Chorquadrat, ein gestrecktes Langhaus - möglicherweise zunächst als einschiffiger Saal geplant, dann aber als Pfeilerbasilika ausgeführt 27 und eine doppeltürmige Westfassade erkennen. Nicht baukünstlerischer Aufwand im Detail, sondern die Dimensionen und vielleicht auch das in vollkommener Technik angewendete Baumaterial waren die Mittel, mit denen jetzt am wiedergewonnenen Ort der Sieg des christlichen Imperiums demonstriert werden sollte. Den Resten ist in noch stärkerem Maße als denen der Gotthardkirche der Wille zu eigener Gestaltung abzuspüren, unabhängig von den Formen, die für das Zusammenwirken von Orden und weltlichem Herrscher charakteristisch waren, selbst wenn man sich den vollendeten romanischen Dom in seiner Raumwirkung ähnlich wie die Klosterkirche in Jerichow wird vorstellen müssen. Das Fehlen der Querhausapsiden und die möglicherweise geplante Saalform des Langhauses haben die naheliegende Vermutung bestärkt, daß mit diesem Typ ein ottonischer Vorgängerbau in monumentaler Ausführung wiederholt sein könnte, und zwar über dem alten Standort. Letzteres ist zu-
mindest nach den Ergebnissen der Ausgrabungen unmöglich. Der Dom erhebt sich über den Kulturschichten der slawischen Burgsiedlung. Damit ist aber keineswegs ausgeschlossen, daß nicht doch ein älterer Bautyp mit eben dieser Bedeutung rezipiert worden ist. 28 Das Bemühen um Legitimation durch die Wiederholung traditioneller Formen ist ja ein in der Architekturgeschichte immer wieder zu beobachtendes Motiv, und es würde hier seinen Sinn voll erfüllt haben. Trotzdem wird die dreischiffige Anlage des Langhauses mit dem zweitürmigen Westbau nicht allzu lange auf sich haben warten lassen. 29 Es ist dem Rudiment des Westbaus nicht eindeutig zu entnehmen, welches Konzept, das Leitzkau-Jerichower oder das von St. Gotthard, das prämonstratensisch-askanische oder das prämonstratensisch-bischöfliche, wenn diese Alternativbezeichnungen einmal gestattet sind, ihm zugrunde lag. Das bischöfliche ist das wahrschein26
SCHULTZE
1961
wie
A n m . 8,
S. 7 8 f .
JOACHIM FAIT, Die Baugeschichte des Domes und seine Kunstschätze, in: 800 Jahre Dom zu Brandenburg. Hrsg. von JÜRGEN HENKYS, Berlin 1965, S. 25, und Ders., Dom und Domschatz zu Brandenburg, Berlin 1975, S. 12. 2 8 Ebenda, S. 8 f. - Auffallend ist das Auftreten einschiffiger Kreuzbauten in Beizig und Wiesenburg, in Wiesenburg mit einem „durchlaufenden" Querschiff ohne ausgeschiedene Vierung ganz besonders altertümlich wirkend, wegen der polygonalen Apsis am Chorquadrat aber erst in die Mitte des 13. Jahrhunderts datiert (Die Bau- und Kunstdenkmale in der DDR. Bezirk Potsdam, Berlin 1978, S. 32). - Zu den Ausgrabungen zusammenfassend KLAUS GREBE, Die Ergebnisse der Ausgrabungen in Brandenburg (Havel), in: Germanen - Slawen - Deutsche, Berlin 1968, S. 1 1 5 ff. 29 GEORG SCHEJA, Die romanische Baukunst in der Mark Brandenburg, Diss. phil. Berlin 1939, S. 48, hält das Langhaus für wesentlich später, aber auch nach einem Plan gebaut, der beim Baubeginn schon ganz vorgelegen hat. Die kreuzförmigen Pfeiler und die abgetreppten Arkadenbögen entsprechen den Formen des 1 1 7 0 geweihten Havelberger Doms und stellen deren Umsetzung aus Grauwacke-Haustein in Backstein dar. Auch mit den Chor- und Mittelschiffabmessungen folgt der Brandenburger Dom dem zu Havelberg. Wegen des Fehlens der „für die Jerichower Schule charakteristischen Segmentvorlage mit Trapezkapitell" wird ein Zusammenhang mit Jerichow, das SCHEJA ohnehin für jünger gilt, ausgeschlossen (S. 47). Doch erscheinen die östlichen Vierungspfeiler in Jerichow von denen in Brandenburg gar nicht so verschieden und die Abtreppung der Arkadenbögen findet sich hier wie dort. Halbsäulenformen und Trapezkapitelle treten als Wandvorlagen in der Brandenburger Krypta auf, aber dem Streit um deren Datierung sei jetzt keine weitere Meinung hinzugefügt. Jedenfalls schwanken die Datierungen für die Ausführung des Langhauses zwischen 1 1 8 0 (EICHHOLZ 1 9 1 2 27
w i e A n m . 2 5 , S. 2 3 4 ) u n d 1 2 2 0
(JULIUS KOTHE, F r i e d r i c h
Adler
und seine Bedeutung für die Geschichte der Architektur, in: Zeitschrift für Geschichte der Architektur 2, 1908/09, S. 217).
12
Brandenburg, Dom, Mittelschiff nach Osten
200
E R N S T BADSTÜBNER
sionsgeschichte entstanden w a r , den Willen des O r dens u n d der aus seinen Reihen hervorgegangenen Bischöfe zur E m a n z i p a t i o n v o m weltlichen Herrscher. D i e Aktionseinheit zwischen M a r k g r a f e n u n d P r ä m o n stratensern begann sich in dem M a ß e aufzulösen, in dem sich die bischöfliche Macht auf den althergebrachten, nun zurückgewonnenen Sitzen festigte. 3 0 Zu ähnlichen Ergebnissen f ü h r e n Beobachtungen in H a v e l b e r g . 1129 w u r d e Anselm, P r ä m o n s t r a t e n s e r wie Wigger u n d W i l m a r , ' z u m Bischof ernannt. Im Zuge der g e r a d e in G a n g k o m m e n d e n Ostexpansion m u ß es sein Ziel gewesen sein, den 9 4 8 b e g r ü n d e t e n , 9 8 3 aber w i e d e r verlorengegangenen Bischofssitz unweit der H a v e l m ü n d u n g zurückzugewinnen. E r erreichte es, nachdem auf sein Betreiben hin 1144 zunächst der Vorposten Jerichow eingerichtet w o r d e n u n d der H a v e l b e r g , der Platz f ü r eine vorauszusetz e n d e ottonische K a t h e d r a l k i r c h e u n d f ü r eine heidnische K u l t s t ä t t e zugleich - seit 1130 u m k ä m p f t u n d in ständig wechselndem Besitz - , nach d e m W e n d e n kreuzzug 1147 endgültig in deutsche H a n d gekommen w a r . W i e in B r a n d e n b u r g w a r auch der H a v e l berger Bischofssitz im 10. J a h r h u n d e r t auf d e m Bo-
Havelberg, Dom, Mittelschiffsarkaden der 13 Nordseite lichere. Schon an St. G o t t h a r d signalisierte das A b weichen von der Baugestalt, die in Leitzkau u n d Jerichow unter noch a n d e r e n Bedingungen der E x p a n Havelberg, Dom, Rekonstruktion. 14 Nach Schirge 1970 wie Anm. 31
30 RIBBE 1975 wie A n m . 11, S. 94, konstatiert Gegnerschaft der prämonstratensischen Bistumsherren zur Landesherrschaft. E i n e F ö r d e r u n g des O r d e n s durch die A s k a n i e r sei schon nach d e r M i t t e des 12. J a h r h u n d e r t s nicht m e h r erfolgt. Siehe auch FELIX
ESCHER
und
BRYGIDA
KÜRBIS,
Zisterzienser
und
Landesherren
östlich v o n E l b e u n d Saale, i n : D i e Zisterzienser. AusstellungsK a t a l o g Aachen 1980, S. 109. D e n endgültigen Zusammenbruch der O r d e n s a u s b r e i t u n g d o k u m e n t i e r t die Gcschichte des 1231 ins L e b e n gerufenen Klosters Gottesstadt bei O d e r b e r g als Nachfolgeinstitution eines Hospitals St. M a r i e n im slawischen D o r f Barsdin. D a s prämonstratensische Stift hatte keinen Bestand und ging 1258 in der Zisterziensergründung M a r i e n s e e auf (J. A. SCHMOLL gen. EISENWERTH, D a s Kloster Chorin und die askanische Architektur, Berlin 1961, S. 7 f.).
Klosterbaukunst und Landesherrschaft
15
Havelberg, Dom, Ansicht von Osten
201
nicht ergeben zu haben. König K o n r a d I I I . bestätigte die bischöflichen Besitzrechte 1 1 5 0 , ein J a h r später
den einer Reichsburg entstanden. Probleme wie in
auch Albrecht der B ä r , und die Bestätigungsurkunde
Brandenburg scheinen sich daraus im 12. Jahrhundert
enthält bereits den Hinweis auf die in Gang befind-
202
E R N S T BADSTÜBNER
16 Havelberg, Dom, südliches Seitenschiff nach Osten liehe
„Wiederherstellung"
der
Kathedralkirche. 3 1
D i e s e Nachricht beförderte die Annahme, daß auch
kannte,
einmal
ganz
abgesehen.
Ungewöhnlich
auch, gerade für eine Kathcdralkirche,
ist
das Fehlen
der Havelberger D o m auf der Grundlage eines otto-
des Querschiffes, und ebenso die
nischen Baues, j a mit Substanz aus dem 10. Jahr-
Kapellen, die das Chorj och flankieren und turmartig
hundert
überhöht w a r e n ; sicher nicht zufällig sollten später
errichtet
worden
sei. 3 2
Immerhin
ist
die
zweigeschossigen
Längserstreckung der romanischen Pfeilerbasilika, die
gotische G i e b e l und ein Satteldach über ihnen das
E n d e des 13. Jahrhunderts und um 1 4 0 0 gotisch über-
Vorhandensein
baut wurde, mit zehn Arkaden bei einem M a ß v e r -
den zweigeschossigen Kapellen seitlich des ursprüng-
hältnis der Seitenschiffe zum Mittelschiff von
eines
Querhauses
suggerieren.
Von
1:1,5
auffallend und in der Entstehungszeit um die M i t t e des 12. Jahrhunderts im niedersächsischen Raum ungewöhnlich, von der L a g e im Kolonisationsgebiet, das eine Tradition im monumentalen Bauen noch gar nicht
31
SCHULTZE
1961
wie
A n m . 8,
S. 7 2 ,
und
ALFRED
SCHIRGE,
D o m zu H a v e l b e r g , B e r l i n 1 9 7 0 , S. 1 2 u. a. 32
SCHEJA
1939
wie
wie A n m . 3 1 , S . 1 3 ff.
Anm. 29,
S. 2 2 ,
nach
ihm
SCHIRGE
1970
Klosterbaukunst und ¡Landesherrschaft
203
n j i n T L r i
Havelberg, Dom, 17 Querschnitt durch das Langhaus nach Westen, Rekonstruktion. Nach Schirge 1970 wie Anm. 31 lieh mit einer nachgewiesenen großen Halbkreisapsis geschlossenen Chorhalses waren auf jeden Fall die oberen zu den Seitenschiffen mit (noch erhaltenen) rundbogigen Doppelarkaden geöffnet und die unteren mit Sicherheit gewölbt, über einer mittleren Stütze in vier Jochen, so wie es im gotischen Zustand auch der Fall ist. Wenn die Zungenmauern, die die östlichen Kompartimente der Erdgeschoßkapellen räumlich trennen und dadurch je zwei Kammern bilden, romanischen Ursprungs sind, dann ergibt sich, zumindest im Grundriß - das ist schon erkannt worden 33 - , eine Wiederholung der Ostpartie des ottonischen Magdeburger Doms, allerdings in der Form, wie sie erst unter den Erzbischöfen Tagino (1004 bis 1012) und Hunfried ( 1 0 2 3 - 1 0 5 1 ) entstanden w a r : eine große Halbkreisapsis, die von zwei quadratischen Türmen eingefaßt wird. 3 4 Bekannt sind nur die ausgegrabenen Teile des Kryptengeschosses. In das Mauerrund der Apsis sind fünf Nischen eingetieft. Die flankierenden Räume der Turmkeller werden durch eine Zungenmauer in zwei stollenartige Kammern geteilt. Bisher hat man in diesen Kammern die Grablegen des Kaiserpaares gesehen. Falls die Magdeburger Anlage auf Havelberg vorbildlich gewirkt hat, wären über den vermuteten Grabkammern Kapellen ähnlicher Anordnung in den Turmuntergeschossen vorauszusetzen. 342 Die Entstehungszeit in Magde-
burg schließt den ottonischen Ursprung in Havelberg aus, nicht aber die Rezeption im 12. Jahrhundert.
33
SCHEJA 1 9 3 9
wie Anm. 29,
S. 2 1 ,
u n d SCHIRGE 1 9 7 0
wie
Anm. 31, S. 14. 3 4 ERNST GALL, Karolingische und ottonische Kirchen, Burg 1 9 3 0 , S. 2 9 , u n d DEHIO 1 9 7 4 w i e A n m . 1 5 , S . 2 6 4 u. a. A n d e r s
SCHHEJA 1939 wie Anm. 29, S. 21, Anm. 14, der eine bei dieser Datierung notwendige Verlegung der Kaisergräber im 11. Jahrhundert von anderer Stelle (aus der Krypta im Westbau?) für unmöglich hält. SCHEJA rechnet die Havelberger Ostteile zu den „frühen Ostturmbauten" (?) der Prämonstratenser. Sein Hinweis auf das Siegelbild mit viertürmigem Dom auch bei SCHIRGE 1970 wie Anm. 31, S. 15 und Abb. 6. SCHEJA erkennt Ansätze für Westtürme nach C. PLATHNER, Der Ausbau der Westseite des Domes zu Havelberg, in: Die Denkmalpflege 45, 1912, in den Seitenteilen der Glockenstube und hält die viertürmige Erscheinung des Domes auf dem Siegelbild für verbindlich. Das Siegelbild überliefert auch die Ostapsis, die inzwischen durch Schürfungen gesichert ist (SCHIRGE 1970 wie Anm. 31, S. 15). Die Zuweisung des Ostgrundrisses an die Zisterzienser (KUNZE 1925 wie Anm. 16, S. 458 f.) ist hinfällig. Vgl. auch SCHUBERT 1974 w i e A n m . 2 0 , S. 1 3 ff., u n d GERHARD LEOPOLD in d i e s e m
Band.
Die Deutung der Stollen als Grabkammern widerspricht dem Befund (vgl. GERHARD LEOPOLD in diesem Band, S. 77). Für die Gestalt der Turmräume fehlt jeder Anhalt. Die im folgenden für möglich gehaltene Vorbildlichkeit Magdeburgs für die doppelgeschossigen Seitenkapellen in Havelberg, Lehnin und Chorin muß dahingehend eingeschränkt werden, daß die Idee aus oder über Magdeburg gekommen sein kann. Als Urbild könnte St. Maximin in Trier, die Mutterkirche des Moritzklosters, in Frage kommen (vgl. SCHIRGE 1970 wie Anm. 31, S. 7 und 343
LEHMANN 1 9 4 9 w i e A n m . 2 0 , S. 1 2 6 ) .
204
ERNST BADSTÜBNER
18 Havelberg, Dom, Westbau
Vielleicht hat die Längsstreckung des flachgedeckten Baues, die auffallende Breite der Seitenschiffe und die ungewöhnlich flache Neigung der rekonstruierbaren romanischen Seitenschiffsdächer ebenso in einer solchen Rezeption ihre Ursache. 3 3 Schließlich gingen die Bauherren der Havelberger Domkirche im 12. Jahrhundert, die ja w i e in Brandenburg Prämonstratenser waren, auch mit dem Westbau eigene Wege, die keinerlei Beziehungen zu denen der Stiftskirchen ihres Ordens in Jerichow und Leitzkau erkennen lassen: ein Querriegel im Charakter eines Bergfriedes oder Wohnturmes, als Fluchtburg und zur Verteidigung eingerichtet, der sich in Gestalt und Funktion aus der Entstehungssituation erklärt, und der vorbildlich w u r d e für Kirchturmtypen vor allem im ostelbischen Kolonisationsgebiet.
Der Westbau läßt heute am deutlichsten erkennen, d a ß der ganze romanische Dom in Havelberg aus Grauwacke erbaut worden w a r w i e die Kirche in Leitzkau und das Liebfrauenkloster in M a g d e burg. Backstein tritt zuerst im Ostflügel der Klausur auf, der zur Domweihe im J a h r e 1170 vollendet gewesen sein kann. 3 6 Hält man die Grauwacketechnik
33
SCHIRGE
1970
wie
Anm. 31,
S. 18,
Abb. 4,
und
DEHIO
1974 wie Anm. 15, S. 176. Nicht ohne Reiz und in den Rahmen der „Ottoncnrezeption" passend ist die von KUNZE 1925 wie Anm. 16, S. 456, geäußerte Vermutung einer fünfschiffigen Planung. Sollten die beiden Rundbogenarkaden als Eingänge zu den Kapellenstollen in den Osttürmen - ähnlich wie Doppelarkaden an den Seitenschiffsenden in der Hildesheimer Michaeliskirche oder des Marienmünsters von Reichenau-Mittelzell - Fünfschiffigkeit assoziieren? 36
DEHIO 1 9 7 4 w i e A n m . 1 5 , S . 1 8 3 .
Klosterbaukunst und Landesherrschaft
205
für die ältere und setzt auch in Jerichow die Backsteintechnik schon bei Baubeginn nach 1150 voraus, dann ergäbe sich für den Baubeginn auf dem Havelberger Domhügel durchaus schon die Zeit vor 1150, 3 7 in einem engen Anschluß an Magdeburger Bauvorgänge im dortigen Liebfrauenkloster, was das Material anbetrifft. Was die Formen anbetrifft, die Pfeiler besonders, folgte man zwar Vorbildern, denen auch das Liebfrauenkloster verpflichtet war, und die in der burgundisch-südwestfranzösischen Heimat der kirchlichen Reformen zu suchen sind, die aber auf die schon ältere Liebfrauenkirche noch keinen Einfluß hatten. D e r ottonische D o m in Magdeburg und die Liebfrauenkirche aus dem späteren 11. Jahrhundert waren Säulenbasiliken; darin folgten ihnen die ostelbischen D o m e des 12. Jahrhunderts nicht (wohl aber die Klosterkirchen). Im Raumcharakter jedoch, mit den weiträumigen Proportionen und der Längsstreckung werden sie die Kirchen in Magdeburg, den D o m vornehmlich, zum Vorbild gehabt haben. Durch den ersten gotischen Umbau nach dem Brand von 1279 ist die weitere Einwirkung derselben, nun bereits gotisch neu- und umgebauten Kirchen der Elbmetropole auf den Havelberger D o m bezeugt.
im ostelbischen Gebiet beim Beginn monumentaler Bautätigkeit, getragen vom Klerikerorden der Prämonstratenser, zur Aufnahme von Frühformen des Sakralbaues. D i e Kirchen, die in eine gerade erst zum christlichen Glauben bekehrte, bis dahin heidnischslawische Umwelt gestellt wurden, lassen in ihrer Baugestalt - doch wohl nicht zufällig - Bezugnahme auf die Traditionen der Reichskirche und auf das frühe Christentum erkennen. W o der Landesherr an der Gründung Anteil hatte, fand das Motiv des dreitürmigen Westbaues Eingang. An den Bischofssitzen, die ältere Gründungen waren, wurden die Kathedralmotive hervorgehoben. Es entstanden Bauten im Charakter des 10. und frühen 11. Jahrhunderts, nicht aber im Charakter des 12. Jahrhunderts. Vergleiche mit den Dombauten in Ratzeburg und Lübeck verbieten sich von daher; an eine Wölbung im gebundenen System ist im ostelbischen Gebiet vor dem Eintritt der Zisterzienser in die Landesgeschichte nicht gedacht worden.
Wie in Brandenburg ist die Gestalt des Havelberger Domes in erster Linie von einer bischöflichen Bauabsicht geprägt; das in Leitzkau und Jerichow so deutliche landesherrlich-askanische Element scheint keinen Anteil zu haben. Eindeutiger als in Brandenburg sind rezipierte Formen auszumachen, die auf die Gründungszeit der Bistümer zurückgehen. D e r an Frühchristliches erinnernde Charakter der flachgedeckten Räume, wie er in Leitzkau teilweise, in Jerichow noch vollständig erhalten ist, und wie wir ihn für Brandenburg und Havelberg, hier durch die Langhausstreckung auch mit dem typischen Wegbaugedanken verbunden, vorauszusetzen haben, war den deutschen Kathedralen um 1000 ebenso eigen wie den späteren Kirchen der benediktinischen Reform, zu denen gerade Jerichow mit seiner Chorpartie eine Beziehung aufweist. 3 8 D i e Reformkirchen kannten aber einen ausgeprägten Westbau, der immer das Zeichen weltlicher Macht war, nicht, zumindest nicht nach dem Ideal ihres Bauprogramms. Anders die Kathedralkirchen; sie verfügten über Doppelturmfassaden oder, vor allem wenn die Reichsgewalt als Bauherr mit eine Rolle gespielt hat, auch über dreitürmige Westwerke, wie sie für eigenkirchliche Stiftungen üblich waren. 3 9 Unter den Entstehungsbedingungen der Ostexpansion des 12. Jahrhunderts kam es
D e r Orden von Citeaux besaß in der Mark Brandenburg nur zwei Niederlassungen von Bedeutung, Lehnin und Chorin. Das 1234-1236 durch den polnischen Grafen Bronisz gegründete und von Lehnin aus besiedelte Kloster Paradies nördlich von Swiebodzin (Schwiebus), das in der zweiten H ä l f t e des 13. Jahrhunderts in den Herrschaftsbereich der Askanier gelangte, und das erst 1299 durch Markgraf Albrecht III. gestiftete Himmelpfort standen, sowohl im Hinblick auf ihre Rolle in der Territorialpolitik als auch im Hinblick auf ihre baukünstlerische Gestalt, im Schatten der großen Zisterzen. Zisterzienser-Nonnenklöster gab es in den nördlichen Randlandschaften, Marienfließ und Heiligengrabe in der Prignitz und Lindow und Zehdenick im Land Ruppin. 4 0 Die
Klosterkirchen
37
DEHIO
1974
der
Zisterzienser
wie A n m . 15,
S. 2 1 4 .
SCHEJA
1939
wie
Anm.
29, S. 17, stellt wegen seiner Spätdatierung Jerichows „die Domkirche des Bistums an den Anfang der Entwicklung", vgl. daselbst auch Anm. 12. 38 EDGAR LEHMANN, Der frühe deutsche Kirchenbau, 2. Aufl., Berlin 1949, S. 37 und S. 71. 39
FRIEDRICH MÖBIUS, W e s t w e r k s t u d i e n ,
Jena
1968,
S. 1 1
und
S. 57 f. 40 RIBBE 1975 wie Anm. 11, S. 89, betont die Grenzsicherungsfunktion dieser Gründungen auch bei der Abgrenzung von kleindynastischen Herrschaften. So erscheint Heiligengrabe als markgräfliche
Gegengründung
Edlen Gans zu Putlitz.
(1287)
zu Marienfließ
(1231)
der
206
ERNST BADSTÜBNER
Askanier gingen verhältnismäßig spät an die Gründungen und offensichtlich erst, als für den Landesausbau Aufgaben und Interessen entstanden, denen die Prämonstratenser nicht mehr entsprechen konnten und auch nicht entsprechen wollten, vor allem nicht mehr als Inhaber gefestigter Diözesangewalt. In letzterer Eigenschaft haben die Prämonstratenser in der Landesgeschichte weiterhin eine entscheidende Rolle gespielt - die im 18. Jahrhundert vom Erdboden verschwundene viertürmige Zentralkirche aus dem 13. Jahrhundert auf dem Harlunger Berg bei. Brandenburg w a r ein von Hypertrophie gewiß nicht ganz freies Zeichen „des Triumphes der prämonstratensischen Mission" ( S C H M O L L ) - , aber die damit verbundenen Machtinteressen haben sie in Konfrontation zu den Markgrafen gebracht. Die Bevorzugung der Zisterzienser auch bei Aufgaben der noch nicht abgeschlossenen territorialen Erweiterung und bei der Grenzsicherung des gewonnenen Landes seit dem späteren 12. Jahrhundert ist jedenfalls sehr deutlich. 4 1 Schon die erste Gründung, Lehnin, hatte Grenzschutzfunktion gegenüber dem magdeburgischen Zisterzienserkloster Zinna bei Jüterbog, das 1171 von Erzbischof Wichmann, an sich einem Verbündeten des Markgrafen, ins Leben gerufen worden war. 4 2 D a ß sich das landesherrliche Interesse am Orden auch in der Baugestalt der Klosterkirchen widerspiegelt, wäre nach den Beobachtungen an der älteren prämonstratensischen Architektur östlich der Elbe mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zu erwarten, wüßte man nicht um die strenge und anhakende Befolgung von Bauvorschriften bei den Zisterziensern, die dies, nämlich die Anwendung baukünstlerischen A u f w a n d e s zum Zwecke der Repräsentation, verboten. Die gefundenen Kompromisse, das darf vorweggenommen-
werden, haben in Lehnin und Chorin zu singulären Leistungen geführt und den märkischen Zisterzienserbauten zu europäischem Rang verholfen.
Lehnin 1180 gilt als das Gründungsjahr Lehnins. D i e Anfänge sind von Legenden umwoben, die als realen Kern Schwierigkeiten mit der Unwirtlichkeit der Gegend (eine Marienerscheinung verhindert die versuchte Flucht) und der offenbar noch feindlichen Bevölkerung (Ermordung des ersten Abtes Sibold) erkennen lassen. 4 3 D i e endgültige Besiedelung von Sittichenbach aus erfolgte 1183; die Bestätigung der
4 1 RIBBE 1 9 7 5 wie Anm. 11, S. 94 ff. Trotz dieser überzeugenden Feststellung darf man aber wohl die Rolle, die die agrikultureilen Erfahrungen des Ordens bei Rodung und Urbarmachung für diese Bevorzugung gespielt haben, doch nicht unterschätzen. 4 2 RIBBE 1 9 7 5 wie Anm. 11, S. 8 3 . Ein vergleichbarer. Vorgang in Thüringen: 1 1 4 3 gründeten die Grafen von Schwarzburg-Käfernburg das Zisterzienserkloster Georgenthal, um ihr Territorium v o r der Ausdehnung der Landgrafen von Thüringen von deren 1085 gegründetem hirsauisch reformierten Benediktiner-Kloster Reinhardsbrunn aus zu schützen (Handbuch der historischen Stätten Deutschlands 9 : Thüringen. Hrsg. von HANS PATZE, Stuttgart 1 9 6 8 , S. 1 3 2 ) . 4 3 JOHANNES SCHULTZE, Lehnin. 7 5 0 Jahre Kloster- und Ortsgeschichte (mit bisher unbekannten Ansichten des 18. Jahrhunderts), Bernburg 1 9 3 0 , S. 5 : „Wie wir aus den Schenkungsurkunden der Markgrafen erfahren, w a r die Umgegend Lehnins zu jener Zeit nichts weniger als menschenleer." Archäologische Beweise konnten dafür allerdings bis jetzt noch nicht beigebracht werden.
19 Lehnin, Zisterzienserkirche. Nach Ullmann 1980 wie Anm. 44
Klosterbaukunst und Landesherrschaft neuen Stiftung durch das Generalkapitel des Ordens lag schon 1182 vor. 1184 starb Markgraf Otto I., er fand seine Grabstätte in dem von ihm gegründeten Kloster. Lehnin war seitdem Hauskloster und Begräbnisplatz der brandenburgischen Askanier. W i e es zu dieser Zeit mit den Baulichkeiten des Klosters aussah, ist unbekannt und auch, wann mit dem bestehenden Monumentalbau der Klosterkirche begonnen worden ist. Zuwendungen an Grundbesitz über das Klosterland der unmittelbaren Umgebung hinaus erhielt Lehnin in größerem Umfang erst von Ottos I. Nachfolgern. Die Schenkung des Zehnten in elf Dörfern durch Bischof und Domkapitel in Brandenburg im Jahre 1195 wird mit den ersten größeren Baumaßnahmen, mit dem Beginn der Errichtung des Ostteils der Kirche und der Klausur in Zusammenhang gebracht. 44 Die verwirrende Vielfalt der Details und die vervollständigende Wiederherstellung der als verbaute Ruine überkommenen Klosterkirche in den Jahren 1872 bis 1877 erschweren eine definitive Aussage über die Baugeschichte und die Herkunft der Einzelformen. 45 Eindeutig ist die auf eine längere Bauunterbrechung weisende Zäsur zwischen dem östlichen und den vier westlichen Jochen des Langhauses, eine für den Bauablauf in Zisterzienserklöstern typische Zäsur: Man baute von der Kirche zunächst nur den Ostteil, das Chorquadrum, das Querhaus mit den Nebenkapellen und den Mönchschor soweit, wie er über die Vierung in das zukünftige Langhaus hineinreichen sollte. Dann führte man allein die gleichzeitig begonnene Klausur weiter und vollendete den Komplex erst mit dem Westteil der Kirche, der den Laien vorbehalten war. In Lehnin bezeichnet ein erheblicher stilistischer Bruch diese Zäsur, den Bruch zwischen Romanik und Gotik in der märkischen Backsteinarchitektur. Obwohl die Ostteile in sich nicht einheitlich sind - es wird für einen zunächst niedriger geplanten Bau plädiert, der nach einem Planwechsel erhöht wurde und erst am Ende der Bauvorgänge seine Kreuzrippengewölbe erhielt 46 - , kann man sie im ganzen noch als romanisch ansprechen. Viel schwerer fällt es, das Zisterziensische namhaft zu machen. Es sind nicht die Halbkreisapsis und die quadratischen Seitenkapellen auf den Grundrißabmessungen der Querschiffarme, die irritieren. Apsiden sind, zumal in der älteren südfranzösischen, in der für einen niedriger geplanten Erstbau ja die wahrscheinlichsten Vorbilder zu finden wären, aber auch in der frühen deut-
207
schen Zisterzienserarchitektur durchaus gebräuchlich. 47 Ungewöhnlich sind - von der Zeitstellung einmal abgesehen - die möglicherweise durch nachträgliche Erhöhung verursachte Doppelreihe von je fünf Fenstern in der Apsis und die Zweigeschossigkeit der Seitenkapellen, deren Obergeschosse sich nebenchor- oder emporenartig zum Chorquadrum öffnen. Zwar ist das Zisterziensische im Gesamthabitus keineswegs unterdrückt, und es war mit den die Ostwand des Querschiffes anlaufenden Pultdächern über den Seitenkapellen, wie es Beckmanns Zeichnungen aus dem 18. Jahrhundert wiedergeben, 4 8 noch deutlicher. Um so mehr aber tritt dadurch die Größe und die hoheitsvolle Form der Apsis hervor. In der Zisterzienserarchitektur gibt es Vergleichbares nicht. Als verwandt und möglicherweise vorbildlich sind genannt worden: St. Georges-de-Boscherville (RICHARD HAMANN), Payerne ( G E O R G SCHEJA) und St. Lazare in Autun (ERNST ULLMANN). Die beiden letzten Beispiele würden nach Burgund weisen, ins Ursprungsland nicht nur der Zisterzienser, sondern der benediktinischen Reformen überhaupt, und eine entsprechende Beeinflussung durch die vom Harz bis ins Kolonisationsgebiet bauenden Reformorden der späteren Cluniazenser (Ilsenburg und St. Ulrich in
4 4 ERNST ULLMANN, Die Klosterkirche zu Lehnin, 4. Aufl., Berlin 1 9 8 0 , S. 12, entgegen RICHARD HAMANN, Deutsche und französische Kunst im Mittelalter II: Die Baugeschichte der Klosterkirche zu Lehnin und die normannische Invasion, Marburg 1 9 2 5 , S. 9, der den Apsissockel als den ältesten Teil „nach 1 2 1 5 " entstanden denkt. - SCHULTZE 1 9 3 0 wie Anm. 43, S. 7, rechnet um 1 1 9 0 mit einer Konsolidierung der Verhältnisse. 4 5 Zeitschrift für Bauwesen 28, 1 8 7 8 , S. 4 7 1 . - Zu den (sich oft widersprechenden) Herkunftsbestimmungen vgl. HAMANN
1925
wie
Anm. 44,
SCHEJA
1939
wie
Anm. 29,
S. 7 0 ff.,
und
ULLMANN 1 9 8 0 w i e A n m . 4 4 , S . 1 2 ff. 4 6 ULLMANN 1 9 8 0 wie Anm. 44, S. 13, der eine Erstplanung mit Tonnenwölbung oder flacher Decke für möglich hält. 4 7 A n südfranzösischen Beispielen können genannt werden die erst aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts stammenden Klosterkirchen in Senanque, Le Thoronet und Flaran (M.-AN-
SELME
DIMIER
/ JEAN
PORCHER,
L'art
cistercien,
Paris
1962).
Ein Blick auf diese Bauten bietet eine Reihe von Vergleichsmöglichkeiten, nicht nur mit Lehnin, sondern mit den frühen Backsteinbauten in der Mark überhaupt. Bei dem Anteil, den die Reformarchitektur an deren Entstehung ohne Zweifel hat, ist ein Zusammenhang mit der burgundisch-südfranzösischen Baukunst nicht undenkbar. Im Grunde zielten schon HANS KUNZES Überlegungen 1 9 2 5 in diese Richtung; das Elsaß galt ihm als die vermittelnde Kunstlandschaft (besonders engagiert die Schlußpassagen S. 4 7 4 ff. [wie Anm. 16]). Entsprechende Merkmale, die in die gleiche Herkunftsrichtung weisen, in Lehnin jedoch fehlen, finden sich auch an dessen Nachfolgebauten. Eine besondere Bedeutung in diesem Sinne scheint der Nikolaikirche in Treuenbrietzen zuzukommen. 48
SCHULTZE 1 9 3 0 w i e A n m . 4 3 , S . 4 3 A b b . 2 u n d S . 4 7 A b b . 4 .
Klosterbaukunst und Landesherrschaft Sangerhausen),
der
Augustiner-Chorherren
(Lieb-
209
ten salischen und staufischen Zeit zugrunde, die mit
frauen Halberstadt und Hamersleben), der Hirsauer
mehrgeschossiger Gliederung wie in Lehnin die hori-
(Kloster B e r g e bei Magdeburg und Königslutter) und
zontale Gelagertheit betonen und nicht die V e r t i k a l e
der Prämonstratenser
und
wie die französischen Beispiele? 5 3 U n d sollte nicht
seine Filiationen) auf den ersten Zisterzienserbau in
auch die Absicht zugrundeliegen, mit der B a u f o r m
der M a r k ist nur zu wahrscheinlich. 4 9 D i r e k t e Zu-
die
sammenhänge mit Jerichow sind unübersehbar.
Die
chen zu sein, das Anspruch auf imperiale Machtgel-
Doppelgeschossigkeit der Seitenkapellen ist in
Ha-
(Liebfrauen
Magdeburg
velberg vorgegeben, und bei verwandter
pelgeschossigkeit
findet
sich
den Augustiner-Chorherren und
steht vielleicht
mit
gestellt. 5 0
andererseits
D i e Dopauch
bei
(Petersberg bei H a l l e ) 5 1 der
bisher
ungeklärt
ge-
bliebenen Vorliebe der regulierten K l e r i k e r für die hochliegenden
Hallenkrypten
mit
Eingangsfronten
in Lettnerform in einem Zusammenhang (Liebfrauen Halberstadt,
Wechselburg,
Liebfrauen
Magdeburg,
Jerichow, D o m Brandenburg). In der Kirche des Zisterzienserklosters Pforte (Schulpforta) resultiert die Zweigeschossigkeit
der Kapellen
am Querhaus
der Baugeschichte: tonnengewölbte
zu
übernehmen,
aus
Parallelkapellen
vom romanischen B a u unter der gotischen Aufstokkung mit Kreuzrippengewölben. 5 1 a In der Lehniner F o r m blieb die Seitenchor-„Empore" bei den Zister-
49
den
südfranzösischen
Grundriß
und
Klosterkirche
in
die
Zisterzienserkirchen,
Gestalt
Zinna
der
Zurück zur Apsis, deren Gestalt weit mehr anzumit
schem Bauen. Liegt ihr nicht doch die
reformeriÜbernahme
des Motivs der großen rheinischen Apsiden der spä-
20 Lehnin, Zisterzienserkirche, Ansicht von Osten
21 Lehnin, Zisterzienserkloster, Ansicht von Osten, Zeichnung von Johann Christoph Beckmann. Nach Schultze 1930 wie Anm. 43 14
Architektur
was
auch
aber
als
die maghat zu
den
markgräflichen
Bauten
verstanden
werden
kann.
Möglich
allerdings, d a ß in der ersten L e h n i n e r B a u p h a s e für eine niedriger
beabsichtigte
Kirche
ein
mit
Zinna
stärker
verwandter
Plan vorgelegen hat. 50
SCHEJA 1 9 3 9 w i e A n m . 2 9 , S . 7 9 .
51
ULLMANN
51A
1980
wie
Anm. 44,
S. 13.
J . A . SCHMOLL gen. EISENWERTH, D a s K l o s t e r Chorin und
die askanische Architektur, Berlin 1 9 6 1 , S. 1 0 7 ff., tritt für einen engen Z u s a m m e n h a n g
Chorins mit Schulpforta ein, versteht ihn
a b e r ausschließlich stilistisch und bezieht ihn auf die einschiffige Chorform mit polygonalem Schluß (S. 1 2 9 ) , erwähnt d a b e i auch die Doppelgeschossigkeit in Chorin
allein
auf
der Seitenkapellen nicht und führt die
Lehnin
B e s p r . von SCHMOLL, i n : D L Z 52
zurück. V g l . 84, 1963
auch JOACHIM
FAIT,
( 1 ) , Sp. 6 4 .
HORST DRESCHER, D e r D o m zu Stendal, Studien zur spätphil. D i p l . A r b e i t
(Ms. im Institut für D e n k m a l p f l e g e ,
Berlin).
-
Berlin
Ob
nicht
auch die spätgotischen K a p e l l e n a n b a u t e n mit zum C h o r oder zum Langhaus geöffneten E m p o r e n pfarrkirchen,
mehrfach
unter
an zahlreichen dem
Namen
märkischen
Martyrchor
Stadtbekannt
(Frankfurt/Oder, Fürstenberg, F ü r s t e n w a l d e , Angermünde u. a . ) ,
alters eine R o l l e gespielt. 5 2 als Zusammenhänge
angeht,
die
dort
allem
deburgische Gründung ein gar nicht ..askanisches" G e p r ä g e
bewußtem Bezug auf Lehnin, wurde sie in Chorin der märkischen Baukunst bis ans E n d e des Mittel-
ist,
vor
und geradezu als architekturgeschichtliches K o n t r a s t p r o g r a m m
1955
wiederholt. Als Architekturmotiv hat sie jedoch in
Ostteile
zu vergleichen
ziensern einmalig. In abgewandelter Form, aber mit
scheint
Zei-
V g l . A n m . 4 7 , zu d e r nachzutragen ist, d a ß mit den
genannten
gotischen Architektur in der A l t m a r k ,
zeigen
hoheitsvolles
Grundriß-
form wäre selbst Lehnin noch in die Tradition des ottonischen Magdeburger D o m s
Bedeutung
einen Zusammenhang damit haben, sei zumindest als F r a g e aufgeworfen. 53
Ähnlich
ERNST ULLMANN, D a s
Zisterzienserkloster
Lehnin
und die Entstehung der Backsteingotik in der M a r k B r a n d e n b u r g , in: Wiss.
Zeitschrift
der
Ernst-Moritz-Arndt-Universität
Greifs-
wald, gesellschafts- und sprachwiss. R e i h e 2 9 , 1 9 8 0 (2/3), S. 2 9 .
210
ERNST
BADSTUBNER
22 Lchnin, Zistcrzicnscrkirchc, Mittelschiff nach Osten tung verrät? 5 ' 1 W i e d e r könnten nur die Landesher-
die
ren für die Durchsetzung einer solchen Absicht in
wirken, teilen ihn kraftvoll und überspannen
Frage kommen. D e m Orden lag der Vortrag eines derartigen Bedeutungsanspruches fern. in der Literatur oft verwirrende Herleitung der Formen einmal beiseite und betrachten die letztlich ja 1270
geweihten Klosterkirche, dann tritt uns im Langhaus trotz der frühgotischen Details maulbronnischer Provenienz ein romanisch proportionierter Raum entgegen. D i e gewichtigen Gurte, deren Vorlagen
HEINRICH
54
1953,
Lassen wir die komplizierte Baugeschichte und die
entscheidende Gesamtheit der Baugestalt der
flankierenden
durch
S. 5 0 .
ger
LÜTZELER,
Die
sammenhang
Domkrypta
weise
zwar
Dom
Chores
(auch
Fünf-Zahl
Vom
Fünf-Zahl
in
erst
mit
am
Havelbcrg)
in d e r o t t o n i s c h e n
auffallend
der
Fenster
haben.
enthalten, schon
Sinn
der
eine Bedeutung
Magdeburger ottonischen
Rippendienste
Sie
Bauformen, könnte
ist in
Bezugnahme könnte
1165
aber
auf als
den
nes
Planes
und
seine
stilistischen
sein.
u n d A n h a l t 4 , 1 9 2 8 , S . 3 1 8 , A n m . 2 0 , h ä l t sie a l s der
fünf
Kapellen
am
Daß
gotischen
Chorumgang
für
die war,
HERMANN
die H e r k u n f t
Voraussetzungen,
des
möglicher-
Magdeburger Apsis enthalten
C h o r des D o m e s zu M a g d e b u r g ,
Zu-
gotischen
Rezeption
beweisen die fünf Nischen der ausgegrabenen K r y p t a . GIESAU, D e r
Freiburg
Brandenbur-
Bau
gewesen
weit
diesem
der
begonnenen
vorhanden
in
reich
in:
sei-
Sachsen
Voraussetzung möglich.
Klosterbaukunst und Landesherrschaft
211
23 Lehnin, Zisterzienserkirche, Mittelschiff nach Westen w i e Triumphbögen den W e g zur Tribuna, nicht anders als in einem kaiserlichen Dom. D i e für zisterziensisches Bauen so typische Längsstreckung kommt wenig zur Geltung. „Wie w ü r d e das zum Chor hinziehen, wenn der G r u n d r i ß in zehn oblonge Joche statt der jetzigen fünf quadratischen zerlegt w ä r e ! " (RICHARD H A M A N N ) . Ein Blick in die Seitenschiffe, deren Gestalt und Proportion uns aber nur in der Wiederherstellung des vorigen Jahrhunderts überliefert ist, ließe eine in diesem Sinne mögliche W i r k u n g spüren, wären nicht auch hier die schweren rundbogigen Gurte (im Mittelschiff sind sie leicht gespitzt) und die reich abgetreppten Pfeiler und W a n d 14*
vorlagen, die den wenig steilen R a u m in ruhende Kompartimente gliedern. D i e Wölbung im gebundenen System über einem nach dem quadratischen Schematismus konstruierten Grundriß bestimmt den Raumcharakter. Traten sonst die romanischen Kaiserdome am Rhein als die programmatischen Gegenspieler zur reformmonastischen Baukunst in Erscheinung, 5 0 so begegnet uns in Lehnin eine ihnen verw a n d t e Baugesinnung.
5 5 EDGAR LEHMANN, Über die B e d e u t u n g des Investiturstreites für die deutsche hochromanische Architektur, i n : Zeitschrift des Vereins für Kunstwissenschaft 7, 1940.
212
E R N S T BAIJSTÜBNER
25 Lehnin, Zisterzienserkirche, Ansicht von Westen
Rhythmus frühgotischer Fensterpaare und spitzbogiger Doppelblenden, r,(i von einem ornamentierten Plattenfries nieder- oder mittelrheinischer Herkunft unter dem Dachansatz begleitet (innen verläuft ein solcher unterhalb der Fenstersohlbänke); Unterbrechungen durch Strebepfeiler fehlen. Die Westfassade widerspiegelt den basilikalen Querschnitt des Langhauses. Der zisterziensische Charakter des Bauwerks scheint vollkommen. An der Westfassade fällt jedoch das Fehlen der Vorhalle und des mittleren Einganges auf. Beides ist an die Nordseite, in die beiden westlichen Joche des Seitenschiffes verlegt. D i e Vorhalle hatte nach Norden einen Giebel und verfügte über ein Obergeschoß, das man von einem nördlich der Kirche stehenden Gebäude aus über einen gedeckten Gang erreichen konnte. Diesen Zustand zeigen Beckmanns Zeichnungen; 5 7 der heutige stammt aus dem 19. Jahrhundert, das aber im übrigen der Westfassade, von einigen gestalterischen Freiheiten in der Giebelzone abgesehen, zu ihrer originalen Wirkung verhalf.
24 Lehnin, Zistcrzienserkirche, südliches Seitenschiff nach Westen
Hat man den Gedankengang bis zu solchem Vergleich vorangetrieben, muß man ihn sofort unterbrechen, wenn man an die Betrachtung des Außenbaues geht. Selbstverständlich bleibt Turmlosigkeit Bedingung für einen Kirchenbau der Zisterzienser, und außen wird auch in Lehnin spürbar, was Richard Hamann innen vermißt: D a „zieht" der Obergaden des gestreckten Mittelschiffes wirklich „hin" mit dem
Fassade ist eigentlich nur die Westwand des Mittelschiffes, sie aber von Grund auf ganz bewußt (deshalb der Verzicht auf Vorhalle und Portal): dreigeschossig mit blendengegliedertem Sockel und zwei Fensterreihen darüber, wie eine Korrespondenz zur Apsis anmutend. D i e Dreizahl der Fenstergruppen kehrte ursprünglich im Giebel noch einmal wieder als Blendengruppe, von drei Kreisblenden oder Okuli umgeben. Eingefaßt wird diese Wand, die von den breiten Fenstern mit reich profilierten Gewänden geradezu gotisch aufgerissen anmutet, von zwei
;>(L
SCHEJA
1939
wie
ANM. 2 9 ,
eines Turmgliederungsmotivs
von
hält sie für der
die
Harlunger
Übertragung Bergkirche
in
B r a n d e n b u r g durch die gleiche Bauhütte. 57
SCHULTZE
Seit wann
Obergeschoß habt haben.
1930
wie
Anm. 43,
Abb. 1
es diesen Zustand gegeben könnte
die
Funktion
und
S. 4 7
Abb.
hat, ist unbekannt.
einer Herrschaftsempore
4.
Das ge-
214
E R N S T BADSTÜBNER
26 Lehnin, Zisterzienserkirche, Ansicht von Westen, Zeichnung von Johann Cristoph Beckmann. Nach Schultze 1930 wie Anm. 43
Strebepfeiler-Treppentürmen nung scheint
(diese
die einzig mögliche).
stärkere enthält
tatsächlich
MischbezeichDer
eine T r e p p e
nördliche, zu
einem
Kegelhelme in nicht ganz eindeutig erkennbarer Ausführung aufstiegen. Sie dürften auf jeden Fall den turmartigen
Abschlüssen
im
Choriner
Westgiebel
Laufgang zwischen den beiden Fensterzonen und zum
weit ähnlicher gewesen sein, als es die heutige Form
D a c h . D e r südliche entspricht ihm in seiner äußeren
aus dem 19. Jahrhundert vermuten läßt. D a ß sie von
Gestalt, ist aber nur Attrappe.
der Marienkirche auf dem Harlunger Berg bei B r a n -
Sollten beide T ü r m e mehr sein, mehr bedeuten?
denburg
beeinflußt
sein
könnten, will
man
gerne
U m die Frage positiv zu beantworten, was nach der
glauben. 5 9 Trotz der von der Ordensbauweise
Zielstellung des vorliegenden Beitrages notwendiger-
zwungenen Reduktion lassen die übernommenen Form-
weise zu erwarten ist, muß noch einmal die Her-
elemente
kunftsproblematik
tragender Bauteil sein sollte: M i t dem
berührt
werden.
„fast wie eine K o p i e von St.
Normannisch,
Georges-de-Boscher-
erkennen,
daß
die
Fassade
ten Mittelteil und den flankierenden
er-
bedeutungsübergiebel-
Strebepfeilern,
ville" nennt Richard Hamann die Lehniner Fassade.
die T ü r m e meinen, ist sie das Abbild der Dreiturm-
Alle weiteren Bearbeiter lehnten dies jedoch ab, und
gruppe eines Westwerkes. M i t dem Laufgang zwi-
das wohl zu Recht. D i e Hinweise auf die Zisterzienserarchitektur
selbst
-
schon
die
bernhardinische
Klosterkirche von Fontenay hatte doppelte Fensterreihen sowohl an der Chor- wie auch an der West-
58
HAMANN
1925
wie Anm. 44,
S. 16,
kannte
die
BECKMANN-
schen Zeichnungen noch nicht, die SCHEJA 1 9 3 9 w o h l als erster ausgewertet und zur Ableitung d e r F a s s a d e n - und
Turmmotive
fassade erhalten - und auf das Rheinland sind über-
aus dem Rheinland benutzt hat (wie A n m . 2 9 , S. 8 2 ) . D i e
von
ULLMANN
Mit
zeugender. 5 8 Wichtig ist für diese Ableitung die ur-
einem E x k u r s zur F r a g e der normannischen Einflüsse, M s . H a l l e
sprüngliche Gestalt schlüsse, wie fern. D i e
des Giebels und der
sie Beckmanns
gestaffelte,
Dreierblende
findet
von
Turmab-
Zeichnungen
drei
Kreisen
überlieumgebene
sich am Ostgiebel des Bonner
Münsters. Sie ist dort die vereinfachte Form rheinischer Chorgiebelgestaltungen, wie sie in Speyer und Mainz mit Fünferblenden vorkommen. D i e
Strebe-
pfeilertürme in Lehnin hatten kleine Aufsätze mit Giebelabschlüssen,
die
mit
Dreierblenden
gefüllt
waren, ähnlich wie an vielen Türmen des Rheinlandes, auch in B o n n , auch in Speyer, und hinter denen
1956)
( E R N S T ULLMANN, K i r c h e
vorgenommene
EISENWERTH, D a s
und
Rekonstruktion
Kloster
Kloster
bei
zu
J. A.
Lehnin.
SCHMOLL
Chorin und die askanische
gen.
Architek-
tur in der M a r k B r a n d e n b u r g 1 2 6 0 bis 1 3 2 0 , B e r l i n 1 9 6 1 , S . 1 5 6 . 59
SCHEJA 1 9 3 9 w i e A n m . 2 9 , S. 8 2 . -
S o w e i t man die Zeich-
nung BECKMANNS deuten k a n n , erinnern die K e g e l h e l m e an T u r m aufsätze in W o r m s (St. P a u l ) und U m g e b u n g (Guntersblum, A r o l s heim u. a . ) , die in b e m e r k e n s w e r t e r W e i s e kleinasiatischen chenmodellen
gleichen
(vgl.
auf dem I I . Internationalen in J e r e w a n German
1978
-
Berücksichtigung
hat: The Teil II,
in der deutschen der
das
H.
Central Plan
1981,
of the
gemauerten
krönungen [ T a f e l n 7 2 - 7 8 ] ) .
S. 2 3 8 - 2 5 6 :
Spätromanik
Kir-
HOFRICHTER
Possible R e l a t i o n s to A r m e n i a n
tecture, im P r o t o k o l l b a n d tralbaugedanke
Referat,
Symposium über Armenische
gehalten
Romanesque
das
unter
„rheinhessischen"
Der
Kunst Late ArchiZen-
besonderer Turmbc-
Klosterbaukunst und Landesherrschaft sehen
den beiden
über
die
Fensterreihen
Reminiszenz
Schließlich
assoziiert
an die
eine
verfügt sie innen Herrscherempore. 6 0
motivische
zwischen Apsis und Westfassade
Entsprechung
Doppelchörigkeit.
E s stellt sich heraus: Beim Bau einer Klosterkirche der Zisterzienser wurden einen Vorgängerbau
-
ohne Anknüpfung
und unter den Zwängen
an der
strengen Bauvorschriften des Ordens - Bauideen der frühen Kaiserzeit rezipiert wie an den großen Domen des 13. Jahrhunderts. Wieder meinen wir, hinter
solchen
Intentionen
den
Repräsentationswillen
215
•
• • • •
• •
der Landesherrschaft erkennen zu können, die unter der
gemeinschaftlichen
Regierung
der
Johann I. und Otto I I I . ( 1 2 2 5 - 1 2 6 6 / 6 7 )
Markgrafen einen Hö-
hepunkt ihrer Machtstellung im Territorium und im Reich erlangt hatte.
Chorin Im Jahre 1 2 5 8 teilten die Markgrafen Johann und Otto ihr Herrschaftsgebiet für ihre Nachkommen in
27 Mariensee, Zisterzienserkirche, ergrabener Grundriß des Chores. Nach Schmoll 1961 wie Anm. 58
ein der johanneischen Linie, auch die ältere oder die Stendaler genannt, und in ein der ottonischen jüngeren oder Salzwedeier Linie gehörendes Land. D e r älteren Linie fiel der nördliche Teil von Prignitz und Havelland und die gesamte Uckermark zu, der jüngeren die anderen Teile der nordwestlichen schaften
Land-
sowie Zauche, Teltow und Barnim. 6 1
Im
gleichen J a h r vollzogen die beiden Markgrafen, in Anwesenheit
der
Bischöfe
von
Brandenburg
und
Cammin, die Stiftung eines neuen Zisterzienserklosters, Tochter von Lehnin selbstverständlich, aber im Gebiet des Markgrafen Johann, in der südöstlichen
halten sind nur die Fundamente vom Chor, der mit allen drei Schiffen gerade in einer Flucht schloß. D i e Form des Grundrisses ist mit englischen Zisterzienserkirchen, aber auch mit Hude bei Oldenburg verglichen worden. 6 4 Aufschluß über den Aufbau, Basilika oder Halle mit oder ohne Querschiff, haben die Grabungen nicht erbracht. Wesentlich
ist,
daß
Chorseitenkapellen mit Sicherheit fehlten. In diesem Punkte hatte sich die Filia ganz entschieden vom Vorbild des Mutterklosters gelöst, und zwar doch wohl
Uckermark gelegen: Mariensee auf der Insel Pehlitzwerder im Parsteiner See. Als „donatio magnifica" wurde die Erstausstattung mit Grundbesitz bezeichnet, zu dem auch das Vermögen des eingegangenen Prämonstratenserstifts Gottesstadt und des Hospitals in Oderberg gehörten. 6 2 Im Jahre 1 2 6 0 übersiedelten die ersten Mönche aus Lehnin mit einem bereits ordinierten A b t ; ein Conradus magister operis, ein Baumeister oder Bauleiter, war unter ihnen. Von den Gebäuden, die während der kurzen Lebensdauer der neuen Stiftung zu bauen begonnen wurden,
inter-
essieren hier nur die Reste der großen Kirche. 6 3 G r o ß deshalb, weil ihre Abmessungen sowohl die der Kirche des Mutterklosters als auch die der Kirche der Nachfolgeniederlassung in Chorin überboten (Mittelschifisbreite 8 , 8 0 m, Seitenschiffsbreite 5 , 1 0 m). Er-
60
SCHMOLL 1 9 6 1
61
BERTHOLD
wie A n m . 5 8 , S. 1 4 5 .
SCHULZE, B r a n d e n b u r g i s c h e
bis 1 3 1 7 , Berlin
Landesteilungen
1258
1928.
6 2 JOACHIM FAIT, Zur Geschichte von Chorin, in: Chorin, Gestalt und Geschichte eines ehemaligen Zisterzienserklosters, Leipzig 1 9 8 0 , S. 107 f. 6 3 SCHMOLL 1 9 6 1 wie Anm. 58, S. 2 7 , hält näher am Ufer gefundene Fundamente für Reste eines „provisorischen Gebäudes kirchlicher A r t . " 64
SCHMOLL
1961
wie
Anm. 58,
S. 3 3 .
Man
muß
vielleicht
auch auf die küstenländischen Bauten in Kloster Hiddensee und Neuencamp-Franzburg hinweisen, die auf ähnlichem Grundriß und mit für die Ordensbauweise geradezu befremdlichen Ausmaßen zum Hallensystem übergehen (M. HERTEL, Ausgrabung der Zisterzienserklosterkirche Neuencamp, in: Wiss. Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwiss. Reihe 10, 1 9 6 1 , S. 3 3 7 - 3 5 8 ) . W i e weit auch Zusammenhänge mit den frühen zisterziensischen Hallen in • Marienstern und Neuzclle möglich sein könnten, soll dahingestellt bleiben. H E I N R I C H M A G I R I U S h ä l t sie f ü r
ausgeschlossen.
216
E R N S T BADSTÜBNER
28 Chorin, Zisterzienserkirche. Nach Georg Prange, Das Kloster Chorin, Berlin 1973
nicht nur in der Bauform, sondern auch in den liturgischen Bräuchen. D i e Durchführung aller drei Schiffe bis zur gemeinsamen Endung in einer Flucht schuf die Möglichkeit, die Komposition der Lehniner Westfassade in Mariensee an die Ostseite der Kirche zu übertragen. Man vermutet eine solche Absicht auf Grund des Treppenansatzes im südlichen Chorstrebepfeiler, und die Vorstellung von einer über dem steilen Seeufer aufragenden türm- und giebelreichen Schauwand entbehrt nicht einer gewissen Großartigkeit. O b sie Realität war, ist fraglich, obwohl der 1266 verstorbene Markgraf Johann I. in Mariensee bestattet worden ist, was einen nicht gänzlich vollendeten, aber immerhin einen benutzbaren Chorbau voraussetzt. Fest steht, d a ß zwischen 1270 und 1272 die Verlegung des Klosters beschlossen und 1273 vollzogen wurde; warum und wer die treibende K r a f t war, ist nicht bekannt. 6 5 Die drei Söhne Johanns waren sicher entscheidend daran beteiligt, und es liegt nahe, G r ü n d e der Landespolitik anzunehmen. Die radikale Beseitigung einschließlich der Tilgung der für späte Zisterziensergründungen so typischen Verbindung des Namens mit dem der Maria, läßt auf eine energische Maßnahme schließen. Das neue Kloster erhielt seinen Namen von dem Dorf und dem See Koryn, bei denen es angelegt wurde. 1275 waren
die Kirche und die Klausur in Chorin bereits im Bau begriffen. 66 Die Kenntnis von der in, Mariensee begonnenen Kirche versetzt uns in die Lage, eine nicht ganz unwesentliche Feststellung über regionale ordensgeschichtliche Vorgänge zu machen. Ein vergleichender Blick auf die Grundrisse der Klosterkirchen in Mariensee und Chorin zeigt, daß der in Mariensee vollzogene Schritt zu einem neuen Bautyp und damit vermutlich auch zu einer neuen Form der Liturgie in Chorin wieder zurückgenommen wurde. Die Choriner Ostteile erhielten die Form von Lehnin: ein rechteckiges Chorjoch mit frei vortretender Apsis, nun als 7/12 Polygon 67 , und doppelgeschossige Sei65 GUSTAV ABB, Geschichte des Klosters Chorin, i n : Jahrbuch für.brandenburgische Kirchengeschichte 7 / 8 , 1 9 1 1 , S. 96. 66 WALTER SCHLEYER, D i e Baugeschichte des Klosters Chorin, Prenzlau 1 9 2 8 , S. 7. 67 SCHMOLL 1 9 6 1 w i e A n m . 5 8 , S. 9 3 , nennt die „sieben Seiten des Z w ö l f e c k s die größte A n n ä h e r u n g polygonaler Gestaltung an die halbrunde Apsis." A n anderer Stelle (S. 1 2 9 u. a.) nimmt SCHMOLL d e n E i n f l u ß einer „thüringischen Zisterzienserhütte", die 1 2 5 1 bis 1 2 6 8 d e n Chor der Schulpfortaer Klosterkirche nach d e m V o r b i l d des N a u m b u r g e r Westchores gebaut hat, für die Choriner Chorform einschließlich des F e n s t e r m a ß w e r k s in A n spruch. E i n entsprechender E i n f l u ß auf die märkische Backsteinarchitektur des letzten Drittels des 13. Jahrhunderts wird auch an Stadtpfarrkirchen ( E b e r s w a l d e , St. M a r i e n in Berlin) und an Bettelordensbauten ( D o m i n i k a n e r in N e u r u p p i n , Prenzlau und Brandenburg) deutlich. U m so mehr beeindruckt in Chorin die B i n d u n g an d e n regionalen P a u t y p .
29 Chorin, Zisterzienserkirche, Chor und Querhaus von Nordosten
218
ERNST BADSTÜBNER
Chorin, 30 Zisterzienserkirchc, südlicher Querschiffgiebel
tenkapellen an den mehr quadratischen Querschiffarmen, über einer Mittelstütze in vier Jochen gewölbt, bereits mit Kreuzrippen, und die Obergeschosse mit Doppelarkaden z w a r nicht zum Chor, aber zum Querschiff hin geöffnet. In den Erdgeschossen der Kapellen sind die Zungenmauern, die aus dem Gesamtraum der Anbauten Altarnischen ausscheiden, deutlich nachzuweisen. Eine für das ostelbische Gebiet nun schon uralte Bauform, möglicherweise doch spätottonisch-frühromanisch im Ursprung (Magdeburger Dom), von Prämonstratensern und Zisterziensern in dieser Region für ihre Zwecke nutzbar gemacht, ist bis in die Zeit gotischer Bauweise tradiert. D a s zähe Festhalten an dieser Form, der Rück-
griff auf sie, nachdem schon einer anderen moderneren Gestalt der Vorzug gegeben worden war, muß schwerwiegende Gründe gehabt haben. Der Orden scheint nicht frei bei der Formwahl für die Baugestalt seiner Kirche, zumindest aber abhängig von einer auf Tradition beharrenden Kraft gewesen zu sein. 6 8
' 6 8 D i e T r a d i t i o n s b e w u ß t h e i t k a n n natürlich auch b e i m O r d e n selbst gesucht w e r d e n , d e r j a auf V e r m e i d u n g zu g r o ß e r A b messungen bedacht w a r u n d sich m o d e r n e n B a u e n t w i c k l u n g e n so l a n g e a l s möglich verschloß. Doch scheint hier bei d e r bis in d i e M a ß e hinein v o r g e n o m m e n e n K o p i e v o n L e h n i n (SCHMOLL 1 9 6 1 w i e A n m . 5 8 , S. 9 4 / 9 5 : G e s a m t b r e i t e in L e h n i n u n d Chorin 1 8 , 7 0 m ) m e h r a l s nur o r d e n s g e b u n d e n e B a u d i s z i p l i n im
Klosterbaukunst und Landesherrschaft
219
31 Chorin, Zisterzienserkirche, südliche Pfeilerreihe des Langhauses Baugeschichtlich vollzog sich die Errichtung von Kirche und Kloster in Chorin ähnlich w i e in Lehnin. D i e große Baunaht, die Ost- und Westteil des basilikalen Langhauses, Mönchschor und L a i e n r a u m voneinander trennt, verläuft zwischen dem vierten und sechsten Joch von Osten. Nach Vollendung der Klausur wurden auch die westlichen der insgesamt elf Jo-
Spiel gewesen zu sein, zumal sich Lehnin im ganzen ja gar nicht so sehr von der Ordensbauweise geprägt zeigte. Weitere Elemente der „Kopie": Priestersitz an der Südseite des Chores, Treppe zum Kapellenobergeschoß in der nördlichen Querhauswand, Stützenwechsel im Ostteil des Langhauses zur Andeutung des gebundenen Systems.
che des Langhauses gebaut, in einem etwas helleren Ziegelmaterial und mit sparsamerem Einsatz von baukünstlerischen Details. D i e Pfeiler im Westteil sind gleichbleibend rechteckig, w ä h r e n d ihre Profile im Ostteil wechseln. Ebenso fehlt der Reichtum an naturalistischem Blattschmuck, er beschränkt sich hier auf Konsolen und auf Kämpfer und Kapitelle an Portalen. Dieser spürbaren Zurückhaltung gegenüber architektonischem A u f w a n d im westlichen Teil der Kirche entspricht aber keineswegs die Gestaltung der abschließenden Fassade. Schon an den Querschiffgiebeln, die von turmartig ausgebildeten Eckpfeilern begleitet werden - viereckig am südlichen und okto-
220
ERNST
BADSTÜBNER
gonal am nördlichen - und die damit die Vorbildwirkung Lehnins erkennen lassen, ist der Wunsch nach Darstellung und - architekturästhetisch gesehen - nach baukörperhafter Gruppierung und Zusammenfassung zu spüren. Trotz graziler gotischer Formgebung wird man wieder an Rheinisches, an den Dom zu Limburg an der Lahn erinnert: staufische Reminiszenzen am ersten Bau der Gotik in der Mark? Hinweise auf die Querschiffgiebel der D o m e in Magdeburg und Meißen nennen die näherliegen-
den, möglicherweise sogar verbindlichen Vorbilder. 6 9 Es verwundert auch nicht, die am Choriner Nordquerhaus ausgebildete, dem Material des Backsteins schon recht adäquate Fassadenkomposition an den küstenländischen Kirchen der Hansestädte wiederzufinden. An einem Ordensbau, für den diese Bezeichnung in zweierlei Hinsicht zutrifft, der im Weichselland gelegenen Kirche des ZisterzienseV09
SCHMOLL
1961
wie
A n m . 58,
S.
122.
33 Chorin, Zisterzienserkirche, Westfassade klosters Pelplin, ist diese Komposition an die Westfassade übertragen, in ihrer Wirkung dort durchaus „militärisch" gegenüber dem „kultivierten Gesicht" Chorins, um einmal den Vergleich Wilhelm Pinders anzuführen. 7 0 In Chorin fand man an der westlichen Kirchenfassade zu einer anderen, die erkennbaren Tendenzen aber weiterführenden Komposition. Sie ist oft und feinsinnig analysierend beschrieben worden. Es sei gestattet, gestützt auf diese Würdigungen, die Merkmale hervorzuheben, die wir für unseren Interpretationsversuch der Baugestalt als wesentlich er-
achten. Um zunächst Georg Dehio zu zitieren: „Mit dem herkömmlichen Schema der Zisterzienserfassaden hat die Choriner nur die Turmlosigkeit gemein." 7 1 D a man das Turmverbot nicht nur zur Vermeidung von zu hohem materiellen A u f w a n d , sondern vielmehr als Verzicht auf Repräsentation zu verstehen hat, erweist sich dieses Verbot „angesichts der Choriner Fassade als zu eng gefaßt: einen ho70 WILHELM PINDER, Deutsche D o m e , Düsseldorf und Leipzig 1910, S. 14. 71 GEORG DEHIO, Geschichte der deutschen Kunst II, Berlin und Leipzig 1930, S. 75.
Klosterbaukunst und Landesherrschaft heitsvolleren Eindruck hätten auch Türme nicht zustande gebracht." 7 2 Doch sind es nicht die beiden, den Fassadenteil vor dem Mittelschiff einfassenden Treppenturmpfeiler, die e t w a Doppeltürmigkeit suggerierten, es ist die auf die Zahl Drei gestellte Komposition (Pinder und Dehio: „der Divisor Drei"), die w i e ähnlich auch in Lehnin - daran dürfte bei dem prononcierten Vortrag kein Zweifel sein - die Bedeutung bestimmt. D e r mittlere Fassadenteil wird beherrscht von der großen gestaffelten Dreifenstergruppe, unter der eine Reihe von drei Lanzettfenstern Zweigeschossigkeit - auch des Inneren - signalisiert. Bis in die Höhe der spitzen Fensterbögen gliedern schmale Strebepfeiler das W a n d f e l d , dann dominiert die Horizontale: Ein Blattfries und Deutsches B a n d bilden Abschluß und A u f t a k t zugleich, A u f t a k t zu dem attikaartig die W a n d bekrönenden Giebel, dessen zentrales Motiv die Dreikreisrosettc ist, umgeben von Dreierblenden, überfangen von drei gestaffelten wimpergartigen Giebelfeldern und eingefaßt von den quadratischen, hinter Giebeln achteckig aufsteigenden und mit Pyramidenhclmen abgeschlossenen Turmaufsätzen, die in überraschender W e i s e den Seitentürmen des Westbaues von Maursmünster gleichen: 7 3 im ganzen also das in die Fläche projizierte Bild einer dreitürmigen Baugruppe, w i e sie die kaiserliche Sakralarchitektur seit der Karolingerzeit entwickelt und in ottonisch-salischer und staufischer Zeit in vollendeten Ausführungen hervorgebracht hatte. D a s Abbild ist in Chorin deutlicher als in Lehnin, sonst aber lebt die Choriner Fassade von dem Lehniner V o r b i l d : Keine Vorhalle und kein mittleres Portal hindert den Wirkungsanspruch der Schauwand. W i e in Lehnin ist die Vorhalle in das Seitenschiff, hier in das südliche, gelegt. Sie greift als zweischiffiger, über zwei schlanken Rundstützen in sechs Jochen kreuzrippengewölbter Saal auch in den Konversenflügel ein. Sie ist keine Vorhalle schlechthin, sie ist der „Fürstensaal", ein Raum, der „eine repräsentative Bedeutung hatte," 7 4 von dem aus der Landesherr sich mit seinem Gefolge auf seine Empore im Inneren der Kirche begab. W a n d gemälde, die Anbetung der Könige und das Urteil Salomonis, verraten mit ihren „königlichen" Themen hohen Anspruch beim Auftraggeber (und weisen auf den Herrscheradventus und mögliche Gerichtsakte hin?). D a ß der Eingang zu dieser „Vorhalle" - im 34 Chorin, Zisterzienserkirche, Mittelschiff nach Osten
223
35 Chorin, Zisterzienserkirche, Kapitell an einem Langhauspfeiler Südteil der Gesamtfassade - gleichfalls übergiebelt ist, nimmt nicht wunder. 7 5 D i e schmale Giebelwand, von schlanken Blenden gegliedert und von gestaffelten W i m p e r g e n abgeschlossen, wiederholt in halber Höhe und in vereinfachter Form das Hauptmotiv. Ihr antwortet auf der Nordseite, dort nicht vorgerückt w i e auf der Südseite, sondern leicht zurückgesetzt, eine gleichgestaltete Schauwand, anstelle des Portals mit einem Fenster. So erhält die Fassade als ganzes einen wohl abgestimmten Dreiklang, der sogar der basilikalen Form des Langhauses Rechnung trägt. Eine Herrscherempore - sie erstreckte sich in Chorin über die zwei westlichen Mittelschiffsjoche und w a r über vier Stützen dreischiffig unterwölbt - ist 72 W O L F G A N G B I C K E L , Die Kunst der Zisterzienser, in: Die Cistcrcienser, Geschichte - Geist - Kunst, Köln 1974, S. 214. 73 Beobachtung von C A R L J Ü R G E N G E R T L E R . 74 P A U L E I C H O L Z , Die Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Angermünde, Berlin 1927 (Kunstdenkmäler der Provinz Brandenburg III, 3), S. 94. 7 5 Der Giebel scheint aber das Primäre zu sein, der Eingang ist nachträglich eingefügt.
224
ERNST
BADSTÜBNER
36 Chorin, Zisterzienserkirche, Mittelschiff nach Westen
in einer Zisterzienserkirche ungewöhnlich, 7 6 aber bei der G e s t a l t der W e s t f a s s a d e u n d der B e d e u t u n g ih76
SCHMOLL 1 9 6 1 w i e A n m . 5 8 , S . 1 4 5 , v e r w e i s t a u f L e h n i n
Vorläufer,
SCHLEYER
1928
wie
Anm.
66,
S. 3 2 ,
auf
die
als
Abtei-
kirche Villers bei Brüssel als vergleichbares Beispiel. In diesem Zusammenhang d ü r f t e es nicht unwesentlich sein, d a ß in den Klöstern östlich der E l b e die auf dem Eigenkirchenrecht basierende, ursprünglich von der Reform abgelehnte Klostervogtei des G r ü n d e r s beibehalten w u r d e und dem Landesherrn das Recht zustand, im Kloster mit Gefolge Lager zu halten (ESCHER/KÜRBIS 1980 wie Anm. 30, S . 109). 77
FAIT 1 9 8 0 w i e A n m . 6 2 , S. 1 1 1 .
res Abbildgehaltes überrascht sie nicht. Sie k a n n als architekturgeschichtliche K o n s e q u e n z aus dem B ü n d nis erklärt w e r d e n , das R e f o r m o r d e n u n d Territorialherr beim L a n d e s a u s b a u eingegangen w a r e n . 7 7 D i e rezeptive Retrospektive ist u n ü b e r s e h b a r : D e r H e r r scher fungiert in seiner Kirche, er „erscheint" in der Ekklesia wie in einem W e s t w e r k der f r ü h e n Kaiser-
37 Chorin, Zisterzienserkirche, Westfassade von Nordwesten
15
Architektur
226
E R N S T BADSTÜBNER
zeit. 78 Die Lichtfülle der Dreifenstergruppe an der Westseite der Empore könnte in diesem Sinne ihre Wirkung getan haben. Wie in Lehnin korrespondierte sie westchorartig mit dem Ostpolygon; das mehrstrahlige Rippengewölbe im westlichen Mittelschiffs] och hat diesen Eindruck gewiß unterstützt. Die Klosterkirche von Chorin ist Denkmal markgräflich-brandenburgischer Geschichte aus einer Zeit, als sich die Markgrafschaft - kurz vor dem Erlöschen der askanischen Hausmacht - auf dem Höhepunkt ihrer territorialen Ausdehnung und damit auch ihrer Stellung im Reich befand. Die johanneische Linie, als deren Hauskloster Chorin gebaut worden war, griff mit weiteren Expansionsabsichten nach Pommern, zur Ostseeküste, nach Danzig; erst die Kollision mit dem Deutschen Ritterorden gebot ihnen Einhalt. Auch die Niederlausitz und Teile Schlesiens gelangten nach 1300 in ihre Hand. Als Träger dieser Politik gilt Markgraf Otto IV. „mit dem Pfeil", in dessen über vierzigjährige Regierungszeit von 1266 bis 1308 die Errichtung von Chorin fiel. 7 9 „Zu seiner Gestalt, zu seinem Auftreten paßt der Gedanke des Choriner Westbaues, der Fürstensaal, die Fürstenempore, die stattliche Fassade" ( S C H M O L L ) . Aber auch in seinem Nachfolger Waldemar erschien noch einmal ein Herrscher im althergebrachten Sinn, umgeben vom Nimbus der Scheinblüte überlebter ritterlicher Kultur, die gestalterisch alles aufbot, was zur Repräsentation und Legitimation eines führenden Fürstengeschlechts dienen konnte. Nur in diesem Zusammenhang bekommt die Anlage des Westteils der Choriner Klosterkirche ihren Sinn - die Ausführung muß also vor dem Tode Waldemars und dem Ende der Askanierherrschaft 1319/20 und nicht erst 1334 abgeschlossen worden sein. 80 Und nur aus dem Traditionsbewußtsein heraus ist die Einmaligkeit der Choriner Baugestalt zu erklären, die Georg Dehio zu der - eben doch nicht ganz zutreffenden Kennzeichnung ihrer Stellung in der Kunstgeschichte veranlaßt hat: „Der sehr individuell behandelte Bau läßt sich in bekannte Schulzusammenhänge nicht einreihen . . . W i e sie ohne Vorfahren war, so blieb die Kirche von Chorin auch ohne Nachkommen." Daß der Gedanke einer dreitürmigen Baugruppe, deren Abbild bedeutungstragend die Gestalt der Choriner Westfassade bestimmt, nicht zu einem plastisch raumgreifenden Baukörper geführt, sondern sich auf die Fläche der Fassade beschränkt hat, ist aber doch der Baugesinnung des Ordens zu verdanken, die eine Steigerung des Abbildhaften zu eigen-
wertiger Verkörperung verhinderte: Der Raumhüllencharakter des sakralen Bauwerkes blieb gewahrt. Die Rationalität monastischen, hier speziell zisterziensischen Bauens fasziniert und besticht, um nicht zu sagen beglückt in Chorin am meisten.
Kirchen der
Bettelorden
Die Kirchen der Prämonstratenser, ihre Klöster und Domstifte aus der Frühphase der Ostexpansion im 12. Jahrhundert sind - von der strategischen Bedeutung der Ortswahl einmal abgesehen - an markanten Punkten der Landschaft errichtet worden. Ihre Sichtbarkeit als Zeichen errungener Macht im eroberten Land war durch ihre Gestalt und ihre Lage gewährleistet. Bei den Kirchen der Zisterzienser in der Mark könnte das zweite Kriterium, ihre Lage, die Wirksamkeit ihrer Gestalt in Frage gestellt haben. Doch waren auch sie im Mittelalter keineswegs so „eingewachsen" wie heute. Noch Schinkel zeichnete Chorin mehr auf freiem Felde, und das Kloster im romantischen Wald schufen erst Peter Joseph Lenne und seine Nachfolger. Man kann sich die Choriner Westfassade, die doch geschaut werden sollte, schlecht ohne die Möglichkeit einer lebendigen Sichtbeziehung vorstellen; sonst müßte man in ihr einen mittelalterlichen Parallelfall zum Neuen Palais Friedrichs II. in Potsdam erblicken, das die Glorie des Königs im Leeren manifestierte. Beim Blick auf die Kirchen der Bettelorden wird aber deutlich, daß es um ein Gesehenwerden ging. Die Bettelorden tradierten die „askanische" Architektur und trugen sie in die jungen märkischen Städte. Umgeben von der herben Kargheit des Gründerbürgertums zeigten sie aristokratische Ele-
78
EDGAR LEHMANN, B e s p r . v o n CAROL HEITZ „Recherches sur
les rapports entre Architecture et Liturgie a l'Epoque carolingienne", Paris 1963, in: Kunstchronik 17, 1964, S. 1 6 5 : „Das Westwerk ist eine Erscheinungskirche." Vgl. auch EDGAR LEHMANN, Die Architektur zur Zeit Karls des Großen, in: Karolingische Kunst, Düsseldorf 1965, S. 3 1 0 , und MÖBIUS 1968 wie Anm. 3 9 . 7 9 SCHULTZE 1 9 6 1 wie Anm. 8, S. 187 ff., und Ders., Die Mark und das Reich. Der Markgraf von Brandenburg, sein Xitel und sein Kurrecht, in: JOHANNES SCHULTZE, Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1964, S. 98. Historische Stätten 10, S. X X X V f . 80
SCHLEYER
1928
wie
Anm. 66,
S. 6 6 :
1300-1325
Westteil
der Kirche, 1 3 3 4 Einweihung. Dagegen SCHMOLL 1 9 6 1 wie Anm. 58, S. 1 7 2 : Westbau um 1300 vollendet. FAIT 1980 wie A n m . 6 2 , S. 1 1 1 : v o r 1 3 1 9 / 2 0 .
Klosterbaukunst und Landesherrschaft ganz vor, ohne dabei festgeschriebene Regeln der Ordensbauweise eigentlich zu verletzen. Stilistisch vertreten sie die Anfänge der Hochgotik im Backsteinbau - sie folgen Chorin und entbehren des an „Stillosigkeit" grenzenden Zuges zum Profanen, wie er vor allem der ausgereiften Kirchenbaukunst der Bettelorden etwa am Oberrhein oder in Italien eigen ist. Die As'kanier benutzten die Städtegründung in starkem Maße als Mittel zum Landesausbau; dabei ist auffallend, daß die Rechtsverleihung an eine Kommune oft erst viel später erfolgte als der Siedlungsbeginn. Das war vor allem im westlichen Teil des eroberten Landes der Fall. 8 1 In den östlichen, später erworbenen Gebieten scheinen Neugründungen häufiger gewesen zu sein, aber sie können Vorgänger gehabt haben, die schon von den früheren Landesherren stadtrechtähnliche Privilegien erhalten hatten. Dann gehörte der Fundationsakt zum Vor^ gang der Landnahme. Frankfurt an der Oder ist dafür das interessanteste Beispiel. 8 2 Als die eigentlichen Städtegründer gelten Johann I. und Otto III., jene gemeinschaftlich regierenden Markgrafen, die wir als Bauherren in Lehnin und als Stifter von Mariensee-Chorin kennengelernt haben. Sie waren es auch, die ihr Land mit einem Netz städtischer Siedlungen versahen. Man vermutet, daß es vor ihrer Regierungszeit, also vor 1225/30 außer der Neustadt Brandenburg, wo besondere territorialpolitische Gründe vorlagen, keine mit Rechten begabte Stadt gegeben hat. 83 Nach dem überkommenen Denkmalbestand zu urteilen, hat es vorher auch keine monumentale Bautätigkeit in den doch bisweilen einige Generationen älteren Siedlungen gegeben. 84 Allem Anschein nach fielen Rechtsverleihung und Beginn des planmäßigen Aufbaus der Stadt zusammen. Manchmal sind es Erweiterungen gewesen, beträchtliche sogar, wie aus dem Vergleich mit der im Grundriß sich häufig abzeichnenden „Stammsiedlung" mit ringund strahlenförmig verlaufenden Straßen zu erkennen ist. 85 Meistens aber scheinen Ursiedlungen durch den planmäßigen Aufbau nach der Stadterhebung völlig überformt worden zu sein. So bieten sich die märkischen Städte bis heute mit einem geradezu modern anmutenden Straßenraster aus dem 13. Jahrhundert dar. Im Raster sind die Plätze für Markt und Kirche, meist in zentraler Lage, ausgespart. Die Kirchen, wenn möglich etwas erhöht angelegt, sind wohl die £rsten in Stein errichteten Bauwerke in den Städten des Kolonisationsgebietes gewesen. 86 Sie wurden 15*
227
aus sorgfältig bearbeiteten Quadern, die man aus den Granitfindlingen der eiszeitlichen Gletschergeschiebe gewonnen hatte, gebaut, Säle oder Basiliken, vereinzelt in Kreuzform, überwiegend aber ohne Querschiff und sich damit im Typ als städtisch bereits von dem traditionellen feudalen Muster absetzend. Hier wäre allerdings zu fragen, ob dies nicht auch schon die Folge des Einflusses der Bettelordensarchitektur sein kann. 87 Wie alle Bettelordenskirchen in Deutschland verzichten auch die in der Mark auf die kreuzförmige Anlage, und die ersten waren um die Mitte des 13. Jahrhunderts im Bau. Die Bettelorden kamen in die märkischen Städte, als diese sich in ihrer ersten Aufbauphase befänden.
81
JOHANNES SCHULTZE, D i e Prignitz, K ö l n / G r a z 1 9 5 6 , S. 8 8 f f .
und besonders deutlich S. 95 (Pritzwalk). Dets., Mark Brandenburg I, 1 9 6 1 , S. 1 5 9 ff. 82
ECKART MÜLLER-MERTENS,
Untersuchungen
zur
Geschichte
brandenburgischer Städte im Mittelalter I/II, in: Wiss. Zeitschrift der Humboldt-Universität Berlin, gesellschafts- und sprachwiss. Reihe 5, 1955/56, S. 2 1 5 . 83
FELIX ESCHER u n d
WOLFGANG
RIBBE, S t ä d t i s c h e
Siedlungen
im Mittelalter ( = Historischer Handatlas von Brandenburg und Berlin, Nachträge Heft 3), Berlin 1 9 8 0 , S. 6. 8 4 Der Friedhof unter den Fundamenten der ersten Berliner Nikolaikirche beweist die Siedlungsexistenz im letzten Viertel des 1 2 . Jahrhunderts (ERWIN REINBACHER, Die älteste Baugeschichte der Nikolaikirche in A l t Berlin, Berlin 1 9 6 3 , S. 5 7 f.). Die Stadtrechtsverleihung durch Johann I. und Otto III. ist chronikalisch überliefert und immer um 1 2 3 0 angenommen worden. Die erste urkundliche Nennung stammt erst von 1 2 4 4 , die der Schwesterstadt Cölln datiert schon von 1 2 3 7 . So zufällig diese Nennungen in ihrer Überlieferung auch sein mögen (SCHULTZE 1 9 6 1 wie Anm. 8, S. 1 3 4 ) , so wenig bieten sie Anlaß, die Stadtrechtsverleihung früher anzusetzen. D e r Erstbau der Nikolaikirche, dessen Grundriß ergraben worden, ist und dessen Westbau noch steht, könnte zwar mit den halbkreisförmigen Apsiden am kreuzförmigen Ostteil schon vor 1 2 0 0 begonnen worden, mit seinem spitzbogigen Portal im westlichen Querriegelturm aber kaum vor dem 5. Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts vollendet gewesen sein. Er paßt also als erster Monumentalbau in der zur Stadt erhobenen Siedlung viel besser zu einem Gründungsdatum „um 1 2 3 0 " als zu einem früheren. Nach einem Vorgängerbau, den man bei der Siedlung, von der die christlichen Bestattungen herrühren, voraussetzen muß, vielleicht als Holzbau, ist bisher vergeblich gesucht worden. 8 5 E. JOBST SIEDLER, Märkischer Städtebau im Mittelalter, Berlin 1 9 1 2 , S. 1 9 ff. 8 6 In den Städten fehlen rein romanische Kirchen, im Gegensatz zu den Dörfern, wo sie recht zahlreich sind. Trotz ihrer wuchtigen Erscheinung haben alle erhaltenen Granitquaderbauten in den Städten neben zuweilen noch rundbogigen bereits spitzbogige, ausgesprochen gotische Öffnungen. Die Stadtkirchen werden deshalb in der Regel relativ spät datiert, was aber mit den Stadtrechtsverleihungen zusammengeht. Für die Vorgängersiedlungen werden Holzkirchen vermutet. (vgl. Anm. 84). 8 7 Diese Frage bezieht die Vorliebe für gerade Chorschlüsse, die zwar im Bereich der Ordensbaukunst, auch der älteren, heimisch ist, aber eben nicht in der Mark Brandenburg, mit ein.
228
E R N S T BADSTÜBNER
Sie hätten im Anlageschema planmäßig eingeordnet werden können. Doch sie erhielten ihren Bauplatz wie andernorts an der Peripherie des städtischen Geländes, ihre Klöster kamen in den Bereich der noch im Bau befindlichen Stadtbefestigung zu liegen. Das aber war meist noch landesherrlicher Boden, 8 8 und nicht selten lag der markgräfliche Stadthof in unmittelbarer Nähe oder das Kloster selbst auf einem Teil seines Gebietes. In Strausberg (1254) und in Prenzlau (1275) wurden die Dominikanerklöster direkt in Burgbezirken angelegt, die nachträgliche Übereignung von Grund und Boden als Bauland aus der H a n d des Landesherrn ist für die Franziskaner in Berlin (1271) und die Dominikaner in Brandenburg (1311) bezeugt. So erstaunt es nicht, wenn die Bettelordenskirchen des 13. und frühen 14. Jahrhunderts in der Mark Brandenburg ein „askanisches" Gepräge zeigen. Früher als die städtische Pfarrkirchenarchitektur ging die der Bettelorden zum Backstein als Baumaterial und zum Gewölbebau über. (Die Kirchen in Treuenbrietzen sind die Ausnahmen, die die Regel bestätigen.) D e r Gegensatz, der sich aus dem strahlenden Rot der Bettelordensklöster und dem ernsten Grau der Feldsteinkirchen im frühen Stadtbild ergab, ist erst später durch die Errichtung großer gotischer Backsteinhallen als Pfarrkirchen des auf der Höhe seiner Entwicklung stehenden Bürgertums aufgehoben worden. In Angermünde blieb er, weil beim spätgotischen Umbau der Stadtkirche die Feldsteinmauern der Umfassungen beibehalten wurden, in Teilen bis heute bewahrt.
38 Prenzlau, Franziskanerkirche. Nach Dehio-Handbuch Bezirke Neubrandenburg, Rostock, Schwerin, Berlin 1968 Die Franziskaner scheinen ihre Aktivitäten im Kolonisationsgebiet früher entfaltet zu haben als die Dominikaner. In Prenzlau haben sie sich schon vor der Mitte des 13. Jahrhunderts, vor dem Übergang der nördlichen Uckermark an die Askanier niedergelassen und zu bauen begonnen. Ihre Kirche dort gilt 1253 als vollendet, weil dies die in besagtem Jahr erfolgte Bestattung des Camminer Bischofs erforderte.
Sie ist von ihrer Gestalt und vom Baumaterial her als voraskanisch anzusprechen, ein langgestreckter, einschiffiger Saalbau aus Feldsteinquadern mit Kreuzrippengewölben in fünf quadratischen Jochen. Die Wölbung ist von Anfang an in dieser Form beabsichtigt gewesen, auch wenn sie erst später ausgeführt worden sein sollte; die innere Wandgliederung und der Rhythmus der Dreifenstergruppen stellen das unter Beweis. 89 In dieser Form läßt sich die Prenzlauer Franziskanerkirche aber weder der norddeutschen noch der frühen deutschen Kirchenbaukunst der Bettelorden überhaupt einordnen; vielmehr ist hier mit aus Westfalen herzuleitenden baukünstlerischen Mitteln, die in der Uckermark im 2. Drittel des 13. Jahrhunderts besonders wirksam waren, 9 0 eine Kirche entstanden, die, aus welchen Gründen und mit welcher Absicht auch immer, die Hauptkirche des Ordens, San Francesco in Assisi, in ihrer Gestalt rezipierte. 91 Einen größeren Feldsteinsaal haben die Franziskaner in Angermünde errichtet, ebenfalls ein langgestreckter Bau, aber mit flacher Decke. Die erhaltene Südwand dieses Erstbaues (Angermünde I) zeigt sieben spitzbogige Lanzettfenster in regelmäßiger Reihung von West nach Ost, die wegen des Anlaufs des Ostflügels der Klausur unterbrochen ist, sich dann aber mit einem gleichen Fenster fortsetzt, das zum wohl rechteckigen Chorteil der Kirche gehört haben müßte. An der Westseite ist auch noch das spitzbogige Portal mit abgetrepptem Gewände vorhanden, wie es typisch für alle gleichzeitig errichteten Feldsteinkirchen der Gegend ist. In seiner Längsstreckung stellt der franziskanische Saal Angermünde I einen Parallelfall zu den einschiffigen Kirchen des Ordens in Thüringen dar (Eisenach, Mühlhausen, Arnstadt). Diese entsprechen den „Gebrauchstypen" italienischer Bettelordenskirchen, die mit der Kirche San Francesco in Cortona
88
HANS PLANITZ, D i e deutsche Stadt im Mittelalter, 4. Aufl., Weimar 1975, S. 180. 89
JOACHIM FAIT, D i e n o r d d e u t s c h e B e t t e l o r d e n s b a u k u n s t
zwi-
schen Elbe und Oder, Diss. phil. Greifswald 1954, S. 30. PAUL EICHHOLZ, D i e Kunstdenkmäler des Kreises Prenzlau ( = Prov. Brandenburg III, 1), Berlin 1921, S. 2 4 3 ff. 90 JOACHIM FAIT, D i e erste Marienkirche in Prenzlau, in: Wiss. Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, gesellschafts- und sprachwiss. Reihe 9, 1 9 5 9 / 6 0 , S. 420. 91 ERNST BADSTÜBNER, Kirchen und Kloster der Bcttelorden im sozialen und gestalterischen Gefüge der mittelalterlichen Stadt, in: Bildende Kunst 1980 (12), Beilage S. 7, w o ich der Vermutung Raum gegeben habe, daß die Anwesenheit von Waldensern in der Uckermark diese bedeutsame Gestaltrezeption aus Gründen der Gegenwehr veranlaßt haben könnte.
Klosterbaukunst und Landesherrschaft
229
39 Chorin, Zisterzienserkirche, Innenansicht der Westwand
ihren beispielgebenden Vertreter haben. 9 2 Im engen Rahmen der Kunstlandschaft Uckermark könnte man das Verhältnis von Angermünde I 2ur Franziskanerkirche in Prenzlau ähnlich definieren w i e das der „Gebrauchstypen" Italiens zur Grabeskirche des Heiligen Franz. A b e r der Zustand Angermünde I blieb nur kurze Zeit bestehen. Der Feldsteinsaal mußte noch im Verlauf des 13. Jahrhunderts bis auf die Teile der Südw a n d , die von der Klausur verdeckt wurden, einer Backsteinhalle weichen. D i e Möglichkeit räumlicher Erweiterung w a r durch den zur Verfügung stehenden B a u p l a t z begrenzt, im Norden durch die alte Straße nach Schwedt, im Süden durch das zwischen Kirche und Stadtmauer im B a u befindliche Kloster. M a n wählte zunächst eine gewölbte H a l l e mit zwei gleichhohen, gleichbreiten und gleichlangen Schiffen über weiterhin einheitlich rechteckigem Grundriß. An der W e s t w a n d der Kirche ist diese Absicht, eine symmetrische zwei-
schiffige H a l l e zu errichten, dem Bestand abzulesen. Realisiert w u r d e sie nicht. M a n wechselte den Plan (Angermünde II) und vollendete die Kirche als asymmetrische H a l l e mit breitem Mittelschiff und schmalem südlichen Seitenschiff (Angermünde III). Deutlich ist schon im G r u n d r i ß erkennbar, w a s auch die Details beweisen, nämlich d a ß jetzt Chorin das Vorbild w a r : 9 3 elf schmalrechteckige Joche führen auf das Apsispolygon zu, das z w a r nur über fünf Seiten eines Zehnecks verfügt, aber zusammen mit dem engeren östlichsten Joch seine A b k u n f t vom 7/12 Polygon der Zisterzienserklosterkirche verrät. Selten ist die Rückführung eines zum profanen neigenden, allein für den „Gebrauch" bestimmten Bautyps einer Ordenskirche auf 9 2 RENATE WAGNER-RIEGER, Z u r T y p o l o g i e italienischer Bettelordenskirchen, i n : Römische historische Mitteilungen 1957/58,
S. 2 6 9 . 93
wie
Dazu
SCHLEYER 1 9 2 8
wie Anm.
A n m . 5 8 , S . 2 0 1 ff., u n d
6 6 , S . 6 8 f . , SCHMOLL
FAIT 1 9 5 4
wie Anm. 89,
S. 9 1 .
1961
230
ERNST
BADSTÜBNER
40 Angermünde, Franziskanerkirche, Ansicht von Westen
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41 Angermünde, Franziskanerkirche. Nach Rudolf Bergau, Inventar der Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Brandenburg, Berlin 1885
Klosterbaukunst und Landesherrschaft
41 Berlin, Franziskanerkirche, Mittelschiff nach Osten
232
ERNST
das Sakrale, das Autoritäre und Traditionelle so zu beobachten wie in der Baugeschichte der Angermünder Franziskanerkirche: vom einschiffigen, flachgedeckten Feldsteinsaal über die symmetrisch-zweischiffige Backsteinhalle, gewölbt, aber noch rechteckig, zur Halle mit dominierendem Mittelschiff und hoheitsvoll-apsidialem Schluß. Es ist keineswegs so, daß die Asymmetrie der letzten Anlage Angermünde III die Ablehnung einer traditionellen Bauform bedeutet, 94 im Gegenteil, sie signalisiert mit dem schmaleren, also untergeordneten Seitenschiff, dem das Pendant lediglich aus Gründen des Bauplatzmangels fehlt, den Wunsch zur kanonischen Bauform der dreischiffigen Basilika. Die symmetrische, zweischiffige Halle ist der weitaus profanere Typ. 9 5 Man datiert den abschließenden Umbau der Angermünder Franziskanerkirche im engen Anschluß an die Bauvorgänge in Chorin. Um 1300 spätestens entstand die hochgotische Backsteinkirche, die sich mit den eleganten Formen zisterziensisch-askanischer Bauweise in der jungen uckermärkischen Stadt gewiß recht fremd ausgenommen hat, sich um so mehr aber als ein Bau zu erkennen gab, dem landesherrliche Förderung zuteil geworden war, und der entsprechende Repräsentationsaufgaben zu erfüllen hatte. Die Lage auf landesherrlichem Grund dürfte mit eine Voraussetzung für die endgültige Gestaltgebung der Kirche des Klosters gewesen sein. 96 Für Berlin ist es ausdrücklich überliefert, daß der Grund und Boden, auf dem die Franziskaner Kirche und Kloster erbaut hatten, den Brüdern 1271 von den Markgrafen Otto IV. und Albrecht III. geschenkt worden ist. Jedenfalls ging das aus einer spätgotischen Inschrift in der jetzt nur als Ruine erhaltenen Klosterkirche hervor. 97 Das Grundstück lag neben dem „Hohen Haus", der „aula", dem markgräflichen Hof am Ostrand der Stadt nahe der Mauer, dessen Gründung Johann I. und Otto III. zugeschrieben wird. 9 8 Die Franziskaner müssen sich noch vor der Mitte des 13. Jahrhunderts in der Stadt niedergelassen haben - 1249 wird als Gründungsjahr angegeben und Markgraf Otto III. als Stifter vermutet - , 1252 fand bereits ein Provinzialkapitel der Sächsischen Ordensprovinz in Berlin statt. 99 Die Berliner Klosterkirche soll als flachgedeckter Feldsteinsaal auf rechteckigem Grundriß begonnen worden sein; rundbogige Öffnungen hat man in der erhaltenen Nordwand erkannt. 100 Tatsache ist, daß eine Feldsteinwand mit vermauerten Öffnungen, deren Gewände aus Formziegeln bestehen, den unteren
BADSTÜBNER
Teil der nördlichen Seitenschiffswand bildet. Sie steht wie in Angermünde zwischen Kirche und Klausur. Der Erstbau, zu dem sie gehört haben müßte, ist entweder gar nicht fertig oder sehr schnell durch eine Backsteinbasilika ersetzt worden, die in Material und Gestalt - so sehr sie auch den Charakter zeitgenössicher Bettelordensbaukunst trägt 1 0 1 - alle Bezüge aufweist, die auch schon in der älteren Klosterkirchenarchitektur der Mark feststellbar waren. Wesentlich ist die Übernahme des Arkadenmotivs aus dem Langhaus des gotischen Magdeburger Doms, eine Beobachtung, die gleichzeitig eine Datierung ermöglicht, nämlich zwischen dem „zweiten und dritten Planwechsel" für das Magdeburger Domlanghaus, etwa 1230/40 und 1274. 1 0 2 Es gibt keinen Grund, sich die Berliner Backsteinbasilika der Franziskaner mit den weiten Schritten ihrer von Bündelpfeilern getragenen Arkaden um die Mitte des 13. Jahrhunderts noch nicht im Bau vorzustellen. Ihre Errichtung war Bestandteil des Stadtaufbaus in der Gründungsund Erweiterungsphase; aber die Kommune war noch nicht wie in den älteren Städten des Reichs fähig, Bauleistungen für die Bettelorden zu erbringen. Vielleicht resultiert der große Anteil landesherrlicher Baukräfte an den Gebäuden der Bettelorden mit aus diesen Bedingungen der Entstehungszeit.
94
RICHARD
KRAUTHEIMER,
Die
Kirchen
der
Bettelorden
in
Deutschland, Köln 1 9 2 5 . 9 3 EDGAR LEHMANN, Zum Problem der zweischiffigen Kirchen des 13./14. Jahrhunderts im Ostseegebiet, in: Wiss. Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, gesellschafts- und sprachwiss. Reihe 29, 1 9 8 0 (2/3), S. 33. 90 Vgl. Anm. 88. 9 7 GERHARD BRONISCH, Die Franziskanerkirche in Berlin (Diss. phil. Leipzig 1 9 3 3 ) , in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 50, 1 9 3 3 , S. 1 0 4 ff. 98
SCHULTZE 1 9 6 1
99
GUSTAV ABB u n d
burg 1, Berlin
w i e A n m . 8, S. 1 6 5 f. GOTTFRIED W E N T Z ,
1 9 2 9 , S. 372.
-
Das
Bistum
SCHULTZE 1 9 6 1
Branden-
wie Anm. 8,
S . 1 6 7 , u n d SCHMOLL 1 9 6 1 w i e A n m . 5 8 , S . 7 3 . 100
BRONISCH
1933
wie
Anm. 97,
S. 9 8 ,
und
FAIT
1954
wie
Anm. 89, S. 2 1 . 1 0 1 Als streng basilikale Anlage mit einschiffigem Chor reiht sie sich den frühen Kirchbauten der Bettelorden, der Dominikaner in Straßburg, Eßlingen und Regensburg oder der Franziskaner in Köln an, unterscheidet sich von diesen jedoch durch andere Grundrißproportionen und (anfänglich) durch einen geraden Ostschluß. 1 0 2 SCHMOLL 1 9 6 1 wie Anm. 58, S. 85, entgegen älterer Forschung, die aber die Beziehung zu Magdeburg schon erkannt hatte (BRONISCH
1933
wie
Anm. 97,
S. 1 1 0 f.).
-
Zur
Baugeschichte
des Magdeburger Doms zusammenfassend ERNST SCHUBERT, Der Magdeburger Dom, Berlin 1 9 7 4 , und Ders. in DEHIO 1 9 7 4 wie Anm. 15, S . 2 6 5 ff.
Klosterbaukunst und Landesherrschaft Die Details der Berliner Franziskanerkirche weisen zurück nach dem Brandenburger Dom und vorwärts zur Klosterkirche in Chorin. 103 Von Chorin erhielt sie schließlich in einem nachträglichen Bauabschnitt das Chorpolygon, das mit seinen sieben Seiten eines Zehnecks die interessanteste Variante des Vorbildes abgibt. (Der äußere Habitus mag der Angermünder Kirche geähnelt haben.) Das Polygon als Chorschluß, in Chorin wohl zum ersten Mal in der märkischen Backsteinbaukunst angewendet, blieb auch in der Bettelordensarchitektur der Mark heimisch. Es begegnet in der reinen Choriner Form, also mit sieben Seiten des Zwölfecks nur noch einmal, an der Dominikanerkirche in Neuruppin. Die Berliner Variante ist der Brandenburger Franziskanerkirche St. Johannis, einem einschiffig rechteckigen Backsteinsaal aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, angeblich erst Anfang des 15. Jahrhunderts angefügt worden. Reduktionen in Form des dann allgemein üblichen 5/8Schlusses geben sich durch charakteristische Details (Strebepfeilerfilialen, Blattfriese, Maßwerke) als von Chorin abhängig zu erkennen: die Dominikanerkirchen in Prenzlau und Brandenburg. Nur die Franziskanerkirche in Frankfurt an der Oder erhielt und behielt einen geraden Chorschluß. 104 Diese Tatsache und die Beobachtung, daß an den Franziskanerkirchen in Berlin und Brandenburg die Polygone später angefügt worden sind, verdeutlichen die bewußte Aufwertung, die dem Bau mit der bedeutungsvolleren Form gegeben werden sollte. Ähnliches gilt für die Kirche des Dominikanerordens in Neuruppin, nicht aber für dessen Kirchen in Prenzlau und Brandenburg - man wird die nicht erhaltenen in Strausberg und Berlin dazurechnen können 105 die gleich als gestreckte, dreischiffige Hallen mit einschiffigen, polygonal geschlossenen Chören errichtet worden sind, schlicht im Detail, weiträumig und im ganzen gewölbt über einem Grundriß, der dann im märkischen Pfarrkirchenbau
233
verbreitet wurde, als dieser die Feldsteinperiode überwunden hatte und zu selbständigen Baugestaltungen strebte. Charakteristisch sind breite Mittelschiffe mit querrechteckigen und schmale Seitenschiffe mit längsrechteckigen Jochen. Die Marienkirche in Berlin als Pfarrkirche des Erweiterungsstadteils ist wohl der früheste städtische Bau dieses Anlageschemas. Der Pfeiler der Berliner Marienkirche, ein Achteckkern, der von Halbsäulenvorlagen umstanden ist, hat sein Vorbild in einem der Bündelpfeiler der Berliner Franziskanerkirche. Er wurde zu einer traditionsreichen Form des Kirchenbaues der Mittelmark und in Berlin (Nikolaikirche) und Bernau (Marienkirche) noch am Ende des 15. Jahrhunderts gebaut. Im ausgehenden 13. Jahrhundert begannen auch die märkischen Städte, sich aus der Botmäßigkeit der Landesherrschaft zu lösen 106 und dies baukünstlerisch zu artikulieren. Bei der Suche nach Bauformen zur Überwindung der feudal geprägten frühstädtischen Kirchtypen knüpften sie aber, bevor sie sich im Laufe des 14. Jahrhunderts der überregionalen Entwicklung gotischer Kirchenbaukunst anschlössen, an die Bettelordensbauten an, die als Zeugen landesherrlich pro-
103
SCHMOLL 1 9 6 1
w i e A n m . 5 8 , S. 7 9
ff.
FAIT 1 9 5 4 wie Anm. 89, S. 4 8 , betont zu Recht, daß die Frankfurter Franziskanerkirche „verhälnismäßig wenige Merkmale Choriner A r t aufzuweisen hat", und folgert daraus, daß sie älter ist als die Kirchen mit Choriner Merkmalen, vor allem älter als die Dominikanerhallen in Neuruppin und Prenzlau. Die Bemerkung - zutreffend nur für den Chor, da die stehende Hallenkirche ein Um- oder Neubau von 1 5 1 6 / 2 5 ist - unterstützt die Vermutung rechteckiger Ostschlüsse bei märkischen Bettelordenskirchen vor der Entstehung und dem Ausstrahlungsbeginn Chorins. (Vgl. Anm. 87.) 10D JULIUS KOTHE, Die ehem. Kirche der Dominikaner in Berlin, in: Die Denkmalpflege 24, 1 9 2 2 , S. 5 9 - 6 1 . - Die Berliner Dissertation von KURT SECKEL, Die Baukunst der Bettelorden in der Mark Brandenburg, aus dem Jahre 1 9 4 2 war mir leider nicht zugänglich. 104
100
MÜLLER-MERTENS
Anm. 82).
1955/56
wie
Anm. 82,
II,
S. 2 8 9
(vgl.
Klosterbaukunst und Landesherrschaft tegierter Bautätigkeit in den Städten standen. D e r Übergang vom Feldstein zum Backstein als Baumaterial gehört mit zu diesem Vorgang. Unter den Dominikanerkirchen der Mark Brandenburg nimmt die in Neuruppin eine Sonderstellung ein, nicht, was ihre endgültige Erscheinung anbetrifft, wohl aber, was ihre Baugeschichte angeht. D e n Kern bildet ein einschiffiger Saal, interessanterweise aus Backstein mit spätromanischen Details Jerichow-Lehniner Art. D i e Grafen von Ruppin, die das Kloster vor 1246 als älteste Dominikaner-Niederlassung in der Mark begründeten, 1 0 7 werden Bauleute aus dem altmärkischen Backsteingebiet geholt haben. D e r rechteckige und flachgedeckte Saal ging aber schon bald als einschiffiger Chor in einer dreischiffigen, gewölbten Hallenkirche auf, die im Grundriß den Anlagen in Prenzlau und Brandenburg verwandt ist, in den Details aber eine ganz andere Sprache spricht. Entscheidend sind die Rundpfeiler mit den vier Diensten, die ihre Heimat im Umkreis der hessisch-westfälischen Nachfolgebauten der ersten gotischen Hallenkirche in Deutschland, der Elisabethkirche in Marburg haben. 1 0 8 Nirgends sonst ist die klassisch-gotische Architekturform so rein ins Backsteinmaterial übersetzt worden. Gemessen an den vorstellbaren technischen Möglichkeiten haben wir es hier mit einer Hochform baulicher Leistung des Mittelalters zu tun;
45 Neuruppin, Dominikanerkirche, Mittellschiff nach Osten
46 Neuruppin, Dominikanerkirche, Ansicht von Südosten (Zustand vor 1882 mit dem neugotischen Dachturm von 1841 über dem Westgicbel)
235
sie blieb auch unwiederholt. Sie setzt einen baukünstlerischen Ehrgeiz voraus, wie er in den reichen Städten des Westens - Köln, Münster, Soest haben verwandte Beispiele der Bettelordensarchitektur - erklärlich ist, nicht aber in dem kaum fünfzig Jahre alten Gemeinwesen Neuruppin um 1280. Eine landesherrliche Aktivität wird auch hier die Ursache für die so anspruchsvolle Formenwahl sein. Andere Details (Strebepfeilerfialen, Maßwerk, Blattornamentik) weisen auf einen Zusammenhang mit Chorin, also auf eine Verbindung mit markgräflichen Bauunternehmen hin, und so stand am E n d e des Baugeschehens im 13. Jahrhundert die Wölbung und die Anfügung des 7/12 Polygons nach Choriner Vorbild an den bis dahin flachgedeckten und gerade geschlossenen, zum Chor gewordenen Saal des Erstbaues. D i e Gesamtgestalt war nun die der anderen märkischen Domini-
107 1246 w u r d e der Konvent zum Provinzialkapitel zugelassen, bestand also schon. 1256 w u r d e G e b h a r d t von Arnstein, G r ü n d e r und Bruder des ersten Priors Wichmann, in der Klosterkirche bestattet. Vgl. PAUL EICHHOLZ, D i e Kunstdenkmäler des Kreises Ruppin ( = Prov. Brandenburg I, 3), Berlin 1914, S. 278 f. und 301. 108
RICHARD
HAMANN
und
K . WILHELM
KÄSTNER,
Die
Elisa-
bethkirche zu M a r b u r g und ihre künstlerische Nachfolge, Band 1: Die Architektur, Marburg 1924.
236
E R N S T BADSTÜBNER
Brandenburg, 41 Dominikanerkloster, Ansicht von Südosten
kanerkirchen, wie sie auf markgräflichem Grund und mit markgräflicher Protektion noch bis zum Ende der Askanierherrschaft gebaut wurden, deren Details aber gegenüber der Kirche in Neuruppin Vereinfachungen aufweisen, von denen der ungegliederte achteckige Pfeiler wohl die entscheidendste ist. 1 0 9 Abschließend sei noch ein Blick auf Kirche und Kloster St. Pauli in Brandenburg geworfen. D i e Überlieferung der Gründungsgeschichte sagt folgendes aus: im Jahre 1286 hat Markgraf Otto der Lange den Mönchen des Ordens seinen Hof in der Neustadt Brandenburg zu einem Kloster geschenkt und ihnen „viel Geldes zum Gebäu verordnet". Noch im gleichen Jahr soll die „Einweihung dieser Kirchen durch Bischof Gebharten zu Brandenburg gehalten" worden sein. 1311 hat der Rat der Neustadt Brandenburg einen städtischen Platz „zu dieser Kirchen geschenkt, daß die Mönche ihre Wohnungen darauf gebaut". 1 1 0 Wenn man es wörtlich nimmt, könnten die Mönche ihre Wohnung, das Paulikloster, erst nach 1311, ihre Kirche aber schon seit 1286 gebaut haben. Es ist hier nicht der Ort, Baubefunde und Stilanalysen zu referieren, die zu der Datierung „zwischen 1300 und 1340" geführt haben. 1 1 1 Dagegen soll noch einmal auf die Tatsache hingewiesen werden, daß ein Bauunternehmen der Bettelorden einen über die Bedürfnisse der Kongregation hinausgehenden baukünstlerischen Anspruch vorträgt. D i e Baugestalt der Dominikanerkirche in Brandenburg folgt zwar der Norm, die nun schon ordensgebunden erscheint - dreischiffige, gewölbte Halle von sechs Jochen mit einschiffigem, dreijochigem und polygonal geschlossenem Chor - , aber die außergewöhnlich aufwendige Form des Ost-
flügels der Klausur zeigt an, daß nicht nur die Kirchen, sondern auch die Klostergebäude Träger eines solchen Anspruchs sein können. Rückblickend muß in diesem Zusamenhang die Giebelpracht der Klausurund Wirtschaftsbauten in Lehnin und vor allem in Chorin erwähnt werden. Der Dormitoriumsflügel des Brandenburger Pauliklosters ist ein langgestreckter, zweigeschossiger Bau mit spitzbogigen Arkaden im Erdgeschoß und mit einer langen Reihe rechteckiger Fenster im Obergeschoß an den Langseiten. Entsprechend ist der Südgiebel mit drei Arkaden im Untergeschoß und drei großen Fenstern im Obergeschoß gegliedert, von denen das mittlere höher und breiter als die beiden seitlichen ist; die fünf gestaffelten Blenden in der Giebelspitze sind Rekonstruktion. Man erkennt die Adaption des Fassadenmotivs der Kirchen in Lehnin und Chorin. Es schwingen auch Reminiszenzen an den Ostgiebel des Nordflügels, des Refektoriumflügels am Magdeburger Liebfrauenkloster mit. Wie dieser ist der Brandenburger Ostflügel im Inneren dreigeschossig. D i e kreuzrippengewölbten Keller haben, auch in den Details, ihre Parallele im Choriner Konversenbau. D a s Brandenburger Paulikloster ist, ganz unabhängig von den tatsächlichen Bauzeiten, ein letztes Zeugnis für die Kontinuität des Anteils der askanischen Landesherrschaft an der Klosterbaukunst in der Mark Brandenburg.
1 0 9 FAIT 1954 wie Anm. 89, S. 54, meint, die achteckigen Pfeilet auf einen küstenländischen Einfluß zurückführen zu können. 1 ) 0 PAUL EICHHOLZ, Die Kunstdenkmäler von Stadt und Dom Brandenburg ( = Prov. Brandenburg II, 3), Berlin 1912, S. 96. 1 1 1 Bau- und Kunstdenkmale der D D R . Bezirk Potsdam, Berlin 1978, S. 95.
48 Brandenburg, Dominikanerkloster, Ansichten und Schnitte
49 Brandenburg, Dominikanerkloster, Grundriß und Lageplan
238
ERNST BADSTÜBNER
Schlußbemerkung Landesherrschaft als gestaltbestimmende Kraft in der mittelalterlichen Architektur läßt sich - wir hoffen, das gezeigt zu haben - in der Kirchenbaukunst der Kleriker- und Mönchsorden während des 12. und 13. Jahrhunderts östlich der Elbe in selten deutlicher Weise erkennen. Sicher sind auch andernorts landesherrliche Repräsentationselemente in der reformmonastischen Kirchenbaukunst auszumachen, möglicherweise sind dann aber dort - und das wäre von höchstem Interesse - ähnliche Voraussetzungen in der politischen Geschichte die Ursache dafür. 1 1 2 In der Mark Brandenburg, einem der jüngsten Territorien des mittelalterlichen deutschen Reichs, waren diese Voraussetzungen Annexion und planmäßiger, kolonisatorischer Ausbau des elbslawischen Gebietes durch eine relativ breite Adelsschicht altmärkischer und harzländischer Herkunft unter Führung der mit der Markgrafschaft belehnten Askanier. Der Landesausbau, betrieben mit Siedlern aus den westlichen Teilen des Reichs, vorwiegend vom Niederrhein, scheint zentralistischen Charakter gehabt zu haben. Neben den - zahlenmäßig eigentlich recht geringen - Klöstern im Lande sind vor allem die märkischen Städte architekturgeschichtliche Zeugen dieses territorialplanerischen Vorgehens; sie haben bis heute ihre Grundrisse aus der Gründungsphase des späten 12. und 13. Jahrhunderts bewahrt. Gerade in den Städten aber zeigte sich, daß den Schichten, die die Erschließung des Landes praktisch durchführten, hier dem Siedlungsbürgertum, Raum zur Repräsentation nicht gegeben war. Für sie ist Selbstdarstellung in baulicher Form erst nach der Konsolidierung städtischer Autonomie und dem gleichzeitigen Zusammenbruch der zentralistischen Landesherrschaft möglich geworden. Dieser Fall trat mit dem Aussterben der Askanier und dem Ende ihrer Hausmacht im Jahre 1319 ein. Die Entwicklung des städtischen Pfarrkirchenbaues in der Mark Brandenburg widerspiegelt diese Vorgänge recht gut. Baukünstlerische Repräsentation blieb im Märkischen bis in die Zeit um 1300 landesherrliches Privileg. Daß sie in so auffälliger Form an den Stiftskirchen der Prämonstratenser und in eigentlich unerlaubter Weise an den Klosterkirchen der Zisterzienser in Erscheinung tritt und sich schließlich auch in der Kirchenbaukunst der Franziskaner und Dominikaner zu erkennen gibt, ist eine Folge der Ordenspolitik der Askanier. Die architektonischen Mit-
tel, mit denen die Markgrafen die Zeichen erworbener Herrschaft und Macht setzen ließen, hatten lange Tradition. Die Dreiturmgruppe, seit karolingischer Zeit baugestalterisches Symbol für das DaSein weltlicher Gewalten im Bereich der Kirche, liegt den Kompositionen der Turmfronten in Leitzkau und Jerichow ebenso zugrunde wie den Westfassaden in Lehnin und Chorin. Es sollte ihnen auch die gleiche inhaltliche Bedeutung innewohnen. Ja, sie hatten - in eingeschränkter Form - sogar eine ähnliche Funktion, wie sie die Fürstenempore im Westteil der Zisterzienserkirche von Chorin zeigt. Möglich, daß gerade dieser Bedeutungs- und Funktionsgehalt das Fehlen des Motivs an den Domen in Havelberg und Brandenburg erklärt: die prämonstratensischen Bischöfe waren an einer Demonstration der Einheit von kirchlicher und Landesherrschaft nicht interessiert? Daß auch die Bettelorden, nach schlichteren Anfängen, mit ihrer Kirchenbaukunst in den märkischen Städten unter den Einfluß askanischer Bauweise gerieten, ist zwar auch die Folge landesherrlicher Förderung, hat aber wohl weniger Gründe der Repräsentation als vielmehr zu diesem Zeitpunkt schon solche der Tradition zur Ursache. In der Gründungsphase der märkischen Städte war die Rolle des Landesherrn als Stadt- und Grundherr unangetastet. Er bestimmte Lage und Größe der Siedlung, er erteilte Genehmigung und Auftrag für die Errichtung öffentlicher Gebäude; ja, es gibt Anzeichen dafür, daß er auch den Typ der Stadtkirche nach dem Bedarf und der territorialpolitischen Bedeutung der jeweiligen Stadt festlegte. Die Klöster der Bettelorden, die nicht auf kommunalem Boden, sondern auf dem städtischen Grund, der dem Landesherrn zu eigen geblieben war, gegründet wurden, scheinen die Markgrafen wie Hausklöster, um nicht zu sagen, wie Eigenklöster behandelt zu haben. Einige lagen ja auf dem Gelände markgräflicher Stadtburghöfe; sie dienten gewiß auch dem Zwecke fürstlichen Lagers. Einige der Kirchen fungierten als askanische Grablegen. So entstanden an der Stelle schlichter Rechtecksäle hochgotische Backsteinbasiliken oder -hallen in der Tra-
1 1 2 Vielleicht bei den Wettinern: die Zisterzienserklosterkirche von Altzella ein Parallelfall zu Lehnin? Angedeutet bei HEINRICH MAGIRIUS, Die Baugeschichte des Klosters Altzella, Berlin 1 9 6 2 , S. 1 0 7 f., und Ders., Kloster Altzella, Berlin 1 9 6 2 , S. 27, w o auch der Backstein als Baumaterial in eben diesem Sinne interpretiert wird.
Klosterbaukunst und Landesherrschaft dition märkischer Klosterkirchen der älteren Orden, gebaut von den gleichen „askanischen" Bauleuten und mit den gleichen architektonischen Details. Die Umwandlung anfänglicher Rechteckchöre zu polygonalen Apsiden, was häufig am Abschluß der Baugeschichte stand, ist dabei die wesentlichste Bedeutungsaufwertung, die die Bettelordenskirchen in der Mark Brandenburg der Einflußnahme des Landesherrn auf die Baugestalt zu verdanken haben. Trotz dieses so deutlichen Anteils der Landesherrschaft an der Baugestalt märkischer Klosterkirchen haben diese den Charakter und das Wesen reformmonastischen Bauens nicht eingebüßt. Das Innere der Klosterkirche von Jerichow bewahrt das für die Reform vorbildliche Bau- und Raumideal aus frühchristlicher Zeit in überraschender Reinheit. In Chorin ist die „zisterziensische" Flächigkeit der Fassadengestaltung trotz bedeutungstragender Formgebung eingehalten, und auch die Bettelordenskirchen bleiben Häuser unter den Häusern der Stadt und werden nicht zu turmreichen Bildern der Civitas Dei. Gerade durch dieses Zusammenwirken von baukünstlerisch entgegengesetzt intendierten gesellschaftlichen Kräften sind Leistungen entstanden, die - wie im Falle von Jerichow und Chorin - ihren Platz in der Architekturgeschichte Europas behaupten. Nachsatz Die Arbeiten von Renate Wagner-Rieger (Die Bedeutung des Bauherrn für die Gestaltung von Zisterzienserkirchen, in: I Cistercensi e il Lazio. Atti delle giornate di studio dell'Istituto di Storia dell'Arte dell'Università di Roma, 1 7 - 2 1 maggio 1977, S. 5 3 63, und Die Habsburger und die Zisterzienserarchitektur, in: Die Zisterzienser. Ordensleben zwischen Ideal und Wirklichkeit, Ergänzungsband, Köln 1982, S. 195-211) sowie die ihres Schülers Mario Schwarz (Studien zur Klosterbaukunst in Österreich unter den letzten Babenbergern, Wien 1981 [ = Dissertationen der Universität Wien 147]) sind mir leider erst während der Drucklegung bekannt geworden. Sie haben - das geht schon aus dem ersten der genannten Titel hervor - den gleichen Gesichtspunkt bei der Gestaltinterpretation von Klosterkirchen, hier speziell der Zisterzienser, zugrundegelegt, und sie kommen ebenfalls zu dem Ergebnis, daß die Einflußnahme des Landesherrn die Hervorbringung und Bevorzugung
239
von für den Orden gar nicht selbstverständlichen Bauformen und -gewohnheiten zur Folge hatte. Bemerkenswert ist bei den österreichischen Bauten des 12. Jahrhunderts die Feststellung einer Vorliebe für (Bandrippen-)Wölbung im gebundenen System, wobei der Augustinerchorherren-Stiftskirche der babenbergischen Gründung in Klosterneuburg die Rolle eines Initialbaues zuerkannt wird, dem dann die erste Zisterzienserkirche in Heiligenkreuz gefolgt sei (nicht ganz unumstritten, vgl. H A N N O H A H N , Die frühe Kirchenbaukunst der Zisterzienser, Berlin 1957). „Eine Ableitung . . . führt einerseits zum Vorbild des Domes von Speyer, andererseits nach Italien" (Die Bedeutung des Bauherrn . . . S. 54). Also auch hier unter dem Einfluß des Landesherrn die Wahl imperialer Bauformen für die Ordenskirchen markgräflicher Hausklöster. R. Wagner-Rieger setzt darüberhinaus die Kirchen der Gründungen von Ministerialen gestalterisch von denen der seit 1156 herzoglichen der Babenberger ab: Zwettl, eine Gründung der Kuenringer, gegen Heiligenkreuz (ebenda S. 59). Der gestalterisch wirksame Repräsentationswille des führenden Landesfürsten in der Kirchenbaukunst des Ordens wird dadurch noch deutlicher hervorgehoben. In der Entwicklung und Vorliebe für den Hallencharakter der Chorseitenschiffe, zu denen der rechteckig geführte Umgang und die Randkapellen (etwa des Typs Ebrach oder Riddagshausen) verschmolzen sind, wie es an der Kirche des 1202 babenbergisch gegründeten Zisterzienserklosters Lilienfeld der Fall ist, erblickt R. Wagner-Rieger die Aufnahme von Motiven der königlichen Kathedralarchitektur Frankreichs, was der baurepräsentativen Zielstellung des Landesherrn im 12. Jahrhundert adäquat wäre (Die Habsburger . . . S. 198). Doch müßte für die auch andernorts zu beobachtende Veränderung des älteren Chorschemas - zu vergleichen wäre Walkenried wohl zugleich an eine Änderung der liturgischen Gebräuche als Ursache gedacht werden. Zukünftige Forschung über monastische Architektur des Mittelalters wird mit Renate Wagner-Rieger neben die Betrachtungsgesichtspunkte „Ordensbaukunst" und „Kunstlandschaft" den soziologischen Aspekt stellen müssen. Sie bewahrt damit das Andenken an die um die Erforschung der Kirchenbaukunst mittelalterlicher Reformorden so verdienten Wissenschaftlerin.
Zur Frage der Westemporen in der mittelalterlichen Kirchenarchitektur Ungarns V o n GEZA ENTZ
In einem vor mehr als zwei Jahrzehnten erschienenen Aufsatz über die Abstammung, Entwicklung und Funktion der Westemporen romanischer Kirchen in Ungarn hatte ich die Aachener Pfalzkapelle Karls des Großen auf das karolingische Westwerk bezogen. 1 Pfalzkapelle und Westwerk sind nicht nur konstruktiv, sondern auch funktionell miteinander verwandt. In ihnen offenbart sich kaiserliche Repräsentation. Dies wurde von deutschen Forschern in gleicher Weise gesehen. 2 Mit Fels und Reinhardt habe ich auch die zahlreichen Westemporen rheinischer, nord- und mittelfranzösischer Kirchen auf das Westwerk zurückgeführt. 3 In diesem Zusammenhang wurde auf die Westfassade der Abteikirche Jumiéges verwiesen, wo sich die Kapelle im Obergeschoß in einem weiten Bogen gegen das Schiff hin öffnet. Das mächtige Glockenturmpaar nimmt die Stelle der karolingischen Treppentürme ein. D i e Aachener Palastkapelle gilt schließlich als Prototyp der Doppelkapellen, deren oberes Geschoß dem feudalen Herrn diente. 4 Die zweitürmigen Westfassaden der ungarischen Familienklosterkirchen mit ihren Westemporen wurzeln in dieser europäischen Tradition. In welchem Verhältnis standen Westwerk und Westempore? Carol Heitz nahm das Westwerk in Centula als die Kultstätte des siegreichen Salvators. Angilbert, einer der treuesten Anhänger des Kaisers und Erbauer der Klosterkirche, hat die triumphale Liturgie bis ins Detail hinein festgelegt, die im dortigen Westwerk gefeiert wurde. Heitz schreibt: „A la notion ,d'église ou de chapelle imperiale' adoptée par les savants allemands, nous préferons done une appellation plus conforme ä la véritable destination des antéglises occidentales. Elles étaient avant tout centres d'un cuite christologique poussé, dans lequel l'empereur trouvait naturellement sa place e n t a n t q u e mediator D e i ou typum Christi gerens. N'oublions pas que sur le sceau de Charlemagne étaient gravés ees mots: Christe, protege Carolum regem Francorum." 5 Nach Friedrich Möbius nahm zu den feierlichen Christusfesten im Obergeschoß des Centulaer
Westwerks, das dem Salvator geweiht war, der Abt des Klosters Platz, zusammen mit seinen Mönchen und den „nobiles viri" des Gaues Ponthieu. D e r Klosterabt regierte diesen Gau im Auftrage des Königs. D a s Volk stand im westlichen Teil des anschließenden Langhauses und nahm zu ebener E r d e an den Festgottesdiensten auf dem Westwerkobergeschoß teil. 6 Die niederen Schichten der Gesellschaft standen auch räumlich unter dem Adel. „Volksbenutzung und Herrscherbezug" erscheinen zu den Festgot1 GÉZA ENTZ, Westemporen in der ungarischen Romanik, in: Acta Historiae Artium Academiae Scientiarum Hungaricae 6, 1959 (1/2), S. 1 - 1 9 . 2 ALOIS FUCHS, Die karolingischen Westwerke und andere Fragen der karolingischen Baukunst, Paderborn 1929; Ders., Entstehung und Zweckbestimmung der Westwerke, in: Westfälische Zeitschrift 100, 1950, S. 2 2 7 - 2 7 8 ; Ders., Zum Problem der Westwerke, in: Karolingische und ottonische Kunst. Werden, Wesen, Wirkung, Wiesbaden 1957, S. 1 0 9 - 1 1 7 ( = Forschungen zur Kunstgeschichte und christlichen Archäologie 3) ; Ders., Das Westwerk in Corvey - keine Kaiserkirche? In: Westfalen 43, 1965, S. 1 5 3 - 1 6 0 ; ADOLF SCHMIDT, Westwerke und Doppelchöre. Höfische und liturgische Einflüsse auf die Kirchenbauten des frühen Mittelalters, in: Westfälische Zeitschrift 106, 1956, S. 3 4 7 - 4 8 3 ; EDGAR LEHMANN, Zur Deutung des karolingischen Westwerks, in: Forschungen und Fortschritte 37, 1963 (5), S. 1 4 4 - 1 4 7 ; Ders., Kaisertum und Reform als Bauherren in hochkarolingischer Zeit, in: Festschrift Peter Metz, Berlin (West) 1965, S. 7 4 - 9 8 ; Ders., Die Architektur zur Zeit Karls des Großen, in: Karolingische Kunst, Düsseldorf 1965, S. 3 0 1 - 3 1 9 ( = Karl der Große, Bd. III). Vgl. die Zusammenfassung „Das Westwerk als Kaiserkirche" bei FRIEDRICH MÖBIUS, Westwerkstudien, Jena 1968, S. 1 3 - 1 9 . 3
HANS
REINHARDT u n d
ETIENNE
FELS, E t u d e
sur
les
églises-
porches Carolingiennes et leur survivance dans l'art roman, in: Bulletin monumentale 92, 1933 (3), S. 3 3 1 - 3 6 5 ; 96, 1937 (4), S. 4 2 5 - 4 6 9 . /l Artikel „Doppelkapelie" im Lexikon der Kunst, Bd. 1, Leipzig 1968, S. 555 f. 5 CAROL HEITZ, Recherches sur les rapports entre architecture et liturgie a l'époque carolingienne, Paris, 1963, S. 161. 6 MÖBIUS 1968 wie Anm. 2, S. 80 ff. Vgl. dazu die Kritik von ANDRZEJ TOMASZEWSKI, Romanskie koscioly z emporami zachodnimi na obszarze Polski, Czech i Wegier, Wroclaw/Warszawa/ Krakow/Gdansk 1974, S. 361 ff., 410, 414 ( = Polska Akademia Nauk, Instytut Sztuki, Studia z historii Sztuki, tom XIX), sowie die Annahme der kritischen Einwände bei FRIEDRICH MÖBIUS, Basilikale Raumstruktur im Feudalisierungsprozeß. Anmerkungen zu einer „Ikonologie der Seitenschiffe", in : Kritische Berichte 7, 1979 (2/3), S. 17, Anm. 79.
Zur Frage der Westemporen tesdiensten „als eine spannungsvolle Einheit. Es ist die widerspruchsvolle Einheit der sich heranbildenden feudalen Klassengesellschaft, die im karolingischen Westwerk ihre umfassende künstlerische Gestaltung erfuhr. Das Leitbild des künstlerisch architektonischen Schaffens ist der über seinem Volke thronende König, der eine neue Einheit von Geist und M a c h t . . . verkörpert, ein göttlich legitimierter König als Sinnbild einer neuen geschichtlichen Kraft." 7 Französische Ausgrabungen haben die im Klosterbereich stehende Marienkapelle als einen Zentralbau in der Nachfolge der Aachener Pfalzkapelle nachgewiesen. 8 Möbius schließt daraus, daß es diese Kapelle war, die der Herrscher für Privatandachten nützte, wenn er sich im Kloster befand. Das Westwerk der Klosterkirche in Centula diente also nur mittelbar der kaiserlichen Repräsentation. Heitz und Möbius sind sich darin einig, daß Westwerk und Pfalzkapelle verwandte, aber nicht identische Funktionen besaßen. Edgar Lehmann schrieb in seiner Rezension über das Werk von Heitz der Liturgie eine konstruktiv gestaltende Rolle zu, ohne den Zusammenhang mit der Aachener Kapelle abzuwerten. Mit dem Blick auf das Westwerk in Corvey unterstützte er die Feststellung von Heitz, nach der die Verwischung der triumphalen Züge des Salvatorkultes auch die Herrscherrepräsentation in den Hintergrund drängte. Er fügte hinzu: „Vielleicht sollte man umgekehrt sagen, daß mit dem Sinken der zentralen Herrschermacht der Verlust am triumphalen Gehalt in der Liturgie notwendig verbunden sein mußte." Er zitiert am Ende die treffende Folgerung von Heitz: „ChristRoi et Vicarius-Dei, voici deux idées que se réfléchissent mutuellement dans un cadre, où on a eu soin de hiérarchiser strictement leurs rapports. Le jour où l'un et l'autre de ces cultes perdront de leur force, l'égliseporche aura vécu." 9 Aus dem Westwerk hat sich nicht nur die Westempore entwickelt, sondern auch der westliche Fassadenturm. Der Westeinturm übernahm häufig die Emporenlösung samt der liturgischen Funktion der Herrscherempore. In Saint-Savin schmücken den Raum im ersten Stockwerk Wandmalereien mit den Szenen des Leidens und der Auferstehung Christi. Im Bogenfeld oberhalb der Öffnung gegen den Altar erscheint die Majestas Domini, darunter das Lamm Gottes in einem von Engeln getragenen Medaillon. Das ikonographische Programm wurzelt im Osterfestkreis, die Raumgestaltung entspricht einem Ka16
Architektur
241
pellen-Sanktuarium. Die westliche Turmempore der Pfarrkirche von Schwäbisch-Hall war ursprünglich gegen das Langhaus ebenso offen wie in Saint-Savin. 1 0 Über der Öffnung erscheint gemalt die Majestas Domini, daneben Abrahams Mahl, eine Darstellung eucharistischen Inhalts. Die Kirche in Schwäbisch-Hall ist eine Stiftung der Hohenstaufen. Konrad III. regte ihren Bau an. Zur Weihe im Jahre 1156 war der Herzog von Schwaben, ein Neffe Friedrich Barbarossas zugegen. Auch das orthodoxe Christentum kannte den Bezug der oberen Kapelle in der Westpartie auf den Feudalpatron. Im Obergeschoß der Westfassade der Christi-Verklärungs-Kirche an der Elias-Straße in Nowgorod, 1374 im Kaufmannsviertel gebaut, befinden sich zwei Kapellen, die durch eine in der Westmauer ausgesparte Treppe zu erreichen sind. Die an der Südseite diente als Kapelle der Stifterfamilie. 1 1 Mit dem Buch von Andrzej Tomaszewski über die Westemporenkirchen in Polen, Böhmen und Ungarn wurde wichtiges neues Material erschlossen. 12 Der Autor kann in einem Gebiet, das sich im 10. Jahrhundert der westeuropäischen Kultur angeschlossen hat, 34 polnische, 105 böhmische und 94 ungarische ein-
7 FRIEDRICH MÖBIUS, Zur Deutung des karolingischen Westwerks, in: Acta Historiae Artium Academiae Scientiarum Hungaricae 14, 1 9 6 8 (3/4), S. 1 2 4 . 8 HONORÉ BERNARD, Premières fouilles à Saint-Riquier, in: Karolingische Kunst, Düsseldorf 1 9 6 5 , S. 3 6 9 - 3 7 3 ( = K a r l der Große, Bd. III).
EDGAR
9
Anm. 5),
LEHMANN,
in:
Rezension
Kunstchronik
17,
von
1964
CAROL (6),
HEITZ
1963
S. 1 6 0 - 1 6 9 .
Das
(wie an-
geführte Zitat bei HEITZ S. 1 4 5 . - Kaiser K a r l IV. betont von neuem die kaiserliche Repräsentation. Die von ihm am Marktplatz in Nürnberg zwischen 1 3 5 5 und 1 3 6 1 errichtete Frauenkirche besitzt eine Westempore und einen viereckigen Vorbau mit dem Wappen der Luxemburger in der Mitte der Brüstung. Von der Brüstung herab wurden die Reichskleinodien vorgewiesen. A m südlichen Querbau der Marienkirche in Mühlhausen zeigt sich K a r l IV. mit seinem Gefolge. Die Darstellung erinnert an die Erscheinung des Herrschers im frühmittelalterlichen Westwerk,
vgl.
HELGA
WAMMETSBERGER
(jetzt
HELGA
SCIURIE),
In-
dividuum und Typ in den Porträts Kaiser K a r l IV., in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, gesellschafts-sprachwissenschaftliche Reihe 1 6 , 1 9 6 7 (1), S. 84, 90 f. 1 0 EDWARD KRÜGER, Das romanische Schwäbisch-Hall und sein Münster, in: Württembergisch Franken 1 9 6 5 , S. 6 6 - 1 0 4 . 11
Zu
Baugeschichte
und
Ausstattung
vgl.
HUBERT
FAENSEN
und WLADIMIR IWANOW, Altrussische Baukunst, Berlin 1 9 7 2 , S. 3 7 6 f. Vgl. auch die Rezension von G. K . WAGNER ZU MÖBIUS 1 9 6 8 (wie Anm. 2) in: Sowjetskaja Archeologija 1 9 7 0 (3), S. 2 8 8 - 2 9 0 , der nachdrücklich auf die Verwandtschaft von westeuropäischem Westwerk und den zahlreichen Herrscheremporen der osteuropäischen mittelalterlichen Baukunst verweist (die wichtigsten Beispiele in dem Buch von FAENSEN/IWANOW). 12
TOMASZEWSKI 1 9 7 4
w i e A n m . 6.
242
G É Z A ENTZ
oder dreischiffige Kirchen nachweisen. Die romanischen Basiliken und einschiffigen Kirchen mit Westemporen waren in allen drei Ländern sehr beliebt. Es ist zu bedauern, daß die deutsche Forschung der Westemporenfrage in der ländlichen Architektur des 12.-13. Jahrhunderts noch nicht nachgegangen ist. Tomaszewski versteht die von ihm untersuchten Kirchen als Kultgebäude, deren Hauptfunktion liturgischer Natur war. Aus der liturgischen Aufgabe erwuchs die architektonische Gestalt. Das Patronat - der feudale Eigenkirchenherr - scheint keine architekturprägende Rolle gespielt zu haben. Der Autor wendet sich gegen die von den böhmischen Forschern aufgestellte Hypothese vom engen Zusammenhang zwischen Turmemporen und feudalen Sitzen. Archäologische Befunde widersprechen dieser, aus der Aachener Pfalzkapelle abgeleiteten Sicht. Nirgendwo befindet sich der Adelshof in der unmittelbaren Nachbarschaft der Emporenkirche. Die Ausgrabung von B. Polla in Zaluzany (Zips) hat gezeigt, daß der älteste turmartige Kern des Adelshofes von der romanischen Kirche ungefähr 60 m entfernt liegt. 1 3 Auch meine Annahme, daß die Westempore der Platz des Patrons sei, wo er über dem Volk sitzend an den beim Hauptaltar vorgenommenen religiösen Handlungen teilnimmt, wird zurückgewiesen. Die Westempore befindet sich am weitesten vom Sanktuarium entfernt, von dort aus ist der Altar oft kaum zu sehen. Nach Tomaszewski ist der Platz des Feudalherrn dicht beim Altar, und das Volk stand hinter ihm. Es gab freilich auch Turmwestemporen als feudale Privatkapellen, in denen Messen für den Patron gelesen wurden. Bei Gemeindegottesdiensten stand der feudale Herr jedoch beim Altar. Der Patron besaß das Recht, „in medio ecclesie" beigesetzt zu werden. Der Platz des Herrn muß bei öffentlichen Gottesdiensten in der Nähe des Chors oder Altars gesucht werden. Nachdem Tomaszewskis Buch erschienen ist, hat Dezsö Dercsenyi die Aufmerksamkeit auf eine schon vor einem Jahrhundert publizierte, aber wenig beachtete Urkunde gelenkt: Im Jahre 1347 regeln die Adeligen aus Ober- und Unterdörögd die liturgische Nutzung der Andreaskirche in Oberdörögd. Die Kirche wurde damals vom Erlauer (Egerer) Bischof Nicolaus Dörögdi erweitert. Die Urkunde bestimmt die Stelle des Patrons und seiner Verwandten in der Kirche folgendermaßen: „nobiles de superiori Dörögd praefatae ecclesiae patroni stabunt et orabunt coram majori Altari Beati Andreae et ante et iuxta
Altare beatae Virginis, et nobiles dominae ad eos pertinentes stabunt in latere dicti altaris B. Virginis juxta prioritatem ad occidentem, praefati vero nobiles de inferiori Dörögd stabunt ante et juxta Altari Beati Dominici . . . et nobiles dominae . . . in latere eiusdem Altaris . . . juxta prioritatem ad occidentem. Sepulturam etiam habebunt, si voluerunt in eadem ecclesia in angulo versus meridiem, alii vero Christiani viri et mulieres utriusque villae stabunt in ipsa ecclesia . . . prout eos decet, et ipsi et ipsorum jobagiones . . . tempore persecutionis ad ipsam ecclesiam confugere se et sua bona in eadem parti meridionali reponere valeant . . ," 14 Diese einzigartige Angabe hat die Ausgrabung der Kirche in Taliandörögd angeregt. (Abb. 1) In den Jahren 1975-1977 hat Alan Kralovänszky, Direktor des Museums in Veszprem, unter Mitwirkung von Tomaszewski das ganze Ruinenfeld freigelegt. So kam der bisher unbekannte Grundriß des auf römische Grundmauern gesetzten und durch Nikolaus Dörögdi vor 1347 vergrößerten Gebäudes mit den Fundamenten des Hauptaltars und der Nebenaltäre in den Nord- und Südostecken des Langhauses samt den Spuren der Pfeilerpaare der Westempore zum Vorschein. Das ermöglichte die sichere Deutung der Urkunde. Da als Begräbnisstätte für die Verwandtschaft von Unterdörögd die Ecke der Südseite bestimmt war, dürfte der südliche Nebenaltar dem Dominikus, der nördliche der Jungfrau Maria geweiht gewesen sein. 15 Trotz der Existenz der Westempore stehen der Patron und seine Familie vor und neben dem Hauptaltar und dem Nebenaltar. Die Bevölkerung der zwei Gemeinden hatte ihren Platz hinter den Familien der Gutsbesitzer, im westlichen Teil des Langhauses, „prout eos decet." Im Falle einer Gefahr dürfen sie ihre Habe im Südteil der Kirche aufbewahren. Im böhmischen Dorf Potvorov konnten die Hörigen des Propstes und Abtes laut Abkom-
13
TOMASZEWSKI
1974
wie
A n m . 6, S. 2 9 4 - 2 9 7
und
Abb.
131,
132. 14
IVÁN ADÁM, A f e l s ö d ö r ö g d i t e m p l o m . E g y h á z m ü v é s z e t i
(Die Kirche von Felsödörögd), in: Blatt für Kirchenkunst S. 2 1 3 - 2 1 5 .
-
DEZSÖ
DERCSÉNYI,
A
kozép-európai
Lap 1882,
épitészet-
torténet felé (Gegen mitteleuropäische Architekturgeschichte),
in:
M ü v é s z e t 1 9 7 5 ( 3 ) , S. 4 7 - 4 8 . 15
D i e Flurgänge
(metales) u n d die T e i l u n g e n d e r G ü t e r
visionales)
bezeichnen
Längsachse
der
lich auch m i t
oft
die
Patronatskirche. der
Kirche zusammen, klar hervorgeht.
Stellung wie
der
Grenze Diese
des
Eigentums
Teilung
feudalen
hing von
(dider
offensicht-
Herrenfamilie
dies aus d e r U r k u n d e
in in
der
Felsödörögd
Zur Frage der Westemporen
men von 1281 „in inferiori parte ecclesie" Aufenthalt nehmen, nicht aber „in superiori parte et turre", also nicht auf der Westempore, die offenbar dem Patron vorbehalten blieb. 16 D i e Stellung der Feudalherren in der Nähe des Altars läßt auch eine unsicher datierte Urkunde des schon erwähnten Bischofs Nikolaus Dörögdi vermuten. E r ordnet eine Untersuchung an im Streit um das Patronatsrecht zwischen Laurentius und Ladislaus Nagymihalyi. Danach sollte Johannes, Vicearchidiakon im Komitat Ung, Pfarrer in Doböruszka, klarstellen: „si domina consors eiusdem Laurentii quadam vice irruens super aram, rapuerit calices et impedivit sacerdotem, ne celebraret presente Ladislao." 1 7 Es ist nicht zu bezweifeln, daß das gewaltsame Vorgehen des weiblichen Mitglieds der Patronatsfamilie in der Nähe des Altars viel wahrscheinlicher ist als in der entfernten Westempore. Was war die eigentliche Bestimmung der Westemporen in den einschiffigen Dorfkirchen? 1 8 In Böhmen betrifft diese Frage ebenso die turmlose Variante wie den Turm vor der Fassade, in Ungarn vor allem den ins Langhaus eingelagerten Mittelturm, der mit dem Arkadenbau der Westempore eine organische und einheitliche Komposition bildet. Die ausschließliche Deutung der Westempore als Herrenloge kann nicht mehr aufrecht erhalten werden. Für einen Sängerchor fehlen vorläufig noch Beweise. Die 16*
243
Urkunde von Potvorov läßt einen Wehrzweck vermuten. Darauf deuten auch andere schriftliche Quellen. Im Jahre 1328 wurde die den Aposteln Simon und Juda geweihte Pfarrkirche der Gemeinde Össöd (Komitat Hont) ausgeplündert, wobei „wertvolle Kleider, silberne Gürtel, Waffen und alles, was in derselben Kirche sie (nämlich die Patrone Nikolaus und Gregor Gyulafi) gehabt haben", entführt wurden. 1 9 D e r Gutsherr hatte also seine Schätze in der Kirche aufbewahrt. Den genauen Ort gibt die Urkunde natürlich nicht an. Möbius hat überzeugend die Mehrzweckhaftigkeit des Westwerks nachgewiesen und damit die Mehrseitigkeit seiner Funktion. 2 0 Ein ähnlicher Mehrzweckcharakter hat sicherlich auch die Westemporen der ungarischen Dorfkirchen bestimmt. Dazu noch die folgenden Bemerkungen,
10
TOMASZEWSKI 1 9 7 4 w i e A n m . 6 , S. 2 4 6 .
17
Sztäray Okleveltär (Archiv der Familie Sztäray), Budapest, Bd. I, S. 4 1 - 4 3 . 18 D i e Westemporen finden sich normalerweise in Kirchen mit Langschifi. In Polen taucht diese Lösung auch in Rundkirchen auf (Cieszyn). Ein ähnliches Beispiel w u r d e unlängst in Westungarn (Hidegseg) entdeckt. IRME BODOR, Hidegseg r. k. templomänak epitestörtenete (Die Baugeschichte der römisch-katholischen Kirche in Hidegseg), in: Magyar Müemlekvedelem 1 9 7 3 - 1 9 7 4 (Ungarische Denkmalpflege), Budapest 1977, S. 2 3 3 - 2 4 4 . Zu Cieszyn s i e h e TOMASZEWSKI 1 9 7 4 w i e A n m . 6 , S. 2 6 u n d A b b . 2 7 . 19
Anjoukori O k m ä n y t ä r (Urkundenbuch aus der Anjou-Zeit), Bd. II, S. 370 f. 20
MÖBIUS 1 9 6 8 w i e A n m .
2.
244
GEZA ENTZ
Der eingeschobene Mittelturm mit Westempore darf als ein spezieller Typ der Dorfkirche im mittelalterlichen Ungarn gelten (Abb. 2). In Polen fehlt er, in Böhmen kommt er selten vor (Kojice, in gewis-
ser Hinsicht die Martinskirche in Prag). Tomaszewski leitet ihn von den dreischiffigen Basiliken der Siebenbürger Sachsen und der Deutschen im damaligen Nordungarn ab. In der Zips und in der Bergwerk-Gegend fehlen die einschiffigen Lösungen völlig, in Siebenbürgen gibt es sie nur zweimal (Urwegen und Reussmarkt). Es ist kaum anzunehmen, daß diese zwei Bauwerke das Muster abgegeben haben zu dem in ganz Ungarn verbreiteten Kirchentyp. Die umgekehrte Abstammung ist viel wahrscheinlicher. Die Turmempore der sächsischen Basiliken öffnet sich ähnlich wie in Saint-Savin und Schwäbisch-Hall mit weitem Bogen gegen das Hauptschiff (Abb. 3). In der Turmempore der Probsteikirche von Felsöörs (Plattensee) hat Bartholomeus, Bischof von Veszprem, 1240 einen dem Erzengel Michael gewidmeten Altar geweiht, den Margareta aus der Sippe Osl, die Frau von Comes Miske, stiftete. Da die archäologische Forschung im Turmerdgeschoß unterhalb der auf die Empore führenden Treppe 1960 ein reprä-
2 Quer- und Längsschnitt der romanischen Kirche in Csaroda, Mitte des 13. Jh.
3 Längsschnitt der Kirche in Großschenk (Cincu), 1. Hälfte des 13. Jh.
4
Empore der Probsteikirche in Felsöörs
Zur Frage der Westemporen sentatives Herrengrab entdeckt hat, ist die Be2iehung zwischen Turmempore und Patron hier nicht 211 bestreiten. 2 1 D i e Turmempore im Obergeschoß der Kirche in Sächsisch Reen verbindet sich mit der dreiteiligen A r k a d e n e m p o r e der Familienklöster. D i e von Thomas Losonczi um 1330 gestiftete B a s i l i k a hat die beiden charakteristischen Formen miteinander verschmolzen. 2 2 D i e a u f w e n d i g s t e Form der Emporen vertreten in Ungarn die Familienklosterkirchen mit ihrer organischen Verbindung von repräsentativer Zweiturmfassade und Westempore. Ihre Entwicklung reicht vom 11. bis ins 13. Jahrhundert. D i e Emporen dieser Basiliken waren groß genug für liturgische Handlungen. D i e F a m i l i e des Patronatsherrn hatte ihren Platz ebenso in der Nähe des Altars w i e auf der Westempore. In der W e s t m a u e r der Empore in J ä k diente die erhöhte mittlere der drei Nischen nachweislich als Sitz für den Patron (Abb. 5, 6). Sitznischen befinden sich ebenso im nördlichen Emporenjoch. Auch ein A l t a r darf hier vermutet werden. D a s ikonographische Programm der figuralen W a n d m a l e r e i im Erdgeschoß der Westempore ist wahrscheinlich auf den Stifter und dessen Familie bezogen. D i e in J ä k entwickelte Lösung erlaubt die Vermutung, d a ß die Westemporen der Familienklosterkirchen für liturgische Zwecke errichtet wurden, in die die Reprä-
245
sentation der Patronatsherren hineinspielte. 2 3 Aus den Familienklosterkirchen gingen die einschiffigen Kirchen mit Doppelturmfassaden und die einschiffigen Dorfkirchen mit eingeschobenem Turm hervor. Diese drei Typen der Emporkirchen stellen historisch und geographisch eigenständige Ausformungen jener Tradition dar, die letztlich im karolingischen Westw e r k wurzelt. Eine Alternative zwischen liturgischer oder sozialgeschichtlicher Form gibt es wohl k a u m : In liturgischen Formen spiegelten sich auch soziale Interessen. W e i t e r e Forschungsergebnisse sind von der dialektischen Verfeinerung dieses Problemkömplexes zu e r w a r t e n . M
21
FERENC
ERDEI
und
SÄNDOR
TÖTH,
22
5
Längsschnitt der Georgskirche in Jak, 1220-1256
und
23
GEZA ENTZ, D i e
Wandmalereien
der Westempore
in
Jäk,
i n : B e i t r ä g e zur Kunstgeschichte und D e n k m a l p f l e g e , Wien/Stuttgart 1 9 7 5 , S. 1 7 2 - 1 8 1 . 2 4 A u f z u a r b e i t e n w ä r e in diesem Zusammenhang auch: PETER LANDAU, J u s Patronatus, Köln 1975.
\
10 m
1966.
frühgotischen Kirchen in Siebenbürgen, i n : Siebcnbürgische V i c r teljahrschrift 1935, S. 7 1 und A b b . 9, 10, 2 3 .
k 5
prepostsägi
WALTHER HORWATH, D e r E m p o r e n b a u d e r r o m a n i s c h e n
J IiÜ 1
6
Felsöörs
temploma ( D i e Propsteikirche von Felsöörs), B u d a p e s t
6 Sitznischen auf der Empore der Kirche von Jäk
Die Entfaltung der gotischen Baubetriebe Ihre sozio-ökonomischen Grundlagen und ihre ästhetisch-künstlerischen Auswirkungen
Von
DIETER
In den letzten Jahren habe ich in verschiedenen Beiträgen zu zeigen versucht, inwieweit an mittelalterlichen, insbesondere nordfranzösischen Großsakralbauten des 11. bis 13. Jahrhunderts eine ganz neue Bautechnik entwickelt wird. 1 Zur Erklärung des Phänomens befragte ich die strukturelle Veränderung der Baubetriebe, allgemeinere wirtschaftsund gesellschaftshistorische Prozesse und nicht zuletzt die Folgen der technologischen Umwälzung für die künstlerische Produktion und ästhetische Erscheinungsweise von Architektur. 2 Im folgenden will ich schildern, wie eine zusammen mit Robert Suckale betriebene und zunächst vor allem auf Stilkritik und Chronologie angelegte Untersuchung der Amienser Vierge Dorée zu uner-
KIMPEL
warteten Erkenntnissen geführt hat. 3 Um die einzelnen Bauabschnitte der Kathedrale von Amiens genauer gegeneinander abzugrenzen, waren wir auf die Idee gekommen, zu prüfen, wie bestimmte Bauglieder, die in den verschiedenen Bauetappen formal identisch wiederkehren, jeweils verfugt sind. Dabei stellten wir fest, daß z. B. sämtliche Wandvorlagen über den ganzen Bau hinweg nach einem einheitlichen Schema so gearbeitet sind, wie Abb. 1 zeigt. Die Stoßfugen (d. h. die senkrechten) verliefen abwechselnd in jeder zweiten Steinlage immer in derselben Richtung, die Steine sind also offenbar genormt ge-
1 D e r vorliegende Text ist eine Neufassung meines Vortrags „Die französischen Kathedralbaubetriebe - ökonomische, technische und ästhetische Entwicklungen und ihr Verhältnis zur Wirtschafts- und Sozialsttuktur der Städte", den ich unter anderer Schwerpunktsetzung auf dem Naumburger Kolloquium „Kunst und Stadt" des Jenaer Arbeitskreises für Ikonografie und Ikonologie im Mai 1980 gehalten habe, vgl. das Resümee in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, gesellschafts-sprachwissenschaftliche Reihe 30, 1981 (3/4), S. 3 1 9 321. Vgl. ferner: Le développement de la taille en série dans l'architecture médiévale et son rôle dans l'histoire économique, in: Bulletin monumental 135, 1977, S. 1 9 5 - 2 2 2 ; D i e Versatztechniken des Kölner Domchores, in: Kölner Domblatt 44/45, 1979/80, S. 2 7 7 - 2 9 2 ; L'apparition des éléments de série dans les grands ouvrages, in: Histoire et archéologie, Dossiers 47, 1980, S. 4 0 - 5 9 ; Ökonomie, Technik und Form in der hochgotischen Architektur, in: Bauwerk und Bildwerk im Hochmittel-
alter.
Hrsg.
v.
KARL
ACHIM KUNST u n d
CLAUSBERG,
ROBERT
SUCKALE,
DIETER Gießen
KIMPEL, 1981,
HANS-JO-
S. 1 0 3 - 1 2 5 ,
ein Band, in dem die Beiträge der Tagung des Ulmer Vereins in Marburg 1979 gesammelt sind. 2 Ein noch unveröffentlichtes Buchmanuskript gliedert sich in folgende Abschnitte: Einleitung, 1. D i e hochgotische Bautechnik am Beispiel der Kathedrale von Amiens, 2. D i e frühromanische Bautechnik am Beispiel des Speyerer Doms und der normannischen Kirchen des 11. Jahrhunderts, 3. Die Entfaltung der Bautechnik vom 11. zum 13. Jahrhundert, 4. Die Entwicklung der Baubetriebe vom 11. zum 13. Jahrhundert, 5. D i e wirtschaftsund gesellschaftsgeschichtlichen Aspekte, 6. D i e Entwicklung der Arbeit und der Berufsprofile im Bauwesen (Die Soziogenese des modernen Architektentypus), 7. D i e ästhetische Erscheinung der hochgotischen Architektur. 3
DIETER KIMPEL u n d
ROBERT SUCKALE, D i e
Skulpturenwerk-
statt der Vierge D o r é e am Honoratusportal der Kathedrale von Amiens, in: Zeitschrift f ü r Kunstgeschichte 36, 1973, S. 2 1 7 - 2 6 5 .
Die Entfaltung der gotischen Baubetriebe
247
wesen. Diese Normierung betrifft nicht alle Werkstücke. D i e Steine in der Lage a und die mittleren Steine in der Lage b haben immer denselben Grundriß, die seitlichen Steine der Lage b greifen jedoch auf die angrenzenden Mauern über, und zwar verschieden weit. Insgesamt bestehen die Vorlagen also aus nur vier Steintypen, von denen nur dieser letzte in seiner Seitenerstreckung nicht festgelegt war. Es handelt sich bei diesen um „Zahn- oder Wartesteine", weil sie für die Verzahnung mit der angrenzenden Mauer bestimmt waren und weil sie vor dieser Mauer errichtet worden sind, d. h. auf diese „gewartet" haben. Indem man nun diesen Steinen ihre größtmögliche Ausdehnung beließ, je nachdem wie groß der Rohquader aus dem Steinbruch kam, verfuhr man ausgesprochen ökonomisch. D i e „kantonierten" Freipfeiler, deren Profil sich aus einem mächtigen runden Pfeilerkern und aus vier 3/4 Runddiensten zusammensetzt, besitzen zwar auch ein Verfugungsschema, aber dieses ändert sich im Gegensatz zu den Wandvorlagen an bestimmten Stellen. D i e ältesten Pfeiler im Langhaus sind in
(obere Partien) und der Chorpfeiler ihrem unteren Drittel so verfugt, wie Abb. 2 zeigt, d. h. in der einen Lage bestehen die Werkstücke für die Dienstvorlagen jeweils aus einzelnen, gleichgroßen Steinen, während der Pfeilerkern längs oder quer geschnitten ist, in der anderen Lage ist das gesamte Profil einfach diagonal geteilt. Mit anderen Worten: Zur Herstellung dieser Pfeiler genügten insgesamt drei Steintypen. In ihren oberen Partien finden sich nur noch Steinlagen, die alternierend diagonal verfugt sind wie auf Abb. 3, so daß man hier mit einem einzigen Steintyp auskam. Außer einigen kuriosen Ausnahmen wie auf Abb. 4 4 und den atypisch geformten Polygonpfeilern sind sämtliche späteren Amienser Pfeiler nach diesem simplen und rationellen Schema aufgeführt.
4
2 Amiens, Schema der Langhauspfeiler (untere Partien)
Diese Pfeiler stehen im östlichen Nordquerhaus und nördlichen Langchor, also in einem Bereich, w o sich auch sonst sehr merkwürdige Techniken feststellen lassen. D i e Vierteilung der Lagen, wie wir sie hier antreffen, ist abgesehen von dem umständlichen Herstellungsprozeß auch statisch ungünstig. D e n n kurz vor und nach 1500 mußten einige dieser Pfeiler „en-sousoeuvre" erneuert werden. Vgl. KIMPEL/SUCKALE wie Anm. 3, dort Anm. 4 3 .
248
DIETER
KIMPEL
"
L
1
—
"
7
L
1 1
1
1
1
L-
5 Speyer, Mauerverband im Nordquerhaus. Nach Haas/Kubach 1972 wie Anm. 7
Langchor und östlichen Nordquerhaus
W i r vermuteten, d a ß die Vorlagen u n d Pfeiler und vermutlich auch noch weitere Bauglieder der K a t h e d r a l e von Amiens aus seriell vorgefertigtem Steinmaterial bestehen, das in einer A r t Fertigteilbauweise dann w ä h r e n d der Versatzperiode sehr schnell montiert werden konnte. D e r Kölner D o m baumeister Arnold Wölfl hatte schon 1968, wenn auch nur beiläufig, konstatiert, d a ß der „Fertigteilbau . . . etwa in Amiens zu dieser Zeit bereits voll ausgebildet w a r " . 5 Seiner Monographie über die erste Bauzeit des Kölner Domchores, der kunsthistorisch längst als Nachfolger von Amiens u n d v e r w a n d ter französischer Bauten erkannt war, konnte man entnehmen, d a ß die Kölner Techniken allem A n schein nach nicht so perfektionistisch gewesen sind, ein Problem, dem ich später dann selber einmal in einer kleinen Studie nachgegangen bin. 6 7
M i t dem Inventar des D o m s zu Speyer w u r d e die Erforschung der Bautechnik 8 mittelalterlicher G r o ß bauten auf eine neue Materialgrundlage gestellt. D i e Speyrer B a u m e t h o d i k hat sich grundlegend von der in Amiens unterschieden. Dies soll A b b . 5 verdeut-
liehen. D i e Versatzkolonnen haben sich bemüht, durchlaufende Lagerfugen, also jeweils gleichmäßige Steinschichten zu erreichen. Es ist ihnen dies jedoch nur ausnahmsweise gelungen. Immer wieder mußten sie Steine versetzen, die entweder zu hoch oder zu niedrig waren, was zu Sprüngen oder Treppen im Oberlager führte. In der jeweils nächsten Schicht kam es dann zu Komplikationen, weil kein gleichmäßig horizontal durchlaufendes Mörtelbett existierte. M a n arbeitete entweder Teile der schon versetzten Steine ab oder klinkte den zu versetzenden Stein an seinem Unterlager aus, oder man verwendete einfach kleine Flicksteine. Dies f ü h r t e dann zu einem sehr unregelmäßigen Fugennetz mit vielen Sprüngen. Aus diesem B e f u n d hat W a l t e r H a a s völlig zu Recht gefolgert, d a ß die Steinmetzen den Q u a d e r n bei der Zurichtung möglichst die G r ö ß e beließen, wie sie der Rohquader jeweils hergab. D a s ist aber das Gegenteil der N o r m i e r u n g von Amiens. Statt wie dort als vorgefertigte Elemente schnell montiert werden zu können, m u ß t e n die Steine in Speyer viel-
5
ARNOLD W O L F F , C h r o n o l o g i e
der
ersten Bauzeit des
Kölner
Doms 1248-1277, in: Kölner Domblatt 28/29, 1968, S. 113, §334. 6
KIMPEL 1 9 7 9 / 8 0 w i e A n m . 1.
7
HANS
ERICH
KUBACH
und
WALTER
HAAS,
Der
Dom
Speyer, 3 Bde., München 1972 ( = Die Kunstdenkmäler Rheinland-Pfalz). 8 Ebenda, Textband S. 464-659.
zu
von
249
Die Entfaltung der gotischen Baubetriebe mehr jeder für sich wohlüberlegt versetzt und in vielen Fällen noch während des Versatzvorgangs eigens angepaßt werden. In Speyer war demnach die Arbeitsteilung zwischen Steinmetzen und Versetzern noch nicht weit fortgeschritten, sondern hatte vielleicht sogar noch nicht einmal begonnen. Der gesamte Produktionsprozeß von der Grobzurichtung im Steinbruch über die Feinzurichtung auf der Werkbank bis hin zur Endzurichtung vor oder auch noch nach dem Versatz, inklusive des Versatzvorgangs selber, erfolgte spontan, indem der eine Arbeitsvorgang immer in unmittelbarem Hinblick auf den vorangehenden und folgenden vonstatten ging. Was in Speyer weitgehend synchron verlaufen ist, muß sich in Amiens dagegen diachron entwickelt haben. Die typisierten Steinelemente wurden hier offenbar nach Schablonen vorgefertigt, dann im Steindepot gelagert und erst dann versetzt, wenn man sie wirklich brauchte, wobei dieser Versatzvorgang, da in aller Regel keine Nachbearbeitungen nötig waren, entsprechend schnell erfolgen konnte. Diese entscheidenden Unterschiede der Bautechnik lassen eine unterschiedliche Struktur der jeweiligen Baubetriebe erwarten. Ich vermutete, daß der Amienser Betrieb charakteristisch dafür ist, was die Quellen die gotische „Bauhütte", „löge" oder „lodge" nennen. Der gotische Baubetrieb wird in vielen westeuropäischen Sprachen als ein geschlossener Raum charakterisiert. Die Speyrer Produktionsweise, typisch für den vorgotischen Baubetrieb, bedeutete, daß die Dauer des Produktionsprozesses auf die Versatzperiode beschränkt blieb, daß also der gesamte Betrieb im Winter ruhte. Bei Vorfertigung in der Hütte konnte man die Steine auch im Winter für den Versatz vorbereiten, d. h. eine ganze Berufsgruppe wurde von der bisher üblichen Winterarbeitslosigkeit verschont. Da dies eine beträchtliche Produktivitätssteigerung mit sich gebracht haben muß, wird es verständlich, daß der neue geschlossene und im Winter beheizbare Arbeitsplatz zum Synonym für den ganzen Betrieb geworden ist. Die Hütte mit ihrer Vorfertigung und mit der Fertigteilbauweise nach dem Montageprinzip muß den Produktionsvorgang von Grund auf revolutioniert haben. Bisherige bauarchäologische Untersuchungen hatten den Ansprüchen an eine „Industriegeschichte" noch nicht gerecht werden können. 9 Auch die vor allem auf dem Studium der mittelalterlichen' Quellen beruhenden Arbeiten lieferten keine hinreichenden Anhaltspunkte über die Entwicklung der Bau-
betriebe. 10 Die wirtschaftshistorische Literatur blieb diesbezüglich vage. 1 1 Überall war nur allgemein die Rede von dem mittelalterlichen Architekten, von dem mittelalterlichen Baubetrieb, von dem mittelalterlichen Handwerker. 1 2 Wenn wirklich einmal nach romanischem und gotischem Baubetrieb unterschieden wurde, dann in unbefriedigender Weise. 1 3 Aus der eigentlich kunsthistorischen Literatur ist lediglich Viollet-le-Duc mit seinem Dictionnaire zu nennen. 14 Ernst Gall hat sich in der frühgotischen Bautechnik sicher noch gut ausgekannt, 15 hat ihr aber meiner Meinung nach zu wenig Beachtung geschenkt. Um Produktionsmethoden, um die in den Kathedralen entäußerte Geschichte der Arbeit haben sich Autoren wie Jantzen, von Simson und Sedlmayr nicht gekümmert. 16 Die architekturgeschichtliche Forschung
9 Allerdings enthielten neben der Speyerer auch andere Baumonografien gelegentlich wichtige Einzelbefunde wie etwa GE-
ORGES H .
FORSYTH/WILLIAM
A.
CAMPBELL, T h e
Church
of
Saint
Martin at Angers, the Architectural History of the Site from the Roman Empire to the French Revolution, Princeton 1 9 5 3 , S. 1 8 3 ff. Eine wichtige Detailstudie ist KARL FRIEDRICH, Die Steinbearbeitung in ihrer Entwicklung vom 1 1 . bis zum 18. Jahrhundert, Augsburg 1932. 10
to
Vgl. Louis FRANCIS SALZMANN, Building in England down
1540,
Oxford
1952;
DOUGLAS
KNOOP/GWILYM
PEREDUR
JO-
NES, The Mediaeval Mason, Manchester 1 9 6 7 ; JOHN HARVEY, The Mediaeval Architect, London 1 9 7 2 ; PIERRE DU COLOMBIER, Les chantiers des cathédrales, 2. Aufl., Paris 1 9 7 3 ; JEAN GIMPEL, Les bâtisseurs de cathédrales, 2. Aufl., Paris 1 9 7 5 ; FRANCIS B. ANDREWS, The Mediaeval Builder and his Methods, 2. Aufl., East Ardsley/Wakefield/Totowa N. J. 1 9 7 6 . Vgl. auch die Bibliographie
bei
Du
COLOMBIER
1973,
S.
155-163.
Vgl. FRANS VAN DER VEN, Sozialgeschichte der Arbeit, 2 Bde., München 1 9 7 2 ; The Cambridge Economic History, Bd. 2 ; Trade and Industry in the Middle Ages, Cambridge 1 9 5 2 ; CARLO M. CIPOLLA (Hrsg.), The Fontana Economic History of Europe, Bd. 1 : The Middle Ages, o. O. 1 9 7 2 ; HANS MOTTEK, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Band 1, Berlin 1 9 7 3 . 1 2 Vgl. außer den in Anm. 1 0 genannten Titeln audi JOHN HARVEY, Mediaeval Craftsmen, London/Sydney 1 9 7 5 ; PAULBOOZ, Der Baumeister der Gotik, Berlin (West) 1 9 5 6 ; GÜNTER BINDING/ NORBERT NUSSBAUM, Mittelalterlicher Baubetrieb, Darmstadt 11
1978. 13
Vgl.
z. B .
GÜNTER
BINDING,
Der
romanische
Baubetrieb/
Die gotische Hütte, in: Rhein und Maas, Kunst und Kultur 8 0 0 1 4 0 0 , Köln 1 9 7 2 , S. 9 3 - 9 5 und 1 2 5 . 1 4 EUGÈNE VIOLLET-LE-DUC, Dictionnaire raisonné de l'architecture française du XI= au X V I e siècle, 1 0 Bde., Paris 1 8 7 5 . Vgl. dort vor allem Artikel wie „construction", „voutes" usw. 1 5 ERNST GALL, Die gotische Baukunst in Frankreich und Deutschland, Teil 1 : Die Vorstufen in Nordfrankreich von der Mitte des 1 1 . bis gegen Ende des 12. Jahrhunderts, Leipzig 1 9 2 5 . 1 6 HANS JANTZEN, Kunst der Gotik. Klassische Kathedralen Frankreichs - Chartres, Reims, Amiens, Reinbek 1 9 5 7 ; Ders., Die Gotik des Abendlandes - Idee und Wandel, Köln 1 9 6 2 ; OTTO VON SIMSON, The Gothic Cathedral, New York 1 9 5 6 ; HANS SEDLMAYR, Die Entstehung der Kathedrale, Zürich 1 9 5 0 .
250
DIETER KIMPEL
in Frankreich, England und den USA hat nicht selten Arbeiten hervorgebracht, die durch Theoriearmut und oft durch schieren Positivismus gekennzeichnet sind. So ist Robert Branner, um nur ein Beispiel zu nennen, sicher der profundeste Kenner hochgotischer Architektur gewesen, 17 methodisch bleibt er jedoch mit seinen Veröffentlichungen im Althergebrachten: in der sog. „Stilkritik" 1 8 und in der „Philologie", womit die angemessene Berücksichtigung direkter Mitteilungen des historischen Quellenmaterials über Auftraggeber, historische Umstände usw. gemeint ist. Forscher wie Branner haben jedoch architekturhistorisches und quellenkundliches Material zur Verfügung gestellt, das für eine realistische Geschichte der gotischen Architektur verwendbar ist. Erwin Panofsky hatte in seinem Essay „Gothic Art and Scolasticism" 19 noch allgemeine Analogien zwischen gotischen Formen und scholastischen Denkgebäuden rekonstruiert. Forschern wie Jacques Le Goff oder Georges Duby geht es eher darum zu zeigen, wie die Kathedralen die allgemeinen wirtschafts-, gesellschafts- und geisteshistorischen Entwicklungen reflektieren. Derartige Versuche, wie sie sich in Le Goff's „Kultur des Mittelalters" 2 0 und in Duby's „Die Zeit der Kathedralen" 2 1 niedergeschlagen haben, sind zwar historisch konkreter, doch die eigentlich relevante Geschichte der Arbeit gerät auch hier höchstens implizit ins Blickfeld. Die Kathedralen werden in diesen Arbeiten kaum als Quellen benutzt, die z. B. Aufschlüsse über die Entwicklung des menschlichen Produktivvermögens vermitteln können. Ich stellte mir die Aufgabe, bauarchäologische Befunde, wie sie Haas für Speyer bzw. Suckale und ich für Amiens gesichert hatten, für eine umfassendere Geschichte, für eine „nouvelle histoire" nutzbar zu machen. Zunächst erhoffte ich mir einen Überblick über die Bautechniken und die betriebswirtschaftlichen Prozesse innerhalb des mittelalterlichen Baugewerbes verschaffen zu können. Da derartige betriebsimmanente Entwicklungen nicht aus einer Eigendynamik produktionstechnischer Prozesse heraus erklärt werden können, galt es, sie in übergreifende Prozesse einzuordnen. Auf einer ersten Reise im Jahre 197 6 2 2 ging es mir vor allem darum, Bauten aus dem näheren Umkreis der Kathedrale von Amiens zu untersuchen, so in Rouen, Caen, Lisieux, Jumieges, Bayeux und Coutances, in Le Mans, Chartres, Beauvais, Soissons, Laon, Reims und Chalons sur Marne. Auch die Abteikirchen St. Germer-deFly und St. Remi in Reims wurden in die Aufnah-
men einbezogen. Ich suchte festzustellen, ob bestimmte Bauglieder, die ohne Gerüst und besondere Hilfsmittel erreichbar sind, aus seriell vorgefertigtem Steinmaterial bestehen. Dabei habe ich mich sehr einfacher Mittel bedient: eines Taschenmessers, um gegebenenfalls den Verlauf der Stoßfugen genauer auszumachen, und einer Taschenlampe, um dunkle Winkel und höher liegende Partien auszuleuchten. Bei vielen Bauten ist die Art der Verfugung schon auf den ersten Blick erkenntlich, bei anderen war sie wegen der dichten Stöße (Preßfugen) oft nur mit Schwierigkeiten auszumachen, wie etwa in der Kathedrale von Reims. Schließlich gibt es Bauten, die so stark verschlämmt oder verputzt sind, daß statistisch relevante Befunde kaum zu sichern waren. Dies ist z. B. bei der Kathedrale von Chartres der Fall. In Amiens habe ich die Höhe der einzelnen Steinlagen bei den Wandvorlagen ausgemessen und in zwei Diagramme (Abb. 6 und 7) übertragen. Sie zeigen in benachbarten Kolonnen die Nivellierung einmal der nördlichen und einmal der südlichen Wandvorlagen jeweils von der Basis bis in eine Höhe von knapp 3 Metern. Der jeweilige Ort der Vorlagen ist aus den Signaturen des beigefügten halbierten Grundrisses zu ersehen. Man erkennt, daß die östlich der Querhausachse liegenden Vorlagen höher, nämlich auf dem erhöhten Chorniveau, stehen. Sie sind jünger als die westlichen, niedriger stehenden, und gehören sämtlich schon dem zweiten Bauabschnitt an. Während die Langhausvorlagen zwischen 1220 und 1235 entstanden sind, datieren die östlichen aus der Zeit zwischen 1235 und 1245. Die älteren westlichen Vorlagen sind sehr ungleichmäßig
1 7 ROBERT BRANNER, Burgundian Gothic Architecture, London 1 9 6 0 ; Ders., St. Louis and the Court Style in Gothic Architecture, London 1 9 6 5 . 1 8 Man könnte m. E. jedoch nachweisen, daß das, was BRANNER als Stilkritik bezeichnet, auf weite Strecken nur Motivkunde ist. W i e schwierig der Stilbegriff gerade in der Hochgotik zu handhaben ist, habe ich in meiner umfassenden Studie (Anm. 2) darzulegen versucht. Vgl. dazu auch PETER KURMANN/DETHARD VON WINTERFELD, Gautier de Varinfroy, ein .Denkmalpfleger' im 1 3 . Jahrhundert, in: Festschrift Otto von Simson, Berlin (West) 1 9 7 9 , S. 1 0 1 - 1 5 9 . 1 9 ERWIN PANOFSKY, Gothic Architecture and Scholasticism, Latrobe 1 9 5 1 . 2 0 JACQUES LE GOFF, La civilisation de l'Occident médiéval, Paris 1 9 6 4 (deutsche Ausgabe München/Zürich 1 9 7 0 ) . 2 1 GEORGES DUBY, Le temps des cathédrales L'art et la société 9 8 0 - 1 4 2 0 , Paris 1 9 7 6 (deutsche Ausgabe Frankfurt/M. 1980). 2 2 Für finanzielle Unterstützung habe ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu danken.
D i e Entfaltung der gotischen Baubetriebe
251
—1 -
Amiens, 6 Nivellierungsdiagramm der nördlichen Wandvorlagen
Amiens, 7 Nivellierungsdiagramm der südlichen Wandvorlagen
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252
DIETER KIMPEL
geschichtet, so d a ß die Niveaus der Lagerfugen nicht korrespondieren. Man m u ß sich vorstellen, daß diese Vorlagen ehemals durch gequaderte Mauern miteinander verbunden waren (diese Mauern sind erst im späten 13. und im 14. Jahrhundert herausgebrochen worden, als man die Kapellen an die Seitenschiffe anfügte). Daraus ergibt sich: Irgendwo müssen hier Fugensprünge aufgetreten sein, und zwar entweder an den Grenzen zwischen den Vorlagen und den Verbindungsmauern oder irgendwo innerhalb dieser Verbindungsmauern selber. 23 Schon 200 Jahre früher hat man in Speyer, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg versucht, solche Fugensprünge zu vermeiden. Schon in romanischer Zeit war es zu einwandfreien, störungslos durchlaufenden Nivellierungen gekommen - die Amienser Unregelmäßigkeiten verlangen deshalb nach Erklärung. Die Schichtung der Steine ist bei den älteren Amienser Wandvorlagen in bestimmten Höhenlagen immer gleich. Es handelt sich hier um sogenannte Pflichtniveaus, die nicht über- oder unterschritten werden durften, weil bestimmte architektonische Gliederungen vorgegeben waren, die in den Ostpartien der Kathedrale auch noch erhalten sind. Ich habe diese Pflichtniveaus durch Pfeile gekennzeichnet. Auf dem untersten der drei Niveaus setzen bzw. setzten ehemals Kapitelle auf, welche die Arkaturen trugen, mit denen die Verbindungswände verblendet waren. D a s mittlere Niveau bezeichnet den oberen Abschluß dieser Kapitelle, auf denen große Platten mit einem Spitzbogenprofil aufgesessen haben. Und das obere Niveau bezeichnet die Oberkante dieser Platten und den Ansatz der Fenstersohlbank. Es versteht sich, daß man diese Niveaus einhalten mußte, denn sonst hätten die Kapitelle von Joch zu Joch in immer wieder verschiedenen Höhen angesetzt. Wenn man also die Werkstücke für die Wandvorlagen in beliebigen Höhen vorgefertigt hat, mußte es beim Versetzen darum gehen, sie so zu stapeln bzw. zu montieren, daß die vorgegebenen Niveaus auch erreicht wurden. Es ging den Versetzern dabei so ähnlich, wie es uns ergehen würde, wenn wir beim Umräumen einer Bibliothek verschieden dicke Bücher zu Stapeln gleicher Höhe für die Bücherkisten auftürmen müßten. Es ist ihnen offenbar nicht in allen Fällen gelungen. Wenn der Stapel zu niedrig wurde, mußte man ihn durch extrem dünne Schichten aufstocken bzw., wenn er zu hoch geworden war, mußte man die letzte Schicht absägen, so daß diese
wieder sehr dünn wurde. D e m entspricht, daß gerade die letzten Schichten nicht nur im statistischen Mittel die dünnsten sind, sondern auch in Einzelfällen die absolut niedrigsten Höhen aller Schichten haben, wie z. B. bei den Vorlagen ws^n^ auf Abb. 6. Es gab aber noch andere Korrekturmöglichkeiten. Wenn die letzte Lage zu niedrig war, genügte es, die seitlichen Anschlußsteine in höheren Formaten auszuwählen. Umgekehrt konnte man eine zu hohe Lage auch dadurch anpassen, d a ß man lediglich die seitlichen Steine in ihrer Höhe reduzierte. D a s eine ist bei der Vorlage w ^ i , das andere bei W3ni geschehen. Die Fugensprünge durch ungleichmäßige Nivellierung, die Abtragung schon versetzter Lagen bzw. Anfertigung von extrem dünnen Ausgleichslagen, nachträgliche Ausklinkung bzw. Aufstockung der Seitensteine können eigentlich nur einen Grund haben: Man hat die Vorlagen aus vorgefertigten, im Grundriß (jedoch nicht in der Höhe) typisierten Steinen in einer Art Stapeltechnik versetzt und die Verbindungsmauern erst nachträglich eingefügt - eine Art Skelettbautechnik also. D i e handwerklich unbefriedigenden Fugensprünge, nachträgliche Abarbeitungen bzw. Anstückungen sowie extrem dünne Ausgleichsschichten (die übrigens bei einigen Pfosten des Triforiums noch auffälliger sind) 2 4 wurden offensichtlich in Kauf genommen. Es muß gefragt werden, welche Vorteile diese Unzulänglichkeiten und Komplikationen aufgewogen haben. D i e Vorlagen en3 und e ^ a u f der Nordseite des Chorbereichs weisen erhebliche Störungen auf. Sie müssen damit zusammenhängen, daß hier wohl ein relativ unqualifizierter Bauhandwerkertrupp tätig war. 2 5 D i e restlichen Vorlagen des Chores sind dagegen durchgehend einwandfrei nivelliert. D i e Verbindungsmauern zwischen den Vorlagen weisen keinerlei Fugensprünge (es sei denn durch spätere Veränderungen des Verbandes) auf. Dieses Faktum ist insofern interessant, als man in Amiens seit 1235 offenbar auch die Höhen der vorgefertigten Steinserien vorausgeplant hat. Ohne die Vorfertigung aufzugeben (denn die Steinelemente sind nach wie vor so normiert, wie wir das auf Abb. 1 gesehen haben), hat man sich also bemüht, die handwerklichen Nachteile, die sich im Langhaus aus der etwas wildwüchsigen Stapeltechnik
^ KIMPEL 1980 L ' a p p a r i t i o n wie A n m . 1. 24 -Abbildungen bei KIMPEL 1 9 7 7 w i e A n m . 1. 25 Vgl. A n m . 4.
Die Entfaltung der gotischen Baubetriebe ergeben hatten, durch genauere Planung zu vermeiden. Ich habe diese Art der Bauproduktion das Bauen nach Lagerfugenplan genannt, um sie vom Bauen nach Fugenplan, so wie wir es aus der neuzeitlichen Quaderarchitektur seit der Renaissance kennen, zu unterscheiden. Beim Fugenplan sind sämtliche Fugen, also auch die senkrechten Stöße festgelegt, so daß jeder Stein eine genau vorbestimmte Dimension hat. Diese Steine werden nach M a ß zugerichtet, gekennzeichnet deponiert und dann nach sogenannten Steinlisten versetzt. Beim Lagerfugenplan werden nur die Höhen der Steine vorherbestimmt und ihre Grundrisse nur insofern, als es sich um vorgefertigte Serien wie im Falle der Wandvorlagen handelt. Ich resümiere: In der ersten Bauetappe, zwischen 1220 und 1235, hat man die Steine für die Wandvorlagen und die Pfeiler offensichtlich in Serien vorgefertigt, deponiert und in der Yersatzperiode dann zunächst sehr schnell und wildwüchsig aufeinander gestapelt. Die Verbindungswände wurden erst nachträglich eingefacht, wobei zunächst viele Unregelmäßigkeiten aufgetreten sein müssen. 26 Seit 1235 wird die serielle Vorfertigung planmäßiger: ein „Lagerfugenplan" bestimmt nun auch die Höhen der Steinserien schon vor dem Versatz. In bestimmten Bereichen, wo es durch die Komplexität des Baudekors nahegelegt wurde, hat man in Amiens sogar nach einem exakten Fugenplan gebaut, etwa beim Blendmaßwerk an der inneren Stirnwand des Südquerhauses, das zwischen 1235 und 1240 versetzt worden sein muß. Womöglich handelt es sich hier um eine der ältesten abendländischen Baupartien überhaupt, die nach Fugenplan errichtet worden ist. 27 Damit erhob sich die Frage, ob die Befunde in Amiens nur die produktionstechnische Entwicklung einer bestimmten Bauhütte dokumentieren (denn solche Rationalisierungs- und Optimierungsprozesse beobachtet man fast immer bei längerfristigen Bauprozessen, übrigens auch in Speyer) oder ob sich in diesen Entwicklungen ein allgemeiner Trend kundtut. Zwischen den Baustellen der gotischen Kathedralen in Nordfrankreich hat ein reger Austausch stattgefunden, der sich in zahlreichen stilistischen Wechselwirkungen nicht nur im Bereich der Architektur, sondern auch in der Skulptur dokumentiert. Diese Wechselbeziehungen dürften sich auch im Bereich der Bautechnik ausgewirkt haben. Ich fragte: Gibt es zeitliche Parallelen zur Amienser Technik? Wo sind die Vorstufen zu lokalisieren? W i e unterscheiden sich die Amienser Techniken von den hochromanischen?
253
(Denn was man in Speyer antrifft, stammt ja aus den Anfängen der Großquadertechnik überhaupt.) Die Tatsache, daß man in Amiens bei Baubeginn und bis etwa 1235 nach der „wildwüchsigen" Stapelbauweise verfuhr, schien mir darauf hinzudeuten, daß diese Technik noch nicht sehr alt sein könne, denn sonst hätte man die Schwierigkeiten, die sich dabei ergaben, zu vermeiden versucht. Der Übergang zum Bauen nach „Lagerfugenplan" müßte eine genuin Amienser Erfindung gewesen sein, die sich aus den negativen Erfahrungen mit der wildwüchsigen Stapeltechnik sozusagen zwangsläufig ergeben hatte. Vielleicht nahm die Amienser Bauhütte sogar eine Schlüsselstellung in der Entwicklung der mittelalterlichen Bautechnik ein. Erste Antworten darauf trug ich auf dem deutschen Kunsthistorikertag 1976 in München 28 sowie in einem Artikel vor. 29 Die aus dem 11. Jahrhundert stammenden normannischen Bauten zeichnen sich durch eine äußerste handwerkliche Präzision aus. In St. Etienne in Caen weisen die Seitenschiffswände inklusive der Vorlagen keinerlei Fugensprünge auf. Die Perfektion geht hier sogar so weit, daß die Nivellierung der Steinlagen auf der Nordseite der Kirche praktisch mit der auf der Südseite identisch ist. Selbst über Türen und Fenster hinweg bleibt das Niveau der Steinlagen gleich, trotz der immer wieder verschiedenen und zweifelsohne ungenormten Höhenmaße der Lagen. Offensichtlich hat man in der Normandie im 11. Jahrhundert auf einen sorgfältigen Mauerverband und auf
2,3 D a diese W ä n d e im Langhaus v o n Amiens alle fehlen, kann man den nachträglichen Ausfachungsprozeß nicht mehr genauer rekonstruieren. W i e sie unabhängig v o n der Blendarkatur, die f ü r das Amienser Langhaus einwandfrei erschließbar ist (vgl. KIMPEL 1 9 7 7 wie A n m . 1, S. 2 0 8 , dort A n m . 4 1 ) , aufgemauert gewesen sein mögen, kann die Seitenschiffswand v o n Reims verdeutlichen, auf die ich weiter unten eingehe. Vgl. A b b . 1 8 . 2 7 Zum Prinzip des Lagerfugenplans vgl. einen höchst interessanten Befund an einem Strebepfeiler des K ö l n e r Doms, dessen einzelne Lagen gekennzeichnet und durchnumeriert sind. ARNOLD WOLFF, 2 0 . Dombaubericht, K ö l n e r Domblatt 4 3 , 1 9 7 8 , S. 6 7 ff., Abb. 1 - 6 . A u f entsprechende V e r f a h r e n verweisen auch die zahlreichen Versatzmarken der Reimser Westpartien. In England scheint man seit dem 1 4 . Jahrhundert mit exakten Fugenplänen gearbeitet zu haben. Das zeigen z. B. die G e w ö l b e im perpendicular style wie etwa im Kreuzgang von Gloucester ( 1 4 . Jh.). 2 8 V g l . das Resümee in: Kunstchronik 3 0 , 1 9 7 7 , S. 5 6 f. 2 9 KIMPEL 1 9 7 7 w i e Anm. 1. Dieser Aufsatz, der v o n dem Herausgeber einer architekturhistorischen Zeitschrift der B R D mit der Begründung abgelehnt worden ist, er müsse stärker bauarchäologisch orientiert sein, und die wirtschaftshistorischen Passagen könnten entfallen, w a r gleichzeitig mein Zwischenbericht f ü r die Deutsche Forschungsgemeinschaft.
254
DIETER
exakte Nivellierung - auch wenn sie nicht notwendig war - besonders geachtet und sie auch ästhetisch geschätzt. Diese - in der Normandie übrigens nicht vereinzelten - Befunde lassen ferner darauf schließen, daß man die Bauwerke in Horizontalbauweise, d. h. in langen horizontalen Bauabschnitten hochgeführt hat, eine Methode, die auch für Speyer verbürgt ist und die sich lange über die romanische Epoche hinaus erhalten hat. Gegenüber der Horizontalbauweise scheint die Amienser Stapeltechnik bzw. die dort beobachtete Skelettbauweise eher darauf hinzuweisen, daß man hier Joch für Joch, also in senkrecht aufeinander folgenden Bauabschnitten vorgegangen ist.
Auf Abb. 8 ist die Verfugung einer (im Profil übrigens atypischen) Wandvorlage von Jumieges schematisch dargestellt. Die Steinlagen sind so hoch, wie es die durchgehende Nivellierung jeweils erfordert hat, die Vorlagen relativ kleinteilig zusammengefügt. Die Stoßfugen liegen in jeder Lage anders, aber die Fugenfügung wiederholt sich alternierend in jeder 2. Lage. Zumeist liegen die Stöße in den Kanten des
KIMPEL
Profils, und sie verlaufen abwechselnd in Nord-Südund in Ost-West-Richtung, also jeweils senkrecht zur vorhergehenden bzw. folgenden Lage. Oberflächlich gesehen könnte man vermuten, daß bei dieser Bauweise die einzelnen Steine so wie in Amiens nach einzelnen Schablonen vorgefertigt wurden. Aber das wäre ein Irrtum. Die Stoßfugen sind an den Stellen, wo sie nicht durch eine Kante des Profils festgelegt sind - also z. B. dort, wo sie etwa in der Mitte des mittleren Runddienstes liegen - , keineswegs in einer Achse, also an demselben geometrischen Ort angeordnet. Die Grundrisse der betreffenden Steine unterscheiden sich voneinander, und ihre unterschiedliche Höhe verhindert die Austauschbarkeit von Steinen und Lagen. Daraus ergeben sich wichtige Rückschlüsse auf den Produktionsprozeß. Die Steine für die Pfeiler und Vorlagen könnten durchaus nach Schablonen angefertigt worden sein, wie sie auch aus Schriftquellen überliefert sind. Dabei müßte es sich jedoch um Schablonen gehandelt haben, die das gesamte Profil umfaßten. Während es bei den Amienser Pfeilern und Vorlagen Schablonen gegeben hat, die den Grundriß jedes einzelnen Steintyps erfaßten, hat man in Caen allenfalls „Gesamtschablonen" verwendet, die das Profil des jeweiligen Bauglieds, nicht aber die genaue Lage jeder einzelnen Stoßfuge festgestellt haben. Dieser Unterschied zwischen Einzel- und Gesamtschablonen ist von großer Bedeutung. Die Vorlagen in Caen oder Jumieges konnten nicht w i e die in Amiens längerfristig vorgefertigt sein. Da die Steine einer Lage wegen ihrer individuellen Höhenbemessung und erst recht wegen ihrer z. T. divergierenden Grundrisse in praktisch keinem Fall mit den Steinen einer anderen Lage austauschbar waren, mußten sie ad hoc, d. h. kurz vor dem Versatz zugerichtet werden. Diese für den frühromanischen Baubetrieb in der Normandie zu erschließende Praxis ist kennzeichnend für die romanische Architektur insgesamt. Auch bei den scheinbar so perfekten romanischen Bauten folgten also Steinmetzarbeit und Versatzvorgang unmittellbar aufeinander, und eine extensive Vorfertigung, also Winterarbeit und Arbeitsteilung haben diese Betriebe vermutlich nicht gekannt. Die ersten Charakteristika hochgotischen Bauens wären demnach: serielle Vorfertigung auch im Winter, schnelle Montage in der Sommerperiode und als Voraussetzung größere Planmäßigkeit. Ich bin ferner zu dem Ergebnis gekommen, daß sich die sogenannten „frühgotischen" Bauten in bautechnischer Hinsicht prinzipiell von den „hochgoti-
Die Entfaltung der gotischen Baubetriebe sehen" unterscheiden. Die Bauzeit des Innenraums der Kathedrale von Laon erstreckt sich auf die Jahrzehnte nach 1160 und gliedert sich in vier Bauabschnitte. Zuerst entstanden das östliche Querhaus und die ersten Chorjoche, zu denen ehemals ein Rundchor mit Umgang gehörte, der jedoch bald wieder abgerissen wurde, dann folgten das westliche Querhaus und die östlichen Langhauspartien. Schließlich errichtete man das westliche Langhaus, legte den Rundchor nieder und ersetzte ihn durch einen langgestreckten, gerade abgeschlossenen Chor nach englischem Muster. Diese beiden letzten Kampagnen dürften gegen 1200 beendet worden sein. 3 0 In Laon hat man zahlreiche Dienste en-délit verwendet, d. h. entgegen ihrer „Bettung" als Orthostaten aufgestellt. Normalerweise wird der Naturstein ja lagerhaft versetzt, so daß seine durch Sedimentierung entstandene horizontale Struktur auch wieder horizontal liegt. Bei Steinen, die senkrecht zu ihrer ehemaligen Lage im Bruch versetzt werden und die, wohl weil sie darin gegen die allgemein gültigen Handwerksregeln verstoßen, im Mittelalter als „Juden" bezeichnet werden, ist die Gefahr der Absplitterung durch Pressung und Verwitterung crheblich höher. Meine Versatzanalysen haben die bisher fast a u s s c h l i e ß l i c h auf stilkritischem Wege gewonnenen Erkenntnisse über die Baugcschichte bestätigt bzw. sogar präzisiert. Mit jeder neuen Kampagne ändern sich die Steinzuschnitte, man kann sogar innerhalb derselben Kampagne Unterschiede ausmachen zwischen den Versatztechniken z. B. auf der Nord- und auf der Südseite, die darauf schließen lassen, daß hier verschiedene Bautrupps gleichzeitig gearbeitet haben. Derartige Beobachtungen sind, wie mir scheint, von der monografisch ausgerichteten Bauforschung inzwischen auch aufgegriffen worden.'" Für die Wandvorlagen in den Seitenschiffen und Emporen sowie die Emporenpfeiler waren offenbar keine Einzelschablonen für einzelne Steine, sondern immer Gesamtschablonen für das ganze Profil einer Vorlage oder eines Pfeilers verwendet worden. Hier lag also noch die Technik vor, die in der Normandie schon 100 Jahre früher ausgebildet worden war. D i e alten Verbindungswände zwischen den Wandvorlagen stehen zu den Vorlagen in einwandfreiem Verband. Alles deutet darauf hin, daß in Laon Vorlagen und Wand gemeinsam so wie in den normannisch-romanischen Bauten aufgeführt worden sind und daß es hier keine Skelettbauweise wie in Amiens gegeben hat. D i e Kathedrale von Laon stellte sich mir als ein
255
in bautechnischer Hinsicht durchaus konventioneller Bau dar. Die hier angetroffenen Techniken sind repräsentativ für die Jahrzehnte vor 1200. Dennoch ist die Kathedrale von Laon in einem Punkt und abgesehen von der en-delit-Bauweise technisch innovativ: während des Bauverlaufs und insbesondere ab etwa 1170 kann man - vor allem bei den Pfeilern und Vorlagen der Emporen - eine deutlich zunehmende Größe der Steinformate konstatieren, die zu erhöhter Stabilität und zum Verzicht auf Füllmauerwerk führt. 3 0 Vgl. zur Baugcschichte von I.aon LUCIEN BROCHE, L a cathédrale de Laon, 3. Aufl., Paris 1 9 6 1 ; HANNA ADENAUER, D i e Kathedrale von Laon, Düsseldorf 1 9 3 4 . 3 1
Vgl.
JEAN-PIERRE
RAVAUX,
Les
campagnes
de
construction
de la cathédrale de Reims au X I I I e siècle, i n : Bulletin monumental 1 3 7 , 1 9 7 9 , S. 7 - 6 6 . Diese vorzügliche Studie klärt die Reimser Bauchronologie in einer Weise, wie man das angesichts der sehr verworrenen Diskussion kaum noch zu hoffen gewagt hat. Sie enthält eine ganze Reihe von bauarchäologischen Beobachtungen, die sich mit meinen decken.
9 Soissons, Wandvorlage im südlichen Langhausseitenschiff
256
DIETER KIMPEL
Dasselbe Phänomen findet sich zu etwa demselben Zeitpunkt auch an anderen Bauten (wie z. B. an der Pariser Notre-Dame). Es verweist darauf, daß um 1170 Maschinerie und insbesonder Hebezeug in einem neuen Umfang zum Einsatz kommt, und es scheint, daß es diese Vergrößerung der Formate, die in Laon durchgehend nach Gesamtschablonen gefertigt sind, gewesen ist, welche letzten Endes das Bedürfnis erzeugt hat, die großformatigen Steine nach Einzelschablonen zuzurichten. Diese treffen wir jedenfalls in den folgenden Beispielen durchgehend an. Die Wandvorlagen in Chartres (1194 begonnen), Soissons (um 1200) und Reims (ab 1210) sind im Prinzip ähnlich wie die Amienser zugeschnitten. 32 Schon in Soissons ist man teilweise nach der Stapeltechnik verfahren, was ein Foto verdeutlichen mag (Abb. 9 ) : zwischen der Vorlage und der Wand sind deutlich Fugensprünge zu erkennen. In Reims ergab sich derselbe Sachverhalt. Die Amienser Stapeltechnik der Wandvorlage besaß also ihre Vorläufer seit etwa 1200. Die Pfeiler in Soissons sind Rundpfeiler mit einem vorgestellten Dienst, die in konventioneller Weise, für die es auch kaum eine Optimierung geben konnte, versetzt wurden. Andere „kantonierte" Pfeiler wie die in Paris und Auxerre entsprechen je nach ihrer Entstehungszeit der Chartreser, Reimser oder Amienser Verfugung. 3 3 Der Erfinder dieses Pfeilertyps war allem Anschein nach der Chartreser erste Architekt. 34 Er hatte diesen Pfeilertyp so konzipiert, daß wechselnd einem achteckigen Pfeilerkern vier Runddienste angegliedert wurden und im anderen Fall vier Dienste, deren Profil aus dem Achteck entwickelt ist, einen runden Pfeilerkern umstellen. Die Pfeiler sind nun so verfugt, wie das auf Abb. 10 und 11 zu sehen ist: In der einen Lage sind die Werkstücke für die Dienste frei gearbeitet und vor einen zweiteiligen Pfeilerkern gestellt, 35 in der folgenden sind sie in den gevierteilten Pfeilerkern verzapft. Dieses Verfugungsprinzip war bei Wandvorlagen schon seit langem üblich, es ist hier lediglich für den neuen Pfeilertyp nutzbar gemacht worden. Das Schema zeigt, daß man pro Pfeilertyp vier Steintypen benötigte, die offensichtlich nach Einzelschablonen hergestellt worden sind. Für sämtliche Chartreser Pfeiler reichten also insgesamt acht solcher Einzelschablonen. In Reims, wo die Pfeilerkerne und die Dienste einen runden Grundriß haben, hält man an diesem Prinzip der alternierend vorgestellten und eingezapften Dienste fest, aber nun so, wie es Abb. 12 zeigt. Jede Lage ist hier im Prinzip gleich gebildet, indem
Chartres, Schema der Pfeiler mit oktogonalem 10 Kern der Kern halbiert ist und die sich gegenüber liegenden Dienste entweder vorgestellt oder aber eingezapft sind. In der folgenden Lage ist dieses Schema dann jeweils nur um 90 °C gedreht, so daß die vorgestellten Dienste unten und oben von eingezapften festgehalten werden. Wenn man einmal davon absieht, daß es in Reims verschieden dimensionierte Pfeiler dieses Typs gibt, dann genügten für die Vorfertigung hier nur noch drei Schablonen. Und wenn wir uns nun noch einmal an das ältere und an das jüngere Verfugungsschema in Amiens erinnern (Abb. 2 und 3), dann markieren die Etappen 1194 (Chartres), 1210 (Reims), 1220 (Amiens West) und 1235 (Amiens
Vgl. die in Anm. 2 erwähnte Studie. Das gilt auch f ü r die kantonierten Pfeiler in Metz, Troyes, Tours, Auxerre, Beauvais und die verschliffenen Pfeiler in Rodez. 3 4 In diesem Zusammenhang w ä r e St. Laumer in Blois allerdings noch zu analysieren. 3 d Diese Fuge sieht man nicht, sie läßt sich aber auf Grund einer Indizienkette erschließen, die wegen ihrer Komplexität an anderer Stelle vorgeführt werden soll. 32
33
D i e Entfaltung der gotischen Baubetriebe
11
Chartres, Schema der Pfeiler mit rundem Kern
12
257
Reims, Schema der Pfeiler
O s t ) jeweils klare produktionstechnische Fortschritte.
quenzen:
D i e Anzahl der für die Erstellung eines Pfeilers not-
Herstellung des versatzfertigen Steins; 2. wird der
1. verringert sich die Arbeitszeit für die
wendigen Einzelschablonen wird von 4 auf eine herab-
Rohstoff besser genutzt, weil bei seiner Verarbeitung
gesetzt, der G r a d der Standardisierung hat also zu-
zum Endprodukt
genommen, die Kompliziertheit der Vorgaben an die
und das wirkt sich 3. günstig auf die Transportkosten
Steinmetzen
dagegen
abgenommen.
Entsprechende
aus,
weil
nun
weniger Material verloren
im
Verhältnis
zu
dem
geht;
tatsächlich
Prozesse sind übrigens auch an anderen Baugliedern
verbauten Stein weniger Rohquader angeliefert wer-
wie Fenstern, Triforien usw. zu beobachten. 3 6
den müssen. U n d gerade die Reduzierung der Trans-
D i e Produktion wird insgesamt ökonomischer. M a n kann sich dies an einer ganz einfachen
Beobachtung
klar machen. W e n n man nämlich die Grundrisse der einzelnen Steinelemente, die auf den A b b . 2, 3, 10, 11 und 12 zu sehen sind, in die
kleinstmöglichen
portkosten mußte bei den bekanntlich sehr mühseligen
mittelalterlichen
Verkehrsverhältnissen
beson-
ders zu Buche schlagen. D i e s ist aber noch nicht alles. D i e Amienser Pfeiler sind auch stabiler als die in Chartres oder die
entste-
ähnlich profilierten romanischen Pfeiler in N - D - d u -
(natürlich multipliziert mit der
Port in Clermont-Ferrand auf A b b . 13. M a n konnte
jeweiligen Höhe der Steine, die aber hier außer B e -
die Amienser Pfeiler bei gleicher Belastung dünner
tracht bleiben kann)
das, was der Steinmetz vom
ausbilden als die in Chartres und diese wiederum
Rohquader abmeißeln muß. D i e s e n A b h u b möglichst
dünner als die in Clermont, und das bedeutete je-
Rechtecke einschreibt, henden Restflächen
dann
bezeichnen
die
gering zu halten, müßte das Ziel sein. U n d in der T a t stellt man fest, daß das M a ß dieses Abhubs von Chartres
über Reims
zu Amiens W e s t
und
dann
O s t erheblich reduziert worden ist. Wenn aber weniger A b h u b anfällt, dann hat das mehrere Konse17
Architektur
3 6 In diesem Zusammenhang ist die V o r - und Frühgeschichte des gotischen Maßwerks von Chartres ( 1 1 9 4 ) bis in die 4 0 e r J a h r e des 13. Jahrhunderts hinein besonders aufschlußreich, worüber die Studie (Anm. 2) nähere Informationen enthält.
258
DIETER
Schema eines Langhauspfeilers weils eine Kostenersparnis auf allen eben genannten Ebenen. Der Optimierungsprozeß zwischen Chartres (1194) und Amiens Ost (1235) erstreckt sich auf einen Zeitraum von etwa 40 Jahren. Er ist sicher nicht auf Grund von Berechnungen zustandegekommen, wie wir sie aus modernen Industrialisierungsprozessen kennen, sondern auf Grund allmählich gewonnener Erfahrungen. Die Pfeiler in Paris (Westjoche), Auxerre (Chor) oder Metz zeigen, daß die neuen Errungenschaften z. T. sehr schnell auch andernorts übernommen worden sind, doch gibt es auch Gegenbeispiele. So hat sich der Bautrupp, der im Bereich des nördlichen Langchores in Amiens tätig war, ein eigenes Pfeilerversatzschema ausgedacht, wie es auf Abb. 4 zu sehen ist. Dieses Schema ist jedoch unrationell, die nach ihm gebauten Pfeiler sind, wie ich schon gezeigt habe, 37 auch unstabil gewesen. In Reims kann man sich lange nicht mit dem Amienser Schema abfinden. Es verstieß offenbar gegen alte handwerkliche und auch ästhetische Gewohnheiten, indem es nämlich die Stoßfugen nicht dort plazierte, wo die Förm-
KIMPEL
ig Reims, Schema einiger Lagen bei dem westlichen Pfeilerpaar auf der Südseite grenzen zwischen Pfeilerkern und Dienst liegen, sondern unabhängig von diesen. Erst in den späten Westjochen gehen die Reimser zu dem Amienser Schema über, nicht ohne zu versuchen, dieses mit den eigenen Verfugungsgewohnheiten in Einklang zu bringen. Das führt zu produktionsökonomisch so absurden Resultaten wie auf Abb. 14. Amiens besitzt die größte Produktionsrationalität. 38 Die Detaillierung, die Anordnung der Stoßfugen, richtete sich bei allen früheren Beispielen nach den Formgrenzen. Der Amienser Designer hat sich erstmals über diesen Grundsatz hinweggesetzt. Darin spiegelt sich ein Vorgang, den wir in der Geschichte des Designs immer wieder beobachten können. Denn, um nur ein Beispiel zu nehmen, auch der Autokarosseriedesigner detailliert zunächst Kühlerhaube, Kotflügel usw. getrennt, d. h. nach ihren jeweiligen
Vgl. Anm. 4. Diese Erkenntnis ist von Kollegen mehrfach bestritten worden, so auch in dem zusammenfassenden Bericht der Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 37
38
Die Entfaltung der gotischen Baubetriebe Funktionen. Erst sehr spät kommt es dazu, daß diese Elemente miteinander verschmelzen und nach produktionsrationalen Gesichtspunkten detailliert werden - in diesem Fall nach ihrer bestmöglichen Herstellbarkeit in der Blechpresse. Und genau diese Emanzipation von vordergründigem Funktionsdenken liegt beim Zuschnitt der Amienser Chorpfeiler vor! Diese Feststellungen ermöglichen übrigens noch sehr viel weiterreichende Schlüsse, die sich auf die allgemeine Herausbildung bestimmter Abstraktionsfähigkeiten innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft beziehen. Ich habe in Reims noch eine andere wichtige Beobachtung gemacht. Viele Pfeiler weisen im Gegensatz zu den früheren in Chartres und zu den späteren in Amiens Lagerfugensprünge auf. Sie waren also nicht immer gleichmäßig durchgeschichtet. Dieselbe Beobachtung konnte ich bei den Wandvorlagen machen. Ausgehend von den Lagen des Pfeilerkerns habe ich Pfeiler für Pfeiler untersucht, wo die Fugensprünge auftreten. Dabei ergab sich zum einen, daß die von mir in Abb. 12 hypostasierte Stoßfuge innerhalb des Pfeilerkerns, die man ja nicht sehen kann, tatsächlich vorhanden sein muß. In vielen Fällen (und das betrifft in demselben Maße eine entsprechende Mittelfuge bei den Wandvorlagen) stellte sich heraus, daß auf der einen Seite dieser vermuteten Fuge eine einfache, auf der anderen Seite dagegen eine Doppellage anzutreffen war. 3 9 Die Fugensprünge zwischen Pfeilerkern und Dienstvorlagen treten in der Mehrzahl der Fälle bei einander gegenüberliegenden Dienstvorlagen auf, nicht bei unmittelbar benachbarten. Dieser Sachverhalt ist nicht nur eine Bestätigung für das in Abb. 12 wiedergegebene Schema, er erweist zugleich, daß man die seriell vorgefertigten Steine jeweils paarweise angefertigt und deponiert hat. Der Nachteil dieser Vorfertigung ist klar: die paarweisen Elemente - nämlich die des Pfeilerkerns, die freistehenden Dienststücke und die eingezapften - paßten in ihren Höhen nicht immer zusammen. So wurden Flickungen und Ajustierungen notwendig, wie wir sie in Amiens nicht mehr antreffen, dagegen partiell schon in Soissons (vgl. Abb. 9) vorfanden. In der Schlußfolgerung heißt das, daß man mit der Vorfertigung nach Einzelschablonen und mit der Stapeltechnik in Reims noch keine hinreichenden Erfahrungen hatte, denn sonst hätte man alle Steinelemente einer Lage in derselben Höhe zugerichtet und auch gemeinsam gelagert, um sie dann gemeinsam zu versetzen. Es könnte auch sein, daß man für die Zwi17»
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schenlagerung noch keine verläßliche Systematik ererarbeitet hatte, daß die Steine zwar angemessen Lage für Lage gemeinsam zugerichtet, dann aber im Lager durcheinandergebracht worden sind. Die Stapeltechnik war in Reims gleichsam noch in den Anfängen, erst seit 1220 ist sie in Amiens zur vollen Ausbildung gelangt. Damit werden die innovativen Qualitäten der Amienser Bauhütte noch einmal von einem anderen Befundzusammenhang her bestätigt. Auf einer zweiten Reise untersuchte ich einige weiter südlich gelegene Kathedralbauten wie Tours, Rodez, Narbonne, Clermont-Ferrand, Bourges, Sens, Auxerre und Troyes. Es stellte sich heraus, daß die bautechnischen Unterschiede zwischen Speyer und den normannischen Bauten typisch sind. Während die Speyerer Techniken den frühromanischen entsprechen, findet sich die Präzision der normannischen Bauten in allen hochromanischen Bauschulen Frankreichs wieder. So habe ich ähnliche Befunde wie in Speyer etwa im Langhaus der Kathedrale von Carcassonne (11. Jh.), bei den älteren, ebenfalls aus dem .11. Jahrhundert stammenden Partien von Notre-Damedu-Port in Clermont-Ferrand und bei den Teilen der Abteikirche von Vezelay gefunden, die den Brand von 1120 überdauert haben. Die hochromanischen Bauten des 12. Jahrhunderts - etwa in Poitiers, Conques, Toulouse, St. Gilles, Issoire, Vezelay usw. zeigen durchweg eine sorgfältige Nivellierung wie in der Normandie. In all diesen Fällen konnte ich eine längerfristige Vorfertigung des Steinmaterials und den Gebrauch von Einzelschablonen für Pfeiler und Vorlagen ausschließen. Die bautechnische Perfektion setzt in der Normandie sehr früh ein, sie wird dann im Verlaufe des 12. Jahrhunderts allgemein üblich, ohne je zu den rationellen Methoden von Soissons, Reims oder Amiens zu finden. Es hat den Anschein, als sei die Perfektionierung dieser hochromanischen Tech-
3 3 Meine Reimser Diagramme befinden sich in einem gewissen Widerspruch zu denen, die VILLARD DE HONNECOURT in Reims aufgezeichnet hat. Vgl. HANS R. HAHNLOSER, Villard de Honnecourt, 2. Aufl., Graz 1 9 7 2 , Taf. 3 0 und 63. Abgesehen davon, daß in der ansonsten richtigen Pfeilerverfugung auf Taf. 30 die entscheidende mittlere Blindrille nicht ausgetuscht ist, läßt sich die teilweise Fehlerhaftigkeit der Verfugungsschemata auf Taf. 63 b - d letztere übrigens mit einem so nicht ausgeführten Profil! - ohne weiteres am Bau überprüfen. Dies wirft auch ein Licht auf VILLARDS Vorgehensweise und verweist auf den Grad seiner „Professionalität". Denn Taf. 63 c z. B. ist ausgesprochen ungünstig - also arbeitsaufwendig und materialverschwenderisch - verfugt. Ich habe die Abweichungen VILLARDS von den tatsächlichen Befunden an anderer Stelle (Anm. 2) genauer untersucht und hinterfragt.
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DIETER KIMPEL
niken sehr eng verknüpft gewesen mit der Beschaffenheit und Verfügbarkeit des jeweiligen Steinmaterials. Der normannische Stein war nicht nur an vielen Stellen des Seineufers zu haben und leicht heranzutransportieren, er zeichnet sich auch durch extrem günstige Bearbeitungsmöglichkeiten aus. Solange er noch feucht ist, kann man ihn auf denkbar einfache Weise in fast beliebigen Höhen abbauen, auch die Zurichtung der gewünschten Formate oder Profile ist mühelos. Der getrocknete Stein ist von sehr hoher Festigkeit. Anderswo mußte man sich schon beim Brechen des Steins viel sorgfältiger an der Höhe der Steinbänke im Bruch orientieren und hatte also schon bei der Wahl der Formate nicht dieselben Freiheiten wie in der Normandie, die dann ja auch ein großer Steinexporteur vor allem nach England geworden ist. 40 Außerdem setzen andere Steinsorten der Bearbeitung viel stärkeren Widerstand entgegen. So wird es verständlich, wenn sich die bautechnische Präzision in Gegenden, wo die Rohstoffbedingungen ungünstiger sind, erst mit Verzögerung durchsetzt, ganz abgesehen davon, daß die Entfaltung handwerklicher Fertigkeiten natürlich auch an eine konjunkturell bedingte rege Bautätigkeit geknüpft ist. Bei zwei Großbauten aus romanischer Zeit habe ich Beobachtungen gemacht, die von meiner allgemeinen Einschätzung abweichen. So gewinnt man in dem allerdings sehr stark restaurierten und bauhandwerklich schwer einschätzbaren Bau von St. Trophime in Arles den Eindruck, als wären die Steine für Vorlagen und Pfeiler weitgehend und auch in ihren Höhen genormt. Die Steine stammen aus den Brüchen von Les Baux, wo man sich noch heute von den überaus günstigen Rohstoffeigenschaften des Materials überzeugen kann. 4 1 Die Freipfeiler der Kathedrale von Vienne an der Rhone beginnen zunächst mit einer normalen „romanischen" Verfugung, d. h. man verwendete Gesamtschablonen, wobei die Stoßfugen nicht immer an denselben Stellen zu liegen brauchten. Im weiteren Bauverlauf gewinnen die Steine für die Freipfeiler dann aber identische Grundrisse, als wären sie nach Einzelschablonen verfertigt. Dieser für einen romanischen Bau ganz atypische Befund könnte auf eine exzeptionelle bautechnische Entwicklung innerhalb einer vereinzelten Bauhütte zurückgehen oder aber auf Einflüsse aus Nordfrankreich. Dann hätte man diese Pfeiler sehr spät zu datieren. Auch bei verschiedenen gotischen Bauten endeckte ich Sonderlösungen. Besonders erstaunt war
ich - übrigens im Widerspruch zu Robert Branner 42 über die relative Rückständigkeit der Kathedrale von Bourges, wo man sich bis weit ins 13. Jahrhundert hinein der Gesamtschablone bedient hat und wo man bestimmte Neuerungen wie z. B. das hochgotische Maßwerkfenster sehr spät und zurückhaltend übernommen hat. Man kann dies mit dem Konservativismus einer ortsansässigen Bauhütte erklären. Beim Kölner Dom, der ja auch eher an der Peripherie des architekturhistorisch relevanten Innovationsgebietes liegt, hatte ich inzwischen ähnliche Beobachtungen gemacht. 43 Die Kathedrale von Bourges, eine architektonische Eigenleistung ersten Ranges, nimmt in der Geschichte der mittelalterlichen Bauskulptur eine Schlüsselstellung ein, weil hier nordfranzösische Vorbilder aufgegriffen und dann in den ganzen Südwesten und bis weit nach Spanien hinein weitervermittelt worden sind. 44 Auch das Architektursystem
4 0 Neben dem normannischen Stein ist auch der rheinische Tuff im 12. Jahrhundert auf dem Wasserweg sehr weit bis nach Ostfriesland und Jütland exportiert worden. Seine Materialeigenschaften haben aber der Dimensionierung der Steinformate und den Bearbeitungsmöglichkeiten sehr viel engere Grenzen gesetzt und ihn lediglich zu einer V o r f o r m des in diesen Gegenden seit dem 1 2 . Jahrhundert zunehmend Verwendung findenden Ziegels prädestiniert. 4 1 Bei der Abteiruine von Montmajour, die fast gleichzeitig mit Steinmaterial aus denselben Brüchen errichtet worden ist, liegen die Dinge dagegen ganz normal. Sie weist zwar eine sehr präzise Hausteintechnik auf', entfernt sich aber nirgends von der üblichen romanischen Praxis. 4 2 ROBERT BRANNER, La cathédrale de Bourges et sa place dans l'architecture gothique, Paris/Bourges 1 9 6 2 , S. 1 1 5 f. und A b b . 8 9 , w a r bezüglich des Designs der Kryptenpfeiler und -vorlagen zu dem Ergebnis gekommen, daß diese nach insgesamt 5 Schablonen erstellt seien. Er hat jedoch versäumt, die tatsächliche Verfugung zu überprüfen. Dann hätte er nämlich festgestellt, daß hier durchweg mit „Gesamtschablonen" gearbeitet worden ist und daß diese Steinschnitte mit den von ihm abgebildeten angeblichen Schablonen nichts zu tun haben. Er hat jedoch insofern recht, als die Profile von Pfeilern und Vorlagen z. T. miteinander korrespondieren. Das bedeutet aber nur, daß die Gesamtschablonen für die Freipfeiler unter Zuhilfenahme derer für die Vorlagen entworfen worden sind — und das ist meiner Einschätzung nach ein seit langem geläufiges Verfahren. W i e undifferenziert diese ganze Problematik auch von dem vielleicht kompetentesten Vertreter der mittelalterlichen Architekturgeschichte gesehen worden ist, kann op. cit., S. 1 1 5 , Anm. 1, vergegenwärtigen. 43
KIMPEL 1 9 7 9 / 8 0 w i e A n m . 1 .
44
Zu den Auswirkungen der Skulptur von Bourges, mit der sich
neuerlich
FABIENNE
(Bulletin monumental S. 3 4 1 - 3 6 9 ) ,
JOUBERT
am
intensivsten
beschäftigt
hat
1 3 2 , 1 9 7 4 , S. 2 7 3 - 2 8 6 , und 1 3 7 ,
1979,
v g l . a u c h WILLIBALD SAUERLÄNDER, G o t i s c h e
Skulp-
tur in Frankreich 1 1 4 0 - 1 2 7 0 , München 1 9 7 0 , S. 1 8 4 ff. Dort sind als Einflußgebiete Poitiers, Bordeaux und Bazas benannt. Die stilistischen Bezüge reichen meiner Meinung nach - und ich glaube, daß SAUERLÄNDER diese Einschätzung teilen würde - aber weit nach Spanien hinein.
Die Entfaltung der gotischen Baubetriebe von Bourges ist sowohl, was den Bautyp betrifft, mehrfach nachgeahmt (Coutances, Le Mans, Toledo), als auch in seinen Formdetails rezipiert worden (Burgos). Um so erstaunlicher und erklärungsbedürftig sind die rückständigen technischen Standards dieses Baus. In der Kathedrale von Clermont-Ferrand 45 , einem Bau aus unverwüstlich hartem Granit, hat man die Einzelschablone zwar gekannt, dann aber weitgehend zugunsten von Gesamtschablonen auf sie verzichtet. Dies deckte sich mit Befunden an Bauten wie Narbonne und Rodez, die kunstgeschichtlich derselben Gruppe angehören. Außerdem sind diese Bauten, die alle erst seit den späten 40er Jahren des 13. Jahrhunderts oder danach entstanden, offensichtlich nach Lagerfugenplänen errichtet. Die Langhäuser der Kathedralen in Tours und Troyes übernehmen den Typus des kantonierten Pfeilers. Die Stoßfugen sind hier jedoch ohne jede Systematik angeordnet, eine Beobachtung, die ich im Kölner Langhaus dann wiederum machen konnte. Die allgemeine Verbreitung des Bauens nach Lagerfugenplan scheint diese systemlose Verfugung begünstigt zu haben. Man kann sich das folgendermaßen klar machen: Sobald solche Lagerfugenpläne vorlagen, wurde die Stapeltechnik in zunehmendem Maße überflüssig. Denn nun hatte man ein Planungsinstrument, das es erlaubte, sämtliche benötigten Steine in der Hütte vorzufertigen. Statt wie bisher die Vorlagen aus genau bemessenen typisierten Einzelsteinen aufzustapeln und die Verbindungsmauern eher schlecht als recht nachträglich einzupassen, waren diese Mauern nun in die Vorausplanung mit einbegriffen. Man stellte also wieder den ganzen Horizontalverband einer Schicht her, kennzeichnete diese Schicht dann durch Versatzmarken, von denen noch die Rede sein wird, und versetzte sie zu gegebener Zeit. Die exakte Lage der Stoßfugen wurde dabei relativ gleichgültig. Die neue Planungsmethodik hat somit offensichtlich die Rückkehr der „Gesamtschablone" begünstigt, wie sie seit der Mitte des 13. Jahrhunderts denn auch allenthalben nachweisbar ist. Damit war sicher auch ein Zuwachs an Produktivität gegeben. Bei der Stapeltechnik mußte man viele Steine auf ein vorbestimmtes M a ß herabtrimmen und somit erhöhten Abhub in Kauf nehmen, während es die Lagerfugenpläne gestatteten, die Dimensionen der Rohquader in neuer Weise zu nutzen. 46 Schon hier sei angedeutet, daß sich dieser veränderte Produktionsprozeß auch in der ästhetischen Form - nämlich in der „Rückgewinnung der W a n d " niederschlägt.
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Trotzdem glaube ich, daß Stapeltechnik und Skelettbauweise, wie wir sie im Langhaus von Amiens angetroffen haben, die höhere bauökonomische Effektivität für sich beanspruchen können. Ein Bauvolumen wie das des Amienser Langhauses ist kaum je in so kurzer Zeit erstellt worden, wie das aus den Quellen nachweisbar ist: nämlich in 10 bis maximal 15 Jahren. Ich könnte mir denken, daß diese Leistung erst vom Londoner Glaspalast eingeholt worden ist. Außerdem waren die Intensität der Planung und die Anforderungen an die planerisch-disponierende Qualifikation eines Amienser Steinmetzen sicher geringer als die an seinen Kollegen in Clermont. Während jener nur geringe Vorgaben hatte, indem er bestimmte Steine lagenweise nach immer denselben Einzelschablonen zurichten mußte, wurde von dem späteren Zurichter auch verlangt, den Zusammenhang, in dem diese Steine versetzt werden würden, zu durchschauen. Mir scheint, daß die Behauptung, das anspruchsvolle Bauen - und nur von diesem ist hier die Rede sei seit der Mitte des 13. Jahrhunderts teurer geworden, auch auf andere als die hier vorgeführten Befunde rekurrieren muß. Auf der einen Seite beobachtet man eine Zunahme an Bauluxus, der sich in immer reicherem Dekor artikuliert. Ansatzweise hat Arnold Wolff diese Tendenz in bezug auf den Kölner Dom zur Sprache gebracht. 47 Auf der anderen Seite stellt man fest, daß die Großbetriebe, welche die Kathedralen von Amiens, Chartres, Reims und wie sie alle heißen mögen erstellt haben, zusammenbrechen. Das heißt aber, daß weitgehend arbeitsteilige Produktionsformen im Bausektor auf ein handwerklich-zünftiges Niveau herabgesunken sind. Dieser Entwicklung, die noch näher zu analysieren wäre, entspricht, daß sich bestimmte Betriebseinheiten als Stätten von architektonischen Luxusproduktionen zwar halten und daß sie ihre Auftraggeber finden,
4 5 Vgl. z. B. LISA SCHÜRENBERG, Die kirchliche Baukunst in Frankreich zwischen 1 2 7 0 und 1 3 8 0 , Berlin 1 9 3 4 ; WERNER GROSS, Die Abendländische Architektur um 1 3 0 0 , Stuttgart 1 9 4 8 ; BRANNER 1 9 6 5 wie Anm. 17. Das Buch von GROSS (vgl. auch desssen „Gotik und Spätgotik", Frankfurt/M. 1 9 6 9 ) schätze ich, auch wenn es sich rein stilkritischer Methoden bedient, deshalb außerordentlich hoch ein, weil es formal-ästhetische Phänomene mit einer kaum je erreichten Sensibilität festgemacht hat und somit in seiner Methode, die ich in ihrer Ausschließlichkeit nicht akzeptieren kann, einen Meilenstein darstellt. 4 6 Vgl. dazu die Befunde des Kölner Eckstrebepfeilers Anm. 27. /l7 Vortrag von ARNOLD WOLFF auf dem deutschen Kunsthistorikertag 1 9 7 8 in Düsseldorf.
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daß aber das allgemeine Niveau der Bauproduktion auf einen Standard zurücksinkt, der noch unter dem auch von Dorfkirchen vorher erreichten liegt. Diese Entwicklung findet in verschiedenen Sachverhalten ihren Ausdruck: Zum einen gehen die großen repräsentativen Bauaufgaben z. B. in Gestalt der Kathedralen zurück, wie man etwa an der Baugeschichte des Kölner Doms gut beobachten kann. Auf der anderen Seite gibt es nun auch verschiedene Bedürfnisse: Die Spitzen des feudalistischen Systems inklusive des gehobenen Klerus lassen sich Luxusbauten errichten, während z. B. die Bettelorden z. T. ganz bewußt nicht nur in „antikathedralen" Formen und Typen, sondern auch in „vorindustriellen" Produktionsweisen bauen lassen - eine Mentalität, die in bestimmten Baugesinnungen des Spätkapitalismus durchaus ihre Parallele fände. Eine weitere Reise galt der Abrundung des bisher gewonnenen Bildes. Die Metzer Kathedrale erwies sich in bautechnischer Hinsicht als direkter Abkömmling der Reimser. Die Pariser Notre-Dame besaß enge Analogien zur Kathedrale in Laon. Die Pfeiler der Emporen im Chorbereich, zwischen 1163 und 1180 entstanden, sind nach demselben „romanischen" Schema verfugt wie dort. In den seit 1180 bis gegen 1200 errichteten fünf östlichen Langhausjochen konnte ich dann dieselbe Vergrößerung der Formate wie in Laon beobachten, ohne daß Einzelschablonen zur Anwendung gekommen sein dürften. Die Technik wechselt wiederum in den von etwa 1205 bis 1220 errichteten Westjochen, wobei das letzte Pfeilerpaar nicht nur formal den Reimser Pfeiler aufnimmt, sondern auch dessen Verfugung. Die Entwicklung in Laon, Soissons usw. entsprach offensichtlich einem überregionalen Trend, der sich in der Ile-de-France und den Nachbarprovinzen Pikardie, Champagne, nördliches Burgund usw. sehr ähnlich vollzog. Andere Provinzen scheinen von diesem Austausch an technischem Wissen stärker ausgeschlossen gewesen zu sein wie z. B. das Berry oder die Normandie. Die Pariser Ste. Chapelle, die ich aus Gründen der Amienser Bauchronologie entgegen der bisherigen Forschung dem Robert de Luzarches zuschreibe, 48 ist nicht nur kunsthistorisch, sondern auch bautechnisch direkt an die Amienser Chorkapellen anzuschließen. Der Bau ist nach Lagerfugenplan errichtet. Nur in zwei Einzelfällen von insgesamt 138 ausgemessenen Nivellierungen konnte ich Abweichungen feststellen: In der Oberkapelle ist die erste
Schicht über dem Basisprofil bei der 3. Wandvorlage auf der Nordseite und bei der ersten südlichen Polygonvorlage jeweils höher als bei allen anderen. Die frühgotischen Partien der Abteikirche von St. Denis erwiesen sich erwartungsgemäß als typisch „romanisch" verfugt, was man in Krypta, Hochchor und auch am Außenbau fast überall mit bloßem Auge gut sehen kann. 4 9 Der 1231 begonnene Neubau wurde freilich nicht nach Lagerfugenplan errichtet. Dort, wo originale alte Wandpartien erhalten sind, zeigt sich, daß sie nachträglich eingefacht sind. Da dies auch für die erneuerten Wände zutrifft, die man im 19. Jahrhundert möglicherweise Stein für Stein „en-tiroir" (d. h. wie Schubladen) ausgetauscht hat, und sich diese Befundlage bei der ebenfalls von dem St. Denis-Meister erbauten Palastkapelle von St. Germain-en-Laye wiederholt, die allerdings auch ihrerseits nur wenige original erhaltene Wandstücke aufweist, kann man den beiderorts erhaltenen Originalpartien m. E. schon trauen. Die Stapeltechnik von St. Denis unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkte von der in Amiens: Zwischen den Vorlagen und den Wänden verläuft in der Regel eine senkrechte Mauerfuge. Das heißt, daß Vorlagen und Wand nicht in derselben Weise wie in Amiens miteinander verzahnt werden mußten, und aus diesem Grunde entfallen auch die „Flickschustereien", die wir dort beobachtet haben. Während der Amienser Architekt also auf den Lagerfugenplan zur Vermeidung der im Langhaus aufgetretenen Unregelmäßigkeiten verfallen ist, wurde die Stapeltechnik in St. Denis und auch in St. Germain-en-Laye auf andere Weise optimiert. Vorgefertigte Steinelemente sind
4 8 Die Begründung für diese These kann hier nicht en détail dargelegt werden. Ich verweise wiederum auf die ausführlichen Erörterungen in meiner Studie (Anm. 2). Wenn man gemäß der Auskunft des Amienser Labyrinths für die Zeit von 1 2 2 0 bis 1 2 8 8 (oder 1263/69) drei Baumeister annimmt und entsprechend zwei einschneidende Planwechsel innerhalb der Amienser Baugeschichte auszumachen sucht, dann können diese nur zwischen Choruntergeschoß und -obergeschoß einerseits und innerhalb der Erbauung der Chorobergeschosse andererseits stattgefunden haben. Und strukturell-ästhetisch ist der Entwurf der Pariser Ste. Chapelle meiner Meinung nach ein Abkömmling dessen, was Robert de Luzarches für das Amienser Langhaus und für die Amienser Choruntergeschosse konzipiert hatte. 4 9 Die von JAN VAN DER MEULEN auf dem Münchener Kunsthistorikertag 1 9 7 6 auf Grund der mir bisher nicht zugänglichen Dissertation von EDWARDS POLK, The Early Gothic Chevets of Saint Denis and Noyon. Methodological Considérations, Ann A r bor/Michigan 1 9 7 6 , vorgeschlagene Frühdatierung der Chorpartien halte ich aus bauarchäologischen wie aus stilistischen Gründen nicht für annehmbar.
Die Entfaltung der gotischen Baubetriebe auch in St. Denis anzutreffen. Das Pfeilerprofil ergab sich hier wie bei hochromanischen und früh- bis „klassisch"-gotischen Bauten (z. B . in der Krypta von Bourges) aus dem Profil der Wandvorlagen bzw. aus der Gewölbebildung. D i e Vorstufen des Pfeilers von St. Denis finden sich bekanntlich im Chor von Troyes, der wohl teilweise von demselben Architekten errichtet worden ist. D i e ersten Pfeiler in St. Denis weisen wegen ihrer relativ komplizierten Form (indem sich nämlich die Dienstbündel zum Mittelschiff hin von denen zum Seitenschiff hin unterscheiden) eine für diese Form zwar optimale, gemessen an den Amienser Exemplaren jedoch auch relativ komplizierte Verfugung mit bis zu vier Einzelschablonen auf. Erst westlich des Vierungsbereichs erhalten die Pfeiler einen nicht nur achsen-, sondern auch punktsymmetrischen Grundriß, der nun ein höchst rationelles Verfugungsschema ermöglicht.
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Die Pfeiler im westlichen Langhaus sind so verfugt, wie es Abb. 15 zeigt, d. h. die Stoßfuge verläuft immer in Ost-West-Richtung, einmal nördlich und einmal südlich von dem Scheidbogenprofil. Sie bestehen also aus nur zwei Steinelementen. Das größere dieser beiden Elemente entspricht genau einem Steinelement, das für die zugehörigen Wandvorlagen Verwendung gefunden hat (Abb. 16a). Viele Lagen der späteren Wandvorlagen in St. Denis sind nach einer anderen, nämlich auf 2 Steintypen beschränkten Versatzsystematik verfugt (Abb. 16 b, c), die übrigens auch sehr rationell ist. Bislang hatten wir für die Steintypen der Wandvorlagen die Mindestzahl 4 ermittelt. Neu ist, daß jedenfalls partiell dieselben Steinelemente, nämlich Lage a bei den
16
St. Denis, Schema der Langhausvorlagen
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Vorlagen und das jeweils größere Element der Lagen a/b der Pfeiler bei Pfeilern und Vorlagen gleichermaßen Verwendung finden konnten. Im Amienser Langchor hat man für die optimal verfugten Pfeiler und Vorlagen jeweils noch insgesamt fünf Steintypen bzw. Einzelschablonen benötigt, in St. Denis sind es nur noch vier. 5 0 Die Bautechniken in St. Denis lassen eine weitere Optimierung derer von Amiens erkennen: Die Anzahl der für Vorlagen und Pfeiler benötigten Einzelschablonen sinkt, die Unzulänglichkeiten der Stapeltechnik werden weitgehend behoben. Die Verwendung von Einzelschablonen setzte gegen 1194 in Chartres ein, die ersten Indizien für Stapeltechnik hatte ich gegen 1200 in Soissons ausgemacht, die Vorfertigung von Soissons (1200) war über Reims (1210) und über Amiens (1220) bis zu St. Denis (1231) perfektioniert worden. Der „Lagerfugenplan" hatte ab etwa 1235 Anwendung gefunden (Amienser Ostpartien, Ste. Chapelle), die Stapeltechnik, wie sie im Amienser Langhaus vorliegt, war in Nachfolgebauten wie St. Denis und St. Germain-en-Laye optimiert worden. Gegen 1190 tritt die gotische Architektur, legt man die Entwicklung der Bautechnik zugrunde, in ein entscheidendes Stadium. Diese Auffassung stimmt überein mit den stilhistorisch ermittelten Epochengrenzen von Ernst Gall. 5 1 Besonders seit den Untersuchungen von Robert Branner wissen wir, daß die architektonische Formensprache von St. Denis sehr weitgehend von burgundischen Vorbildern geprägt ist. 52 Die Berücksichtigung von Burgund schien mir auch in bezug auf die frühgotische en-delit-Technik geboten zu sein. Man kann sich die Wirkungsweise dieser Technik am besten in Viollet-le-Duc's Querschnitt der Langhaushochwand von Notre-Dame in Dijon 5 3 klarmachen, auf dem unsere Abb. 17 beruht. Die Scheidbogen und Pfeiler tragen eine Aufmauerung, die nach außen auskragt. Diese Aufmauerung ist die Grundlage für die Triforienpfeiler und Dienste sowie die extrem dünne Triforienrückwand. Beide tragen wiederum einen Laufgang, der vor den Fenstern des Obergadens verläuft. Diese Zone besteht aus schluchtartigen Räumen, die nach außen durch sehr dünne Mauern mit den Fenstern und nach innen durch den „Schildbogen" des Mittelschiffsgewölbes, der in Wirklichkeit kein Schildbogen mehr ist, begrenzt werden und die ihrerseits eine flache Abdekkung besitzen.
Die technische Perfektion dieser Konstruktion wird deutlich angesichts früherer romanischer Hochschiffwände. Diese bestehen in der Regel aus zwei Mauerschalen, die mit Füllmauerwerk ausgegossen sind und die relativ kleine Fensteröffnungen enthalten. Hier in Dijon ist die eigentliche Mauer auf die ehemalige Außenschale reduziert, die nun ganz dünn geworden ist und auch noch weit geöffnet erscheint. Aus der Innenschale ist ein Stabwerk aus endelit-gearbeiteten Dienstschäften geworden, d. h. von ihr ist praktisch kaum etwas übrig geblieben, und wo sich ehemals Füllmauerwerk befand, ist jetzt Luft. Die statische Raffinesse dieses Systems besteht darin, daß die Dienstbündel aus en-delit-Elementen nur den senkrechten Druck des sicherlich relativ leichten Gewölbes aufzunehmen haben, während der Gewölbeschub an den entscheidenden Stellen auf die äußeren Strebepfeiler übertragen wird. Die freistehenden Dienste des Triforiums haben dagegen lediglich die Funktion, den oberen Laufgang zu tragen. Man sieht also, daß alle ehemals von der inneren Mauerschale aufgenommenen statischen Funktionen hier von en-delit-Diensten übernommen worden sind. Die Auswirkungen eines solchen Systems für die Bauökonomie liegen auf der Hand: zum einen sind die Dienstschäfte mit ihren meist genau vorgegebenen Dimensionen (und übrigens auch mit ihren Materialeigenschaften, die auf die Belastung dieser Elemente Rücksicht nehmen mußten) seriell vorgefertigte Elemente, was sich auch durch Quellen belegen ließe. Zum anderen impliziert diese Technik
6 0 Dies unterscheidet sich von dem Sachverhalt in der K r y p t a von Bourges (vgl. Anm. 4 2 ) ganz entscheidend, indem hier v i e r Einzelschablonen auch tatsächlich f ü r vier Steinelemente zur A n wendung gekommen sind. W ü r d e man so wie BRANNER argumentieren, dann wäre man hier im Langhaus von St. Denis für die Festlegung der Pfeiler- und Vorlagenprofile mit nur einer Schablone ausgekommen. 51 GALL 1 9 2 5 w i e Anm. 1 5 , S. 8 9 : „Eine Kunstgeschichte, die die nationalen Stilmerkmale in den Vordergrund rücken will, müßte die Gotik in der Normandie um 1 0 5 0 beginnen lassen, soll aber der allgemeine westeuropäische Zeitstil den Maßstab abgeben und sollen kunstgeschichtliche Urteile nach weiteren Gesichtspunkten entscheiden, dann beginnt auch in Nordfrankreich die Gotik nicht v o r 1 1 9 0 - also nahezu um die W e n d e des XII. und XIII. Jahrhunderts, wie K u g l e r schon richtig definiert hat." 52
BRANNER 1 9 6 5 w i e A n m .
17.
Vgl. das Stichwort „construction" bei VIOLLET-LE-DUC 1 8 7 5 w i e Anm. 1 4 , Bd. IV, S. 1 3 1 ff. 53
Die Entfaltung der gotischen Baubetriebe
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eine ungeheure Materialersparnis nicht nur wegen der weitgehenden Reduktion der Innenwandschale und wegen des Wegfalls von Füllmauerwerk, sondern vor allem auch wegen der außerordentlich dünnen Außenwände, die hier in der Regel nur einen Quader stark sind und jedenfalls nicht mehr zweischalig gemauert sind. Das führt uns zurück zu den frühgotischen Bauten der Ue-de-France. Während in St. Denis - und zwar zuerst im Sugerchor um 1145 - die extensivere Verwendung solcher en-delit-Elemente einzusetzen scheint, kann man in Laon sehen, wohin sie noch nicht einmal zwei Jahrzehnte später geführt hat. Denn entgegen der weitverbreiteten Auffassung, die Dienste hätten nur abbildende Funktion, bin ich der Meinung, daß sie auch hier eine statische Aufgabe haben, nämlich die innere Hochschiffwand zu verstärken. Bei Notre-Dame in Dijon war das so offensichtlich, daß Viollet-le-Duc sogar eine Zeichnung angefertig hat, auf der die en-delit-Elemente durch gußeiserne ersetzt sind, wobei er nochmals deren statische Funktionen erörtert. 54 Aber auch in der Kathedrale von Laon, die ja einen ganz anderen, und nur in der Triforienzone zweischaligen Wandaufriß hat, kann man sehen, daß die Obergadenwände außerordentlich dünn geworden sind. Die enorm rapide Entwicklung der frühgotischen Architektur beruht offensichtlich auf der en-delitTechnik mit ihren statisch-konstruktiven und bauökonomischen Vorteilen. Sie führt um 1180 zu so perfekten Bauten wie dem Südquerhaus von Soissons und der Abteikirche St. Remi in Reims. Noch bevor diese Entwicklung abgeschlossen ist, setzt eine neue ein, die man als die eigentlich hochgotische bezeichnen kann. Von ihr sei nun noch einmal die Rede. Seit den 70er Jahren des 12. Jahrhunderts vergrößerten sich die Steinformate in auffälliger Weise. Viollet-le-Duc hatte das gleichfalls beobachtete Phänomen etwas später, nämlich gegen 1200 datiert. 0 5 Wahrscheinlich kamen seit den 70er Jahren vermehrt Hebezeuge, vor allem Kräne zum Einsatz, was in der Chronik des Gervasius von Canterbury eine ge-
17 Dijon, Notre-Dame, Schnitt durch die Hochschiffwand. Nach Viollet-le-Duc 1 8 7 5 wie Anm. 1 4
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VIOLLET-LE-DUC
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VIOLLET-LE-DUC
1875 wie Anm. 14, Bd. I V , S. 144 f. 1875 wie Anm. 14, Bd. I V , S. 51.
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DIETER KIMPEL
wisse Bestätigung findet.56 Denn warum hätte Gervasius die ingeniösen Maschinen, die Guillaume de Sens zum Entladen der Schiffe mit den Steintransporten konstruiert hatte, bewundern sollen, wenn sie seit langem gang und gäbe gewesen wären? Zwar gab es Kräne im Bauwesen schon immer, aber in den 1170er Jahren scheint die „erste industrielle Revolution" auch auf das Bauwesen übergegriffen zu haben. Die Steine mit vergrößerten Formaten wurden nun offensichtlich zunächst noch nach den alten Versatzprinzipien, aber schon mit Maschinen versetzt. Allem Anschein nach erzeugte die Vergrößerung der Formate auch das Bedürfnis nach besserer Systematisierung der Verfugungsschemata. Die ersten Einzelschablonen hatte ich bisher in Chartres (also um 1194) ausgemacht. Daraus ergab sich die Hypothese, daß man trotz dieser neuen Systematik mit Hilfe von Einzelschablonen zunächst konventionell, d. h. horizontal und in einwandfrei durchlaufender Nivellierung weitergebaut und wiederum erst nach einem gewissen zeitlichen Abstand zur Stapeltechnik - in Soissons - gefunden hat. Im Chorbereich von Notre-Dame in Paris sind die Vorlagen des Langchores einwandfrei durchnivelliert, im Polygon, dem bekanntlich ältesten Bauteil, findet man Nivellierungen, die von Vorlage zu Vorlage wechseln. Dieser Befund könnte dazu verleiten, hier eine sehr frühe Form der Stapeltechnik zu vermuten. Ich habe schon gesagt, daß eine solche Annahme unzutreffend wäre, da sich seit den Untersuchungen von Marcel Aubert eine falsche Rekonstruktion des Grundrisses der Pariser Kathedrale durchgesetzt hat. Noch in der Langhauskampagne von 1180 bis nach 1200 zeigt sich nämlich eine durchgehend einwandfreie Nivellierung. Sie wird nur in der Nähe der Vierung unterbrochen, weil sich hier eine offenbar bisher nicht bekannte Baunaht befindet. 57 Erst in den Westjochen, zwischen 1205 und 1220 entstanden, findet - wenn auch nur partiell - der Übergang zur Stapeltechnik statt. In der Kathedrale von Chartres verläuft die Nivellierung, abgesehen von Baunähten im Bereich des Querhauses, in aller Regel ganz einwandfrei und ohne Störungen. Auch in Chartres, wo die Einzelschablone als Voraussetzung für die Stapeltechnik schon bekannt war, ist man also trotzdem weiterhin nach der Horizontalbauweise verfahren. Man mußte mit den jeweils vorliegenden Innovationen erst eine Zeitlang seine Erfahrungen machen, um zu weiteren Neuerungen vorzustoßen.
Somit stellte sich die seit 1210 gebaute Kathedrale von Reims als besonders wichtig heraus. Hier hat von Anfang an die Stapelbauweise geherrscht. Schon die Vorlagen in dem ältesten Bauteil 5 8 , der Achsenkapelle, sind sehr unterschiedlich nivelliert und offensichtlich gestapelt. Das gleiche gilt für sämtliche Seitenschiffwände mit Ausnahme der seit den 40er Jahren des 13. Jahrhunderts entstandenen Westpartien. Diese weisen einen durchgehenden einwandfreien Lagerfugenplan von einer Präzision auf, wie sie sonst kaum je anzutreffen ist. Auf Abb. 18 ist der Mauerverband im 7. Joch von Westen auf der Südseite der Kathedrale schematisch festgehalten. Man erkennt darauf nicht nur, daß die Vorlagen vorab gestapelt sind, sonderen auch, daß die Verbindungswände in der Weise nachträglich eingefügt sind, daß sie sich einmal an der Nivellierung der westlichen und einmal an der der östlichen Vorlage orientieren bzw. teilweise sogar unabhängig von diesen beiden vorgegebenen Schichtungen erfolgt sind. Daraus kann man die jeweilige Richtung des Versatzvorgangs rekonstruieren, die ich in dem Diagramm mit Pfeilen kenntlich gemacht habe. Die Wandvorlagen des 13. Jahrhunderts von St. Denis sind relativ weit vor die Verbindungswände gestellt und mit diesen durch eine Art Zungenmauer verbunden. Vorlagen und Zungenmauern sind identisch nivelliert, zwischen diesen und den Seitenwänden treten aber in den meisten Fällen Fugensprünge auf, so daß ich mich zu dem Rückschluß berechtigt glaube, daß diese Wände nachträglich eingefacht sind. Am Außenbau besteht zwischen den Strebepfeilern
5 6 D e r Text des Gervasius ist mehrfach gedruckt und übersetzt worden, vgl. JÜLIUS VON SCHLOSSER, Quellenbuch zur Kunstgeschichte des abendländischen Mittelalters N. F. VII, W i e n 1 8 9 6 , S. 2 5 2 - 2 6 5 . Ich beziehe mich auf TERESA G. FRISCH, Gothic A r t 1 1 4 0 - 1 4 5 0 , Englewood Cliffs N. J. 1 9 7 1 , S. 1 7 . D o r t heißt es: „And now he addressed himself to the procuring of stone from beyond sea. He constructed ingenious machines f o r loading and unloading ships, and for drawing cement and stones." D i e Qualifikation von Maschinenbauern hatten schon antike Architekten wie bekanntlich auch Vitruv. Und in welcher Weise die jüngeren Berufskollegen von Guillaume de Sens solche Fähigkeiten beherrschen mußten, entnehmen wir den Abbildungen bei VILLARD DE HONNECOURT (vgl. Anm. 3 9 ) . Es geht hier nicht darum, den frühmittelalterlichen Architekten solche Qualifikation ganz abzusprechen, sondern nur um die Feststellung, daß diese Anforderungen mit der „ersten abendländischen industriellen Revolution" um 1 1 7 0 erheblich gewachsen sein dürften. 6 7 A l l diese Einzelbefunde sind in der Studie (Anm. 2) genauer dargelegt und auf ihre bauhistorische Relevanz hin erörtert. 6 8 Zur Reimser Chronologie neuerdings RAVEAUX 1 9 7 9 wie Anm. 3 1 .
Die Entfaltung der gotischen Baubetriebe
267
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18 Reims, Aufmauerung einer Jochwand im südlichen Langhausseitenschiff zwischen zwei gestapelten Vorlagen mit wechselnder Versatzrichtung. Der tatsächliche übergeordnete Bauverlauf erfolgte von links (Osten) nach rechts (Westen)
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und den Außenwänden unten bzw. den Fensterlaibungen weiter oben eine gleichmäßig durchgehende Nivellierung. Man kan aus diesen Beobachtungen zweierlei erkennen: Zum einen ist der Bau in der Fensterregion offensichtlich nach Lagerfugenplan errichtet, und auch die äußere Mauerschale geht mit den Strebepfeilern so konform, daß man hier auf Lagerfugenplan schließen kann (im Gegensatz übrigens zu Amiens, wo die Strebepfeiler meist gegen die äußere Mauerschale angemauert sind). Zum anderen ist die innere Wandschale wirklich eine nachträgliche Einfachung. Am Außenbau geht die Nivellierung von Wänden und Strebepfeilern zügig durch. Folglich müssen die Wandvorlagen im Neubau von St. Denis, gerade weil sie sich in ihrer Nivellierung weder auf das angrenzende Mauerwerk noch auf die jeweilig benachbarte Vorlage beziehen, vorgefertigt und gestapelt worden sein.
worden sind. Und dies war anscheinend noch in der Kathedrale von Laon der Fall, wo sich innerhalb eines jeden Bauabschnittes die Schichtung jeweils über mehrere Joche gleichzeitig erstreckte. W i r wissen, daß dieses Verfahren auch in der Gotik praktiziert worden ist, wie die liegengebliebenen Bauvorhaben in Venosa die Puglia oder in Eine 59 veranschaulichen können. Dem steht nun die Chronik des Gervasius über den Neubau von Canterbury entgegen. Sie läßt eindeutig erkennen, daß Guillaume de Sens die Bauarbeiten Joch für Joch vorangetrieben hat. 60 Dieses jochweise Errichten eines Baus muß unbestreitbare Vorteile besessen haben. Wenn die Bauarbeiten aus irgendeinem Grunde zum Erliegen kamen, dann konnte das bisher erstellte Bauvolumen provisorisch abgeschlossen und genutzt werden, wie wir übrigens aus vielen Baugeschichten wie denen von Reims, Köln usw. wissen.
An dieser Stelle muß jedoch noch auf eine besondere Problematik eingegangen werden. Die romanischen Bauten sind nach einem Verfahren errichtet, das ich Horizontalbauweise nenne. Der jeweilige Bau, so wie wir das heute noch bei der Ziegelbauweise beobachten können, wird in langen horizontalen Bauabschnitten hochgeführt. Für Speyer ist dieses Verfahren von den Bearbeitern des Inventars mit aller Klarheit erschlossen worden. Meine Beobachtungen in normannischen Bauten des 11. Jahrhunderts hatten zum selben Ergebnis geführt. Damit ist aber nicht gesagt, daß der gesamte Bau jeweils Schicht für Schicht hochgewachsen ist, denn das wäre in der Tat unklug gewesen. Es läßt sich aber zeigen, daß jeweils relativ große Volumina des Baus gleichzeitig ummauert
Dieses Procedere setzt offensichtlich früher ein als die Stapeltechnik. Zwar wird man immer schon bemüht gewesen sein, bestimmte Baupartien beziehbar zu machen, bevor man weitere in Gang setzte; daß man jedoch konsequent jochweise voranschreitet, ist bedeutsam. Es ist dennoch nicht gerechtfertigt, einfach zwischen Horizontalbauweise und Vertikalbauweise zu unterscheiden. Man muß vielmehr zwei
5 9 In Venosa hat man das komplette Arkadengeschoß des gesamten Baus liegengelassen, in Eine die ca. 4 m hohen Umfassungsmauern des Kapellkranzes. Venosa w u r d e im 1 3 . , Eine im 1 4 . Jahrhundert aufgegeben. Zu Eine vgl. ARNOLD WOLFF 1 9 6 8 wie Anm. 5.
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FRISCH 1 9 7 1 w i e A n m . 5 6 , S. 1 6 ff.
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19 Schematische Darstellung einer in Horizontalbauweise errichteten Seitenschiffswand (wie z.B. in Chartres)
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Dinge auseinanderhalten: die längerfristige Bauplanung einerseits und die aktuelle Bautechnik andererseits. Unabhängig von der jeweils in Anwendung gekommenen Bautechnik tendierte die Bauplanung offenbar (aber das wäre noch genauer zu ermitteln) dazu, möglichst kurzfristig Räume verfügbar zu machen, die einen immer kleineren Anteil am Gesamtvolumen des Baus ausgemacht haben. Und je weiter das Denken in „Jochen", also in addierbaren Raumkompartimenten fortgeschritten war - und das war bekanntlich längst vor den hier erörterten Entwicklungen der F a l l - , desto näher lag eine solche Plankonsequenz. Man darf auf der anderen Seite die Stapeltechnik aber auch nicht dahingehend mißverstehen, daß hier die tragenden Bauglieder wie Pfeiler und Wandvorlagen vorab errichtet und die Verbindungswände erst eingefügt wurden, als das ganze statische Gerüst schon stand. D a s wäre besonders bei den Vorlagen unsinnig gewesen, da man den Bauplatz dann zweimal hintereinander hätte einrüsten müssen. Wir müssen uns die bautechnische Differenz zwischen Horizontal- und Vertikalbauweise deshalb so vorstellen, daß bei der ersten die Schichten über die Vorlagen durchgehend so wie in Abb. 19 versetzt worden sind, daß bei der zweiten die Vorlagen jedoch so wie in Abb. 20 immer vorab gestapelt wurden, ohne in ihrer Höhe je das M a ß zu überschreiten, das das jeweilige Gerüstniveau ermöglichte. D i e Stapeltechnik, die dann vom Lagerfugenplan abgelöst worden ist, war möglicherweise nur wenige
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20 Schematische Darstellung einer in Skelettund Stapelbauweise errichteten Seitenschiffswand (wie z. B. im Langhaus von St. Denis)
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Jahrzehnte in Gebrauch. Sie muß jedoch bei den Produzenten und Rezipienten von Architektur in den Jahren zwischen etwa 1200 und 1235 Erfahrungen gezeitigt haben, ohne die eine bestimmte und von den Kunsthistorikern konstatierte „Stilentwicklung" so nicht zustandegekommen wäre. Es ist nunmehr zu fragen, welche Theoriebildungen die vorgelegten empirischen Befunde begünstigen. Was erfahren wir aus ihnen über die Geschichte der menschlichen Arbeit? D i e Kathedralen als Produkte dieser Arbeit legen Zeugnis davon ab, was der Mensch als gesellschaftliches Wesen zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Entwicklung jeweils hat bewerkstelligen können. Auch sie gehören zu dem, was der junge Marx „das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte" genannt hat. 6 1 Arbeit als allgemeines Vermögen wäre aus den Bauten als den Arbeitsprodukten zu rekonstruieren. Dieses Vermögen erstreckt sich von einfachen handwerklichen Fertigkeiten über bestimmte Formen der Kooperationsfähigkeit bis hin zu planerisch-disponierenden Qualifikationen. Marx hatte gesagt, daß die jeweiligen historischen Produktionsverhältnisse der Menschen „einer bestirnten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen". E r fährt dann fort: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Pro-
61
MARX/ENGELS, Werke, Erg.-Bd„ 1. Teil, Berlin 1968, S. 542.
Die Entfaltung der gotischen Baubetriebe duktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen . . ." 6 2 Es wäre zu klären, was wir aus unseren Befunden über die Produktivkraftentwicklung im Bausektor rückschließen können, und es wäre zu fragen, auf Grund welcher Produktionsverhältnisse bzw. durch welche Entwicklungen der sozio-ökonomischen Struktur diese partielle Produktivkraftentfaltung zustande kommen konnte. Damit ist aber nur ein Aspekt angesprochen, denn mit solcher Problemstellung bewegen wir uns noch weitgehend im Bereich der ökonomischen Basissachverhalte, d. h. in der Sphäre der „Produktionsweise des materiellen Lebens", welche nach Marx „den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß", also den „Überbau" erst „bedingen". 63 Es muß deshalb auch gefragt werden, wie sich die rekonstruierbaren Prozesse der Basis auf künstlerische Prozesse und Überbauphänomene ausgewirkt haben bzw. wie deren Wechselbeziehung geartet ist. Man hat schon lange gesehen, daß unter den bildenden Künsten die Architektur in hervorragender Weise geeignet ist, dem jeweiligen Stand der Produktivkräfte ziemlich unmittelbar Ausdruck zu verleihen. Denn keine der anderen traditionellen Künste bedurfte zu ihrer Realisierung eines vergleichbaren Ausmaßes an gesellschaftlicher Arbeit. Unabhängig davon, wie genau man den Stand der Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse aus einzelnen Architekturen bisher abgelesen hat, haben doch Pyramiden, Tempel, Dome, Schlösser und Wolkenkratzer immer schon ungefähr darauf verwiesen, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen sie zustande kommen konnten. Nun verleiht eine gotische Kathedrale in ihrer komplexen Ausprägung ja einer ganzen Reihe von Sachverhalten Ausdruck, und es versteht sich, daß dieser umfassende Ausdruckscharakter hier nicht in all seinen Einzelsaspekten abgehandelt werden kann. Denn dazu bedürfte es einer ganzen Serie jeweils angemessener Einzeluntersuchungen. So kanh die Analyse der Bautechnik z. B. kaum erklären, warum man einen Bau in diesen und warum nicht in anderen Proportionen errichtet hat. Auch für die Geschichte der Bautypen muß ein ganz anderes Quellenmaterial ins Auge gefaßt werden. 6 4 Über die Geschichte der Frömmigkeit oder den Wandel der Adressatenschichten erfahren wir aus der Ikonographie der Portale und Fensterzyklen unendlich viel mehr als aus der Technikgeschichte. Wenn der „anschauliche Charakter" (SEDLMAYR) oder das, was ich den um-
269
fassenden Ausdruckscharakter nenne, also ein ganzes Konglomerat solcher spezieller Ausdruckscharaktere ist, 65 so muß das deshalb betont werden, um dem Mißverständnis vorzubeugen, die hier vorgetragenen Ausführungen böten schon so etwas wie eine Gesamtinterpretation des Phänomens gotische Kathedrale auf materialistischer Basis. •Welch subtile Rückschlüsse man von Baubefunden auf die Organisation eines Baubetriebes ziehen kann, hat wohl am eindringlichsten Walter Haas in seinen Beiträgen zum Speyrer Inventar bewiesen. W i r wollen fragen: Wie entwickelt sich das Verhältnis von normierten und somit potentiell vorgefertigten Steinelementen zu den nichtnormierten? Wie entwickeln sich die Planungskapazitäten? Gibt es eine Entwicklung des Verhältnisses von Kosten bzw. Arbeitsäquivalenten zu Kubikmetern umbauten Raumes? Vom 11. bis zum späten 13. Jahrhundert nimmt die Arbeitsteiligkeit in den Großbetrieben zu, die Planungskapazitäten wachsen, der Arbeitsprozeß wird kontinuierlicher, qualifizierter und in gewisser Weise taylorisiert. Mit der zunehmenden Vorfertigung und der damit einhergehenden zunehmend exakten Vorausplanung des Produktionsprozesses bildet sich die typisch gotische Betriebsstruktur heraus, die dann auch in den westeuropäischen Sprachen als „Hütte", „löge" und „lodge" adäquate Bezeichnungen gefunden hat. Diese Hütte ist - wie gesagt - wirklich nichts anderes als ein beheizbarer und somit auch im Winter nutzbarer Arbeitsplatz. Er hat sich in dieser Form herausgebildet, weil bestimmte Steinformate und -formen in großen Mengen vorgefertigt werden konnten und sollten. Dadurch, daß die Steinmetzen der Winterarbeitslosigkeit entrissen sind, wird der Betrieb gegenüber dem „romanischen" kontinuierlicher und arbeitsteilig-qualifizierter. Die Steinmetzen sind nun nicht
MARX/ENGELS, Werke, Bd. 13, Berlin 1 9 6 1 , S. 8 f. Ebenda. 6 4 FRIEDRICH MÖBIUS, Basilikale Raumstruktur im Feudalisierungsprozeß, Anmerkungen zu einer „Ikcnologie der Seitenschiffe", in: Kritische Berichte 7, 1 9 7 9 (2/3) S. 5 - 1 8 ; Ders., Die frühmittelalterliche Basilika - Zur Soziologie und Symbolik eines architektonischen Typs, ebenda 9, 1 9 8 1 (1/2), S. 3 - 1 9 . Angesichts dieser Arbeiten erwartet man mit Spannung die vom V E B Seemann-Verlag Leipzig übernommene Studie „Symbolwerte mittel62
63
a l t e r l i c h e r K u n s t " v o n MÖBIUS u n d H .
SCIURIE.
Die Vieldimensionalität des Ausdruckscharakters hat meiner Meinung nach ROLAND BARTHES, wenn auch sehr essayistisch und unsystematisch, immer wieder verdeutlicht und dargelegt. Vgl. z . B . ROLAND BARTHES, Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 1 9 6 4 ; oder Ders., Der Eiffelturm, München 1 9 7 0 . 65
270
DIETER
mehr mit den Versetzern identisch. Eine langfristige Vorfertigung und spätere Montage mußte zwangsläufig und in zunehmendem M a ß e neue Planungsstrategien und -medien erfordern. Mit aller gebotenen Vorsicht habe ich versucht, eine Produktivitätskurve der Großbaubetriebe vom 11. zum 13. Jahrhundert zu zeichnen. Sie steigt bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts allmählich an und beschleunigt sich - jedenfalls in Noidfrankreich - dann zunehmend. Ihren Höhepunkt erreicht sie entsprechend früher geäußerten Vermutungen 6 6 mit dem Baubeginn von Amiens 1220. Auf ihm verharrt sie etwa zwei Jahrzehnte, um dann - und das schien zunächst gar nicht plausibel - allem Anschein nach wieder abzusinken. Es ließ sich eine zunehmende Arbeitsteilung etwa zwischen Steinbrucharbeitern, Transportarbeitern, Steinmetzen, Mörtelmischern, Versetzern usw. konstatieren, 6 7 die eine entsprechende Spezialisierung und auch Ausdifferenzierung der Qualifikationen innerhalb einzelner Berufsgruppen mit sich gebracht haben muß, was besonders bei den Steinmetzen evident wird. Die Bauarbeiter der Großbaustellen dürften dem modernen Proletarier darin am nächsten gekommen sein, daß sie im Gegensatz zu den meisten anderen zunftmäßig organisierten städtischen Handwerkern nicht im Besitz ihrer Produktionsmittel waren und somit lediglich ihre Arbeitskraft zu verkaufen hatten. D i e Tätigkeit der nach Schablonen arbeitenden Steinmetzen mag moderner Fließbandproduktion nicht unähnlich erscheinen. Gleichzeitig war der Steinmetz eines gotischen Großbaubetriebes allem Anschein nach in die Lage versetzt, einen komplexen gesellschaftlichkooperativen Produktionsprozeß wirklich zu durchschauen. 68 Es wäre interessant zu hinterfragen, ob sich auf Grund solcher Erfahrungen in der Praxis nicht auch ganz bestimmte berufsständische oder auch allgemeinere Anschauungen bei dieser Berufsgruppe herausgebildet haben. D i e Bauindustrie hat ihren Teil zu der allgemeinen Entwicklung beigetragen. Hier konnten gerade im technischen Sektor Methoden entwickelt werden, die auch für andere Produktionsbereiche Nutzen hatten. Vor allem scheinen die Baubetriebe eine Produktionsform zu entwickeln, die schon E n d e des 12. und im 13. Jahrhundert das präfiguriert, was wir in anderen Zusammenhängen erst am E n d e des Mittelalters als Manufakturen bezeichnen. Und wenn man fragt, warum sich gerade im Bauwesen relativ früh solche quasimanufakturellen Produktionsweisen entwickeln konnten und wieso sich eine derartige Produktions-
KIMPEL
rationalität gerade im Bau von Kathedralen entäußert, dann ist man über die Analyse der wirtschaftshistorischen Fakten hinaus auf die Sozialstruktur Frankreichs, seiner Städte und z. B. der Domkapitel als den entscheidenden Bauherrengremien 6 9 verwiesen. Ich verweise ferner auf die Ergebnisse der jüngeren wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Forschung zum französischen Kronland, auf Untersuchungen zur Geschichte etwa des Klimas, der Agrarproduktivität, der Rodungen, der Demografie, des Wachstums der Städte, der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der Technisierung oder dessen, was man als die erste industrielle Revolution des Abendlandes bezeichnen könnte. 7 0 D i e schon erwähnte Zunahme der Planungsanforderungen stellt sich für die Geschichte des Architekten- und Künstlerberufs als besonders wichtig heraus. D a ß der Architekt in seiner gesellschaftlichen Stellung im Frankreich des 13. Jahrhunderts einen ungeheuren Prestigegewinn verzeichnet, ist mehrfach und zuletzt am deutlichsten von Warnke gezeigt worden. 7 1 Warum das so war, ist meiner Meinung nach aber von allen Autoren nicht deutlich gemacht bzw. falsch dargestellt worden. Es läßt sich zeigen, d a ß der gesellschaftliche Aufstieg der Architekten und ihre Schrittmacherrolle in der Geschichte des Künstlerberufs, auf die Warnke mit berechtigtem Nachdruck hingewiesen hat, zuallererst in den Qualifikationsanforderungen begründet sind, die sich aus den Entwicklungen der Baubetriebe zunehmend ergeben hatten. In diesen Zusammenhang gehört die erstmals von Branner nachgewiesene Verwendung der exakt verkleinerten Werkzeichnung seit den 20er Jahren des 13. Jahrhunderts und ihre Vorgeschichte. 72 D i e Beherrschung dieses Me-
60
KIMPEL 1 9 7 7 7 w i e A n m . 1, b e s . S. 2 1 5 f.
67
HAAS hat eine solche zunehmende Arbeitsteilung schon inner • halb der relativ kurzen frühromanischen Baugeschichte von Speyer überzeugend nachweisen können. Vgl. Anm. 8, S. 555. 68 Vgl. zu dieser Problematik neuerdings den „Argument-Sonderband 19" mit dem Titel „Entwicklung der Arbeit", hrsg. v. FRIGGA HAUG, B e r l i n ( W e s t )
1978.
69
Vgl. dazu zuletzt die leider grobschlächtige, aber informationsreiche und problemorientierte Studie von HENRY KRAUS, G o l d w a s the Mortar. The Economies of Cathedral Building, L o n d o n / Henley/Boston 1979. 70
Vgl.
Anm. 20
und
21
sowie
MARIE-THÉRÈSE
LORCIN,
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France au X I I I e siècle, o. O. (Ed. Nathan) 1 9 7 5 ; und vor allem: MICHEL LE MENÉ, L'économie médiévale, Paris 1977. 71 MARTIN WARNKE, Bau und Überbau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen, Frankfurt/M. 1976, S. 128 ff. 72 ROBERT BRANNER, Villard de Honnecourt. Reims and the Origin of Gothic Architectural Drawing, in: Gazette des BeauxArts 61, 1963, S. 1 2 9 - 1 4 6 .
Die Entfaltung der gotischen Baubetriebe diums nobilitierte den Architekten auch insofern, als er sich von der Ausübung einer ars mechanica zum Kenner der Geometrie als einer ars liberalis erheben konnte. Diese Einschätzung wird durch die Analyse sehr diverser Quellenbereiche bestätigt. D e r Umbruch ist sowohl in Architektendarstellungen, in Beschreibungen ihrer Tätigkeit, in den Formen ihrer gesellschaftlichen Ehrungen, in den mit ihnen abgeschlossenen Verträgen, als auch aus anderen Indizien wie bildlichen Attributen und Ämterübertragungen nachzuweisen. Wenn all dies auch nicht ganz neu ist, so hat man doch übersehen, daß der sich im 13. Jahrhundert herausbildende Künstlerstatus der Architekten letztlich aus betriebswirtschaftlichen Bedingungen hervorgeht. D e r „autonome Künstler" ist nicht etwa ein Produkt der sogenannten Renaissance. D e n ersten Vertretern dieses Typus begegnen wir vielmehr, wie schon Warnke vermutet hat, im 13. Jahrhundert. Und ich meine, d a ß auch die „autonome Kunst" dort ihren Ursprung hat. D i e architektonische Gestaltung erfolgt bis ins 13. Jahrhundert hinein noch weitgehend naturwüchsig und in enger Verbindung ihres Entwerfers zu den durch die Tradition vorgegebenen Typen, Techniken, Materialien und Fertigkeiten, also in direktem Konnex zur Praxis. In dem Augenblick jedoch, wo sich der Entwerfer von der Baustelle entfernt, wo ihm neue Planungsmedien in Gestalt der exakt verkleinerten geometrischen Zeichnung zur Verfügung stehen, wo auf der Baustelle seine disponierende Funktion von der ebenfalls seit dem 1 S.Jahrhundert nachweisbaren Berufsgruppe der Poliere als einer Art mittlerer Kader wahrgenommen wird, muß sich auch die Gestalt der architektonischen Produkte verändern. Die geschilderten Entwicklungsprozesse haben sich auf die architektonische Gestalt ausgewirkt, indem sie, ganz allgemein gesprochen, vom Massen- zumGliederund zum Skelettbau und dann wieder zu einer Bauweise geführt haben, bei der die Kontinuität der W a n d die hochgotischen Skelettstrukturen wieder verdrängt. An anderer Stelle habe ich versucht 73 , wenigstens einzelne Aspekte und partielle Zusammenhänge dieser Art aufzuzeigen. Es scheint mir, als sei die mittelalterliche Architekturgeschichte unter Einbeziehung solcher und auch anderer Aspekte, wie sie z. B. Möbius in seinen Arbeiten in den Vordergrund gestellt hat, von Grund auf neu zu durchforschen. D e r Konnex zwischen allen bislang angesprochenen Bereichen zur ästhetischen Erscheinungsform von Architektur läßt sich auch methodisch stringent rekonstru-
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ieren - das habe ich an Beispielen wie der Ste. Chapelle, der Schloßkapelle von St. Germain-en-Laye sowie in Vergleichsanalysen der „klassischen" Kathedralen andernorts auch darzulegen versucht. Warnke, der sich in den Schlußpassagen von „Bau und Überbau" defaitistisch zu diesem Problem geäußert und keinerlei Perspektiven für eine „Überleitung zur Form" von sozialhistorischen Erkenntnissen her aufzuweisen vermocht hat, wäre damit jedenfalls partiell ein methodologisch gangbarer Weg gewiesen. 74 Man kann den Zeitpunkt, zu dem die Kunst im Sinne der bürgerlichen Kategorie von Autonomie zu „autonomer Kunst" wird 7 5 , sicher nicht exakt fixieren, denn dieser Wandel vollzieht sich vermutlich in vielen Etappen. Aber eine dieser Etappen läßt sich allem Anschein nach doch ziemlich genau umreißen. D e r Transport von Formengut und handwerklichen Fertigkeiten, die solches Formengut ermöglichen, geschah bis ins 13. Jahrhundert in aller Regel synchron und in Personalunion der beteiligten Produzenten. Für die Geschichte der gotischen Architektur könnte der Beweis angetreten werden, d a ß bis etwa 1250 mit der Vermittlung der gotischen Formen von einer Baustelle zur anderen immer auch die entsprechenden Techniken mitvermittelt worden sind. D a s scheint sich dann zu ändern. Im Falle des Kölner Doms, der von der Formensprache her höchst modern ist, trifft man nämlich auf sehr konventionelle und althergebrachte Techniken und Versatzprinzipien. 7 6 Es scheint, als habe Meister Gerhard hier lediglich die Formen, aber keine genauen Anweisungen und Kenntnisse bezüglich ihrer Umsetzbarkeit - also entsprechend hochqualifiziertes technisches Können - aus Frankreich herantransportiert. Im Gegensatz zu früheren Formtransplantationen - wie etwa der des Heiligen Grabes von Jerusalem, in dessen Nachahmungen man das Urbild z. T. kaum wiedererkennt 7 7 - beruht der Kölner D o m 73
KIMPEL 1 9 8 1 w i e A n m .
74
WARNKE
1976
1.
wie A n m . 71,
S. 1 4 7 ff. V g l .
auch
die
Re-
zension von ROBERT SUCKALE und mir in: Kritische Berichte 5, 1 9 7 7 , ( 4 / 5 ) S . 6 2 ff. 73 Vgl. dazu den S a m m e l b a n d „ A u t o n o m i e d e r K u n s t - zur G e n e s e und K r i t i k einer bürgerlichen K a t e g o r i e " mit Beiträgen von
MICHAEL
MÜLLER,
HORST
BREDEKAMP,
FRANZ-JOACHIM VERSPOHL, JÜRGEN FREDEL u n d
BERTHOLD URSULA
HINZ,
APITZSCH,
F r a n k f u r t / M . 1972. 76
KIMPEL 1 9 7 9 / 8 0 w i e A n m . 1. D i e s
h a t a u c h ARNOLD
WOLFF
(vgl. A n m . 5) an vielen Stellen seiner M o n o g r a f i e konstatiert. 77 Vgl. dazu GÜNTER BANDMANN, Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger, Berlin (West) 1951, d e r sich auf S. 48 ff mit d e r mittelalterlichen B a u k o p i e b e f a ß t und auf S. 4 9 sagt: „Auf totale f o r m a l e K o p i e n stoßen wir erst in historisierenden Epochen. E r s t bei Bewußtsein der zeitlichen D i s t a n z verselb-
272
DIETER
auf exakten Werkzeichnungen, deren Existenz Arnold Wolff überzeugend nachgewiesen hat. 7 8 Somit bestünde die künstlerische Autonomie dieses Baus darin, daß die Formgebung bis in die Details hinein von einem Design vorgegeben worden ist, welchem sich die lokal verfügbaren Fertigungsbedingungen und handwerklichen Qualifikationen erst in einem längeren Lernprozeß adäquat erweisen mußten. Darin äußert sich eine Entzweiung zwischen Entwurf und Ausführung, die wir bis heute weiterverfolgen können und die dazu berechtigt, den Kölner Domchor als das vielleicht früheste Produkt derart „autonomen" künstlerischen Schaffens anzusprechen. 79 Im Gefolge der hier analysierten Prozesse erscheint diese Form der künstlerischen Produktion denn auch plausibel und historisch konsequent. Derartige Autonomie realisiert sich im 13. Jahrhundert über den neuen Architektentypus, der - aus den engen Banden handwerklichen Tuns entlassen - von nun an in zunehmendem Maße Reißbrettentwürfe liefern wird. U n d genau dies kann man der Architektur in demselben zunehmenden Maße auch ansehen. Es wird an anderer Stelle darzulegen sein, daß die Kathedrale von Amiens auch diesbezüglich eine entscheidende Rolle gespielt haben muß. Im 13. Jahrhundert hat der moderne Architekt seine Autonomie und Emanzipation über ein enorm gesteigertes Planungsvermögen und über die Wissenschaft der Geometrie realisiert. In der italienischen Renaissance sollten es dann neue Qualifikationen - die Fähigkeit zur „idea" und zum „disegno" als großem Wurf - sein, welche diesen Autonomisierungsprozeß weiter getrieben haben. Warum gerade diese Kategorien ideologisch so zentral bedeutend geworden sind, hat Michael Müller an der Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte der italienischen Kunstzentren deutlich zu machen versucht. 80 Trotz der Skizzenhaftigkeit der zuletzt referierten Gedankengänge ist vielleicht klar geworden, daß sich von empirischen Baubefunden her - vermittelt über andere Quellenbereiche - doch ein W e g finden läßt, diese im Rahmen übergeordneter historischer Prozesse zu deuten bzw. sie auch für diese Prozesse als Quellen
KIMPEL
zu aktivieren. O b die konkrete historische Dialektik der Basis-Überbau-Beziehungen dabei in angemessener Weise und annähernd richtig zum Ausdruck gekommen ist, werden zukünftige Forschungen erweisen. ständigt sich das Bauwerk der Vergangenheit auch ästhetisch. Besonders deutlich wird dieses Phänomen bei Bauwerken, die nachweislich das Heilige G r a b in Jerusalem nachahmten. W ä h r e n d die Bauten des 8. bis 13. Jahrhunderts vom Vorbild und auch untereinander stark abweichen und ganz der Formensprache ihrer Zeit hingegeben sind, beginnt man im 16. Jahrhundert, die heiligen G r ä b e r in fabelhaften und orientalisch anmutenden Formen zu errichten, die das Vorbild als gesehenes Ganzes bezeichnen möchten." 78
WOLFF
79
KIMPEL 1 9 8 1 w i e A n m . 1, S. 2 9 0 f .
80
V g l . MICHAEL MÜLLER, K ü n s t l e r i s c h e u n d m a t e r i e l l e
1968
wie
A n m . 5,
S. 1 2 8
und
2 1 3 f.
Produk-
tion. Zur Autonomie der Kunst in der italienischen Renaissance, in: „Autonomie der Kunst . . . " (Anm. 75), S. 9 - 8 7 . Auf S. 13 weist MÜLLER - wohl etwas undifferenziert - auf die Vorstufen im 13. Jahrhundert hin, indem er ähnlich wie WARNKE (Anm. 71) die Rolle der künstlerischen Produktion für den feudalen Hof in den Vordergrund rückt. D o r t sagt er auch: „Wir stoßen im 13. und 14. Jahrhundert auf Erscheinungen in der Sphäre künstlerischer Produktion, die die Entwicklung im 15. und 16. Jahrhundert andeuten. Eine umfassende Geschichte der Anfänge autonomer Kunstproduktion müßte deshalb früher ansetzen, wenngleich eine frühere Nobilitierung des Künstlers noch nicht Ausdruck der Autonomie seiner Produktion zu sein braucht, wie wir sie in der Renaissance vorfinden." Dies hat WARNKE inzwischen versucht. Ich meine, d a ß die Herausbildung künstlerischer Autonomie in Italien und Frankreich im 13. Jahrhundert auf unterschiedlichen Bedingungen beruht, was anläßlich des Marburger Kolloquiums des Ulmer Vereins auch diskutiert worden ist im Zusammenhang
mit
dem
Beitrag
von
CORNELIUS
CLAUSSEN
(vgl.
den in Anm. 1 genannten Sammelband). Mir scheint, d a ß sowohl für Italien als auch f ü r Frankreich die jeweils spezifische Entwicklung der städtischen Kommunen und ihrer weitgehenden Autonomie mitzuberücksichtigen ist und d a ß die künstlerische Produktion für die H ö f e eine eher untergeordnete Rolle bei der Herausbildung künstlerischer Autonomie in dieser Zeit gespielt hat.
Vgl.
dazu
auch
HENRY
KRAUSS
1979
(wie
Anm. 69),
der
in acht Fallstudien nachgewiesen hat, wie unumgänglich die Kooperationsbereitschaft der Kommunen für das Gedeihen der großen Kathedralbauten gewesen ist. Auch wenn man wie W a r n k e in diesem Zusammenhang die Bedeutung der entstehenden Bauämter hervorheben will, m u ß man zugeben, daß die Schaffung der H o f b a u ä m t e r nicht früher als die der Stadtbauämter datiert werden
kann
(vgl. WARNKE 1 9 7 6 w i e A n m . 7 1 , S. 1 2 3 u n d
Anm.
184) und d a ß die Kathedralbauämter diesen beiden wohl noch vorausgehen, selbst wenn die Auskünfte der Schriftquellen hier nicht ganz eindeutig sind. Die großen „königlichen" Architekten der Sainte Chapelle und der Schloßkapelle von St. Germain-enLaye sind jedenfalls zunächst Kathedralbaumeister gewesen.
Die Kirchen in Lüneburg - Architektur als Abbild V o n HANS-JOACHIM KUNST
Es
gilt
als
mittelalterliche druck
der
feststehende
Lehrmeinung,
Hallenkirche
aufstrebenden,
von
den
die
Entstehung v e r d a n k e n , w ä h r e n d die alle Hallenkir-
Aus-
chen ü b e r r a g e n d e B a s i l i k a v o n bürgerlichen A u f t r a g -
daß
architektonischer
Feudalzwängen
gebern inaugiert w u r d e .
sich b e f r e i e n d e n bürgerlichen K a u f m a n n s - und H a n d werkergesellschaft ist, dagegen sich in der B a s i l i k a die „Baugesinnung"
W i e bekannt, setzte sich die mittelalterliche Lüneburg
aus v i e r
Quartieren
zusammen
Stadt
( A b b 1).
der A r i s t o k r a t i e w i d e r s p i e g e l t . 1 D o c h
ist diese immer w i e d e r v e r k ü n d e t e T h e s e höchst anfechtbar. D i e bürgerlichen Kirchen der H a n s e s t ä d t e L ü b e c k , W i s m a r , Rostock, Stralsund und R i g a w u r d e n 2. B .
als Basiliken
konzipiert,
dagegen
zeigen
Bischofskirchen in P a d e r b o r n , M i n d e n und sowie
die Stiftskirchen in B a r d o w i c k
einen Hallenquerschnitt. 2 A m
und
Stendal
Beispiel der
Kirchen
einer der bedeutendsten mittelalterlichen Gewerbestädte
überhaupt
-
die
Verden
nämlich
deutschen
Lüneburgs
-
möchte ich in gebotener K ü r z e aufzeigen, d a ß gerade hier die Hallenkirchen f e u d a l e n A u f t r a g g e b e r n ihre 1
Lüneburg. Nach Merian
mm^mm
18
Architektur
1
NIKOLAUS
ZASKE,
Gotische
Backsteinkirchen
Norddeutsch-
lands zwischen Elbe und Oder, Leipzig 1968. ZASKE unterscheidet zwischen der Einheitsraum stiftenden „bürgerlichen" Halle und der Raumtrennung hervorhebenden „aristokratischen" Basilika. Die Tatsache, daß in den meisten Hallenkirchen das raumtrennende Moment vorherrscht, ist übersehen worden. 2
HANS-JOACHIM
KUNST,
Zur
Ideologie
der
deutschen
Hallen-
kirche als Einheitsraum, in: architectura, Zeitschrift f ü r Geschichte der Architektur, München 1971, S. 38 ff. Siehe auch: FRIEDHELM WILHELM FISCHER, Unser Bild von der deutschen spätgotischen Architektur des XV. Jahrhunderts, Heidelberg 1964, S. 11: „Man vermißt jedoch (in der Martinskirche in Landshut) ein angeblich charakteristisches Merkmal der deutschen Spätgotik, den richtungslosen, nach allen Seiten hin flutenden Raum, und hat vielmehr den Eindruck präziser Längsrichtung, hervorgerufen durch enge Pfeilerstellung. Hier wurde die Idee der ,via sacra' wiederbelebt".
274
HANS-JOACHIM KUNST
Am Übergang der wichtigen Handelsstraße Lübeck Magdeburg über die Ilmenau - im Mittelalter ein schiffbarer Fluß - entwickelte sich der Brückenort Modestorpe. E r erhielt eine kirchliche Auszeichnung durch die Gründung der Taufkirche St. Johannis, die als Archidiakonatssitz des Verdener Bischofs fungierte. 3 Von der westlich der Johanniskirche sich maAtartig verbreiternden Straße - dem Sand - führten von seiner Westseite zwei heute noch die Stadt gliedernde Verkehrswege zu den beiden wichtigsten Lüneburger Institutionen, der Saline und der Burg,
die ein aus der norddeutschen Tiefebene herausragendes Zechsteinmassiv krönte. Während unmittelbar an der Saline die Kirche der Salinepächter, der sogenannten Sülfmeister gegründet wurde, etablierten sich zu Füßen der landesherrlichen Burg die Pfarrkirche St. Cyriakus und das Benediktinerkloster mit der Michaeliskirche, die zugleich die Grablege der Landesherren war/ 1 Beide Kirchen existieren nicht mehr. Das Benediktinerkloster wurde nach der Vertreibung der Landesherren aus Lüneburg in die Altstadt verlegt und somit unter die Kontrolle der Bürgerschaft gebracht, die Cyriakuskirche mußte es sich gefallen lassen, durch den neuen Mauerbau aus der Stadt herausgedrängt zu werden. 5 Heute sind ebenfalls nicht mehr vorhanden die Franziskanerkirche St. Marien in der N ä h e des Rathauses 6 und die Kirche St. Andreas und Laurentius des von Heiligenthal, einem Dorf in der Nähe Lüneburgs, in die Stadt verlegten Prämonstratenserklosters (Abb. 2 und 3). Dieses Kloster befand sich bis zu seiner Zerstörung Anfang des 19. Jahrhunderts in der Straße „Am Berge", welche den Sand mit dem Hafenviertel, dem sogenannten Wasserviertel verband. 7 D i e Kirche dieses Viertels wurde - wie zu erwarten unter das Patronat des Heiligen Nikolaus gestellt und
2 Lüneburg, Klosterkirche Heiligenthal, Aufriß. Nach Mithoff 1877 wie Anm. 4 3 D i e K u n s t d e n k m ä l e r d e r Provinz H a n n o v e r III, B d . 2 und 3, Stadt Lüneburg, 1906, S. 61 ff. (künftig als Inventar zitiert). FRANZ KRÜGER, D i e St. Johanniskirche in Lüneburg, W i e n h a u -
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1928,
S. 3 ff. JÜRGEN
MICHLER,
Gotische
Backsteinhallen-
kirchen um Lüneburgs St. Johannis, Diss. Göttingen 1967, S. 2 3 ff.
Í!
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H . WILHELM H . MIIHOFF,
im Hannoverschen, wie A n m . 3, S. 20. 5
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3 Lüneburg, Klosterkirche Heiligenthal, Grundriß. Nach Mithoff 1877 wie Anm. 4
Kunstdenkmale
B d . 4, H a n n o v e r
1877,
und
Alterthümer
S. 148 ff. Inventar
MITHOFF 1 8 7 7 w i e A n m . 4 , S. 1 4 8 .
0
Inventar w i e A n m . 3, S. 159. 7 Inventar w i e A n m . 3, S. 170 ff. D e r G r u n d r i ß d e r Klosterkirche v o n Heiligenthal zeigt ein dreischiffiges Langhaus, das als eine H a l l e mit schmalen Seitenschiffen und w o h l kantonierten Rundstützen konzipiert w a r . D e r Chor bildete einen Fünfzehntelschluß mit Halbjoch. MICHLER 1967 wie A n m . 3, S. 57, geht von der A n n a h m e aus, d a ß die Pfeiler einfache Rundstützen waren, doch darf man dem bei MITHOFF w i e d e r g e g e b e n e n G r u n d riß mißtrauen, denn dort sind auch in den G r u n d r i ß d e r Michaeliskirche Rundstützen eingetragen. D i e Klosterkirche Heiligenthal hatte eine a u f f a l l e n d e Ähnlichkeit mit d e r Zisterzienserkirche in Scharnebeck, v o n der nur klägliche Reste übriggeblieben sind. Allerdings w a r diese Kirche mit einem Q u e r h a u s ausgestattet, und zwischen V i e r u n g u n d Chorschluß (Fünfzehntel mit Halbjoch) schob sich ein queroblonges Chorjoch. D i e s e r G r u n d riß erscheint w i e eine A b b r e v i a t u r des V e r d e n e r D o m g r u n d r i s ses.
4
Lüneburg, Johanniskirche, Langhaus von Westen
276
HANS-JOACHIM KUNST
5 Verden, Domchor von der Vierung aus gesehen
entwickelte sich zu dem höchsten Kirchengebäude Lüneburgs. 8 An den heute noch bestehenden Kirchen kann die sozialpolitische Situation ihrer Gründungszeit deutlich abgelesen werden. Alle diese harmonisch nebeneinander erscheinenden Bauwerke konkurrierten miteinander. Sie standen nicht für Stadtfrieden und gesellschaftlichen Proporz, sondern für gesellschaftliche Konkurrenz und Selbstbehauptung. D i e Johanniskirche am Sand und in der Nähe der wichtigen Ilmenaubrücke ist - dies m u ß hier mit aller Entschiedenheit betont werden - als Kirche des Archidiakons der Diözese Verden kein „bürgerlicher", sondern ein bischöflicher Bau. 9 Wie das Inventar glaubhaft macht 10 , sollte die Johanniskirche, von den
Verdener Bischöfen favorisiert, am Anfang des 15. Jahrhunderts zur Domkirche avancieren. Erst nach schwierigen Verhandlungen erreichte der Rat der Stadt, daß dies verhindert und ihm darüberhinaus das Patronatsrecht über die Kirche verliehen wurde. 1 1 Die historischen Fakten sind im Inventar vorzüglich dokumentiert. D i e institutionelle Abhängigkeit der Johanniskirche von der zuständigen Verdener
8
Inventar wie Anm. 3, S. 131 Ii.
9
WOLF STUBBE, K i r c h e n in L ü n e b u r g , K ö n i g s t e i n 1 9 5 3 , S. 2 .
19 11
6
Inventar wie Anm. 3, S. 62. Inventar wie Anm. 3, S. 63.
Lüneburg, Michaeliskirche, Inneres nach Osten
278
HANS-JOACHIM KUNST
7 Lüneburg, Michaeliskirche, Langhaus von Südwesten
Kathedralkirche visualisiert sich in der Architekturform der Kirche, vornehmlich ihres Langhauses (Abb. 4 und 5). Jürgen Michler hat überzeugend dargelegt, d a ß der Kern der siebenjochigen A n l a g e vor 1290 begonnen und bereits 1319 vollendet w a r . 1 2 W ä h rend der heutige Binnenchor, ursprünglich als Saalchor konzipiert, wohl auf lübische Vorbilder zu beziehen ist 1 3 , muß das Langhaus als ein Verdener Zitat begriffen werden. Im Langhaus, bestimmt von kuppligen Gewölben, rippengleichen Gurten und breiten Scheidbögen auf voluminösen, kantonierten Rundstützen, ist die Verdener Kathedrale abgebil-
det - sie ist gleichsam in Lüneburg anwesend gemacht. Freilich sind gegenüber dem Verdener Dom Modifikationen festzustellen, die sowohl eine Vereinfachung des Verdener Systems darstellen als auch zugleich ein von der Lübecker Marienkirche bestimmtes Anspruchsniveau behaupten. Anders gesagt, während die Großform den Dom in Verden wiederholt, dokumentiert die Kleinform den von der Lübecker Marienkirche und darüberhinaus vom Kölner Domchor geprägten Stil. 12
MICHLER 1 9 6 7
wie
A n m .
1:!
MICHLER
wie
Anm.
1967
3, S. 3,
57.
S. 1 0
ff.
Die Kirchen in Lüneburg
279
8 Harsefeld, Kirche, Langhaus nach Nordosten
Den Verdener Dom als die Kathedrale des zuständigen Bistums zitierte jedoch nicht nur die Johanniskirche, sondern auch der im J a h r e 1 3 7 6 begonnene Neubau der Michaeliskirche. 1 4 Zugleich aber konkurriert die Michaeliskirche mit der Taufkirche am Sande, die zu dieser Zeit durch je zwei Seitenschiffe erheblich erweitert w u r d e . W i e der Dom in Verden ist sie eine dreischiffigc Hallenkirche, deren durch rippengleiche Gurte gegliederte Gewölbe und pfeilerbreite Scheidbögen auf kantonierten Rundstützen ruhen (Abb. 6 und 7). D a das Chorpolygon als Fünfzehntelschluß mit Halbjoch gegeben ist, darf man annehmen, d a ß hier ein direkter Bezug zum Verdener Dom hergestellt worden ist, dessen Binnenchor e t w a hundert J a h r e früher die gleiche Form erhalten h a t t e . ' 0 Doch im Unterschied zu Verden und der Johanniskirche sind die Pfeiler etwas höher, wodurch trotz der größeren Mittelschiffsbreite ein „gespannteres Verhältnis" 1 0 von Sei-
tenschiffen zu Mittelschiff entsteht. In der perspektivischen Sicht schließen die Rundstützen so dicht aufeinander, d a ß das Mittelschiff als eine v i a sacra zum Chor verstanden werden kann. Dieser Richtungscharakter w i r d noch dadurch hervorgehoben, d a ß im Mittelschiff über den Scheidbögen sichelförmige Wandstreifen erscheinen, die w i e Reste einer verdeckten Mittelschiffswand wirken. D i e Raumgestalt der Michaeliskirche findet sich sowohl in der Stiftskirche zu Bardowick wieder, deren Bauzeit zwischen 1381 und 1485 angesetzt w i r d , 1 7 als auch in der Benediktinerkirche von Harsefeld bei 14
Inventar
wie
A n m . 3,
S. 2 3
ff.;
MICHLER
1967
HANS-JOACHIM KUNST, D i e E n t s t e h u n g d e s
wie
Anm.
3.
Hallenumgangs-
chores — D e r Domchor Zu V e r d e n an der A l l e r und seine Stellung in der gotischen Architektur, i n : M a r b u r g e r Jahrbuch für Kunstwissenschaft 18, 1969. ,0
STUBBE 1 9 5 3
wie Anm.
9.
URS BOECK, D e r D o m in B a r d o w i c k , München/Berlin ( W e s t ) 1974 ( = G r o ß e B a u d e n k m ä l e r , H e f t 2 8 0 ) , S. 6. 17
280
HANS-JOACHIM KUNST
rir «
Litsbertlktrcbe ; O n n d r l f l (ITtt).
9 Lüneburg, Lambertikirche, Grundriß. Nach Inventar wie Anm. 3
ü
•SSupfätof« ifeai .^¡Mr Ji i f c J v f y p
Stade (Abb. 8). Jürgen Michler rechnet die Kirche in Harsefeld der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu. 18 Die Lambertikirche (ca. 1380-1410), die dem Salinenviertel zugehörte und unter dem Patronat der Salinenpächter stand, besaß bezeichnenderweise keine Kirchen-, sondern nur Kapellenrechte. 19 Sie war sowohl der Michaeliskirche als auch der Johanniskirchc verpflichtet. Mit diesen beiden Kirchen hatte sie die Grundrißdisposition (vier Langhaus-,
zwei Chorjoche, schmale Seitenschiffe mit fünfteiligen Gewölben), mit der Johanniskirche die Chordisposition (Saalchor mit später angefügten Seitenschiffen) gemeinsam (Abb. 9). Sie unterschied sich von beiden durch die Sterngewölbe des Mittelschiffes und die Achteckpfeiler, wobei letztere den Kir-
1 8
MICHLER
1967
wie
A n m .
3,
S. 2 1 0
ff.
Inventar w i e Anm. 3, S. 125. Erst in der Reformationszeit hat die Lambertikirche Pfarrcchte erhalten. 19
chenbau typologisch in enge Verbindung mit einer Bettelordenskirche bringen. 20 In diesem Zusammenhang muß auf den Achteckpfeiler im Emporengeschoß des inneren nördlichen Nebenchores der Johanniskirche, im sogenannten Junkernlektor, verwiesen werden, dem Sitz der Sülfmeister und Anteilhaber der Sülze (Abb. 10). Jürgen Michler 21 hat glaubhaft gemacht, daß der sogenannte Junkernlektor erst nach dem Prälatenkrieg, einer Auseinandersetzung zwischen dem Rat der Stadt und den Anteilhabern der
Lüneburger Sülze in den Jahren zwischen 1453 und 1462, installiert wurde. Somit dürfte der Achteckpfeiler in der von kantonierten Rundstützen geprägten
20
D i e H e r k u n f t des Achteckpfeilers ist noch immer ungeklärt. E r scheint das Abzeichen einer Bettelordenskirche zu sein. Auf diese Frage wird WOLFGANG SCHENKLUHN in seiner Marburger Dissertation zur Kirchenarchitektur der Bettelorden im 13. Jahrhundert eingehen. Vielleicht w a r f ü r Lüneburg die Katharinenkirche im benachbarten Lübeck maßgebend. 21
MICHLER 1 9 6 7 w i e A n m . 3 .
282
HANS-JOACHIM KUNST
11 Lüneburg, Nikolaikirche, Querschnitt. Nach Inventar wie Anm. 3 Johanniskirche als ein Zitat der Lambcrtikirche verstanden worden sein. D i e Nikolaikirche, die Kirche des Wasserviertels, im wesentlichen von den wohlhabenden Schiffer- und Böttchergilden gefördert, ist als B a s i l i k a konzipiert. 2 2 Ihr Mittelschiff erreicht eine Höhe, welche die der anderen Lüneburger Kirchen bei weitem übertrifft. Fast ist man geneigt, die Kirche als einen Bau aufzufassen, auf dessen „Halle" 2 3 - wohl der H a l l e der Lambertikirche nachgebildet - ein basilikaler Obergaden gesetzt ist, der w i e d e r u m die Höhe einer H a l l e erreicht und hinsichtlich seiner W a n d struktur der Lübecker Marienkirche gleicht (Abb. 11, 12 und 13). D i e Kirche ist die jüngste der Lüneburger Kirchen. D i e wenigen überlieferten Daten lassen den Schluß zu, d a ß der Chor bereits 1409 fertiggestellt w a r und der Bau des Langhauses spätestens 1420 vollendet war 2 4 .
D i e Kirche weist alle Errungenschaften der Erbauungszeit a u f : Der Binnenchor endet mit einem Dreisechstelschluß (Abb. 14), die Joche werden von Sterngewölben preußischer Art überspannt 2 5 , die breiten Scheidbögen ruhen auf Achteckpfeilern mit eingeschwungenen Seiten. Der B a u kann trotz aller Ähnlich-
Inventar wie Anm. 3, S. 131 ff. Die achtseitigen Pfeiler sind so gestellt, daß nicht die Flächen, sondern die Kanten des Pfeilers in den Hauptachsen stehen. Somit ist eine Ähnlichkeit mit dem Halienlanghaus der Petrikirche in Lübeck gegeben. 22
23
24
I n v e n t a r w i e A n m . 3 , S . 1 3 1 ff.; MICHLER 1 9 6 7 w i e A r . m . 3 ,
S. 2 3 2 . 25
KARL-HEINZ CLASEN, D e u t s c h e G e w ö l b e d e r S p ä t g o t i k ,
Ber-
lin 1958, S. 31 ff. und S. 74.
12
Lüneburg, Nikolaikirche, Mittelschiff
284
HANS-JOACHIM KUNST
13 Lüneburg, Nikolaikirche, Mittelschiff sgewölbe keit mit der Marienkirche in Lübeck hinsichtlich der Kleinformen - das heißt stilistisch - mit der Nikolaikirche in Wismar verglichen werden. E i n e Besonderheit der Kirche besteht darin, daß den Seitenschiffsjochen zweigeschossige Anbauten zugeordnet sind, die unten Kapellen, oben Emporen für die wohlhabenden Handwerker- und Schifferfamilien beherbergen. D i e Nikolaikirche ist als ein Parvenue unter den Lüneburger Kirchen zu verstehen. D e m hohen architektonischen A u f w a n d scheint die gesellschaft-
liehe Stellung seiner Bauherren nicht entsprochen zu haben, denn die kathedralartige Kirche besaß zur Erbauungszeit, wie die Lambertikirche, nur Kapellenrechte. Wir konnten darlegen, daß die „bürgerlichen" Hallenkirchen in Lüneburg von aristokratischen Bauherren in A u f t r a g gegeben waren. Sie zitieren, bis auf die Lambertikirche, den Verdener D o m . D i e „ f e u d a l e " Basilika dagegen wurde nach dem Vorbild der Marienkirche in Lübeck von den „bürgerlichen"
Die Kirchen in Lüneburg
285
14 Lüneburg, Nikolaikirche, Grundriß. Nach Inventar wie Anm. 3 Fischer- und Böttchergilden konzipiert. Unsere Studie zeigt, d a ß konkrete Geschichtsforschung gegen
Vorurteile gesetzt werden muß, sollen die Denkmä1er ihre Geschichte zurückerhalten.
Zum Prinzip des „pars pro toto" in der Architektur des Mittelalters V o n
ERNÖ
Das Prinzip des pars pro toto erlaubt die Kennzeichnung einer unübersehbaren Menge durch ihre charakteristischen Glieder. Es ist eine wichtige Figur der klassischen Stilistik 1 , die bislang jedoch noch nicht auf die mittelalterliche Baukunst angewandt wurde. Können überhaupt Erscheinungen wie klassische Poetik bzw. Rhetorik und die Architektur des Mittelalters auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden? Diesem möglichen und wohl berechtigten Einwand mögen einige, fast banale und alltägliche Erfahrungen aus dem Gebiete der Architekturpraxis des Mittelalters entgegengesetzt werden. Dem Prinzip des pars pro toto ist jeder begegnet, der mit Fragen der historischen Kontinuität von Kunstwerken während des Mittelalters zu tun hatte. Es handelt sich vorwiegend um die Frage des historischen Bewußtseins im Mittelalter, das von dem der Neuzeit grundverschieden zu sein scheint. Schriftsteller des Mittelalters bezeichnen ihre eigene Gegenwart immer als eine moderne Zeit, die sowohl der vorangehenden Weltepoche der heidnischen Antike als auch den unmittelbar vorher lebenden Generationen entgegengesetzt ist und als vollkommener angesehen wird. Dieses Geschichtsbild ist eher diskontinuierlich, ihm sind Gedanken an eine Entwicklung fremd. 2 Man begegnet auch in der Baukunst und im Bauschmuck oft der Anwendung dieses Prinzips: der Benutzung von Resten alter Bauteile und der Wiederverwendung alter Ornamente in verändertem Kontext. Von Historismus in modernem Sinne kann dabei nur bedingt die Rede sein. Was man heute als Historismus ansieht, ist doch meist nichts anderes als die Betonung des Traditionsgebundenen im Modernen durch Übernahme und Aufbewahrung von Teilen des Alten. Es mag sich dabei um Schmuckteile oder bauliche Reste handeln, der grundlegende Spoliencharakter dieser Übernahme ist ziemlich klar. 3 Dem Gegensatz zwischen Traditionsgebundenem und Traditionsfeindlichem entspricht die Erscheinung des pars pro toto, die sich sowohl in der Aufnahme
MAROSI
bestehender Teile als auch in ihrer formalen 'Nachfolge bei neuen Anlagen ausdrückt. Eher konstruktionstechnisch bedingt erscheint die Partialität des mittelalterlichen Bauentwurfs, die uns aus der Mehrzahl der überlieferten Beispiele der mittelalterlichen Planung entgegentritt. Sie ist selbst Villard de Honnecourt nicht fremd, dessen Hüttenbuch auch schöne Beispiele - besonders was Reims angeht - einer eher organischen Gesamtplanung enthält. Seine Interessen für formelhafte Lösungen werden aber etwa durch das Reimser Chorfenster - forme genannt - und die beiden Rosenfenster von Chartres und Lausanne ebenso bezeugt, wie durch das Doppelblatt, das er der zeichnerischen Nachbildung und der Analyse des Westturmes von Laon widmete. Das Vorhandensein eines gleichsam ausgebesserten Tabernakels auf Blatt 9V, dessen Aufriß dem Reimser Schema folgt und gleichzeitig etwa der Auslegung des Beispiels von Laon dient, scheint nahezulegen, daß er die als sage et cortois bezeichnete Eleganz dieser Lösung ebenso wie die moderne Analyse der Türme von Laon in der Wiederholung derselben Struktur in verschiedenen Maßstäben erblickte.
1
Vgl.
ERNST ROBERT CURTIUS,
Europäische
Literatur
und
la-
teinisches Mittelalter, 2. A u f l . , Bern 1 9 5 4 , S. 5 4 . 2 Das Verhältnis der G e g e n w a r t zur Vergangenheit drückt sich in Gegensätzen aus, w o f ü r Bernhard von Chartres die wohl eingängigste Formulierung liefern konnte, indem er den weiten Blick des modernen Menschen dadurch begründet, daß er auf den Schultern seiner riesigen Ahnen steht. - Siehe CURTIUS 1 9 5 4 w i e A n m . 1 , S . 2 5 6 ff., v g l . d a s . S . 1 2 9 , u n d E . F . V A N DER G R I N -
TEN, Elements of A r t Historiography in M e d i e v a l Texts, The Hague 1 9 6 9 , S. 4 6 ff. 3 GÜNTER BANDMANN, Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger, Berlin 1 9 5 1 , S. 1 4 5 . - D i e bewegenden K r ä f t e dieses Festhaltens am Alten können v o n Fall zu Fall verschieden gewesen sein; das Traditionsbedürfnis und die Legitimitätsauffassung des mittelalterlichen Staates konnten eine Nachfolge und A u f b e w a h r u n g der Antike ebenso anregen, wie im Falle eines A b t Suger die Traditionalität des Kirchenbaues trotz der völligen Umgestaltung einer sorgfältigen Betonung bedurfte. - ERWIN PANOFSKY, A b b o t Suger on the A b b e y Church of St-Denis and Its A r t Treasures, Princeton 1 9 4 6 , S. 27.
Zum Prinzip des „pars pro toto" Ein ähnliches Verfahren wird von den Fialenbüchlein des 15. Jh., etwa eines Matthäus Roritzer bezeugt, die die gesamte Problematik der zeichnerischen Planung gotischer Türme anhand der Fialenkonstruktion exemplifizieren/ 1 Ein Türmchen mit seinen Pfeilern, Fialen und Wimpergen, in der Zuordnung von Grund- und Aufriß, Raum und Ansicht steht dabei für große Strukturen mit einander mehrfach untergeordneten Details ähnlichen Aufbaus. D i e Modellhaftigkeit der Konstruktionsschemata w i r d dadurch noch gesteigert, daß die Detaillösungen bei dem Fehlen eines absoluten Maßstabsystems sowohl für richtige Bauentwürfe als auch für Goldschmiedewerke bzw. Tischlerarbeiten verwendet wurden. Ähnlich verwischen sich die Grenzen bei spätgotischen Visierungen und Ornamentszeichnungen, sogar auch bei gedruckten Vorlagen, die die gemeinsamen theoretischen Grundlagen dieser verschiedenen Kunstzweige bezeugen. 5 Das wichtigste scheint dabei der anschauliche Charakter all dieser Formeln und Schemata gewesen zu sein, der auch den unter der Rubrik maçonnerie gesammelten geometrischen Aufgaben in Villards Hüttenbuch zugrundelag. Soweit der Sinn der geometrischen Aufgaben, w i e der von der Höhenmessung eines Turmes mit Hilfe von kongruenten Dreiecken oder der Birne und des darunterliegenden Eies uns zugänglich ist, sind die Exempel sowohl Villards als auch seiner Nachfolger von einer kindlich naiven Anschaulichkeit, die sozusagen auch einen Analphabeten fähig macht, diesen geometrischen Beispielen zu folgen und sie praktisch anzuwenden. Eine Folge davon ist eine Art soziale Gruppierung der sich mit der Baukunst Befassenden: in die eine Gruppe gehören jene, die in den theoretischen Grundlagen der Kunst nicht gebildet sind und sie nur praktisch, anhand der erwähnten Formeln ausüben können. D i e andere, eher exklusive Gruppe bilden solche, die über die Detaillösungen hinweg sich im Organismus ganzer komplizierter Strukturen zu orientieren fähig sind. Letztere sind wohl die Baumeister, die nach dem Sprachgebrauch der deutschen Hüttenordnungen aus dem Grunde zu nehmen gelernt haben und diese ihre Kenntnisse sorgfältig vor Unbefugten hüten sollten. Das sind die Architekten, die nach Isidor von Sevilla cementarii sunt qui disponunt in fundamentis,G Dementsprechend scheint das Prinzip des pars pro toto die Betrachtungsweise der ausführenden Kräfte
287
zu bezeichnen, die einem disponierenden Bauherrn oder Baumeister unterstellt waren. Das Prinzip des pars pro toto gibt es als Erscheinung der Baustruktur und als kompositioneile Qualität. Es w i r d ziemlich allgemein anerkannt, daß die Bauten des Mittelalters eher nur ausnahmsweise eine Betrachtung und Würdigung ihrer räumlichen Qualität von ihren Zeitgenossen erfuhren, und Wertmaßstäbe, die ihre Räumlichkeit betreffen, sind erst von den Romantikern angewandt worden. Sie erst schufen die Grundlagen dafür. 7
4 Zu den angeführten Beispielen bei V i l l a r d siehe HANS R. HAHNLOSER, V i l l a r d de Honnecourt. Kritische Gesamtausgabe des Bauhüttenbuches, 2. A u f l . , G r a z 1 9 7 2 , T a f . 1 8 ff. und 6 0 ff., vgl. das. S. 4 9 ff., 5 5 , 5 6 f. - Z u r D e u t u n g der Laon-Interpretation des V i l l a r d siehe auch PAUL FRANKL, T h e Gothic. Literary Sources and Interprétations through eight Centuries, Princeton 1 9 6 0 , S. 3 8 . - A l s ein wichtiges Charakteristikum aller mittelalterlichen Musterbücher w i r d angenommen, daß sie durchweg aus ihren Kompositionszusammenhängen herausgerissene D e t a i l s enthalten: R. W . SCHELLER, A S u r v e y of M e d i e v a l M o d e l Books, Haarlem 1 9 6 3 , S. 1 4 . - Zu den Fialenbüchlein siehe MATTHÄUS RORICZER, D a s Büchlein v o n der Fialen Gerechtigkeit und D i e G e o m e t r i a Deutsch. Faksimileausgabe hrsg. v o n F. GELDNER,
Wiesbaden
1965.
Vgl.
CARL
ALEXANDER
VON
HEIDELOFF,
Die
Bauhütte des Mittelalters, Nürnberg 1 8 4 4 , S. 1 0 7 . - Siehe auch L o r e n z Lachers Unterweisung . . . , in : AUGUST REICHENSPERGER, Vermischte Schriften über christliche Kunst, Leipzig 1 8 5 6 , A b schnitt 2 0 , S. 1 3 8 f. sowie Abschnitte 3 5 - 4 4 , S. 1 4 2 ff. - D i e Zusammenhänge zwischen Fialen-, W i m p e r g - und T a b e r n a k e l konstruktionen. Es w e r d e n im Abschnitt 3 7 m e h r e r e Proportionssysteme auf eine ähnliche W e i s e angegeben w i e am A n f a n g des Traktats auch f ü r Chöre. 5 V g l . F. BUCHER, Design in Gothic Architecture, i n : J o u r n a l of the Society of Architectural Historians, V o l . X X V I I , March
1968
(1),
S. 5 5 f. ; vgl.
auch
WERNER
ÜBERWASSER,
Spätgotische
B a u - G e o m e t r i e . Untersuchungen an den Basler Goldschmiederissen, in: Jahresberichte der Öffentlichen Kunstsammlung Basel 1928-1930;
HANS
HUTH, K ü n s t l e r
und
Werkstatt
der
Spätgotik,
A n m . 4 , T a f . 4 0 f. u n d
Kommen-
Augsburg 1 9 2 3 , S. 3 5 f. 6
Vgl.
HAHNLOSER
1972
wie
tar das. S. 1 1 9 ff., 1 2 3 f. sowie 2 5 4 ff. - Für das Ü b e r w i e g e n der D e t a i l p l ä n e siehe PAUL BOOZ, D e r Baumeister der G o t i k , Berlin 1 9 5 6 , S. 7 5 . - „us dem G r u n d e zu nemen" A r t . n. in der Regensburger Hüttenordnung v o n 1 4 5 9 , zit. nach HEIDELOFF 1 8 8 4 wie
A n m . 4,
S. 3 4 .
-
ISIDOR
VON
SEVILLA,
„Architecti
autem
cementarii sunt qui disponunt in fundamentis. U n d e et A p o s t o lus de semetipso: Quasi sapiens, inquit, architectus f u n d a m e n t u m posui" ( D e fabricis parietum, Etymologiarum h. X I X . C. V I I I . P. L. L X X X I I [ 1 8 7 8 ] , Sp. 6 7 1 f.) - Es entspricht der V e r w e n d u n g des W o r t e s Architekt, das besonders mit dem v o m ersten K o rintherbrief des Paulus entlehnten B e i w o r t sapiens fast ausschließlich f ü r S t i f t e r benützt w u r d e , daß Dispositionsfähigkeit f ü r das G a n z e der A n l a g e mit ihm v e r b u n d e n w i r d . Siehe OTTO KLETZI, Titel und N a m e n v o n Baumeistern deutscher G o t i k , München 1935,
S . 1 6 ff. ; N I C O L A U S
PEVSNER, T h e
Term
„Architect" in
the
M i d d l e Ages, i n : Spéculum 1 7 , 1 9 4 2 , S. 5 4 9 ff.; PIERRE DU COLOMBIER, Les chantiers des cathédrales, Paris 1 9 7 3 , S. 6 3 ff. 7 Für den Beginn der Beurteilung der gotischen Architektur als Raum siehe FRANKL 1 9 6 0 w i e A n m . 4, S. 4 4 2 ff.
288
ERNÖ
D i e Typologie der mittelalterlichen Bauwerke hat insofern ihre Berechtigung, als ihre Betrachtungsweise mit der des Mittelalters in der Auffassung der Bauwerke als Strukturen weitgehend übereinstimmt. Alle mittelalterlichen Gebäude sind mehr oder weniger komplizierte, aus vielen Strukturelementen zusammengefügte Anlagen, in denen die einzelnen Teile nur allmählich zu einem räumlichen Kontinuum, zur Gesamtstruktur, verschmolzen wurden. Solch räumliche Funktionen, denen in der Baukunst der Neuzeit zumeist der Einheitsraum - die Idealform des modernen Funktionalismus - in seiner Mehrzweckhaftigkeit und Vielbildlichkeit entspricht, wurden bis in das Spätmittelalter selbst in uns einheitlich kontinuierlich anmutenden Räumen voneinander getrennt, und das Ganze wurde als eine Hierarchie von diskontinuierlichen Teilräumen aufgefaßt. 8 Damit erscheinen verschiedene Theorien über die mittelalterliche Baukunst, die ihre Raumgestaltung auf konstruktive Typen wie das kreuzgewölbte Joch, auf symbolisch gedeutete Struktureinheiten wie den Baldachin 9 oder auf sinngeladene Vorbilder wie den zentralen Memorialbau oder die römische Basilika zurückführen, insofern als berechtigt, als sie alle mit Teilstrukturen innerhalb des Gefüges des mittelalterlichen Baues rechnen. Auch kann ein Fortschritt von der reinen Addivität der Struktur zu einer Raumdivision prinzipiell kaum geleugnet werden, aber im absoluten Sinne kann man mit der völligen Aufhebung der additiven Kompositionsweise erst in nachmittelalterlicher Zeit rechnen. 10 Besonders deutlich wird das bei der Betrachtung der sozial und funktionell untergeordneten Bauproduktion, die von den zumeist auf die Spitzenleistungen - etwa der Kathedralbaukunst - gestützten Entwicklungstheorien entweder gar nicht berücksichtigt oder als marginale Erscheinungen beiseite geschoben zu werden pflegen. Selbst Paul Frankl hat auf diese Weise die ganze Profanbaukunst als ungotisch aus seinem Entwicklungsmodell der gotischen Architektur ausgeklammert, und dasselbe Schicksal könnte die gesamte regionale Produktion in Europa bei einer rigorosen Anwendung der von der Kunstwissenschaft gewöhnlich benutzten Normen erfahren. 11 In diesem Zusammenhang sind in das Mauerwerk integrierte Teilstrukturen wie etwa Portale, Fensterrahmungen, Zierformen oder Gewölbe von hoher Bedeutung, weil sie Bindeglieder zwischen Prinzipien der Steinmetzbaukunst und der Maurer darstellen. Durch diese Teilstrukturen, die Träger der stili-
MAROSI
stischen Einheit sind, erfährt das Prinzip des pars pro toto eine allgemeine Bedeutung für die Geschichte der mittelalterlichen Baukunst.
8 Einiges vom Prinzip der hochmittelalterlichen Gruppierung nach Funktionseinheiten blieb bis zum Ende des Mittelalters lebendig. Dieses Prinzip hat sich am klarsten in der Komposition der Kirchenfamilien des frühen Mittelalters ausgedrückt. Solches Nebeneinander von Räumen verschiedener Zweckbestimmung ist nicht nur in der Gruppierung etwa von Pfarrkirchen, Türmen und Karnern innerhalb umfriedeter Friedhöfe oder in der Klosterbaukunst erhalten geblieben, sondern hat auch in der Lösung der komplexesten Aufgaben, der Kirchenanlagen, seinen Ausdruck gefunden. - Vgl. EDGAR LEHMANN, Von der Kirchenfamilie zur Kathedrale, in: Festschrift Friedrich Gerke, BadenBaden 1962, S. 21 ff. Siehe auch CAROL HEITZ, Architecture et liturgie processionelle ä l'epoque preromane, in: Revue de l'Art 24, 1974, S. 34 ff. - Mit der fortschreitenden Entwicklung wurden Struktureinheiten von selbständiger Bestimmung, wie etwa das Westwerk, das Kirchenschiff, die Vierung, der Chor und die äußere Umgangskrypta in ein optisches Ganzes integriert und sogar zu einer einheitlichen Konstruktion verschmolzen, als Teileinheiten innerhalb des Gesamtbaues haben sie jedoch ihre relative Selbständigkeit nie verloren. Selbst höchst komplizierte und mit dem Gliederungssystem des Langhauses abgestimmte gotische Chöre mit Kapellenkranz haben ihren Zentralbaucharakter keineswegs völlig eingebüßt, wie sowohl die durch Chorschranken und Lettner abgesonderten Altarräume in mehrschiffigen Anlagen, als auch die sich an breitere Langhäuser anschließenden Langchöre ihre Abstammung von Kapellen kaum vergessen machen können. - Vgl. etwa WOLFGANG GÖTZ, Zentralbau und Zentralbautendenz in der gotischen Architektur, Berlin (West) 1968, S. 151 ff. - Wandlungen mögen in der Wahl der Form anders aufgefaßter struktureller Typen eingetreten sein; etwa in der Errichtung eines Kathedralchors oder einer Umgangshalle statt eines Dreiapsidenchors oder einer Staffelchoranlage - was sich ja häufiger nachweisen läßt. Ähnliches gilt z. B. auch für die Typen des Westbaues, wo Westchöre und Westwerke oft durch Fassadenbauten mit Eingangshalle oder mit Portalanlagen ersetzt wurden. 9 WILHELM PINDER, Einleitende Voruntersuchungen zu einer Rhythmik romanischer Innenräume in der Normandie, Straßburg 1904, und Ders., Zur Rhythmik romanischer Innenräume in der Normandie, Straßburg 1905. - Für SEDLMAYR siehe Anm. 43. Zu ihrer Kritik: FRANKL 1960 wie Anm. 4, S. 707 f. und 754 ff. 10 PAUL FRANKL, Gothic Architecture, Harmondsworth 1962, S. 11 ff. Vgl. Ders., Die Entwicklungsphasen der neueren Baukunst, Leipzig 1914, S. 25 ff., und FRANKL 1960 wie Anm. 4, S. 7 7 6 ff. 11 Es handelt sich ja meist um eine Baukunst, die weder die Ausführungs- noch die Entwurfstechnik der Steinir.etzenbaukunst des Mittelalters gekannt hat, in der das aus Quadern, aber auch aus Bruchstein oder aus Ziegeln ausgeführte Mauerwerk vorherrschend blieb, und deren Meister statt Steinmetzen oft Maurer zu sein pflegten. Zur Unterscheidung in den Steinmetzenordnungen zwischen Maurern und Steinmetzen siehe Booz 1956 wie Anm. 6,
S. 1 8 f . -
Vgl.
1
FRANKL 1 9 6 2
w i e A n m . 1 0 , S . 2 4 2 ff.
Felsöörs (Ungarn), Westfassade, vor 1240
290
E R N Ö MAROSI
Die Frage der Selbständigkeit und der Räumlichkeit der Wandgliederung: Die Turmfassade zu Felsoörs in Ungarn D e r Turm der ehemaligen Stiftskirche von Felsoörs ist ziemlich genau datiert: er wurde im zweiten Viertel des 13. Jh., wohl als erster Bauteil der heute noch gut erhaltenen Kirche, erbaut. 12 Sein einheitlicher unterer Block wird an allen drei Seiten durch ein Rahmenwerk von Lisenen, die in Rundbogenfriese übergehen, eingefaßt. Oberhalb der Rundbogenfriese bilden Zahnschnitt und profilierte Gesimse eine betonte Horizontalgliederung, wodurch beinahe quadratische Flächen entstehen. Nur eine Turmseite, die westliche mit dem Kircheneingang, erhielt eine reichere Gliederung. Unten wurde ein zweifach gestuftes Giebelportal in die Mittelachse gestellt, während oberhalb des ersten Gesimses eine dreifache Reihe von giebelbekrönten Trichterfenstern die Fassadengliederung bildet. In der Mittelachse befindet sich noch ein Fenster mit rundbogigem Abschluß. 13 D i e ganze Gliederung ist betont auf die Achse konzentriert: nicht nur die drei übereinander befindlichen Öffnungen und die Giebelspitzen betonen die Mittellinie, sondern auch je eine Zäsur im Rhythmus der Bogenfriese. Unten wird statt der Konsole ein Vertikalstreifen bis zum Portalgiebel herabgelassen, oben endet ein horizontal geführtes Stück zwischen zwei unvollständigen Bogen des Rundbogenfrieses vor dem Fensterscheitel. D i e einzelnen Glieder berühren sich auf diese Weise, ohne daß Überschneidungen entstehen. 14 E s handelt sich hier um eine klar durchdachte Fassadenkomposition, die durch die Farbigkeit noch zusätzlich betont wurde: in das regelmäßige Mauerwerk aus rotem Sandstein sind besonders als Rahmungsglieder gelblich-graue Werkstücke, z. T. mit roten abwechselnd, eingefügt. An der Fassade wiederholen sich wenige Elemente in geistreicher Kombination. Sie sind folgerichtig auf die leicht eingetiefte Quaderwand der Fassadenflächen verteilt. Eine der Grundformen zeigen die Rundbogenfenster der mittleren Reihe mit schmaler Öffnung und trichterförmiger Wandung. Diese Grundform wird an dem Einzelfenster darüber um eine Mauerstufe mit eingestelltem Säulenpaar erweitert. Die Lage der Basen und der nur nach Westen und gegen die Fensterachse frei stehenden Kapitelle dieser Säulen, die eine dreiviertelrunde Archivolte tragen, machen diese eingestellte Arkade zu einem Frontal-Motiv.
In gleicher Weise ist das Grundmotiv des Portals zu verstehen: breitere Streifen rundherum geben die beherrschende Wandfläche an, in die das doppelt gestufte Portalgewände mit je zwei Dreiviertelsäulen und Archivolten eingetieft ist. Die Kapitellzone, die sowohl die Rücksprünge als auch die Säulen dekoriert und sie miteinander verbindet, bildet zusammen mit dem Türsturz ein reich ornamentiertes Band quer über den Portalbau. Aber dieses Band verbindet nicht nur, es betont auch mit der Stellung der Kapitelle die Frontalität der gesamten Anlage. Als rückwärtige Folie sind auch im Mittelalter Türpfosten und Sturz anzunehmen, die das verhältnismäßig breite Türsturzrelief und das kleine Tympanon hinter der Gewändestruktur stützen. E s fällt auf, daß in diesem ziemlich konsequent gestalteten Gefüge schräge Wandungen und gestufte Gewände als gleichwertige Formen auftreten. Diese
12 Ein Altar zu Ehren des heiligen Erzengels Michael wurde von Bischof Bartholomäus von Veszprém in seinem Obergeschoß geweiht. Die daraus folgende Zeitspanne von 1226 bis 1244 kann aufgrund der Amtsjahre des Bischofs und einer anschließenden Bauperiode, in der der ursprünglich freistehende Turm in das Langhaus eingebunden wurde, auf die dreißiger Jahre des 13. Jh. eingegrenzt werden. Der mächtige quadratische Baukörper der ersten zwei Geschosse des Turmes trat in der ersten Bauperiode, als die einschiffige Kirche mit einem Chorquadrat und einer Apsis noch nicht von einem zweigeschossigen Anbau beiderseitig ummantelt war, an drei Seiten frei vor die Westwand der Kirche. Von dieser Westwand, die lediglich die östlichen Lisenen der Nord- und Südwand des Turmkörpers verdeckte, blieben seitlich des Turmes nur schmale Streifen sichtbar, so daß der quadratische Turmkörper in seiner vollen Blockhaftigkeit die Baumasse der Kirche überragte. Über dem quadratischen Turm-Block erhebt sich ein jüngeres achteckiges Obergeschoß, das von einem barocken Helm gekrönt wird. - Zu den Fragen der Datierung und der kunsthistorischen Einordnung vgl. S. TÓTH, XIII. századi épitomühely Veszprémben (Eine Bauwerkstatt des 13. Jh. in Veszprém), in: A Veszprém megyei muzeumok Közleményei, Bd. 6, 1967, S. 174 f., und Ders., Felsoörs késo román templomtornya. Rekonstrukció (Der spätromanische Kirchenturm von Felsoörs. Eine Rekonstruktion), in: Müvészet, Jg. X X I , 1980, (2), S. 22 ff. 13 Die ganze Gliederung ist bis auf wenige Eingriffe wohlerhalten. Nur die Türpfosten und der obere Abschluß der schmalen Portalöffnung weisen nachmittelalterliche Formen auf, und das während der Barockzeit in voller Breite ausgebrochene Mittelfenster bekam seine der ursprünglichen wohl ungefähr entsprechende schräge Wandung erst bei der letzten Restaurierung wieder. 14 Die Symmetrie der Fassade fällt um so mehr auf, als die innere Einteilung des Turmes durch Asymmetrie gekennzeichnet ist. Der quadratische Erdgeschoßraum ist nämlich auf die Nordseite geschoben, und in der südlichen Turmmauer wurde eine Bogennische für ein Stiftergrab und eine nach oben führende Treppe untergebracht. Oberhalb der Treppe war die hochliegende ehemalige Michaelskapelle ebenfalls asymmetrisch angelegt. Vgl.
TÓTH 1 9 8 0 wie A n m . 1 2 , S. 2 3 .
Zum Prinzip des „pars pro toto"
291
Gleichwertigkeit wird dadurch noch betont, daß die trichterförmig gestalteten Fenster (wie das Portal) in ihrer Tiefe eine schmale Wand aufweisen, die wie eine dünne Platte von den Öffnungen durchbrochen wird. Beide Grundformen des In-die-MauertiefeDringens können, wie das obere Fenster zeigt, sogar miteinander vermischt werden. Die Mauerschräge und die sich zur Hälfte verdeckenden, hintereinanderliegend gedachten Rücksprünge und Säulen gehören in das gleiche Formensystem.
Baues? Wird es auf den zu betretenden Raum oder auf das Bild im Bogenfeld bezogen? Sollen Halbsäule, der halb in der Mauer steckende Löwe, die sich zur Hälfte überschneidenden Kapitelle als solche aufgefaßt werden, oder sind sie keine selbständigen Formen, sondern entsprechen einer perspektivischen Darstellung? Das sind alles Fragen, die die allgemeine Problematik des mittelalterlichen Portalbaus und der Gliederung des Bauwerks betreffen. 18
Das architektonische Fassadenrelief des Turmes enthält noch einen dritten Typus von Elementen, diejenigen nämlich, die als plastisch vor die Grundfläche tretende, ähnlich wie die Rahmungsarchitektur gedachte Bauglieder erscheinen: vor allem der Giebel des Eingangs, den zwei Halbsäulen tragen. Diese, wieder entschieden frontal aufgefaßt, bilden zusammen mit dem Giebel eine Art Risalit. Von halbfigurigen Löwen getragen, erwecken sie dennoch den Eindruck freistehender, auf liegende Löwen gestützter Säulen, die ein Dach über einem Gewölbe abstützen. Dieses Motiv wiederholt sich dann dreimal über den Fenstern der mittleren Fensterreihe, wo die Frontalität durch die dreimalige Wiederholung sowie durch die paarweise angebrachten und dazu noch miteinander verknoteten Halbsäulen eine zusätzliche Betonung erfährt. Felsöörs ist weit von den großen und führenden Zentren europäischer Baukunst des 13. Jh. abgelegen. Bei aller Sorgfältigkeit der Ausführung läßt der Turm in seiner Massenhaftigkeit und Plumpheit ebenso wie in der Ausführung des Kapitellornaments und der figürlichen Elemente einen provinziellen Zug erkennen. 15 Selbst ein so stark konservatives und von den Brennpunkten des künstlerischen Geschehens so weit entferntes Werk führt zu ähnlichen Fragen wie seine berühmten Zeitgenossen. 16 Seine Entstehungszeit war reich an großartigen und die überlieferten Elemente stets eigenwillig verwandelnden Lösungen. 17 Die spärlichen Mittel und Formenelemente, über die sein Meister verfügte, enthalten jedoch die gesamte Problematik des uns in diesem Zusammenhang beschäftigenden Phänomens. Bereits bei der Beschreibung der Einzelformen waren verschiedene Deutungen kaum zu umgehen:
1 5 In der Architektur und in der Technik der Kirche findet man einige für die Bauzeit konservativ anmutende Elemente wie z. B. die rechteckigen Bandrippen im Erdgeschoßraum des Turms und im Chorquadrat, die für eine bisher noch nicht genauer erforschte lokale Bautätigkeit im 13. Jh. in Westungarn bezeichnend sind. 1 6 Diese Fragen zielen vor allem auf die Probleme der geschichtlichen Einordnung. Sowohl die Stufenportale mit Pfosten und Säulen als auch die trichterförmigen Fenster gehören zu den banalsten Formen der Romanik überhaupt. Auch das Vorbild eines richtigen Portalbaldachins mit freistehenden Säulen - wohl italienischen Typs - liegt für das Portalrisalit ziemlich klar auf der Hand. Für die merkwürdige Dreifenstergruppe des Obergeschosses, deren Knotensäulen letzten Endes wohl ebenfalls auf italienische Vorbilder hinweisen, sind jedoch streng einander zugeordnete Giebelreihen, wie die ein Jahrhundert zuvor geplante der Westportale der Kathedrale von Amiens oder die fast gleichzeitige an St-Nicaise zu Reims keineswegs belanglos. 1 7 Ein bekanntes Werk, das Westportal der St. Georgskirche zu Jäk, genügt zur Kennzeichnung dieser Tendenz. Von diesem Portal sind Ausstrahlungen bis in kleine Dorfkirchen nachweisbar, und R. K. DONIN hat in diesem Zusammenhang eine Portalschule vermutet. - Vgl. vor allem T. BOGYAY, Normannische Invasion - Wiener Bauhütte - Ungarische Romanik, in: Wandlungen christlicher Kunst im Mittelalter. Forschungen zur Kunstgeschichte und christlichen Archäologie 2, Baden-Baden 1953, S. 273 ff.; I. HOEFELMAYR-STRAUBE, Jäk und die normannische Ornamentik in Ungarn. Eine stilistische Untersuchung der Bauten von Jäk, Lebeny, Esztergom und Buda ( 1 1 9 0 - 1 2 6 0 ) , Schloß Birkeneck bei Freising 1954, S. 23 ff. Zur These DONINS siehe hauptsächlich: Das Riesentor bei St. Stefan in Wien, in: Monatsblatt des Altertumsvereins zu Wien X, 1916, zit. nach: Zur Kunstgeschichte Österreichs, Wien/Innsbruck/Wiesbaden 1951, S. 45. Siehe auch M. SCHWARZ, Romanische Architektur in Niederösterreich. Wissenschaftliche Schriftenreihe Niederösterreich 17/18, St. Pölten/Wien o. J. (1977), S. 56 ff. - Es gibt auch Portale aus diesem Kreis, die als einzige Steinmetzarbeiten an Backsteinkirchen vorhanden sind; und manche Bauten erhielten sogar Portale, die zu ihnen stilistisch nicht passen - wie unsere Turmfassade. Ein Verbindungsglied zum Kreis um Jäk bildet wohl die Doppelkapelle zu Päpöc, die einerseits viele Details aufweist, die denen in Felsöörs entsprechen, andererseits mit der Baukunst von Jäk in Verbindung steht. Siehe V. GERVERS-MOLNÄR, A kozepkori Magyarorszäg rotundäi (Die Rotunden des mittelalterlichen Ungarn), Budapest 1972, S. 13.
Ist das Portal als eine Maueröffnung oder als eine Wandeintiefung, als Rahmen oder als Nische zu verstehen? Ist es als Risalit oder als Abbreviation einer freistehenden Konstruktion zu deuten? Ist es eine richtige Konstruktion oder die Reliefdarstellung eines
1 8 Die folgenden Betrachtungen sind den allgemeinen Gesetzen der mittelalterlichen Komposition gewidmet, wobei die Grenzen zwischen den einzelnen Kunstzweigen oder -gattungen unwesentlich werden. Der Verfasser fühlt sich daher berechtigt, ihm vertraute Beispiele zu wählen und weder eine geographische noch eine chronologische Einteilung nach Stilphasen bzw. Epochen zu berücksichtigen.
19*
292 Zur Ikonologie
ERNÖ MAROSI
des
Portals
Eine ziemlich umfangreiche Literatur befaßt sich mit den Fragen der Deutung und der Entstehung romanischer Portale. 19 Als allgemeingültige Grundlage für die Betrachtung der im Laufe des 11. Jh. auftretenden Formen gilt dabei die folgende Voraussetzung: Seit dem Ende des 19. Jh. werden romanische Portale nicht nur als Zweckform, konstruktionsbedingt oder funktionell, sondern als Repräsentationsform beurteilt, wodurch die Architekturmotive einen metaphorischen Sinn erhalten. Dementsprechend wird die Struktur sowohl ihrem Aufbau, als auch ihrer Räumlichkeit nach als weitgehend selbständig angesehen. Dieser Selbständigkeit entspricht die äußerst komplexe Erscheinung. Strukturelemente und -typen verschiedener Herkunft und unterschiedlichen Sinngehalts werden in sie aufgenommen und miteinander verschmolzen, wobei es sich immer um mehrschichtige Anlagen handelt, deren Charakter je nach der Betonung des einen oder des anderen Grundelements verschieden ausgerichtet ist. In dieser Erscheinung liegt wohl eines der auffälligsten Merkmale mittelalterlicher Portalarchitektur: die Neigung zur Variation und zu eigenständigen Schöpfungen. Die Entwicklung der romanischen Portalarchitektur verläuft parallel zu dem Monumentalisierungsprozeß des Bildes im 11. Jh. Die Aufnahme des Bildkreises der Theophanie in den großplastischen Bauschmuck betraf vornehmlich das Portal, so daß es zum Bildträger wurde. 20 Diese seine Eigenschaft darf bei seiner Beurteilung als sinngeladene Form keineswegs unberücksichtigt bleiben und kann zur Konkretisierung der Deutung wesentlich beitragen. Sowohl für die Herleitung als auch für die Deutung verschiedener Grundelemente, die im komplexen architektonischen und motivischen Gefüge des Portals auftreten, wurden einige grundsätzliche Typen mit ziemlich konstantem ideellem und repräsentativem Grundgehalt festgestellt. Sie weisen sich alle als hinzugetretene Elemente aus, die eine einfache Türeinfassung aus Pfosten und Sturz über die reine Zweckform hinaus erweitert und umgedeutet haben. Erst in diesem repräsentativen Sinne kann von einem Portal die Rede sein. Das erste Element der Umdeutung einer Tür zu einem Portal stellt die Nische dar. 2 1 Durch sie wird der Eingang auf den Raum bezogen. Die Nische, sowohl in der Form einer Apsis als auch in der Verwendung an Palastfassaden, vertritt eine Hoheitsform
und wird mit Bildhaftem verknüpft. Schon die Nische macht das mittelalterliche Kirchenportal zum Symbol für die Himmelspforte. 22 Bald werden jedoch auch bildliche Darstellungen mit dem Kircheneingang verbunden, die in ihren ikonographischen Zusammenhängen mit dem Bildschmuck der Apsis die Portalnische als den eigentlichen Bildträger ausweisen. Es erscheinen primär Symbole und Bilder über Kircheneingängen, die der materiellen Vergegenwärtigung Gottes dienen, also dem Grundprinzip der hochmittelalterlichen Ästhetik, dem der Verkörperung des Logos, entsprechen. Wie die östliche Theologie, scheint auch die nachikonoklastische byzantinische Praxis der Verknüpfung von Bildern mit dem Kircheneingang für den Westen vorbildlich gewesen zu sein. 23 Das Portal als Bildnische findet eine Parallele und sogar eine Erklärung am Nischengrab des Mittel-
19
HANS GERHARD EVERS, T o d , M a c h t u n d R a u m als B e r e i c h e
der Architektur, München 1 9 7 0 (Nachdruck der Ausgabe von 1 9 3 9 ) . Vgl. besonders das K a p i t e l : Zum romanischen Stufenportal, S. 1 6 8 ff., mit der wichtigsten Literatur bis zur Erschein u n g s z e i t d e r E r s t a u s g a b e ; RICHARD HAMANN-MACLEAN, L e s ori-
gines des portails et façades sculptées gothiques, in : Cahiers de c i v i l i s a t i o n m é d i é v a l e II, 1 9 5 9 , S. 1 5 7FF.; EDITH NEUBAUER, D i e
romanischen skulptierten Bogenfelder in Sachsen und Thüringen, Berlin 1 9 7 2 , S. 7 ff. - Auf eine Übersicht der Formen des Eingangs, der Tür, deren Entwicklung der der repräsentativen Portalanlagen - wohl der eigentümlichsten Erfindung romanischer Baukunst - parallel läuft, von der Kunstgeschichte jedoch nur in wenigen Fällen zur Kenntnis genommen wird, muß im folgenden verzichtet werden. 2 0 A . KATZENELLENBOGEN, The Sculptural Programs of Chartres Cathedral, Baltimore 1 9 5 9 , S. 7 f f . ; Vgl. Y . CHRISTE, Les Grands Portaiis Romans, G e n è v e 1 9 6 9 , besonders S. 1 5 9 ff. Uber den Zusammenhang zwischen Portal und Apsis siehe auch EVERS
1970
wie
Anm. 19,
S. 1 8 9
ff.
Vgl. EVERS 1 9 7 0 wie Anm. 1 9 , S. 1 8 7 f. Anders, nämlich als ein Motiv der Palastfassaden der Antike, wird das Nischenportal aufgefaßt von BANDMANN 1 9 5 1 w i e Anm. 3, S. 90, 1 0 3 ff., 1 1 1 ; ähnlich auch BALDWIN E. SMITH, Architectural Symbolism of Imperial Rome and the Middle Ages, Princeton 1 9 5 6 , S. 3 0 ff. 2 2 Zur christologischen Symbolik des Kirchenportals vgl. zusammenfassend F. CARLSSON, The Iconology of Tectonics in Romanesque A r t , Hässleholm 1 9 7 6 , S. 3 2 ff. (auf Grund von D e universo libri X X I I des Rabanus Maurus). - In der ikonographischen Literatur der Portale wird die Bildfunktion der Türflügel wenig berücksichtigt. Sie werden jedoch wohl das älteste Element darstellen, das traditionsgemäß an den Eingangscharakter anknüpft, und auch hinsichtlich der Bewahrung der Ikonographie von historischen Bilderkreisen am ehesten in der Überlieferung der Antike steht. Vgl. etwa die Analyse der Bernwardstür in Hildesheim bei HANS JANTZEN, Ottonische Kunst, Hamburg 1 9 5 9 , S. 1 1 5 ff. 21
2 3 Vgl. etwa die Mosaikdekoration der Vorhalle der Hagia Sophia, J. BECKWITH, The A r t of Constantinople, London 1 9 6 1 , S. 9 7 f.
Zum Prinzip des „pars pro toto" alters, dessen Gestaltung oft Ähnlichkeit mit der des Portalbaues aufwies. 2 4 Es sind insbesondere Motive der Sepulchralarchitektur, die zu einer Deutung mittelalterlicher Portalanlagen, der Abstufung des Gewändes, beitragen können. Sowohl Wandnischen als auch ihre Sonderformen, die Scheintüren, fanden seit dem Altertum im funeralen Bereich ihre häufigste Verwendung, wobei der Umdeutung der Tür als Eingang zum Jenseits eine besondere Bedeutung zukommt. Auch spielt das Scheinbare, die durch darstellerische Mittel vorgetäuschte Räumlichkeit, eine ähnliche Rolle. Auf oft eindringlich detaillierten bildlichen Darstellungen von sehr konkret wiedergegebenen Türflügeln an Sarkophagen der Spätantike, die halbgeöffnet einen rätselhaft dämmernden Raum evozieren, wurde die Tür zuerst als Motiv verwendet. Als Vorstufen zu romanischen Stufenportalen sind jedoch insbesondere solche antiken Beispiele aufzufassen, die die Scheintür in räumlich gestufter Umrahmung, d. h. am Ende von mehreren hintereinanderliegenden Raumschichten, darstellen. 2 5 Der Nischencharakter, der wohl die Grundlage für die Räumlichkeit des mittelalterlichen Portals bildet, darf gewiß nicht von seinem anderen Grundelement, dem Baldachin, getrennt betrachtet werden. Als sinngeladenes Motiv wie als Bildträger steht er in der Nachfolge solcher bildlichen Darstellungen, die seit der Spätantike Nische und Baldachin verknüpft haben. Von dieser Hoheitsform unabhängig sind weder Altäre und Reliquienbehälter noch die Aufstellung von Kultbildern. Eine Verschmelzung von Nischen- und Baldachinform ist zugleich die Formel für alle Bildräume und Bilderrahmen des Mittelalters. Dabei besteht eine klare Stufenfolge sowohl hinsichtlich des Raumgehalts als auch hinsichtlich der strukturellen Selbständigkeit des Bildgehäuses. 26 Eine vollrunde Gestalt konnte ihre Aufstellung unter einem Obdach, in einem dreidimensionalen Raum finden. Ähnliches wird durch bildliche Darstellungen und durch spärliche Denkmäler auch von der Aufstellung byzantinischer Ikonen bezeugt. 27 Eine Übergangsform, sozusagen von beschränkter Dreidimensionalität, stellen die vor Nischen gestellten Baldachine mit zwei freien Stützen dar. Sie sind häufig in der Form von frühen Altaraufsätzen überliefert, und dienten einer weiteren Sonderform, der der Halbziborien und Querschiffapsiden von Speyer als Grundlagen. 2 8 Portale mit freistehenden Säulen und Giebelbaldachin, die besonders in Italien häufiger vorkamen, gehören in dieselbe
293
Formkategorie. Einen eher flachen Rahmungstyp von reduzierter Räumlichkeit, in der das Körperhafte durch die Raumwerte des Reliefs ersetzt wurde, stellen verschiedene Reliefeinfassungen bzw. Bilderrahmen dar, deren architektonische Elemente nicht mehr als tragende Glieder, sondern nur durch darstellerische Mittel angedeutet werden. 2 9 In diese Kategorie gehören auch Portalformen, die vor einer Grundfläche nur mittels bauplastischer Glieder dargestellt sind. Es handelt sich dabei wohl keineswegs um Abbreviaturen von komplizierten Strukturen, wie es oft angenommen wird, sondern um verschiedene Darstellungstypen, deren Hierarchie man auf eine ähnliche Weise auch in der darstellenden Kunst begegnet. Die genannten Baldachinformen sind nicht nur Rahmen im modernen Sinne, sondern wesentliche Elemente des mittelalterlichen Kultbildes, die es als eine Art Anführungszeichen aus dem alltäglichen Raum in eine höhere Sphäre erheben, ihm eine andere Realität verleihen. Unabhängig davon, ob es sich
24
Vgl. OTTO SCHMITT, in: Reallexikon der deutschen Kunst-
geschichte I, 1 9 3 7 , Sp. 1 4 0 2 ff. -
KÜRT BAUCH, D a s
mittelalter-
liche Grabbild. Figürliche Grabmäler des 1 1 . bis 1 5 . Jahrhunderts in Europa, Berlin/New York 1 9 7 6 , S. 45 ff. - Zur Verbindung von Nische und Bild bildet die gemalte Altarnische eine weitere Vorstufe, siehe H. HAGER, Die Anfänge des italienischen Altarbildes, München 1 9 6 2 , S. 23 ff. 2 5 ERWIN PANOFSKY, Tomb Sculpture, London 1 9 6 4 , S. 1 4 f. ; JAN BIALOSTOCKI, Door of Deeth, in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 18, 1 9 7 3 . - Vgl. etwa orientalisierende griechische Beispiele wie die königliche Grabkammer zu Tannamos: A . W . LAWRENCE, Greek Architecture, Harmondsworth 1 9 5 7 , Abb. 22 f. und S. 3 0 1 . Zum Harpyenmonument von Xanthos siehe LUDWIG CURTIUS, Die antike Kunst, Bd. II, Potsdam 1 9 3 8 , S. 209. Vgl. auch PANOFSKY 1 9 6 4 , S. 20. - Zu Scheintüren als Bilderrahmen vgl. W . EHLICH, Bild und Rahmen im Altertum, Leipzig 1 9 5 4 , S. 1 1 6 ff. Die schließbaren Türflügel werden das. S. 1 6 3 ff. als Bildschutz ausgelegt. Über diese eher real-archäologische Hinsicht hinaus ist die durch Flügel schließbare Scheintür als Mumiengehäuse, das. Abb. 1 0 9 , 1 1 2 , besonders lehrreich und legt eine ästhetische Funktion der Triptychonform nahe. 2 6 In dem Sinne spricht WILHELM MESSERER, Das Relief im Mittelalter, Berlin 1 9 5 9 , S. 1 7 und Anm. 49, über eine „Schlüsselstellung" des mittelalterlichen Reliefs. 2 7 Siehe das Bild der Verehrung einer Hodegetria-Ikone im Hamiltonpsalter: ANDRÉ GRABAR, L'iconoclasme byzantin, Paris 1 9 5 7 , S. 202, Abb. 1. 2 8 Vgl. das Stichwort „Altarciborium" (J. BRAUN) in: Reallexikon der deutschen Kunstgeschichte, Bd. I, 1 9 3 7 , Sp. 4 7 3 ff. besonders 4 8 3 f. (Nischenciborium). 2 9 Zur Verwachsenheit von Figur und Arkade etwa am Baseler Antependium siehe MESSERER 1 9 5 9 wie Anm. 26, S. 28 f. Vgl. den Begriff des homme arcade von HENRI FOCILLON, L'art des sculpteurs romans, Paris 1 9 3 1 , S. 67 ff. ; und R. HINKS, Carolingian Art, Ann Arbor 1 9 6 2 , S. 1 5 und 4 0 f.
294
ERNÖ
Kaschau (Kosice), Pfarrkirche St. Elisabeth, 2 Westportale, Anfang des 15. Jh.
um den klassischen Typus der tympanonbekrönten Ädikula mit gebälktragenden Säulen, um einen säulengetragenen Bogen oder um einen Giebel über einem Bogen handelt, das Bild erscheint immer mit seinem Rahmen verwachsen. 30 Es erhält seinen Kultbildcharakter erst in dem streng aufeinander bezogenen Raumsystem von Körper und Gehäuse, in dem der Raum als dünner Mantel um die Gestalt durch die architektonische Abgrenzung von dem äußeren Raum abgesetzt und in seinem umhüllenden Charakter bestimmt wird. Es handelt sich dabei im Falle der dem G r a d e ihrer Räumlichkeit nach abgestuften Erscheinungsform um Realitätsgrade, die als Parallelen zu verschiedenen Stufen des Realitätscharakters der Kunstwerke erscheinen. Die verschiedenen G r a d e der körperhaften Wirklichkeit der Kunstwerke, die vom Flachbild zur dreidimensionalen
MAROSI
Faßbarkeit eine breite Spanne füllen, spielten in der Auffassung bzw. in der Übernahme der bildlichen Darstellung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Von extrem bilderfeindlichen Ansichten abgesehen, richteten sich alle Beschränkungstendenzen gegen die Gegenwart des vollplastischen Bildes - was oft auch in der Regel und Beschlüssen von Reformorden seinen Ausdruck fand. 3 1
30 Z u m Begriff d e r Ä d i k u l a siehe Reallexikon der deutschen Kunstgeschichte, B d . I, 1937, Sp. 167. - Z u r Rahmungsweise byzantinischer Ikonen vgl. R . LANGE, D i e byzantinische Reliefikone, Recklinghausen 1964, S. 12. 31 Diesbezüglich ist das K a p i t e l . A b s t u f u n g d e r plastischen Mittel', i n : JOSEF GANTNER, Romanische Plastik, W i e n 1942, S. 57 ff., noch immer grundlegend. Z u t r e f f e n d formuliert MESSERER 1 9 5 9 wie A n m . 26, S. 1 6 0 : „das Mittelalter stellt seine Gestalten nicht als neue W e s e n in die W e l t (ins .Freie'), sondern bindet sie in künstlerische .Welten', immanente G e f ü g e einer O r d n u n g , die es dem realen D a s e i n distanziert gegenüberstellt." — Beispiele f ü r die Bilderfeindlichkeit im Mittelalter, besonders hinsichtlich d e r S k u l p t u r : HERBERT SCHRADE, V o r - u n d frühromanische M a l e r e i , K ö l n 1958, S. 98 ff.
Zum Prinzip des „pars pro toto" Wenn man die Portalbaukunst als einen Bereich auffaßt, der von den Gesetzen der bildlichen Darstellung beherrscht war, erscheint auch ihr Verhältnis zur Baukunst anders. Die Portalbauten als Risalite, die Stadttore oder Palastfassaden nachahmen, erscheinen unter diesem Gesichtspunkt keineswegs nur als einfache motivische Übernahmen in einem völlig anderen Kontext bereits früher ausgereifter Lösungen. Auch die Chronologie der mittelalterlichen Portalbaukunst scheint eine andere Deutung nahezulegen. Verschiedene Nischenportale erschienen wesentlich früher als solche, die Baldachinen bzw. risalit- oder vorbauähnlichen Anlagen nachfolgen. Das primäre Element und das wesentlichste muß die nischenartige Eintiefung des Portals gewesen sein, während ihre architektonische Einfassung erst sekundär hinzugetreten sein könnte. 3 2 Das alles erlaubt, im Portalbau eine Darstellungsweise von wirklichen räumlichen Begebenheiten der Architektur zu sehen und ihre Formen auf die Körpergestaltung der Baukunst einerseits und auf die bildkünstlerische Wiedergabe von Bauten andererseits zurückführen. Anders ausgedrückt: man darf bei der Beurteilung der Portalarchitektur neben der Architekturtradition auch die der Architekturdarstellung nicht außer acht lassen. 3 3 D i e Bildtradition der Antike spielte auch eine wichtige Rolle in der perspektivischen Darstellung von Palastfassaden als Symbole der Himmelsstadt, beispielsweise in den Mosaiken von St. Demetrios in Saloniki, die auch in eher bilderfeindlichen Kreisen, etwa an den Synodenbildern der Geburtskirche zu Bethlehem oder in der omayadischen Moschee von Damaskus ihre Fortsetzung fanden. 3 4 Es ist klar, d a ß dabei spätantike Formeln der perspektivischen Architekturdarstellung ebenso weiterhin ihre Verwendung fanden w i e das polygonale Schema der Darstellung der befestigten Stadt, das vom 5. Jh. bis ins hohe Mittelalter für die Mehrzahl der Architekturdarstellungen vorbildlich blieb. Vom letzteren konnte nachgewiesen werden, d a ß es als ein u. a. auch im Corpus Agrimensorum verwendetes kartographisches Schema in die Darstellungen Eingang gefunden hat, wobei konkrete topographische Aufnahmen eine Methode darstellen, deren Verwendung eher zu den sporadisch auftretenden Ausnahmen zählt. 3 5 Für die Ikonologie der Architektur stellt eben dieses Schema ein äußerst wichtiges Motiv dar, weil es sich als Bindeglied zwischen beiden für die spätere Entwicklung als verbindlich anerkannten spätantiken Lösungen der Architektur repräsentativen Cha-
295
rakters, des von Türmen flankierten Stadttors und der Palastfassade mit riesiger Nische auffassen läßt. 3 6 Offenbar wurde das Prinzip der dreiteiligen Fassadengliederung von dem Bereich der Architekturdarstellung auf den der Portalarchitektur erst nachträglich, gegen Mitte des 12. Jh., übertragen, wobei die ursprünglichen Nischen- und Baldachinportale mittels Einführung der Flankierung durch seitliche Pfei-
32
EVERS 1 9 7 0 wie Anm. 19, S. 187. - Diese unsere Deutung
steht d e r v o n RICHARD HAMANN-MACLEAN ( 1 9 5 9 w i e A n m . 1 9 ,
S. 1 5 9 ) entgegen, die eine besondere Räumlichkeit für das romanische Portal voraussetzt ( dès l'époque carolingienne, on commence à préférer le portail à jambages et on le définit ainsi comme un espace créé par la combinaison de deux piliers et d'une porte qui les relie.") und seine relative Selbständigkeit („une construction dans la construction") auf den Triumphbogen der Antike zurückleitet („ . . . le portail est réellement un are de triomphe intégré à la façade"). 3 3 Neben dem Bilderrahmen im allgemeinen kann hier auch speziell auf die Entwicklung in der früh- und hochmittelalterlichen Buchmalerei hingewiesen werden, wo in den Evangelistenbildern einerseits die Abhängigkeit von spätantiken Schreibstubeninterieurs auf der Hand liegt und andererseits auch die Übertragung einer Form der Raumdarstellung auf Frontispizien oder Kanonestafeln nachgewiesen werden kann. — Vgl. HINKS 1 9 6 2 wie Anm. 29, * S. 64 ff., und K . WEITZMANN, Ancient Book Illumination, Cambridge/Mass. 1959, S. 1 2 2 ff. Ganz offensichtlich ist das z. B. bei dem karolingischen Evangeliar aus St-Medard in Soissons der Fall, wo die perspektivischen Darstellungsmittel einer scenae frons der Antike in der Vergegenwärtigung der Himmelsstadt eine ebenso wichtige Rolle spielen wie die ikonographische Tradition des Nischenraumes in der Darstellung des Lebensbrunnens. - Vgl. SMITH 1 9 5 6 w i e A n m . 2 1 , S. 1 2 0 ff. 3 4 GRABAR 1 9 5 7 wie Anm. 27, S. 50 ff. - Eine Vorstufe zum romanischen Portal stellen spätantike Darstellungen von Thoranischen in Dura-Europos dar, die W . WOLSKA, La Topographie Chrétienne de Cosmas Indicopleustès, Paris 1 9 6 2 , S. 1 2 1 ff., als Darstellungen der Schmalseite des als Tabernakel gedeuteten Kosmos des Kosmas interpretiert. Zu dieser Form als Bildrahmung siehe auch das. S. 293 f. 3 a Vg. I. EHRENSPERGER-KATZ, Les représentations des villes fortifiées dans l'art paléochrétien et leurs dérivées byzantines, in: Cahiers Archéologiques XIX, 1969, S. 1 ff. 3 6 So wurde dieses Schema sowohl als Symbol, etwa auf Münzen und Siegeln, als auch in Architekturdarstellungen in szenischem Zusammenhang (besonders häufig etwa im Utrechtpsalter), aber auch in Verbindung mit gemalten, nischenartigen Architekturrahmungen seit karolingischer und ottonischer Zeit meist hoch über dem Bogen schwebend verwendet. Als solches ist es die häufigste Form von Baldachinen sowohl in der Kleinarchitektur (Altarziborien) als auch über Bildern geworden. Es mag hier genügen, auf entsprechende Formen italienischer Altarziborien des 12. Jh., wie das in Barletta (siehe E. BERTAÜX, L'art dans l'Italie méridionale, Bd. I, Paris 1904, S. 759 f.), und auf gleichzeitige Baldachinstrukturen in Reliefs, wie die über der Madonna im Tympanon des Annenportals von Notre-Dame in Paris, hinzuwei-
sen. - V g l . auch ANTJE MIDDELDORF-KOSEGARTEN, Z u r B e d e u t u n g
der Sieneser Domkuppel, in: Münchner Jahrbuch der'bildenden Kunst III, F., Bd. XXI, 1 9 7 0 , S. 84 ff. - Das Schweben ist ja gerade der Zug, der dieses Motiv mit der späteren Geschichte des mittelalterlichen Portals verbindet.
296
E R N Ö MAROSI
ler bzw. Türme zu Wimpergen erweitert wurden. Es ist klar, daß mit dem Wimperg eine Form entstanden ist, die kaum in der inneren Entwicklungslogik der Portale allein wurzelt, sondern sowohl Formeln der Architekturdarstellung als auch zeitlich vorausgehenden Lösungen der Massengruppierung in der Baukunst großen Maßstabs folgt. Mit dem Wimperg wurde eine Form in die frühgotische Baukunst eingeführt, die sich sowohl für räumliche Schöpfungen als auch für die Flächengliederung als brauchbar erwies. Mit dem Wimperg konnten Turm, Tabernakel und Nische endgültig auf eine gemeinsame Formel gebracht werden, worauf sich seine Bedeutung für die gotische Architekturtheorie gründet. Erst mit ihm wurde die anthropomorphe Tradition der Ädikula der Antike endgültig verlassen und eine Formel eingeführt, die sich in reinen geometrischen Verhältnissen ausdrücken und daher theoretisch in endlosen Reihen weiterentwickeln läßt. 3 7 D e n oben ausgeführten Grundsätzen entsprechend wäre nun die Frage zu stellen, welche Art von Bauten als Vorbilder und Vorstufen für den Wimperg gedient haben. Als hochwichtiger Hinweis muß dabei die Tatsache angesehen werden, daß der Wim- ' perg nachweislich zuerst an Türmen erschien und in mustergültiger Folgerichtigkeit den Zusammenhang mit der Turmarchitektur auch weiterhin behielt.
Wimperg und Tabernakel, Turm- und Kuppelbau D e r gotische Wimperg erhielt bekanntermaßen eine seiner frühesten Ausformungen am oktogonalen Obergeschoß des Südwestturms der Kathedrale von Chartres. 3 8 Die dortige Sonderform kann als eine Vorstufe zum klassischen Wimperg aufgefaßt werden, da in ihr das Prinzip der Flankierung motivisch nicht verwirklicht wurde, während es in der Gesamtanlage doch zur Geltung kam. Das Obergeschoß mit seinem steilen Pyramidendach stellt eine höhere Einheit dar, der ähnlich organisierte Einheiten untergeordnet werden: baldachingekrönte Fenster mit steilen Giebeln an den Frontseiten und übereckgestellte Türmchen vor den diagonalen. Letztere erweisen sich klar als Turmmodelle, deren Frontseite von reliefartig angedeuteten Ziborien als Fensterrahmung gegliedert wird. Es handelt sich also um eine dreifache räumliche Abstufung des Turm-
motivs, die bereits hier die Züge des voll ausgebildeten Wimpergs annimmt. D a s ziborienartig Schwebende der Tabernakel hörte selbst an der Westfassade von Laon nicht auf, die sowohl in der Aufrißgestaltung der Türme als auch in der Integrierung ursprünglich selbständiger Elemente der Fassadenkomposition in ein Dreigiebelmotiv vor den Portalen einen großen Fortschritt darstellt. D e r Westturm von Notre-Dame in Etampes paßt sich durch seine Frontalwimperge und Ecktabernakel als Zwischenglied zwischen Chartres und Laon ein. Erst mit Jean d'Orbais in Reims oder an der südlichen Querschilfvorhalle zu Chartres scheint das Flankierungsprinzip selbst untergeordnete Wimperge und Fialen erreicht zu haben. Somit wurde die klassische Form für Tabernakel geschaffen, wo ihr Dach nicht nur über Säulen schwebt, sondern auch von vier begleitenden Fialen flankiert wird. Von da ab ist dieser Typus die Norm aller gotischen Gliederung geworden. Diese Entwicklung hält mit der formalen Entwicklung des Statuenbaldachins Schritt: mit ihr parallel läuft der Brauch der Anbringung von turmbesetzten Kleinarchitekturen über Statuen, die in ihren von der modellhaften Verkleinerung realer Bauten stammenden Formen - etwa an den Querschiffportalen zu Chartres, an der Nordquerschifffassade von Reims oder an den Georgenchorpfeilern zu Bamberg - wie schwebende Zentralbauten, Chöre und Städte anmuten. 3 9 In erster Linie scheinen dabei Türme und turmartige, komplexere Bauten Pate gestanden zu haben. Besonders Türme mit einer Bekrönung von vier flankierenden Türmchen um das zentrale Zeltdach herum kommen in Betracht, die im 12. und 13. Jahrhundert eine in mehreren Gebieten geläufige Form der
37
Das ist der Unterschied zwischen Organisch-Vegetabilem und
Kristallinisch-Sideralem,
der
bereits
FRIEDRICH
VON
SCHLEGEL
(Briefe auf einer Reise durch die Niederlande, Rheingegenden, die Schweiz und einen Teil von Frankreich, in: Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst, München/Paderborn/Wien 1956) auffiel und in der Folgezeit zur wissenschaftlichen Unterscheidung zwischen Romanik und Gotik führte. Vgl. FRANKL 1960 wie Anm. 4 , S. 4 6 2 f. 38 Zu Massengliederung und Entwicklung der Türme des 12. Jh. siehe ERNST GALL, Die gotische Baukunst in Frankreich und Deutschland, Teil I, Leipzig 1925, S. 82 ff., vgl. FRANKL 1962 wie Anm. 10, S. 57 ff. - siehe auch E. LEFEVRE-PONTALIS, Les origines des gäbles, in: Bulletin monumental 71, 1907, S. 92 ff. 39 Zur Modellhaftigkeit der Baldachine von Bamberg vgl. W. BOECK, Der Bamberger Meister, Tübingen 1960, S. 182 ff. siehe auch das Wort „Statuenbaldachin" in: Reallexicon der deutschen Kunstgeschichte, Bd. I, 1937, Sp. 1394 ff.
Zum Prinzip des „pars pro toto" Massengliederung dargestellt haben. 4 0 Von der zweckbedingten Form der einfachen, runden oder über quadratischem G r u n d r i ß erbauten Turmmasse unterscheiden sie sich besonders durch eine Gruppierung von Massen, die in ihrer Hierarchie den Eindruck von Städten erwecken. Offensichtlich handelt es sich um ein Gliederungsprinzip, das zumindest die oberen Teile dieser T ü r m e als hochliegende Zentralbauten ausweist. D i e s e T ü r m e können motivisch von einer seit der Spätantike lebendigen Bautradition der u m einen mittleren T u r m herum gruppierten viertürmigen Zentralbauten abgeleitet werden, der etwa S. Lorenzo in M a i l a n d oder der spätrömische K e r n b a u des Trierer D o m e s angehören mögen. In der Nachfolge dieses Bautyps können sowohl die seit mittelbyzantinischer Zeit verbreiteten Kreuzkuppelkirchen mit vier N e b e n k u p p e l n über den Eckräumen als auch entsprechende westliche Lösungen, u n d zwar seit der Karolingerzeit, liegen. 4 1 D a s Schicksal dieses Raum- und Massengliederungstyps läßt sich im Westen kaum von der W e s t w e r k f r a g e getrennt vorstellen. Als turmartige Zentralbauten sind die karolingischen W e s t w e r k e vom Typus Centula bzw. Corvey die A d a p t i e r u n g einer mit vier flankierenden Türmen gebildeten Anlage im Zusammenbau mit einem Langschiff. Dieser Zug macht sich auch noch am W e s t b a u von St. Pantaleon in Köln geltend, während a n d e r e ottonische Westbaulösungen, wie etwa die am D o m zu Trier oder an der Damenstiftskirche zu Essen, dieselbe Massengruppierung in eine Fass a d e n w a n d mit zwei T r e p p e n t ü r m e n umgewandelt haben. Diese G r u p p e wird vom Text der Inschrifttafel der W e s t f a s s a d e in Corvey als civitas, die von den Erzengeln geschützt w e r d e n soll, himmlische Stadt also, bezeichnet. 4 2 Ebenso kann der Vierungsturm als eine andere Stelle turmartiger Massengruppierung an Kirchenbauten angesehen w e r d e n . Es sind in der Folgezeit besonders die Vierungstürme und -kuppeln, die eine vorherrschende Rolle gegenüber dem Westbau einnahmen u n d als Darstellungen der Himmelsstadt galten. Bei mittelalterlichen Kirchendarstellungen - etwa auf dem Teppich von Bayeux oder in H a n d schriften - sind es besonders die Vierungstürme, die, den Bau überragend als wichtigste Teile, betont werden. Sie w u r d e n in ihrer Räumlichkeit von Sedlmayr vor allem als Grundeinheiten und Modelle f ü r das „Baldachinsystem", als Abbildung des himmlischen Jerusalems angesehen. 4 3 Indessen w u r d e die H i m -
297
melsstadt w ä h r e n d des Mittelalters wohl eher als eine Bautengruppe denn als Räumlichkeit a u f g e f a ß t . D e r von T ü r m e n flankierte T u r m b a u konnte als selbständiger Kirchenbau etwa in der Form von G r o ß St. Martin in Köln auftreten. In diesem Falle mögen Nachfolgewerke wie St. Aposteln eine ähnliche Anpassung an einen Langbau bezeugen, wie dies auch im Falle der Westwerkgruppen angenommen wurde. 4 4 Es sind Vierungstürme oder -kuppeln, meist von Ecktürmen flankiert, die in der äußeren Erscheinung der Kirchen des 12. bis 13. Jh. überall eine bestimmende Rolle gespielt haben. D e r vieltürmige A u ß e n b a u , der so eindrucksvoll in T o u r n a i und Laon verwirklicht w u r d e u n d - meist unvollendet - noch
40 Diese Fotm heißt oft Ciborium in zeitgenössischen Quellen. Zur campanischen Nachfolge der Martorana von Palermo (Amalfi, Gaeta, Caserta Vecchia) siehe BERTAUX 1904 wie Anm. 36, S. 621 ff. - Für Gaeta ist die Benennung „Cyborium" von einer Bauinschrift (das. Anm. 1 auf S. 622) von 1279 überliefert. Für eine Gruppe eigentümlicher Vierungskuppeln (ebenfalls Cimborio genannt) des 12. Jh. in Leon und Kastilien siehe P. DE PALOL/M. HIRMER, Spanien. Kunst des frühen Mittelalters vom Westgotenreich bis zum Ende der Romanik, München 1965, S. 99 ff., 176., sowie Taf., 175, 177, 181. - Vgl. auch MIDDEL-
DORF-KOSEGARTEN 1 9 7 0 w i e A n m .
36.
41
Vgl. RICHARD KRAUTHEIMER, Early Christian and Byzantine Architecture, Harmondsworth 1965, S. 55 f., 60 f. (mit der Herleitung von S. Lorenzo in Mailand und vom Kernbau des D o m s zu Trier von spätrömischen Palastbauten) ; für die Fünfkuppelbauten der Paläologenzeit siehe das., besonders S. 2 9 4 ff. - Ein reichhaltiges Material wird (auch für die Westwerkfrage) von SMITH 1956 wie Anm. 21, S. 79 ff., verwertet, allerdings mit dem Unterschied, daß er seine Beispiele besonders mit Blick auf das Fassadenmotiv auswählt. 42 Zu einer Deutung des Westwerkes als Zentralbau siehe EDGAR LEHMANN, D e r frühe deutsche Kirchenbau, Berlin 1938, S. 13 f., und: Ders., D i e Architektur zur Zeit Karls des Grossen, in: Karl der Grosse, Bd. III, Düsseldorf 1965, S. 310. - Zu den verschiedenen Interpretationen vgl. FRIEDRICH MÖBIUS, Westwerkstudien, Jena 1968, besonders S. 9 ff. Vgl. vor allem CAROL HEITZ, Recherches sur les rapports entre l'architecture et liturgie à l'époque carolingienne, Paris 1963, besonders S. 31 ff., und zur Nachfolge und Umgestaltung der karolingischen Westwerke LEHMANN 1 9 3 8 , S . 3 3 ff. u n d HEITZ 1 9 6 3 , S . 4 3 ff. u n d 5 9
ff.-Zur
Deutung der ausgeschiedenen Vierung in St. Michael zu Hildesheim als eine Verschmelzungsform von Chor und Westwerk siehe auch LOUIS GRODECKI, L'architecture ottonienne, Paris 1958, S. 8 1 ff. 43 HANS SEDLMAYR, D a s erste mittelalterliche Architektursystem, zit. nach Epochen und Werke, Bd. I, Wien 1959, S. 80 ff.; Über eine mittelalterliche Art des Abbildens, das. S. 140 ff. ; Architektur als abbildende Kunst, das. Bd.II, Wien 1960, S. 211 ff. - D e r Affassung SEDLMAYRS gegenüber siehe den Aufsatz von RAINER HAUSSHERR, Templum Salomonis und Ecclesia Christi, zu einem Bildvergleich der Bible moralisée, in : Zeitschrift für Kunstgeschichte 31, 1968, w o die Kuppel als Sinnbild für „Templum" und die Stadt als Sinnbild für das himmlische Jerusalem erscheint. 44
V g l . WERNER MEYER-BARKHAUSEN, D a s
große
Jahrhundert
kölnischer Kirchenbaukunst 1150 bis 1250, Köln 1952, S. 12 ff.
298
ERNÖ MAROSI
bei einer großen Zahl von klassischen Kathedralen des 13. Jh. eine Rolle gespielt hat, hatte ebenfalls den oft nicht mehr erhaltenen Vierungsturm als Mittelpunkt. Auf diese Weise wurden sogar ganze Kirchenbauten als Erscheinungen der Himmelsstadt aufgefaßt/' 5
D i e zentral angeordnete Baugruppe aus einem mittleren, gewölbten oder kuppelbedeckten Raum und flankierenden Türmen kann also als ein Grundelement der mittelalterlichen Baukunst aufgefaßt werden, das an der äußeren Erscheinung der Kirchenbauten vorherrschend war und sowohl die Form der Kirchtürme als auch die einiger Bergfriede oder regelmäßig angelegter Festungen - diese kaum ohne eine antike Tradition - geprägt hat. 4 7 Dieser Typus hat als Bauform wenig mit dem Baldachin oder dem Ziborium zu tun, wurde aber innerhalb kurzer Zeit auch auf diese Art säulengetragener Dächer, Gewölbe oder Kuppeln übertragen. Dadurch konnte er auch in der Form von Tabernakeln auftreten und in Relief angedeutete Baldachine verdrängen. Die Hoheitsform der Nische und des Baldachins erschien nun als eine auf die Großarchitektur bezogene: Turm, Tabernakel und Wimperg konnten als Stufen derselben erscheinen und ein einheitliches Formsystem bilden. Es ist höchst bezeichnend, daß dieses Formsystem sogar in das Gebiet der Kleinkünste - Schreine, Reliquienbehälter, Monstranzen und Altarretabel - Eingang gefunden hat.
Das perspektivische
Georgenberg (Zips/Spisskä Sobota), 3 nördliche Chorwand, Sakramentsnische mit gemalter Bekrönung, um 1464 Diese Interpretation und besonders die Rolle der von vier Türmchen flankierten Vierungskuppeln kam in Mailand um die Wende des 14. Jh. klar zum Ausdruck, als die Mailänder behaupteten, daß diese schwierig realisierbare Lösung die ars selbst forderte, während der Franzose Jean Mignot ihnen rationelle Bedenken der scientia gegenüberstellte. D e n Mignot gegenüber recht dilettantisch klingenden Ausführungen der Mailänder zufolge könnte die so geplante Vierungskuppel Gottvater selbst auf seinem Thron, umgeben von den vier Evangelisten vergegenwärtigen, was genau ihrer Deutung als Himmelsstadt entspricht. 46
System im Portalbau
Unsere Deutung des Portals als selbständige Teilstruktur, als pars pro toto im Zusammenhang mit umfassenderen Anlagen, setzt eine Auffassung als eine Vergegenwärtigung baulicher Verhältnisse von reduziertem Raumwert voraus. Die Darstellung des himmlischen Jerusalem verstehen wir keineswegs als die anschauliche Abbildung einer Vision, sondern als eine Art Übertragung bereits gegebener Motive, wie Stadtdarstellung, Kuppel und zusammengesetzte Baukörper, auf diese Thematik. D i e Veranschaulichung kommt durch Anwendung von Metaphern zustande. Das gilt nicht nur für die Umgestaltung 45 HANS KUNZE, Das Fassadenproblem der französischen Frühund Hochgotik, Leipzig 1912, S. 18 ff.; GALL 1925 wie Anm. 38,
S. 7 9
ff.
„pro fortitudine et pulchritudine tiborii, videlicet quasi per istum exemplum in paradixo Dominus Deus sedet in medio troni, circha tronum sunt quatuor evangelistae secundum Apocalissim." (Annali della Fabbrica del Duomo di Milano a cura della sua amministrazione, Bd. I, Milano 1877, S. 203). - Vgl. J. L. ACKERMANN, „Ars sine scientia nihil est", in : Art Bulletin XXXI, 1949, S. 100 ff. ' ,7 Vgl. C. A. WILLEMSEN, Die Bauten Kaiser Friedrichs II. in Süditalien, in: Die Zeit der Staufer. Ausstellungskatalog, Stuttgart 1977, Bd. III, S. 143 ff., besonders S. 152 ff.
Zum Prinzip des „pars pro toto" der Motive, sondern auch für den Grad ihrer realen Faßbarkeit. Als ein Gesetz der Gestaltung mittelalterlicher Portale konnte die Übertragung architektonischer Verhältnisse und Strukturen in mehr oder weniger flache Bilder - Reliefs - nachgewiesen werden. In diesem Sinne kann auch von einer Perspektive mittelalterlicher Portale gesprochen werden. Für diese perspektivische Form ist die Deutung Dehios, die bis heute gleichsam einen Topos der Portalbeschreibung bildet und in einer modernen Auffassung der Perspektive wurzelt, kaum noch passend. Er schreibt: „ . . . sind dann noch Säulen und Rundstäbe in die W i n k e l eingestellt, so kommt der reichste Eindruck zur Vollendung, so w i r d das Portal gleichsam zum Hohlspiegel, der das verjüngte Abbild der Innenperspektive mit ihren Pfeilern, Säulen und Arkaden nach außen wirft." 4 8 Diese Interpretation der Räumlichkeit des mittelalterlichen Portals setzt außer dem Verständnis für Perspektive auch eine Deutung der mittelalterlichen Architektur als Raumerlebnis voraus. Es ergibt sich jedoch bereits aus den vorangehenden Betrachtungen, daß diese Räumlichkeit keineswegs im Sinne eines Raumkontinuums, sondern eher als ein Hintereinander von Objekten charakterisiert werden darf. D i e Komposition des romanischen Säulenportals ist in ihrer räumlichen Anordnung grundsätzlich auf eine Abstufung nach Raumschichten gegründet, in der die Formen in den einzelnen Ebenen gleichsam als hintereinander geschoben, z. T. voneinander überschnitten erscheinen. Bei Stufenportalen ist es mit plattenartig aufgefaßten Mauerschichten der Fall, die einander vorgeblendet werden. Diese plattenartige Geschlossenheit der Grundflächen blieb am längsten in der Hinterwand des Portals, in der Struktur von Türpfosten, Sturz und Bogenfeld lebendig. Das Prinzip der Verblendung bleibt auch später in der gotischen Portalgliederung herrschend, indem Kapitelle oder zumindest Kämpfer der eingestellten Säulen nur auf der einen Seite frei, also in ihrer räumlichen Ausdehnung beschränkt verwendet werden. D i e hinten liegenden Formen werden von den vorderen verdeckt und überschnitten, wodurch der Eindruck entsteht, als wenn nicht sichtbare Formfragmente in der Mauer steckten. Dabei kann nur scheinbar von Verschmelzung, Vereinheitlichung oder Verkröpfung die Rede sein - w i e auch immer diese Erscheinungen in formaler Hinsicht heißen mögen. D i e Gesamtanlage rechnet vorwiegend mit der Frontalansicht, in der die Aufeinanderbezogenheit der
299
Einzelformen und ihre Integrierung klar zu Tage tritt. Ein anderer, mehr oder weniger wirksamer Faktor für die Gestaltung von Portalanlagen ist die Diagonalansicht, die sich folgerichtig aus ihrem Nischencharakter ergibt. Alle Portale sind Nischen mit einer Wandschräge, die, obwohl in verschiedenem Maße, überall zur Geltung kommt. Von Anfang an spielt diese Schrägansicht in der Komposition der Gewände und der Archivolten gotischer Figurenportale eine Rolle, wo die Figuren - etwa auf der Stilstufe von Chartres/West - in der Diagonalrichtung grundsätzlich Einzelgestalten bleiben. Besonders die figurenbesetzten Portalgewände sind es, die uns die Grundsätze der räumlichen Anordnung der mittelalterlichen Portalgliederung näher bringen können. In der Verquickung von Frontal- und Schrägansicht kommen an den Portalen ähnliche Methoden der Raumerfassung und -darstellung zur Geltung, w i e in der Reliefskulptur. Analog der Frontalität und der Isolierung der Relieffigur herrscht die Frontalität auch an den Portalen vor, und das oben angedeutete Verfahren der Gewändegliederung und der Figurenanbringung findet im Hintereinander schräg zur Grundfläche aufgestellter Figuren an Reliefs des 12. Jh. eine Parallele. 4 9 Das gleiche Verfahren begegnet immer wieder bei Bild-Darstellungen, wo zur Abbildung einer Masse die teilweise Überschneidung oder Verdeckung der Figuren seit der Antike üblich war. Es handelt sich hier ebenfalls um eine Verquickung der Frontal- und der Schrägansicht - gleichgültig ob es sich um eine Seiten- oder um eine leichte Aufsicht handelt. Im Grunde genommen ist es eine Art axonometrischer Perspektive, deren Anwendung die Grundlage der Flächenprojektion von stereometrischen Massen, nicht nur von Architekturen, sowohl in Bildern als auch in der Planung bildete. D i e Portalarchitektur läßt eine Beurteilung vor allem als Gruppierung von kompakten, massenhaften Gebilden zu. Ihre Auffassung als Hohlraum einheitlicher Struktur erscheint völlig abwegig. 5 0
48
GEORG
DEHIO/GUSTAV
V.
BEZOLD,
Die
kirchliche
Baukunst
des Abendlandes, Bd. I, Stuttgart 1 8 9 2 , S. 698. Siehe auch GEORG DEHIO, Geschichte der deutschen Kunst, Text Bd. I, 4. Aufl., Berlin/Leipzig 1 9 3 0 , S. 1 3 3 ff. 49
MESSERER
1959
wie
Anm. 26,
S. 7 2 f.
(zur
geschichteten
Wirkung des romanischen Reliefs besonders lehrreich ist S. 35 ff.). 50
Vgl.
diesbezüglich
ERWIN PANOFSKY, D i e
Perspektive
als
„symbolische Form", in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1 9 2 4 1 9 2 5 , Berlin/Leipzig 1 9 2 7 , S. 2 6 8 ; J. WHITE, The Birth and Rebirth of Pictorial Space, London 1 9 5 7 , S. 26 ff.
300
ERNÖ
Kaum zufällig steht der weitere Verräumlichungsprozeß der Portale vor allem mit ihrem Figurenschmuck im Zusammenhang. Die Zweideutigkeit des frühgotischen Portalgewändes als eines frontalen Gebildes und als eines Trägers diagonal gestellter Figuren ist es, durch die die Weiterentwicklung des Portalgewändes zu einem Figurenschrein angeregt wurde. Zwischen der zunehmenden Diagonalität der Gliederung des Baus im Inneren und der der Portale kann nur eine formale Parallele angenommen werden, da die Portale von der treibenden Kraft der inneren Raumbildung, der Verbindung mit der Gewölbestruktur, bis in spätgotische Zeit völlig unberührt blieben. So spielen Tendenzen der Diagonalgliederung von Diensten und Säulen für den Portalbau eher eine untergeordnete Rolle und sind meist nur Übernahme aus dem Formenrepertoire der Großarchitektur im Zuge der allgemeinen stilgeschichtlichen Entwicklung. Anders verhält es sich mit dem Figurenschmuck. Seit der Anbringung von Säulenfiguren in Portalgewänden läßt sich die Tendenz nachweisen, sie nicht nur im Reliefzusammenhang der Gewände, sondern zugleich als vollwertige Einzelfiguren zur Geltung kommen zu lassen. Diese Tendenz läßt die über ihnen angebrachten Baldachine und die Standflächen bzw. Sockel, die ihnen durch räumliche Absonderung eine eigene Würde verleihen, deutlich erkennen. 51 Schon die Schwankungen in der Betonung des einen oder des anderen Aspekts des Gewändes erweisen jene Zweideutigkeit der Figurenportale. An den Portalen der klassischen Hochgotik wurde diese Zweideutigkeit gegen 1200 zugunsten der Figuren entschieden, als ihre Baldachine zu einer Reihe zusammenwuchsen und sie zugleich auf einem schräg geführten Sockel ihren Platz fanden. Die Stufengliederung des Portalgewändes wich damit einer schrägen Grundfläche hinter den Figuren, die auch dann ihre Wirkung beibehielt, als sie auf der Stilstufe von Sens oder der Querschiffportale von Chartres durch Säulen gegliedert wurde. Damit ergriff der Aufbau aus Tabernakeln die gesamte Portalanlage, die nicht nur als Gesamtwerk auf diese Weise komponiert wurde, sondern sowohl hinsichtlich der Gewände als auch hinsichtlich der Einzelteile, Trumeau und Archivolten, als eine von Figurentabernakeln zusammengesetzte Struktur erscheint. Um die Mitte des 13. Jh. wurden aus dieser Entwicklung die Schlußfolgerungen gezogen: Der Aufbau des durch Figurennischen gegliederten Portals wurde herausgebildet,
MAROSI
und er verlor bis in die Spätgotik nichts von seiner Gültigkeit. 5 2 Das Südquerschiffportal von NotreDame in Paris weist als erstes die endgültige Lösung auf, in der das Figurentabernakel für die gesamte Anlage, sogar auch für die trennende Baldachinreihe zwischen den beiden Reliefstreifen des Tympanons die Norm abgibt. Für die Gewändefiguren wurde ein Nischenraum geschaffen, der sie ebenso aufnimmt wie die Statuentabernakel die selbständigen Statuen. Dieser Raum ist zugleich der Existenzbereich der Figuren. 53 Dieser Portalaufbau erwies sich als geeignet, sogar für szenische Zusammenhänge zwischen den Figuren eine räumliche Bühne zu schaffen. 54 Die wohl aus der Epiphanie-Thematik hervorgegangenen Stifterdarstellungen mit Schutzheiligen erhielten ihre monumentalste Prägung am Champolportal des Claus Sluter in Dijon. Das Portal der Karthause ist wie eine Verdoppelung von Diptychen, wie sie von Dedikationsbildern in Handschriften und von Epitaphien bis zu Tafelbildern in der zweiten Hälfte des 14. und der ersten Hälfte des 15. Jh. geläufig waren. 55 Die in den Grundzügen konventionell geglie-
51 Je nach dem Verhältnis von Säule und Figur, Kapitell und Statuenbaldachin kann man ganz verschieden ausgerichtete Lösungen in der Reihe frühgotischer Portale selbst unter genetisch zusammenhängenden W e r k e n unterscheiden - w i e etwa innerhalb der Reihe der Nachfolgewerke der Westportale von Chartres.
Siehe
WILLIBALD
SAUERLÄNDER,
Gotische
Skulptur
in
Frankreich
1 1 4 0 - 1 2 7 0 , München 1 9 7 0 , Taf. 1 7 (Le Mans), 25 (St-Loup-leNaud), 3 1 (ßtampes), 3 3 (Angers), 34, 37 (Bourges). 5 2 D i e Reihe von Spitzbogennischen im Portalgewände wie am Westportal
von
Rampillon
(SAUERLÄNDER
1970
wie
Anm.
51,
Taf. 1 8 0 f.) stellt eine besondere Lösung dar. 63 Die hier in ihren Hauptlinien an Figurenportalen aufgezeigte Entwicklung läßt sich auf eine ähnliche W e i s e auch an der Gattung der in reinem Stabwerk gegliederten Portale nachweisen. Fraglich muß bleiben, ob letztere sich unter dem Einfluß der Figurenportale in ähnlicher Weise herausbildeten oder eine eigene, kontinuierliche Entwicklungsgeschichte hatten. - Grundl e g e n d ist WALTER PAATZ, V o n
den Gattungen
und v o m
Sinn
der
gotischen Rundfigur, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Jg. 1 9 5 1 , 3. Abhandlung,
Heidelberg
1951.
Siehe
auch
HANS
GERHARD
EVERS, Die acht Seiten der spätgotischen Skulptur, i n : Festschrift Friedrich Gerke, Baden-Baden 1 9 6 2 , S. 1 4 9 ff. 5 4 Dazu kommt es besonders bei ikonographischen Programmen, die eine Darstellung einer Handlung am Portal erlauben, wie etwa die klugen und die törichten Jungfrauen, die Verkündigung oder die Anbetung der Könige. Besonders die Thematik der Anbetung scheint dazu geeignet gewesen zu sein, das Portal in eine räumliche Einheit umzudeuten. 55
Vgl.
ERWIN
PANOFSKY, E a r l y
Netherlandish
Painting,
Aus-
gabe N e w York/Evanston/San Francisco/London 1 9 7 1 , Bd. I, S. 1 3 9 f. - Siehe jetzt auch R. TENNER, Bemerkungen zur „Madonna des Kanonikus van der Paele", in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 42, 1 9 7 9 , S. 8 3 ff.
Zum Prinzip des „pars pro toto" derte Portalrahmung erscheint in Dijon als eine einzige Nische, die statt der durch die Gewändeprofilierung gebildeten vielen Nischen als Schauplatz einer Handlung eine neue Rolle bekam. In dieser ihrer Eigenschaft erscheint sie nicht unähnlich den gemalten Innenräumen, die die Figuren am Dresdener Triptychon oder an der Paele-Madonna des Jan van Eyck aufnehmen. 56 Auch kann dieses Portal nach demselben perspektivischen Prinzip wie die Raumdarstellungen der frankoflämischen Malerei gelesen werden. D a s Portal als stereometrisches Gefüge von Massen erhielt auf dieser Stufe eine neue Qualität. Es ist Innenraum geworden, in dem die Gesetze eines Kontinuums herrschen. Hier dominiert nicht mehr das Prinzip der Vorblendung der Gewändestufen, sondern das der Bezogenheit der Wände auf die Achse des Schreinraumes. Es ist kein Wunder, wenn räumlich aufgefaßte Portale - als Kuppel- oder Gewölberäume - in derselben Zeit erscheinen. 57 Von allen diesen Denkmälern läßt das Parlersche Portal am Südquerschiff von St. Veit in Prag wohl am besten den Übergang von der klassisch gotischen zur spätgotischen Räumlichkeit erkennen. 58 E s zeigt nämlich einen Aufbau, an dem die Herkunft von der spätklassischen Portalanlage noch deutlich ablesbar ist. Zwei abgestufte Nischen mit Statuenpostamenten und übereinander gestellten Statuenbaldachinen bilden das Gewände - analog dem an NotreD a m e von Paris ausgebildeten Schema. Insgesamt stellt sich das Gewände aber als ein Rahmen mit halbrundem Abschluß dar, vor dem der Trumeaupfeiler frei steht. Dieser trägt auch einen klassischen Figurenbaldachin, im übrigen aber dient er sowohl den beiden frei im Rahmen gespannten Halbkreisbögen, die den Türeinrahmungen entsprechen, als auch den freien Rippen des Springgewölbes, das zur dreifachen Öffnung der Vorhalle hinüberleitet, als Stütze. D i e Statuennischen des Portalgewändes finden auch an der Vorhallenwand ihre Fortsetzung. D i e gesamte, äußerst gewagte und zugleich in die Zukunft weisende Komposition besteht aus lauter Elementen und beruht auf Strukturgesetzen, die seit langem bekannt waren und seit der Einführung der Statuennischengewände im Portalbau verwendet wurden. Es sind die Prinzipien der Räumlichkeit des Gewändes und der Vorblendung seiner Schichten.59 D a s hochgotische Prinzip der Vorblendung findet an spätgotischen Portalen oft in der Zusammensetzung von heterogenen Formen und Portaltypen eine
301
Fortsetzung. D i e Portale der St. Elisabethkirche von Kaschau, ein Werk von parlerisch geschulten Steinmetzen, zeigen exemplarisch eine in der Spätgotik oft begegnende Tendenz. 6 0 Durch ihre Kompositior wird die Rolle des Portals als Bildträger betont. Kern der komplizierten Schichtung des Westportals ist z. B. eine einfache Rechtecköffnung, die von einem geradlinigen Rahmen mit Konsolen umgeben wird. Zwischen den beiden flankierenden Fialen befindet sich ein waagerechtes Gesims mit Zinnen, während oben ein Kielbogenwimperg schwebt, der das äußere Stabbündel der Türumrahmung fortsetzt. Den Türsturz bildet ein Ölbergrelief, während oben die Reliefdarstellung einer Pietà und einer Veraikon angebracht sind. E s ist höchst charakteristisch, wie die Räumlichkeit der kompliziert ineinandergeschobenen
56
PANOFSKY
1971
wie
Anm. 55,
S. 78
ff.
A m Südquerschiffsportal Peter Parlers von P r a g wurden P o r t a l g e w ä n d e und V o r h a l l e n w a n d , Archivolten und G e w ö l b e untrennbar miteinander verschmolzen, an den L a n g h a u s p o r t a l e n von M a r i a a m G e s t a d e in Wien bilden Portal und V o r h a l l e ein dreiseitig geöffnetes K u p p e l t a b e r n a k e l . W e i t e r e räumliche Verschmelzungsformen als V o r s t u f e n für spätgotische Portale, die nun den W e g d e r reliefartig angedeuteten Räumlichkeit zugunsten realer Räumlichkeit verlassen, wurden v o n H a n n s von B u r g h a u s e n an St. M a r t i n in L a n d s h u t oder M a d e r n Gerthener a m D o m zu F r a n k f u r t geschaffen. Baldachinarchitektur und „ G e r t h e n e r - M o t i v " 57
sind
als
Synonyme
bezeichnet
von
FRIEDRICH
WILHELM
FISCHER,
D i e spätgotische Kirchenbaukunst a m Mittelrhein 1 4 1 0 - 1 5 2 0 , S. 2 2 ff. V g l . auch d a s Register. Z u r Wiener Kirche M a r i a am G e stade siehe d a s . S. 4 7 f. D a s Buch ist auch für die Stellung der K u n s t des Meisters H a n n s v o n B u r g h a u s e n v o n großer Wichtigkeit. 5 8 V g l . die A n a l y s e von ERICH BACHMANN, ZU einer Analyse des Prager V e i t s d o m s , i n : Studien zu Peter Parier. H r s g . v o n
K . M . SWOBODA
und
E . BACHMANN,
Brünn
1939,
S. 35
ff.
-
Zur
K o m p o s i t i o n ist d a s das. S. 4 5 erörterte Prinzip des „ F e n s t e r s im F e n s t e r " einleuchtend. V g l . auch GÖTZ FEHR, B e n e d i k t R i e d . E i n deutscher B a u m e i s t e r zwischen G o t i k und R e n a i s s a n c e , M ü n chen 1 9 6 1 , S. 92. - D e r W e s t p o r t a l b a l d a c h i n v o n M a r i a a m G e s t a d e in Wien wird d a s . S. 9 6 als verkleinerte V a r i a n t e der S ü d v o r h a l l e des V e i t s d o m e s interpretiert. Z u H a n n s v o n Burghausen und M a d e r n Gerthener siehe das. S. 9 9 ff., vgl. auch Anm. 57. 59 Die kontinuierliche Räumlichkeit der P r a g e r V o r h a l l e ist letzten E n d e s eine F o l g e der Verräumlichung des G e w ä n d e s im 13. J h . D i e s e räumliche Schichtung erhielt in L a o n und Chartres im P o r t a l v o r b a u ihren Ausdruck, w ä h r e n d in A m i e n s d i e Fortsetzung der P o r t a l g e w ä n d e in tonnengewölbten Zwischenräumen zwischen den f a s s a d e n g l i e d e r n d e n Strebepfeilern und die in die Spitzbogenöffnungen eingefügten M a ß w e r k v e r z i e r u n g e n vielfach v e r w e n d e t e L ö s u n g e n des 14. J h . v o r w e g n e h m e n . 60 Zur Geschichte und zur stilistischen A b l e i t u n g des B a u e s vgl. ERNÖ MAROSI, D i e zentrale R o l l e d e r B a u h ü t t e von K a s c h a u ( K a s s a , K o ä i c e ) , i n : A c t a H i s t o r i a e A r t i u m X V , 1 9 6 9 , S. 4 9 ff. - Hinsichtlich des P o r t a l a u f b a u e s weist d a s S ü d w e s t p o r t a l der Frauenkirche zu Eßlingen ähnliche Z ü g e a u f : HANS KOEPF, D i e B a u k u n s t d e r S p ä t g o t i k in Schwaben, i n : Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 1 9 5 8 , A b b . 4.
302
ERNÖ
architektonischen Formen durch die Einbeziehung der Umrahmung in die Ölbergszene am Türsturz verdeutlicht w i r d : Gottvater erscheint gleichsam durch das Fenster eines Raumes, der aus dem Stabbündel der Türrahmung besteht. Offenbar ist hier dieselbe Auffassung des Schreinraumes zu konstatieren, die sich etwa in der Nische der Ulmer Kargretabel von Hans Multscher offenbart. 6 1 D i e Räumlichkeit des Portals ist nun ein Bildmittel geworden. Demselben Räumlichkeitsverständnis vorgeblendeter Gewändenischen begegnet man in voller Reife bei Rogier van der Weyden, etwa an seinen Madonnen von Lugano und Wien oder am Miraflores-Altar, und zwar immer auch der typologischen Symbolik entsprechend bewertet. 6 2 Solche Parallelen lassen Fragen nach dem Zusammenhang zwischen architektonischem Raum und Bildraum entstehen.
Bildtabernakel, Schrein und Bildrahmen D i e umfassende Architektonisierung aller Kunstzweige und -gattungen in der Hochgotik ist ein Leitsatz der Kunstgeschichte. Ohne besondere Mühe könnte jeder Kunsthistoriker eine Menge von Beispielen für diese Erscheinung nennen, die von Wimpergen eingefaßte Bilder auf gemalten Buchseiten, dem Aussehen realer Bauten entsprechende Reliquienschreine und architektonisch gegliederte Elfenbein- und Goldschmiedewerke und schließlich auch Altarretabel einschließt, deren Komposition, wie etwa bei dem von Oberwesel, dem Aufbau und der Gliederung von Fassaden entspricht. 63 Es ist nur eine Frage, ob es sich dabei um eine äußerliche Übernahme infolge des großen Ansehens der Architektur handelt oder um einen Teil des Wesens dieser Werke. Fragmentarisch erhaltene Werke, aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissene Bilder und Skulpturen haben wesentlich zur Relativierung des Verhältnisses zwischen Architektur und Bild beigetragen. Das autonome Bild erweist sich auch insofern als eine moderne, der mittelalterlichen Auffassung fremde Vorstellung, als es im Mittelalter nur ausnahmsweise zu freier Aufstellung vollplastischer oder bildlicher Darstellungen kam. Das Bildtabernakel oder der Bildrahmen darf daher wohl kaum als gleichgültiges Beiwerk aufgefaßt werden; er machte vielmehr den wesentlichen Bestandteil des Bildes aus. Auch die Profilierung des in den einfachsten For-
MAROSI
men gehaltenen Rahmens ist in diesem Sinne eine im Relief angedeutete architektonische Form. Andererseits macht das einzelne Bild bei komplizierten Serien nur selten vor der Rahmung halt. Bekanntlich werden Darstellungen oft auf dem Rahmen oder über ihn hinaus fortgesetzt, was zugleich zu einer Vermischung der Darstellungsmedien und -modi führt. In der Rahmung von italienischen Altartafeln wurden den Darstellungsinhalt ergänzende Bilder nicht selten in Medaillons oder unter kleinen Tabernakeln angebracht. Am Bargello-Diptychon erscheinen Engel und Propheten in den Zwickelfeldern der Architektur, außerhalb des „Bildfeldes". 6 4 Auch findet man oft Darstellungen, die sich trotz des Rahmens fortsetzen. So respektiert z. B. die Arche Noah am rechten Gewändesockel des linken Westportals der Kathedrale von Auxerre die Medaillonfolge nicht; das Bild setzt sich hinter dem Gitter der Vierpässe und des Stabwerks fort. 6 5 Es handelt sich auch in diesem Fall um das bereits erwähnte Prinzip der Vorblendung, nur mit dem Unterschied, d a ß die Rahmenform einem kontinuierlichen Bilde vorgeblendet wurde. Dasselbe Prinzip begegnet in der Folgezeit öfters und fast regelmäßig an solchen Altarwerken, deren Nischenfiguren sich zu einer geschlossenen Gruppe zusammenfügen. Sie bilden Vorstufen zur Sacra conversazione der Hochrenaissance. Diese Entwicklung läßt die Frage aufwerfen, ob man bei einem solchen Verhältnis von Bild und architektonischer Gliederung mit der Andeutung eines Einheitsraumes rechnen darf, d. h. ob es sich um einen Ansatz zur modernen
61
Vgl.
die Analyse
von
WALTER PAATZ, S ü d d e u t s c h e
Schnitz-
altäre der Spätgotik, Heidelberg 1963, S. 14 ff., siehe auch PANOFSKY 1 9 7 1 wie Anm. 55, S. 265 ff. 62
PANOFSKY
1971
wie
Anm. 55,
S. 2 6 0 f . ; K .
M.
BIRKMEYER,
The Arch Motif in Netherlandish Painting of the fifteenth Century, in:
The
Art
Bulletin
XLIII,
1961,
S. 1 9 ff.,
1 0 4 ff.; E . GULDAN,
E v a und Maria. Eine Antithese als Bildmotiv, Graz/Köln 1966, S. 70 f . ; siehe auch 2 s . URBACH, Domus D e i est et porta Coeli. Megjegyzesek Petrus Christus Madonna-kepenek ikonogräfiähoz (Bemerkungen zur Ikonographie des Budapester Madonnenbildes von Petrus Christus), in: fipites- Epiteszettudomäny V, 1973, S. 341 ff. 63 Vgl. das Stichwort „Altarretabel" (J. BRAUN) in Reallexikon der deutschen Kunstgeschichte, Bd. I, 1973, Sp.529 ff., besonders Sp. 535 ff.; M.-M. GAUTHIER, D u tabernacle au retable. Une Innovation limousine vers 1230, in: Revue de l'Art 4 0 - 4 1 , 1978, S. 23 ff., besonders S. 36 f. 64
V g l . G E O R G TROESCHER, B u r g u n d i s c h e M a l e r e i ,
Berlin
1966,
S. 158 und Abb. 1 4 9 ; G.RING, A Century of French Painting 1 4 0 0 - 1 5 0 0 , O x f o r d / N e w York 1959, S. 191. 65 U. QUEDNAU, D i e Westportale der Kathedrale von Auxerre, Wiesbaden 1979, Abb. 101.
Zum Prinzip des „pars pro toto"
303
4 Karlstein (Karlstejn), Marienkapelle, Reliquienszenen und Sockelmalerei an der Südwand, um 1357/58
Bildperspektive handelt oder nicht. D i e Frage ist um so berechtigter, als die Keime des zentralperspektivischen Verfahrens der Renaissance gerade bei Darstellungen nachgewiesen werden, die die kompositionelle Rolle der vorgeblendeten Architektur mit dem Relief in Auxerre gemeinsam haben 6 6 wie etwa die Darbringung im Tempel von Ambrogio Lorenzetti. D i e Frage nach einem zu vermutenden gotischen „Illusionismus" kann am ehesten am Beispiel der gemalten „Scheinarchitekturen" geprüft werden, wie sie besonders im späten 14. Jh. Verbreitung fanden. 6 7 Als allgemein bekannte Beispiele lassen sich etwa dekorative Malereien des Matteo Giovanetti im Papstpalaste von Avignon, die Sockelmalereien der Marienkapelle auf der Burg Karlstein oder die gemalte Loggia in der Sala della Nuziale des Palazzo Davini-Davanzati in Florenz anführen. Sie weisen sehr verwandte Kompositionsprinzipien im Aufbau der Bildarchitektur auf. Die komplexesten von ihnen sind die Malereien in Karlstein, wo sich unter den in Innenräumen dargestellten Reliquienszenen eine Säulenhalle befindet, während unter den Wandbildern der Apokalypse eine durch einen gemalten
Vorhang halb verdeckte Baldachinenreihe vor einer gemalten Nischenwand erscheint. Hier deutet die Konsolenreihe des Gesimses auch das beiderseits auf die Mittelachse bezogene System der Schrägansichten, ein Fischgratlinienmuster, an. Doch liegt es nur der Darstellung der Grenzflächen des langgezogenen Raumes zugrunde, während die einzelnen Nischen sowohl in der perspektivischen Andeutung ihrer Verkürzung (vollständige Rundbogen, die die herabhängenden Eckkonsolen durchschneiden) als auch in ihrem Verhältnis zur Wand dahinter von der folgerichtig verwendeten Vorblendung bestimmt werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Darstellungssystem der Säulenhalle unter den Reliquienszenen, bei dem sowohl die Vorblendung von mannigfaltigen Öffnungsformen als auch die folgerichtige Verschiebung von Frontal- und Schrägansichten eine Rolle in der Her-
6 6 Vgl. M . CÄMMEKER-GEORGE, D i e Rahmung der Altarbilder im Trecento, Strasbourg 1 9 6 6 , S . 1 5 5 ff. 6 7 Vgl. zusammenfassend S. CZYMMEK, Wirklichkeit i n : D i e Parier und der Schöne Stil 1 3 5 0 - 1 4 0 0 . Kunst unter den Luxemburgern. Ein Handbuch zur des Schnütgenmuseums in der Kunsthalle K ö l n , Bd. 3 , S . 2 3 6 ff.
toskanischen undlllusion, Europäische Ausstellung Köln 1978,
304
E R N Ö MAROSI
5 Lincoln, Kathedrale, Arkaden an der südlichen Seitenschift'swand des „St. Hugh's Choir", Anfang des 13. Jh. v o r r u f u n g der W i r k u n g eines sehr komplizierten, dreischiffigen R a u m e s spielen. H i e r erkennt man ähnliche Kompositionsprinzipien wie bei der Untersuchung der P o r t a l g e w ä n d e . Dieselben Züge lassen sich bereits zwei J a h r h u n d e r t e f r ü h e r an den Nischen der unteren Seitenschiffswand des Kathedralchors von Lincoln nachweisen, wo durch die V o r b l e n d u n g von D r e i p a ß a r k a d e n vor Spitzbogennischen eine ähnliche perspektivische W i r k u n g wie bei dem Karlstein-Beispiel entsteht. D e r unterschiedliche C h a r a k t e r der O r n a -
mente u n d die verschiedene Farbigkeit
des
Mate-
rials der beiden Reliefschichten spielen dabei
eine
wichtige Rolle. 6 8 D i e s e ältere englische Parallele ist noch in zweifacher Hinsicht f ü r die D e u t u n g der Bei-
08
S i c h e G . WEBB, A r c h i t e c t u r e in B r i t a i n . T h e M i d d l e
Harmondsvvorth
1956,
S. 7 7 f. -
Vgl.
die
Beschreibung
Ages, dieser
G l i e d e r u n g s w e i s e i n : G i r a l d i C a m b r e n s i s v i t a s. H u g o n i s e p i s c o p i Lincolniensis, um lapidibus,
1213
marmoreisque
(Bischof
Hugo von
columncllis,
Lincoln):
alternatim
et
„ex
positis, et t a n q u a m picturis variis, a l b o n i g r o q u e , n a t u r a l i colorum
varietate
distinctis,
potest, erigere curavit."
incomparabiliter,
sicut
OTTO LEHMANN-BROCKIIAUS,
pariis
congrue nunc
dis-
tarnen cerni
Lateinische
S c h r i f t q u e l l c n z u r K u n s t in E n g l a n d , W a l e s u n d S c h o t t l a n d
vom
J a h r e 9 0 1 bis z u m J a h r e 1 3 0 7 , M ü n c h e n 1 9 5 5 - 1 9 6 0 , N r . 2 3 6 7 .
Zum Prinzip des „pars pro toto" spiele des 14. Jh. besonders lehrreich. 69 Erstens wurde hier ein geschichteter Kastenraum faßbar verwirklicht und zweitens wird deutlich, daß es sich bei dieser Räumlichkeit keineswegs um ein Raumkontinuum, sondern um einen objektiv bestimmten, den Formen der Säulen und der Arkaden anhaftenden Aggregatraum handelt. Diese Räumlichkeit ist es, der man in gemalten Architekturen häufig begegnet. Eben dadurch unterscheiden sie sich von modernen illusionistischen trompe-l'oeil-Witkungen. Charakteristisch für diese Art sind Nischen - besonders Sakramentshäuschen - der Spätgotik, die mittels gemalter Architektur zu umfangreicheren Gliederungen ergänzt und umgedeutet wurden. Für eine lange Reihe von Denkmälern mag hier ein im letzten Drittel des 15. Jh. entstandenes Stück an der nördlichen Chorwand der Pfarrkirche von Georgenberg in der Zips stehen. 70 Den Kern der Anlage bildet eine einfache, giebelbekrönte steinerne Sakramentsnische, die gleichsam die höchste Realität, die Eucharistie vertritt. Sie wird - wohl in Nachahmung freistehender Sakramentshäuschen - mit einer gemalten zweigeschossigen Turmarchitektur fortgesetzt, die in ihren Tabernakeln unten eine von Engeln getragene Monstranz, die auf dem Giebel der Nische zu stehen scheint, darüber die Figur des Schmerzensmannes zeigt. D i e ikonographischen Beziehungen zum Sakramentshaus bedürfen keiner weiteren Erörterung. An den Flanken sind unter Tabernakeln Bewohner der Himmelsstadt, die Apostel Petrus und Paulus, Propheten und Engel abgebildet. Das eher provinzielle Werk läßt dieselbe konsequente Abstufung des Realitätsgehalts der Darstellungsmittel erkennen wie seine Vorbilder von höherer künstlerischer Qualität. 7 1 Das Beispiel der in Teilen nur gemalten Tabernakel, derer man sich im Spätmittelalter vermutlich oft mangels ausreichender Mittel zur Errichtung kostbarer Sakramentshäuschen in Stein bediente, steht keineswegs allein. Eine ähnliche Vorbildwirkung der Bildtabernakel liegt auch anderen sowohl plastischen als auch gemalten Darstellungen zugrunde. Alle Typen der mittelalterlichen Altarretabel können letzten Endes auf die Form des Tabernakels zurückgeführt werden. Sowohl das durch Türflügel verschließbare Statuengehäuse als auch das als eine Reihe von Türmen gebildete Retabel geht auf diese Grundform zurück. 72 Das turmförmig bekrönte Gehäuse bildete bis ins späte Mittelalter hinein ebenso das konstruktive Element für den Flügelaltar nördlich 20
Architektur
305
der Alpen, wie das die meist den Wimpergreihen hochgotischer Portalanlagen ähnliche Folge giebelförmig abgeschlossener Bildnischen für den Typus des italienischen Polyptychons tat. Turmartig übereinandergestellte Figurennischen dienten dem Polyptychontypus als Vorbild, dessen wichtigster Vertreter der Sieneser Maiestäaltar von Duccio war. Diesem Typ liegt eine Reihe von Wimpergen aus flachen Figurennischen unter Giebeln zugrunde. 73 Die obere Reihe bestand weiter meist aus paarweise angebrachten Arkaden unten und einem Bildwimperg oben. D i e ganze Anlage ist der des Aachener Dreiturmreliquiars mit vollplastischen Bildwerken nicht unähnlich. Diese Sieneser Retabel mit ihrer Reihung von vertikalen Einheiten, die - wie am Maiestäaltar von Duccio oder an der Verkündungstafel des Simone Martini und Lippo Memmi - schon frühzeitig zu szenengefüllten Einheitsräumen verschmolzen wurden, sind gleichsam Flachprojektionen von Turmbauten mit übereck aufeinandergesetzten Figurengeschossen.
6 9 Einer ähnlichen Deutung bedürfen auch Beispiele des „Illusionismus" der Spätgotik in architektonischen Zusammenhängen, besonders von Fassaden - u. a. der Querschiffsfassade in Mühlhausen/Thüringen und der Altstädter Brückenturmfassade in Prag. A. NEUMAYER, The Meaning of the Balcony-Scene at the Church of Muelhausen in Thuringia, in: Gazette-des-Beaux-Arts 1 9 5 7 , S. 3 0 5 ff., und H. R. HILGER, Die Skulpturen an der südlichen Querhausfassade von St. Marien zu Mühlhausen in Thüringen, in: Wallraff-Richartz-Jahrbuch X X I I , 1 9 6 0 , S. 1 5 9 ff. 70
V . DVORAKOVA/JOSEF
KRASA/KAREL
STEJSKAL,
Stredovekä
nästennä malba na Slovensku, Praha/Bratislava 1 9 7 8 , S. 143. Als ein sowohl seiner Ausführung als auch seiner Ikonographie nach anspruchsvolleres Beispiel dieser Gattung siehe das gemalte Tabernakel des Thomas von Villach an der nördlichen Chorwand der Pfarrkirche zu Thörl. F. ZAUNER, Das Hierarchienbild der Gotik. Thomas von Villachs Fresko in Thörl, Stuttgart 1 9 8 0 , Taf. 10 a, 10 b und S. 73 f. 7 1 In dieser Wandmalerei begegnet man letzten Endes denselben Mitteln zur Wiedergabe baulicher Zusammenhänge wie in der Mehrzahl der Baupläne der Zeit. Bei diesen sind perspektivisch aufgefaßte Zeichnungen eine Seltenheit; denn infolge der Vorherrschaft der Orthogonalprojektion deuten die Werkrisse die Räumlichkeit meist mittels Vorblendung bzw. Verdeckung der sich verkürzenden Seiten an. Siehe auch HANS KOEPF, Die gotischen Planrisse der Wiener Sammlungen, W i e n / K ö l n / G r a z 1 9 6 9 , S. 3 0 f. - Zur Rolle des Tabernakels im Gefüge spätgotischer Retabel vgl. auch den Rekonstruktionsvorschlag des Genter Altars von PH. L. BRAND, The Gent Altarpiece and the Art of Jan van Eyck, Princeton 1 9 7 1 . 72
P A A T Z 1 9 5 1 w i e A n m . 5 3 , S . 1 0 ff.
73
Vgl.
d i e A u f t e i l u n g v o n CÄMMERER-GEORGE
1966 wie
Anm.
6 6 . Für die „Polyptychonform von Florenz" siehe S. 5 0 ff., besonders S. 57 ff. - F ü r die Sieneser Typen siehe S. 137 ff. Über den Ursprung des mehrgeschossigen Typs in Zusammenhang mit Bernardo Daddis S. Pancrazioaltar das. S. 111 ff.
306
E R N Ö MAROSI
Der Akzent liegt dabei auf der Figur, deren Masse den Raum des Gehäuses wie einen Aggregatraum um sich organisiert. Dadurch entsteht auch hier eine Hierarchie von räumlichen Werten, von Abstufungen der Reliefmassen, die auf einen Kastenraum bezogen zu sein scheinen. Das architektonische Rahmenwerk tritt bei diesen Bildern weniger als Rahmen einer Tür- oder Fensteröffnung auf, wie man die auf einen anderen, perspektivischen Raum geöffneten Bildrahmen der Neuzeit zu deuten pflegt, als in seiner Funktion als Abgrenzung des Bildgehäuses. Das durch die Rahmenprofilierung angedeutete architektonische Relief findet entweder im dreidimensionalen Kasten zur Aufstellung rundplastischer Figuren oder in der schmalen Raumschale der Reliefschicht oder in der hinteren Raumgrenze des perspektivisch angedeuteten Bildraumes seine Fortsetzung. Dieselben Prinzipien, die beim Portalbau ihre Anwendung fanden, nämlich das der Vorblendung und das der Verquickung von Frontal- und Schrägansicht, dienen an diesen Werken der Darstellung kubischer Kästen in der Art von Schreinen und Tabernakeln. Wenn Szenen in diesen Kästen sichtbar werden, dann entspricht das keineswegs dem von der Perspektivlehre der Renaissance eingeführ-
ten Guckkastensystem, sondern eher der Darstellung von Baulichkeiten mit geöffneten Wänden in Szenen, die gleichzeitig das Äußere und das Innere sehen lassen. An der Qualität dieser Kastenräume ändert die Anwendung von Elementen der Zentralperspektive, besonders in der Darstellung von Raumgrenzen - etwa an gemusterten Fußböden oder Kassettendecken-, und die konsequenteDurchführung von Verkürzungen und perspektivischen Verzerrungen wenig: das kastenartig Abgeschlossene blieb sowohl bei gemalten Altartafeln als auch bei nischenartig, als reales Raumvolumen aufgefaßten Figurenschreinen erhalten. 74 Erst allmählich, im Laufe einer fortschreitenden Entwicklung wurde das in der mittelalterlichen Baukunst ausgebildete System von neuen Prinzipien der Bildgestaltung verdrängt, in denen sich bereits Anschauungsweisen und Prinzipien einer neuen führenden Gattung, der Malerei, offenbarten.
74 Siehe P A N O F S K Y 1971 wie Anm. 55, S. 19 f.;PAATZ 1963 wie Anm. 61 passim - Wichtig erscheint die Einführung des Terminus „Kapellenschrein" auf S. 15 und weiterhin. Zur Terminologie der Altarwerke im Spätmittelalter ist wichtig: HUTH 1923 wie Anm. 5, S. 98f„ Anm. 130.
Der Florentiner Stadtpalast Zum Verständnis einer Repräsentationsform
V o n HEINRICH K L O T Z
W a s den mit einem Lehrbuchbegriff nach Florenz gelangten Kunstinteressierten immer w i e d e r überrascht, sind nicht so sehr die Palazzi M e d i c i und Strozzi, auf die er bereits präpariert ist, sondern die Paläste des 13. und 14. Jahrhunderts. Sie stehen weniger zentral im allgemeinen Bewußtsein und nehmen doch viele der Formeigenschaften vorweg, die für den Florentiner Renaissancepalast als unzweideutige Stilmerkmale fixiert wurden. Zum gotischen Stilbegriff wollen sie nicht recht passen. Für den Fach-
mann mag es eine Selbstverständlichkeit sein, hier zu differenzieren - aber es sind ja gerade die populären Anschauungen, die die Verständigung besonders dort erschweren, wo die speziellere Architekturgeschichte beginnt. Zur Veranschaulichung des Problems möchte ich zunächst zwei Paläste gegenüberstellen, den Palazzo Medici-Riccardi (Abb. 1) aus der Mitte des 15. Jahrhunderts und den Palazzo Spini-Ferroni (Abb. 2) aus der Zeit um 1310/20. Ein solcher Vergleich 1 bestä1 Im folgenden w e r d e ich mich nicht so sehr mit der oft gestellten Frage nach der Herkunft des Cortile befassen, die von BERNHARD PATZAK, Palast und V i l l a in der Toscana, Bd. 1, Leipzig 1912, bereits beantwortet w u r d e , sondern mich auf das Erscheinungsbild der F a s s a d e konzentrieren. - Die neuere Literatur zum Florentiner Palastbau wiederholt die bekannten Positionen und beschränkt sich auf die Ausbreitung des M a t e r i a l s : LEONARDO
GINORI LISCI, I P a l a z z i d i F i r e n z e , F l o r e n z 1 9 7 2 ;
Palazzi di Firenze, Florenz 1973.
1
Palazzo Medici-Riccardi, Florenz, Seitenfassade
2
Palazzo Spini-Ferroni, Florenz
MARIO BUCCI,
308
HEINRICH KLOTZ
3 Palazzo Spini an der Piazza Santa Trinita
tigt, daß viele der Formbegriffe, die den Renaissance-
terschiede zwischen dem gotischen und dem Renais-
palast charakterisieren sollen, ebenso für den Palast
sancepalast liegen gerade nicht in den die Stilbegriffe
des frühen 14. Jahrhunderts zutreffen. B r e i t streckt
bestätigenden
sich der Renaissancepalast als massig lagernder, in
,Blockhaftigkeit',
sich geschlossener Block - wie der Palazzo Spini. D i e
usw. - , sondern im D e t a i l . A u f den Gegensatz zwi-
Geschoßteilung
schen
wird
durch schattende
Gesimsbän-
Allgemeincharakteristika ,breites
Zinnenkranz
und
Lagern',
-
wie
etwa
,Horizontalität'
klassischem
Kranzgesims
der erreicht, auf denen unmittelbar die Fenster ste-
braucht nicht erst hingewiesen zu werden. D i e Fen-
hen und sich in gleichmäßiger Stakkatofolge reihen
ster des Palazzo Spini sitzen zwar ebenso axial zu-
-
einander wie die des Palazzo Medici - aber sie run-
wie am Palazzo Spini. D a s schwere Kranzgesims
hier und der vorspringende Konsolzinnenkranz dort
den sich nicht im vollen Bogen,
besorgen den lastenden Dachabschluß. Auch die G e -
einen flach hängenden Segmentbogen. Auch die bi-
schoßverkürzung, die springende A b n a h m e der Stock-
forische Unterteilung der Fenster des Palazzo Medici
werkhöhen,
-
fehlt hier. Entscheidend aber für eine Differenzie-
sieht man einmal von der Wiederholung des Mittel-
rung ist das unterschiedliche Verhältnis beider Pa-
geschosses am Palazzo Spini ab. M i t dieser
läste zur Straße, also zur Umgebung. So blockhaft
findet
sich ähnlich an beiden Bauten
Stock-
sondern
behalten
werksverkürzung geht am Palazzo Medici eine G l ä t -
starr auch der Palazzo Spini auf den ersten
tung der Gebäudehaut einher: Im Erdgeschoß
erscheinen mag, so anpassungsfähig macht er den-
rauhe
Rustika,
im zweiten
Geschoß
die
die
Blick
fugenge-
noch an seiner Schmalseite die Schwingung der Straße
schnittene Flachrustika und im Obergeschoß der ge-
mit ( A b b . 3 ) . D i e W a n d läuft konvex zurück und
flächte Quaderverband. M i t dem Höhengewinn und
wendet sich vom Platze, der Piazza Santa T r i n i t a ,
der Stockwerksverkürzung verbindet sich auf diese
fort in den Schlauch einer Gasse, dem Borgo Santi
W e i s e eine Erleichterung der Wandfläche. Auch der
Apostoli, hinein. D i e Anpassungsfähigkeit an einen
Palazzo Spini wechselt von der Rustika im E r d g e -
bereits
schoß zur glatteren, einfacheren Bruchsteinwand in
stisch für den Profanbau des Trecento.
den Obergeschossen.
Die
Konsequenz des
Renais-
vorgezeichneten
Straßenplan
ist
charakteri-
E i n e Reihe von Häusern in der V i a San Niccolo,
sancepalastes fehlt hier, obwohl das Prinzip der sich
die den Palazzo Mozzi mit umfaßt ( A b b . 4 ) , ist be-
steigernden Glättung bereits angedeutet ist. D i e U n -
sonders bezeichnend für die Bereitwilligkeit,
Gelän-
Der Florentiner Stadtpalast
309
4 Palazzo Mozzi, Via San Niccolo, Florenz
deerhebungen und leichte Bewegungen des Straßenverlaufs mitzuvollziehen, ja sogar aus der vorgegebenen Situation ästhetische Qualitäten zu gewinnen. Das Sohlbankgesims der Fensterreihe im ersten Geschoß wird über mehrere Paläste hinweggezogen, so daß nicht allein die beeindruckende Länge der Gesamtfassade hervorgehoben, sondern gleichzeitig auch die leichte Schwingung dieser Linie zur besonderen Betonung des lang hinziehenden Kurvenlaufs aus-
drucksvoll genutzt wird. Wie sehr gleichartige Vorstellungen die Auffassungen auch anderswo in der Toskana während des 14. Jahrhunderts bestimmt haben, zeigt der Palazzo Saracini in Siena (Abb. 5). Nicht nur in seiner Fassade, sondern im gesamten Gebäudekörper vollzieht er den Kurvenlauf der Straße mit. Man möchte beinahe von einer umweltfreundlichen Architektur sprechen, die ihren individuellen Geltungsanspruch in einem weitaus stärke-
310
HEINRICH K L O T Z
5
ren M a ß e vorgegebenen Bindungen und Bedingungen unterwirft, als dies im Quattrocento der Fall sein sollte. M i t dem Machtantritt der Florentiner Oligarchenfamilien zu A n f a n g des 15. Jahrhunderts sind solche
Palazzo Saracini, Siena
Rücksichtnahmen gewichen, und man hat den selbstbewußt herausgekehrten Anspruch demonstrativer zur Schau gestellt. D i e neue Geometrie der primären Formen ist auch die Repräsentationsgeometrie des nun unbezweifelt herrschenden Großbürgertums.
Der Florentiner Stadtpalast
311
6 Palazzo Medici-Riccardi, Florenz
D e r Renaissancepalast kannte Zugeständnisse an die Gegebenheiten in diesem Ausmaß nicht. D e r Palazzo Medici, der nicht einmal allseitig frei als individueller Körper im Raum steht, sondern sich einer Straßenflucht eingliedert, läßt dennoch die ideale Absicht erkennen (Abb. 6). E r ist auf dem Grundriß eines Rechtecks erbaut und stößt mit seiner Kubuskante unnachgiebig hart in die Straßenflucht vor. Lediglich durch eine leichte Schrägstellung der Fassade macht er der Straßenachse ein Zugeständnis. D i e Rückbeziehung auf die Geometrie regelmäßig symmetrischer Grundfiguren ist eines der entscheidenden Merkmale der Frührenaissancearchitektur.
Und hierin nun liegt ein weitgehend zu generalisierendes Prinzip, das einen allgemeinen Begriff für den Formcharakter des Renaissancepalastes vermittelt. Daneben steht durchgängig eine Monumentalisierung jeder einzelnen Form und des ganzen Baukörpers. Wie sehr das Prinzip einer Reduktion auf die stereometrischen Primärformen unsere Vorstellungen vom Renaissancepalast bestimmt, zeigt die Interpretation und Bewertung des Palazzo Massimo alle Colonne in Rom. Baldassare Peruzzi hat die Fassade und damit die zur Straße liegenden Räume mit einem konvexen Bogen in die Kurve der Straßenflucht hineingespannt. Man wollte in diesem 1532 begonnenen
312
HEINRICH KLOTZ
7
Palast eine manieristische Formgesinnung erkennen, weil die Unnachgiebigkeit des harten Gebäudekörpers nicht länger behauptet wurde. Wie eingeschränkt jedoch die Entscheidungsmöglichkeit Peruzzis gewesen ist, beweisen die beiden rechts und links anschließenden Bauten, die bereits im Mittelalter ihre bis heute, auch durch spätere Neubauten nicht mehr veränderte Position erhalten hatten. Die städtebaulichen Bedingungen, nicht ein ,manieristisches Formgefühl' haben in einem extremen Ausmaß die Entscheidungen bestimmt. Peruzzis Palazzo Massimo alle Colonne kann als das schlagendste Beispiel eines Renaissancepalastes gelten, der die Umweltbedingungen wie kaum ein anderer Repräsentationsbau des 16. Jahrhunderts in sich aufgenommen und aus deren Berücksichtigung eine einzigartige Formsublimation gewonnen hat. Der Renaissancepalast ist in Florenz, nicht in Pisa, nicht in Siena oder Lucca entstanden. Die Pisaner Paläste des Trecento, von denen der Palazzo Appiano, später Medici, am besten erhalten ist, kommen einer gotischen Konstruktionsweise am nächsten (Abb. 7). Die nach außen durchdringende Struktur der hellen Quaderbogen ist das besondere Merkmal der Pisaner Palazzi. Von einem einheitlichen, in Quadern gefügten Erdgeschoß steigen die Mauerstreben auf, die schon unten als selbständige Quaderlagen sichtbar werden und dann im Mittelgeschoß als klar abgesetzte Stirnseiten hervortreten.
Palazzo Appiano, Pisa
Die roten Backsteinwände wurden zwischen den Pfeilern ausgespannt, die Fenstertriforien nehmen das ganze Intervall von Pfeiler zu Pfeiler ein. Im Obergeschoß, wo die Fenster zu Biforien schrumpfen, senkt sich die Backsteinmauer seitlich herab. Aus den Streben steigen oben die Spitzbogen auf und überfangen jedes einzelne Jochfeld, so daß eine Arkadenreihe entsteht. Der geschlossene, waagerecht lagernde Baukörper läßt seine vertikale Gerüstkonstruktion durchscheinen, ja der Steinwechsel betont diese Struktur und gibt sie dem Auge als Eigenwert preis. Im benachbarten Lucca findet man eine Pisa eng verwandte Form der Wandgliederung. Hier hat sich ein frühes Beispiel aus der zweiten Hälfte des Duecento erhalten, die Casa dell'Opera del Duomo, die unmittelbar neben dem Dom gelegene Bauhütte des 13. Jahrhunderts (Abb. 8). Zwar sind die Bogenstellungen stark in die Breite gedehnt, und das Pfeilergerüst ist nicht so klar wie am Palazzo Appiano von der Wand separiert, doch ist auch hier zu erkennen, wie aus einem hellen Quadergeschoß aus Marmor die Pfeilerkörper aufsteigen, die über dem Kämpfer der Fenstergalerie in Backstein übergehen. Im Obergeschoß lösen sie sich in der Wand auf, nachdem ihre Struktur durch die marmorne Kämpferklammer der Fensterarkaden noch einmal hervorgetreten war. Auf diese Weise kann der Rundbogenfries die Fassade widerspruchslos abschließen. So wie sich die Propor-
Der Florentiner Stadtpalast
tionen in die Breite dehnen, so werden die Schritte der Pfeilerintervalle größer und die Bogen flacher. Auch die Fenster dehnen sich in der weiten Spanne zwischen den Pfeilern aus und führen mit ihren Öffnungen wie in Pisa bis an die Pfeilerflanken heran. Noch im Trecento hat sich dieses Strukturprinzip an den Luccheser Palästen erhalten. D e r Palast der Guinigi, der Herrscherfamilie von Lucca, wurde vollständig in Backstein erbaut (Abb. 9). D i e horizontalen Geschoßgesimse treten als die wirksamen Teilungslinien des Aufrisses hervor; doch wie an der Casa dell'Opera del D u o m o spannen sich die überfangenen Rundbogen mit breitem Schwung über die Fensterarkaden, die das W a n d f e l d zwischen den Gerüstklammern aufreißen. Als Ergebnis dieses Gerüstdenkens entstanden die für Lucca charakteristisch breiten Fensteröffnungen. Sie können fünf oder gar sechs Arkaden umfassen, wenn die Breite des Wandfeldes, also das Intervall von Pfeiler zu Pfeiler, dies erfordert (Abb. 10). Zumindest in dieser Hinsicht, die Zahl der Fensterarkaden betreffend, stand Lucca an der Spitze. Siena hat mit dem Bau des Campo das Triforium für die Palastfenster gesetzlich festgelegt. 2 Und Florenz hat überhaupt nur für die öffentlichen Bauten das einfache Säulenfenster, also das Biforium erlaubt. D o r t gibt es kein Triforiumfenster an einem profanen Bau.
2
V g l . W O L F G A N G BRAUNFELS, M i t t e l a l t e r l i c h e S t a d t b a u k u n s t
d e t Toscana, Berlin 1959, S. 250.
in
9
Palazzo Guinigi, Lucca
313
314
HEINRICH KLOTZ
10
Stadtpalast, Lucca
11 Palazzo della Mercanzia, Florenz
D i e B a u h e r r e n der späteren H a u p t s t a d t der Tosk a n a haben im Palastbau von A n f a n g an eigene W e g e beschritten. Statt des traditionellen Backsteins, w i e er in Lucca u n d Siena bevorzugt v e r w e n d e t w u r d e , benutzten die Florentiner den grauen Macigno u n d die P i e t r a f o r t e der s t a d t n a h e n Steinbrüche u n d errichteten d a r a u s in konsequenter Hartnäckigkeit ihre öffentlichen u n d privaten Paläste. D i e Fenster der Florentiner Paläste sind nicht wie die in Lucca u n d
Pisa das Ergebnis offengelassener Pfeilerintervalle: Sie sind aus der Masse herausgestanzte O f f n u n g e n (Abb. I I ) . 3 Flach strecken
sich die
Segmentbogen,
3 D i e der Florentiner Tradition entsprechenden Palastbauten in den mit Florenz v e r b ü n d e t e n Städten Pistoia und Prato sind hier nicht berücksichtigt.
12
Palazzo Pubblico, Siena
Der Florentiner Stadtpalast die jeweils einzeln vom Geschiebe der sich zuspitzenden Keilsteine umrahmt werden. D i e Masse der Quader soll wirken. D i e Fenster erheben sich als selbstsichere Einzelformen vom gemeinsamen Geschoßgesims. D i e bloße Reihung stellt gegenseitige Beziehung her, und kein zweites Gesims in der Kämpferzone schnürt sie zur gebundenen Kolonne. D i e Sieneser Paläste, die den Florentinern am nächsten kommen, unterscheiden sich gerade hierin. D i e schmale Gesimslinie, die sich von Gewände zu Gewände zieht, bindet die Fenster zur Kette (Abb. 5). An den Florentiner Palästen wäre diese Einzelheit, das Kämpfergesims, das die Sieneser Fassaden in ihrer Wirkung stark mitbestimmt, schon Überfluß. Die lapidare Masse der Quaderfügung bleibt beherrschend. Auch die Sieneser Paläste unterscheiden sich im Baumaterial von den Florentinern. Zwar gibt es in Siena Quaderbauten wie den Palazzo Saracini, doch es überwog die Ziegelmauer. Seit dem Bau des Palazzo Pubblico, der 1297 begonnen wurde, war es in Siena üblich geworden, auf das aus Haustein errichtete Erdgeschoß Ziegelgeschosse zu setzen (Abb. 12). Vergleicht man den in vielen Zügen ähnlichen Florentiner Palazzo Vecchio mit dem Sieneser Regierungssitz (Abb. 13), dann wird doch auch die Verschiedenheit deutlich: in Florenz ein unnachgiebiger, beinahe starrer Block, in Siena ein sich dehnender, nach beiden Seiten niedrige Flügel ausstreckender Körper, der in seiner Fassade die Schwingung des Platzes reflektiert. Nicht zuletzt der Steinwechsel bewirkt den Eindruck größerer Flexibilität gegenüber dem Florentiner Rustikamonument. D e m Backstein, der in der Toskana als Baumaterial eine große Rolle spielte, erlaubte man in Florenz nie, sichtbar an die Oberfläche zu treten. Er war gut genug für die Mauerfüllung und die verputzten Gewölbe. N u r als Dachziegel durfte er sichtbar werden. Ein unterschiedlicher Materialsinn samt allen Konsequenzen, die sich daraus ergaben, unterschied die beiden Städte. D e r Sieneser Backstein hat am E n d e des Trecento wie überall in der Toskana das Verlangen nach kleinteiligem Schmuckornament erfüllen können, während in Florenz der Haustein immer noch als Rustika gehandhabt wurde. Allein die Flachrustika, sozusagen die gezähmte Form der Bossenwand, mit ihrem Schattenspiel der geschnittenen Fugenlinien wurde am Ausgang des 14. Jahrhunderts die bevorzugte
13
Palazzo Vecchio, Florenz
14
317
Palazzo Canigiani, Florenz
Wandverkleidung (Abb. 14). Und sie nahm vorweg, was dann im Laufe des Quattrocento etwa an Albertis Palazzo Rucellai zum systematisierenden Prinzip des Fassadenentwurfs wurde (Abb. 15). Florenz blieb auch im späten Trecento eine Oase des Quaderbaus. Es hatte zu keiner Zeit Formen des gotischen Gerüstbaues, etwa wie in Pisa, in die Palastarchitektur übernommen. So beanspruchte die Stadt schon im Mittelalter ihre Besonderheit. Sie hat sich von den Gepflogenheiten, die ringsum üblich waren, nicht beeindrucken lassen. Und die Florentiner haben wahrscheinlich bewußt diese ihre Eigentümlichkeit, ihr besonderes Gesicht, ihre Faccia, nämlich die Hausteinfassade, beibehalten. 4 Sie waren dabei durch die Natur begünstigt, da sie die Pietraforte und den
4 Einzelne erhaltene, in Ziegel gemauerte Fenster wie das dem 12. Jahrhundert angehörende Biforium des Florentiner Bischofspalastes sind schon im frühen 13. Jahrhundert nicht mehr ausgeführt worden (Abb. 16).
318
HEINRICH KLOTZ
15 Palazzo Rucellai, Florenz
Macigno gleichsam vor der Haustür brechen konnten, und sie gebrauchten ihn als das einzige Material, das ihrem Repräsentationsanspruch genügen konnte. Es mutet bei solch fester Tradition nur wie eine letzte Konsequenz an, daß der erste Renaissancepalast in Florenz, nicht in Siena, Lucca oder Pisa entstand.
Eine dritte formgeschichtliche Frage betrifft das Verhältnis von Trecento- und Renaissancepalast zur Antike. Die torartigen Öffnungen im Erdgeschoß, hinter denen sich die Ladenkammern (botteghe), von einzelnen Spundwänden getrennt, nebeneinanderreihen, sind charakteristisch für die Paläste des Trecento (Abb. 2). Sie waren bereits bei römischen Häu-
Der Florentiner Stadtpalast
319
bögen (Abb. 17). A m Palazzo Spini allerdings gipfelt der Außenbogen spitz auf, während er in Ostia konzentrisch zum Innenbogen verläuft. In Florenz ist diese Bogenform ebenso anzutreffen, nun aber - und das ist bezeichnend - tritt eine Rustikaquaderung an die Stelle des verputzt oder inkrustiert zu denkenden römischen Backsteingemäuers (Abb. 18). D i e Kombination eines Bogens mit einem horizontalen Sturz findet sich bereits an den Geschlechtertürmen des Duecento, geht in dieser Ausprägung aber wohl direkt auf die A n t i k e zurück. Indessen kann man die Beziehung noch enger knüpfen: D i e Öffnung zwischen Sturz und Bogen beschränkt sich in Ostia zumeist auf ein Oberlichtfenster (Abb. 19), das an den Florentiner Palazzi, w i e e t w a an der Rückseite des Palazzo Vecchio, an gleicher Stelle wiederkehrt (Abb. 20). Hier jedoch steigt der Bogen spitz auf, so d a ß ein höheres Bogenfeld entsteht: D a s antike Motiv w u r d e im Geiste der Gotik umgedeutet. D e r gesamte Portalaufbau ist der gleiche geblieben w i e in Ostia. D a s sehr breit gestellte Portal w i r d von einem Tür-
5
16
Biforienfenster des Bischofspalastes, Florenz
sern üblich. 5 Eine Hausfront in Ostia zeigt ganz ähnlich breitstehende Tore mit flachhängenden Segment-
Auf diesen Z u s a m m e n h a n g haben bereits WALTEE PAATZ und
AXEL BOETHIUS h i n g e w i e s e n . PAATZ s t e l l t d i e V e r w a n d t s c h a f t z w i -
schen antiken Häusern und Florentiner Palästen des Trecento heraus und neigt zu der A n n a h m e einer kontinuierlichen T r a d i t i o n , die zwischen dem antiken und dem mittelalterlichen H a u s b a u in Mittelitalien bestanden h a b e ( i n : Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte III, 1 9 3 9 ; dort w i r d auch die Literatur zu den Forschung e n v o n A . BOETHIUS g e n a n n t ) .
320
HEINRICH KLOTZ
Der Florentiner Stadtpalast
321
21 Palazzo Davanzati, Florenz
stürz überfangen, dessen monolithe Außenquader tief in die Wand eingreifen und mit ihrer vorspringenden Zapfenschräge die freihängenden Sturzsteine halten. Diese selbst staffeln sich vom mittleren, senkrecht gestellten Schlußstein nach außen hin mehr und mehr in die Schräge, um schließlich von dem Quaderzapfen abgefangen zu werden. D i e Verwandtschaft zwischen den um 1340 entstandenen Florentiner Toren an der Rückseite des Palazzo Vecchio und dem römischen Vorbild geht also bis in die Mauertechnik hinein. Für die Florentiner Paläste des 14. Jahrhunderts sind die kleinen, mezzaninartigen Oberlichter über den Portalen charakteristisch (Abb. 21), wie etwa am Palazzo Davanzati um 1370. D i e recht ähnliche römische Aufrißgliederung der Ostienser Horreen, die ein ebenso breites Portal mit einem rechteckigen Oberlicht verbinden, ist für den frühen Florentiner Palastbau gewiß das entscheidende Vorbild gewesen (Abb. 22). Diese kleinteilige Kombination von Portal und darübersitzendem Rechteckfenster kennt der Renaissancepalast kaum mehr. Zwar findet man am Palazzo Strozzi im Erdgeschoß eine Reihe solcher Fenster, ebenso an der Flanke des Palazzo Medici (Abb. 1), doch sind es nun selbständige, eigengewichtige Formen geworden. Allein am Palazzo Rucellai von Al21
Architektur
berti kehrt die Verbindung von Portal und Oberlicht wieder (Abb. 15). Wie nun sehen die formgeschichtlichen Bezüge zwischen den Florentiner Palastfassaden des Quattrocento und der Antike aus? Der Vergleich zwischen den Palazzi Medici und Spini hatte schon gezeigt, daß sich der Renaissancebau zumindest in einer Hinsicht im Gegensatz zu dem Trecentopalast auf die Antike beruft: Das Kranzgesims mit Zahnschnitt, Eierstab, Konsolfries und Sima (Abb. 23, Abb. 24) entspricht dem antiken Vorbild, etwa dem Dachfries der Basilika Aemilia. Auch das Geschoßgesims trägt eine Konsolleiste. Damit aber erschöpft sich bereits der Bezug zur Antike. Einzelne Dekorationselemente, die dem klassischen Formenschatz entlehnt wurden, traten an die Stelle der Trecentoformen. Diese nur äußerlich aufgelegten Attribute, Zitate aus dem klassischen Vokabular, können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der gesamte Baukörper des Renaissancepalastes der Trecento-Tradition entstammt. Das antike Haus kannte die Rustikafassade nicht und die höchst einprägsame, sich aufwärts in abgestimmten Verhältnissen verkürzende und damit erleichternde Stockwerkfolge ebensowenig. Auch die unmittelbar in die Wandmasse gestanzten Fenster waren ihm fremd. In der Antike wurden sie von Pilastern gerahmt. Schon ein solches Einzelmotiv, die charak-
322
1Ih.nkh.ii Kj.otz
21
teristischen Biforien des Palazzo Mcdici oder Strozzino (Abb. 25) gehen zurück auf das gotische Biforienfenster des 14. Jahrhunderts (Abb. 26), eine unantike Form. Der Florentiner Quattrocentopalast hat auch all. jene Motive ausgesondert, die noch den Trccentopalast mit der römischen Architektur unmittelbar verbanden, nämlich die eben gezeigten Aufrißmotive der lirdgeschoßgliederung, die für die Baustniktur bestimmender waren als das antike Schmuck-
Horrca, Ostia
Ornament des Palazzo Mcdici oder Strozzi. So kann man sagen - unter Umkehrung der üblichen Begriffe - daß der Florentiner Palast des 14. Jahrhunderts der Antike näher stand als der Palast der Frülirenaissancc. Im Gegensatz zur antiken Hausfassade, die mit Marmorplattcn inkrustiert oder verputzt, meist auch durch eine dekorative Ordnung von Wandpilastcrn, Friesen und Giebeln gegliedert war, blieb die Fas-
Der Florentiner Stadtpalast
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Kranzgesims, Palazzo Medici, Florenz
24
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Kreuzgesims, Basilika Aemilia, Rom
MMW* .1 j q p L i 'WflSCTvJi
2V
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HEINRICH K L O T Z
durch alle Geschosse durchgehende R u s t i k a w a n d schon a m ersten R u s t i k a b a u der S t a d t , an dem um 1 3 0 0 entstandenen Regierungssitz der Florentiner, am Palazzo Vecchio ( A b b . 2 8 ) , v e r w i r k l i c h t w a r , deutet auf Z u s a m m e n h ä n g e , die einer Erörterung bedürfen. Neben der B u c k e l q u a d e r w a n d gibt es d i e bei R e naissancepalästen gern im zweiten Geschoß v e r w e n dete F l a c h r u s t i k a w a n d m i t Fugenschnitt, für die ebenfalls in R o m allenthalben V o r b i l d e r zu finden w a r e n , e t w a an der G r a b r o t o n d e der M e t e l l a ( A b b . 2 9 ) . A b e r auch in diesem F a l l zeigt der Vergleich des Palazzo Strozzino (um 1 4 5 0 ) mit dem Erdgeschoß des Palazzo D a v a n z a t i ( 1 3 7 0 ) die größere N ä h e zwischen Renaissance- u n d Trecentobau ( A b b . 30, A b b . 3 1 ) . Schon im 14. J a h r h u n d e r t w a r e n in Florenz v i e l e jener A n t i k e n m o t i v e bekannt, die schließlich die Pal a s t f a s s a d e n der R e n a i s s a n c e entscheidend beeinflußten. W i e nun k a m es zur A u s b i l d u n g des mittelalterlichen S t a d t p a l a s t e s in F l o r e n z ? D e r P r i v a t h a u s b a u in der T o s k a n a blieb bis in das 12. J a h r h u n d e r t hinein
25
Biforienfenster, Pala2Zo Strozzino, Florenz
s a d e des Quattrocentopalastes eine R u s t i k a w a n d . Es gibt im antiken Rom ein einzelnes, w e n i g beachtetes, im M i t t e l a l t e r u n d in der Renaissance, w e n n auch zu großen Teilen verdecktes, doch aufrechtstehendes Beispiel einer solchen B o s s e n m a u e r : D i e Rückseite des A u g u s t u s f o r u m s ( A b b . 2 7 ) . Sollte dies nicht das E x e m p l u m f ü r die R u s t i k a f a s s a d e n der Frührenaissance gewesen sein? D i e schweren Bossen des Palazzo Pitti sind ohne ein solches ranghöchstes Vorbild k a u m d e n k b a r . U n d doch sind auch die Unterschiede offensichtlich. Schon d i e ä u ß e r s t schweren Q u a d e r g e s i m s e haben m i t der Feinheit der Geschoßgesimse an den Florentiner Palazzi nichts gemein. D i e s e gehen auf d i e feinen Schnurgesimse des Trecento zurück. Besonders aber für den Steinwechsel von Geschoß zu Geschoß hatte das A u g u s t u s f o r u m nichts Vergleichbares zu bieten. Ein Trecentopalast v e r w i r k l i c h t das Prinzip w e i t a u s deutlicher. Sicherlich hatte das A u g u s t u s f o r u m den M e i s t e r n u n d A u f traggebern der Frührenaissance hinsichtlich der M o n u m e n t a l i t ä t neue Impulse gegeben. D a ß aber die
26
Biforienfenster, Palazzo Vecchio, Florenz
Der Florentiner Stadtpalast
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27 Bossenwand, Augustusforum, Rom
auf der Ebene kunstloser Anspruchslosigkeit. D e r Holzbau überwog. Dachziegel waren seit den Römern bekannt, doch blieben die Häuser der toskanischen Städte überwiegend mit Stroh gedeckt, eine Tatsache, die heute kaum vorstellbar scheint. Wohl erst im 12. Jahrhundert begann der private Steinbau in Gestalt der Geschlechtertürme. Einer der ältesten Türme in Florenz aus d e r Z e i t um 1230 läßt bereits einen kla-
ren Aufbau erkennen: eine deutliche Fensterachse betont die Symmetrie; die schweren Konsolsteine, die einstmals die hölzernen Laubengänge trugen, sorgen für eine Geschoßakzentuierung (Abb. 32). In dieser Zeit trat bereits an die Stelle des Turmes das breitere Turmhaus, das gewissermaßen aus zwei Achsen besteht und hier als Anbau mit dem wenige Jahre früher entstandenen Turm verbunden wurde, so daß
326
29
HEINRICH KLOTZ
Grabmal der Metella, Rom
Der Florentiner Stadtpalast
30 Rustika, Palazzo Strozzino, Florenz
31 Rustika, Palazzo Davanzati, Florenz
insgesamt eine dreiachsige Fassade zustande kam (Abb. 32a). D a s schmale, turmartige Aufragen kennzeichnet noch viele der toskanischen Trecentopaläste (Abb. 33). Ihre Höhe war nie wie die des Renaissancepalastes kanonisch auf drei Stockwerke festgelegt. D e r Vergleich zwischen den beiden Bauten verdeutlicht den trotz der proportionalen Ähnlichkeit bestehenden Unterschied zwischen Duecentoturm
und Trecentopalast. D i e Fenster sind nicht mehr burgartig klein, sondern dehnen sich aus, und die die Stockwerke gliedernde Gesimsteilung gibt den Fenstern eine sichere Standfläche. Schließlich trat im Erdgeschoß eine weitaus aufwendigere, geschnittene Flachrustika an die Stelle der Bruchsteinmauer. Im zweiten Geschoß folgt eine geglättete Quaderwand, während für die beiden Obergeschosse immer noch
HEINRICH KLOTZ
32 Casatorre dei Foresi, Florenz
Bruchstein verwendet wurde, wie er einstmals für die gesamte W a n d der Turmhäuser gut genug war. Das Schutzbedürfnis hatte im Kampf der Familien gegeneinander den ersten steinernen Privatbau hervorgebracht, die Geschlechtertürme. D i e wehrhafte Form entspricht der primitiv organisierten städtischen Gesellschaft, die gegen die Kämpfe der einzelnen Familien untereinander kaum eine stadthoheitliche Ordnungsmacht setzen konnte. Zugleich
aber äußert sich in diesen Wehrbauten ein Anspruch auf Herrschaft, der sich einen ganz und gar quantitativen Ausdruck sucht: die Türme wachsen über die reine Notwendigkeit hinaus in die Höhe. Die Familien suchen sich gegenseitig zu überbieten, indem sie den eigenen Turm über den ihres Rivalen erhöhen. Es kam niemandem in den Sinn, etwa mit dekorativem Reichtum repräsentieren zu wollen. D e r Fassadendekor in der Form der Gesimsgliederung, der
Der Florentiner Stadtpalast
32 a
Casatorre dei Foresi, Florenz
Rustikaverkleidung oder des Fenstermaßwerkes kam erst im Trecento auf. Zunächst sollte allein der zählbare Gewinn an Höhe das Überragen der eigenen Größe ausdrücken. Ein erster bürgerlicher Reichtum mußte vorhanden sein, damit diese einfachen Bauten zustande kommen konnten. Insofern sind die Geschlechtertürme, die aus einem Wust von Holzbauten, aus einem unübersichtlichen Gebäudeagglomerat aufragten, erstes Zeichen einer erwachenden städtischen Kultur. Erst nach dieser frühen privaten Monumentalarchitektur sollten auch öffentliche Profanbauten möglich werden. Zunächst versammelten sich die Bürger zu gemeinsamen Beschlüssen in den einzig repräsentativen Bauten der Städte, im Schutze der Kirchen. Für Florenz war S. Pier Scheraggio (jetzt in den Uffizien verbaut) der feststehende Versammlungsort. Mit der wachsenden Bedeutung der kom-
329
munalen Verwaltung wurden dann eigene Gebäude notwendig. Uberall in den toskanischen Städten dienten zuerst gemietete Familientürme als „Rathäuser". In Florenz ist der „Torre della Castagna" bis auf den heutigen Tag erhalten (Abb. 34). Also nicht der Palazzo dell'Podesta, der spätere Bargello, war das erste erhaltene Rathaus von Florenz, sondern eben dieser Geschlechterturm, von dem Dino Compagni in seiner Chronik der Stadt Florenz sagte: „E chiamoronsi Priori dell' Arte: e stettono rinchiusi nella torre della Castagna appresso alla Badia acciö non temessono le minaccie de potenti." 6 Die sich langsam herausbildenden städtischen Körperschaften haben also zunächst bereits vorgefundene Bauten der Kirche und der Privathausarchitektur übernommen, bevor es zu einer ersten Typenbildung der kommunalen Repräsentationsarchitektur kam. Der 1254, also vier Jahre nach der vorübergehend erreichten Unabhängigkeit der Stadt errichtete „Pa0
DINO COMPAGNI, C h r o n i c a
I,
4.
330
HEINRICH K L O T Z
33 Palast in der Via Tornabuoni, Florenz
lazzo del Podestà", der ursprünglich als „Palatium Populi Fiorentini" gedacht war, bezog einen möglicherweise bereits bestehenden Geschlechterturm in den Neubau ein (Abb. 35). D e r Grundriß verdeutlicht (Abb. 36), auf welche Weise der Turm in das Frontgebäude inkorporiert wurde. Allein dieses gehört dem ursprünglichen Bau an, während der Cortile mit den Flügelbauten erst im Trecento entstanden ist. D i e dreijochige „Sala delle Arme" mit ihren
schweren Gewölben und die seitlich daran anschließende „Camera della Torre" bildeten den Kern des Bauwerks. Mit diesem, zweifellos aus der Burg- und Pfalzarchitektur herzuleitenden pallasartigen Rathaussaal 7 , der sich im zweiten Geschoß mit flacher Balkendecke wiederholte, waren auch die Propor-
7
D i e s e A n n a h m e hat JÜRGEN PAUL, i n : D e r Palazzo V e c c h i o
in F l o r e n z , F i r e n z e 1 9 6 9 , noch einmal bekräftigt.
331
Der Florentiner Stadtpalast
34 Torre della Castagna, Florenz
tionen des Turmhauses aufgegeben. D e r Bau streckt sich lagernd in die Breite. D i e lombardischen Kommunalpläne waren darin vorausgegangen. 8 Indessen erkennt man an der Schmalseite des Bargello, dort, wo der Bau unmittelbar am Turm anschließend begonnen wurde, die alten Wand- und Fensterglieder der Turmhäuser (Abb. 37). Es sind noch die gleichen Rundbogenfenster mit dem freihängenden Sturz, die einzeln in der Wandfläche schwimmen und keinerlei
geschoßteilendes Gesims als Standfläche beanspruchen. Auch die schweren Konsolsteine, die ehemals die Holzlauben und Balkons trugen, entstammen noch dieser Tradition der Profanarchitektur. Ursprünglich war das ganze Bauwerk mit solchen Holzgängen umgeben, über deren Brüstung die Fenster herausrag-
8
V g l . JÜRGEN P A U L , D i e
mittelalterlichen
Italien, Diss. phil. Freiburg/Br. 1963.
Kommunalpaläste
in
35 Palazzo del Podestà, (Bargello) Florenz
VTA D E L L A
VIGNA
NUOVA
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.'Er Oli ÎJMQ JMI
VIA G H I B E L L I N A
36 Grundriß des Palazzo del Podestà, Florenz
Der Florentiner Stadtpalast
333
37 Palazzo del Podestà, Florenz (vorn rechts : Turmuntergeschoß ; Mitte: erster Bau des 13. Jh.; hinten: Flügelbau des 14. Jh.)
ten (Abb. 38). An den danach errichteten Fronten des Hauptbaus war dann ein erstes, ringsumlaufendes Gesims, das den Steinkörper horizontal gliedert, gezogen worden (Abb. 35). Und bezeichnenderweise traten jetzt neben die altertümlichen Turmhausfenster die neuen Biforienfenster der Gotik, hier zum ersten Mal an einem Florentiner Stadtpalast (Abb. 39). Kaum war die Bettelordenskirche von Santa Maria Novella in den neuen Formen der Gotik begonnen worden, machte sich bereits das gewandelte Vokabular auch am Profanbau geltend.
Der Palast wurde nicht mehr in Bruchsteinmauerwerk errichtet, sondern erhielt in seinen beiden Untergeschossen eine Quaderwand. Die Rustikamauer diente noch nicht als Schmuckform der Palastfassaden. Allein den Sockel des bereits bestehenden Turmes ummantelte eine regelmäßige, auffällig kleinteilige Rustika (Abb. 37). Das um 1240 in Prato errichtete kaiserliche Castell Friedrichs II. hatte das Vorbild abgegeben (Abb. 40). An einer Turmbastion fanden die Florentiner die kleinteiligen, von strengen Fugenlinien umrissenen Flachrustikalagen bereits
334
HEINRICH KLOTZ
•*f f j j ü :
l 38
*
l
Palazzo del Podestà (Rekonstruktion), Florenz
vor. Von dort verbreitete sich diese neue Form der Wandverkleidung über die gesamte Toskana. 9 Der Turm des Capitano del Popolo in S. Gimignano, um 1300 errichtet, ist eines der schönsten Beispiele (Abb. 41). Sein Steinschnitt ist dem des Prateser Castells verwandt (Abb. 42). Dem kaiserlichen Vorbild getreu erschien die Rustika zu Anfang vor allem an den Türmen. 10 Sobald die Florentiner mit dem Bau ihres Palatium Populi Fiorentini einen ersten die Kommune monumental repräsentierenden Regierungssitz erhalten hatten, mußten sich ihre ghibellinischen Widersacher herausgefordert fühlen. Ein Grundzug aller toskanischen Baukunst im Trecento und in der Renaissance blieb, mehr als anderswo, der ihr eigene konkurrierende Charakter, da die widerstreitenden Mächte auf engstem Räume in einem gänzlich ungefestigten Reichsverband gegeneinanderstanden. Simone di Battifolle begann 1274, zwanzig Jahre nach Baubeginn des Bargello, den Neubau des Kastells der Grafen Guidi in Poppi (Abb. 43). Es übertrifft den eben in seinem Kern fertiggestellten Palazzo der
Florentiner an Monumentalität. Diese nun hätte wiederum die Florentiner nicht sonderlich zu beunruhigen brauchen, wenn nicht die Grafen Guidi die vornehmsten ghibellinischen Widersacher der Stadt gewesen wären. Erst in der Schlacht bei Anghiari im Jahre 1440 haben die Florentiner das letzte ghibellinische Herrschergeschlecht der Toskana unterwerfen können. Etwa hundertundachtzig Jahre früher hatte der Conte Guido in einem entscheidenden Augenblick der Florentiner Stadtgeschichte die Freiheit der Commune in Frage zu stellen vermocht. Die eben gewonnene, 1250 eingeführte Anzianen-Verfassung war nach der Schlacht bei Montaperti 1260 durch die Ghibellinen wieder außer Kraft gesetzt worden, und der zurückgebliebene königliche Stadthalter Guido, der die Pfalzgrafenwürde innehatte, sorgte für das Weiterbestehen dieses für Florenz tief demütigenden Zustandes, ja, er hatte sogar die Absicht bekundet, die ganze Stadt nach ihrer Niederlage schleifen zu lassen, was nur durch den bekannten Einspruch des Farinata verhindert wurde. Das Wappensymbol der Guidi zeigt in unmißverständlicher Weise den von den Pfalzgrafen gestellten Anspruch der Beherrschung der Stadt Florenz. Als beredtes Zeichen halten zwei Löwen die Florentiner Lilie in den Tatzen. Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich vorstellen zu können, wie allein schon ein solches Symbol auf die Florentiner wirken mußte. Der staatliche Repräsentationswille, der sich architektonisch in dem ersten monumentalen Rathaus von Florenz ausdrücken sollte, wurde vom pfalzgräflichen' Herrschaftsanspruch, der sich ebenfalls seine architektonische Form suchte, in den Schatten gestellt. Am Kastell der Guidi kehren charakteristische Formdetails des Bargello wieder:--die Gesimsgliederung mit den Biforienfenstern (Abb. 44). Doch die Größe des kubischen
9 D i e Entstehungsgeschichte der Rustikawand ist noch unklar. Sieht man einmal davon ab, daß römische Buckelquaderung möglicherweise bereits unter den Langobarden und sicherlich an den Kreuzfahrerburgen Anwendung fand, so läßt sich sagen, daß unter Friedrich I. die Bossenwand mit der Absicht kaiserlicher Machtdemonstration, also im Sinne einer Renovatio Imperii Romani, bewußt in das Vokabular imperialer Repräsentationsformen aufgenommen wurde. Erst aus dem Abstand zur römischen Tradition hat die Rustika eine mit einem bestimmten Gehalt versehene W i e derbelebung erfahren, wobei ich ein distanziertes, sich von außen an die Vorbildform annäherndes Reflektionsvermögen schon f ü r das Mittelalter voraussetzen möchte (vgl. hingegen ERWIN PANOFSKY,Renaissance and Renaissances, Stockholm 1 9 6 0 ) . 10
JÜRGEN PAUL 1 9 6 9 w i e A n m . 7 , v e r w e i s t a u f d a s f r i e d e r i z i a -
nische Kastell Gioia del Colle, das bereits als allseitig zierter Block ausgebildet wurde (S. 84).
rusti-
Der Florentiner Stadtpalast
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Biforienfenster, Palazzo del Podestà, Florenz
Blocks mußte die Herrn des Bargello demütigen, zumal die Formähnlichkeiten zwischen dem städtischen und dem pfalzgräflichen Bau den Vergleich geradezu aufzwangen. Auch der Turm mit seiner SchallÖffnung m u ß durch die ähnliche Gestaltung provoziert haben. D i e Übereinstimmung geht bis ins Detail. D a s schmale, von zwei Gesimsen begrenzte Zwischengeschoß kehrt in Popp; als ein gleicher, sockelartiger Körper des Glockengeschosses wieder. Und nahezu identisch ist die Gruppe der drei Biforienfenster an der Hauptfassade des Bargello auch für die
335
Kastellfassade übernommen worden, allerdings nun doppelgeschossig übereinandergestellt. D a es für diese Weise der Auseinandersetzung, die sich in architektonischen Formen äußert, wie so oft keinerlei direkte Quellenbelege gibt, bleibt dem Architekturhistoriker nur das Baudenkmal selbst, das zwar eine gezielte Sprache, aber kaum einmal unzweideutig spricht. D i e Parallelität der Formen bestätigt nicht nur eine kausale Beziehung zwischen den Bauwerken. Mit der Übernahme und Überbietung der architektonischen Form wurde vor allem eine inhaltliche Aussage getroffen. D e r konkurrierende Repräsentationswille läßt die verschiedenen politischen K r ä f t e anschaulich werden.
336
40
HEINRICH K L O T Z
Kastell Friedrichs II., Prato, Detail
Es ist deshalb gewiß angängig, den Bau des dritten Rathauses von Florenz (1299 beg.) einerseits als eine Antwort auf den zwei Jahre zuvor begonnenen Palazzo Pubblico von Siena 1297 (Abb. 12), andererseits als eine Antwort wiederum auf den Bau des Grafenkastells zu sehen. 11 W i e die Hauptfassade der Burg erhielt die einstige Hauptfassade, jetzt Seitenfront des Palazzo Vecchio, eine doppelgeschossige, nun aber fünfteilige Biforienreihe (Abb. 28). Das geschlossene Erdgeschoß mit seinen einfachen Segmentbogenfenstern war allein am Kastell der Grafen Guidi vorbereitet. Formgeschichtlich - das muß betont werden - nimmt das Kastell von Poppi eine aufschlußreiche Zwischenstellung zwischen dem Bargello und dem Palazzo Vecchio ein. Die drei Bauten waren in einem politischen Kräftefeld entstanden, das die Gegner zur architektonischen Nachahmung und Überbietung trieb. Aber die Florentiner konzentrierten
mit dem Bau des Palazzo Vecchio nicht allein den Blick auf die das Casentino beherrschende Burg von Poppi, sondern richteten sich gleichzeitig gegen ihren höchsten Feind, gegen den Kaiser selbst. Der Turm, den sie bauten, entsprach nicht mehr dem Turm des Bargello, den die Grafen von Poppi bereits zum konkurrierenden Wahrzeichen ihrer Burg gemacht hatten. Ein seltsamer, von dicken Säulentrommeln getragener Baldachin trat an die Stelle der traditionellen Schallöffnung und krönte das ganze Bauwerk (Abb. 13). Schon der Turm des Kastells von San Miniato al Tedesco, jener Festung, von der aus der Kaiser die Toskana zu beherrschen suchte, trug einen solchen Baldachin. Diesen Zusammenhang vor Augen, erkennt man die Intention der Florentiner, dem Machtzeichen des Kaisers ein entsprechendes, nur noch größeres und schöneres entgegenzusetzen. 12 Die Florentiner legten sich in dieser Zeit einen städtischen Löwenzwinger zu, der sich an der Rückseite des Palazzo Vecchio befand; und auch damit machten sie sich ein bisher der Aristokratie vorbehaltenes Machtsymbol zu eigen. 13 Der steinerne Löwe ist als Marzocco zum Symboltier der Stadt geworden. Mit den dann an den Bürgerpalästen des 14. Jahrhunderts wiederkehrenden steinernen Löwen waren die ehemals den Kirchen und den Kastellen vorbehaltenen Portallöwen endgültig in die Sphäre bürgerlicher Repräsentation abgesunken. Aus den einst lebensgroßen Tieren wurden harmlos hündchenhafte Zierlöwen, die auf fast allen Treppenaufgängen der Florentiner Privathäuser herumhockten. Die Usurpation der feudalen Machtsymbole durch das Bürgertum ist das hier im Hintergrund stehende Thema. Unter diesem Aspekt ist auch die volle Rustizierung der Fassaden des Palazzo Vecchio zu verstehen. Die Pfalz-
11
Vgl.
FREDERICK A N T A L , D i e F l o r e n t i n i s c h e
Malerei
und
ihr
sozialer Hintergrund, Berlin 1958, S. 110. 12
H A N S MACKOWSKY, Z e i t s c h r i f t f ü r B i l d e n d e K u n s t N . F . X I V ,
1903, S. 168, weist darauf hin, daß S. Miniato al Tedesco von Friedrich II. seit der Zeit um 1236 als Burg des kaiserlichen Vicarius der Toscana erbaut worden war. Vgl. JÜRGEN PAUL 1969 wie Anm. 7, S. 70 f. 13
GINO CAPPONI, G e s c h i c h t e d e r
florentinischen
R e p u b l i k , B d . I,
Leipzig 1876, S. 188.
41 Turm des Capitano del Popolo, San Gimignano
22
Architektur
338
HEINRICH KLOTZ
grafen von Poppi kannten noch nicht die rustizierte Palastfassade. Repräsentative Kunstform blieben allein die vom Bargello übernommenen Biforienfenster. Das Kastell von Poppi hatten die Florentiner zwar noch im Blick. Aber sie hatten nun auch zu konkurrieren mit den Vergegenwärtigungsformen des kaiserlichen Herrschaftsanspruchs. D e r rustizierte Pallas war seit Barbarossa und Heinrich VI. zunächst eine spezifisch kaiserliche Form der Repräsentation. Die Burgen Trifels, Wimpfen, auch die Burgen der kaiserlichen Vasallen wie Münzenberg setzten Normen. Friedrich II. übernahm die Rustika für seine Apulischen Kastelle und ließ darüber hinaus die klassische Fugenschnittrustizierung anwenden, wie am Prateser Kastell oder zuvor am Brückentor von Capua. D e r voluminös polsterartig hervorspringende Quader erweckt unmittelbar anschaulich den Eindruck „mächtigen" Bauens. Auf dem Umweg über Deutschland gelangte die Rustika nach Italien zurück, wo sie seit der Antike beheimatet war, d. h. auf dem Umweg imperialer Formgesinnung. D e r Palazzo Vecchio von Florenz erhielt nicht nur als erster Palazzo Comunale, sondern überhaupt als erster Stadtpalast Rustizierter Turm des Capitano del Popolo, 42 San Gimignano
43/44 Kastell der Grafen Guidi, Poppi
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46
HEINRICH KLOTZ
Privatpalast, Via delle Stinche, Florenz
47
Privatpalast, Via delle Stinche, Florenz
Der Florentiner Stadtpalast eine vollständige Rustikaverkleidung. Es war ein aus der Tradition herausspringendes Beginnen, einen Stadtpalast gänzlich mit Rustika zu verkleiden. Noch immer erinnern die kleinteiligen Steinlagen an die des Prateser Kastells, obwohl sich eine rauhe Bossierung durchgesetzt hat, wie sie auch an apulischen Kastellen Friedrichs II. vorkommt. 14 Die Steinoberfläche gewann einen eigenen Wert. Es war deshalb nur konsequent, wenn Arnolfo di Cambio, der den Palazzo Vecchio seit 1299 errichtete, auf die zwar praktischen, aber das Fassadenbild verunklärenden Laubengänge verzichtete. So präsentierte sich das Bauwerk in seiner burgartigen Mächtigkeit jedem Ankommenden als nackter steinerner Block. Der Stein als Oberfläche und damit der ganze Bau als Steinblock hatte die Reminiszenzen des Holzbaus abgestoßen. Mit einer solchen Klärung war das Beispiel gegeben für den künftigen Palastbau der Florentiner.
341
Das Vorbild des Regierungssitzes wirkte sogleich hinein bis in den Hausbau des einzelnen Bürgers, womit das öffentliche Decorum auf die private Sphäre übertragen wurde. In Florenz sind unmittelbar nachfolgend eine Fülle von Familienpalästen errichtet worden, die die Rustikafassade des Palazzo Vecchio aufnehmen (Abb. 45, 46). Es gibt Privatpaläste, die sogar die Bogenkonsolen des Zinnenkranzes wiederholen, also in den Formdetails dem Palazzo Vecchio so nahekommen, daß sie aus der Werkstatt des Arnolfo di Cambio stammen könnten (Abb. 47, 48). Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts trat die glatte Fugenschnittverkleidung, der Spiegelquader, hinzu, wofür der Palazzo Davanzati das schönste Beispiel darstellt (Abb. 49). Dieser bekannteste Florentiner Privatpalast des Trecento zeigt nun schon eine geschoßweise Abfolge verschiedener Steinbearbeitung in den ersten drei Stockwerken. Der Flachrustika im Erdgeschoß folgt die Quaderwand, schließlich die Bruchsteinwand in den beiden oberen Stockwerken. Alle Florentiner Privatpaläste des Trecento unterschieden sich jedoch in zweierlei Hinsicht vom Palazzo Vecchio. Allein diesem kam neben dem Bargello das Biforienfenster zu, und allein diesem blieb es vorbehalten, für alle drei Geschosse eine Rustikafassade zu beanspruchen. Der Privatpalast hingegen beschränkte sich damit auf das Erdgeschoß und besaß schmucklos leere Fenster (Abb. 50). Erst der Palazzo Medici hat mit dieser die private Zurückhaltung betonenden Tradition gebrochen. Auch mit der Übernahme des Biforienfensters stellte er sich dem Palazzo Vecchio gewissermaßen als ranggleich gegenüber. Einen solchen sich in der Form äußernden Anspruch zu stellen, war in Florenz mit Gefahren verbunden. Cosimo konnte die Entschuldigung vorbringen, einen ursprünglich noch aufwendigeren, bereits im Modell von Brunelleschi entworfenen Palastplan wieder aufgegeben zu haben, um später durch Michelozzo einen weniger anspruchsvollen errichten zu lassen. Indessen besteht angesichts dieses Privatpalastes kein Zweifel darüber, wer nun Herr der Stadt war. Die während des Trecento auf den kommunalen Repräsentationsbereich beschränkten Formen wurden durch die Medici privat usurpiert und fortan zur Selbstdarstellung des Florentiner Großbürgertums genutzt. Das mit einer Mittelsäule ausgezeichnete Biforienfenster wie auch der insgesamt rustizierte Baukörper (Palazzo Strozzi und Palazzo Pitti)
48
Erdgeschoßfenster, Palazzo Vecchio, Florenz
14
Siehe Anm. 1 0 .
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HEINRICH KLOTZ
Der Florentiner Stadtpalast
50
343
Privatpalast, Florenz
dokumentierten die Übertragung der Macht von kommunalen, quasi demokratischen Körperschaften auf die Florentiner Oligarchenfamilien. Unter diesem Gesichtspunkt ist besonders aufschlußreich, wie sich die weniger bedeutenden Rucellai verhielten. Ihr Architekt, Leon Battista Alberti, behielt eine zurückhaltende Flachrustika bei, nutzte aber die gespannte Fläche und den geometrisch genauen Fugenschnitt, um eine klassische Pilasterordnung der Fassade zu inkorporieren (Abb. 15). D a mit hatte er einen noch größeren Schritt vom Trecento fort getan. D e r Palazzo Strozzi steht demgegenüber
weit mehr in der Tradition des Trecento als Albertis Fassade, die mit der Aufnahme der antiken Ordnung ein ganz neues, den Florentinern unbekanntes Element in die Profanbaukunst hineintrug. Mit diesem Werk war die Palastfassade der Hochrenaissance bereits vorbereitet, nicht aber mit dem zu später Stunde entstandenen Palast der Strozzi, der noch einmal die Macht der Rustika beschworen und zu höchster Monumentalität gesteigert hatte. Die Hochrenaissance hat die anthropomorphe Säulenordnung, nicht aber mehr den zyklopischen Stein zur Anschauung gebracht.
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungen: I f D = Institut für Denkmalpflege AS = Arbeitsstelle
Zum Beitrag von F R I E D R I C H M Ö B I U S , Die Chorpartie der westeuropäischen Klosterkirche 1 Centula (Saint-Riquier), Rekonstruktion des Grundrisses der ecclesia maior (790-799) nach dem Grabungsbericht von Honoré Bernard (Actes du 95 e Congrès nationale des Société savantes de Reims 1970, section d'Archéologie et d'Histoire de l'art, Paris 1974, S. 219-235) und der Aufstellung der Altäre nach Edgar Lehmann (Karolingische Kunst, Düsseldorf 1965, S. 374-383 [ = Karl der Große, Bd. III]). Die Begründung für den Zentralbau im östlichen Querhaus („buticum") erfolgt in einer Abhandlung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig 2 Cluny, III. Klosterkirche (Ende 11. Jh.), Rekonstruktion von Kenneth John Conant, reproduziert mit freundlicher Genehmigung des Prestel-Verlages München nach Niko-
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Zum Beitrag Der Palast Ottos 1 Magdeburg, Lageplan des Gebiets um Dom und Liebfrauenkirche mit Einzeichnung des ottonischen Doms und Pfalzgebäudes. Nach Nickel 1973 wie Anm. 1, Abb. 23 2 Magdeburg, Grundriß des ergrabenen ottonischen Pfalzgebäudes. Nach Nickel 1973 wie Anm. 1, Abb. 13 3 Aachen, Lageplan der karolingischen Pfalz. Nach Hugot 1965 wie Anm. 17, Fig. 2 4 Paderborn, Lageplan der karolingischen Pfalz. Nach Winkelmann 1966 (Epos) wie Anm. 17, Taf. IX 5 Ingelheim, Rekonstruktion der karolingischen Pfalz. Nach Rauch 6 Goslar, Grundriß des Palas der Pfalz um 1050. Nach Hoelscher 1927 wie Anm. 20, Abb. 30 7 Trier, Rekonstruktion der „Basilika", d. h. der Palastaula Konstantins des Großen. Nach Reusch 1965 wie Anm. 26, Abb. 14 (Umz'eichnung von Otto Haikenwälder)
laus Pevsner, An Outline of European Architecture, Harmondsworth/Middlesex 1963, Abb. 49 auf S. 74 ( = Pelikan Books A 109) Hirsau, Peter- und Paulskirche (Ende 11. Jh.). Rekonstruktion der Altaraufstellung vom Verf Rom, Westpartie der frühchristlichen Peterskirche. Zeichnung des Verf Cluny, Ostpartie der II. Klosterkirche (Mitte 10. Jh.). Zeichnung des Verf. Cluny, Ostpartie der III. Klosterkirche (Ende 11. Jh.). Zeichnung des Verf. Sankt Gallen Plankirche (Anfang 9. Jh.), Altaraufstellung und Kommunikationssystem. Zeichnung des Verf.
17 22 26 27 27 40
EDGAR LEHMANN,
Großen in Magdeburg
42 45 46 48 49 51
8 Pliska, Grundriß des Palastes. Nach Bitschew 1962 wie Anm. 37, Abb. 8 9 Istanbul, Grundriß und Schnitt vom Kellergeschoß des Palastes bei den Manganen. Nach Hotz 1971 wie Anm. 35, Abb. S. 87 10 Rom, Grundriß des „Tempels der Minerva Medica". Nach Günther Stanzl, Längsbau und Zentralbau als Grundthemen der frühchristlichen Architektur, Wien 1979, Taf. 5, Fig. 3 11 Aachen, Rekonstruktion der Aula Karls des Großen, Südseite. Nach Hugot 1965 wie Anm. 17, Fig. 5 12 Köln, St. Pantaleon, Rekonstruktion des Aufrisses im Zustand des frühen 11. Jh., Südseite. Nach Kubach/Verbeek 1967 wie Anm. 55, Abb. 980
53
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Zum Beitrag von G E R H A R D L E O P O L D , Der D o m Ottos I. zu Magdeburg 1 Blick aus dem Chor über den Lettner hinweg in das Mittelschiff des Doms. Aufnahme: I f D , AS Halle, Gerhard Leopold 2 Der Grabstein des 1901 freigelegten Grabes C am Westende des Nordseitenschiffs, ehemals im Nordtrakt des Atriums, heute im Kreuzgang. Aufnahme: IfD, AS Halle, Karl Geipel 3 Der ottonische Dom, Rekonstruktionsversuch des Zustands vor 1207. Zeichnung des Verf 4 Der 1926 ausgegrabene Rest der Ostkrypta des ottonischen Doms. Das Innere der großen Ostapsis, von Westen. Aufnahme: I f D , AS Halle, Steinfelder 5 Der Schmuckfußboden der 1926 ausgegrabenen Krypta des ottonischen Doms. Aufnahme: I f D , AS Halle, Karl Geipel 6 Westabschluß des ottonischen Doms, Rekonstruktions-
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7
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66 11 67 12 67
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versuch auf Grund der Grabungen von 1954-1965 und älterer Funde. Zeichnung des Verf Der Westabschnitt des Ost-West-Grabens, Fundament 2 mit seiner westlichen Vorlage, von Westen. Aufnahme: IfD, AS Halle, Gerhard Leopold Nordprofil 3 des westlichen Grabens. Zeichnung d. Verf. Südprofil 5 des westlichen Grabens. Zeichnung d. Verf. Mittleres Südprofil 4 des westlichen Grabens. Zeichnung des Verf Der Ostabschnitt des Ost-West-Grabens mit Resten der Westkrypta, von Osten. Aufnahme: IfD, AS Halle, Gerhard Leopold und 13 Nord- und Südprofil 6 und 7 am Ostende des östlichen Grabens. Zeichnung des Verf Westprofil 8a und 8b des nördlichen Grabens. Zeichnung des Verf
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Abbildungsverzeichnis
15 Der Nord-Süd-Graben, von Norden. Aufnahme: IfD, AS Halle, Gerhard Leopold 16 und 11 Westprofile 9 und 10 des nördlichen Grabens. Zeichnung des Verf
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18 Das Ring-Fundament 28 der sechzehneckigen Kapelle. Aufnahme: IfD, As Halle, Gerhard Leopold Alle Grundrisse und Profile dieses Beitrags wurden von Otto Haikenwälder, Berlin, umgezeichnet.
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Z u m B e i t r a g von HANS-JOACHIM STOLL, R e s t e eines Rundbaues 1 Magdeburg, Domplatz, Planum in einer Grabenschachtung westlich der Domturmfront. Zeichnung: St. Faust und Hans-Joachim Stoll, Berlin
84
2 Magdeburg, Domplatz, Profil in einer Grabenschachtung westlich der Domturmfront. Zeichnung: St. Faust und Hans-Joachim Stoll, Berlin
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Z u m B e i t r a g v o n A N E Z K A M E R H A U T O V Ä u n d D U S A N TRESTI'K,
Spezifische Züge der böhmischen K u n s t 1 Denar des mährischen Teilfürsten Konrad I. Aufnahme: Ceskoslovenskä akademie ved, üstav teorie a dejin umeni, Prag, Reprod.: Jiri Hampl 2 Denar Vratislaus II. Aufnahme: Prokop Paul, Prag . . 3 Denar des Olmützer Teilfürsten Wenzel. Aufnahme: Ceskoslovenskä akademie ved, üstav teorie a dejin umeni, Prag, Reprod.: Jiri Hampl 4 Denar Viadislaus I. Aufnahme: Ceskoslovenskä akademie ved, üstav teorie a dejin umeni, Prag, Reprod.: Jiri Hampl 5 Jakobskirche im Dorfe Jakub, 1165. Aufnahme: Alexandr Paul, Prag 6 Znojmo (Znaim), Wandgemälde in der Rotunde, vermutlich 1134, Detail der pfemyslidischen Genealogie. Aufnahme: Prokop Paul, Prag 7 Civitas dei, Titelblatt, Archiv der Prager Burg A 7, vor oder um 1170. Aufnahme: Prokop Paul, Prag . . 8 Gumpold-Legende aus Wolfenbüttel, Titelblatt, vor 1006. Aufnahme: Ceskoslovenskä akademie ved, üstav teorie a dejin umeni, Prag, Reprod.: Jiri Hampl . . . . 9 Denar Jaromirs. Aufnahme: Ceskoslovenskä akademie ved, üstav teorie a dejin umeni, Prag, Reprod.: Jiri Hampl 10 Denar Oldrichs (Ulrichs). Aufnahme: Prokop Paul, Prag 11 Kodex vyäehradensis, Init. D, fol. 68r, SKU X I V A 13. Aufnahme: Ceskoslovenskä akademie ved, üstav teorie a dejin umeni, Prag • 12 Denar Borivojs II. Aufnahme: Prokop Paul, Prag . .
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Zum Beitrag Die Kloste 1 Jerichow, Prämonstratenserstift S. Maria und Nikolaus, Grundriß von Kirche und Klausur. Nach Alfred Schirge (Hrsg.), Dom zu Havelberg, 2. Aufl., Berlin 1970 2 Ansicht von Nordosten. Aufnahme: Klaus G. Beyer, Weimar 3 Langhaus und Türme von Süden. Aufnahme: Klaus G. Beyer, Weimar 4 Langhaus nach Osten. Aufnahme: Otfried Birnbaum, Halle 5 Blick vom Querhaus ins nördliche Seitenschiff. Aufnahme: Klaus G. Beyer, Weimar 6 Chor nach Osten. Aufnahme: Otfried Birnbaum, Halle 7 Krypta nach Osten. Aufnahme: Klaus G. Beyer, Weimar
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13 Denar Borivojs II. Aufnahme: Prokop Paul, Prag . . . . 14 Denar Borivojs II. Aufnahme: Ceskoslovenskä akademie vëd, üstav teorie a dëjin umëni, Prag, Reprod. : Jiri Hampl 15 Denar Borivojs II. Aufnahme: Prokop Paul, Prag . . . . 16 Denar Svatopluks. Aufnahme: Prokop Paul, Prag . . . . 17 Denar Sobëslaus I. Aufnahme : Ceskoslovenskä akademie vëd, üstav teorie a dëjin umëni, Prag, Reprod. : Jiri Hampl 18 Denar Viadislaus II. Aufnahme : Ceskoslovenskä akademie vëd, üstav teorie a dëjin umëni, Prag, Reprod. : Jiri Hampl 19 Siegel Vladislaus II. - Fürst. Aufnahme: Ceskoslovenskä akademie vëd, üstav teorie a dëjin umëni, Prag, Reprod.: Jiri Hampl 20 Siegel Vladislaus II. - König, Rev. Aufnahme : Prokop Paul, Prag 21 Flores s. Bemardi, Titelblatt (nach 1148), Olomouc, Kapitelbild. Aufnahme: Prokop Paul, Prag 22 Denar Vladislaus II. Aufnahme: Prokop Paul, Prag . . 23 Relief auf dem Turm der ehemaligen Judithbrücke. Originalkopf des Knienden im Museum der Stadt Prag. Aufnahme: Alexandr Paul, Prag 24 Sog. Horologium Olomucense, Titelblatt, Stockholm. Aufnahme: Prokop Paul, Prag . . 25 Originalteile des südlichen Portaltympanons der St. Georgsbasilika auf der Prager Burg, jetzt in der Nationalgalerie im Georgskloster. Aufnahme: Prokop Paul, Prag
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PETER RAMM,
he Jerichow 8 Krypta, Doppelkapitell. Aufnahme: Klaus G. Beyer, Weimar 9 Krypta, Kapitell der westlichen Säule. Aufnahme: Klaus G. Beyer, Weimar 10 Krypta, Kapitell der östlichen Säule. Aufnahme: Klaus G. Beyer, Weimar 11 Krypta, Wandpfeiler. Aufnahme: Klaus G. Beyer, Weimar 12 Winkel zwischen südlichem Querhausarm und Südseitenschiff mit Seitenschilfsportal. Aufnahme: Jörg Woltersdorf, Halle
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Abbildungsverzeichnis
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Zum Beitrag von ERNST SCHUBERT, Der Westchor des Naumburger Doms 1 D e r D o m zu N a u m b u r g von Südwesten. A u f n a h m e : K l a u s G . Beyer, W e i m a r 2 D i e Klosterkirche zu Schulpforta von W e s t e n . A u f nahme: I f D , AS Halle 3 D e r D o m zu M e i ß e n v o n Südosten. A u f n a h m e : K l a u s G . Beyer, W e i m a r 4 N a u m b u r g , D o m , G r u n d r i ß des Westchors. N a c h d e r P l a n a u f n a h m e von G e r h a r d L e o p o l d , H a l l e 5 D e r Westchor des N a u m b u r g e r D o m s v o n Südwesten. A u f n a h m e : G e r h a r d L e o p o l d u n d Ernst Schubert, H a l l e 6 D e r W e s t c h o r des N a u m b u r g e r D o m s , Inneres von O s t e n . A u f n a h m e : K l a u s G . Beyer, W e i m a r 7 N a u m b u r g , D o m , Westchor, N o r d w a n d mit D o r s a l e . A u f n a h m e : K l a u s G . Beyer, W e i m a r 8 Schulpforta, Klosterkirche, Chor v o n Südosten. A u f n a h m e : G e r h a r d L e o p o l d und Ernst Schubert, H a l l e . . 9 Schulpforta, Klosterkirche, G r u n d r i ß des Chors. Nach einem unsignierten G r u n d r i ß des 19. Jh. im I f D , A S Halle 10 Chor d e r Klosterkirche in Schulpforta, Inneres von Westen. A u f n a h m e : G e r h a r d L e o p o l d und E r n s t Schubert, H a l l e
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11 M e i ß e n , D o m , Chor mit U m g a n g v o n Süden. A u f n a h m e : K l a u s G . Beyer, W e i m a r 12 M e i ß e n , D o m c h o r , Inneres v o n W e s t e n . A u f n a h m e : K l a u s G . Beyer, W e i m a r 13 M e i ß e n , D o m , G r u n d r i ß des Chors mit U m g a n g in F e n sterhöhe. Nach einer P l a n a u f n a h m e v o n Cornelius G u r litt im I f D , A S D r e s d e n 14 M e i ß e n , D o r s a l e , Ausschnitt. A u f n a h m e : K l a u s G . Beyer, W e i m a r 15 N a u m b u r g , D o m , G r u n d r i ß des Westchors in L a u f g a n g höhe. N a c h d e r P l a n a u f n a h m e von G e r h a r d L e o p o l d , Halle 16 Schulpforta, Klosterkirche, G r u n d r i ß des Chors in L a u f ganghöhe. N a c h einem unsignierten G r u n d r i ß des 19. J h . im I f D , A S H a l l e 17 N a u m b u r g , D o m , Westchor, Schlußstein des Polygongewölbes. A u f n a h m e : Erich Kirsten, Leipzig 18 Schulpforta, Chor d e r Klosterkirche, Schlußstein des Polygongewölbes. A u f n a h m e : Erich Kirsten, Leipzig . . 19 M e i ß e n , D o m c h o r , Schlußstein des Polygongewölbes. A u f n a h m e : Erich Kirsten, Leipzig
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Zum Beitrag von ERNST BADSTÜBNER, Klosterbaukunst und Landesherrschaft 1 M a g d e b u r g , Liebfrauenkirche, W e s t b a u . A u f n a h m e : I f D , A S Berlin, Joachim Fritz 2 Jerichow, Prämonstratenserkirche, W e s t b a u . A u f n a h m e : I f D , A S Berlin, Joachim Fritz 3 M a g d e b u r g , Liebfrauenkirche, W e s t b a u . N a c h K u n z e 1925 wie A n m . 16 4 Leitzkau, Prämonstratenserkirche St. M a r i e n , R e k o n struktion. Korrigierte Umzeichnung nach K a h l 1964 wie Anm. 9 5 Jerichow, Prämonstratenserkirche. N a c h K u n z e 1925 wie A n m . 16 6 Jerichow, Prämonstratenserkirche, Ansicht v o n Osten. A u f n a h m e : I f D , A S Berlin, Joachim Fritz 7 Leitzkau, Prämonstratenserkirche St. M a r i e n , Mittelschiff nach W e s t e n . A u f n a h m e : I f D , A S H a l l e , K a r l G e i p e l 8 Jerichow, Prämonstratenserkirche, Mittelschiff nach O s t e n . A u f n a h m e : I f D , A S Berlin, Joachim Fritz . . . . 9 Brandenburg, Gotthardkirche, Westbau. Aufnahme: I f D , A S Berlin, Archiv 10 B r a n d e n b u r g , G o t t h a r d k i r c h e , W e s t b a u . Umzeichnung nach Eichholz 1 9 1 2 wie A n m . 25 11 B r a n d e n b u r g , D o m , Rekonstruktion. Zeichnung des V e r f . 12 B r a n d e n b u r g , D o m , Mittelschiff nach O s t e n . A u f n a h m e : I f D , A S Berlin, D i e t e r M ö l l e r 13 H a v e l b e r g , D o m , Mittelschiffsarkaden d e r N o r d s e i t e . A u f n a h m e des Verf 14 H a v e l b e r g , D o m , Rekonstruktion. N a c h Schirge 1970 w i e A n m . 31 15 H a v e l b e r g , D o m , Ansicht von Osten. A u f n a h m e : Staatl. Fotothek Dresden 16 H a v e l b e r g , D o m , südliches Seitenschiff nach O s t e n . A u f n a h m e : Staatl. F o t o t h e k D r e s d e n 17 H a v e l b e r g , D o m , Querschnitt durch das Langhaus nach W e s t e n . N a c h Schirge 1970 w i e A n m . 31
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18 H a v e l b e r g , D o m , W e s t b a u . A u f n a h m e : Staatl. F o t o t h e k Dresden 19 Lehnin, Zisterzienserkirche. N a c h U l i m a n n 1 9 8 0 wie A n m . 44 20 Lehnin, Zisterzienserkirche, Ansicht v o n Osten. A u f n a h m e : I f D , A S Berlin, R e n a t e W o r e l 21 Lehnin, Zisterzienserkloster, Ansicht v o n O s t e n , Zeichnung von J o h a n n Christoph Beckmann. N a c h Schultze 1930 wie A n m . 4 3 2 2 Lehnin, Zisterzienserkirche, Mittelschiff nach O s t e n . A u f n a h m e : K l a u s G . Beyer, W e i m a r 2 3 Lehnin, Zisterzienserkirche, Mittelschiff nach W e s t e n . A u f n a h m e : K l a u s G . Beyer, W e i m a r 24 Lehnin, Zisterzienserkirche, südliches Seitenschiff n a d i W e s t e n . A u f n a h m e : K l a u s G . Beyer, W e i m a r 2 5 Lehnin, Zisterzienserkirche, Ansicht v o n W e s t e n . A u f n a h m e : K l a u s G . Beyer, W e i m a r 26 Lehnin, Zisterzienserkloster, Ansicht v o n W e s t e n , Zeichnung von J o h a n n Christoph Beckmann. N a c h Schultze 1930 wie A n m . 4 3 27 Mariensee, Zisterzienserkirche, e r g r a b e n e r G r u n d r i ß des Chores. N a c h Schmoll 1 9 6 1 w i e A n m . 58 28 Chorin, Zisterzienserkirche. N a c h G e o r g P r a n g e , D a s Kloster Chorin, Berlin 1 9 7 3 29 Chorin, Zisterzienserkirche, Chor und Q u e r h a u s von N o r d o s t e n . A u f n a h m e : G ü n t e r Bittner, Eggersdorf . . 30 Chorin, Zisterzienserkirche, südlicher Querschiffgiebel. A u f n a h m e : G ü n t e r Bittner, Eggersdorf 31 Chorin, Zisterzienserkirche, südliche Pfeilerreihe des Langhauses. A u f n a h m e : I f D , A S Berlin, Regina Lessmann 3 2 Chorin, Zisterzienserkirche, nördlicher Querhausgiebel. A u f n a h m e : G ü n t e r Bittner, Eggersdorf
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Abbildungsverzeichnis
33 Chorin, Zisterzienserkirche, Westfassade. Aufnahme: Günter Bittner, Eggersdorf 34 Chorin, Zisterzienserkirche, Mittelschiff nach Osten. Aufnahme: Günter Bittner, Eggersdorf 35 Chorin, Zisterzienserkirche, Kapitell an einem Langhauspfeiler. Aufnahme: Klaus G. Beyer, Weimar 36 Chorin, Zisterzienserkirche, Mittelschiff nach Westen. Aufnahme: Günter Bittner, Eggersdorf 37 Chorin, Zisterzienserkirche, Westfassade von Nordwesten. Aufnahme: Günter Bittner, Eggersdorf . . . . 38 Prenzlau, Franziskanerkirche. Nach Dehio-Handbuch Bezirke Neubrandenburg, Rostock, Schwerin, Berlin 1968 39 Chorin, Zisterzienserkirche, Innenansicht der Westwand. Aufnahme: Günter Bittner, Eggersdorf 40 Angermünde, Franziskanerkirche, Ansicht von Westen. Aufnahme: IfD, AS Berlin, Joachim Fritz 41 Angermünde, Franziskanerkirche. Nach Rudolf Bergau, Inventar der Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Brandenburg, Berlin 1885
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42 Berlin, Franziskanerkirche, Mittelschiff nach Osten. Aufnahme: IfD, AS Berlin, Renate Worel 43 Berlin, Franziskanerkirche. Nach Bronisch 1933 wie Anm. 97 44 Neuruppin, Dominikanerkirche. Nach Eichholz 1914 wie Anm. 107 45 Neuruppin, Dominikanerkirche, Mittelschiff nach Osten. Aufnahme: IfD, AS Berlin, Regina Lessmann 46 Neuruppin, Dominikanerkirche, Ansicht von Südosten. Handzeichnung im IfD, AS Berlin, Reprod.: Dieter Möller 41 Brandenburg, Dominikanerkloster, Ansicht von Südosten. Aufnahme: IfD, AS Berlin, Renate Worel 48 Brandenburg, Dominikanerkloster, Ansichten und Schnitte. Zeichnung im IfD, AS Berlin, Archiv 49 Brandenburg, Dominikanerkloster, Grundriß und Lageplan. Zeichnung im IfD, AS Berlin, Archiv
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Z u m Beitrag v o n G E Z A E N T Z , Zur Frage der W e s t e m p o r e n 1 St. Andreaskirche in Taliändörögd. Aufnahme: Sammlung des Inspektorats für Denkmalpflege Budapest . . . . 2 Quer- und Längsschnitt der romanischen Kirche in Csaroda, Mitte des 13. Jh. Zeichnung: Sammlung des Inspektorats für Denkmalpflege Budapest 3 Längsschnitt der Kirche in Großschenk (Cincu), 1. Hälfte des 13. Jh. Zeichnung: Sammlung des Inspektorats für Denkmalpflege Budapest
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4 Empore der Probsteikirche in Felsöörs. Aufnahme: Sammlung des Inspektorats für Denkmalpflege Budapest 5 Längsschnitt der Georgskirche in Jäk, 1220-1256. Zeichnung: Sammlung des Inspektorats für Denkmalpflege Budapest 6 Sitznischen auf der Empore der Kirche von Jäk. Aufnahme: Sammlung des Inspektorats für Denkmalpflege Budapest
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Z u m Beitrag v o n D I E T E R K I M P E L , D i e E n t f a l t u n g der gotischen Baubetriebe 1 Amiens, Schema der Wandvorlagen. Zeichnung des Verf. 2 Amiens, Schema der Langhauspfeiler (untere Partien). Zeichnung des Verf 3 Amiens, Schema der Langhauspfeiler (obere Partien) und der Chorpfeiler. Zeichnung des Verf 4 Amiens, Schema der Pfeiler im nördlichen Langchor und östlichen Nordquerhaus. Zeichnung des Verf 5 Speyer, Mauerverband im Nordquerhaus. Nach Haas/ Kubach 1972 wie Anm. 7 6 Amiens, Nivellierungsdiagramm der nördlichen Wandvorlagen. Zeichnung des Verf 7 Amiens, Nivellierungsdiagramm der südlichen Wandvorlagen. Zeichnung des Verf S Jumieges, Schema einer Wandvorlage. Zeichnung des Verf 9 Soissons, Wandvorjage im südlichen Langhausseitenschiff. Aufnahme des Verf 10 Chartres, Schema der Pfeiler mit oktogonalem Kern. Zeichnung des Verf 11 Chartres, Schema der Pfeiler mit rundem Kern. Zeichnung des Verf
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12 Reims, Schema der Pfeiler. Zeichnung des Verf 13 Clermont-Ferrand, Notre-Dame-du-Port, Schema eines Langhauspfeilers. Zeichnung des Verf 14 Reims, Schema einiger Lagen bei dem westlichen Pfeilerpaar auf der Südseite. Zeichnung des Verf 15 St. Denis, Schema der Langhauspfeiler. Zeichnung des Verf 16 St. Denis, Schema der Langhausvorlagen. Zeichnung des Verf 11 Dijon, Notre-Dame, Schnitt durch die Hochschiffwand. Nach Viollet-le-Duc 1875 wie Anm. 14 18 Reims, Aufmauerung einer Jochwand im südlichen Langhausseitenschiff zwischen zwei gestapelten Vorlagen mit wechselnder Versatzrichtung. Zeichnung des Verf 19 Schematische Darstellung einer in Horizontalbauweise errichteten Seitenschiffswand (wie z. B. in Chartres). Zeichnung des Verf 20 Schematische Darstellung einer in Skelett- und Stapelbauweise errichteten Seitenschiffswand (wie z. B. im Langhaus von St. Denis). Zeichnung des Verf
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Abbildungsverzeichnis Zum Beitrag von HANS-JOACHIM D i e Kirchen in Lüneburg
1 L ü n e b u r g . N a c h M e r i a n , a u s : I m m e Ferger, L ü n e b u r g . E i n e siedlungsgeographische Untersuchung, Bonn 1 9 6 9 2 L ü n e b u r g , Klosterkirche Heiligenthal, A u f r i ß . N a c h Mithoff 1 8 7 7 wie A n m . 4 , Bd. 4, S. 172 3 Lüneburg, Klosterkirche Heiligenthal, G r u n d r i ß . Nach Mithoff 1877 wie A n m . 4, Bd. 4, S. 172 4 L ü n e b u r g , Johanniskirche, Langhaus von W e s t e n . A u f n a h m e : Bildarchiv F o t o M a r b u r g 5 V e r d e n , D o m c h o r von d e r V i e r u n g aus gesehen. A u f n a h m e : Bildarchiv F o t o M a r b u r g 6 L ü n e b u r g , Michaeliskirche, Inneres nach O s t e n . A u f n a h m e : Bildarchiv F o t o M a r b u r g 7 L ü n e b u r g , Michaeliskirche, Langhaus v o n Südwesten. A u f n a h m e : Bildarchiv F o t o M a r b u r g
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KUNST,
8 H a r s e f e l d , Kirche, Langhaus nach n a h m e : Bildarchiv F o t o M a r b u r g
Nordosten.
Auf279
9 Lüneburg, Lambertikirche, G r u n d r i ß . N a c h Inventar w i e A n m . 3, Fig. 4 0 10 Lüneburg, Johanniskirche, Chor, sog. J u n k e r n l e k t o r . A u f n a h m e : Bildarchiv F o t o M a r b u r g 11 L ü n e b u r g , Nikolaikirche, Querschnitt. N a c h I n v e n t a r wie A n m . 3 12 L ü n e b u r g , Nikolaikirche, Mittelschiff. A u f n a h m e : Bildarchiv F o t o M a r b u r g 13 L ü n e b u r g , Nikolaikirche, Mittelschiffsgewölbe. A u f n a h m e : Bildarchiv F o t o M a r b u r g 14 Lüneburg, Nikolaikirche, G r u n d r i ß . N a c h I n v e n t a r wie A n m . 3, Fig. 4 1
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Zum Beitrag von E R N Ö MAROSI, Zum Prinzip des „pars pro toto" 1 Felsöörs (Ungarn), W e s t f a s s a d e , vor 1240. A u f n a h m e : György M a k k y , B u d a p e s t 2 Kaschau (Koäice), Pfarrkirche St. Elisabeth, W e s t p o r tale, A n f a n g des 15. Jh. A u f n a h m e des Verf 3 G e o r g e n b e r g (Zips/SpiSskä Sobota), nördliche Chorw a n d , Sakramentsnische mit gemalter Bekrönung, um 1464. A u f n a h m e : György M a k k y , B u d a p e s t
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Zum Beitrag Der Fiori 1 Palazzo Medici-Riccardi, Florenz, Seitenfassade. A u f n a h m e des Verf 2 Palazzo Spini-Ferroni, Florenz. A u f n a h m e des V e r f . . . 3 Palazzo Spini an d e r Piazza Santa Trinita. A u f n a h m e : Omniafoto, Turin 4 Palazzo Mozzi, V i a San Niccolo, Florenz. A u f n a h m e des Verf 5 Palazzo Saracini, Siena. A u f n a h m e des Verf 6 Palazzo Medici-Riccardi, Florenz. A u f n a h m e : Bildarchiv Foto Marburg 7 Palazzo A p p i a n o , Pisa. A u f n a h m e des Verf 8 Casa d e l l ' O p e r a d e l D u o m o , Lucca. A u f n a h m e des V e r f . 9 Palazzo Guinigi, Lucca. A u f n a h m e des Verf 10 Stadtpalast, Lucca. A u f n a h m e des Verf 11 Palazzo della M e r c a n z i a , Florenz. A u f n a h m e des V e r f . 12 Palazzo Pubblico, Siena. A u f n a h m e des Verf 13 Palazzo Vecchio, Florenz. A u f n a h m e des Verf 14 Palazzo Canigiani, Florenz. A u f n a h m e des Verf 15 Palazzo Rucellai, Florenz. A u f n a h m e des Verf 16 B i f o r i e n f e n s t e r des Bischofspalastes, Florenz. A u f n a h m e : Soprintendenza, Florenz 17 H a u s f a s s a d e mit L a d e n r ä u m e n , Ostia. A u f n a h m e des Verf 18 Bogenöffnung, Palazzo Vecchio, Florenz. A u f n a h m e des Verf 19 T o r einer H o r r e a , Ostia. A u f n a h m e des Verf 20 T o r e , Rückseite des Palazzo Vecchio, Florenz. A u f n a h m e des Verf 21 Palazzo D a v a n z a t i , Florenz. A u f n a h m e des Verf
4 Karlstein (Karlstejn), M a r i e n k a p e l l e , Reliquienszenen und Sockelmalerei an der S ü d w a n d , um 1 3 5 7 / 5 8 . Rep r o d . : György M a k k y , B u d a p e s t 5 Lincoln, K a t h e d r a l e , A r k a d e n an der südlichen Seitenschiffswand des „St. H u g h ' s Choir", A n f a n g des 13. Jh. R e p r o d . : György M a k k y , B u d a p e s t
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HEINRICH KLOTZ,
er Stadtpalast 2 2 H o r r e a , Ostia. A u f n a h m e des Verf 2 3 Kranzgesims, Palazzo Medici, Florenz. A u f n a h m e Verf
322 des
24 Kranzgesims, Basilika Aemilia, R o m . A u f n a h m e des Verf 25 Biforienfenster, Palazzo Strozzino, Florenz. A u f n a h m e des Verf 26 Biforienfenster, Palazzo Vecchio, Florenz. A u f n a h m e : Alinari 27 Bossenwand, A u g u s t u s f o r u m , R o m . A u f n a h m e des V e r f . 28 Seitenfassade des Palazzo Vecchio, Florenz. A u f n a h m e des Verf 29 G r a b m a l d e r Metella, R o m . A u f n a h m e des Verf 30 Rustika, Palazzo Strozzino, Florenz. A u f n a h m e des V e r f . 31 Rustika, Palazzo D a v a n z a t i , Florenz. A u f n a h m e des Verf 32 Casatorre dei Foresi, Florenz. A u f n a h m e des Verf 32a Casatorre dei Foresi, Florenz. A u f n a h m e des V e r f . . . 33 Palast in der V i a T o r n a b u o n i , Florenz. A u f n a h m e des Verf 34 T o r r e della Castagna, Florenz. A u f n a h m e des V e r f . . . 35 Palazzo del Podestà, (Bargello) Florenz. A u f n a h m e : Alinari 36 G r u n d r i ß des Palazzo del P o d e s t à , Florenz. A u f n a h m e des Verf 3 7 Palazzo del Podestà, Florenz. A u f n a h m e des Verf 38 Palazzo del P o d e s t à , Florenz, Rekonstruktion. A u f n a h m e des Verf
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Abbildungsverzeichnis
39 Biforienfenster, Palazzo del Podestà, Florenz. Aufnahme des Verf 40 Kastell Friedrichs II., Prato, Detail. Aufnahme des Verf. 41 Turm des Capitano del Popolo, San Gimignano. Aufnahme des Verf 42 Rustizierter Turm des Capitano del Popolo, San Gimignano. Aufnahme des Verf 45 Kastell der Grafen Guidi, Poppi. Aufnahme des Verf. 44 Kastell der Grafen Guidi, Poppi. Aufnahme des Verf. 45 Privatpalast, Via delle Stinche, Florenz. Aufnahme des Verf
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46 Privatpalast, Via delle Stinche, Florenz. Aufnahme des Verf 47 Privatpalast, Via delle Stinche, Florenz. Aufnahme des Verf 48 Erdgeschoßfenster, Palazzo Vecchio, Florenz. Aufnahme des Verf 49 Palazzo Davanzati, Florenz. Aufnahme des Verf 50 Privatpalast, Florenz. Aufnahme des Verf
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