Arbeitsrecht - Klausurenkurs: Fälle - Prüfungsschemata - Systematik [2. neu bearbeitete Auflage] 9783504386788

Der Band enthält 21 Fälle mit ausformulierten Lösungen, die in jahrelanger Lehr- und Prüfungstätigkeit entstanden sind u

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German Pages 328 Year 2019

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Arbeitsrecht - Klausurenkurs: Fälle - Prüfungsschemata - Systematik [2. neu bearbeitete Auflage]
 9783504386788

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Preis · Seiwerth Arbeitsrecht – Klausurenkurs

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Arbeitsrecht Klausurenkurs Fälle · Prüfungsschemata · Systematik von

Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich Preis Universitätsprofessor Köln

und

Dr. Stephan Seiwerth, LL.M. Akademischer Rat a. Z. Köln

2. Auflage 2020

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-42689-7 ©2020 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche­ rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungs­ beständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Stückle, Ettenheim Printed in Germany

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Vorwort Das vorliegende Werk knüpft an den in erster Auflage 2012 publizierten Klausurenkurs im Individualarbeitsrecht an. Es ist insbesondere das Verdienst des Mitautors Stephan Seiwerth, Materialien aus 40 Jahren Lehre im Arbeitsrecht aufgearbeitet und zu einem systematischen Lernbuch anhand von Fällen fortentwickelt zu haben. Besonders nützlich ist es zur Repetition und zum Klausurentraining im Grundstudium (Fälle 1–15) und im Examen (Fälle 16–21). Das Buch bietet alles, was die Studierenden zur Bewältigung von Klausuren im Grundstudium und im Examen benötigen. Im Klausurenband sind neben den Standardthemen (Kündigungsschutz, Arbeitnehmerhaftung, AGB-Kontrolle, Anfechtung) auch besonders aktuelle Themen berücksichtigt (etwa Befristungsrecht, 40-Euro-Pauschale, Diskriminierungsrecht, Ausschlussfristen und Mindestlohn). Der vorliegende Klausurenband versucht, in 21 ausformulierten Fällen mit Lösungen, die zum großen Teil Gegenstand von Prüfungsarbeiten waren, den Studierenden und Examenskandidaten strukturierte Klausurlösungen für das Selbststudium an die Hand zu geben. Die Klausuren sind in jahrelanger Lehr- und Prüfungspraxis entstanden. Die Lösungshinweise sind so strukturiert, wie sie im Grundstudium und im Examen erwartet werden. Dabei ist zu bedenken, dass der Umfang der Lösungshinweise nicht erwartet werden kann. Insoweit helfen aber die Lösungshinweise, den eigenen Argumentationshaushalt zu verbessern. Das Werk beschränkt sich weiterhin auf den Pflichtstoff der Ersten juristischen Prüfung. In fast allen Juristenausbildungsgesetzen der Länder gehört das Arbeitsrecht, und zwar schon als Bestandteil des Bürgerlichen Rechts (§§ 611a–630 BGB), zum Pflichtfachstoff. § 11 Abs. 2 Nr. 6 JAG NRW bestimmt den Umfang des Prüfungsstoffes wie folgt: „aus dem Arbeitsrecht im Überblick: Inhalt, Begründung und Beendigung des Arbeitsverhältnisses, Leistungsstörungen und Haftung im Arbeitsverhältnis einschließlich der zugehörigen Regelungen aus dem Tarifvertrags- und Betriebsverfassungsrecht“ (siehe ähnlich in § 7 Nr. 2 h JAG Hessen, § 18 Abs. 2 Nr. 3 JAPO Bayern u.a.). Es ist mit diesen Formulierungen ein weithin bundesweiter Konsens über die Prüfungsinhalte im Arbeitsrecht festzustellen. Problematisch ist freilich der Hinweis auf die „zugehörigen Regelungen aus dem Tarifvertrags- und Betriebsverfassungsrecht“. Bei extensiver Interpretation könnte so das gesamte Kollektivarbeitsrecht (mit Ausnahme des Arbeitskampfrechts) Prüfungsstoff sein, weil etwa in eine individualarbeitsrechtliche Grundfrage (z.B. Entgeltanspruch oder Kündigung eines Arbeitsverhältnisses) schwierigstes „zugehöriges“ Kollektivarbeitsrecht eingearbeitet werden kann. Dies kann aber durch die Gesetzgeber der Juristenausbildungsgesetze nicht gewollt gewesen sein. Insofern finden sich in diesem Klausurenband keine Klausuren mit komplexeren kollektivarbeitsrechtlichen Fragestellungen. Zur systematischen Durchdringung des Stoffes sei auf das im selben Verlag erschienene Lehrbuch zum Individualarbeitsrecht, 6. Aufl. 2019, verwiesen. In dem parallel erschienenen Band zum Kollektivarbeitsrecht, 5. Aufl. 2019, sind weitere Klausuren mit kollektivarbeitsrechtlichen Fragestellungen enthalten. Das Werk gibt den Rechtsstand vom 1.9.2019 wieder. Für Kritik und Anregungen aus dem Kreis der Leserinnen und Leser sind wir immer dankbar. Köln, im September 2019 Ulrich Preis/Stephan Seiwerth V

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Konzeption Die Konzeption dieses Buchs Dieses Buch dient einerseits dem Studium begleitend zu einer arbeitsrechtlichen Grundvorlesung, insbesondere dann, wenn keine begleitende Arbeitsgemeinschaft angeboten wird. Andererseits soll es auch dem effizienten Repetieren und der Vorbereitung auf das Examen dienen. Die Lösungsvorschläge sind ausformuliert und konzentrieren sich auf das, was von Prüfungsarbeiten im Pflichtfach noch erwartet werden könnte. Probleme werden weniger anhand einer klausuruntypischen Auseinandersetzung mit Rechtsprechung und Literatur der vergangenen Jahrzehnte, sondern vor allem durch normativ angebundene Argumente anhand der Auslegungs- und Rechtsfortbildungsmethoden entfaltet. Denn in Klausuren des Pflichtfachs Arbeitsrecht geht es erfrischenderweise weniger um die Reproduktion fremder Methode, sondern um die Kenntnis von Grundstrukturen bei Problembewusstsein im Übrigen. Die Nachweise sind bewusst reduziert, am Ende jedes Falls finden sich aber konkrete Hinweise auf die entsprechenden Stellen jeweils in einem kurzen und einem langen Lehrbuch. Über das, was man im Gutachten schreiben sollte und könnte hinausgehende Hinweise sind abgesetzt in Kästen dargestellt. Aus didaktischen Gründen sind die Lösungsvorschläge aber meist ausführlicher als das, was in der Klausursituation geleistet werden könnte. Zusammengenommen können die Kästen als grundlegendes Repetitorium verwendet werden. Im Wesentlichen entsprechen sie dem, was in einem kompakten arbeitsrechtlichen Repetitorium gelehrt werden könnte. Inhaltlich decken die Fälle den Kern der prüfungsrelevanten Materie ab. Die 21 Fälle teilen sich daher auf in: 1. Fälle 1–8 zum Erlernen und Wiederholen der Grundlagen. Kernfragen des Individualarbeitsrechts sind (1) Arbeitnehmerbegriff, (2) Mängel des Arbeitsvertrags, (3) AGB-Kontrolle des Arbeitsvertrags, (4) Gleichbehandlung im Arbeitsverhältnis, (5) Lohn ohne Arbeit, (6) Besonderheiten der Haftung, (7) Kündigung und (8) Kündigungsschutzklage. Die Fälle hier sind Einführungsfälle mit wenigen Problemen und einer spezifischen Frage. Die erläuternden Kästen befassen sich mit Kernaspekten des Stoffs. 2. Fälle 9–15 sind Fälle, die eine Semesterabschlussklausur der Grundvorlesung Arbeitsrecht (oder auch ein größerer AG-Fall) sein könnten1 oder waren. Die Fälle hier zeichnet aus, dass sie Probleme aus mehreren Teilbereichen des Individualarbeitsrechts schon komplexerer Art enthalten und dass eine Bearbeitung unter Klausurbedingungen in 120 Minuten erwartet würde. Würden diese Fälle mit Elementen anderer Semesterabschlussklausuren angereichert, hätten diese Fälle größtenteils schon Examensniveau. Die erläuternden Kästen befassen sich zum Teil mit einer Vertiefung des Stoffs, zum Teil mit alternativen Lösungsmöglichkeiten. 3. Fälle 16–21 sind Fälle, die Examensklausuren sein könnten oder waren. Die Fälle hier zeichnet die Vielzahl an Problemen aus mehreren Teilbereichen komplexerer Art und zum Teil eine Verzahnung mit Problemen des allgemeinen Zivilrechts oder des Zivilprozessrechts aus. Eine Bearbeitung würde in 5 Stunden erwartet werden, Ausschnitte wären auch als Se-

1 Es wurden nicht ausschließlich Original-Semesterabschlussklausuren verwendet, um innerhalb dieses Buchs eine vollständigere thematische Abdeckung zu erreichen.

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Die Konzeption dieses Buchs

mesterabschlussklausur oder größerer AG-Fall geeignet. Die erläuternden Kästen und in kursiv gesetzten Bemerkungen befassen sich zu einem kleineren Teil mit einer Vertiefung des Stoffs, größtenteils mit alternativen Lösungsmöglichkeiten und klausurtaktischen Hinweisen. Die Schemata und Übersichten am Ende des Buchs dienen dem schnellen Wiederholen des Stoffs.

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Inhaltsverzeichnis Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht der Fälle und Rechtsfragen Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . .

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V VII IX XIII

Fall 1: „Tiefkühlfracht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Arbeitnehmerbegriff, Franchise-Nehmer als Arbeitnehmer)

1

Fall 2: „Registrierte Trunkenheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Arglistige Täuschung bei Einstellungsgespräch, Rückabwicklung des (vollzogenen) Arbeitsverhältnisses, Außer Funktion gesetztes Arbeitsverhältnis)

7

Fall 3: „Kein Dienst, kein Wagen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (AGB-Kontrolle eines arbeitsvertraglichen Widerrufsvorbehalts nach §§ 307 ff. BGB; Reichweite des Verbots der geltungserhaltenden Reduktion nach § 306 Abs. 2 BGB in Arbeitsverträgen) (Arglistige Täuschung bei Einstellungsgespräch, Rückabwicklung des (vollzogenen) Arbeitsverhältnisses, Außer Funktion gesetztes Arbeitsverhältnis)

16

Fall 4: „Schwerlast“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Benachteiligungsverbot nach dem AGG; Verschweigen der Schwangerschaft im bestehenden Arbeitsverhältnis)

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Fall 5: „Die aufsässige Monteurin“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Annahmeverzug, Entbehrlichkeit des Angebots, Maßregelungsverbot, allgemeiner arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz, Entstehen einer betrieblichen Übung)

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Fall 6: „Staplerfahrer Klaus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Arbeitnehmerhaftung, Haftungsmilderung im Arbeitsverhältnis, Bezugspunkt des Verschuldens, Haftung unter Arbeitskollegen und im gemeinsamen Betrieb, §§ 104 ff. SGB VII, Schmerzensgeld, Freistellungsanspruch gegenüber dem Arbeitgeber)

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Fall 7: „Examen erforderlich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Arbeitnehmerbegriff, Zugang der Kündigungserklärung, Abgrenzung betriebs-, verhaltens- und personenbedingter Kündigung)

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Übersicht der Fälle und Rechtsfragen Teil 1: Einführungsfälle mit Kernaspekten des prüfungsrelevanten Stoffs

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Fall 8: „Ganzheitliche Begleitung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Zulassung verspäteter Klage nach § 5 KSchG, Zulässigkeit einer Kündigungsschutzklage, Zugang einer Kündigung während Urlaubsabwesenheit, verhaltensbedingte Kündigung, Nebentätigkeitsverbote, Mehrfachabmahnung)

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Teil 2: Fälle, die Semesterabschlussklausuren waren oder sein könnten Fall 9: „Das exklusive Wellnesshotel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Gesamtzusage, Sonderzahlungen, AGB-Kontrolle von Freiwilligkeitsvorbehalten, betriebliche Übung)

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Fall 10: „Loch in der Kasse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Arbeitnehmerhaftung für Kassenfehlstand, Inhaltskontrolle, Beweislast bei Arbeitnehmerhaftung, Aufhebungsvertrag, Widerrufsrecht eines Aufhebungsvertrags, Arbeitnehmer als Verbraucher, 40-Euro-Verzugskostenpauschale im Arbeitsrecht)

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Fall 11: „Unfall mit Folgen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Aufrechnung, Grundsätze der Arbeitnehmerhaftung, Individualvereinbarung in AGB, Dispositivität der Arbeitnehmerhaftung, Haftung des Arbeitgebers für Eigenschäden des Arbeitnehmers, Kündigungsschutzklage, Dispositivität des § 622 BGB, Rechtsfolge zu kurz gesetzter Kündigungsfrist)

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Fall 12: „Ärger im Pharmavertrieb“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Arbeitnehmerhaftung im Zweipersonenverhältnis bei Unfall mit Dienstfahrzeug, Außerordentliche Kündigung nach „Whistleblowing“, Pflichtverletzung des Arbeitgebers)

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Fall 13: „Verspätungen in der Konzernholding“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Anwendbarkeit des KSchG, Kleinbetriebsklausel, Gemeinschaftsbetrieb, Berechnungsdurchgriff im Konzern, Anwendung des KSchG trotz Kleinbetrieb, Verhaltensbedingte Kündigung, ultima-ratio-Prinzip)

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Fall 14: „Überteuertes Gemüse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Außerordentliche Kündigung, Verdachtskündigung)

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Fall 15: „Vom Waldcafé zur Bauchtanzbar“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Betriebsübergang, Widerspruch gegen Betriebsübergang, Betriebsbedingte Kündigung, Sozialauswahl bei Widerspruch gegen Betriebsübergang)

161

Teil 3: Fälle, die Examensklausuren waren oder sein könnten Fall 16: „Der Low Performer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Kündigung wegen dauerhafter und erheblicher Minderleistung des Arbeitnehmers, Abgrenzung zwischen personen-, verhaltens- und betriebsbedingter Kündigung, Leistungsbegriff im Arbeitsverhältnis, Zugangsverständnis einer Willenserklärung) X

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Fall 17: „Produktionsdrosselung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Betriebsbedingte Kündigung, Zugang der Kündigungserklärung während Urlaubsabwesenheit und bei treuwidriger Zugangsvereitelung, Vorrang der Änderungs- vor einer Beendigungskündigung, auswahlrelevanter Personenkreis bei der Sozialauswahl)

195

Fall 18: „Ausschlussfrist? Ich versteh nur Spanisch!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Arbeitsvertragsschluss in deutscher Sprache mit nicht sprachkundigem Arbeitnehmer, Zugang einer Willenserklärung unter Anwesenden, AGB-Kontrolle von Ausschlussfristen, Nichtausnahme des Mindestlohnanspruchs aus der Ausschlussfrist, Anfechtung eines in Vollzug gesetzten Arbeitsverhältnisses, Diskriminierung durch Sprachanforderungen im Arbeitsverhältnis, Diskriminierende Kündigung)

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Fall 19: „Hochstapler und Schichtwechsel in der Schönheitsklinik“ . . . . . . . . . (Voraussetzungen des Erlasses eines Versäumnisurteils, Nichtigkeit nach § 134 BGB, fehlerhaftes Arbeitsverhältnis, Ausschluss der Saldierung nach § 817 S. 2 BGB, Anfechtbarkeit eines nichtigen Rechtsgeschäfts, Voraussetzungen einer Änderungskündigung)

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Fall 20: „Leere Versprechungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Erhebung der Kündigungsschutzklage und Anwendbarkeit von § 4 KSchG, Ausschluss des Kündigungsrechts, Unwirksamkeit der Kündigung wegen AGG, Beweislast des § 22 AGG, Zugang der Kündigung am 24.12. und § 242 BGB, § 628 Abs. 2 BGB, Schadensersatz bei vorvertraglicher Pflichtverletzung; Verdienstausfall, Negatives und positives Interesse bei der Schadensberechnung

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Fall 21: „Befristungen ohne Ende?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Entfristungsklage, Streitgegenstand der Entfristungsklage, sachgrundlose Befristung, Änderung von Vertragsbedingungen und sachgrundlose Befristung, vorübergehender Bedarf an Arbeitsleistung, Anschlussverbot des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG, Abgrenzung Praktikum – Arbeitsvertrag, „Nachholung der Schriftform“ des § 14 Abs. 4 TzBfG)

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Anhang: Prüfungsschemata und Übersichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis Verzeichnis abgekürzt zitierter Literatur APS/Bearbeiter

Ascheid/Preis/Schmidt (Hrsg.), Kündigungsrecht, Großkommentar, 5. Aufl. 2017

DBD/Bearbeiter

Däubler/Bonin/Deinert, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2014

ErfK/Bearbeiter

Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 19. Aufl. 2019

Fuchs/Preis, SozVersR

Sozialversicherungsrecht, 2. Aufl. 2009

Junker

Grundkurs Arbeitsrecht, 18. Aufl. 2019

MüKo BGB/Bearbeiter

Münchener Kommentar zum BGB, Band 1, 8. Aufl. 2018; Band 4, 7. Aufl. 2016

Palandt/Bearbeiter

Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 78. Aufl. 2019

Preis/Temming

Individualarbeitsrecht, 6. Aufl. 2020

SPV/Bearbeiter

Stahlhacke/Preis/Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 11. Aufl. 2015

Thomas/Putzo/Bearbeiter

Kommentar zur ZPO, 40. Aufl. 2019

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Teil 1 Einführungsfälle mit Kernaspekten des prüfungsrelevanten Stoffs Fall 1 „Tiefkühlfracht“ A. Falldarstellung N vertreibt Tiefkühlprodukte, die er seinen Kunden nach Hause liefert. Seiner Tätigkeit liegt ein Franchise-Vertrag mit der G-GmbH zugrunde, die in ihrer Verwaltungszentrale 20 Büroangestellte und bundesweit 100 Verkaufsfahrer als Franchise-Nehmer beschäftigt. Nach seinem Vertrag ist N verpflichtet, in dem ihm zugewiesenen Vertriebsgebiet, der Großstadt T, Produkte aus dem Sortiment der G-GmbH zu verkaufen, wobei ihm Verkaufsfahrten vor 8 Uhr und nach 20 Uhr untersagt sind. N verkauft die Produkte in eigenem Namen und auf eigene Rechnung. Dabei hält er regelmäßig die von der G-GmbH vorgegebenen unverbindlichen Preisempfehlungen ein. N ist verpflichtet, monatlich Waren in einem Mindestwert von 5.000 Euro abzunehmen und eine Gebühr von 250 Euro für die Nutzung des Namens und des Logos der G-GmbH, die zentral organisierte Werbung und die laufende Betreuung zu entrichten. Die G-GmbH hat nach dem mit N geschlossenen Vertrag das Recht, die Geschäftsunterlagen des N, insbesondere seine Kundenkartei, jederzeit einzusehen. Neben den Produkten der G-GmbH, die er aus deren reichhaltigen Sortiment auswählen kann, darf N in geringem Umfang Produkte anderer Hersteller verkaufen. Den Kleintransporter, der eigens für den Transport der Tiefkühlprodukte umgebaut ist, musste N in fertigem Zustand von der G-GmbH kaufen. Zudem hat er für seine eigene Werbung das Material der G-GmbH zu übernehmen, die von der G-GmbH konzipierten Rechnungsformulare zu verwenden und die von der G-GmbH vorgesehene Dienstkleidung zu tragen, die er von dieser kauft. N beschäftigt einen Studenten, der zweimal wöchentlich nachmittags seine Verkaufsfahrten übernimmt, wogegen die G-GmbH nichts einzuwenden hat. Im Krankheitsfall und während seines Urlaubs, der nicht länger als sechs Wochen jährlich sein darf und dessen Zeitpunkt er mit der G-GmbH abstimmen muss, muss N selbst für einen Ersatzfahrer sorgen. Nach dreijähriger Zusammenarbeit, die ohne größere Probleme verlaufen ist, beschließen die Gesellschafter der G-GmbH, dem bis dahin arbeitslosen Y, der mit dem Geschäftsführer der GmbH verwandt ist, das Vertriebsgebiet des N zu übertragen. G teilt N daraufhin mit, die G-GmbH benötige seine Mitarbeit zum 29.2.2020 nicht mehr. N will sich dagegen wehren und dafür zunächst wissen, ob er als Arbeitnehmer einzustufen ist.1 Frage: Ist N Arbeitnehmer? Schwierigkeitsgrad: Einführungsfall zum Arbeitnehmerbegriff. Rechtsfragen: Arbeitnehmerbegriff, Franchise-Nehmer als Arbeitnehmer

1 Der Fall ist inspiriert von BAG 16.7.1997 NZA 1997, 1126.

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Fall 1 „Tiefkühlfracht“

B. Lösungsskizze Kriterien für Weisungsgebundenheit und damit Arbeitnehmereigenschaft: 1. Arbeitsort und Arbeitszeit: Rahmenmäßige Vorgaben mit Spielraum 2. Personelle Dispositionsmöglichkeiten: Beschäftigung einer Aushilfe, auf deren Auswahl die G-GmbH keinen Einfluss nimmt 3. Inhalt der Tätigkeit: Freie Auswahl innerhalb des Sortiments, verbleibende Freiheit bei der Preisgestaltung 4. Umfang der Tätigkeit: Mindestabnahme wird sich kaum auswirken, keine Obergrenze 5. Auftreten nach außen: Verpflichtung zu einheitlichem Auftreten 6. Umgang mit Geschäftsunterlagen: Kein erhebliches Geheimhaltungsinteresse gegenüber der G-GmbH 7. Gesamtbetrachtung: N ist kein Arbeitnehmer

C. Lösungsvorschlag Ob N Arbeitnehmer ist, richtet sich nach § 611a BGB. Danach wird durch den Arbeitsvertrag der Arbeitnehmer im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet. K Hinweis: Zum Arbeitnehmerbegriff ein Schema zu memorieren ist überflüssig, die Voraussetzungen ergeben sich seit dem 1.1.2017 direkt aus § 611a Abs. 1 S. 1 BGB, nämlich: (1) Leistung von Diensten für einen anderen aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags, (2) Weisungsbindung, die in S. 2–3 näher bestimmt wird, (3) Fremdbestimmtheit, (4) Persönliche Abhängigkeit, die in S. 4 näher bestimmt wird. Grundlage dieser Beurteilung ist der Vertrag, der der Zusammenarbeit zugrunde liegt. Dabei kommt es nach § 611a Abs. 1 S. 6 BGB im Zweifel nicht auf die im Vertrag enthaltenen Bezeichnung an, sondern auf die tatsächliche Durchführung des Vertrages. K Kontext: Die Parteien entscheiden grds. im Rahmen ihrer Privatautonomie über den Vertragstyp. Arbeitsrecht ist aber zwingendes Arbeitnehmerschutzrecht, auf das zu größeren Teilen nicht verzichtet werden kann und somit auch nicht durch die Gestaltung des schriftlichen Vertrags umgangen werden kann. Ist umgekehrt explizit ein Arbeitsverhältnis vereinbart, das aber nicht als solches, sondern etwa als freie Mitarbeit durchgeführt wird, ist das als zulässige privatautonome Regelung nicht zu korrigieren. N ist auf Grund eines privatrechtlichen Vertrags, nämlich eines Franchise-Vertrags, zur Leistung von Arbeit gegen Entgelt verpflichtet.

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„Tiefkühlfracht“ Fall 1

K Hintergrund: Anhand des Kriteriums des privatrechtlichen Vertrags werden andere Grundlagen für die Erbringung von Diensten abgegrenzt, nämlich öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse (Beamte, Richter, Soldaten), Dienste in der Familie (§§ 1360, 1619 BGB), Sonderstatusverhältnisse (insb. Strafgefangene) sowie vereinsrechtliche, kirchliche oder karitative Dienste. Die Kriterien sind insoweit verbunden, als sich der Grad der persönlichen Abhängigkeit und der Fremdbestimmtheit vor allem in der Weisungsgebundenheit niederschlägt.2 Für die Arbeitnehmereigenschaft des N kommt es damit zentral auf die Weisungsgebundenheit gegenüber der G-GmbH an. Weisungsgebunden ist nach § 611a Abs. 1 S. 3 BGB, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Dabei kommt es nach § 611a Abs. 1 S. 5 BGB auf eine Gesamtbetrachtung aller Umstände an. K Hinweis: In der Fallbearbeitung kommt es, weil sich Fremdbestimmtheit und „persönliche Abhängigkeit“ aus der Weisungsgebundenheit ergeben, auf die Feststellung der Weisungsgebundenheit der Tätigkeit im Einzelfall unter Auswertung aller Informationen des Sachverhalts an.

1. Arbeitsort und Arbeitszeit Hinsichtlich des Arbeitsortes und der Arbeitszeit enthält der Franchise-Vertrag rahmenmäßige Vorgaben, indem N ein bestimmtes Vertriebsgebiet zugewiesen wird und ihm die Auslieferung seiner Waren vor 8 Uhr und nach 20 Uhr untersagt ist. Innerhalb dieses Rahmens kann N seine Verkaufsfahrten jedoch in örtlicher wie in zeitlicher Hinsicht frei festlegen. Auch die Einteilung seines Urlaubs kann N selbst bestimmen und muss lediglich den Zeitpunkt mit der G-GmbH abstimmen. Im Hinblick auf Arbeitszeit und -ort hat N damit einen Gestaltungsspielraum, der über die Dispositionsmöglichkeiten hinausgeht, die einem Arbeitnehmer gewöhnlich zustehen. 2. Personelle Dispositionsmöglichkeiten Gegen die Einordnung des N als Arbeitnehmer spricht auch, dass dieser einen Studenten beschäftigt, der ihn nicht nur bei Krankheit und Urlaub vertritt, sondern darüber hinaus regelmäßig an zwei Nachmittagen in der Woche die Verkaufsfahrten des N durchführt. Dies geschieht in Kenntnis und mit Einverständnis der G-GmbH, doch nimmt die G-GmbH darüber hinaus weder auf die Auswahl des Aushilfsfahrers noch auf den Umfang seiner Tätigkeit Einfluss. Die eigenständige Auswahl von Personal und die Möglichkeit, dessen Tätigkeit in ihrem Umfang und Inhalt festzulegen, sind typische Merkmale einer selbstständigen Tätigkeit. 3. Inhalt der Tätigkeit Hinsichtlich des Inhalts seiner Tätigkeit ist N in mehrfacher Hinsicht von den Vorgaben der G-GmbH abhängig. Zunächst ist er verpflichtet, vorwiegend die Produkte der G-GmbH zu 2 ErfK/Preis, § 611a BGB Rn. 32.

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Fall 1 „Tiefkühlfracht“

vertreiben. Gerade die eigenständige Zusammenstellung des Verkaufsangebots ist jedoch charakteristisch für eine selbstständige Tätigkeit. Allerdings ist N nicht vollständig von den Vorgaben der G-GmbH abhängig, denn innerhalb des reichhaltigen Produktsortiments der G-GmbH kann er frei auswählen, welche Produkte er anbieten möchte. Trotz der Bindung an das Warensortiment der G-GmbH verbleibt N damit noch die für eine selbstständige Tätigkeit typische Gestaltungsfreiheit. Er hat nicht nur die Möglichkeit, auf Marktentwicklungen durch eine entsprechende räumliche und zeitliche Gestaltung seiner Tätigkeit zu reagieren, sondern er kann auch die eigenen Gewinnmöglichkeiten erweitern, indem er die Kaufgewohnheiten seiner Kundschaft bei der Zusammenstellung seiner Angebotspalette berücksichtigt. Daher zwingt allein die Bindung an das Warenangebot der G-GmbH nicht dazu, N als Arbeitnehmer zu betrachten. Zudem ist zu berücksichtigen, dass N, wenn auch nur in begrenztem Umfang, Produkte anderer Hersteller nach eigenen Vorstellungen in sein Angebot aufnehmen und zu von ihm selbst festgelegten Preisen weiterverkaufen kann. Auch insofern verbleibt ihm durchaus eine gewisse unternehmerische Selbstständigkeit. Weiterhin empfiehlt die G-GmbH dem N die Höhe des Weiterverkaufspreises für die von ihr bezogenen Waren. Gerade die eigenständige Preisfestlegung gehört zu den essentiellen Bestandteilen einer freien unternehmerischen Tätigkeit. Bei den Vorgaben der G-GmbH handelt es sich jedoch um unverbindliche Preisempfehlungen. Dass N diese Empfehlungen in der Mehrzahl der Fälle beachtet, ändert nichts daran, dass ihm eine eigenständige Preisgestaltung möglich ist. Insoweit bleibt ihm auch in dieser Hinsicht die Freiheit, durch eine entsprechende Preispolitik auf den Warenabsatz und damit die Höhe seines Gewinns Einfluss zu nehmen, sei es durch eine Anhebung der Preise für gut verkäufliche Produkte, sei es durch Preissenkungen zur Werbung neuer Kunden. 4. Umfang der Tätigkeit Weiterhin ist N verpflichtet, monatlich Waren zu einem Mindesteinkaufspreis von 5.000 Euro von der G-GmbH abzunehmen. Durch eine Mindestabnahmeverpflichtung wird die für eine unternehmerische Tätigkeit typische Entscheidung, in welcher Menge Waren eingekauft werden sollen, zwangsläufig begrenzt. Allerdings überschreitet N die Mindestabnahme von Waren im Wert von 5.000 Euro bereits dann, wenn er – eine Fünf-Tage-Woche zugrunde gelegt – täglich Waren zu einem Einkaufswert von 250 Euro verkauft. N ist der einzige Verkaufsfahrer, der in der Großstadt T die Waren der G-GmbH anbietet. Da er insofern von Konkurrenz verschont ist und ein großes Einzugsgebiet hat, kann davon ausgegangen werden, dass N regelmäßig eine höhere Warenmenge absetzen kann, als er sie von der G-GmbH abnehmen muss. Daher dürfte sich die Mindestabnahmeverpflichtung praktisch kaum als Begrenzung der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit des N auswirken. Entscheidend ist insoweit, dass es sich bei der Abnahmevereinbarung lediglich um eine Untergrenze handelt, die die Berechtigung des M, in größerem Umfang Waren von der G-GmbH abzunehmen, unberührt lässt. Die Möglichkeit des M, durch eine Intensivierung oder Ausweitung seiner Tätigkeit seinen Umsatz zu vermehren und damit auch seinen Verdienst zu steigern, wird durch die vereinbarte Mindestabnahme nicht beschränkt. Im Vordergrund einer unternehmerischen Tätigkeit steht typischerweise das Bestreben, den eigenen Verdienst zu maximieren. Dagegen tritt die Möglichkeit, die eigene Tätigkeit unter Hinnahme von Verdiensteinbußen zu reduzieren, in ihrer Bedeutung erheblich zurück. Mithin steht die Mindestabnahmeverpflichtung der Annahme einer selbstständigen Tätigkeit des N nicht entgegen. 4

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„Tiefkühlfracht“ Fall 1

5. Auftreten nach außen Die Tätigkeit des N ist zudem insofern von den Vorgaben der G-GmbH abhängig, als er sein Auftreten gegenüber den Kunden so gestalten muss, dass er als Verkaufsfahrer der G-GmbH zu erkennen ist. Die Verpflichtung zu einem einheitlichen äußeren Auftreten schlägt sich darin nieder, dass N einen von der G-GmbH umgebauten Lieferwagen mit deren Firmenemblem kaufen musste, die von der G-GmbH vorgesehen Dienstkleidung tragen, die von ihr konzipierten Rechnungsformulare benutzen und ihr Material für seine Werbung verwenden muss. Diese Vorgaben schränken zwar die Entscheidungsfreiheit des N hinsichtlich der Gestaltung seiner Tätigkeit ein, doch handelt es sich dabei um Äußerlichkeiten, die seine Tätigkeit in ihrem Inhalt und Umfang nicht berühren. Zwar sind hiermit gleichzeitig finanzielle Verpflichtungen des N verbunden, da er die entsprechende Ausstattung von der G-GmbH kaufen muss. Es liegen jedoch keine Hinweise darauf vor, dass die G-GmbH hierbei überzogene Preise verlangen würde. Auch für eine andersartige Tätigkeit als Verkaufsfahrer würde N einen Lieferwagen, Arbeitsbekleidung, Rechnungsformulare und Werbematerial benötigen und müsste für die Anschaffung dieser Ausstattung Geld aufwenden. Insofern ist nicht ersichtlich, dass dem N allein durch die Verpflichtung zu einem einheitlichen Auftreten gegenüber den Kunden erhebliche zusätzliche Ausgaben entstehen. Eine zusätzliche Ausgabe, die N bei einer Tätigkeit als einzelner Verkaufsfahrer ohne Franchise-Vertrag nicht entstünde, bildet jedoch die monatliche Pauschale von 250 Euro. Diese muss N für die Nutzung des Namens und des Logos der G-GmbH, die zentral organisierte Werbung und die laufende Betreuung entrichten. Daher handelt es sich bei diesem Betrag um eine Ausgabe, für die N eine Gegenleistung erhält. So profitiert N von dem einheitlichen Auftreten der G-GmbH, da eine bundesweit angelegte Imagepflege und Werbung auch ihm als Verkaufsfahrer der G-GmbH zu Bekanntheit und Kundeninteresse verhilft. Zudem müsste N auch für eine selbst organisierte Werbung Geld aufwenden, was ihm so erspart bleibt. Da der Verpflichtung des M, gegenüber Kunden ein einheitliches Auftreten zu wahren und eine monatliche Pauschale von 250 Euro zu zahlen, gleichwertige Vorteile gegenüberstehen, rechtfertigt diese Verpflichtung nicht die Annahme, N sei Arbeitnehmer. 6. Umgang mit Geschäftsunterlagen Eine weitere Bindung des N an Weisungen der G-GmbH ergibt sich aus deren Berechtigung, die Geschäftsunterlagen des N, insbesondere seine Kundenkartei, jederzeit einzusehen. Die Möglichkeit, selbst über die Verwendung der eigenen Geschäftsinformationen zu entscheiden, ist ein typischer Bestandteil einer selbstständigen Tätigkeit. Allerdings ist in diesem Zusammenhang der Zweck des Einsichtsrechts der G-GmbH zu beachten. Dies verleiht der G-GmbH zum einen Kontrollmöglichkeiten, insbesondere über die Umsatzhöhe des einzelnen Verkaufsfahrers. Diese ist der G-GmbH jedoch sowieso bekannt, da sie an der Menge der abgenommenen Waren abgelesen werden kann. Zum anderen liefert das Einsichtsrecht der G-GmbH Informationen über die Zusammensetzung der Kundschaft und die Absatzentwicklung einzelner angebotener Produkte unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Diese Informationen benötigt die G-GmbH für die Festlegung ihrer Geschäftspolitik, insbesondere im Hinblick auf die Konzeption der Werbung und die Zusammenstellung der Produktpalette. Entspricht diese Geschäftspolitik den sich laufend verändernden Gegebenheiten des Marktes, profitiert hiervon nicht nur die G-GmbH selbst. Eine erfolgreiche Geschäftspolitik kommt automatisch auch den Verkaufsfahrern zu Gute, sodass diese auch im Interesse des N liegt. Mithin wird durch die Verpflichtung des M, der 5

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Fall 1 „Tiefkühlfracht“

G-GmbH Einblick in seine Geschäftsunterlagen zu gewähren, kein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse verletzt, das gegenüber den Vorteilen aus dem Einsichtsrecht der G-GmbH überwiegen würde. Zudem sind bestimmte Kontrollrechte, ebenso wie ein einheitliches Auftreten gegenüber Kunden, einem Franchise-Vertragsverhältnis immanent. Daher stehen die vereinbarten Kontrollrechte der G-GmbH der Annahme einer selbstständigen Tätigkeit des N nicht entgegen. 7. Gesamtbetrachtung Betrachtet man die Umstände, die das Vertragsverhältnis zwischen N und der G-GmbH kennzeichnen, sprechen diese in der Mehrzahl dafür, N nicht als Arbeitnehmer, sondern als Selbstständigen zu betrachten. Angesichts der Gestaltungsspielräume, die dem N verbleiben, ist er nicht in einem Maße weisungsgebunden, das eine Qualifikation als Arbeitnehmer im Sinn von § 611a BGB rechtfertigen würde. K Hinweis: Bei der Feststellung der Weisungsbindung kommt es auf die Auswertung des Sachverhalts an. Das Weisungsrecht hinsichtlich Inhalt und Durchführung der Dienste kann bei fachlich hochqualifizierten Mitarbeitern gelockert sein (zB Chefarzt). Unbeachtliche Kriterien sind Art der Vergütung, Verweigerung von Urlaub und Lohnfortzahlung, fehlende Abführung von Steuern und Sozialversicherungsabgaben (bei alledem kann es sich gerade um einen Rechtsverstoß handeln, weil tatsächlich eine Arbeitnehmereigenschaft gegeben ist!) und jedenfalls seit der Kodifizierung von § 611a BGB, die unternehmerischen Chancen des Mitarbeiters.3

K Zur Vertiefung: Zum Arbeitnehmerbegriff s. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 90–103; Preis/Temming, Individualarbeitsrecht Rn. 146–234.

3 So noch Wank, Arbeitnehmer und Selbstständige, 1988, S. 122 ff.

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Fall 2 „Registrierte Trunkenheit“ A. Falldarstellung N ist seit März 2019 als LKW-Fahrerin in der Spedition der G tätig. In dem Vertrag vom 1.3.2019 sind als Monatsvergütung 1800 Euro brutto vereinbart. Beim Einstellungsgespräch im Februar 2019 sollte N einen Personalfragebogen ausfüllen, in dem u.a. nach „einschlägigen Vorstrafen“ gefragt wurde. Sie verneinte diese Frage aus Sorge, dass sie sonst nicht eingestellt werde, obwohl sie 2018 zu einer Geldstrafe wegen Körperverletzung (30 Tagessätze) und Trunkenheit im Verkehr (30 Tagessätze) verurteilt wurde. Von der dritten Oktoberwoche bis Ende November 2019 war N arbeitsunfähig krank. Nachdem G am 30.11.2019 von der Bewährungsstrafe der N erfahren hatte, focht sie noch am gleichen Tag den Arbeitsvertrag in einem Telefongespräch mit N an. G weigert sich auf Grund der Anfechtung, die Vergütung für Oktober und November 2019 zu zahlen.1 Frage: Kann N Zahlung der vollen Vergütung für beide Monate verlangen? Schwierigkeitsgrad: Einführungsfall zu Mängeln des Arbeitsvertrags. Rechtsfragen: Arglistige Täuschung bei Einstellungsgespräch, Rückabwicklung des (vollzogenen) Arbeitsverhältnisses, Außer Funktion gesetztes Arbeitsverhältnis

B. Lösungsskizze I. Anspruch auf Zahlung der Vergütung für die ersten beiden Oktoberwochen 2019 AGL: § 611a BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag. Voraussetzung: Wirksamer Arbeitsvertrag 1. Vertragsschluss am 1.3.2019 2. Unwirksamkeit wegen Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB am 30.11.2019? a) Anfechtungserklärung, § 143 Abs. 1 BGB b) Anfechtungsgrund: Arglistige Täuschung, § 123 BGB aa) Arglistige Täuschung: Vorsätzliche Falschbeantwortung einer Frage bb) Rechtswidrigkeit – Rechtswidrig, wenn falsche Antwort auf zulässige Frage. – Bei unzulässigen Fragen „Recht zur Lüge“.

1 Der Fall ist inspiriert von BAG 20.3.2014 NZA 2014, 1131.

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Fall 2 „Registrierte Trunkenheit“

– Maßstab für Zulässigkeit der Frage: Interessenabwägung unter dem Kriterium der „Erforderlichkeit“ in § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG. – Zulässigkeit der Frage nach Trunkenheit im Verkehr bei Kraftfahrern (+) c)

Keine Bestätigung des Rechtsgeschäfts, § 144 Abs. 1 BGB

d) Einhaltung der Anfechtungsfrist, § 124 Abs. 1 und 2 BGB 3. Rechtsfolge a) Grundsätzlich Nichtigkeit von Anfang an, § 142 Abs. 1 BGB b) Aber Wirkung der Anfechtung nur für die Zukunft bei bereits vollzogenen Arbeitsverhältnissen 4. Ergebnis: Anspruch auf Vergütung besteht II. Anspruch auf Zahlung der Vergütung für die letzten zwei Oktoberwochen sowie November AGL: § 611a Abs. 2 i.V.m. § 3 Abs. 1 EFZG. Voraussetzungen: Wirksamer Arbeitsvertrag und unverschuldete Arbeitsunfähigkeit 1. Arbeitsvertrag und Anfechtung 2. Rechtsfolge – Grundsatz: Nichtigkeit von Anfang an, § 142 Abs. 1 BGB – Ausnahme: bereits vollzogenes Arbeitsverhältnis; Wirkung der Anfechtung nur für die Zukunft – Rückausnahme: Außer-Funktion-Setzen des Arbeitsverhältnisses 3. Ergebnis: Kein Anspruch der N auf Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 EFZG

C. Lösungsvorschlag I. Anspruch auf Zahlung der Vergütung für die ersten beiden Oktoberwochen 2019 N könnte gegen G einen Anspruch auf Zahlung der Vergütung in Höhe von 900 Euro für die ersten beiden Oktoberwochen nach § 611a Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem Arbeitsvertrag haben. Dies ist grundsätzlich der Fall, wenn zwischen den Parteien ein wirksamer Arbeitsvertrag besteht. K Hinweis: Wäre nach einer Rückzahlung bereits gezahlten Gehalts gefragt, wäre die Anspruchsgrundlage § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB und zu prüfen, ob der „Rechtsgrund“ Arbeitsvertrag durch die Anfechtung beseitigt worden ist.

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„Registrierte Trunkenheit“ Fall 2

1. Vertragsschluss am 1.3.2019 N und G haben am 1.3.2019 einen Arbeitsvertrag geschlossen, nach welchem N als LKWFahrerin gegen eine monatliche Brutto-Vergütung von 1.800 Euro eingestellt wurde. 2. Unwirksamkeit wegen Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB am 30.11.2019? Der Arbeitsvertrag könnte jedoch unwirksam sein auf Grund einer Anfechtung durch G wegen arglistiger Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB. Voraussetzung hierfür ist das Vorliegen eines Anfechtungsgrunds nach § 123 Abs. 1 BGB, eine Anfechtungserklärung nach § 143 Abs. 1 BGB sowie die Einhaltung der Anfechtungsfrist nach § 124 Abs. 2 BGB. Des Weiteren darf die Anfechtung nicht durch Bestätigung ausgeschlossen sein, § 144 Abs. 1 BGB. K Kontext: Die Anfechtung ist im Klausuraufbau vor der Kündigung zu prüfen. Sie ist der mit Abstand häufigste Klausurfall von Mängeln des Arbeitsvertrags. Andere Konstellationen der Mängel des Arbeitsvertrags sind die Geschäftsfähigkeit – hier enthalten die §§ 112, 113 BGB wenig relevante Sonderregeln und die Sittenwidrigkeit des Arbeitsvertrags nach § 138 Abs. 2 BGB, insbesondere wegen Lohnwuchers. Ein auffälliges Missverhältnis im Sinn von § 138 Abs. 2 BGB hat das BAG (unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls) angenommen, wenn die Arbeitsvergütung unter 2/3 des jeweiligen Tariflohns liegt.2 Rechtsfolge ist dann nicht die Gesamtnichtigkeit des Vertrags nach § 139 BGB (die Vorschriften zum Schutz des Arbeitnehmers würden sich sonst zu seinen Lasten auswirken), sondern die Nichtigkeit der Vergütungsabrede nach § 138 Abs. 2 BGB, sodass die „übliche Vergütung“ nach § 612 Abs. 2 BGB zu zahlen ist.3

a) Anfechtungserklärung Erforderlich ist eine Anfechtungserklärung nach § 143 Abs. 1 BGB gegenüber dem Anfechtungsgegner. Diese liegt hier vor, da G der N telefonisch mitgeteilt hat, dass sie den Vertrag anfechte. K Kontext: Für die Prüfung von Gestaltungsrechten (wie Anfechtung, Kündigung, Widerruf etc.) kann man sich folgende generelle Prüfungspunkte merken: (1) Gestaltungsrechte, die rglm. einseitig die Rechtslage gestalten, bedürfen der Erklärung (z.B. 143 Abs. 1 BGB) gegenüber dem richtigen Adressaten; (2) weil es eine Besonderheit in unserer auf Privatautonomie beruhenden Zivilrechtsordnung ist, dass eine Partei einseitig die Rechtslage mit Wirkung auch für einen anderen gestalten kann, gibt es diese Befugnis nur, wenn die Voraussetzungen des Gestaltungsgrunds (z.B. § 123 Abs. 1 BGB) gegeben sind; (3) meist ist, weil dem anderen die Unsicherheit nicht zugemutet werden soll, die Ausübung des Gestaltungsrechts an eine Frist (z.B. § 124 Abs. 2 BGB) gebunden.

2 BAG 22.4.2009 NZA 2009, 837 Rn. 13. 3 BAG 10.3.1960 AP Nr. 2 zu § 138 BGB.

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Fall 2 „Registrierte Trunkenheit“

b) Anfechtungsgrund: Arglistige Täuschung Als Anfechtungsgrund kommt hier eine arglistige Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB in Betracht. Voraussetzungen dafür sind eine rechtswidrige Täuschung durch N, Arglist der N sowie Kausalität der Täuschung für den Vertragsschluss. aa) Arglistige Täuschung Eine Täuschung besteht in der Erregung oder Aufrechterhaltung eines Irrtums bezüglich objektiv nachprüfbarer Umstände, durch die der Erklärungsgegner zur Abgabe einer Willenserklärung veranlasst wird. Die Täuschung muss sich auf objektive Umstände beziehen und der Bewerber muss für die Arglist positive Kenntnis von der Unwahrheit bzw. vom Vorliegen einer offenbarungspflichtigen Tatsache haben. Auch die falsche Beantwortung einer vom Arbeitgeber gestellten Frage kann eine Täuschung darstellen, wenn der Stellenbewerber die Frage bewusst falsch beantwortet hat. Hier hat N die (im Fragebogen) gestellte Frage nach Vorstrafen bewusst verneint (Arglist) und damit bei G einen entsprechend kausalen Irrtum hervorgerufen (Täuschung). Diese Täuschung über die Vorstrafen wegen Trunkenheit im Verkehr ist bei lebensnaher Auslegung des Sachverhalts bei der Einstellung der N als LKW-Fahrerin auch kausal für den Einstellungsentschluss des G geworden. K Kontext: Will der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag wegen Täuschung anfechten, gibt es für die Anknüpfung zwei Konstellationen, die sich in der materiellen Prüfung aber kaum unterscheiden. (1) Hat der Arbeitnehmer etwas verschwiegen, ist zu klären, ob eine Offenbarungspflicht bestand, was der Fall ist, wenn die betreffenden Umstände dem Bewerber entweder die Erfüllung seiner arbeitsvertraglichen Pflichten von vornherein unmöglich machen oder doch seine Eignung für den Arbeitsplatz entscheidend berühren.4 (2) Hat der Arbeitnehmer (wie hier) vorsätzlich auf eine gestellte Frage falsch geantwortet, liegt eine Täuschung grds. vor. Es kommt dann auf die Rechtfertigung der arglistigen Erregung des Irrtums (als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal) an. In beiden Fällen ist dann entscheidend, ob eine entsprechende Frage zulässig wäre oder war. Denn (bei 1) kann das Verschweigen nicht die Eignung für den Arbeitsplatz entscheidend berühren, wenn danach ohnehin nicht gefragt hätte werden dürfen; wurde (bei 2) unzulässig nach etwas gefragt, hat der Arbeitnehmer nach allgemeiner Meinung ein Recht zur Lüge5 (weil ihm mit der Antwort an den zukünftigen Arbeitgeber „das dürfen Sie nicht fragen“ nicht geholfen wäre). bb) Rechtswidrigkeit In Literatur und Rechtsprechung ist anerkannt, dass nicht jede Erregung eines Irrtums zum Recht der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung führt. Ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB ist – wie bei der Drohung – deren Rechtswidrigkeit. § 123 BGB soll die freie Willensentschließung vor Eingriffen anderer schützen. Der Schutzzweck ist nicht berührt, wenn eine rechtswidrige Handlung des Anfechtenden selbst zur Täuschung geführt hat.

4 BAG 20.3.2014 NZA 2014, 1131, 1133. 5 MüKo BGB/Armbrüster BGB § 123 Rn. 46.

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„Registrierte Trunkenheit“ Fall 2

Der Wortlaut von § 123 Abs. 1 BGB geht jedoch davon aus, dass die arglistige Täuschung stets rechtswidrig ist. Den Fall rechtmäßiger Täuschung – vor allem im Arbeitsverhältnis – sieht das Gesetz nicht vor. Diese Lücke des Gesetzes kann durch teleologische Reduktion geschlossen werden. Die Norm des § 123 Abs. 1 BGB ist insofern zu weit gefasst, als sie die Fälle einer an sich arglistigen, aber rechtlich erlaubten Täuschung mit umfasst. Somit stellt im Bereich der Fragerechte nur eine falsche Antwort auf eine zulässigerweise gestellte Frage eine arglistige Täuschung dar. Damit kommt der Bestimmung, ob eine Frage zulässig ist, zentrale Bedeutung zu. K Kontext: Nach allgemeiner Meinung berechtigt, entgegen dem Wortlaut, nur die rechtswidrige arglistige Täuschung zur Anfechtung. Das BAG6 formuliert hier: „Der BGB-Gesetzgeber ist in der Tat davon ausgegangen, die Rechtswidrigkeit sei bei der arglistigen Täuschung selbstverständlich. Er hat also die Fälle rechtmäßiger Täuschung – vor allem im Arbeitsverhältnis – nicht gesehen, sodass diese Lücke des Gesetzes durch teleologische Reduktion zu schließen ist. Die Norm des § 123 BGB ist insofern zu weit gefasst, als sie die Fälle einer an sich arglistigen, aber rechtlich erlaubten Täuschung mit umfasst.“ Ob eine Frage zulässig gestellt ist, richtet sich nach § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG. Danach dürfen personenbezogene Daten von Beschäftigten für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses nur verarbeitet werden, wenn dies für die Entscheidung über die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses erforderlich ist. K Hinweis: Vertiefte Kenntnisse im Datenschutzrecht sind nicht Prüfungsgegenstand. Über den unbestimmten Rechtsbegriff „erforderlich“ in § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG werden i.W. die gleichen Aspekte bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Täuschung berücksichtigt wie vor Inkrafttreten des BDSG, nämlich: (1) Fragen nach AGG-Merkmalen können grds. nicht erforderlich sein (weil eine Einstellung darauf gegründet nicht abgelehnt werden könnte, dazu auch Fall 4); (2) Fragen, die das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG verletzen, können grds. nicht erforderlich sein; (3) ansonsten: Je weniger die Frage mit dem angestrebten Arbeitsplatz in Zusammenhang steht und stattdessen die Person selbst ausforscht, desto eher wird sie als unzulässig eingestuft werden müssen. Ob die Datenerhebung durch eine Frage erforderlich, die Frage also zulässig ist oder nicht, richtet sich nach einer Abwägung der widerstreitenden Interessen. Ein Fragerecht steht dem Arbeitgeber nur dann zu, wenn er im Einzelfall ein berechtigtes, billigenswertes und schutzwürdiges Interesse an der Beantwortung seiner Fragen im Hinblick auf das Arbeitsverhältnis hat. Eine Frage, die den Arbeitnehmer hingegen zwingt, über das erforderliche und zumutbare Maß hinaus persönliche Belange zu offenbaren, ist wegen Verstoßes gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers unzulässig. Auf eine unzulässige Frage braucht der Arbeitnehmer nicht zu antworten. Allein ein Schweigerecht wäre jedoch für den Arbeitnehmer faktisch nutzlos, weil ein Schweigen einem Eingeständnis gleichkäme. Daher billigt die allgemeine Meinung in Rechtsprechung und Literatur dem Arbeitnehmer ein Recht zur Lüge zu, wenn dieser auf unzulässige Fragen des Arbeitgebers antwortet. Grundsätzlich sind 6 BAG 21.2.1991 NJW 1991, 2723, 2724.

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Fall 2 „Registrierte Trunkenheit“

im Rahmen der Anbahnung des Arbeitsverhältnisses Fragen zu Vorstrafen des Arbeitnehmers zulässig, soweit die Art des zu besetzenden Arbeitsplatzes nach einem objektiven Maßstab dies erfordert. K Hinweis: Weil sonst wieder eine das Persönlichkeitsrecht verletzende übermäßige Ausforschung erfolgen würde, müssen nicht pauschal alle Vorstrafen offengelegt werden, sondern nur einschlägige.7 Der Bezug einer Vorstrafe wegen Trunkenheit im Verkehr zur zu besetzenden Stelle als LKW-Fahrerin liegt auf der Hand. Die Frage der G war somit erforderlich im Sinne des § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG und damit zulässig, sodass die Falschbeantwortung durch G rechtswidrig war. K Kontext: Ebenfalls nicht offengelegt werden müssen Vorstrafen, wenn diese so geringfügig sind, dass sie nicht in das BZRG eingetragen werden (§ 53 Abs. 1 Nr. 1 BZRG) oder nach den Voraussetzungen des BZRG wegen straffreien Zeitablaufs aus dem Zentralregister zu tilgen sind, § 53 Abs. 1 Nr. 2 BZRG. Danach darf ein Verurteilter sich gegenüber Behörden und Privatpersonen auch ausdrücklich als unbestraft bezeichnen, entsprechend besteht auch hier ein Recht zur Lüge.8 Die Tilgung richtet sich nach §§ 45 ff. BZRG.

c) Keine Bestätigung des Rechtsgeschäfts, § 144 Abs. 1 BGB Die Anfechtung ist im vorliegenden Fall nicht wegen Bestätigung des Rechtsgeschäfts ausgeschlossen, § 144 Abs. 1 BGB, da G den Arbeitsvertrag sofort nach Kenntnis des Anfechtungsgrundes angefochten hat. d) Einhaltung der Anfechtungsfrist, § 124 Abs. 1 und 2 BGB Des Weiteren muss G die Anfechtungsfrist eingehalten haben. Diese ergibt sich aus § 124 Abs. 1 und 2 BGB, wonach die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung innerhalb eines Jahres ab Entdeckung der Täuschung erklärt werden kann. Die Frist beginnt in dem Zeitpunkt, in dem der Anfechtungsberechtigte von der Täuschung positive Kenntnis erhalten hat. Hier hat G die Anfechtung noch am gleichen Tag erklärt, an dem sie von der Täuschung erfahren hat. Damit ist die Anfechtungsfrist eingehalten. 3. Rechtsfolge Nach der wirksamen Anfechtung eines Vertrages ist dieser gemäß § 142 Abs. 1 BGB von Anfang an als nichtig anzusehen. Bereits ausgetauschte Leistungen sind grundsätzlich nach den Grundsätzen des Bereicherungsrechts (§§ 812 ff. BGB) zurückzugewähren. Allerdings können erbrachte Arbeitsleistungen nur schwerlich rückabgewickelt werden. Daher muss bei den Rechtsfolgen der Anfechtung danach unterschieden werden, ob das Arbeitsverhältnis 7 BAG 6.9.2012 NZA 2013, 1087, 1089. 8 BAG 20.3.2014 NZA 2014, 1131, 1134.

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„Registrierte Trunkenheit“ Fall 2

bereits in Vollzug oder Funktion gesetzt war, insbesondere ob ein Leistungsaustausch stattgefunden hat. Nur wenn der Vertrag noch nicht in Funktion gesetzt worden ist, bleibt es bei der Regel des § 142 Abs. 1 BGB, sodass eine Anfechtung die Willenserklärung mit rückwirkender Kraft (ex tunc) vernichtet. In Funktion gesetzt ist ein Arbeitsvertrag dann, wenn der Arbeitnehmer beim Arbeitgeber erschienen ist, seinen Arbeitsplatz zugewiesen bekommen und die Arbeit aufgenommen hat. Hier ist der Arbeitsvertrag zwischen G und N in Funktion gesetzt worden, N hat schon mehrere Jahre bei G gearbeitet. Die Anfechtung wirkt daher nur für die Zukunft: Für die Vergangenheit ist das Arbeitsverhältnis jedenfalls bis einschließlich der ersten zwei Oktoberwochen wie ein fehlerfrei zustande gekommenes zu behandeln. K Kontext: Nur in Ausnahmefällen wird bei Verstößen gegen öffentlich-rechtliche Schutznormen, die sich gegen den Vertragsschluss insgesamt richten müssen (z.B. Einstellung eines Arztes ohne Approbation9, extreme Verstöße gegen § 138 BGB10) der Arbeitsvertrag insgesamt von Anfang an für unwirksam erachtet.

4. Ergebnis N hat gegen G für die ersten beiden Oktoberwochen einen Anspruch auf Zahlung der Vergütung in Höhe von 900 Euro nach § 611a BGB in Verbindung mit dem Arbeitsvertrag. K Kontext: Ausnahmsweise kann es auch auf die Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB, dem Irrtum über verkehrswesentliche Eigenschaften einer Person, ankommen. Solche sind neben ihren körperlichen Merkmalen auch ihre tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse und Beziehungen zur Umwelt, soweit sie nach der Verkehrsanschauung für die Wertschätzung und die zu leistende Arbeit von Bedeutung und nicht nur vorübergehender Natur sind. Die Eigenschaft muss sich auf die Eignung der Person für die Arbeit auswirken. Vorstrafen, wie hier im Fall, sind somit keine verkehrswesentlichen Eigenschaften einer Person, können aber Indiz für eine mangelnde Vertrauenswürdigkeit sein.11 Die andere relevante Fallgruppe der Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB ist der Eigenschaftsirrtum über den Gesundheitszustand (z.B. nicht schwerbehinderter Rückenleidender bewirbt sich dezidiert als Lagerarbeiter für schwere Lasten), aber nicht allgemein die Leistungsfähigkeit. Das BAG12 wendet bei der Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB die Frist des § 626 Abs. 2 BGB analog an, weil in solchen Fällen regelmäßig ein Wahlrecht zwischen außerordentlicher Kündigung und Anfechtung bestehen soll. Das gilt aber nicht für die Anfechtung nach § 123 BGB, da § 124 BGB schon eine genaue Zeitgrenze enthält, sodass für eine entsprechende Anwendung von § 626 Abs. 2 BGB kein Raum bleibt.13

9 10 11 12 13

BAG 3.11.2004 NZA 2005, 1409, 1409 ff. BGH 18.7.1980 NJW 1980, 2591. BAG 20.3.2014 NZA 2014, 1131, 1136. BAG 14.12.1979 NJW 1980, 1302. BAG 19.5.1983 DB 1984, 298.

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Fall 2 „Registrierte Trunkenheit“

II. Anspruch auf Zahlung der Vergütung für die letzten zwei Oktoberwochen sowie für die vier Novemberwochen N könnte für die letzten beiden Oktoberwochen und die vier Novemberwochen einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 611a Abs. 2 i.V.m. § 3 Abs. 1 EFZG haben. Ein Anspruch aus § 611a Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem Arbeitsvertrag scheidet aus, da G während dieser Zeit keine Arbeitsleistung erbracht hat.14 Voraussetzung für den Anspruch auf Entgeltfortzahlung ist, dass zwischen G und B ein Arbeitsverhältnis von mindestens vierwöchiger Dauer besteht, § 3 Abs. 3 EFZG, dass G unverschuldet arbeitsunfähig erkrankt und dass die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit die einzige Ursache für den Arbeitsausfall ist. Fraglich sind hier allein die Wirksamkeit des Arbeitsvertrags und die Auswirkungen einer eventuellen Nichtigkeit. 1. Arbeitsvertrag und Anfechtung Der Arbeitsvertrag wurde am 1.3.2019 geschlossen, am 30.11.2019 jedoch erfolgreich von G wegen arglistiger Täuschung angefochten (s.o.). 2. Rechtsfolge Fraglich ist, welche Rechtsfolgen die Anfechtung nach sich zieht. Vom Grundsatz der Nichtigkeit ex tunc nach § 142 Abs. 1 BGB wird, wie oben dargelegt, bei schon in Vollzug gesetzten Arbeitsverhältnissen eine Ausnahme gemacht: Die Anfechtung wirkt hier grundsätzlich nur ex nunc, also für die Zukunft. Im vorliegenden Fall war das Arbeitsverhältnis schon in Funktion gesetzt. Es besteht jedoch die Besonderheit, dass G die sechs Wochen vor der Anfechtung arbeitsunfähig krank war. Das Arbeitsverhältnis wurde also wieder außer Funktion gesetzt. In diesem Fall wirkt die Anfechtung auf den Zeitpunkt zurück, in dem das Arbeitsverhältnis außer Funktion gesetzt worden ist. Dies gilt jedenfalls dann, wenn das Anfechtungsrecht auf einer arglistigen Täuschung im Sinne des § 123 BGB beruht. Gesichtspunkte eines eventuell bestehenden Vertrauensschutzes greifen dann nicht,15 da ab dem Zeitpunkt der Arbeitsunfähigkeit keine Rückabwicklungsschwierigkeiten auftreten. Der Arbeitnehmer kann nicht darauf vertrauen, dass das Arbeitsverhältnis auch für die Zeit, in der es nicht mehr praktiziert worden ist, bis zur Anfechtungserklärung des Arbeitgebers als rechtsbeständig behandelt wird. Würde man der Anfechtung auch in einem solchen Falle nur Wirkung für die Zukunft beilegen, so würde man dem Täuschenden damit zu einem nicht gerechtfertigten Vorteil verhelfen. K Kontext: Für die Rückabwicklung erfolgreich angefochtener Arbeitsverträge ergibt sich damit folgendes: (1) Ist das Arbeitsverhältnis nicht vollzogen, hat also der Arbeitnehmer keine Arbeitsleistung erbracht, bleibt es bei der Regel des § 142 Abs. 1 BGB, der Unwirksamkeit ex tunc. (2) Ist das Arbeitsverhältnis vollzogen, hat also der Arbeitnehmer eine Arbeitsleistung erbracht, entsteht ein „fehlerhaftes Arbeitsverhältnis“, das nur mit Wirkung für die Zukunft (ex nunc) aufgelöst wird, für die Vergangenheit wird es wegen der sonst entstehenden Rückabwicklungsschwierigkeiten auch in steuer- und so14 Zum Lohn ohne Arbeit siehe Fall 5. 15 BAG 29.8.1984 NZA 1985, 58, 60.

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„Registrierte Trunkenheit“ Fall 2

zialversicherungsrechtlicher Hinsicht als wirksames Arbeitsverhältnis behandelt (Ausnahmen bei entgegenstehenden grundlegenden Interessen, insb. Strafrecht, Minderjährigenschutz). (3) Wird das Arbeitsverhältnis später wieder außer Funktion gesetzt (z.B. durch Krankheit) bestehen keine Rückabwicklungsschwierigkeiten, das Arbeitsverhältnis wird ab dem Zeitpunkt der Außer-Funktion-Setzung ex tunc als unwirksam behandelt.16 Über die Grundsätze vom fehlerhaften Arbeitsverhältnis besteht unübliche Einigkeit in Rechtsprechung und Schrifttum. Begründet wird die Behandlung des Arbeitsvertrags als wirksam in der Vergangenheit heute vor allem mit unüberwindlichen Rückabwicklungsschwierigkeiten. Das ist zweifelhaft – schon weil es diese offenbar nicht in allen Fällen gibt und eine Rückabwicklung in Betracht kommt. In Ausnahmefällen wird das Arbeitsverhältnis bei Verstößen gegen öffentlich-rechtliche Schutznormen, die sich gegen den Vertragsschluss insgesamt richten müssen, insgesamt für unwirksam erachtet – etwa bei Ausübung des Arztberufs ohne Zulassung17 (Fall 19). Historische Wurzel der Annahme von Rückabwicklungsschwierigkeiten ist, dass das Arbeitsverhältnis früher als „personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis“ mit einem Austausch von Treue (des Arbeitnehmers) gegen Fürsorge (durch den Arbeitgeber) verstanden wurde. Treue und Fürsorge lassen sich in der Tat nicht bereicherungsrechtlich rückabwickeln. Versteht man das Arbeitsverhältnis aber als Austausch von Arbeitsleistung gegen Entgelt, bestehen diese Schwierigkeiten nicht.

3. Ergebnis N hat gegen G für die letzten beiden Oktoberwochen und die vier Novemberwochen keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 611a Abs. 2 BGB i.V.m. § 3 Abs. 1 EFZG. K Zur Vertiefung: Zum Fragerecht des Arbeitgebers und den Offenbarungspflichten des Arbeitnehmers s. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 149–153; Preis/Temming, Individualarbeitsrecht Rn. 768–818. Zum Entstehen und zu den Rechtsfolgen eines fehlerhaften (faktischen) Arbeitsverhältnisses s. Junker Rn. 188–199; Preis/Temming Rn. 962–968. Zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall s. Junker Rn. 277–287; Preis/ Temming Rn. 2114–2194.

16 BAG 3.12.1998 NZA 1999, 584, 585. 17 BAG 3.11.2004 NZA 2005, 1409.

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Fall 3 „Kein Dienst, kein Wagen“ A. Falldarstellung N ist bei G als Außendienstmitarbeiterin angestellt. In ihrem standardmäßig von der G verwendeten Arbeitsvertrag lautet § 7: „(1) Für ihre Außendiensttätigkeit überlässt die G Frau N einen Pkw Marke […]. (2) Privatfahrten sind Frau N gestattet. (3) G behält sich vor, die Überlassung des Dienstwagens zu widerrufen, wenn und solange der Pkw für dienstliche Zwecke seitens des Arbeitnehmers nicht benötigt wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Arbeitnehmer nach Kündigung des Arbeitsverhältnisses von der Arbeitsleistung freigestellt1 wird.“ Am 5.9.2019 kündigte die G das Arbeitsverhältnis der N ordnungsgemäß zum 31.12.2019. Sie stellte N unter Fortzahlung des Gehalts mit sofortiger Wirkung von ihrer Arbeit frei, womit sich diese einverstanden erklärte. N will den Pkw, der ihr einziges Fahrzeug ist, nicht vor Ende Dezember 2019 zurückgeben.2 Frage: Kann G die Rückgabe des Pkw auf Grundlage von § 7 des Arbeitsvertrags schon zum 9.9.2019 verlangen? Schwierigkeitsgrad: Einführungsfall zur AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht. Rechtsfragen: AGB-Kontrolle eines arbeitsvertraglichen Widerrufsvorbehalts nach §§ 307 ff. BGB; Reichweite des Verbots der geltungserhaltenden Reduktion nach § 306 Abs. 2 BGB in Arbeitsverträgen

B. Lösungsskizze Anspruch der G gegen N aus § 7 Abs. 3 des Arbeitsvertrags Voraussetzung: Keine Unwirksamkeit nach §§ 305 ff. BGB 1. Vorliegen einer AGB: § 305 BGB mit Besonderheiten § 310 Abs. 3 BGB 2. Einbeziehung der AGB in den Arbeitsvertrag Allgemeine Regeln des Vertragsschlusses, keine Individualabrede (§ 305b BGB), keine Überraschung (§ 305c BGB) 3. Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB a) Kontrollfähigkeit: kontrollfreie Hauptabrede oder kontrollfähige Nebenabrede?

1 „Freistellung“ meint die jedenfalls einvernehmlich mögliche Befreiung von der Arbeitspflicht unter Fortzahlung der Bezüge; in der Praxis gibt es Freistellungen vor allem nach Ausspruch der Kündigung während der laufenden Kündigungsfrist. 2 Der Fall ist inspiriert von BAG 21.3.2012 NZA 2012, 616.

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„Kein Dienst, kein Wagen“ Fall 3

– Gewährung eines Dienst-Pkw für Privatfahrten ist Gehaltsbestandteil und damit kontrollfreie Hauptabrede. – Ein einseitiger Vorbehalt von dessen Entzug ist hingegen kontrollfähige Nebenabrede. b) Materiell unangemessene Benachteiligung – § 308 Nr. 4 BGB: Für den beschränkten Fall der Freistellung, wo der Dienst-Pkw nur noch und nicht lediglich auch der Privatnutzung dient, besteht ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers c) Transparenzkontrolle – Möglicher Grund für den Widerruf (Freistellung) ist deutlich gemacht. 4. Rechtsfolge: Wirksamkeit der Klausel 5. Ausübungskontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB – billiges Ermessen ausgeübt? – Dagegen: N hat kein weiteres Fahrzeug für Privatnutzung; Nutzung des Pkws ist Bestandteil des fortzuzahlenden Gehalts Ergebnis: Kurzfristiger und ohne Kompensation erfolgender Entzug des einzigen Privatfahrzeugs entspricht nicht billigem Ermessen

C. Lösungsvorschlag I. Anspruch der G gegen N aus dem Arbeitsvertrag Die G könnte aus dem Arbeitsvertrag einen Anspruch auf Rückgabe des Pkw zum 9.9.2019 gegen die N haben. § 7 Abs. 3 des Arbeitsvertrags („Überlassung des Dienstwagens zu widerrufen“) sieht bei verständiger Auslegung nach §§ 133, 157 BGB einen solchen Anspruch vor. Dafür müsste die Klausel in § 7 des Arbeitsvertrags wirksam sein. Ihre Unwirksamkeit kann aus §§ 307 ff. BGB folgen. K Hinweis: Ausführungen zum sachlichen Anwendungsbereich der AGB-Kontrolle, deren Regelung sich in § 310 Abs. 4 BGB findet, sind meist entbehrlich. Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen sind von der AGB-Kontrolle hiernach ausgenommen, weil diese von – typisiert angenommen – gleich starken Verhandlungspartnern mit dem Arbeitgeber oder dem Arbeitgeberverband geschlossen werden. Aus diesem Grund sind auch Arbeitsverträge, die jedenfalls einen abgeschlossenen Bereich aus einem Tarifvertrag übernehmen, in entsprechender Anwendung von § 310 Abs. 4 BGB im Hinblick auf diese Regelungen kontrollfrei.3 Fast nie kommt es auf den persönlichen Anwendungsbereich der AGB-Kontrolle nach § 310 Abs. 1 BGB an, weil der Arbeitnehmer als Klauselgegner hier nicht ausgenommen ist.

3 MüKo BGB/Basedow BGB § 310 Rn. 131.

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Fall 3 „Kein Dienst, kein Wagen“

1. Vorliegen einer AGB Bei § 7 des Arbeitsvertrags muss es sich dann um eine Allgemeine Geschäftsbedingung handeln. Das sind nach § 305 Abs. 1 S. 1 BGB alle für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierten Vertragsbedingungen, die eine Vertragspartei (Verwender) der anderen Vertragspartei bei Abschluss eines Vertrages stellt. Der vorliegende Formular-Arbeitsvertrag enthält solchermaßen von der G für die N vorformulierte Bedingungen, welche die G „standardmäßig verwendet“. Es handelt sich deshalb bei der Klausel in § 7 des Arbeitsvertrages um eine Allgemeine Geschäftsbedingung. K Kontext: Nach herrschender, wenn auch bestrittener Auffassung ist der Arbeitnehmer Verbraucher im Sinn von § 13 BGB,4 schon weil das Gesetz insoweit eine Begriffsbestimmung vornimmt, die kein „verbrauchen“ voraussetzt und unter die sich der Arbeitnehmer subsumieren lässt (Wortlaut); in § 491 Abs. 2 Nr. 4 BGB geht das BGB offenbar von der Verbrauchereigenschaft des Arbeitnehmers aus (Systematik) und auch vom Zweck der Schutzvorschriften für Verbraucher überzeugt es nicht, den Arbeitnehmer weniger zu schützen als etwa den, der ein Zeitschriftenabonnement oder ein anderes kleines Verbrauchergeschäft abschließt. Deshalb finden die maßgeblichen Vorschriften der AGB-Kontrolle, nämlich § 305 Abs. 2 und die §§ 306 und 307–309 BGB gemäß § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB auch dann Anwendung, wenn die Vertragsbedingung nur zur einmaligen Verwendung bestimmt ist, weiter gelten grds. AGB nach § 310 Abs. 3 Nr. 1 als vom Unternehmer gestellt. Hierauf kommt es insbesondere dann an, wenn ein Prüfungssachverhalt keine Informationen zum Stellen und zur mehrfachen Verwendung enthält.

2. Einbeziehung der AGB in den Vertrag Die in Rede stehende Klausel muss auch Bestandteil des zwischen den Parteien geschlossenen Arbeitsvertrages geworden sein. Die Frage, ob AGB vertraglich vereinbart worden sind, richtet sich (mangels Anwendbarkeit des § 305 Abs. 2 und 3 BGB, vgl. § 310 Abs. 4 S. 2 BGB) nach allgemeinen Regeln des Vertragsrechts. Die Klausel war in dem Arbeitsvertrag der G, den N bei ihrer Einstellung unterzeichnet hat, enthalten. Damit ist die Klausel Vertragsbestandteil geworden. Eine vorrangige Individualabrede zwischen N und der G gemäß § 305b BGB ist nicht ersichtlich. Bei der Klausel handelt es sich auch nicht um eine Bestimmung, die nach den Umständen, insbesondere nach dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrags, so ungewöhnlich ist, dass G mit ihr nicht zu rechnen brauchte, § 305c Abs. 1 BGB. Änderungs- und Widerrufsvorbehalte sind typische Regelungen in Arbeitsverträgen. Damit wurde die Klausel wirksam in den Vertrag zwischen G und N einbezogen. K Kontext: Bei der Einbeziehung von Klauseln in den Arbeitsvertrag kommt es also auf drei Dinge an, nämlich (1) die Willenseinigung (ausdrücklich oder konkludent), üblicherweise durch Zustimmung des Arbeitnehmers zum schriftlichen Arbeitsvertrag; (2) keine Kollision mit einer Individualvereinbarung (diese geht vor), § 305b BGB; (3) keine überraschende Klausel (diese wird nicht einbezogen), § 305c BGB.

4 BAG 25.5.2005 NZA 2005, 1111, 1115 m.w.N. auch zur Gegenauffassung.

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„Kein Dienst, kein Wagen“ Fall 3

3. Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB K Kontext: Vor der Inhaltskontrolle sind die Klauseln auszulegen (wenn es Auslegungsspielraum gibt). Dabei ist aufgrund der Eigenschaft der AGB, allgemein zu sein, der Verständnishorizont eines durchschnittlichen Arbeitnehmers maßgeblich. Schwierigkeiten bereitet häufig das Verständnis der Unklarheitenregel (§ 305c Abs. 2 BGB), nach der bei mehreren möglichen Auslegungsergebnissen das für den Arbeitnehmer als Klauselgegner günstigste gilt. Daraus folgen zwei Dinge: (1) vor der Angemessenheitskontrolle ist für die Zwecke der Inhaltskontrolle das Auslegungsergebnis das für den Arbeitnehmer günstigste, das ihn am meisten belastet, weil dieses sich am ehesten nach §§ 307–309 BGB als unangemessen herausstellt („kundenfeindliche Auslegung“). (2) Erweist sich die Klausel danach in ihrer benachteiligendsten Auslegung als angemessen, gilt für deren Anwendung im jeweiligen Einzelfall die für den Arbeitnehmer günstigste Auslegung („kundenfreundliche Auslegung“).5

a) Kontrollfähigkeit Nach § 307 Abs. 3 BGB unterliegen nur solche Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Inhaltskontrolle gemäß §§ 307 ff. BGB, durch die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen vereinbart werden. Kontrollfrei sollen solche Vereinbarungen bleiben, die der marktorientierten, privatautonomen Entscheidung des Arbeitgebers unterliegen, nämlich Arbeitsleistung und Arbeitsentgelt. Diese Hauptabreden müssen lediglich dem Transparenzgebot entsprechen. Nebenabreden unterliegen demgegenüber der vollen Inhaltskontrolle. K Kontext: Die Angemessenheitskontrolle der Klausel in ihrer „kundenfeindlichsten Auslegung“ (man sollte also auch an eine dem Arbeitnehmer ungünstige Situation denken) vollzieht sich in 4 Schritten, nämlich (1) der Kontrollfähigkeit nach § 307 Abs. 3 S. 1 und 2 BGB (Leistungsbestimmungen und deklaratorische Klauseln unterliegen nur der Transparenzkontrolle); (2) der materiell unangemessenen Benachteiligung, die sinnvoll in der Reihenfolge § 309 Nr. 1–13 – § 308 Nr. 1–8 – § 307 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB geprüft wird; (3) der Transparenzkontrolle nach § 307 Abs. 1 S. 2 BGB (die auch in (2) integriert werden kann), nach der eine Klausel auch dann unangemessen ist, wenn das Risiko, ihren Regelungsgehalt nicht oder falsch zu verstehen, in unangemessener Weise auf den Arbeitnehmer verlagert wird6; und (4) die einschränkende Berücksichtigung von Begleitumständen des Vertragsschlusses nach § 310 Abs. 3 Nr. 3 BGB (wenig praktisch relevant) und den Besonderheiten des Arbeitsrechts nach § 310 Abs. 4 S. 2 BGB (Bsp: Vertragsstrafe bei Nichtantritt der Arbeit entgegen § 309 Nr. 6 BGB zulässig, weil Dienste nach § 888 Abs. 3 ZPO nicht erzwungen werden können7). Nach § 7 Abs. 2 des Arbeitsvertrags ist N zur Privatnutzung des Pkw berechtigt. Das ist eine geldwerte Leistung der Arbeitgeberin G, die Bestandteil des Arbeitsentgelts ist.8 Damit han5 6 7 8

Preis/Temming Rn. 1026. BAG 23.3.2017 NJW 2017, 1895 Rn. 31. BAG 4.3.2004 NZA 2004, 727, 732. BAG 21.3.2012 NZA 2012, 616, 617.

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Fall 3 „Kein Dienst, kein Wagen“

delt es sich um eine Hauptabrede, die nur der Transparenzkontrolle unterliegt. Entscheidend für das Begehren der G, den Pkw zurückzuerhalten, ist aber § 7 Abs. 3 des Arbeitsvertrags, nach dem die G einseitig die Überlassung zur Privatnutzung widerrufen kann. Ein solches einseitiges Leistungsbestimmungsrecht räumt dem Arbeitgeber das Recht ein, die Hauptleistungspflicht zu verändern. Hierbei handelt es sich um eine von der Hauptleistungspflicht zu trennende Abrede, die als Nebenpflicht der vollen Inhaltskontrolle unterliegt. b) Materiell unangemessene Benachteiligung Die Klausel ist unwirksam, wenn sie gegen § 308 Nr. 4 BGB verstößt. Danach ist die Vereinbarung eines Rechts des Verwenders, die versprochene Leistung zu ändern unzulässig, sofern die Vereinbarung der Änderung unter Berücksichtigung der Interessen des Verwenders für den anderen Vertragsteil unzumutbar ist. Um einen solchen Vorbehalt der Änderung handelt es sich bei der Widerrufsklausel in § 7 Abs. 3 des Arbeitsvertrags. In materieller Hinsicht steht § 308 Nr. 4 BGB der Vereinbarung eines Widerrufsvorbehalts nicht entgegen, wenn der Klauselsteller wegen der unsicheren Entwicklung der Verhältnisse ein berechtigtes Interesse an der Anpassung durch einen Widerruf hat. Der Widerruf ist hier nur möglich in dem Fall, in dem der Arbeitnehmer freigestellt ist, also bis zum Kündigungstermin keine Arbeitsleistungen erbringen muss, insbesondere also auch keine Dienstfahrten mit dem Pkw. Weil der Pkw dann nur noch und nicht mehr nur auch der Privatnutzung dient, hat der Arbeitgeber, etwa weil er eine Ersatzarbeitskraft mit dem Dienst-Pkw einsetzt, ein berechtigtes Interesse daran, die Privatnutzung zu widerrufen. K Kontext: Ein Widerruf ist unangemessen benachteiligend, wenn dadurch das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung im Arbeitsverhältnis grundlegend berührt ist. Bei Widerrufsvorbehalten, aber auch etwa bei einer Klausel, nach der Überstunden pauschal abgegolten werden sollten,9 hat das BAG mehrfach eine 25 %-Grenze angewandt. Eine grundlegende Störung des Synallagmas soll nicht vorliegen, wenn weniger als 25 % des regelmäßigen Verdienstes betroffen sind.10

c) Transparenzkontrolle Damit der Widerrufsvorbehalt für N zumutbar ist, muss er nach der Rechtsprechung des BAG in formeller Hinsicht so gestaltet sein, dass bei den Widerrufsgründen zumindest die Richtung angegeben wird, aus der der Widerruf möglich sein soll. Selbst wenn man das nicht, wie wohl das BAG, direkt aus § 308 Nr. 4 BGB herleiten wollte, würde sich dieses Erfordernis aus dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB ergeben. Diesem Transparenzgebot wird die Widerrufsklausel gerecht; denn hiernach ist ausdrücklich klargestellt, dass der Arbeitnehmer im Falle einer Freistellung mit dem Entzug der Privatnutzung rechnen muss. Die Klausel erlaubt der G gerade nicht, jederzeit ohne weitere Voraussetzungen die Überlassung des Wagens zur Privatnutzung zu widerrufen.11

9 BAG 7.12.2005 NZA 2006, 423 Rn. 44. 10 Z.B. BAG 19.12.2006 NZA 2007, 809 Rn. 24. 11 So war es in BAG 19.12.2006 NZA 2007, 809.

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„Kein Dienst, kein Wagen“ Fall 3

K Hinweis: Welches Maß an Konkretheit für die Formulierung von Widerrufsgründen erforderlich ist, ist letztlich eine Frage des Einzelfalls. Nach der Rechtsprechung des BAG ist zweifelhaft, ob der bloße Verweis auf „wirtschaftliche Gründe“ als Widerrufsgrund zu unbestimmt ist,12 der Verweis auf eine „wirtschaftliche Notlage“ soll aber reichen.13

4. Rechtsfolge Die Widerrufsklausel in § 7 Abs. 3 des Arbeitsvertrags hält so der Inhaltskontrolle stand und ist wirksam. K Kontext: Ist eine Klausel unangemessen benachteiligend, ist diese unwirksam, der Vertrag im Übrigen bleibt aber – abweichend von § 139 BGB – nach § 306 Abs. 1 BGB wirksam (§ 306 Abs. 3 BGB ist eine seltene Ausnahme). Die Lückenfüllung erfolgt nach § 306 Abs. 2 BGB durch dispositives Gesetzesrecht. Die unangemessen benachteiligende Klausel wird nicht auf ein noch zulässiges Maß reduziert. Sonst entstünde entgegen den Regelungszwecken des AGB-Rechts ein Anreiz, möglichst unangemessene Klauseln zu formulieren, weil diese im schlimmsten Fall für den Verwender auf ein gerade noch zulässiges Maß reduziert würden („Verbot der geltungserhaltenden Reduktion“)14. Eine Ausnahme dazu bildet der „blue-pencil-test“: Ist die Klausel sprachlich und inhaltlich teilbar und nur ein Teil unangemessen benachteiligend, bleibt die Klausel im Übrigen wirksam.15 Das ist nicht unumstritten, trägt aber dem Gedanken Rechnung, dass es nicht auf eine möglichst zerfaserte sprachliche Darstellung mit vielen Einzelregelungen ankommen kann, um Unwirksamkeitsrisiken zu minimieren.

5. Ausübungskontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB Widerrufsvorbehalte haben die Besonderheit, dass hier eine Ausübungskontrolle im Einzelfall gemäß § 315 Abs. 3 BGB durchzuführen ist, denn die Erklärung des Widerrufs stellt eine Bestimmung der Leistung durch den Arbeitgeber nach § 315 Abs. 1 BGB dar. Der Widerruf muss danach im Einzelfall billigem Ermessen entsprechen. Fraglich ist daher, ob die G ihr Widerrufsrecht gegenüber der N unbillig ausgeübt hat. Ob billiges Ermessen gewahrt ist, hängt von einer Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ab. Vor allem zwei Gründe sprechen hier dagegen, dass billiges Ermessen gewahrt wurde. Zum einen hat die N kein anderes Fahrzeug für ihre Privatnutzung, sodass bei Kündigungserklärung und Widerruf am 5.9.2019 ein Herausgabeverlangen zum 9.9.2019 als zu kurzfristig erscheint. Zum anderen ist die N durch die einvernehmliche Freistellung zwar von der Pflicht zur Erbringung von Arbeitsleistungen befreit, ihr Gehalt ist aber fortzuzahlen. Die Erlaubnis zur Privatnutzung des Dienst-Pkw hat aber offensichtlich einen Geldwert und ist vertraglich zugesagter Gehaltsbestandteil. Die G müsste bei Widerruf der Privatnutzungserlaubnis der

12 13 14 15

Vgl. m. N. Stoffels, NZA 2017, 1217, 1218 f. BAG 24.1.2017 NZA 2017, 777. BAG 12.1.2005 NZA 2005, 465. BAG 25.5.2005 NZA 2005, 1111, 1112.

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Fall 3 „Kein Dienst, kein Wagen“

N gleichzeitig den damit verbundenen Nutzungsausfall erstatten.16 Der Widerruf mit dem Herausgabeverlangen zum 9.9.2019 entspricht hier damit nicht billigem Ermessen. K Kontext: Bei Widerrufsvorbehalten, die nach der AGB-Kontrolle auf Grundlage einer Betrachtung der Interessenlagen der durchschnittlichen Vertragsparteien wirksam sind, findet so eine Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls über § 315 Abs. 3 BGB statt, nach der die Leistungsbestimmung im Einzelfall billigem Ermessen entsprechen muss. Hier sind alle Informationen des Sachverhalts auszuwerten.

II. Ergebnis Die G hat daher keinen Anspruch aus § 7 des Arbeitsvertrags auf Herausgabe des Pkw gegen N zum 9.9.2019. Denkbar erscheint ein Widerruf und eine Herausgabe zum 1.10.2019 gegen Erstattung des Nutzungsausfalls für die entgangene Privatnutzung. K Zur Vertiefung: Zur AGB-Inhaltskontrolle im Arbeitsvertrag s. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 76–89; Preis/Temming, Individualarbeitsrecht Rn. 997–1064. Zum Widerrufsvorbehalt einzelner Arbeitsbedingungen mit Beispielen bei Dienstwagennutzung s. Preis/Temming Rn. 1866–1878.

16 BAG 21.3.2012 NZA 2012, 616, 617.

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Fall 4 „Schwerlast“ A. Falldarstellung N ist seit 2015 in der Abteilung „Gepäckbeförderung“ bei G, einer Flughafenbetreiberin, beschäftigt. Die Tätigkeit von N besteht darin, Gepäckstücke von Hand von Förderbändern auf Transportwagen zu heben und mit diesen Wagen zu den Flugzeugen bzw. zum Flughafengebäude zu fahren. Nach der Geburt des ersten Kindes ging N im Juni 2018 in Elternzeit, die ursprünglich drei Jahre dauern sollte. Im Oktober 2018 wurde F erneut schwanger. Am 30.1.2019 bat N die G schriftlich darum, die Elternzeit zu verkürzen und ab April 2019 wieder die ursprüngliche Tätigkeit ausüben zu dürfen. Von ihrer Schwangerschaft teilte sie G nichts mit, obwohl sie die Verkürzung der Elternzeit allein aus dem Grund verlangte, um Mutterschaftsgeld – das höher ist als das Elterngeld – sowie den Arbeitgeberzuschuss hierzu auch im Rahmen der zweiten Schwangerschaft zu erhalten. G kam der Bitte der N nach, erfuhr aber am 10.4.2019 von N, dass diese im siebten Monat schwanger ist. Daraufhin beurlaubte G die N noch am gleichen Tag und focht zugleich die auf Zustimmung zur Rückkehr an den Arbeitsplatz gerichtete Willenserklärung wegen arglistiger Täuschung an. Wegen der Beschäftigungsverbote des § 11 Abs. 5 MuSchG sei N keine vollwertige Arbeitskraft mehr. Frage: Hält die Anfechtung durch G einer gerichtlichen Überprüfung (materiell) stand? Schwierigkeitsgrad: Einführungsfall zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Rechtsfragen: Benachteiligungsverbot nach dem AGG; Verschweigen der Schwangerschaft im bestehenden Arbeitsverhältnis

B. Lösungsskizze Materiellrechtliche Wirksamkeit der Anfechtung I.

Anfechtungserklärung, § 143 Abs. 1 BGB

II. Anfechtungsgrund: § 123 Abs. 1 BGB 1. Täuschung durch Verschweigen der Schwangerschaft bei Rückkehrbitte 2. Offenbarungspflicht der N nur bei Fragerecht des Arbeitgebers – Maßstab der Zulässigkeit der Frage: Interessenabwägung unter dem Kriterium der „Erforderlichkeit“ in § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG. – Frage nicht erforderlich, wenn diskriminierend gemäß §§ 7 Abs. 1, 1, 2 Abs. 1 Nr. 2, 3 Abs. 1 AGG a) Persönlicher (§ 6 AGG) und sachlicher (§ 2 AGG) Anwendungsbereich des AGG

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Fall 4 „Schwerlast“

b) Benachteiligung – Frage nach Schwangerschaft als unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts gemäß § 3 Abs. 1 S. 2 AGG – Bereits Frage bedeutet, dass Arbeitgeber Konsequenzen daraus ziehen will – Folge: keine Offenbarungspflicht im bestehenden Arbeitsverhältnis c) Keine Rechtfertigung nach § 8 Abs. 1 AGG III. Ergebnis: Kein Anfechtungsrecht nach § 123 Abs. 1 BGB

C. Lösungsvorschlag Die Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB hält einer gerichtlichen Überprüfung (materiell) stand, wenn eine Anfechtungserklärung und ein Anfechtungsgrund vorliegen, wenn das Rechtsgeschäft nicht bestätigt wurde und wenn die Frist eingehalten ist.

I. Anfechtungserklärung Die G hat die Anfechtung gemäß § 143 Abs. 1 BGB gegenüber der N erklärt.

II. Anfechtungsgrund: § 123 Abs. 1 BGB Anfechtungsgrund kann hier § 123 Abs. 1 BGB sein. Voraussetzung hierfür ist, dass die G zur Abgabe einer Willenserklärung – hier der Zustimmung zur vorzeitigen Rückkehr aus der Elternzeit – durch arglistige Täuschung bestimmt worden ist. 1. Täuschung durch Verschweigen von Tatsachen Im vorliegenden Fall hat N der G die Schwangerschaft verschwiegen. Ein solches Verschweigen ist jedoch nur dann als Täuschung i.S.v. § 123 Abs. 1 BGB anzusehen, wenn eine Aufklärungspflicht besteht. Da keine allgemeine Offenbarungspflicht des Arbeitnehmers über Umstände besteht, die der Durchführung des Vertrags entgegenstehen könnten, kommt eine Aufklärungspflicht nur ausnahmsweise in Betracht. Dies ist z.B. der Fall, wenn der Arbeitnehmer erkennt, dass er auf Grund fehlender Qualifikationen oder Fähigkeiten für die Arbeit völlig ungeeignet ist oder wenn die jeweiligen Umstände dem Arbeitnehmer die Erfüllung der arbeitsvertraglichen Leistungspflicht unmöglich machen oder sonst ausschlaggebende Bedeutung für den Arbeitsplatz haben. Hier besteht die Tätigkeit der N darin, Gepäckstücke von Hand von Förderbändern auf Transportwagen zu heben und diese Wagen zu fahren. Dieser Tätigkeit könnte ein Beschäftigungsverbot nach § 11 Abs. 5 MuSchG entgegenstehen, sodass die Tätigkeit jedenfalls teilweise während der Schwangerschaft nicht ausgeübt werden darf. In Betracht kommt hier das Verbot des § 11 Abs. 5 Nr. 1 MuSchG, das die Beschäftigung Schwangerer mit Arbeiten untersagt, bei denen regelmäßig Lasten von mehr als 5 kg Gewicht oder gelegentlich Lasten von mehr als 10 kg Gewicht gehoben, bewegt oder befördert werden. Bei den Gepäckstücken, die am Flughafen befördert werden, handelt es sich in aller Regel um Lasten, die 24

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„Schwerlast“ Fall 4

schwerer als 5 kg sind. Daher greift das Beschäftigungsverbot des § 11 Abs. 5 Nr. 1 MuSchG hier ein und steht der Beschäftigung der N jedenfalls teilweise entgegen. 2. Offenbarungspflicht der F nur bei Fragerecht des Arbeitgebers Allerdings besteht eine Aufklärungspflicht der N nur insoweit, als der Arbeitgeber seinerseits nach der betreffenden Tatsache fragen dürfte, da die Offenbarungspflichten des Arbeitnehmers nicht weiter gehen als das Fragerecht des Arbeitgebers. Wenn also etwas verschwiegen wird, berechtigt das nur dann zur Anfechtung, wenn der Arbeitgeber auch hätte danach fragen dürfen. Es ist also die Zulässigkeit der hypothetischen Frage der G nach der Schwangerschaft der N zu prüfen. Nach § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG dürfen personenbezogene Daten eines Beschäftigten für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses unter anderem nur dann erhoben werden, wenn dies für die Entscheidung über die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder nach Begründung für dessen Durchführung erforderlich ist. Eine Datenerhebung ist jedenfalls dann nicht erforderlich, wenn sie nach anerkannten Maßstäben des Diskriminierungsschutzes oder Persönlichkeitsschutzes im Arbeitsverhältnis unzulässig ist. Die Frage nach der Schwangerschaft könnte insoweit eine unzulässige Diskriminierung wegen des Geschlechts i.S.v. §§ 7 Abs. 1, 1, 2 Abs. 1 Nr. 1, 3 Abs. 1 AGG darstellen und damit nicht erforderlich sein. Dafür müsste in der hypothetischen Frage eine Benachteiligung der N wegen des Geschlechts liegen. K Kontext: Fragen der Nichtdiskriminierung und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes stellen sich in der Prüfung neben dem hier entscheidenden (1) Fragerecht des Arbeitgebers vor allem bei (2) der Unwirksamkeit der diskriminierenden Kündigung (dazu Fall 18) und bei (3) Ersatzansprüchen insbesondere des diskriminierten Stellenbewerbers, wobei § 15 Abs. 1 AGG einen verschuldensabhängigen Anspruch auf Ersatz materieller Schäden enthält (Ansprüche aus §§ 280, 823 ff. BGB werden nicht verdrängt, das AGG sollte dem Diskriminierten ein Mehr an Rechtsschutz verschaffen) und § 15 Abs. 2 AGG einen Anspruch auf verschuldensunabhängige Entschädigung. Bei abgelehnter Bewerbung beträgt dieses bis zu 3 Monatsgehälter, § 15 Abs. 2 S. 2 BGB, wenn der Bewerber bei diskriminierungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre. Keine Begrenzung besteht, wenn der Bewerber bei diskriminierungsfreier Auswahl eingestellt worden wäre – hier werden die Lösungen „Ewigkeitsrente“ (arg.: EU-Recht verlangt abschreckende Rechtsfolge) und Bezüge bis zum Ablauf der Frist der 1. Kündigungsmöglichkeit (arg. § 15 Abs. 6 AGG, § 628 Abs. 2 BGB) diskutiert. Trotz Diskriminierung besteht aber kein Anspruch auf Einstellung, § 15 Abs. 6 AGG. Andere Konstellationen (Recht auf Beschwerde, § 13 AGG, und Leistungsverweigerung, § 14 AGG, Maßregelungsverbot nach § 16 AGG) sind in der Prüfung selten.

a) Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich N ist Arbeitnehmerin im Sinn des § 611a BGB und damit nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AGG „Beschäftigte“ im Sinn des AGG, das AGG ist also auf sie anwendbar.

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Fall 4 „Schwerlast“

K Kontext: Weil das AGG eine EU-Richtlinie umsetzt, ist hier der (durch die Rechtsprechung des EuGH entwickelte) unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff maßgeblich, der zu einer Erweiterung des persönlichen Anwendungsbereichs führen kann. Wesentliche Merkmale dieses Begriffs ist (1) die Erbringung von Leistungen (2) während einer bestimmten Zeit (3) für einen anderen (4) nach dessen Weisung (5) für eine Vergütung als Gegenleistung.1 Nach dem Unionsrecht können daher auch einige Personengruppen, die bei dem Kriterium „privatrechtlicher Vertrag“ bei § 611a BGB traditionell ausgenommen werden, wie Beamte, Richter, Soldaten, Praktikanten, GmbH-Geschäftsführer und DRK-Schwestern, im unionsrechtlichen Sinn Arbeitnehmer sein. Der sachliche Anwendungsbereich des AGG nach § 2 AGG umfasst alle Aspekte des Arbeitsverhältnisses, unter anderem in § 2 Nr. 2 AGG die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, zu denen die Rückkehr aus der Elternzeit gehört. b) Benachteiligung Nach § 7 Abs. 1 AGG dürfen Beschäftigte nicht wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes benachteiligt werden. § 3 Abs. 1, 2 AGG definieren den Begriff der Benachteiligung. K Kontext: § 3 Abs. 1 AGG enthält die Fälle der unmittelbaren Benachteiligung, nach der (1) eine Person einen Nachteil erfährt (2) im Vergleich zu (auch hypothetischen) Personen in vergleichbarer Situation (3) wegen eines der in § 1 AGG genannten Diskriminierungsmerkmale. Schwieriger ist die Feststellung einer mittelbaren Benachteiligung nach § 3 Abs. 2 AGG. Hier sind festzustellen (1) anscheinend neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren, (2) ein besonderer Nachteil einer Gruppe wegen (3) eines Diskriminierungsmerkmals, und das (4) ohne Rechtfertigung (legitimes Ziel – Erforderlichkeit – Angemessenheit). Bei der mittelbaren Benachteiligung gehört das Fehlen der Rechtfertigung zum Tatbestand. Bei der Einstellung kann die wahrheitsgemäße Beantwortung der Frage zur Nichteinstellung führen, weil nur wenige Arbeitgeber eine Frau einstellen wollen, die dann sofort wegen Mutterschutz und Elternzeit wieder ausfällt. Darin liegt ein Nachteil, den etwa ein Mann wegen seines Geschlechts nicht erleiden würde. Die ungünstigere Behandlung einer Frau wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft wird, dies bekräftigend, in § 3 Abs. 1 S. 2 AGG als unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts definiert. Die Frage nach der Schwangerschaft ist daher jedenfalls bei der Einstellung eine unmittelbare Benachteiligung. Hier jedoch geht es nicht um die Einstellung oder Kündigung der N, sondern um die Frage nach der Schwangerschaft in einem bestehenden Arbeitsverhältnis, in dem der Arbeitnehmer die Sicherheit eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses genießt. Des Weiteren kann eingewendet werden, die Verkürzung der Elternzeit allein aus dem Grund, das (im Vergleich zum Elterngeld höhere) Mutterschaftsgeld und den Arbeitgeberzuschuss hierzu zu erhalten, sei missbräuchlich und gebe dem Arbeitgeber ein Recht zur Ablehnung dieses Wunsches. Doch auf diese Aspekte stellt das AGG nicht ab. Es setzt allein die ungünstigere Behandlung wegen des Geschlechts (der Schwangerschaft) als Maßstab. Auch in einem bestehenden Ar1 EuGH 3.7.1986 Slg. I – 2121.

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„Schwerlast“ Fall 4

beitsverhältnis kann die Frage nach der Schwangerschaft eine ungünstigere Behandlung nach sich ziehen. Schon allein, dass der Arbeitgeber diese Frage stellt – oder hier: stellen würde, bedeutet, dass ihm an deren Beantwortung etwas liegt, er also Konsequenzen daraus ziehen will. Das bedeutet z.B. bei positiver Antwort die Versagung der Rückkehrmöglichkeit an den Arbeitsplatz, oder auch die Nichtverlängerung eines befristeten Arbeitsverhältnisses. Beides stellt eine ungünstigere Behandlung gegenüber einer nicht schwangeren Frau oder einem Mann dar. Darum kann auch in einem bestehenden Arbeitsverhältnis die Frage nach der Schwangerschaft gemäß § 3 Abs. 1 AGG eine unmittelbare Benachteiligung bedeuten. Folglich ist auch im laufenden Arbeitsverhältnis eine unmittelbare Benachteiligung durch die Frage nach der Schwangerschaft gegeben. c) Rechtfertigung Die Benachteiligung kann aber nach § 8 Abs. 1 AGG ausnahmsweise zulässig sein. Dieser legt fest, dass eine unterschiedliche Behandlung wegen eines Grundes des § 1 AGG zulässig ist, wenn dieser Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist. Um Gepäckstücke vom Band auf Transportwagen zu heben, ist es nicht zwingend erforderlich, ein Mann zu sein, weder Art noch Bedingungen der Ausübung der Tätigkeit stellen diese Anforderung auf. Nicht in einem bestimmten Monat schwanger zu sein ist zwar wegen der Mutterschutzbestimmungen des § 11 Abs. 5 MuSchG ab einem bestimmten Zeitpunkt Voraussetzung, doch ist dies kein Grund des § 1 AGG. Nur das Geschlecht ist Grund des § 1 AGG. Die eingeschränkte Tätigkeit auf Grund der Schwangerschaft ist nur ein vorübergehender Zustand, der darum nicht die Art und Ausübung der Tätigkeit als solche betrifft. Damit ist die Ungleichbehandlung nicht nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig. Die Frage nach der Schwangerschaft ist daher eine unzulässige Diskriminierung wegen des Geschlechts i.S.v. §§ 7 Abs. 1, 1, 2 Abs. 1 Nr. 1, 3 Abs. 1 AGG und somit unzulässig bzw. datenschutzrechtlich gemäß § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG nicht erforderlich. Der Arbeitgeber darf die Frage nach der Schwangerschaft also nicht stellen, eine Täuschung durch deren Nichtoffenlegung durch N bei Äußerung des Wunsches nach Verkürzung der Elternzeit liegt dementsprechend nicht vor. K Kontext: Alle der genannten Rechtsfolgen einer Diskriminierung nach dem AGG setzen die Feststellung einer Diskriminierung voraus. Das kann – wie gezeigt – einheitlich in der Reihenfolge (1) persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich (§§ 2, 6 AGG), (2) unmittelbare (§ 3 Abs. 1 AGG) oder mittelbare (§ 3 Abs. 2 AGG) Benachteiligung wegen eines Diskriminierungsmerkmals (§ 1 AGG), (3) Rechtfertigung (§§ 5, 8, 9, 10 AGG) geschehen – wobei der Rechtfertigung nach Feststellung der mittelbaren Benachteiligung (die tatbestandlich nur vorliegt, wen die Ungleichbehandlung nicht sachlich gerechtfertigt ist) keine Bedeutung mehr zukommt.

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Fall 4 „Schwerlast“

III. Ergebnis Die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB wird einer gerichtlichen Überprüfung (materiell) nicht standhalten. K Zur Vertiefung: Zum AGG im Arbeitsrecht s. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 155–167; Preis/Temming, Individualarbeitsrecht Rn. 1494–1683. Zum Fragerecht des Arbeitgebers und den Offenbarungspflichten des Arbeitnehmers s. Junker Rn. 149–153; Preis/Temming Rn. 768–818. Zu den Voraussetzungen und den Rechtsfolgen der Anfechtung des Arbeitsvertrags s. Junker Rn. 190–199; Preis/Temming Rn. 928–973.

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Fall 5 „Die aufsässige Monteurin“ A. Falldarstellung G betreibt ein Unternehmen, das den Auf- und Abbau, die Bedienung und die Wartung von Spezialkränen, die vor allem auf Großbaustellen eingesetzt werden, vornimmt. G beschäftigt hierfür 50 Monteurinnen und Monteure. Darunter befindet sich auch die Monteurin N. Da es in der letzten Zeit in der Bauwirtschaft ein Überangebot gibt, muss G ihre Preise senken, um an Aufträge zu kommen. Deshalb verschickt G ein Rundschreiben an ihre Monteure, in dem sie ihnen die Auftragslage darlegt. Laut Rundschreiben führe die katastrophale Auftragslage unweigerlich zu betriebsbedingten Kündigungen von Monteuren, die nur dadurch verhindert werden könnten, dass im Montagebereich die Stundenlöhne um 10 % gesenkt werden. Daher schlägt G den Monteuren eine dementsprechende Vertragsänderung vor, die Ende September 2019 von allen Monteuren bis auf N angenommen wird. Ab dem 16.10.2019 setzt G die N nur noch mit 31,5 Wochenstunden ein, während die anderen Monteure, die das Vertragsänderungsangebot angenommen haben, im Durchschnitt 40 Wochenstunden von G zugewiesen bekommen. Da N gerade ein Haus gebaut und die volle Arbeitsvergütung nebst Überstundenvergütung für die Finanzierung eingeplant hat, verlangt sie mehrmals von G, ebenfalls 40 Wochenstunden beschäftigt zu werden. N bleibt sogar nach Ende der ihr zugewiesenen (kurzen) Schicht von 31,5 Stunden/Woche täglich etwas länger auf den Baustellen, auf denen sie beschäftigt wird, und wartet auf Anweisungen der G, dass auch sie Überstunden oder zumindest die volle Stundenzahl leisten soll. G lehnt die Anordnung von Überstunden aber ab, mit dem Hinweis, dass 35 Wochenstunden in gleichen Teilen von Montag bis Freitag der im Arbeitsvertrag festgelegten Wochenarbeitszeit entsprechen. Außerdem habe N mit der Nichtannahme des Änderungsangebots gezeigt, dass sie im Gegensatz zu allen anderen Monteuren nicht an der Wirtschaftlichkeit des Unternehmens interessiert sei, daher bräuchte sie weder damit zu rechnen, Überstunden zugewiesen zu bekommen, noch damit, dass sie auch nur die arbeitsvertraglich vorgesehenen 35 Stunden eingesetzt würde. Wenn sie der notwendigen Lohnsenkung nicht zustimmen wollte, müssten die 10 % Lohnkosten bei ihr eben durch eine Reduktion der Arbeitszeit umgesetzt werden. Frage 1: Hat N gegen G einen Anspruch auf Zahlung von Lohn für die nicht eingesetzten 3,5 Stunden/Woche (Differenz von 35 und 31,5?) Frage 2: Hat N gegen G einen Anspruch auf Zahlung der nicht zugeteilten Überstunden? Schwierigkeitsgrad: Etwas schwierigerer Einführungsfall zum Komplex „Lohn ohne Arbeit“ und zur „betrieblichen Übung“ Rechtsfragen: Annahmeverzug, Entbehrlichkeit des Angebots, Maßregelungsverbot, allgemeiner arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz, Entstehen einer betrieblichen Übung

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Fall 5 „Die aufsässige Monteurin“

B. Lösungsskizze I. Frage 1 – Anspruch auf Zahlung der Vergütung für die 3,5 Stunden pro Woche AGL: § 611a BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag 1. Anspruchsuntergang nach § 326 Abs. 1 S. 1 BGB – Arbeitsleistung als absolutes Fixgeschäft; Grundsatz: Kein Lohn ohne Arbeit 2. Aufrechterhaltung des Vergütungsanspruchs gemäß § 615 S. 1 BGB – Annahmeverzug der G a) Erfüllbarkeit (+) b) Ordnungsgemäßes Angebot (+) c) Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft gemäß § 297 BGB (+) d) Nichtannahme der Leistung (+) 3. Ergebnis: Vergütungsanspruch besteht II. Frage 2 – Anspruch auf Zahlung einer Vergütung für die nicht zugeteilten Überstunden AGL: §§ 611a Abs. 2, 612 Abs. 1, 615 S. 1 BGB 1. Annahmeverzug der G gemäß § 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB a) Angebot der Arbeitsleistung gemäß § 294 BGB (+) b) Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft gemäß § 297 BGB (+) c) Nichtannahme der Leistung – Teilweiser Annahmeverzug aa) Verpflichtung aus betrieblicher Übung (–) – Überstundenanordnung nach objektivem Empfängerhorizont nicht lediglich rechtlich vorteilhaft und damit untauglich für das Entstehen einer betrieblichen Übung bb) Verpflichtung aus § 612a BGB (+) (1) Benachteiligung der N (2) Gebrauchmachen ihrer Rechte in zulässiger Weise (3) Ursächlichkeit der Rechtsausübung für die Maßregelung (4) Zwischenergebnis: Verstoß gegen das Maßregelungsverbot führt zu Verpflichtung, die N 40 Stunden zu beschäftigen cc) Verpflichtung aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz (+) (1) Kollektive Maßnahme (2) Schlechtere Behandlung der N

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„Die aufsässige Monteurin“ Fall 5

(3) Kein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung – Nichtannahme des Änderungsangebotes als sachfremdes und untaugliches Kriterium für die Ungleichbehandlung – Unangemessene Einschränkung der Vertragsfreiheit der N 2. Ergebnis: Anspruch auf Überstundenvergütung (+)

C. Lösungsvorschlag I. Frage 1 – Anspruch auf Zahlung der Vergütung für die 3,5 Stunden/pro Woche N könnte gegen G einen Anspruch auf Vergütung der arbeitsvertraglich vorgesehenen Wochenarbeitszeit von (weiteren) 3,5 Stunden/pro Woche aus § 611a Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem Arbeitsvertrag haben. Der Anspruch ist entstanden. 1. Anspruchsuntergang nach § 326 Abs. 1 S. 1 BGB N hat die 3,5 Stunden aber nicht gearbeitet. Bei der Arbeitsleistung handelt es sich um eine absolute Fixschuld, sodass bei Nichtleistung zu dem bestimmten Zeitpunkt Unmöglichkeit nach § 275 Abs. 1 BGB eintritt. Der Anspruch auf Vergütung als Gegenleistung für die Arbeitsleistung ist daher nach § 326 Abs. 1 S. 1 BGB untergegangen. K Kontext: Zentral für die Lösung von allen Fällen, in denen der Arbeitnehmer Lohn verlangt, obwohl er nicht gearbeitet hat, ist das Verständnis der Einordnung in das allgemeine Schuldrecht. Die Arbeit eines Arbeitnehmers (insbesondere, wenn er in größere Produktionsabläufe eingebunden ist) kann nämlich in aller Regel nicht zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden, weil sie dann eine andere Arbeit ist. Grundsätzlich ist die Arbeitsleistung daher eine absolute Fixschuld, sodass bei Nichterbringung Unmöglichkeit nach § 275 Abs. 1 BGB eintritt. Arbeitet der Arbeitnehmer also nicht, obwohl er in einem bestimmten Zeitraum eigentlich sollte, wird die Erbringung dieser Arbeit nach § 275 Abs. 1 BGB unmöglich. Das heißt dann aber nach § 326 Abs. 1 S. 1 BGB, dass der Anspruch des Arbeitnehmers auf die Gegenleistung, also die Vergütung durch den Arbeitgeber, entfällt. Das bezeichnet man (ohne dass aus der Bezeichnung etwas Konkretes folgen würde) als Grundsatz „Kein Lohn ohne Arbeit“. Das Arbeitsrecht kennt einige Ausnahmen von dem Grundsatz des § 326 Abs. 1 S. 1 BGB.

2. Aufrechterhaltung des Vergütungsanspruchs nach § 615 S. 1 BGB Eine Ausnahme vom Wegfall des Vergütungsanspruchs bei Nichterbringung der Arbeitsleistung besteht, wenn sich der Arbeitgeber im Verzug mit der Annahme dieser Arbeit befand, § 615 S. 1 BGB. § 615 S. 1 BGB regelt dabei nicht selbst die Voraussetzungen des Annahmeverzugs, sondern nimmt auf §§ 293 ff. BGB Bezug.

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Fall 5 „Die aufsässige Monteurin“

K Kontext: Der Annahmeverzug des Arbeitgebers, der nach § 615 S. 1 BGB zur Aufrechterhaltung des Lohnanspruchs trotz Nichtleistung führt, richtet sich nach den Regeln des allgemeinen Schuldrechts in §§ 293 ff. BGB, liegt also vor bei (1) Erfüllbarkeit (2) einem ordnungsgemäßen Angebot des Arbeitnehmers, §§ 294–296 BGB, (3) der Möglichkeit der Arbeitsleistung (§ 297 BGB), (4) der Nichtannahme der Arbeitsleistung.

a) Erfüllbarkeit Nach dem Arbeitsvertrag teilt sich die tägliche Arbeitszeit auf in 1/5 der Wochenarbeitszeit von 35 Stunden. Im Anschluss an die kürzere Tätigkeit der N ist die zusätzliche Arbeitsleistung daher vertraglich erbring – und somit erfüllbar. b) Ordnungsgemäßes Angebot Gemäß § 294 BGB muss N der G ihre Arbeitsleistung tatsächlich anbieten. N blieb hier nach Ende ihrer (kurzen) Schicht stets etwas länger auf den Baustellen, damit G sie mit der vollen vertraglichen Stundenzahl beschäftigt. Sie hat ihre Arbeitsleistung daher im Sinn von § 294 BGB daher zur richtigen Zeit, am richtigen Ort und in der richtigen Art angeboten. K Kontext: § 294 BGB enthält das „tatsächliche Angebot“, nach dem die Arbeitsleistung so, wie sie geschuldet ist, also persönlich (§ 613 BGB), zur richtigen Zeit, am richtigen Ort in der richtigen Art1 anzubieten ist. Das setzt üblicherweise voraus, dass der Arbeitnehmer persönlich zur richtigen Zeit an der richtigen Arbeitsstätte die Arbeitsaufnahme anbietet und ist der Grundsatz im laufenden Arbeitsverhältnis.2 Erklärt der Arbeitgeber, er werde die Leistung nicht annehmen oder ist zur Bewirkung der Arbeitsleistung eine Handlung des Arbeitgebers erforderlich, genügt nach § 295 BGB ein wörtliches Angebot. Der praktisch wichtigste Fall ist hier das gekündigte Arbeitsverhältnis (nach Ablauf der Kündigungsfrist, vorher § 294 BGB). Durch die Kündigung zu einem bestimmten Termin erklärt der Arbeitgeber konkludent, er werde die Arbeitsleistung danach nicht annehmen. Erhebt der Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage, gibt er dadurch konkludent auch das wörtliche Angebot ab, die Arbeitsleistung weiter erbringen zu wollen.3 Das BAG wendet im Fall der Kündigung, die sich später als unwirksam herausstellt, darüber hinaus § 296 BGB an, wonach ein Angebot entbehrlich ist, wenn der Arbeitgeber eine nach dem Kalender bestimmte Mitwirkungshandlung (hier: Zurverfügungstellen eines Arbeitsplatzes) nicht vornimmt.4 Der Unterschied zu dem Weg nach § 295 BGB ist vor allem die Behandlung des Zeitraums vom (sofortigen) Ende des Arbeitsverhältnisses im Fall einer, wie sich später herausstellt, unwirksamen fristlosen Kündigung bis zur Erhebung der Kündigungsschutzklage – erst danach würde nach § 295 BGB Annahmeverzug eintreten.

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BAG 28.6.2017 NZA 2017, 1528 Rn. 21. BAG 15.5.2013 NZA 2013, 1076 Rn. 22. BAG 27.1.1975 NJW 1975, 1335, 1336. BAG 25.2.2015 NZA 2015, 494 Rn. 41.

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„Die aufsässige Monteurin“ Fall 5

c) Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft gemäß § 297 BGB Ferner müssen die Voraussetzungen der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft des Arbeitnehmers gemäß § 297 BGB vorliegen. Die Leistungsfähigkeit ist z.B. ausgeschlossen, wenn der Arbeitnehmer krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist. Im vorliegenden Fall gibt es keine Anhaltspunkte für eine Leistungsunfähigkeit. Ihre Leistungsbereitschaft hat N außerdem durch das mehrmalige Angebot zur Überstundenleistung unter Beweis gestellt. K Kontext: Die Prüfung des § 615 S. 1 BGB bei Nichterbringung der Arbeit ist nach dem System des Schuldrechts an sich systemwidrig. Dies resultiert daraus, dass der Annahmeverzug voraussetzt, dass dem Schuldner die Leistung überhaupt noch möglich ist, § 297 BGB. Denn wer nicht mehr leisten kann, kann einem anderen nicht vorwerfen, die Leistung nicht entgegen genommen zu haben. Aufgrund des Fixschuldcharakters der Arbeitsleistung ist bei Nichtleistung jedoch fast immer ein Fall der Unmöglichkeit gegeben. So bestünde für die Regelung des § 615 S. 1 BGB eigentlich kein Anwendungsfall, denn Annahmeverzug setzt stets Möglichkeit, und damit die Nachholbarkeit der Arbeitsleistung voraus. Die Bedeutungslosigkeit von § 615 S. 1 BGB ist aber offensichtlich nicht gewollt. Nach der herrschenden Abstrahierungstheorie, die auch das BAG anwendet, liegt Annahmeverzug vor, wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber seine Arbeitsleistung anbietet, der Arbeitgeber diese jedoch nicht entgegen nehmen will, obwohl er dies könnte (sog. Annahmeunwilligkeit).5 Hat der Arbeitnehmer die Arbeitsleistung angeboten, kann der Arbeitgeber diese trotz Annahmebereitschaft aber nicht entgegen nehmen (sog. Annahmeunmöglichkeit), liegt hingegen Unmöglichkeit vor und Annahmeverzug scheidet aus. In Fällen der Unmöglichkeit bleibt freilich, an eine mögliche Anspruchserhaltung nach § 615 S. 3 BGB zu denken (dazu unten). Eine Diskussion dieses Problems führt auch das BAG nicht immer durch, in der Falllösung kann sie regelmäßig unterbleiben.

d) Nichtannahme der Leistung G hat die weiteren 3,5 Stunden pro Woche auch nicht angenommen. 3. Ergebnis G befand sich hinsichtlich der weiteren 3,5 Stunden Arbeitsleistung der N im Annahmeverzug. Trotz der Nichtleistung dieser Arbeitsstunden durch N ist der Vergütungsanspruch damit nicht nach § 326 Abs. 1 S. 1 BGB untergegangen, sondern wird nach § 615 S. 1 BGB aufrechterhalten. K Kontext: Der hier vorgestellte Annahmeverzug des Arbeitgebers nach § 615 S. 1, 2 BGB ist der häufigste Klausurfall der Aufrechterhaltung des Lohnanspruchs des Arbeitnehmers, obwohl er nicht gearbeitet hat, die Pflicht zur (rechtzeitigen) Arbeitsleistung also nach § 275 Abs. 1 BGB unmöglich geworden ist und entsprechend die Vergütungspflicht des Arbeitgebers nach § 326 Abs. 1 BGB entfällt. Andere relevante Ausnahmen von diesem Wegfall der Vergütungspflicht, die also zur Aufrechterhaltung des Lohn5 BAG 24.11.1960 NJW 1961, 381.

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Fall 5 „Die aufsässige Monteurin“

anspruchs führen, sind: (1) Fälle in denen der Arbeitgeber das Betriebsrisiko trägt, § 615 S. 3 BGB, damit gemeint sind Fälle, in denen die Arbeitsleistung aufgrund betrieblicher Risiken des Arbeitgebers nicht erbracht wird (Bsp.: Stromausfall, Rohstoffmangel, schlechtes Wetter auf dem Bau); (2) Verhinderung aus persönlichen Gründen für kurze Zeit nach § 616 BGB (Behördengang, Gerichtstermin, familiäre Ereignisse); (3) § 3 Abs. 1 EFZG (Entgeltfortzahlungsgesetz) in Fällen, in denen der Arbeitnehmer arbeitsunfähig krank ist; (4) Feiertage nach § 2 EFZG; (5) Erholungsurlaub nach § 11 BUrlG.

II. Frage 2 – Anspruch auf Zahlung einer Vergütung für die nicht zugeteilten Überstunden N hat für die 5 Überstunden, für die sie Vergütung verlangt, keine Arbeitsleistung erbracht. Ein Anspruch auf Vergütung nach §§ 611a Abs. 2, 612 Abs. 1 BGB besteht daher nicht. Eine Vergütungspflicht der G kommt somit nur unter den Voraussetzungen des Annahmeverzugs der G in Betracht. N könnte daher einen Anspruch auf Vergütung der ab dem 16.10.2019 nicht mehr zugeteilten Überstunden nach §§ 611a Abs. 2, 612 Abs. 1, 615 S. 1 BGB haben. K Hinweis: Ist im Arbeitsvertrag nichts zur Vergütung von Überstunden geregelt, gilt eine Grundvergütung für die Überstunden (üblicher Stundenverdienst) grds. gemäß § 612 BGB als stillschweigend vereinbart.

1. Annahmeverzug des G gemäß § 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB Es müssten die Tatbestandsvoraussetzungen des Annahmeverzugs vorliegen. Hier kommt ein sog. teilweiser Annahmeverzug in Bezug auf die nicht zugewiesenen Überstunden in Betracht. Das Vorliegen eines Annahmeverzugs bestimmt sich nach dem allgemeinen Schuldrecht, §§ 293 ff. BGB. a) Angebot der Arbeitsleistung gemäß § 294 BGB Gemäß § 294 BGB muss N der G ihre Arbeitsleistung tatsächlich anbieten. N hat hier mehrmals von G verlangt, dass sie ihr wie den anderen Monteuren Überstunden zuweist. Sie ist sogar noch länger am Arbeitsplatz geblieben, damit G ihr doch noch Überstunden zuweist. b) Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft gemäß § 297 BGB Ferner muss die Voraussetzung der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft des Arbeitnehmers gemäß § 297 BGB vorliegen. Im vorliegenden Fall gibt es keine Anhaltspunkte für eine Leistungsunfähigkeit. Ihre Leistungsbereitschaft hat N außerdem durch das mehrmalige Angebot zur Überstundenleistung unter Beweis gestellt.

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„Die aufsässige Monteurin“ Fall 5

c) Nichtannahme der Leistung – Teilweiser Annahmeverzug G muss mit der Annahme der Arbeitsleistung der N in Verzug gekommen sein. 31,5 Stunden hat die G aber angenommen, hinsichtlich weiterer 3,5 befand sie sich, wie gezeigt, im Annahmeverzug. Ein darüberhinausgehender Annahmeverzug kommt nur in Betracht, wenn G zur Zuweisung der Überstunden an N verpflichtet ist. Ist das nicht der Fall, hat die G durch die Nichtannahme weiterer Arbeitsleistung auch keine Obliegenheit verletzt. [Das kann auch unter dem Punkt „Erfüllbarkeit geprüft werden.] aa) Verpflichtung aus betrieblicher Übung K Kontext: Eine „betriebliche Übung“ wird meist als Rechtsquelle aufgefasst, die Anspruchsgrundlage in den Fällen sein soll, in denen der Arbeitnehmer eine Leistung verlangt, die schon über eine längere Zeit, meist ohne Grundlage im schriftlichen Arbeitsvertrag, vom Arbeitgeber gewährt wurde, die der Arbeitgeber aber in der Zukunft nun nicht mehr gewähren will. Das üblichste Beispiel ist die Zahlung von Weihnachtsgeld. Durch die mehrmalige Wiederholung soll Rechtsbindung eintreten. Teilweise wird ganz losgelöst von der Rechtsgeschäftslehre behauptet, Grundlage einer solchen betrieblichen Übung sei ein „schützenswertes Vertrauen“ des Arbeitnehmers in die Fortsetzung der Leistungsgewährung („Vertrauenstheorie“).6 Das BAG meint dagegen: „Unter einer betrieblichen Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden. Dieses als Vertragsangebot zu wertende Verhalten des Arbeitgebers wird von den Arbeitnehmern durch widerspruchslose Inanspruchnahme der Leistung angenommen. Der Zugang der Annahmeerklärung ist gem. § 151 S. 1 BGB entbehrlich. Durch die betriebliche Übung erwachsen vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen“7 („Vertragstheorie“). Das geht, weil das BAG nicht ohne Lücke rechtsfortbildend eine Vertrauenshaftung schafft, in die richtige Richtung, aber nicht weit genug. Denn bei einer Lösung über die allgemeinen Grundsätze der Rechtsgeschäftslehre ist mit dem Begriff der „betrieblichen Übung“ kein Mehrwert verbunden, die entsprechenden Phänomene schlicht als Fall der konkludenten Vertragsänderung zu verstehen.8 Für die Falllösung ist dieser Streit regelmäßig entbehrlich, weil die Umstände, die für ein konkludentes Vertragsangebot sprechen, dieselben sind, die ein schutzwürdiges Vertrauen begründen sollen. Eine Verpflichtung der G zur Zuweisung von Überstunden könnte in einer betrieblichen Übung begründet sein. Die betriebliche Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung auf Dauer eingeräumt werden. K Kontext: Die Feststellung, ob der Arbeitgeber konkludent ein Angebot auf Änderung des Arbeitsvertrags abgegeben hat, wobei der Zugang der Annahmeerklärung nach § 151 S. 1 BGB entbehrlich ist (das wird allgemein nur bei lediglich rechtlich vorteilhaften

6 Grundlegend Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 387 ff. 7 BAG 20.5.2008 NZA 2008, 1232 Rn. 12. 8 Preis/Genenger, JbArbR 2010, S. 93.

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Fall 5 „Die aufsässige Monteurin“

Rechtsgeschäften angenommen,9 also einer Verbesserung der Position des Arbeitnehmers), kann u.a. anhand folgender Kriterien getroffen werden (immer geht es nach §§ 133, 157 BGB um die Feststellung eines Willens des Arbeitgebers zur Vertragsänderung mit Bindungswillen für die Zukunft, nach anderer Lösung: der Schaffung eines „Vertrauenstatbestands“): Begünstigende Leistung, wiederkehrende Gewährung (bei Weihnachtsgeld hat das BAG dreimalige Gewährung für ausreichend gehalten), ohne Vorbehalt bei der Gewährung, nicht im öffentlichen Dienst (Arbeitnehmer könnten hier nicht damit rechnen, dass der öffentliche Arbeitgeber mehr als in der Vergütungsordnung vorgesehen gewähren will). Weitere Voraussetzungen, die das BAG bei der überkommenen betrieblichen Übung als eigenständige Anspruchsgrundlage genannt hat – nämlich „freiwillige“ Leistungserbringung und Kollektivbezug – sind entbehrlich. Wäre der Arbeitgeber schon durch den ursprünglichen Vertrag zur Leistung verpflichtet, wäre die Prüfung einer Vertragsänderung, mit der eine solche Verpflichtung entsteht, überflüssig. Die – unklare – Voraussetzung des Kollektivbezugs diente der Abgrenzung zu einer Individualvereinbarung. Es sollte darauf ankommen, dass der Arbeitgeber allen Mitarbeitern die Leistung gewährt. Nun wird die betriebliche Übung aber gerade als Individualvereinbarung angesehen, insofern ist ein Kollektivbezug obsolet. Ob der Arbeitgeber die Leistung allen Mitarbeitern oder nur einem zahlt, spielt für die Prüfung einer individualvertraglichen Änderung keine Rolle. Im vorliegenden Fall geht es um die Zuweisung von Überstunden. Für N sind diese Überstunden eine Vergünstigung, da sie die Überstundenvergütung bereits eingeplant hat. Nach dem objektiven Empfängerhorizont, §§ 133, 157 BGB, handelt es sich bei der Anordnung von Überstunden aber nicht um eine Vergünstigung für die Arbeitnehmer. Primärer Zweck einer Überstundenanordnung ist es ersichtlich, den Anforderungen der Kunden gerecht zu werden und einen höheren Arbeitsanfall zu bewältigen, ohne Neueinstellungen vornehmen zu müssen. Überstunden werden nicht angeordnet, um Arbeitnehmern die Vergünstigung zu gewähren, einen höheren Lohn zu erhalten, sondern sie werden aus wirtschaftlichen Erwägungen angeordnet. Nach dem objektiven Empfängerhorizont hat die G mit der Anordnung von Überstunden an ihre Monteure damit kein Angebot abgegeben, deren Arbeitsverträge auf Dauer zu ändern. Somit ergibt sich keine Verpflichtung zur Anordnung von Überstunden aus einer betrieblichen Übung. bb) Verpflichtung aus § 612a BGB Es könnte sich aus § 612a BGB eine Verpflichtung der G zur Zuweisung von Überstunden aufgrund eines Verstoßes gegen das Maßregelungsverbot ergeben. § 612a BGB verbietet dem Arbeitgeber die Benachteiligung von Arbeitnehmern, die in zulässiger Weise von ihren Rechten Gebrauch machen. Dabei ist jede Benachteiligung verboten, also auch die mittelbare Benachteiligung. Darunter fällt auch die Nichtgewährung von Vorteilen, die der Arbeitgeber anderen Arbeitnehmern gewährt, wenn diese ihre entsprechenden Rechte nicht ausgeübt haben. (1) Benachteiligung der N Zunächst muss N durch eine Maßnahme des G benachteiligt sein. Der Begriff der Maßnahme ist mit Blick auf den Schutzzweck des § 612a BGB weit zu verstehen. Maßnahme im Sinn des § 612a BGB kann auch die Nichtzuweisung von Überstunden sein. Die Nicht9 BGH 14.10.2003 NJW 2004, 287, 288; MüKo BGB/Busche BGB § 151 Rn. 5.

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„Die aufsässige Monteurin“ Fall 5

zuweisung von Überstunden muss demnach eine Benachteiligung des G gegenüber den restlichen Arbeitnehmern darstellen. Hier ist nun – im Unterschied zur Prüfung der betrieblichen Übung – auf die Wirkung abzustellen, die bei N eintritt. Für N ist die Überstundenvergütung ein wichtiger Bestandteil ihres Einkommens, den sie fest eingeplant hat. Diese Überstundenvergütung erhalten alle anderen Arbeitnehmer, da sie die Überstunden zugewiesen bekommen, nur nicht N. Daher wird N gegenüber ihren Kollegen benachteiligt. (2) Gebrauchmachen ihrer Rechte in zulässiger Weise Weiterhin muss N in zulässiger Weise von ihren Rechten Gebrauch gemacht haben. Die Ausübung von Rechten kann sich hier nur auf die Ablehnung des Änderungsangebots der G beziehen. Das von G unterbreitete Angebot umfasst eine starke Verringerung der vertraglich geschuldeten Vergütung. Grundsätzlich ist der Arbeitnehmer nicht verpflichtet, ein solches Änderungsangebot anzunehmen. N hat vielmehr zulässigerweise von ihrer Vertragsfreiheit Gebrauch gemacht und das Änderungsangebot nicht angenommen. (3) Ursächlichkeit der Rechtsausübung für die Maßregelung Die Rechtsausübung muss ferner für die Maßregelung ursächlich sein, d.h. die Annahmeverweigerung des Änderungsangebots muss der Grund für die Nichtzuweisung der Überstunden sein. G gibt selbst als Grund an, dass N wohl nicht an der Wirtschaftlichkeit des Unternehmens interessiert sei, weil sie nicht das Änderungsangebot angenommen hat. Auch die zeitliche Nähe zwischen der Annahmeverweigerung (Ende September 2019) und Beginn der Nichtzuweisung von Überstunden (Mitte Oktober 2019) deutet auf einen Ursachenzusammenhang zwischen der Rechtsausübung und der Maßregelung hin. Somit ist davon auszugehen, dass die Annahmeverweigerung für die Ausnahme von der Überstundenzuweisung ursächlich ist. (4) Zwischenergebnis G hat gemäß § 612a BGB gegen das Maßregelungsverbot verstoßen. Rechtsfolge dieses Verstoßes ist, dass N so behandelt werden muss, wie sie ohne die Maßregelung stünde. Es besteht somit für G eine Verpflichtung, N wie die anderen Arbeitnehmer mit einer Wochenarbeitszeit von 40 Stunden zu beschäftigen. cc) Verpflichtung aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz Eine Verpflichtung des G zur Zuweisung von Überstunden an N kann sich weiterhin aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz ergeben. Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet nicht nur die sachfremde Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer gegenüber vergleichbaren Arbeitnehmern, sondern auch die sachfremde Differenzierung zwischen Arbeitnehmern einer bestimmten Ordnung. K Kontext: Der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz im Arbeitsrecht war schon vor dem Inkrafttreten des AGG anerkannt. Anders als das AGG knüpft er nicht an einzelne Diskriminierungsmerkmale an, sondern gebietet (ähnlich wie Art. 3 Abs. 1 GG), dass der Arbeitgeber Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt, verboten wird also eine willkürliche (ohne sachlichen Grund) erfolgende Gruppenbildung. Rechtsgrundlage ist nach wohl h.M. die gewohnheitsrechtliche Umsetzung des Art. 3 Abs. 1 GG, andere Vorschläge sind die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers oder allgemein Treu und Glauben, § 242 BGB, im Arbeitsverhältnis. Voraussetzung ist, dass (1) ein Arbeit37

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nehmer innerhalb seines Arbeitsverhältnisses (2) bei einer kollektiven Maßnahme (Arbeitgeber stellt abstrakte Regel auf, nach der er Arbeitnehmer behandelt oder bildet hierzu Gruppen) (3) schlechter behandelt wird als andere, vergleichbare Arbeitnehmer und (4) die Ungleichbehandlung auf sachfremden oder willkürlichen Kriterien beruht (also wenn kein sachlicher Grund vorliegt). Rechtsfolge ist die Unwirksamkeit von benachteiligenden Maßnahmen des Arbeitgebers und der Anspruch auf Gleichbehandlung bei begünstigenden Regelungen („Anpassung nach oben“). (1) Kollektive Maßnahme Bei der Zuweisung der Überstunden muss es sich um eine kollektive Maßnahme der G handeln. Eine kollektive Maßnahme liegt vor, wenn die umstrittene Maßnahme ein generalisierendes Prinzip erkennen lässt. G ordnet die Überstunden für 49 Monteure und damit alle außer N an, somit handelt es sich auch unproblematisch um eine kollektive Maßnahme. (2) Schlechtere Behandlung der N Für die Beurteilung einer Ungleichbehandlung ist zunächst eine Vergleichsgruppe zu bilden. Welche Aspekte für die Gruppenbildung ausschlaggebend sind und v.a. auf welches zahlenmäßige Verhältnis abzustellen ist, ist bisher noch ungeklärt. Jedenfalls aber die 49 anderen Monteure der G können eine Vergleichsgruppe bilden, da hier die 49 Monteure nur einer Monteurin gegenüberstehen. Diesen Monteuren werden im Unterschied zu N auch regelmäßig Überstunden zugewiesen. Somit liegt eine Ungleichbehandlung vor. Weiterhin muss N aufgrund der nicht zugewiesenen Überstunden schlechter behandelt werden als die übrigen Monteure. Bezüglich der Schlechterbehandlung ist auf die konkrete Auswirkung der Maßnahme des Arbeitgebers auf den Arbeitnehmer abzustellen. Zwar bedeuten Überstunden zunächst weniger Freizeit. Aber im vorliegenden Fall sind die Überstunden für N gerade eine Vergünstigung, da sie auf die Überstundenvergütung angewiesen ist. Dies wird auch daran deutlich, dass N die G mehrmals um die Zuweisung von Überstunden bittet. Somit wird N aufgrund der Nichtzuweisung von Überstunden schlechter behandelt als ihre Kollegen. (3) Kein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung Grund der Differenzierung ist hier die Nichtannahme des Änderungsangebots durch G (s.o.). Als Rechtfertigung für die Differenzierung könnte man hier anführen, dass es bei dem Änderungsangebot, das N nicht unterschrieben hat, darum geht, Kündigungen zu verhindern und das Unternehmen wieder wettbewerbsfähig zu machen. Im Falle der Annahme einer Rechtfertigung der Ungleichbehandlung würde N indirekt doch wieder unter Druck gesetzt, das Änderungsangebot anzunehmen. Dadurch würde aber ihre Vertragsfreiheit sehr eingeschränkt. Daher ist die Nichtannahme des Änderungsangebotes ein sachfremdes Kriterium für die Ungleichbehandlung, diese ist also nicht gerechtfertigt. 2. Ergebnis G befindet sich bezüglich der nicht zugewiesenen Überstunden im Annahmeverzug gemäß § 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB. Daher hat N gegen G einen Anspruch auf Zahlung der Überstundenvergütung der ab Mitte Oktober 2019 im Vergleich zu den anderen Monteuren nicht zugewiesenen Überstunden gemäß §§ 611a, 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB. 38

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K Zur Vertiefung: Zum Schicksal des Lohnanspruchs bei Nichtleistung der Arbeit s. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 214–217; Preis/Temming, Individualarbeitsrecht Rn. 2013–2032. Zum Annahmeverzug des Arbeitgebers, zur Betriebsrisikolehre (§ 615 BGB) sowie zur Arbeitsverhinderung aus persönlichen Gründen (§ 616 BGB) s. Junker Rn. 271–276 und 289–293; Preis/Temming Rn. 2033–2113. Zum arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz s. Junker Rn. 52–53; Preis/Temming Rn. 1445–1490. Zur betrieblichen Übung s. Junker Rn. 70–75; Preis/Temming Rn. 680–706.

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Fall 6 „Staplerfahrer Klaus“ A. Falldarstellung Der 17-jährige N ist bei G als Auszubildender für den Beruf des Verkäufers beschäftigt. N befindet sich im ersten Ausbildungsjahr. Seine Ausbildungsvergütung beträgt 350 Euro netto monatlich. Im Rahmen der Ausbildung ist N auch im Lager tätig. Dort befindet sich ein Gabelstapler, der von den ausgebildeten Mitarbeitern der G zum Warentransport genutzt wird. N besitzt weder einen Führerschein für das Fahrzeug, noch ist er in die Bedienung des Gabelstaplers eingewiesen worden. Am Beginn seiner Ausbildung ist N von G ausdrücklich untersagt worden, mit dem Gabelstapler zu fahren. Anfang Oktober 2019 befindet sich ein mit Fahrrädern beladener Lastkraftwagen auf dem Firmengelände der G. N wird von Frau L, einer Mitarbeiterin der G im Bereich Sekretariat/ Buchhaltung, angewiesen, den mit Fahrrädern beladenen Lkw abzuladen. Im Betrieb der G ist es üblich, dass fast alle Mitarbeiter den Auszubildenden Anweisungen erteilen. N sieht, dass die abzuladenden Fahrräder einzeln in Kartons verpackt und in bestimmten Anzahlen auf Paletten zusammengefügt sind. Angesichts des Gewichts folgert N zutreffend, dass nur ein Abladen mit dem Gabelstapler in Betracht kommt. Obwohl ihm bewusst ist, dass G ihm die Benutzung des Gabelstaplers untersagt hat, setzt er sich ans Steuer. Als N gerade aus der Lagerhalle fahren will, stößt er beim Ausfahren mit den zwei hochgefahrenen Gabeln gegen das nicht vollständig geöffnete Rolltor und beschädigt zwei Segmente sowie die Zugeinrichtungsteile des Tores. Der Schaden beträgt 4.000 Euro. G nimmt N daraufhin auf Zahlung der gesamten 4.000 Euro in Anspruch. N habe sich über das ausdrückliche Verbot, den Gabelstapler zu benutzen, vorsätzlich hinweggesetzt und durch Unachtsamkeit das Rolltor und die Zugeinrichtungsteile erheblich beschädigt. Nach Auffassung der G kommt eine Haftungsbeschränkung für N in Anbetracht seiner vorsätzlichen Handlungen nicht in Frage.1 Frage: Welche Ansprüche hat G gegen N? Abwandlung N gelingt es, unfallfrei das Rolltor zu passieren und aufs offene Firmengelände zu gelangen. Zur gleichen Zeit trifft ein weiterer Lkw einer Spedition (S) ein, der von G erwartet wurde und der eine neue Computeranlage anliefert. Der angestellten Fahrerin der Spedition, F, wurde von S aufgegeben, die Computeranlage auf dem Betriebsgelände der G abzuladen. Als F mit der Entladung des Lkw beginnen will, erfasst N die F beim Rückwärtsfahren mit dem Gabelstapler, als er seinerseits beginnen will, eine Palette Fahrräder vom anderen Lkw abzuladen. Die F erleidet erhebliche Verletzungen an beiden Beinen und Füßen; sie muss längere Zeit im Krankenhaus behandelt werden. Die Berufsgenossenschaft der S erkennt den Unfall als Arbeitsunfall an. F verlangt von N ein Schmerzensgeld in Höhe von 1.000 Euro. N ist der Auffassung, dass er nicht haftet, da doch ein Arbeitsunfall vorliege. Für den Fall, dass er doch haften sollte, meint er, dass G für die Entschädigung der F aufkommen müsse. 1 Dieser Fall ist inspiriert von BAG 18.4.2002 NZA 2003, 37.

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„Staplerfahrer Klaus“ Fall 6

Frage: Welche Ansprüche hat F gegen N? Welche Ansprüche hat N gegen G? Schwierigkeitsgrad: Umfangreicher Einführungsfall zu Besonderheiten der Haftung im Arbeitsrecht. Rechtsfragen: Arbeitnehmerhaftung, Haftungsmilderung im Arbeitsverhältnis, Bezugspunkt des Verschuldens, Haftung unter Arbeitskollegen und im gemeinsamen Betrieb, §§ 104 ff. SGB VII, Schmerzensgeld, Freistellungsanspruch gegenüber dem Arbeitgeber

B. Lösungsskizze Ausgangsfall: Ansprüche des G gegen N auf Zahlung von 4.000 Euro I. AGL: § 280 Abs. 1 BGB 1. Schuldverhältnis: Berufsausbildungsvertrag 2. Pflichtverletzung: Missachtung des Stapelnutzungsverbots 3. Vertretenmüssen: § 619a BGB als Sonderregelung zu § 280 Abs. 1 S. 2 BGB (Beweislast) 4. Schaden: i.H.v. 4.000 Euro 5. Haftungsmilderung: Begrenzte Arbeitnehmerhaftung a) Herleitung – Lücke im zivilrechtlichen Haftungssystem bei Arbeitnehmern aufgrund von Art. 12, 2 Abs. 1 GG – Schließung der Lücke aufgrund Rechtsfortbildung durch analoge Anwendung von § 254 BGB b) Voraussetzungen aa) Personaler Anwendungsbereich: Arbeitnehmer; auch Berufsauszubildende bb) Sachlicher Anwendungsbereich: Betrieblich veranlasste Tätigkeit – Definition: Tätigkeit arbeitsvertraglich übertragen oder im Interesse des Arbeitgebers für den Betrieb ausgeführt c) Rechtsfolge: Aufteilung nach Verschuldensanteile aa) Bezugspunkt des Verschuldens – Zivilrechtlicher Grundsatz: Verschulden nur in Bezug auf die Pflichtverletzung erforderlich, nicht auf Schaden – Ausnahme: Verschulden auch in Bezug auf Schaden bei Arbeitnehmerhaftung erforderlich, um Sinn und Zweck der Privilegierung zu wahren

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Fall 6 „Staplerfahrer Klaus“

bb) Verschuldensgrad hinsichtlich der Schadensherbeiführung – Nutzung des Gabelstaplers ohne Einweisung und Fahrerlaubnis als ungewöhnlich hohe Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt und damit grobe Fahrlässigkeit cc) Schadensteilung bei grober Fahrlässigkeit – Grundsatz: volle Haftung – Ausnahme: deutliches Missverhältnis zwischen Schaden und Gehalt – Schaden entspricht Jahresgehalt des N; deutliches Missverhältnis (+) – Rechtsfolge: Anteilige Haftung; Berücksichtigung des Auszubildendenstatus und des Ausbildungszwecks bei Quotelung 6. Ergebnis: Anspruch besteht i.H.v. 1.000 Euro II. Anspruch G gegen N aus § 823 Abs. 1 BGB i.H.v. 1.000 Euro (+) – Begrenzung deliktischer Ansprüche in gleichem Umfang durch Arbeitnehmerhaftung Abwandlung: Ansprüche der F gegen N sowie des N gegen G I. Anspruch F gegen N aus § 823 Abs. 1, 2 BGB i.V.m. § 229 StGB, § 253 Abs. 2 BGB 1. Rechtsgutsverletzung/Schutzgesetzverletzung/Rechtswidrigkeit 2. Verschulden: grobe Fahrlässigkeit (+) 3. Haftungsmilderung? (–) – Anwendbarkeit der beschränkten Arbeitnehmerhaftung gegenüber Dritten? – Dagegen: Herleitung der Haftungsbeschränkung aufgrund Organisationsgewalt des Arbeitgebers und damit spezifisch arbeitsrechtlichen Erwägungen – Dagegen: Arbeitsvertrag wäre verbotener Vertrag zulasten Dritter 4. Haftungsausschluss nach §§ 105 f. SGB VII a) § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII (–) – N und F gehören unterschiedlichen Betrieben an b) § 106 Abs. 3 Var. 3 i.V.m. § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII (–) – Nur zufällig räumlich-zeitliches Zusammentreffen und damit keine gemeinsame Betriebsstätte von N und F 5. Ergebnis: Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgelds i.H.v. 1.000 Euro (+) II. Anspruch N gegen G auf Freistellung aus § 670 i.V.m. § 257 S. 1 BGB 1. Voraussetzungen des Freistellungsanspruchs a) Unbeschränkte Haftung gegenüber Drittem (+) b) Quotelung im Innenverhältnis nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs (+) 2. Ergebnis: Anspruch auf Freistellung i.H.v. 500 Euro (+) 42

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„Staplerfahrer Klaus“ Fall 6

C. Lösungsvorschlag Ausgangsfall I. Anspruch G gegen N aus § 280 Abs. 1 BGB G könnte gegen N einen Anspruch auf Zahlung von 4.000 Euro aus § 280 Abs. 1 BGB haben. Dann müsste N seine Pflichten aus einem zu G bestehenden Schuldverhältnis schuldhaft verletzt haben und G hieraus adäquat kausal ein Schaden entstanden sein. K Hinweis: Bei allen Fällen zur Haftung im Arbeitsverhältnis sollte man beginnen mit der zivilrechtlichen, unmodifizierten Ausgangslage, das sind meist Ansprüche aus § 280 Abs. 1 BGB oder § 823 BGB mit der Rechtsfolge des § 249 Abs. 1 BGB – Totalreparation.

1. Bestehen eines Berufsausbildungsvertrages Das für den Anspruch auf Schadensersatz erforderliche Schuldverhältnis liegt vor, da N und G einen Berufsausbildungsvertrag (§ 10 Abs. 1 BBiG) geschlossen haben. 2. Pflichtverletzung N müsste seine Pflichten aus dem Berufsausbildungsverhältnis gegenüber G objektiv verletzt haben. Hier kommt die Verletzung einer nichtleistungsbezogenen Nebenpflicht (§ 241 Abs. 2 BGB) in Betracht. Danach kann das Schuldverhältnis nach seinem Inhalt jeden Teil u.a. zur Rücksicht auf die Rechtsgüter des anderen Teils verpflichten. N ist verpflichtet, seine Ausbilderin G nicht zu schädigen, insbesondere die Integrität ihres Eigentums zu wahren und es nicht zu verletzen. Insoweit gilt im Ausbildungsverhältnis nichts anderes als im Arbeitsverhältnis, da der besondere Ausbildungszweck vertragliche Nebenpflichten, allen voran die hier einschlägigen Schutzpflichten, unberührt lässt. N hat jedenfalls die Nebenpflicht, Fahrten mit dem Gabelstapler zu unterlassen, verletzt. G hat N ausdrücklich untersagt, den Gabelstapler zu benutzen. Indem N dennoch den Gabelstapler fuhr und mit den zwei hochgefahrenen Gabeln gegen das nicht vollständig geöffnete Rolltor stieß, hat er somit objektiv pflichtwidrig gehandelt. Die Nebenpflichtverletzung ergibt sich dabei schon aus der Missachtung des Benutzungsverbots und nicht erst mit der hiermit verbundenen Eigentumsverletzung. K Hinweis: Schwächere Arbeiten prüfen hier oft nicht die Verletzung einer konkreten Pflicht aus dem Schuldverhältnis, sondern schließen aus dem Umstand, dass ein Schaden eingetreten ist, auf eine Pflichtverletzung.

3. Vertretenmüssen N hat auch schuldhaft, nämlich vorsätzlich, seine Pflicht verletzt (§ 276 Abs. 1 BGB). Er hat wissentlich und willentlich sowie im Bewusstsein der Rechtswidrigkeit gehandelt, als er am Unfalltag unter Missachtung des ihm von G auferlegten Benutzungsverbots mit dem Gabelstapler gefahren ist. 43

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K Kontext: Hier ordnet § 619a BGB eine arbeitsrechtliche Besonderheit an: Während nach § 280 Abs. 1 S. 2 BGB das Vertretenmüssen desjenigen, der eine Pflicht verletzt, vermutet wird, muss im Arbeitsverhältnis nach § 619a BGB der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer ein Vertretenmüssen nachweisen. Hintergrund ist die unterschiedliche Ausgangslage. Während der Vertragspartner typischerweise große Schwierigkeiten hat, ein Verschulden des Schädigers nachzuweisen, hat der Arbeitgeber in die schadensstiftenden Umstände regelmäßig umfassend Einblick, weil der Arbeitnehmer seine Tätigkeit eingegliedert in den Betrieb des Arbeitgebers verrichtet. In der Fallbearbeitung kommt es darauf nur bei streitiger Beweislage an. § 619a BGB ist keine Anspruchsgrundlage, sondern nur eine Modifikation des § 280 Abs. 1 S. 2 BGB.

4. Schaden Durch die Beschädigung der Segmente des Rolltores sowie der Zugeinrichtungsteile hat N adäquat kausal einen Schaden in Höhe von 4.000 Euro zum Nachteil des G herbeigeführt (§ 249 Abs. 1 BGB). 5. Haftungsmilderung Zu Gunsten des N könnten jedoch die Grundsätze der Einschränkung der Arbeitnehmerhaftung in entsprechender Anwendung des § 254 BGB eingreifen. a) Herleitung K Kontext: Die Beschränkung der zivilrechtlichen Ausgangslage und der damit verbundenen häufigen Totalreparation bei jeder noch so kleinen Sorgfaltspflichtverletzung ist im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) geboten.2 Insoweit besteht eine zur Rechtsfortbildung berechtigende Lücke. Die Rechtsprechung modifiziert durch die analoge Anwendung von § 254 BGB die Rechtsfolgen der Arbeitnehmerhaftung. Der Arbeitgeber muss sich danach über die unmittelbare Anwendung von § 254 BGB (konkretes Mitverschulden) hinaus auch den Umstand zurechnen lassen, dass er die Arbeitsbedingungen und damit die Umstände für Schadensrisiken gestaltet.3 So hat es der Arbeitgeber kraft seines Weisungsrechts (§ 106 GewO) in der Hand, die konkrete Ausgestaltung der Tätigkeit des Arbeitnehmers zu steuern. Der Arbeitgeber kann damit das Risiko des Arbeitnehmers erhöhen, indem er diesem risikobehaftete oder schadensgeneigte Tätigkeiten überträgt. In der Begründung des Gesetzes zur Schuldrechtsmodernisierung war auch angedeutet, dass die Grundsätze der beschränkten Arbeitnehmerhaftung über § 276 Abs. 1 S. 1 BGB als „anders bestimmte“ mildere Haftung zur Anwendung gebracht werden könnten.4 BAG und ganz h.M. haben sich dem zu Recht nicht angeschlossen, weil auf Grundlage von § 276 Abs. 1 S. 1 BGB nur eine kom-

2 BAG 27.9.1994 NZA 1994, 1083, 1085 f. 3 BAG 27.9.1994 NZA 1994, 1083, 1085. 4 BT-Drs. 14/6857, S. 48.

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plette Haftung oder eine komplette Nichthaftung, nicht aber eine graduelle Schadensverteilung (dazu sogleich) erreicht werden kann.5 Zur Herleitung der Grundsätze des „innerbetrieblichen Schadensausgleichs“ ist bei der Bearbeitung von Fällen zur Haftung im Arbeitsverhältnis immer etwas zu sagen. Seit Inkrafttreten des BGB gibt es keine gesetzliche Regelung zur Beschränkung der zivilrechtlichen Totalreparation bei jeder noch so kleinen Sorgfaltspflichtverletzung im Arbeitsverhältnis. Dieser Zustand ist unvereinbar mit der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), das BGB insoweit lückenhaft. Entsprechend bedarf es einer Haftungsmilderung im Arbeitsverhältnis, die vom Gedanken der Verantwortung des Arbeitgebers für die Organisation des Betriebes und die Gestaltung der Arbeitsbedingungen sowie des darin liegenden Betriebsrisikos beherrscht ist. Der Arbeitnehmer kann den vorgegebenen Arbeitsbedingungen weder tatsächlich noch rechtlich ausweichen. Auf Grund des Weisungsrechts bestimmt der Arbeitgeber die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung und prägt zusammen mit der von ihm gesetzten Organisation des Betriebes das Haftungsrisiko für den Arbeitnehmer. Die Mitverantwortung des Arbeitgebers für diese das Schadensrisiko erhöhende Fremdbestimmung rechtfertigt gemäß § 254 BGB analog die Haftungsmilderung für den Arbeitnehmer. b) Voraussetzungen K Kontext: Aus der Herleitung und der Begründung der Lücke ergeben sich die Voraussetzungen des Haftungsprivilegs: (1) In personeller Hinsicht sind alle Arbeitnehmer (einschließlich der Auszubildenden) erfasst.6 Hier ist nicht vollständig geklärt, ob auch leitende Angestellte lediglich beschränkt haften.7 Im Hinblick auf den grundrechtlichen Hintergrund der beschränkten Arbeitnehmerhaftung ist das richtigerweise zu bejahen. (2) In sachlicher Hinsicht muss der Schaden bei einer betrieblich veranlassten (im Gegensatz zu einer privat veranlassten) Tätigkeit des Arbeitnehmers eingetreten sein. Dabei ist eine wertende Betrachtung anzustellen, welcher Sphäre die Schadensursache zuzurechnen ist. Betrieblich veranlasst sind Tätigkeiten, die (a) dem Arbeitnehmer arbeitsvertraglich übertragen werden (auch durch Weisung nach § 106 GewO) oder (b) die er im Interesse des Arbeitgebers für den Betrieb übernimmt, dabei braucht die Tätigkeit nicht zum eigentlichen Aufgabengebiet des Beschäftigten zu gehören.8 Mit dem Kriterium der betrieblich veranlassten Tätigkeit soll mit Blick auf die Herleitung der beschränkten Arbeitnehmerhaftung sichergestellt werden, dass der Arbeitgeber nicht mit dem allgemeinen Lebensrisiko des Arbeitnehmers belastet wird. Weil nur ersteres betroffen ist, geht der betriebliche Charakter der Tätigkeit nicht dadurch verloren, dass der Arbeitnehmer bei der Durchführung der Tätigkeit Verhaltenspflichten verletzt.9 Früher wollte die Rechtsprechung die beschränkte Arbeitnehmerhaftung nur bei einer konkreten „gefahrgeneigten Tätigkeit“ anwenden, bei der eine geringfügige Sorgfaltspflichtver-

5 6 7 8 9

Näher Henssler, RdA 2002, 129, 133. BAG 18.4.2002 NZA 2003, 37, 38 f. Vgl. ErfK/Preis, § 619a Rn. 19 f. BAG 28.10.2010 NZA 2011, 345, 347. BAG 18.4.2002 NZA 2003, 37, 38.

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letzung zu einem unverhältnismäßig hohen Schaden führen kann.10 Das war im Hinblick auf die dogmatische Herleitung nicht veranlasst und führte zu schwierigen Abgrenzungen. Das Kriterium wurde 1994 aufgegeben.11 aa) Personaler Anwendungsbereich: Arbeitnehmer Besonderheiten im Hinblick auf die Einschränkung der Arbeitnehmerhaftung könnten sich daraus ergeben, dass der 17-jährige N nicht „normaler“ Arbeitnehmer, sondern Auszubildender ist. Gemäß § 10 Abs. 2 BBiG sind auf den Ausbildungsvertrag, soweit sich aus seinem Wesen und Zweck und aus dem Berufsbildungsgesetz nichts anderes ergibt, die für den Arbeitsvertrag geltenden Rechtsvorschriften und Rechtsgrundsätze anzuwenden. Vorschriften über die Haftung des Auszubildenden existieren im BBiG nicht. Auch aus Wesen und Zweck des Berufsausbildungsverhältnisses ergibt sich kein Anhalt für abweichende Grundsätze zum innerbetrieblichen Schadensausgleich im Arbeitsverhältnis. Folglich sind die Grundsätze der Haftungsmilderung für Arbeitnehmer auch auf N als Auszubildenden anzuwenden. bb) Sachlicher Anwendungsbereich: Betrieblich veranlasste Tätigkeit Das Eingreifen der Haftungsbeschränkung setzt eine betrieblich veranlasste Tätigkeit voraus. Betrieblich veranlasst sind solche Tätigkeiten des Arbeitnehmers, die ihm arbeitsvertraglich übertragen worden sind oder die er im Interesse des Arbeitgebers für den Betrieb ausführt. Die Tätigkeit muss in nahem Zusammenhang mit dem Betrieb und seinem betrieblichen Wirkungskreis stehen. Durch dieses Merkmal soll sichergestellt werden, dass der Arbeitgeber nicht mit dem allgemeinen Lebensrisiko des Arbeitnehmers belastet wird. N käme daher nicht in den Genuss des Haftungsprivilegs, wenn er auf Grund eines eigenständigen Entschlusses mit dem Gabelstapler auf dem Betriebsgelände gefahren ist, ohne dass dieser Entschluss durch eine betrieblichen Zwecken dienende Tätigkeit auch nur veranlasst wurde („Spaßfahrt“). N ist jedoch von Frau L angewiesen worden, den mit Fahrrädern beladenen Lkw auf dem Firmengelände des G abzuladen. Erst daraufhin entschloss er sich, den Gabelstapler zu benutzen. Damit war die zum Schaden führende Tätigkeit des N betrieblich veranlasst und keine Spaßfahrt. Dabei kommt es auch nicht darauf an, ob Frau L überhaupt befugt war, dem N die Weisung zum Abladen des Lkws zu erteilen. Es reicht schon aus, dass das Entladen dem betrieblichen Interesse diente. Dies gilt erst recht bei einer – hier offenbar betriebsüblichen – Anweisung durch ausgebildete Mitarbeiter wie Frau L. Fraglich ist, ob eine betriebliche Veranlassung nicht mehr vorliegt, wenn die Tätigkeit fehlerhaft erledigt wurde oder sie – wie hier – nicht so wie geschehen ausgeübt werden durfte. Dies ist zu verneinen. Der betriebliche Zusammenhang wird nicht dadurch gelöst, dass der Arbeitnehmer bei Durchführung der betreffenden Tätigkeit vorsätzlich oder grob fahrlässig seine Verhaltenspflichten verletzt. Zwar liegt eine solche Pflichtverletzung typischerweise nicht im Interesse des Arbeitgebers. Dem wird jedoch durch eine entsprechende Haftung des Arbeitnehmers Rechnung getragen. Deshalb reicht es für eine betriebliche Veranlassung, dass die jeweilige Tätigkeit als solche dem betrieblichen Interesse entspricht, auch wenn sie fehlerhaft durchgeführt wird.

10 BAG 12.2.1985 NZA 1986, 91 ff. 11 BAG 27.9.1994 NZA 1994, 1083 ff.

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„Staplerfahrer Klaus“ Fall 6

Somit war die im (versuchten) Entladen des Lkws bestehende Tätigkeit des N betrieblich veranlasst, sodass die Grundsätze über die Einschränkung der Arbeitnehmerhaftung Anwendung finden. c) Rechtsfolgen: Haftungsaufteilung insb. nach dem Verschuldensgrad K Kontext: Ist der Anwendungsbereich der beschränkten Arbeitnehmerhaftung eröffnet, richtet sich der Umfang der Haftungsbeschränkung nach einer umfassenden Abwägung aller Umstände des Einzelfalls, wobei in erster Linie auf den Verschuldensgrad des Arbeitnehmers abzustellen ist. In der Sache wird so ein Ausgleich zwischen dem vom Arbeitgeber zu tragenden Betriebsrisiko und der persönlichen Fehlleistung des Arbeitnehmers hergestellt. Bei Vorsatz haftet der Arbeitnehmer in voller Höhe. Bei der Fahrlässigkeit werden drei Stufen unterschieden: (1) Bei leichter Fahrlässigkeit trägt der Arbeitgeber den Schaden in voller Höhe. Hier erfasste kleinere Fehlleistungen wie vergreifen, versprechen, vertun fallen gegenüber dem vom Arbeitgeber zu tragenden Betriebsrisiko nicht ins Gewicht.12 (2) Bei mittlerer (oder „normaler) Fahrlässigkeit, bei der der Arbeitnehmer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht beachtet hat, ohne dass ihm ein besonders schwerer Vorwurf zu machen ist, findet eine Schadensaufteilung (Quotelung) statt. In die Würdigung einzubeziehende Aspekte sind der Grad des Verschuldens innerhalb der mittleren Fahrlässigkeit, die Gefahrgeneigtheit der Arbeit, die Versicherbarkeit des Risikos durch den Arbeitgeber,13 die Schadenshöhe, die Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb (je höher, desto größer sind typischerweise Sorgfaltsanforderungen), sein bisheriges Verhalten, die Höhe des Arbeitsentgelts, wenn dieses den Schluss zulässt, dass darin eine Risikoprämie enthalten ist sowie – zweifelhaft – die persönlichen Verhältnisse des Arbeitnehmers.14 (3) Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Arbeitnehmer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maß verletzt und Verhaltensregeln missachtet, die im konkreten Fall jedem einleuchten müssen. Hier trägt der Arbeitnehmer grds. den Schaden allein. Im Einzelfall ist aber eine Schadensteilung nicht ausgeschlossen. Das BAG berücksichtigt hier vor allem die Vergütung des Arbeitnehmers: Insbesondere, wenn der Schaden so hoch ist, dass er nicht in der Lage sein wird, ihn jemals vollständig zu ersetzen, fordere die soziale Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers i.V.m. dem Betriebsrisiko des Arbeitgebers eine Haftungsbegrenzung auf eine noch tragbare Summe.15 Das kann im Ausnahmefall ein Jahresgehalt sein.16 Als Rückausnahme hatte das BAG zwischenzeitlich die Kategorie der „gröbsten Fahrlässigkeit“ eingeführt, bei der auch im zuletzt geschilderten Fall eine Haftungsbegrenzung ausscheide. Das sollte im Fall einer Ärztin der Fall sein, die durch Missachtung gleich mehrerer Sicherheitsmaßnahmen den Tod eines Patienten verursachte.17 In einer jüngeren Entscheidung, in dem eine Reinigungskraft mit einem Monatseinkommen von 320 Euro „gröbst“ fahrlässig durch den Druck eines Knopfs an einem radiologischen Gerät einen „MRT-Quench“ einen Schaden von 50.000 EUR herbeigeführt hatte, hat das BAG dennoch eine Haftungshöchstgrenze angenommen,18 so12 13 14 15 16 17 18

BAG 8.12.1971 NJW 1972, 440, 440 f. BAG 12.10.1989 NZA 1990, 97, 99 f. BAG 18.4.2002 NZA 2003, 37, 39. BAG 12.11.1998 NZA 1999, 263, 264 f. BAG 28.10.2010 NZA 2011, 345 Rn. 9 f. BAG 25.9.1997 NZA 1998, 310, 312. BAG 28.10.2010 NZA 2011, 345 Rn. 23.

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Fall 6 „Staplerfahrer Klaus“

dass der Kategorie der „gröbsten“ Fahrlässigkeit keine Bedeutung (mehr) zukommen dürfte. Die Aufgabe der vierten Kategorie ist zu begrüßen. Ausnahmen vom Grundsatz der alleinigen Haftung des Arbeitnehmers bei grober Fahrlässigkeit sind ohnehin Einzelfallentscheidungen. Für den Umfang der Haftung des N kommt es auf das Ergebnis einer Abwägung an, die sich vornehmlich nach dem Grad seines Verschuldens richtet. Daneben sind nach Maßgabe des konkreten Einzelfalls weitere – wegen der Vielfalt möglicher Schadensursachen nicht als abschließend zu verstehende – Abwägungskriterien zu berücksichtigen. Dazu gehören die Gefahrgeneigtheit der Arbeit, die Schadenshöhe, die Versicherbarkeit des Risikos, die Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb und die Höhe seines Arbeitsentgelts sowie persönliche Umstände des Arbeitnehmers, wie etwa die Dauer der Betriebszugehörigkeit, sein Lebensalter, seine Familienverhältnisse sowie das bisherige Verhalten des Arbeitnehmers im Betrieb. Hinsichtlich der Pflichtverletzung ist dem N vorsätzliches Handeln vorzuwerfen, da er mit dem Gabelstapler unter bewusster Missachtung des ausdrücklichen Benutzungsverbots durch G gefahren ist. Das würde nach den Grundsätzen des BAG zur Aufteilung der Haftung nach dem Verschuldensgrad grundsätzlich – vorbehaltlich der Berücksichtigung weiterer Besonderheiten des Einzelfalls – für eine volle Haftung des N sprechen. aa) Bezugspunkt des Verschuldens BAG und h.M. gehen aber davon aus, dass die Grundsätze der beschränkten Arbeitnehmerhaftung nicht nur die Haftungsaufteilung nach dem Verschuldensgrad, sondern auch eine Modifikation des Bezugspunkts des Verschuldens gebieten. Grundsätzlich wird die zivilrechtliche Haftung auf Schadensersatz – mit Ausnahme des § 826 BGB – schon dann ausgelöst, wenn sich das Verschulden nur auf die Pflicht-, Rechtsguts- oder Schutzgesetzverletzung bezieht. Der Schuldner haftet in diesem Fall für sämtliche Schadensfolgen, die ihm objektiv zugerechnet werden können. Diese Rechtsfolge stößt im Bereich der privilegierten Haftung, die N als Auszubildendem zu Gute kommt, auf Bedenken. Das strenge Haftungsregime für Pflichtverletzungen führt zu einer vollen Risikozurechnung des Schadens für den Arbeitnehmer, auch wenn dieser für ihn nicht erkennbar war. Sinn und Zweck der Einschränkung der Arbeitnehmerhaftung ist es aber gerade, den Arbeitnehmer auf Grund seiner Einbindung in die von ihm nicht beeinflussbare betriebliche Sphäre des Arbeitgebers von einer solchen uneingeschränkten Risikozurechnung zu entlasten. Dass die strenge Haftung bei vorsätzlichem Pflichtenverstoß zu unbilligen, mit dem Haftungsprivileg nicht vereinbaren Ergebnissen führt, zeigt sich insbesondere daran, dass die volle Haftung immer dann eingreifen würde, wenn der Arbeitnehmer abstrakte Gefährdungsnormen übertritt oder er entgegen der Anordnung des Arbeitgebers, dass abstrakte Gefahren zu vermeiden sind, handelt. Hierbei kommt es fast zwangsläufig zu Schäden, die zu einer ebenso zwangsläufigen vollen Haftung führen. Das abgestufte Haftungssystem im Arbeitsverhältnis wäre damit durchkreuzt. Gerade im letzteren Fall hätte es der Arbeitgeber sogar in der Hand, die Haftung des Arbeitnehmers quasi nach Belieben zu verschärfen, wenn er einen Pflichtenkatalog aufstellt, bei dessen meist vorsätzlicher Verletzung ein Schaden entsteht – ein Umstand, der dem Schutzzweck der Haftungsmilderung erkennbar zuwiderläuft. Diese den Sinn und Zweck der Grundsätze der eingeschränkten Arbeitnehmerhaftung unterlaufende Rechtsfolge kann somit nur dadurch ausgeschlossen werden, dass sich das Verschulden des Arbeitnehmers bzw. Auszubildenden auch auf den Schaden beziehen muss. 48

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K Kontext: Liegen die Voraussetzung der beschränkten Arbeitnehmerhaftung vor, wird die zivilrechtliche Ausgangslage in zweierlei Hinsicht modifiziert: (1) Es erfolgt eine Haftungsaufteilung nach der Billigkeit unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, wobei insbesondere der Verschuldensgrad des Arbeitnehmers maßgeblich ist. (2) Bezugspunkt des Verschuldens bei dieser Haftungsaufteilung ist nicht die Pflichtverletzung, sondern die Schadensherbeiführung19 (praktisch relevant wird diese Besonderheit aber nur bei vorsätzlichem Pflichtverstoß, weil bei Fahrlässigkeit bei dem Pflichtverstoß dieselbe Fahrlässigkeit auch hinsichtlich der Schadensherbeiführung besteht. Dann muss diese Besonderheit nicht diskutiert werden, jedenfalls reicht in der Fallbearbeitung ein kurzer Hinweis auf den Bezugspunkt des Verschuldens). bb) Verschuldensgrad hinsichtlich der Schadensherbeiführung Maßgeblich für die Aufteilung der Haftung ist damit der Verschuldensgrad hinsichtlich der Schadensherbeiführung. Hier hat N nicht vorsätzlich gehandelt. Er könnte hier grob fahrlässig gehandelt haben. Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr nach den gesamten Umständen zu beachtende Sorgfalt (§ 276 Abs. 2 BGB) in einem ungewöhnlich hohen Grad verletzt und dasjenige unbeachtet gelassen hat, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hätte sich N aufdrängen müssen, dass es im Regelfall mit hohen Gefahren verbunden ist, wenn ein Auszubildender ohne Fahrerlaubnis und Einweisung in die Bedienung mit einem Gabelstapler fährt. Insbesondere bei einer beabsichtigten Fahrt durch ein Hallentor sind besonders hohe Anforderungen an die Konzentration und die Aufmerksamkeit zu stellen. N hätte sich zumindest vergewissern müssen, dass er unter dem nicht vollständig geöffneten Tor hindurchfahren kann. Die subjektive Vorwerfbarkeit des Verhaltens des N könnte allenfalls dadurch gemindert sein, dass er von der Mitarbeiterin L die Anweisung erhalten hat, die Fahrräder vom Lkw abzuladen und hierzu nach der zutreffenden Auffassung des N die Benutzung des Gabelstaplers erforderlich war. Da N jedoch wusste, dass ihm im Umgang mit dem Gabelstapler jegliche Erfahrung fehlt, hätte er sich an seine Ausbilderin G oder an Frau L wenden müssen, um zu verdeutlichen, dass er zur Ausführung der ihm erteilten Weisung außer Stande sei, weil er den Gabelstapler nicht führen könne und dürfe. Dies ist jedoch nicht geschehen, sodass die mit der Weisung einhergehende Erhöhung des Betriebsrisikos nicht schuldmindernd berücksichtigt werden kann. Folglich hat N bezüglich des Schadenseintritts grob fahrlässig gehandelt. cc) Schadensteilung bei grober Fahrlässigkeit Fraglich ist, ob und wie der Umstand der groben Fahrlässigkeit bei der Aufteilung des Schadens zwischen N und G berücksichtigt werden kann. Während das BAG in früheren Entscheidungen vereinzelt eine Beschränkung der Haftung bei grober Fahrlässigkeit abgelehnt hat, schließt es in neuerer Zeit mit Recht eine Haftungsbeschränkung nicht aus. Dies gilt vor allem dann, wenn der Verdienst des Arbeitnehmers in einem deutlichen Missverhältnis zum verwirklichten Schadensrisiko der Tätigkeit steht. Neben dem Grad des Verschuldens kommt diesem Gesichtspunkt bei der Bemessung der Schadensquote wesentliche Bedeutung zu. Selbst bei besonders grober („gröbster“) Fahrlässigkeit soll eine Haftungserleichterung nach jüngerer Rechtsprechung des BAG nicht grundsätzlich ausgeschlossen sein.

19 BAG 18.4.2002 NZA 2003, 37, 40 f.; abl. z.B. Krause, NZA 2003, 577, 582 f.

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Fall 6 „Staplerfahrer Klaus“

Hier steht der durch N verursachte Schaden in Höhe von 4.000 Euro einer Ausbildungsvergütung des N von monatlich 350 Euro netto gegenüber. Dies stellt gerade für einen Auszubildenden ein deutliches Missverhältnis dar (fast das 12-fache seines Verdienstes!), sodass eine Schadensteilung geboten ist. Auch liegt kein – haftungsrechtlich strenger zu bewertender – Fall „gröbster“ Fahrlässigkeit vor. Hier schlägt insbesondere der Umstand zu Buche, dass sich N auf Grund der Weisung von Frau L veranlasst gesehen hat, mit Hilfe des Gabelstaplers die Fahrräder vom Lkw abzuladen. Seine insoweit zutreffende Folgerung und sein Motiv, dies nur mit dem Gabelstapler bewältigen zu können, mindert zwar nicht den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit, lässt diese schädigende Handlung jedoch in einem Licht erscheinen, welches keine „besonders grobe“ Fahrlässigkeit begründet. Für die genaue Festlegung der Schadensquote kann im Rahmen der anzustellenden Abwägung als persönlicher Umstand auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich N im ersten Ausbildungsjahr befindet. Die Ausbildung dient in nicht unerheblichen Maß der Bildung und Festigung der Persönlichkeit eines jungen Menschen. Dies gilt erst recht für den Beginn einer Ausbildung, bei dem die Grundlagen eines späteren Berufslebens gelegt werden. Bei Abwälzung eines großen Teils des Schadens auf N könnte die Gefahr bestehen, dass N vorzeitig demotiviert werden könnte. In Anbetracht dessen entspricht es der Billigkeit, dass N ein Viertel der Schadenssumme, also 1.000 Euro, trägt. Die Haftung in Höhe von knapp drei Monatsverdiensten ist auch für N als Auszubildenden zumutbar, da er mit seinen 17 Jahren schon einen solchen Reifegrad erreicht hat, dass er hätte wissen müssen, was er tat, als er ohne jede Erfahrung mit dem Gabelstapler gegen das halbgeöffnete Rolltor fuhr. Dies muss ihm spürbar vor Augen geführt werden. 6. Ergebnis G hat gegen N aus § 280 Abs. 1 BGB einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von lediglich 1.000 Euro.

II. Anspruch G gegen N aus § 823 Abs. 1 BGB Ein Anspruch der G gegen N auf Zahlung von 4.000 Euro könnte sich auch aus § 823 Abs. 1 BGB ergeben. Indem N mit dem Gabelstapler gegen das Rolltor fuhr und dieses adäquatkausal beschädigte, hat er das Eigentum des G verletzt. Dies geschah auch rechtswidrig. N handelte grob fahrlässig, als er das Eigentum der N verletzte. Durch die Eigentumsverletzung ist G adäquat-kausal ein Schaden in Höhe von 4.000 Euro entstanden. Die Grundsätze über die Einschränkung der Haftung des Arbeitnehmers (§ 254 BGB analog) greifen zu Gunsten des N nicht nur für vertragliche, sondern auch für anspruchskonkurrierende deliktische Schadensersatzansprüche im Arbeits- bzw. Ausbildungsverhältnis ein. Im Unterschied zur Vertragspflichtverletzung stellt sich die Frage des Bezugspunkts des Verschuldens auf den Schaden bei § 823 Abs. 1 BGB nicht, da die Norm beim Verschulden nicht an die Handlung, sondern die Rechtsgutsverletzung anknüpft. Da die Eigentumsverletzung von N aber nur grob fahrlässig herbeigeführt worden ist, gilt das zum Haftungsumfang beim vertraglichen Schadensersatzanspruch Gesagte hier entsprechend, sodass N nur ein Viertel des Schadens des G zu tragen hat. A kann von N auch aus § 823 Abs. 1 BGB Schadensersatz in Höhe von nur 1.000 Euro verlangen.

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„Staplerfahrer Klaus“ Fall 6

D. Lösungsvorschlag Abwandlung I. Anspruch des F gegen N F könnte gegen N einen Anspruch auf ein Schmerzensgeld in Höhe von 1.000 Euro aus § 823 Abs. 1, 2 BGB i.V.m. § 229 StGB, § 253 Abs. 2 BGB haben. 1. Rechtsgutsverletzung/Schutzgesetzverletzung/Rechtswidrigkeit Indem N die F beim Rückwärtsfahren mit dem Gabelstapler erfasste und F dadurch Verletzungen an beiden Beinen und Füßen erlitt, hat N die F körperlich verletzt, ihn also in einer das körperliche Wohlbefinden nicht unwesentlich beeinträchtigenden Weise übel und unangemessen behandelt. Er hat dadurch sowohl eine Rechtsgutsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB als auch eine Schutzgesetzverletzung gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 229 StGB adäquat kausal verursacht. K Kontext: Schädigt der Arbeitnehmer betriebsfremde Dritte, können diese nach Maßgabe der §§ 280, 278 und 831 BGB den Arbeitgeber in Anspruch nehmen. Der Arbeitgeber kann dann beim Arbeitnehmer ggf. nach §§ 280 Abs. 1, 426 Abs. 2 S. 1 oder 840 Abs. 1 BGB Rückgriff nehmen, auf diesen Rückgriffsanspruch findet dann die privilegierte Haftung des Arbeitnehmers Anwendung. Gegen den Arbeitnehmer kann der betriebsfremde Dritte einen Anspruch aus Delikt, vor allem nach § 823 BGB haben. Vertragliche Ansprüche gegen ihn scheiden mangels vertraglicher Verbindung des Geschädigten zum Arbeitnehmer regelmäßig aus.

2. Verschulden N führte die Rechtsgutsverletzung der F auch (grob) fahrlässig herbei. 3. Haftungsmilderung? Fraglich ist, ob sich N gegenüber F auf die Grundsätze der Haftungsmilderung im Arbeitsverhältnis berufen kann. Dagegen spricht, dass es sich bei F um eine Person handelt, die außerhalb des Arbeits- bzw. Ausbildungsverhältnisses N – G steht. Der Einbeziehung Dritter in die Grundsätze des innerbetrieblichen Schadensausgleichs steht entgegen, dass diese auf spezifisch arbeitsrechtlichen Erwägungen beruhen, die auf das Verhältnis des Arbeitnehmers zu Dritten im allgemeinen Rechtsverkehr nicht übertragbar sind. Insbesondere ist die Herleitung der Haftungsmilderung über eine betriebliche und wirtschaftliche Risikozurechnung analog § 254 BGB nicht geeignet, Dritte, die gerade außerhalb dieser spezifischen Risikosphäre des Unternehmers stehen, in sie einzubeziehen. Außerdem entspricht es einem allgemeinen schuldrechtlichen Grundsatz, dass Einwendungen, die einem Schuldner (hier N) aus einem Rechtsverhältnis zu Dritten (hier G) erwachsen, einem außenstehenden Gläubiger (hier F) nicht entgegengehalten werden können („Relativität des Schuldverhältnisses“). Folglich haftet ein Arbeitnehmer bzw. Auszubildender gegenüber außerhalb des Arbeitsbzw. Ausbildungsverhältnisses stehenden Personen unbeschränkt. N kann sich gegenüber F somit nicht auf die ihm gegenüber G zugutekommende Milderung seiner Haftung berufen.

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Fall 6 „Staplerfahrer Klaus“

K Kontext: Die Haftungsmilderung nach den Grundätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs gilt nur im Verhältnis des Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber. Der BGH begründet das mit dem „allgemeinen zivilrechtlichen Grundsatz, dass der Schuldner mit Einwendungen aus dem Rechtsverhältnis zu einem Dritten – hier: im Verhältnis zu dem Geschädigten mit Haftungserleichterungen als Ausfluss des Arbeitsvertrags mit seinem Arbeitgeber – nicht gehört wird“20. Hintergrund ist die Verteilung des Insolvenzrisikos des Arbeitgebers: Praktisch wird der Dritte, gerade wenn er einen Vertrag mit dem Arbeitgeber hat, seinen Ersatzanspruch gegen diesen geltend machen und nur im Fall von dessen Insolvenz auf den Arbeitnehmer zurückgreifen. Auch und gerade in dieser Situation lehnt der BGH eine Haftungsbegrenzung ab mit der Überlegung, dass die Haftungsbegrenzung maßgeblich auf dem Gedanken beruht, dass der Arbeitgeber das Verhalten des Arbeitnehmers durch seine Organisationsgewalt beeinflusst. Diese Möglichkeit fehlt aber außenstehenden Dritten – seien es komplett Betriebsfremde oder Kollegen des schädigenden Arbeitnehmers.21

4. Haftungsausschluss nach §§ 105 f. SGB VII Ein gänzlicher Haftungsausschluss des N gegenüber F könnte sich jedoch aus den §§ 105 f. SGB VII ergeben. Danach ist die allgemeine zivilrechtliche Haftung bei Personenschäden gegenüber in der gesetzlichen Unfallversicherung Versicherten ausgeschlossen, wenn Personen durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versicherungsfall der Versicherten verursachen, es sei denn, sie haben den Versicherungsfall vorsätzlich oder durch einen Wegeunfall i.S.v. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII herbeigeführt. Sollte die zivilrechtliche Haftung des N gegenüber F gemäß §§ 105 f. SGB VII ausgeschlossen sein, würde sich dies auch auf den Anspruch auf Schmerzensgeld erstrecken, obwohl die gesetzliche Unfallversicherung eine solche Leistung nicht vorsieht; der Haftungsausschluss ist insoweit allumfassend. K Kontext: Vertiefte Kenntnisse des Unfallversicherungsrechts (geregelt im SGB VII) sind für das Arbeitsrecht im Pflichtfach nicht erforderlich, jedenfalls an die Regelungen der §§ 104–108 SGB VII (abgedruckt in der Fußnote zu § 618 BGB im Schönfelder) sollte man aber – ohne dass Detailkenntnisse nötig wären – in Schadensfällen mit Bezug zu einem Arbeitsverhältnis denken. Die Vorschriften enthalten Haftungsfreistellungen für Personenschäden (also nicht für Sachschäden), wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer schädigt (§ 104 SGB VII) und wenn der Arbeitnehmer einen Angehörigen desselben Betriebs (§ 105 SGB VII) oder eines anderen Unternehmens auf derselben Betriebsstätte (§ 106 Abs. 3 SGB VII) schädigt. In diesen Fällen erbringt die gesetzliche Unfallversicherung gegenüber dem an der Person Geschädigten Versicherungsleistungen. Diese Haftungsfreistellung, gleich aus welcher Anspruchsgrundlage, erfolgt aus zwei Gründen: (1) Der Arbeitgeber finanziert die gesetzliche Unfallversicherung und der Arbeitnehmer kann Leistungen von dem stets solventen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung ohne Berücksichtigung seines Mitverschuldens umgehend beziehen (Finan-

20 BGH 19.9.1989 NJW 1989, 3273, 3274. 21 BGH 21.12.1993 BGH NJW 1994, 852, 854 f. Dafür, die Haftungsbegrenzung durch Rechtsfortbildung auch auf Betriebsmittelgeber zu erstrecken Schwarze in Otto/Schwarze/Krause, Die Haftung des Arbeitnehmers, 4. Aufl. 2014, § 17 Rn. 2.

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zierungsargument). (2) Den Betriebsfrieden belastende (gerichtliche) Prozesse zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber sollen im Interesse der gedeihlichen Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses vermieden werden sollen (Friedensargument).22

a) § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII Die Haftung des N gegenüber F könnte bereits nach § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII ausgeschlossen sein. Dann müsste N eine Person sein, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versicherungsfall eines Versicherten (F) desselben Betriebes verursacht hat. N ist als Auszubildender in der gesetzlichen Unfallversicherung nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII versicherungspflichtig und wurde im Rahmen dieses Ausbildungsverhältnisses tätig, sodass er eine versicherte und damit betriebliche Tätigkeit ausübte. Es liegt hier auch ein Versicherungsfall (= Arbeitsunfall) des F als Versichertem i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII vor, was die Berufsgenossenschaft der S für das Gericht nach § 108 Abs. 1 SGB VII bindend festgestellt hat. Der Haftungsausschluss ist auch nicht wegen vorsätzlicher Herbeiführung des Versicherungsfalls gesperrt, da N durch sein Handeln (Rückwärtsfahren mit dem Gabelstapler) den Versicherungsfall nur grob fahrlässig herbeigeführt hat. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass sich N vorsätzlich über das Verbot der G, den Gabelstapler zu benutzen, hinweggesetzt hat. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII muss sich der Vorsatz auf das den Versicherungsfall verursachende Handeln (oder Unterlassen) beziehen (siehe auch § 110 Abs. 1 S. 3 SGB VII). Deshalb reichen auch vorsätzliche Übertretungen von Dienstanweisungen für sich allein nicht aus, um die vorsätzliche Herbeiführung eines Versicherungsfalles zu begründen. K Hinweis: In Klausuren aus dem Pflichtfach wird häufig nicht verlangt, den Arbeitsunfall nach § 8 SGB VII23 als Voraussetzung der Haftungsprivilegierung der §§ 104 ff. SGB VII zu prüfen. Im Sachverhalt ist dann angegeben, dass der Arbeitsunfall von der zuständigen Berufsgenossenschaft unanfechtbar festgestellt ist. Für Gerichte und Klausurbearbeiter besteht dann eine Bindungswirkung der Feststellung des Arbeitsunfalls nach § 108 SGB VII. Der (direkten) Anwendung des § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII steht jedoch entgegen, dass N und F als Versicherte nicht demselben Betrieb angehören, da sie verschiedenen Betrieben einander unabhängiger Unternehmen (G und S) zugeordnet sind. Folglich kommt eine Enthaftung nach § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII nicht in Betracht. b) § 106 Abs. 3 Var. 3 SGB VII i.V.m. § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII Ein Haftungsausschluss des N gegenüber F könnte sich jedoch aus § 106 Abs. 3 Var. 3 i.V.m. § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII ergeben. Danach tritt eine Enthaftung nach § 105 Abs. 1 SGB VII auch dann ein, wenn Versicherte mehrerer Unternehmen im Zeitpunkt des Versicherungsfalls vorübergehend betriebliche Tätigkeiten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte verrichten. Fraglich ist, ob N und F auf einer „gemeinsamen Betriebsstätte“ von G und S tätig waren. Hier sind sehr enge Auffassungen, die eine förmliche Arbeitsgemeinschaft zwischen 22 Fuchs/Preis, SozVersR, S. 506 ff. 23 Dazu Krämer/Seiwerth, JuS 2013, 203.

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Unternehmen oder jedenfalls ein gemeinsames Ziel verlangten, vertreten worden. Auf der anderen Seite standen sehr weite Auslegungen, die einen Kontakt von neben- oder nacheinander stattfindenden Verrichtungen ausreichen ließ. Eine vermittelnde Auffassung, der sich auch die Rechtsprechung angeschlossen hat, lehnt sowohl das (enge) Erfordernis einer rechtlichen Verfestigung wie auch das (weite) Postulat des bloßen Nebeneinanders der Tätigkeiten ab und fordert stattdessen das Vorliegen eines Miteinanders im Sinne einer Verknüpfung einzelner Leistungen.24 Danach erfasst der Begriff der gemeinsamen Betriebsstätte solche betrieblichen Aktivitäten, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinander greifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt. Dem ist zu folgen. Diese Lösung kommt dem Sinn und Zweck der Vorschrift am nächsten, der den Haftungsausschluss aus dem Gesichtspunkt der sog. Gefahrengemeinschaft rechtfertigt.25 Eine solche liegt nicht erst bei einer organisatorischen Verknüpfung betrieblicher Aktivitäten von Unternehmen im Sinne einer Arbeitsgemeinschaft oder eines gemeinsamen Ziels vor. Auf der anderen Seite ist der Begriff der „gemeinsamen“ Betriebsstätte nicht mit demjenigen der „selben“ Betriebsstätte identisch. Anderenfalls würde es zu einer ausufernden und damit auch teleologisch unangemessenen Haftungsbefreiung kommen.26 Aus diesem Grund ist das Postulat der Verknüpfung im Sinne bewussten und gewollten Zusammenwirkens im Arbeitsablauf intereressengerecht und entspricht in systematischer Hinsicht den in § 106 Abs. 3 SGB VII genannten Fällen des Zusammenwirkens von Unternehmen zur Hilfe bei Unglücksfällen oder des Zivilschutzes, die sich durch faktisches Miteinander in Form ergänzender und unterstützender Tätigkeit auszeichnen und daher den Charakter einer Gefahrengemeinschaft aufweisen.27 Im Fall besteht zwischen der zum Versicherungsfall führenden Tätigkeit des N und der F kein Zusammenhang. Die Entnahme der mit Fahrrädern bestückten Paletten auf dem Lkw mittels eines Gabelstaplers geschah unabhängig vom Entladungsvorgang des die Computeranlage beinhaltenden Lkws, zu dem F ansetzen wollte. Beide betrieblichen Aktivitäten hatten demnach nichts miteinander zu tun; sie standen beziehungslos nebeneinander. Folglich kann hier von einem bewussten und gewollten Zusammenwirken von N und F, sei es auch nur stillschweigend, nicht die Rede sein. Ihre schadensstiftende Begegnung erschöpfte sich vielmehr in einem bloß zufälligen räumlich-zeitlichen Zusammentreffen, was für eine gemeinsame Betriebsstätte im Sinne des § 106 Abs. 3 Var. 3 SGB VII aber gerade nicht ausreicht. Dementsprechend liegt hier keine gemeinsame Betriebsstätte zwischen G und S vor, sodass auch ein Haftungsausschluss für N gegenüber F nach § 106 Abs. 3 Var. 3 i.V.m. § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII ausscheidet. Somit haftet N der F unbeschränkt. 5. Ergebnis F hat gegen N einen Anspruch auf ein angemessenes Schmerzensgeld aus § 823 Abs. 1, 2 BGB i.V.m. § 229 StGB, § 253 Abs. 2 BGB, wobei 1.000 Euro angesichts der schweren Verletzungen der F angemessen erscheint. 24 Vgl. BGH 17.10.2000 BGHZ 145, 331; BGH 23.1.2001 VersR 2001, 372; BGH 3.7.2001 BGHZ 148, 209 und BGHZ 148, 214; auch BAG 12.12.2002 AP SGB VII § 105 Nr. 2. 25 BGH 3.7.2001 BGHZ 148, 209, 212. 26 S. BGH 17.10.2000 BGHZ 145, 331, 335. 27 BGH 17.10.2000 BGHZ 145, 331, 336.

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II. Anspruch N gegen G auf Freistellung aus § 670 i.V.m. 257 S. 1 BGB Möglicherweise hat N gegen seine Ausbilderin G einen Anspruch, von der gegen ihn gerichteten Verbindlichkeit gegenüber F aus § 670 i.V.m. § 257 S. 1 BGB freigestellt zu werden. K Kontext: Mit Blick auf die Herleitung der Besonderheiten der Haftung im Arbeitsverhältnis (s.o.) u.a. aus der Berufsfreiheit macht es keinen Unterschied, wen der Arbeitnehmer bei seiner betrieblich veranlassten Tätigkeit schädigt. Oft ist das nur davon abhängig, ob der Arbeitgeber seine eigenen Betriebsmittel (Maschinen, Fahrzeuge, Computer, Personal etc.) einsetzt oder er fremde anmietet. Würde hier zumindest im wirtschaftlichen Ergebnis nicht auch der innerbetriebliche Schadensausgleich angewandt, ließen sich die verfassungsrechtlich gebotenen Grundsätze auch leicht umgehen. (1) Aus dieser Überlegung heraus wird dem Arbeitnehmer, wenn er den Schaden des Dritten bereits ersetzt hat, ein Rückgriffsanspruch gegen den Arbeitgeber in Höhe der Quote zugebilligt, die nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs auf den Arbeitnehmer entfällt.28 Anspruchsgrundlage ist hier grundsätzlich § 670 BGB analog. An einer Lücke fehlt es, wenn zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine Gesamtschuld nach § 421 BGB besteht, das kann der Fall sein, wenn der Arbeitgeber mit dem Dritten vertraglich verbunden ist und so selbst nach §§ 280, 278 BGB haftet (Bsp.: Arbeitnehmer beschädigt Mietwagen bei Fahrt zurück zum Autovermieter, von dem der Arbeitgeber das Auto gemietet hat). Der Ausgleich erfolgt dann nach § 426 Abs. 1 S. 1 BGB. (2) Hat der Arbeitnehmer den Dritten noch nicht entschädigt, kann er vom Arbeitgeber verlangen, dass dieser den Dritten in Höhe der auf den Arbeitgeber entfallenden Haftungsquote freistellt. Dieser Freistellungsanspruch wird – ohne Unterschiede in Voraussetzungen und Rechtsfolge – teils aus § 611a BGB i.V.m. der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers,29 teils analog §§ 670 i.V.m. 257 S. 1 BGB hergeleitet.30

1. Voraussetzungen des Freistellungsanspruchs Um die Grundsätze des innerbetrieblichen Schadensausgleichs nicht zu unterlaufen, ist es seit langem anerkannt, dass dem Arbeitnehmer im Innenverhältnis zu seinem Arbeitgeber ein Freistellungsanspruch zusteht, der den Arbeitgeber verpflichtet, den Arbeitnehmer insoweit von der Schadensersatzforderung freizustellen, wie der Schaden zwischen den Arbeitsvertragsparteien verteilt würde, wenn nicht ein außenstehender Dritter, sondern der Arbeitgeber selbst geschädigt worden wäre. Anspruchsgrundlage ist § 670 analog i.V.m. § 257 S. 1 BGB. Der Freistellungsanspruch setzt zunächst eine unbeschränkte Haftung gegenüber einem außerhalb des Arbeitsverhältnisses stehenden Dritten voraus. Dies ist hier in Ansehung des Schmerzensgeldanspruchs des F gegen N gegeben. Der Freistellungsanspruch geht nur soweit, wie N im Innenverhältnis zu G die aus der Inanspruchnahme eines Dritten resultierenden Belastungen nicht zu tragen braucht. Die Höhe des Freistellungsanspruchs des N gegen G richtet sich also nach dem Umfang, in dem seine 28 BAG 28.10.2010 NZA 2011, 406 Rn. 34. 29 BAG 23.6.1988 NJW 1989, 854. 30 BAG NZA 2011, 406 Rn. 25 ff.; ErfK/Preis, § 619a BGB Rn. 26.

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Fall 6 „Staplerfahrer Klaus“

Haftung nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs analog § 254 BGB gemildert ist. Hier hat N auf Grund seiner völligen Unerfahrenheit im Umgang mit dem Gabelstapler ebenso wie im Ausgangsfall grob fahrlässig gehandelt (s.o.). Auch wenn die Höhe des Schmerzensgeldes wohl nicht im krassen Missverhältnis zu dem Verdienst des N steht, ist eine Schadensteilung bei Abwägung aller Umstände insbesondere wegen des Status des N als Auszubildender auch bei grober Fahrlässigkeit angezeigt. Abweichend vom Ausgangsfall ist es jedoch wegen der geringeren Entschädigungssumme, allerdings unter sonstiger Bezugnahme auf die dortige Argumentation (s.o.), angemessen und zumutbar, wenn N im Innenverhältnis zu G statt eines Viertels die Hälfte der von ihm aufzuwendenden Summe für die Geldentschädigung der F trägt (500 Euro). 2. Ergebnis N hat gegen G aus §§ 670 i.V.m. 257 S. 1 BGB einen Anspruch auf Freistellung von der Hälfte der für die Entschädigung des F aufzubringenden Geldsumme, also 500 Euro. K Kontext: Insgesamt sind 5 Konstellationen der Besonderheiten der Haftung im Arbeitsverhältnis zu unterscheiden: (1) Arbeitnehmer schädigt Arbeitgeber – der Schadensersatzanspruch des Arbeitgebers wird nach § 254 BGB analog gekürzt; (2) Arbeitnehmer schädigt betriebsfremden Dritten – der Dritte hat einen unmodifizierten Anspruch gegen den Arbeitnehmer, der Arbeitnehmer kann vom Arbeitgeber aber nach § 670 BGB analog Ersatz des an den Dritten gezahlten Betrags in Höhe der Haftungsquote, die der Arbeitgeber zu tragen gehabt hätte wenn er geschädigt worden wäre, verlangen oder, hat der Arbeitnehmer noch nicht gezahlt, kann er Freistellung in gleicher Höhe nach §§ 670 BGB analog, 257 S. 1 BGB verlangen; (3) schädigt der Arbeitnehmer sich selbst (z.B. setzt er betrieblich veranlasst sein Privatfahrzeug ein) wird ihm ebenfalls ein Ersatzanspruch nach § 670 BGB analog gegen den Arbeitgeber zuerkannt; (4) schädigt der Arbeitgeber den Arbeitnehmer, gibt es hinsichtlich der Sachschäden keine Besonderheiten; hinsichtlich der Personenschäden ist rglm. die Haftungsfreistellung des § 104 SGB VII anwendbar; (5) das gleiche gilt über § 105 SGB VII, wenn der Arbeitnehmer einen Kollegen schädigt.

K Zur Vertiefung: Zur beschränkten Arbeitnehmerhaftung s. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 294–317; Preis/Temming, Individualarbeitsrecht Rn. 2376–2433. Zu Eigenschäden des Arbeitnehmers und einem Freistellungsanspruch gegenüber dem Arbeitgeber s. Junker Rn. 318–319; Preis/Temming Rn. 2446–2453.

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Fall 7 „Examen erforderlich“ A. Falldarstellung N hat 2012 lediglich das erste Staatsexamen für das Lehramt abgelegt, trotzdem wird sie an einer vom G-e.V. getragenen Privatschule als Musiklehrerin mit 14 Wochenstunden beschäftigt. In dem zwischen ihr und dem G am 1.9.2013 auf unbefristete Dauer geschlossenen Vertrag, der mit „freier Dienstvertrag“ überschrieben ist, wird N als „freie Mitarbeiterin“ bezeichnet. Die Lage ihrer Unterrichtsstunden kann N nicht selber festlegen, da diese fester Bestandteil des Stundenplans sind. Zur Teilnahme an den Lehrerkonferenzen ist N verpflichtet. Auch sonst ist sie in gleicher Weise in den Schulbetrieb integriert wie die zwölf anderen, mit beiden Staatsexamina voll ausgebildeten, festangestellten Lehrer, die vollzeitbeschäftigt sind. Sie erhält eine monatliche Vergütung. Sozialversicherungsbeiträge werden nicht abgeführt. Mit Schreiben vom 31.10.2019 kündigt der Vorstand des G-e.V. das Vertragsverhältnis mit der N ordentlich zum 31.12.2019. Der Vorstand begründet die Kündigung mit der nicht abgeschlossenen Ausbildung der N. Gerade in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und einer schlechten Wirtschaftslage sei es für die Akzeptanz einer Privatschule in der Gesellschaft wichtig, dass sie lediglich voll ausgebildete Lehrkräfte beschäftige. Grund dafür sei, dass die Eltern bezüglich der Zukunft ihrer Kinder verunsichert wären und deshalb in Sachen Ausbildung kein Risiko eingingen. Eine Schule, die nicht voll ausgebildete Lehrkräfte beschäftige, liefe deshalb Gefahr, die Klassen nicht voll besetzen zu können. Die Tatsache, dass N trotz nicht abgeschlossener Ausbildung tadellos unterrichte, ändere nichts an der Gefahr des Schülerrückgangs. Am Nachmittag desselben Tages übergibt die Vorstandsvorsitzende V dem B, einem Kollegen der N, das Kündigungsschreiben mit der Bitte, es der N in ihren Briefkasten zu werfen. B nimmt den Brief ohne Murren entgegen, da sein Nachhauseweg ohnehin am Haus der N vorbeiführt. Er wirft das Kündigungsschreiben um 20.00 Uhr in den Briefkasten der N ein. Diese nimmt das Schreiben allerdings erst am 1.11.2019, bei der täglichen Briefkastenleerung, zur Kenntnis. N ist der Ansicht, die vom Vorstand des G-e.V. ausgesprochene Kündigung sei unwirksam. Abgesehen davon habe der Vorstand die Kündigung nicht fristgemäß ausgesprochen. Der Vorstand des G-e.V. meint demgegenüber, dass freien Mitarbeitern ohne weiteres gekündigt werden könnte. Überdies habe er aus sozialen Gründen eine längere Kündigungsfrist eingeräumt, als das Gesetz nach § 621 BGB verlange. Ein Betriebsrat ist in der Privatschule nicht eingerichtet. Frage: N fragt ihren Anwalt am 4.11.2019, ob sie die die Fortsetzung des Vertrags über den 31.12.2019 hinaus verlangen kann. Was wird er antworten? Schwierigkeitsgrad: Umfangreicher Einführungsfall zum Komplex „Kündigung“ Rechtsfragen: Arbeitnehmerbegriff, Zugang der Kündigungserklärung, Abgrenzung betriebs-, verhaltens- und personenbedingter Kündigung

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Fall 7 „Examen erforderlich“

B. Lösungsskizze I. Wirksamkeit der Kündigung gegenüber N 1. Wirksame Kündigungserklärung 2. Klageerhebungsfrist nach § 4 KSchG a) Präklusionsfrist, § 4 KSchG b) Anwendungsvoraussetzung: Arbeitnehmereigenschaft der N 3. Einhaltung der Kündigungsfrist, §§ 621, 622 BGB Maßgeblich für Fristberechnung: Zeitpunkt des Zugangs; Zugang noch am 31.10.2019? – Definition Zugang i.S.d. § 130 Abs. 1 S. 1 BGB: Willenserklärung in den Machtbereich des Empfängers gelangt und nach Verkehrsanschauung mit Kenntnisnahme zu rechnen. – Aufgrund abendlichen Einwurfs nach Verkehrsanschauung keine Kenntnisnahme und folglich kein Zugang mehr am 31.10.2019 – Ingangsetzen einer ordnungsgemäßen Frist bei fehlerhaft zu kurzer Kündigungsfrist 4. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe 5. Anhörung des Betriebsrats: kein Betriebsrat vorhanden 6. Soziale Rechtfertigung nach § 1 KSchG a) Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes gem. §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 S. 2, 3 KSchG: Voraussetzungen: Arbeitnehmereigenschaft; mindestens 6 Monate im Betrieb beschäftigt; kein Kleinbetrieb b) Kündigungsgrund aa) Betriebsbedingte Kündigung (–) – Kündigung aufgrund einer unternehmerischen Entscheidung; dadurch dauerhafter Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit – Umfang der Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers von Art der unternehmerischen Entscheidung abhängig: – Selbstbindende oder gestaltende unternehmerische Entscheidung? – Gestaltende unternehmerische Entscheidung: Kündigung aufgrund innerbetrieblicher Umstrukturierungen; Folge: geringere Anforderungen an Darlegungs- und Beweislast – Selbstbindende unternehmerische Entscheidung: Anpassung des Personalbestands an rückläufiges Arbeitsaufkommen; keine Änderungen der innerbetrieblichen Organisation infolge Personalabbaus; Folge: höhere Anforderungen an Darlegungs- und Beweislast – Kündigung der N als selbstbindende unternehmerische Entscheidung; erforderliche Darlegungs- und Beweislast von G-e.V. nicht erfüllt 58

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„Examen erforderlich“ Fall 7

bb) Personenbedingte Kündigung (–) – Qualifikation von Arbeitnehmer steuerbar und damit nicht personen-, sondern verhaltensbedingt cc) Verhaltensbedingter Kündigungsgrund (–) – N unterrichtet tadellos – Fehlende Lehrbefähigung kein Verhalten, da Kenntnis von G-e.V. bei Einstellung – Weiterqualifizierung hätte arbeitsvertraglich festgelegt werden müssen II. Ergebnis: Kündigung ist sozial nicht gerechtfertigt

C. Lösungsvorschlag N könnte die Fortsetzung ihres Vertrages über den 31.12.2019 hinaus verlangen, wenn der G-e.V. den mit N bestehenden Vertrag nicht wirksam zu diesem Zeitpunkt gekündigt hätte. Die zum 31.12.2019 gegenüber N ausgesprochene Kündigung ist wirksam, wenn der G-e.V. die Kündigung unter Einhaltung der Kündigungsfrist erklärt hat sowie besondere und allgemeine Kündigungsschranken beachtet worden sind. K Kontext: Auch bei der Prüfung der Kündigung eines Arbeitsverhältnisses kann eine Orientierung an den allgemeinen Prüfungspunkten von Gestaltungsrechten erfolgen, nämlich Gestaltungserklärung – Frist – Gestaltungsgrund. Das erleichtert die Übersicht über die sehr langen Schemavorschläge zur Prüfung einer Kündigung. Bei der Prüfung des Gestaltungsgrunds wird im Ansatz wegen § 620 Abs. 2 BGB nicht geprüft, ob ein Recht zur Kündigung besteht, sondern welche Gründe der Kündigung entgegenstehen.

I. Wirksamkeit der Kündigung gegenüber N 1. Wirksame Kündigungserklärung Die Wirksamkeit einer Kündigung setzt zunächst voraus, dass die Kündigungserklärung wirksam ist. Da es sich bei der Kündigung um eine einseitige, rechtsgestaltende Willenserklärung handelt, ist ihre Wirksamkeit anhand der allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen (§§ 104 ff. BGB) zu beurteilen. K Kontext: Bei der Kündigungserklärung kommt es im Wesentlichen auf allgemeine Aspekte der Wirksamkeit von Willenserklärungen an, nämlich (1) Bestimmtheit (§§ 133, 157 BGB), dabei ist die Angabe von Kündigungsgründen nicht erforderlich, arg. § 626 Abs. 2 S. 3 BGB; (2) Schriftform (§§ 623, 126 BGB); (3) Berechtigung zur Abgabe der Kündigungserklärung, die Vertragspartner oder deren Vertreter mit Vertretungsmacht haben.

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Fall 7 „Examen erforderlich“

Der Vorstand des G-e.V. erklärte gegenüber N schriftlich die Kündigung zum 31.12.2019. Zweifel an der Wirksamkeit dieser Willenserklärung bestehen im vorliegenden Fall nicht. Das Schriftformerfordernis für Kündigungen in § 623 BGB ist gewahrt (vgl. §§ 125, 126 BGB). Die inhaltlichen Anforderungen an die Bestimmtheit der Kündigungserklärung sind nicht zweifelhaft. Insbesondere hat der G-e.V. keine außerordentliche, sondern erkennbar eine ordentliche Kündigung zum regulären Termin aussprechen wollen. Nach § 26 Abs. 2 S. 1 BGB ist der Vorstand der gesetzliche Vertreter eines Vereins. Somit wurde die Kündigung durch das vertretungsberechtigte Organ des G-e.V. erklärt. 2. Klageerhebungsfrist nach § 4 KSchG a) Präklusionsfrist Will die N sich gegen die Unwirksamkeit der Kündigung wenden, muss sie innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung Klage beim Arbeitsgericht auf Feststellung erheben, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst ist, sonst gilt die Kündigung unwiderleglich als von Anfang an rechtswirksam, §§ 4 S. 1, 7 KSchG. K Kontext: Die Versäumung der dreiwöchigen (Fristberechnung insb. nach § 188 Abs. 2 Var. 1 BGB) Klageerhebungsfrist des § 4 S. 1 KSchG zur Geltendmachung der Unwirksamkeit der Kündigung eines Arbeitsverhältnisses hat nach § 7 KSchG die unwiderlegliche Vermutung, dass die Kündigung wirksam ist, zur Folge, nicht die bloße Unzulässigkeit der Klage. Es handelt sich um eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist für alle Unwirksamkeitsgründe außer dem Formverstoß und einem fehlenden Erklärungstatbestand (arg. Wortlaut: Zugang der wirksamen Kündigungserklärung). Zweck ist es, schnell Klarheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zu schaffen. Bei unverschuldetem Fristversäumnis (typischer Klausurfall: Zugang der Kündigungserklärung wegen urlaubsbedingter Abwesenheit des Arbeitnehmers) ist eine nachträgliche Klagezulassung nach § 5 KSchG möglich (dazu Fall 8).

b) Eigenschaft der N als Arbeitnehmerin Voraussetzung für die Anwendbarkeit dieser sog. materiellen Präklusionsfrist ist, dass die N Arbeitnehmerin ist. Nach § 611a Abs. 1 BGB ist Arbeitnehmer, wer auf Grundlage eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist. Der zwischen N und G-e.V. zustande gekommene Vertrag ist mit „freier Dienstvertrag“ überschrieben. N wird im Vertragstext als „freie Mitarbeiterin“ bezeichnet. Aus der im Vertrag getroffenen Bezeichnung können indes keine Rückschlüsse auf die rechtliche Einordnung einer Vertragsbeziehung getroffen werden; es ist vielmehr auf die praktische Durchführung des Vertrages abzustellen, § 611a Abs. 1 S. 6 BGB. Dass N aufgrund eines privatrechtlichen Vertrages zur Leistung von Arbeit gegen Entgelt verpflichtet ist, ist unproblematisch. Fraglich ist jedoch, ob N ihre Arbeit „im Dienste“ des G-e.V. ausübt. Zentral ist hier auf Grundlage einer Gesamtbetrachtung (§ 611a Abs. 1 S. 5 BGB) die Feststellung der Weisungsgebundenheit der N, aus der sich auch maßgeblich die Fremdbestimmtheit und damit die persönliche Abhängigkeit ergibt. N hält ihre Unterrichtsstunden in den Räumen des G-e.V., wie es für eine Schule üblich ist. Sie ist somit bezüglich des Ortes ihrer Tätigkeit 60

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„Examen erforderlich“ Fall 7

weisungsgebunden. Unerheblich für die Frage, ob N Arbeitnehmerin oder Selbständige ist, ist, dass N nur mit 14 Wochenstunden beschäftigt ist. Auch bei der Ausführung von Tätigkeiten in geringem zeitlichen Umfang kann ein hohes Maß an Weisungsgebundenheit bestehen. Daher spricht eine geringe Arbeitszeit nicht gegen die Arbeitnehmereigenschaft des Beschäftigten, die nach herrschender Meinung in Literatur und Rechtsprechung auch Teilzeitbeschäftigten und nebenberuflich Tätigen zukommen kann. Für die Einordnung einer Lehrtätigkeit ist es nach der Rechtsprechung des BAG von besonderer Bedeutung, inwieweit die Lehrkraft ihre Arbeitszeit mitgestalten kann. Es ist ein maßgeblicher Hinweis auf ein Arbeitsverhältnis, wenn der Arbeitgeber innerhalb eines bestimmten zeitlichen Rahmens über die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers verfügen, insbesondere über die Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Tage sowie über Beginn und Ende der Arbeitszeit entscheiden kann. N kann die Lage ihrer Stunden nicht selbst festlegen, da sie fester Bestandteil des Stundenplans sind. Dies spricht entscheidend für die Arbeitnehmereigenschaft der N. In seiner Rechtsprechung, die sich mit der Arbeitnehmereigenschaft von Lehrkräften beschäftigt, stellt das BAG maßgeblich darauf ab, inwieweit den Betroffenen neben der Unterrichtstätigkeit weitere Nebenpflichten obliegen, aus denen sich ihre Eingliederung in die schulische Organisation ergibt. Im Bereich der allgemeinbildenden Schulen obliegen den Lehrkräften regelmäßig derartige Nebenpflichten. So kann der Schulträger auch außerhalb der Unterrichtszeit über die Arbeitskraft des Dienstverpflichteten verfügen, weil die Lehrkräfte schriftliche Arbeiten korrigieren, mündliche Prüfungen abnehmen, an Fortbildungsveranstaltungen und Konferenzen teilnehmen und Schulsprechstunden abhalten müssen. Derartige Nebenpflichten, insbesondere die Verpflichtung zur Teilnahme an Konferenzen, obliegen auch der N. Ihre damit einhergehende Einbindung in die Schulorganisation spricht daher für die Annahme eines Arbeitsverhältnisses. Auch hinsichtlich des Inhalts ihrer Tätigkeit ist N von zahlreichen Vorgaben des G-e.V. abhängig. Üblicherweise sind Lehrer bei der Auswahl des Unterrichtsstoffes an allgemeine Lehrpläne gebunden. Zwar mag ihr ein gewisser Gestaltungsspielraum verbleiben, wie sie den Unterricht methodisch und didaktisch gestaltet. Ein solcher Spielraum ist der Lehrtätigkeit als solcher jedoch immanent. Insoweit ist die fachliche Weisungsgebundenheit für die Bejahung der persönlichen Abhängigkeit keine notwendige Voraussetzung. Aufgrund des bestehenden Weisungsumfangs des G-e.V. gegenüber der N ist sie bei der Erbringung ihrer Tätigkeit weisungsgebunden. Die Arbeitnehmereigenschaft der N ist entgegen der im Vertrag getroffenen Bezeichnung zu bejahen. c) Zwischenergebnis Will die N die Unwirksamkeit der Kündigung geltend machen, muss sie innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung Klage beim Arbeitsgericht auf Feststellung erheben, dass das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst ist, § 4 S. 1 KSchG. Diese Frist ist zum Zeitpunkt der anwaltlichen Beratung am 4.11.2019 noch nicht abgelaufen. [Die Arbeitnehmereigenschaft der N hätte genauso schon im Zusammenhang mit § 623 BGB thematisiert werden können. Dort war die Anforderung der schriftlichen Kündigungserklärung, die nach § 623 BGB nur bei einem Arbeitsverhältnis einzuhalten ist, aber ohnehin erfüllt.]

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Fall 7 „Examen erforderlich“

3. Einhaltung der Kündigungsfrist Weiterhin ist zu prüfen, ob die Kündigungsfrist eingehalten worden ist. In dem Vertrag zwischen N und G-e.V. ist keine Kündigungsfrist vereinbart, sodass auf die gesetzlich festgelegten Kündigungsfristen zurückzugreifen ist. Der Vorstand des G-e.V. beruft sich auf die Kündigungsfrist des § 621 Nr. 3 BGB. Diese wäre aber nur anwendbar, wenn das zwischen N und G-e.V. geschlossene Vertragsverhältnis kein Arbeitsverhältnis ist. Die Kündigungsfrist von Arbeitsverhältnissen ist hingegen in § 622 BGB geregelt. Für ein Arbeitsverhältnis, das mehr als fünf, aber noch keine acht Jahre bestanden hat, beträgt sie zwei Monate zum Ende eines Kalendermonats, § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB. Die Frist beginnt mit dem Zugang der Kündigungserklärung. Fraglich ist, wann die Kündigungserklärung des G-e.V. rechtzeitig gegenüber N wirksam geworden ist, also die Kündigungsfrist gewahrt ist. Nach § 130 Abs. 1 BGB wird eine unter Abwesenden abgegebene Willenserklärung wirksam, wenn sie dem Empfänger zugeht. Eine Willenserklärung ist dem Empfänger i.S.d. § 130 Abs. 1 BGB zugegangen, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt und für den Empfänger unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von dem Inhalt des Schreibens Kenntnis zu nehmen. B hat das Kündigungsschreiben auf Anweisung des V am 31.10.2019 um 20.00 Uhr in den Briefkasten der N geworfen. Bei Annahme dieses Zugangszeitpunkts wäre die Kündigungserklärung rechtzeitig mit Wirkung zum 31.12.2019 erfolgt. Nach der Verkehrsanschauung kann aber nicht erwartet werden, dass N zu dieser späten Uhrzeit noch in ihren Briefkasten schaut. Daher ist die Kündigungserklärung des G-e.V. gegenüber N nicht am 31.10.2019 wirksam geworden. Nach der allmorgendlichen Postzustellung am 1.11.2019 (oder 2.11.2019, insoweit der 1.11.2019 ein regionaler Feiertag ist) konnte von N erwartet werden, dass sie von der Kündigungserklärung in ihrem Briefkasten Kenntnis nahm. Dies ist auch tatsächlich erfolgt. Daher ist das Kündigungsschreiben des G-e.V. der N am 1. oder 2.11.2019 zugegangen. Damit ist die Frist von zwei Monaten zum Monatsende jedoch nicht eingehalten, sodass bei Annahme dieses Zugangszeitpunktes die Kündigung nicht zum 31.12.2019 wirksam werden konnte. Bei fehlerhaft zu kurzer Kündigungsfrist ist die Kündigungserklärung nach §§ 133, 157 BGB so auszulegen, dass die Kündigung dann für den nächsten zulässigen Termin wirksam werden soll. Anhaltspunkte, die dafür sprechen, dass der G-e.V. wirklich ausschließlich zum 31.12.2019 und nicht zu einem späteren, nächstmöglichen Zeitpunkt kündigen wollte, sind nicht ersichtlich. Das gleiche gilt, wenn man dogmatisch nicht den Weg über §§ 133, 157 BGB, sondern über die Umdeutung nach § 140 BGB wählt. K Kontext: Die maßgeblichen Regeln zur Kündigungsfrist ergeben sich aus § 622 BGB. Rechtsfolge bei fehlerhaft zu kurzer Kündigungsfrist ist deren Verlängerung auf das zulässige Datum durch Auslegung nach §§ 133, 157 BGB oder Umdeutung nach § 140 BGB. Die nicht fristgemäß ausgesprochene Kündigung gilt damit als zum nächstmöglichen Termin erklärt, dies ist hier das Ende des nächsten Kalendermonats, also der 31.1.2020.

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„Examen erforderlich“ Fall 7

4. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe Allgemeine Unwirksamkeitsgründe für die Kündigung sind nicht ersichtlich. K Kontext: Kommt ein allgemeiner Grund für die Unwirksamkeit einer Kündigung in Betracht, wird der Sachverhalt hier deutliche Hinweise enthalten. Für Prüfungsarbeiten sind Detailkenntnisse entbehrlich. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe sind kollektivoder individualvertragliche Kündigungsverbote, das Maßregelungsverbot nach § 612a BGB, gesetzliche Kündigungsverbote nach § 134 BGB (i.V.m. Normen zum Schutz von bestimmten Gruppen von Arbeitnehmern oder zum Schutz in bestimmten Situationen z.B. § 613a Abs. 4 S. 1 BGB, § 4 TzBfG, § 11 TzBfG, § 41 S. 1 SGB VI, § 22 Abs. 2 BBiG, § 20 BetrVG, § 26 S. 2 MitbestG, § 26 ArbGG, § 20 SGG, § 7 Abs. 1 AGG außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG, dazu Fall 18), Zustimmungserfordernisse insbesondere bei der Kündigung von Schwerbehinderten (§ 168 SGB IX) und von Mitgliedern betrieblicher Mitbestimmungsgremien (§§ 15 f. KSchG, 103 BetrVG), Verletzung des Anzeigeerfordernisses bei Massenentlassungen nach § 17 KSchG, die sittenwidrige Kündigung nach § 138 BGB, die treuwidrige Kündigung nach § 242 BGB (selten!) und die Kündigung wegen der Gewerkschaftszugehörigkeit, Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG.

5. Anhörung des Betriebsrats Die Wirksamkeit der Kündigung scheitert auch nicht an der fehlenden Anhörung des Betriebsrats (§ 102 BetrVG). Bei der Privatschule ist kein Betriebsrat eingerichtet, sodass schon aus diesem Grund kein Anhörungserfordernis besteht. K Kontext: Voraussetzung einer ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrats nach § 102 BetrVG ist (1) ein bestehender Betriebsrat – besteht er nicht, muss ein Betriebsrat vor einer Kündigung auch nicht angehört werden. (2) Das Anhörungserfordernis bezieht sich auf alle Arten der Kündigung, nicht aber auf Anfechtung, Aufhebungsvertrag oder Befristungsende. (3) Der Inhalt der dem Betriebsrat mitzuteilenden Informationen bestimmt sich nach dem „Grundsatz der subjektiven Determinierung“, nach dem die Gründe zu nennen sind, die vom Arbeitgeber als ausschlaggebend für die Kündigung angesehen worden sind, daneben aber auch Personalien, Kündigungsart, Kündigungstermin, Kündigungsfrist und Sozialdaten. Der Betriebsrat ist nur dadurch in der Lage, eine qualifizierte Stellungnahme abzugeben. (4) Die Unterrichtung muss vor Abgabe der Kündigungserklärung erfolgen, (5) Adressat aller Erklärungen ist der Vorsitzende des Betriebsrats oder bei Verhinderung sein Vertreter, § 26 Abs. 2 S. 2 BetrVG. Die Anhörung des Betriebsrats ist nach § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG Wirksamkeitsvoraussetzung für den Ausspruch einer Kündigung. Die Kündigung ist auch unwirksam, wenn die Anhörung zwar formal stattgefunden hat, aber inhaltlich fehlerhaft oder unzureichend ist. Dagegen hängt die Wirksamkeit der Kündigung nicht von der Zustimmung des Betriebsrats zur Kündigung ab, widerspricht er, verbessert das die Rechtsstellung des gekündigten Arbeitnehmers aber insoweit, als er nach § 102 Abs. 5 BetrVG während des laufenden Kündigungsschutzprozesses vor dem Arbeitsgericht auch nach Ende der Kündigungsfrist vorerst weiter zu beschäftigen ist.

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Fall 7 „Examen erforderlich“

6. Soziale Rechtfertigung nach § 1 KSchG Die Kündigung gegenüber N könnte gemäß § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam sein, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. a) Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes Dafür müsste das Kündigungsschutzgesetz zunächst anwendbar sein. Das Kündigungsschutzgesetz ist gemäß §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 S. 2, 3 KSchG anwendbar, wenn der Betroffene als Arbeitnehmer bereits mindestens sechs Monate in einem Betrieb beschäftigt ist und bestimmte Schwellenwerte eingehalten werden. Für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis nach dem 31.12.2003 begonnen hat, findet das KSchG nur Anwendung, wenn in der Regel mehr als zehn Arbeitnehmer in dem Betrieb beschäftigt werden, § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG. Bei dem G-e.V. sind außer der N noch zwölf weitere vollzeitbeschäftigte Lehrkräfte beschäftigt. N ist auch länger als sechs Monate bei G-e.V. beschäftigt. Daher ist das Kündigungsschutzgesetz im vorliegenden Fall persönlich und sachlich für sie anwendbar. K Kontext: Der Anwendungsbereich des Kündigungsschutzes nach dem KSchG (nicht aber die Präklusion der §§ 4 S. 1, 7 KSchG) setzt voraus (1) Arbeitnehmereigenschaft mit Ausnahmen in § 14 KSchG, (2) Ablauf der Wartezeit in § 1 Abs. 1 KSchG, der 6 Monate ununterbrochenen Beschäftigung im selben Betrieb oder Unternehmen und (3) eine Mindestbetriebsgröße nach § 23 Abs. 1 S. 2–4 KSchG. In Kleinbetrieben findet der Kündigungsschutz nach dem KSchG keine Anwendung, nur ein Mindestschutz vor willkürlichen Kündigungen auf Grundlage von § 242 BGB (näher Fall 13).

b) Kündigungsgrund Nach § 1 Abs. 2 KSchG ist eine Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. Fraglich ist daher, ob der G-e.V. sich im vorliegenden Fall auf einen gesetzlich anerkannten Kündigungsgrund berufen kann. aa) Betriebsbedingte Kündigung Die Kündigung der N könnte als betriebsbedingte Kündigung sozial gerechtfertigt sein. Eine betriebsbedingte Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 2, 3 KSchG sozial gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber eine unternehmerische Entscheidung trifft, durch die die Beschäftigungsmöglichkeit eines Arbeitnehmers dauerhaft wegfällt (betriebliches Erfordernis), der Arbeitnehmer weder auf einem anderen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden kann noch sonstige mildere Mittel statt der Kündigung möglich sind (Dringlichkeit) und der Arbeitgeber eine fehlerfreie Sozialauswahl durchführt. Unter einer unternehmerischen Entscheidung ist die Bestimmung der Unternehmenspolitik zu verstehen, die der Geschäftsführung zugrunde liegt. Die unternehmerische Entscheidung des G-e.V. liegt in dem Entschluss, zukünftig nur noch voll ausgebildete Lehrkräfte zu beschäftigen. Die Kündigungserklärung selbst kann nicht als unternehmerische Entscheidung betrachtet werden. Vielmehr handelt es sich bei der unternehmerischen Ent-

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scheidung stets um eine Reaktion des Arbeitgebers auf außerbetriebliche oder innerbetriebliche Umstände. Grund für die Kündigung ist der von G-e.V. befürchtete Schülerrückgang bei der weiteren Beschäftigung nicht voll ausgebildeter Lehrer. Folglich beruht die unternehmerische Entscheidung des G-e.V., in Zukunft nur noch voll ausgebildete Lehrer zu beschäftigen, auf der Gefahr des Auftragsmangels und somit auf einem außerbetrieblichen Umstand. Außerbetriebliche Umstände können in zweierlei Hinsicht für eine betriebsbedingte Kündigung ursächlich sein. Denkbar ist zum einen, dass der Arbeitgeber die Zahl der benötigten Arbeitskräfte in seinem Betrieb unmittelbar vom Umfang des Arbeitsaufkommens abhängig macht und durch den Ausspruch einer Kündigung lediglich den Personalbestand dem rückläufigen Arbeitsaufkommen anpassen will, ohne dass mit dem Personalabbau weitere Änderungen der innerbetrieblichen Organisation verbunden sind. In diesem Fall liegt der Kündigung eine sog. selbstbindende Unternehmerentscheidung zugrunde, die unmittelbar zum Wegfall von Arbeitsplätzen führt. Zum anderen kann der Arbeitgeber lediglich gestaltend innerbetriebliche Umstrukturierungen durchführen. Der Anlass hierfür kann dabei auch außerhalb des Betriebs liegen. Der Wegfall von Arbeitsplätzen ist dann die unmittelbare Folge dieser gestaltenden Unternehmerentscheidung und ist nur mittelbar auf die jeweiligen außerbetrieblichen Ursachen zurückzuführen. Von der Frage, ob sich die unternehmerische Entscheidung des Arbeitgebers in einer Selbstbindung erschöpft oder gestaltender Natur ist, hängt entscheidend der Umfang der Darlegungs- und Beweislast ab, die dem Arbeitgeber gemäß § 1 Abs. 2 S. 4 KSchG obliegt. So muss der Arbeitgeber, der eine selbstbindende Unternehmerentscheidung getroffen hat, nachweisen, dass die außerbetrieblichen Ursachen, die zum Wegfall des Arbeitsplatzes geführt haben, tatsächlich vorliegen. Trifft der Arbeitgeber eine gestaltende Unternehmerentscheidung, so muss er lediglich den Kausalzusammenhang zwischen der innerbetrieblichen Umgestaltung und dem Wegfall des Arbeitsplatzes nachweisen. Die außerbetrieblichen Ursachen, die ihn zu seiner Entscheidung motiviert haben, muss er hingegen nicht beweisen. Die Entscheidung des G-e.V. ist im vorliegenden Fall darauf beschränkt, die nicht voll ausgebildete Lehrkraft N zu entlassen. Änderungen der Betriebsorganisation sind hiermit nicht verbunden. So werden weder die Fächer, in denen Unterricht erteilt wird, noch die Zahl der Unterrichtsstunden in den jeweiligen Fächern noch die Zahl oder die Größe der Klassen verändert, sodass die von der Schule erbrachte Leistung gleich bleibt. Mithin liegt keine gestaltende unternehmerische Entscheidung vor. Somit käme lediglich eine selbstbindende Unternehmerentscheidung in Betracht. Allerdings müsste der G-e.V. dann darlegen, dass die entsprechenden außerbetrieblichen Umstände tatsächlich vorliegen. Maßgeblicher Zeitpunkt hierfür ist der Ausspruch der Kündigung. Im Zeitpunkt der Kündigung haben sich die von G-e.V. aufgeführte schlechte Wirtschaftslage und die hohe Arbeitslosigkeit noch nicht auf den Betrieb in Form des Schülerrückgangs ausgewirkt. Anlass der unternehmerischen Entscheidung des G-e.V., nur noch voll ausgebildete Lehrer zu beschäftigen, ist vielmehr die Befürchtung, dass die Schülerzahlen in Zukunft zurückgehen könnten. Mithin ist im Zeitpunkt der Kündigung noch kein außerbetrieblicher Grund gegeben, der eine betriebsbedingte Kündigung rechtfertigen würde. Die Kündigung durch den G-e.V. kann daher nicht auf dringende betriebliche Erfordernisse i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG gestützt werden.

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Fall 7 „Examen erforderlich“

bb) Personenbedingte Kündigung Die Kündigung der N könnte als personenbedingte Kündigung sozial gerechtfertigt sein. Eine personenbedingte Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt, wenn ein in der Person des Arbeitnehmers liegender Grund zu einer erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher oder vertraglicher Interessen des Arbeitgebers führt, sich diese Beeinträchtigung aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft fortsetzen wird (Negativprognose) und sie weder durch eine Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz noch sonstige mildere Mittel abgewendet werden kann (Ultima-Ratio-Prinzip) und das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt seines Arbeitsplatzes überwiegt (Interessenabwägung). Zweifelhaft ist bereits, ob es sich bei dem fehlenden zweiten Staatsexamen der N um einen in der Person liegenden Kündigungsgrund oder um einen verhaltensbedingten Kündigungsgrund handelt. Gründe in der Person des Arbeitnehmers im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG sind solche, die auf den persönlichen Eigenschaften oder Fähigkeiten des Arbeitnehmers beruhen. Hierzu kann prinzipiell auch die mangelnde Qualifikation des Arbeitnehmers gehören. Entscheidend für die Abgrenzung zwischen personen- und verhaltensbedingtem Kündigungsgrund ist jedoch die Frage, ob das entsprechende Verhalten durch den Arbeitnehmer steuerbar ist. Nur wenn dies zu verneinen ist, kommt das Institut der (verschuldensunabhängigen) personenbedingten Kündigung in Betracht, während ein steuerbares Verhalten nur unter den Voraussetzungen der (verschuldensabhängigen) verhaltensbedingten Kündigung relevant ist. Im vorliegenden Fall ist das Staatsexamen der N bereits sieben Jahre her. Damit dürfte es N zwar schwer fallen, die fehlende Prüfung nachzuholen, doch erscheint dies keineswegs ausgeschlossen. Der Abschluss ihrer Ausbildung ist der N vielmehr im Zeitpunkt der Kündigung objektiv noch möglich. Damit liegt es nahe, von einem steuerbaren Verhalten auszugehen, das prinzipiell nur eine verhaltensbedingte, aber keine personenbedingte Kündigung rechtfertigen kann. Hinzu kommt, dass die fehlende Qualifikation eines Arbeitnehmers nur dann eine personenbedingte Kündigung rechtfertigen kann, wenn hierdurch erhebliche betriebliche oder vertragliche Interessen des Arbeitgebers beeinträchtigt werden. Es müssen konkrete Auswirkungen auf den Betrieb tatsächlich feststellbar sein. Allein eine Gefahr für den Betriebsablauf, die sich bisher nicht realisiert hat, reicht nicht aus. Im vorliegenden Fall hat sich die fehlende Qualifikation der N jedoch in keiner Weise nachteilig auf den von ihr erteilten Unterricht ausgewirkt, sodass konkrete Störungen des Betriebsablaufs nicht eingetreten sind. Auch das berechtigte Interesse des Arbeitgebers am guten Ruf seiner Schule und an der Vermeidung sinkender Schülerzahlen ist bislang nicht beeinträchtigt worden. Bereits aus diesem Grund vermag das fehlende zweite Staatsexamen der N keine personenbedingte Kündigung zu rechtfertigen. Nicht zuletzt ist zu bedenken, dass das allgemeine Verbot widersprüchlichen Verhaltens auch im Bereich des Kündigungsrechts gilt. Daher erscheint es höchst zweifelhaft, ob sich ein Arbeitgeber auf die fehlende formale fachliche Qualifikation berufen kann, wenn er den Arbeitnehmer in Kenntnis dieses Umstandes eingestellt hat und die fehlende formale Qualifikation sich nicht auf die Erbringung der geschuldeten Arbeitsleistung auswirkt. Somit ist die Kündigung der N nicht durch einen Grund in ihrer Person bedingt.

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„Examen erforderlich“ Fall 7

cc) Verhaltensbedingter Kündigungsgrund Die Kündigung der N könnte als verhaltensbedingte Kündigung sozial gerechtfertigt sein. Eine verhaltensbedingte Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt, wenn ein Arbeitnehmer schuldhaft eine Vertragspflicht verletzt, dies zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Interessen des Arbeitgebers führt, sich diese Beeinträchtigung aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft fortsetzen wird (Negativprognose) und nicht durch mildere Mittel, insbesondere durch eine Abmahnung, abgewendet werden kann (UltimaRatio-Prinzip) und das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt seines Arbeitsplatzes überwiegt (Interessenabwägung). Da N tadellos unterrichtet, könnte die für eine verhaltensbedingte Kündigung erforderliche Vertragsverletzung allenfalls darin gesehen werden, dass N ohne zweites Staatsexamen und somit die nötige Lehrbefähigung an der Privatschule unterrichtet. Der G-e.V. wusste allerdings, dass er mit der N eine Lehrerin ohne ausreichende Qualifikation einstellt. Hätte er die N zur Nachholung des fehlenden Examens verpflichten wollen, hätte es einer entsprechenden Vereinbarung bedurft. Da eine solche nicht getroffen worden ist, besteht auch keine Verpflichtung der N, die fehlende Qualifikation nachzuholen. Eine schuldhafte Vertragsverletzung der N ist somit nicht erkennbar. K Kontext: Wird ein Kündigungsgrund prinzipiell bejaht, liegt also bei der verhaltensbedingten Kündigung eine schuldhafte Verletzung vertraglicher Haupt- oder Nebenpflicht, bei der personenbedingten Kündigung eine unverschuldete Nicht- oder Schlechterfüllung arbeitsvertraglicher Pflichten oder bei der betriebsbedingten Kündigung der Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit aufgrund einer unternehmerischen Entscheidung des Arbeitgebers vor, sind jeweils die Prinzipien des Kündigungsrechts bei Arbeitsverhältnissen zu prüfen: Verhaltensbed. K.

Personenbed. K.

Betriebsbed. K.

Erforderlichkeit (ultima ratio)

Grds. Vorrang Abmahnung, entb. wenn (1) Verhaltensänderung nicht zu erwarten oder (2) Pflichtverletzung so schwer wiegt, dass Hinnahme durch AG offensichtlich ausgeschlossen ist (selten)

Mildere Mittel sind insb. Versetzung aufgrd. Weisung (§ 106 GewO) oder Änderungskündigung, § 2 KSchG

(zugleich Dringlichkeit des betr. Erfordernisses) Abbau von Überstunden, Leiharbeit, nicht: Kürzung der Arbeitszeit anderer Arbeitnehmer, Vermutung des § 1 Abs. 5 S. 1 KSchG

Prognose

Kündigung wirkt für Zukunft, daher Wiederholungsgefahr, nicht Strafe für Vergangenheit

Bei Zugang der Kündigung ist zu erwarten, dass der Arbeitnehmer die Arbeitsleistung auch zukünftig nicht vertragsgemäß erbringen kann

Bei Zugang der Kündigung ist zu erwarten, dass der Arbeitsplatz spätestens mit Ablauf der Kündigungsfrist dauerhaft entfallen wird

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Fall 7 „Examen erforderlich“ Verhaltensbed. K.

Personenbed. K.

Betriebsbed. K.

Interessenabwägung

Insb: Beharrlichkeit, Gewicht, Verschulden, Ausmaß Schaden, Mitverschulden, Dauer ungestörter Betriebszugehörigkeit

Grund und Ausmaß der Störung, Betriebszugehörigkeit, Alter, Unterhaltspflichten …

Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3–5 KSchG, einbezogen in den Vergleich werden die Arbeitnehmer desselben Betriebs und derselben betrieblichen Hierarchieebene, die auf einen wegfallenden Arbeitsplatz durch Weisung versetzt werden könnten

Allgemeine Erforderlichkeit

(1) Weiterbeschäftigung auf einem anderen freien Arbeitsplatz (§ 1 Abs. 2 S. 2 KSchG); (2) Änderung der Arbeitsbedingungen (§ 1 Abs. 2 S. 2 KSchG); (3) Zumutbare Umschuldungs- oder Fortbildungsmaßnahmen (§ 1 Abs. 2 S. 3 KSchG)

dd) Zwischenergebnis Die Kündigung ist mangels eines gesetzlich anerkannten Kündigungsgrundes sozial ungerechtfertigt und somit nach § 1 Abs. 1 KSchG rechtsunwirksam.

II. Ergebnis Die Kündigung gegenüber N ist wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Kündigungsschutz aus § 1 KSchG sozial ungerechtfertigt und damit rechtsunwirksam. Sie kann die Fortsetzung des Vertrages über den 31.12.2019 hinaus verlangen. Allerdings muss N die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung innerhalb von drei Wochen, gerechnet ab dem Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung, gerichtlich geltend machen (§ 4 S. 1 KSchG). Erhebt N nicht fristgerecht Klage, gilt die Kündigung gemäß § 7 KSchG als von Anfang an rechtswirksam. K Zur Vertiefung: Zum Arbeitnehmerbegriff s. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 90– 103; Preis/Temming, Individualarbeitsrecht Rn. 146–234. Zur Ordentlichen Kündigung s. Junker Rn. 323–393; Preis/Temming Rn. 2704–3063. Im Einzelnen insbesondere zu den Kündigungsfristen s. Junker Rn. 383–388; Preis/Temming Rn. 2704–2737. Zum Geltungsbereich des KSchG s. Junker Rn. 357–360; Preis/Temming Rn. 2738–2767. Zur betriebsbedingten Kündigung s. Junker Rn. 371–381; Preis/Temming Rn. 2827–2923. Zur personenbedingten Kündigung s. Junker Rn. 365–367; Preis/Temming Rn. 2924– 3000. Zur verhaltensbedingten Kündigung s. Junker Rn. 368–370; Preis/Temming Rn. 3001–3063.

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Fall 8 „Ganzheitliche Begleitung“ A. Falldarstellung K ist seit 2005 in der Petrus Krankenhaus GmbH (100 Mitarbeiter, kein Betriebsrat) als Krankenpfleger (Intensivmedizin) beschäftigt. Am Morgen des 15.10.2019 findet er zu seinem Entsetzen in seinem Personalpostfach ein Schreiben mit folgendem Inhalt: „[…] uns ist bekannt, dass Sie trotz mehrmaliger diesbezüglicher Aufforderung Ihre Tätigkeit als Leichenbestatter nicht eingestellt haben. Mit der fortgesetzten Tätigkeit verstoßen Sie in erheblichem Umfang gegen Ihre Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis. Wir haben Sie in der Vergangenheit bereits fünf Mal aufgefordert, Ihr vertragswidriges Verhalten einzustellen. Wir werden auf eine Fortsetzung Ihres Verhaltens mit dem Ausspruch einer Kündigung reagieren. Dies ist unsere letztmalige Abmahnung […]“. Der nähere Hintergrund der Abmahnung stellt sich wie folgt dar: Seit 2015 arbeitet K für 10 Stunden die Woche in einem Bestattungsunternehmen als Leichenbestatter, ohne die Zustimmung der Krankenhausleitung eingeholt zu haben. Diese erfährt erstmalig von der Nebentätigkeit des K, als der Geschäftsführer „seinen Krankenpfleger“ bei der Bestattung eines Familienmitglieds wiedererkennt. Die Krankenhausleitung reagiert umgehend und mahnt K wegen seiner Nebentätigkeit ab. Insgesamt kommt es in dem Zeitraum von 2015–2019 zu sechs Abmahnungen. Zum Eklat kommt es, als der Geschäftsführer des Krankenhauses den K am 24.10.2019 in der Tageszeitung auf einem Foto erkennt, das anlässlich des 75-jährigen Bestehens des Bestattungsunternehmens alle Mitarbeiter zeigt. Daraufhin wird K, der sich seit dem 26.10.2019 in Spanien im Urlaub befindet, am 28.10.2019 per Brief verhaltensbedingt unter Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist gekündigt. Erst am 25.11.2019 kehrt K – was die Krankenhausleitung wusste – aus dem Urlaub zurück und nimmt von dem Brief, der bereits am 29.10.2019 in seinen Briefkasten geworfen wurde, Kenntnis. Unmittelbar sucht er einen Rechtsanwalt auf und fragt, ob es Sinn mache, Kündigungsschutzklage gegen die Kündigung zu erheben. Zur Information des Anwalts hat er einen Auszug aus den Arbeitsrichtlinien des Krankenhauses mit folgendem Inhalt mitgebracht: „Die Ausübung einer Nebentätigkeit ist grundsätzlich zulässig. Über die Aufnahme derselben ist die Krankenhausleitung zu unterrichten. Unzulässig allerdings ist eine Nebentätigkeit, wenn dadurch die Arbeitskraft der Mitarbeiter oder berechtigte Interessen des Krankenhauses erheblich beeinträchtigt werden.“ Am 26.11.2019 erhebt K vor dem örtlich zuständigen Arbeitsgericht Klage und beantragt festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 28.10.2019 nicht aufgelöst worden ist. Gleichzeitig stellt er einen Antrag auf nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage.1 Frage: Wie wird das Gericht über die Kündigungsschutzklage entscheiden?

1 Der Fall ist inspiriert von BAG 28.2.2002 DB 2002, 1560.

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Fall 8 „Ganzheitliche Begleitung“

Oktober 2019 M D M D F S 1 2 3 4 5 7 8 9 10 11 12 14 15 16 17 18 19 21 22 23 24 25 26 28 29 30

S 6 13 20 27

November 2019 M D M D F S S 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Schwierigkeitsgrad: Umfangreicher Einführungsfall zur Kündigungsschutzklage Rechtsfragen: Zulassung verspäteter Klage nach § 5 KSchG, Zulässigkeit einer Kündigungsschutzklage, Zugang einer Kündigung während Urlaubsabwesenheit, verhaltensbedingte Kündigung, Nebentätigkeitsverbote, Mehrfachabmahnung

B. Lösungsskizze I.

Zulässigkeit der Kündigungsschutzklage (+) 1. Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit 2. Örtliche Zuständigkeit/Parteifähigkeit/Prozessfähigkeit 3. Statthafte Klageart: Kündigungsschutzklage als besondere Form der Feststellungsklage 4. Feststellungsinteresse 5. Klagefrist: keine prozessrechtliche Klagefrist; § 4 KSchG als materiell-rechtliche Ausschlussfrist

II. Begründetheit der Kündigungsschutzklage 1. Kündigungserklärung (+) Zugang am 29.10.2019 trotz bekannter urlaubsbedingter Abwesenheit 2. Klagefrist gemäß §§ 4, 5, 7 KSchG Ablauf der Frist des § 4 KSchG am 19.11.2019; Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage nach § 5 KSchG a) Zulässigkeit des Antrags (+) aa) Verbindung von Zulassungsantrag und Klageerhebung gemäß § 5 Abs. 2 S. 1 KSchG bb) Wahrung der Zwei-Wochen-Frist des § 5 Abs. 3 S. 1 KSchG b) Begründetheit des Antrags: Sorgfalt für rechtzeitige Klageerhebung eingehalten? (+) – Grundsatz: nachträgliche Klagezulassung bei Fristversäumnis wegen urlaubsbedingter Abwesenheit – Ausnahme: Arbeitnehmer musste mit Kündigung rechnen, hier (–), Antrag daher begründet (a.A. vertretbar) 70

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„Ganzheitliche Begleitung“ Fall 8

3. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe 4. Kündigungsschutz nach dem KSchG Verhaltensbedingte Kündigung gem. § 1 Abs. 2 KSchG a) Vertragspflichtverletzung aa) Keine Verletzung von Hauptpflichten bb) Verletzung von Nebenpflichten; hier: Ausübung einer Nebentätigkeit entgegen einem Nebentätigkeitsverbot (1) Grundsatz: Unwirksamkeit genereller Nebentätigkeitsverbote, Arg.: Art. 12, 2 Abs. 1 GG (2) Ausnahme: Zulässigkeit bei berechtigtem Interesse des Arbeitgebers – Maßgeblicher Aspekt: Tätigkeit als Krankenpfleger knüpft an Erhaltung von Leben und Gesundheit an; Tätigkeit als Leichenbestatter profitiert hingegen von erfolglos gebliebenen Heilungsbemühungen. – Angemessenheit des Verbots auch im Hinblick auf Art. 12 GG wegen geringer Intensität (3) Zwischenergebnis: Nebenpflichtverletzung (+) b) Erforderlichkeit aa) Vorliegen einer Abmahnung (+) – Abmahnungserfordernis (Dokumentations- und Warnfunktion) – Wiederholte Abmahnungen zwischen 2015–2019 bb) Problem der Verbindlichkeit bei Mehrfachabmahnungen – Abgeschwächte Warnfunktion bei Mehrfachabmahnungen aufgrund desselben Verhaltens (Duldungs- und Glaubwürdigkeitsaspekt) – Grundsatz: keine Einschränkung der Kündigungsmöglichkeit bei besonderer Eindringlichkeit der „letzten Abmahnung“ cc) Zwischenergebnis: Verhaltensbedingter Kündigungsgrund (+) c) Negativprognose (+) – Fortgesetzte Ausübung trotz mehrmaliger Abmahnungen d) Interessenabwägung (+) – Zulasten des K: Beharrlichkeit des vorsätzlichen Pflichtenverstoßes III. Ergebnis: Verhaltensbedingte Kündigung wirksam, Kündigungsschutzklage unbegründet

C. Lösungsvorschlag Der Kündigungsschutzklage des K wird stattgegeben, wenn sie zulässig und begründet ist. 71

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Fall 8 „Ganzheitliche Begleitung“

I. Zulässigkeit der Kündigungsschutzklage K Kontext: In den meisten Prüfungssachverhalten ist entweder nicht nach der Zulässigkeit der Kündigungsschutzklage gefragt oder die entsprechenden Prüfungspunkte sind knapp abzuhandeln. Hierfür ist im Wesentlichen die Kenntnis nur einer Handvoll Normen des ArbGG ausreichend (§§ 2 Abs. 1 Nr. 3b, 8, 11, 46 Abs. 2 S. 2, 48 Abs. 1a ArbGG). Spezialwissen ist grds. nicht erforderlich. Das Arbeitsgerichtsverfahren ist aber im Grundsatz ein Zivilprozess mit einigen Besonderheiten, deutlich wird das etwa in § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG: „Für das Urteilsverfahren […] gelten die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über das Verfahren vor den Amtsgerichten entsprechend, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt.“, sodass letztlich die meisten Probleme des Zivilprozesses auch im Rahmen eines arbeitsgerichtlichen Verfahrens geprüft werden können.

1. Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit Indem K und die Petrus Krankenhaus GmbH über die Wirksamkeit der Kündigung vom 28.10.2019 und damit über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses streiten, ist der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG eröffnet. K Kontext: Ist (anders als hier) unklar, ob der Kläger Arbeitnehmer ist, stellt sich das Problem, dass die Arbeitnehmereigenschaft für die Zulässigkeit der Klage nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG, wie auch für die Begründetheit (wegen des Kündigungsschutzes nur für Arbeitnehmer) relevant ist, sog. „doppelrelevante Tatsache“. Der Kläger soll sich hier nicht durch die bloße Behauptung, Arbeitnehmer zu sein, aussuchen können, ob sein Fall vor den Arbeitsgerichten oder den – etwa für freie Dienstverträge zuständigen – ordentlichen Gerichten verhandelt wird. Bei der Lösung sind zwei Fälle zu unterscheiden: (1 – sog. sic-non-Fall) Wird die Klage allein auf Gründe gestützt, die die Arbeitnehmer-Eigenschaft voraussetzen (z.B. wg. § 1 KSchG die Sozialwidrigkeit der Kündigung) genügt für die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte die bloße Behauptung der Arbeitnehmereigenschaft, da diese ohnehin (materiell) zu prüfen sind und eine Verweisung nach §§ 48 ArbGG, 17–17b GVG an die ordentlichen Gerichte nicht prozessökonomisch ist. (2) Wird die Klage sowohl auf arbeits- als auch auf bürgerlich-rechtliche Gründe gestützt (insb. § 626 BGB, der für Arbeits- und für Dienstverträge gilt), die sich gegenseitig ausschließen (sog. aut-aut-Fall) oder nicht ausschließen (sog. et-et-Fall), ist nach der Rspr. von BAG und BGH im Bestreitensfall schon im Rahmen der Zulässigkeit ein Beweis erforderlich. In Prüfungs-Gutachten ist daher beim Prüfungspunkt „Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit“, wenn die Arbeitnehmereigenschaft zweifelhaft ist, nach knapper Darstellung der beiden Fälle, in Fall 1 nur die (konkludente) Behauptung der Arbeitnehmereigenschaft zu prüfen, in Fall 2 dagegen das materielle Vorliegen der Arbeitnehmereigenschaft.

2. Örtliche Zuständigkeit/Parteifähigkeit/Prozessfähigkeit Von der örtlichen Zuständigkeit des angerufenen Arbeitsgerichts ist laut Sachverhalt auszugehen. K und die Petrus Krankenhaus GmbH sind gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 50 Abs. 1 ZPO, § 13 Abs. 1 GmbHG parteifähig. K ist zudem nach §§ 51, 52 ZPO prozessfähig; 72

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„Ganzheitliche Begleitung“ Fall 8

die Petrus Krankenhaus GmbH muss gemäß § 35 Abs. 1 GmbHG durch ihren Geschäftsführer vertreten werden. K Hinweis: Hier gibt es in Prüfungen kaum spezifisch arbeitsrechtliche Probleme. Die örtliche Zuständigkeit richtet sich gemäß § 46 Abs. 2 S. 2 ArbGG nach den Regeln der ZPO in §§ 12 ff. ZPO, meist kommt es auf den besonderen Gerichtsstand des Arbeitsorts in § 48 Abs. 1a ArbGG an. Die sachliche Zuständigkeit in erster Instanz liegt beim Arbeitsgericht nach § 8 Abs. 1 ArbGG. Für die Parteifähigkeit finden nach § 46 Abs. 2 ArbGG die Regeln des § 50 ZPO Anwendung. Für die Prozessvertretung enthält § 11 ArbGG ein Spezialgesetz zu § 78 ZPO.

3. Statthafte Klageart Fraglich ist, welche die statthafte Klageart ist. Die Klageart bestimmt sich nach dem Klageantrag, der wie jede Prozesshandlung der Auslegung zugänglich ist. K begehrt Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung vom 28.10.2019 aufgelöst worden ist. Damit hat er Kündigungsschutzklage nach § 4 KSchG als besondere Form der Feststellungsklage erhoben. Die Kündigungsschutzklage ist unabhängig von der Anwendbarkeit des KSchG statthafte Klageart. K Hinweis: In arbeitsrechtlichen Prüfungsfällen genügt in aller Regel festzuhalten, dass die Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung begehrt ist und damit die Kündigungsschutzklage nach § 4 KSchG die statthafte Klageart ist. Achtung: Die Kündigungsschutzklage nach § 4 KSchG ist auch dann die richtige Klageart, wenn das KSchG im Übrigen wegen eines Kleinbetriebs i.S.d. § 23 Abs. KSchG keine Anwendung findet oder die Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG noch nicht abgelaufen ist, § 23 Abs. 1 S. 2, 3 KSchG. Geht es ausnahmsweise um Unwirksamkeitsgründe, die den Tatbestand der Willenserklärung „Kündigung“ betreffen (falscher Arbeitgeber, Vertreter ohne Vertretungsmacht etc.) oder ist die Kündigung entgegen § 623 BGB nicht schriftlich erklärt worden, ist (für Prüfungsarbeiten im Übrigen ohne nennenswerte Unterschiede) die allgemeine Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO einschlägig, weil § 4 KSchG eine (form-)wirksame Kündigung voraussetzt.

4. Feststellungsinteresse Grundsätzlich muss für eine Feststellungsklage ein besonderes Feststellungsinteresse bestehen (vgl. § 256 Abs. 1 ZPO). Bei der Kündigungsschutzklage als besondere Feststellungsklage folgt dieses schon daraus, dass ein gekündigter Arbeitnehmer innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 4 S. 1 KSchG Klage erheben muss, um die soziale Rechtfertigung überprüfen zu lassen, da ansonsten nach der zwingenden Rechtsfolge des § 7 KSchG die soziale Rechtfertigung der Kündigung als feststehend gilt. Das erforderliche Feststellungsinteresse ist somit für die Klage des K gegeben. K Kontext: Bei der Kündigungsschutzklage folgt das Feststellungsinteresse ohne die Notwendigkeit eines gesonderten Nachweises aus der Gefahr des materiellen Ausschlus-

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Fall 8 „Ganzheitliche Begleitung“

ses nach § 7 KSchG, bei der allgemeinen Feststellungsklage ist es vom Arbeitnehmer nachzuweisen.

5. Klagefrist Zweifel an der Zulässigkeit der Kündigungsschutzklage könnten insofern bestehen, als K diese erst am 26.11.2019, also knapp vier Wochen, nachdem das Kündigungsschreiben in seinen Briefkasten geworfen worden ist, erhoben hat. Die Kündigungsschutzklage unterliegt jedoch keiner prozessrechtlichen Klagefrist. Bei der Drei-Wochen-Frist des § 4 S. 1 KSchG handelt es sich vielmehr um eine materielle Ausschlussfrist, auf die erst in der Begründetheit einzugehen ist. [Von entsprechenden Ausführungen innerhalb der Zulässigkeit kann daher abgesehen werden.] K Kontext: Anders als etwa im Verwaltungsprozess ist die fristgemäße Klageerhebung bei der Kündigungsschutzklage keine Frage der Zulässigkeit, sondern es tritt bei Fristablauf die unwiderlegliche Vermutung der Rechtswirksamkeit der Kündigung ein.

6. Ergebnis Da auch von einer ordnungsgemäßen Klageerhebung auszugehen ist, ist die Kündigungsschutzklage des K zulässig. K Kontext: Für die ordnungsgemäße Klageerhebung sind nach § 46 Abs. 2 ArbGG die Vorschriften des § 253 ZPO maßgeblich.

II. Begründetheit der Kündigungsschutzklage Die Kündigungsschutzklage ist begründet, wenn das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung vom 28.10.2019 aufgelöst worden ist. 1. Kündigungserklärung Die Kündigung wurde durch den nach § 35 GmbHG vertretungsberechtigten Geschäftsführer nach §§ 623, 126 BGB schriftlich mit Schreiben vom 28.10.2019 erklärt. K Kontext: Beim Punkt „Kündigungserklärung“ kommt es streng genommen nur darauf an, dass überhaupt ein Zugang erfolgt ist, der die Willenserklärung nach § 130 Abs. 1 BGB wirksam macht. Die Klärung, wann genau das der Fall war, kann genauso auch bei Prüfung der materiellen Präklusionsfrist nach §§ 4, 7 KSchG erfolgen. Fraglich ist, wann die Kündigungserklärung dem K zugegangen ist. Die Kündigungserklärung ist nach allgemeinen Grundsätzen zugegangen, sobald sie so in seinen Empfangsbe74

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„Ganzheitliche Begleitung“ Fall 8

reich gelangt ist, dass bei Zugrundelegung normaler Umstände nach der Verkehrsanschauung mit einer Kenntnisnahme zu rechnen ist. An sich ist diese Voraussetzung erfüllt, wenn sich der Kündigungsbrief im Briefkasten des Empfängers befindet, was hier durch Posteinwurf am 29.10.2019 der Fall war. Zweifel könnten vorliegend jedoch insofern bestehen, als K sich im Urlaub befand und somit tatsächlich nicht die Möglichkeit einer Kenntnisnahme bestand. Allerdings entspricht es den allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen (und der ständigen Rechtsprechung des BAG), an der Annahme des Zugangs nach der maßgeblichen Verkehrsanschauung auch dann nichts zu ändern, wenn dem Arbeitgeber bekannt ist, dass der Arbeitnehmer während des Urlaubs verreist ist.2 Dem ist zuzustimmen, arbeitsrechtlichen Besonderheiten hinsichtlich der kurzen Frist des § 4 KSchG können nach § 5 KSchG Rechnung getragen werden. Die Kündigung ist K somit am 29.10.2019 zugegangen. K Kontext: Die Frage, ob ein an den Arbeitnehmer gerichtetes Kündigungsschreiben diesem auch während einer dem Arbeitgeber bekannten Urlaubsabwesenheit zugeht, war früher streitig. Heute besteht weitgehend Einigkeit, dass das der Fall ist. Das Problem kann kurz mit dem Verweis auf die allgemeinen Grundsätze des Zugangs von Willenserklärungen und wegen § 5 KSchG (dazu sogleich) auf das Fehlen arbeitsrechtlicher Besonderheiten, die eine rechtsfortbildende Abweichung gebieten würden, abgehandelt werden.

2. Klagefrist gemäß §§ 4, 5, 7 KSchG Die Klage könnte bereits unbegründet sein, weil K die Klagefrist des § 4 KSchG nicht eingehalten hat. Eine Überprüfung der sozialen Rechtfertigung der Kündigung scheidet von Anfang aus, wenn K die Kündigungsschutzklage nicht innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung erhebt; dann gilt diese gemäß §§ 4 S. 1, 7 KSchG als sozial gerechtfertigt. Der Zugang erfolgte hier am 29.10.2019, nach § 188 Abs. 2 Var. 1 BGB ist die Frist damit mit Ablauf des 19.11.2019 verstrichen. K Kontext: Bei der Fristberechnung, für die die §§ 186 ff. BGB anzuwenden sind, bietet es sich an, den Fristbeginn (Tag nach dem Zugang der Kündigung) zu ignorieren, weil hieran keine Rechtsfolgen anknüpfen. Das entscheidende Fristende für die dreiwöchige Frist des § 4 S. 1 KSchG ist nach § 188 Abs. 2 Var. 1 BGB grds. der Ablauf des Tages, der durch seine Benennung dem Tag des fristauslösenden Ereignisses entspricht. Fristauslösendes Ereignis ist der Zugang der Kündigungserklärung. Eine Verlängerung findet ausnahmsweise statt, wenn das Fristende auf einen Samstag, Sonntag oder staatlich anerkannten Feiertag fällt (§§ 222 Abs. 1 ZPO, 193 BGB oder § 222 Abs. 2 ZPO). K hat hier aber einen Antrag auf Zulassung der Klage gestellt. Das Arbeitsgericht wird dem Antrag des K auf Zulassung der verspäteten Klage stattgeben, wenn dieser gemäß § 5 KSchG zulässig und begründet ist.

2 BAG 16.3.1988 NZA 1988, 875; BAG 24.6.2004 NZA 2004, 1330; vgl. auch BAG 2.3.1989 NZA 1989, 635.

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Fall 8 „Ganzheitliche Begleitung“

a) Zulässigkeit des Antrags K Hinweis: Die Prüfung der Zulassung verspäteter Klagen nach § 5 KSchG illustriert wieder, dass es zwar möglich, aber sinnfrei ist, ein entsprechendes Schema zu memorieren. Eine Technik, sich auch zu wenig gebräuchlichen Normen eine vollständige Prüfungsabfolge zu erarbeiten ist es, einzelne Tatbestandsmerkmale herauszuschreiben, die entsprechenden Stellen im Gesetzestext buchstäblich durchzustreichen, bis nur noch die Rechtsfolge nicht durchgestrichen verbleibt, und dann die herausgeschriebenen Merkmale neu zu ordnen. Für die Neuordnung kann man sich an mehreren allgemeinen Abfolgen orientieren, z.B. erst formell, dann materiell; erst Zulässigkeit, dann Begründetheit; Ordnung nach persönlicher-sachlicher-örtlicher-zeitlicher Anwendungsbereich, dann sonstige Voraussetzungen; erst Grundtatbestand, dann Ausnahmen und Qualifizierungen. aa) Verbindung von Zulassungsantrag und Klageerhebung gemäß § 5 Abs. 2 S. 1 KSchG Die gemäß § 5 Abs. 2 S. 1 Halbs. 1 KSchG regelmäßig erforderliche Verbindung von Zulassungsantrag und Erhebung der Kündigungsschutzklage liegt vor. K hat am 26.11.2019 nicht nur Kündigungsschutzklage erhoben, sondern auch gleichzeitig einen Antrag auf nachträgliche Zulassung der Klage nach § 5 KSchG gestellt. bb) Wahrung der Zwei-Wochen-Frist des § 5 Abs. 3 S. 1 KSchG Nach § 5 Abs. 3 S. 1 KSchG ist der Antrag auf nachträgliche Zulassung nur innerhalb von zwei Wochen nach Behebung des zur Verspätung der Klage führenden Hindernisses zulässig. Das Hindernis ist mit der Rückkehr des K aus dem Urlaub am 25.11.2019 beseitigt. Da K bereits am 26.11.2019 Klage erhoben hat, ist die Zwei-Wochen-Frist des § 5 Abs. 3 S. 1 KSchG somit in jedem Fall gewahrt. Der Antrag des K ist daher zulässig. b) Begründetheit des Antrags Das Arbeitsgericht wird dem Zulassungsantrag durch Beschluss gemäß § 5 Abs. 1 S. 1 KSchG stattgeben, wenn K trotz Anwendung aller ihm nach Lage der Umstände zuzumutenden Sorgfalt verhindert gewesen ist, seine Kündigungsschutzklage innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung zu erheben. Grundsätzlich kann vom Arbeitnehmer nicht verlangt werden, dass er Vorsorge dafür trifft, dass ihm die Post an seinen Urlaubsort nachgesandt wird. Daher ist für den Fall, dass eine Kündigung während des Urlaubs bei Ortsabwesenheit zugeht und der Arbeitnehmer erst bei seiner Rückkehr nach Ablauf der Drei-Wochen-Frist Kenntnis von ihr erlangt, die Klage nachträglich zuzulassen. Eine Ausnahme kommt dann in Betracht, wenn der Arbeitnehmer aufgrund besonderer Umstände damit rechnen muss, dass eine Kündigung während seiner Abwesenheit ausgesprochen wird. Diese Schwelle dürfte hier aber noch nicht überschritten sein. Denn trotz der Geschehnisse, insbesondere des Zeitungsfotos, konnte K nicht sicher sein, dass die Krankenhausleitung eine Kündigung ausspricht. [a.A. vertretbar]

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c) Ergebnis Der Antrag des K auf nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage gemäß § 5 KSchG ist begründet. Folglich wird das Arbeitsgericht ihm stattgeben. Die materielle Präklusionswirkung der §§ 4, 7 KSchG ist damit nicht eingetreten. 3. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe Allgemeine Unwirksamkeitsgründe für die Kündigung sind nicht ersichtlich, insbesondere ist kein Betriebsrat eingerichtet und dessen Anhörung nach § 102 BetrVG daher entbehrlich. 4. Kündigungsschutz nach dem KSchG Die Wirksamkeit der Kündigung und damit ihre soziale Rechtfertigung nach dem KSchG hängen davon ab, ob einer der Kündigungsgründe des § 1 Abs. 2 KSchG vorliegt. Vorliegend kommt nur eine Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen in Betracht. a) Vertragspflichtverletzung Eine Kündigung, die auf Gründe in dem Verhalten eines Arbeitnehmers zurückzuführen ist, setzt zunächst voraus, dass der Arbeitnehmer, hier also K, gegen Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis verstößt. Dies können sowohl Haupt- als auch Nebenpflichten sein. aa) Keine Verletzung von Hauptpflichten Dass K gegen Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis mit der Petrus Krankenhaus GmbH verstoßen hat, insbesondere gegen seine Arbeitspflicht, ist nicht ersichtlich. Dafür, dass sich die Tätigkeit des K als Leichenbestatter nachteilig auf Umfang und Qualität seiner Arbeitsleistung als Krankenpfleger bei der Beklagten auswirkt, fehlen jegliche Anhaltspunkte. Folglich scheidet eine Pflichtverletzung in Bezug auf Hauptleistungspflichten des K aus. bb) Verletzung von Nebenpflichten; hier: Ausübung einer Nebentätigkeit entgegen einem Nebentätigkeitsverbot K könnte indes gegen seine arbeitsvertraglichen Nebenpflichten verstoßen, indem er eine Nebentätigkeit als Leichenbestatter ausübt. (1) Grundsatz: Unwirksamkeit genereller Nebentätigkeitsverbote Die Ausübung einer Nebentätigkeit ist allerdings grundsätzlich zulässig, soweit keine besonderen gesetzlichen, tariflichen oder einzelvertraglichen Beschränkungen bestehen. Dies folgt schon aus der wertsetzenden Bedeutung der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG sowie der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG. Die Ausübung einer Nebentätigkeit allein rechtfertigt daher insofern regelmäßig noch keine Kündigung. Auch die Arbeitsrichtlinien der Beklagten wahren im Übrigen diesen Grundsatz, da sie die Ausübung einer Nebentätigkeit als grundsätzlich zulässig qualifizieren. (2) Ausnahme: Zulässigkeit bei berechtigtem Interesse des Arbeitgebers Ausnahmsweise ist ein Nebentätigkeitsverbot dann zulässig, wenn das Verlangen nach Unterlassung einer Nebentätigkeit auf ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers zurückgeführt

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werden kann. In den Arbeitsrichtlinien des Krankenhauses wird neben der grundsätzlichen Zulässigkeit einer Nebenbeschäftigung lediglich die Ausübung einer solchen Nebentätigkeit für unzulässig erklärt, welche die Arbeitskraft der Mitarbeiter oder berechtigte Interessen des Krankenhauses erheblich beeinträchtigt. Da Anhaltspunkte für eine Beeinträchtigung der Arbeitskraft des K als Krankenpfleger durch seine Nebentätigkeit als Leichenbestatter nicht vorliegen (s.o.), müssten durch die Nebentätigkeit des K somit erhebliche Interessen des Krankenhauses verletzt sein. Ausgangspunkt der diesbezüglichen Prüfung ist das Verständnis der „berechtigten Interessen“ als umfassender Begriff. Ob solche Interessen des Dienstgebers gegenüber dem Interesse des Arbeitnehmers an der Ausübung der Nebentätigkeit den Vorrang genießen, ist nach den Umständen des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Grundrechts der Berufsfreiheit zu entscheiden. Von zentraler Bedeutung bei der Beantwortung der Frage, ob die Nebentätigkeit als Leichenbestatter berechtigte Interessen des Krankenhauses erheblich verletzt, ist, dass K als Krankenpfleger für die Erhaltung von Leben und Gesundheit der ihm anvertrauten Personen Sorge zu tragen hat. In Übereinstimmung mit der allgemeinen Aufgabe des Krankenhauses hat er individuell dazu beizutragen, die Genesung der Patienten zu fördern, alles zu unterlassen, was diesem Ziel abträglich sein könnte und somit auf die baldmöglichste Entlassung der in diesem Sinne erfolgreich Betreuten hinzuwirken. Dem entgegengesetzt knüpft die Tätigkeit als Leichenbestatter an die Erfolglosigkeit unternommener Genesungsbemühungen an. Die Tätigkeit zielt nur noch auf die würdevolle Behandlung eines Toten ab. Zwar kann – schon mangels entsprechender Anhaltspunkte – aus der bloßen Tätigkeit des K als Leichenbestatter keineswegs darauf geschlossen werden, dass er seine Aufgaben als Krankenpfleger nicht mehr ordnungsgemäß ausübt. Entscheidend ist, dass die Tätigkeit als Leichenbestatter an sich bereits geeignet ist, bei Patienten gewisse Befürchtungen oder zumindest Irritationen hervorzurufen. Sie könnten den Eindruck gewinnen, von einem solchen Krankenpfleger nicht in der gebotenen Weise, also ausschließlich zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit, behandelt zu werden. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Entscheidung über eine erhebliche Interessenverletzung in das Grundrecht des K aus Art. 12 Abs. 1 GG hineinwirkt. Dem Krankenhaus drohen durch die den Zielen eines Krankenhauses krass zuwiderlaufende Tätigkeit des K gravierende Nachteile. Die Beschränkung des K hingegen, nicht als Bestatter tätig sein zu dürfen, schränkt die Möglichkeit einer Nebenbeschäftigung nur unerheblich ein. Daraus folgt, dass sich die Beklagte auf berechtigte Interessen für das Verbot der Nebentätigkeit des K als Leichenbestatter stützen kann. (3) Zwischenergebnis K hat durch die Ausübung seiner Nebentätigkeit als Leichenbestatter somit seine Nebenpflichten aus dem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten verletzt. b) Erforderlichkeit Fraglich ist, ob die Kündigung erforderlich war. aa) Vorliegen einer Abmahnung Allgemein anerkannt ist, dass ein Arbeitgeber, der einem Arbeitnehmer verhaltensbedingt kündigen möchte, zunächst Kündigungsandrohungen in Form einer Abmahnung formulieren muss, in denen eine beanstandungsfreie Leistung für die Zukunft eingefordert (Doku78

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mentationsfunktion) und zugleich darauf hingewiesen wird, dass bei Nichtänderung des Verhaltens im Sinne eines Wiederholungsfalls eine Kündigung erfolgen werde (Warnfunktion). Das Erfordernis einer Abmahnung kann auch dem Rechtsgedanken des § 314 Abs. 2 S. 1 BGB als allgemeine Regelung zur Kündigung von Dauerschuldverhältnissen entnommen werden. Diesem Erfordernis ist die Krankenhausleitung an sich in den Jahren 2015–2019 mehrfach nachgekommen, indem sie den K zur Einstellung seiner Nebentätigkeit unter Androhung etwaiger Konsequenzen für den Bestand seines Arbeitsverhältnisses aufgefordert hat. bb) Problem der Verbindlichkeit bei Mehrfachabmahnungen Allerdings könnte die Androhung entsprechender Konsequenzen durch den Umstand entkräftet worden sein, dass K über den Zeitraum insgesamt sechs Mal abgemahnt worden ist. So ist für den Fall, dass einem Arbeitnehmer mehrmals „ernsthafte Konsequenzen“ angedroht worden sind, zu bedenken, dass die Warnfunktion einer Abmahnung erheblich dadurch abgeschwächt werden kann, dass ein Arbeitgeber bei ständig neuen bzw. fortgesetzten Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers stets nur mit einer Kündigung droht, ohne jedoch jemals tatsächliche arbeitsrechtliche Konsequenzen folgen zu lassen. K ist bereits fünf Mal abgemahnt worden. Insoweit erscheint die „Glaubwürdigkeit“ der in der Abmahnung angedrohten Konsequenzen vom 15.10.2019 zumindest fragwürdig. Auf der anderen Seite erscheint es unbillig, einem Arbeitgeber, der besonders duldsam ist, die Möglichkeit einer Kündigung gänzlich abzusprechen. Im Grundsatz muss jedem Arbeitgeber das Recht, ein Arbeitsverhältnis bei berechtigtem Interesse kündigen zu können, erhalten bleiben. Daher bedeutet die mögliche Entwertung des Abmahnungscharakters durch den Ausspruch einer Vielzahl von Abmahnungen nicht, dass bei der Wiederholung bzw. Fortsetzung der Pflichtverletzung überhaupt nicht mehr wirksam gekündigt werden kann. Insbesondere bei geringfügigen Pflichtverletzungen ist ganz allgemein zu bedenken, dass sich der Arbeitgeber bei Arbeitnehmern mit einem hohen sozialen Besitzstand schnell in einem Konflikt zwischen der Notwendigkeit einer Mindestanzahl von Abmahnungen und der Gefahr eines Verbindlichkeitsverlusts derselben befinden kann. Grundsätzlich hat sich jedoch die Einschränkung herausgebildet, dass eine Vielzahl ausgesprochener Abmahnungen der Wirksamkeit einer Kündigung jedenfalls dann nicht entgegensteht, wenn die letzte Abmahnung vor Ausspruch der Kündigung besonders eindringlich gestaltet war. Die besondere Deutlichkeit bzw. Vehemenz der letzten Abmahnung lässt insofern die Verbindlichkeit der zuvor erklärten Abmahnungen wieder aufleben. So liegt es hier: Die Krankenhausleitung nimmt in der Abmahnung selbst auf die zurückliegenden Abmahnungen Bezug und stellt zugleich klar, dass es sich um eine „letztmalige Abmahnung“ handelt und K nunmehr eine letzte Chance zugestanden wird, seine Vertragsverletzung einzustellen. Der Umstand, dass die Krankenhausleitung in der Vergangenheit mehrfach Abmahnungen ausgesprochen hat, ohne K tatsächlich zu kündigen, steht der Wirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung daher nicht entgegen. cc) Zwischenergebnis K ist von der Petrus Krankenhaus GmbH somit wirksam abgemahnt worden. Eine Abmahnung ist daher kein in Betracht kommendes milderes Mittel.

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c) Negativprognose Ferner müsste in Bezug auf weitere Vertragsverletzungen eine negative Prognose möglich sein. Da ein Arbeitnehmer durch den Ausspruch einer Kündigung nicht bestraft werden, sondern das Arbeitsverhältnis nur für die Zukunft aufgehoben werden soll, ist entscheidend, ob die Vertragsstörung so geartet war, dass daraus geschlossen werden kann, der Arbeitnehmer werde seine Vertragspflichten auch zukünftig nicht ordnungsgemäß erfüllen. Eine diesbezügliche Besorgnis lässt sich im vorliegenden Fall schon im Hinblick auf den langjährigen Dauerzustand begründen, den K trotz mehrfacher Abmahnungen durch die Krankenhausleitung nicht behoben hat, indem er seine verbotene Nebentätigkeit fortsetzte. Die Abmahnung dient gerade als Prognosegrundlage in Ansehung einer Fortsetzung des vertragswidrigen Verhaltens. Folglich ist eine Negativprognose bei K gerechtfertigt. d) Interessenabwägung Zur sozialen Rechtfertigung der verhaltensbedingten Kündigung gehört die Unzumutbarkeit der weiteren Beschäftigung des Arbeitnehmers und damit eine Interessenabwägung. Speziell hier sind die maßgeblichen Aspekte schon bei der Abwägung zwischen berechtigten Interessen des K an der Ausübung der Nebentätigkeit und den entgegenstehenden Interessen des Krankenhauses zugunsten des letzteren abgewogen worden. Erschwerend kommt im Rahmen der generellen Interessenabwägung noch die Beharrlichkeit des vorsätzlichen Pflichtverstoßes des K hinzu. Die weitere Beschäftigung des K ist der Petrus Krankenhaus GmbH daher unzumutbar.

III. Ergebnis Die Kündigungsschutzklage des K ist zulässig, jedoch nicht begründet; das Arbeitsgericht wird der Klage nicht stattgeben. K Zur Vertiefung: Zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Klage vor dem Arbeitsgericht s. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 868–878. Zur Kündigungserklärung s. Junker Rn. 324–330; Preis/Temming Individualarbeitsrecht Rn. 2518–2577. Insbesondere zum Zugang der Kündigungserklärung s. Junker Rn. 328–330; Preis/Temming Rn. 2552– 2577. Zur materiell-rechtlichen Ausschlussfrist s. Junker Rn. 331–334; Preis/Temming Rn. 2578–2596. Zur verhaltensbedingten Kündigung s. Junker Rn. 368–370; Preis/Temming Rn. 3001–3063. Zu Nebentätigkeiten s. Junker Rn. 226; Preis/Temming Rn. 1195– 1203. Zur Abmahnung s. Junker Rn. 405–406; Preis/Temming Rn. 3042–3052.

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Teil 2 Fälle, die Semesterabschlussklausuren waren oder sein könnten Fall 9 „Das exklusive Wellnesshotel“ A. Falldarstellung Die nicht tarifgebundene A-GmbH (A) betreibt seit 2009 in Köln ein multifunktionales Wellnesshotel mit angegliederter Saunen- und Thermenlandschaft, zwei Fitnessstudios sowie einem exklusiven Restaurant. Insgesamt beschäftigt A in Köln 170 Mitarbeiter. G ist Geschäftsführerin der A und legt großen Wert auf Mitarbeitermotivation und ein gutes Betriebsklima. Da der Hotelbetrieb boomt, möchte G die Betriebstreue sowie das Engagement der langjährigen Mitarbeiter honorieren. Deshalb teilt G den Mitarbeitern im Januar 2018 durch Aushang am schwarzen Brett Folgendes mit: „Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie aus Anlass Ihrer 5- bzw. 10-jährigen Betriebszugehörigkeit eine Treueprämie als freiwillige Leistung von einem bzw. zwei Monatsgehältern erhalten.“ Aufgrund des Ende Juli 2014 eröffneten Fitnessstudios stehen bald bei 25 % der Belegschaft erstmals die 5-jährigen Dienstjubiläen an. Auch die Anzahl der 10-jährigen Dienstjubiläen im gesamten Hotelbetrieb ist nicht unerheblich. Da die Gästezahlen jedoch seit Einführung der Treueprämie im letzten Jahr zurückgegangen sind, sieht sich G zu Einsparungen gezwungen, da sie befürchtet, dass die A die hohen Jubiläumszahlungen in diesem Jahr nicht verkraften wird. G veranschlagt deshalb im Juni 2019 am schwarzen Brett folgenden Aushang: „Die Mitarbeiter der A werden um Verständnis gebeten, dass die Auszahlung aller Jubiläumsgelder aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage dieses Jahr nicht durchführbar ist. Die 5-jährigen Dienstjubiläen werden daher nicht mehr vergütet. Der dadurch ersparte Betrag wird auf die 10-jährigen Dienstjubiläen verteilt.“ G ist mit ihrem Aushang sehr zufrieden, da sie denkt, so einen großen Anteil der diesjährig anstehenden Zahlungen nach hinten verschieben zu können und angesichts der angespannten Wirtschaftslage auch zur Rettung von Arbeitsplätzen beigetragen zu haben. Fitnesstrainerin F ist jedoch empört, da ihr 5-jähriges Dienstjubiläum angestanden hätte und sie im Vertrauen auf die Jubiläumszahlung diese schon verplant hat. F verlangt daher hartnäckig die Auszahlung ihrer Treueprämie.1 Frage: Hat F einen Anspruch auf Zahlung eines Monatsgehalts bei ihrem 5-jährigen Dienstjubiläum?

1 Dieser Teil ist inspiriert von BAG 24.7.2007 NZA 2008, 40.

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Abwandlung: Da sich insbesondere der hotelinterne Wellnessbereich bei den Gästen größter Beliebtheit erfreut hat, hat die A ab dem Jahr 2012 – ohne dass dies arbeitsvertraglich festgehalten wurde – dem Team der Saunen- und Thermenlandschaft als Urlaubsgeld ein zusätzliches Monatsgehalt im Juli ausgezahlt. Saunameister S ist aufgebracht, als im Juli 2019 kein Urlaubsgeld auf seinem Konto eingeht und er in einem der Gehaltsabrechnung beigefügten Schreiben der A darauf hingewiesen wird, dass die schwere wirtschaftliche Lage sie zu Einsparungen zwinge. Frage 1: Kann S die Auszahlung des Urlaubsgeldes von A verlangen? Frage 2: Wie wäre der Fall zu beurteilen, wenn es im Arbeitsvertrag des S heißt: „Sonstige, in diesem Vertrag nicht vereinbarte Leistungen des Arbeitgebers an den Arbeitnehmer sind freiwillig und jederzeit widerruflich. Auch wenn der Arbeitgeber sie mehrmals und regelmäßig erbringen sollte, erwirbt der Arbeitnehmer dadurch keinen Rechtsanspruch für die Zukunft.“2 Schwierigkeitsgrad: Durchschnittlich schwierige und etwas unterdurchschnittlich umfangreiche Semesterabschlussklausur Rechtsfragen: Gesamtzusage, Sonderzahlungen, AGB-Kontrolle von Freiwilligkeitsvorbehalten, betriebliche Übung

B. Lösungsskizze Ausgangsfall AGL: § 611a BGB i.V.m. dem ursprünglichen Arbeitsvertrag (–) AGL: § 611a BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag i.V.m. einer Gesamtzusage I. Gesamtzusage (+) Definition: Arbeitgeber gibt in allgemeiner Form einseitig bekannt, dass er jedem Arbeitnehmer unter bestimmten Voraussetzungen bestimmte Leistungen gewährt. – Vertragsangebot mit Erklärungstatbestand an jeden Mitarbeiter – Konkludente Annahme bei vorteilhaften Leistungen für Arbeitnehmer nach §§ 145, 147, 151, 133, 157 BGB durch widerspruchslose Weiterarbeit II. Freiwilligkeitsvorbehalt Treueprämie als „freiwillige Leistung“; Freiwilligkeitsvorbehalt wirksam? 1. Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB und Vorliegen von AGB (+) 2. Einbeziehung in den Vertrag: durch Aushang am schwarzen Brett (+) 3. Auslegung: Bloßer Hinweis auf fehlende Verpflichtung oder Ausschluss der Bindung für die Zukunft? 2 Dieser Teil ist inspiriert von BAG 14.9.2011 NZA 2012, 81.

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„Das exklusive Wellnesshotel“ Fall 9

4. Angemessenheitskontrolle Nach § 305c Abs. 2 BGB: Verstoß gegen §§ 307 ff. BGB durch pauschalen Ausschluss vertraglicher Bindung? a) Kontrollfähigkeit i.S.d. § 307 Abs. 3 BGB (+) b) §§ 309, 308 BGB – Echte Freiwilligkeitsvorbehalte mangels (bindend) versprochener Leistung nicht gem. § 308 Nr. 4 BGB unwirksam c) § 307 Abs. 1 S. 2 BGB (Transparenzgebot) – Arbeitnehmer kann durch die Erwähnung von „freiwillig“ nicht erkennen, ob ein Rechtsanspruch auf die Prämie gar nicht erst entsteht bzw. für die Zukunft ausgeschlossen sein soll. d) Rechtsfolge bei unangemessener Benachteiligung, § 306 BGB: Klausel wird nicht Vertragsbestandteil III. Ergebnis: Anspruch auf Zahlung des Jubiläumsmonatsgehalts (+) Abwandlung I. Frage 1: Anspruch des S auf Zahlung des Urlaubsgeldes 1. AGL: Anspruch aus Arbeitsvertrag i.V.m. § 611a BGB i.V.m. betrieblicher Übung a) Dogmatische Grundlage der betrieblichen Übung b) Voraussetzungen der konkludenten Vertragsänderung aa) Angebot – Konkludent durch dreimalige Wiederholung der Leistungsgewährung bb) Annahme – Konkludent durch Annahme des Urlaubsgeldes; Entbehrlichkeit des Zugangs der Annahmeerklärung gem. § 151 S. 1 BGB 2. Ergebnis: Anspruch auf Auszahlung des Urlaubsgeldes (+) II. Frage 2: Anspruch des S auf Zahlung des Urlaubsgeldes AGL: § 611a BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag, modifiziert durch die betriebliche Übung Anspruchsausschluss durch Vorbehaltsklausel? 1. Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB, Vorliegen von AGB, Einbeziehung (+) 2. Angemessenheitskontrolle a) § 307 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und 2 BGB BAG früher: Freiwilligkeitsvorbehalte für Sonderzahlungen jeglicher Art möglich BAG heute: Klausel verstößt gegen das Verbot unangemessener Benachteiligung des § 307 Abs. 1, Abs. 2 BGB, Klausel unwirksam 83

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b) Transparenzgebot, § 307 Abs. 1 S. 2 BGB BAG: Klausel widersprüchlich und deshalb nicht klar und verständlich 3. Ergebnis: Anspruch auf Zahlung des Urlaubsgeldes (+)

C. Lösungsvorschlag Ausgangsfall Ein Anspruch der F gegen die A auf Zahlung einer Treueprämie anlässlich ihrer 5-jährigen Betriebszugehörigkeit in Höhe eines Monatsgehalts resultiert nicht bereits aus § 611a BGB i.V.m. dem ursprünglichen Arbeitsvertrag. Zwar ist von einem wirksamen Arbeitsverhältnis im Sinne des § 611a BGB zwischen F und der A auszugehen. Eine individuelle Vereinbarung im Arbeitsvertrag, welche die Gewährung einer solchen „Treueprämie“ in Höhe eines Monatsgehalts anlässlich des 5-jährigen Dienstjubiläums regelt, besteht aber nicht. Dadurch, dass A im Januar 2018 durch Aushang am schwarzen Brett durch G Treueprämien für Dienstjubiläen in Aussicht gestellt hat, könnte sich ein solcher Anspruch der F vorliegend jedoch aus § 611a BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag i.V.m. einer Gesamtzusage ergeben.

I. Gesamtzusage Eine solche Gesamtzusage liegt vor, wenn der Arbeitgeber in allgemeiner Form einseitig bekannt gibt, dass er jedem Arbeitnehmer unter bestimmten Voraussetzungen bestimmte Leistungen gewährt. Sie enthält mithin einen ausdrücklichen Erklärungstatbestand, der nach herrschender Meinung als Vertragsangebot an jeden einzelnen Arbeitnehmer angesehen wird. Indem G, die als Geschäftsführerin gemäß § 35 Abs. 1 GmbHG zur Vertretung der A befugt ist, durch Aushang am schwarzen Brett erklärte, dass die A fortan jedem Mitarbeiter aus Anlass des 5- bzw. 10-jährigen Dienstjubiläums eine Treueprämie in Höhe von einem bzw. zwei Monatsgehältern zahlen werde, hat sie in diesem Sinne einseitig die Gewährung einer bestimmten Leistung unter bestimmten Voraussetzungen angeboten, also eine Gesamtzusage erklärt. Ein Vertrag über die Leistung der Treueprämien ist jedoch lediglich dann zustande gekommen, wenn F auch das im Wege der Gesamtzusage erklärte Angebot angenommen hätte. Eine ausdrückliche Annahmeerklärung der F ist indes nicht ersichtlich. Nach §§ 133, 157 BGB ist aber die widerspruchslose Weiterarbeit der Arbeitnehmer so zu werten, dass sie ein Angebot in Form einer Gesamtzusage auf eine zusätzliche Leistung konkludent annehmen, der Zugang der Annahmeerklärung ist dabei bei einer so lediglich vorteilhaften Vertragsänderung nach § 151 S. 1 BGB nach der Verkehrssitte nicht zu erwarten und damit entbehrlich. K Kontext: Verschlechternde Änderungsangebote des Arbeitgebers werden hingegen nicht ohne ausdrückliche Annahmeerklärung des Arbeitnehmers wirksam. § 151 S. 1 BGB greift in diesem Fall nicht. Dementsprechend kann sich eine Gesamtzusage auch nur auf den Arbeitnehmer begünstigende Regelungen beziehen.3 A und F haben mithin eine Einigung gemäß §§ 145 ff. BGB hinsichtlich der im Aushang genannten Treueprämien erzielt. 3 ErfK/Preis BGB § 611a Rn. 218.

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II. Freiwilligkeitsvorbehalt Der Entstehung des Anspruchs aufgrund einer Gesamtzusage könnte jedoch entgegenstehen, dass die Treueprämie im Aushang als „freiwillige Leistung“ bezeichnet wurde. Fraglich ist, ob diese Klausel rechtlichen Bestand hat. Sie könnte wegen Verstoßes gegen die §§ 307 ff. BGB gemäß § 306 Abs. 1 BGB unwirksam sein. 1. Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB und Vorliegen von AGB Sowohl der sachliche als auch der persönliche Anwendungsbereich gemäß § 310 Abs. 4 und 1 BGB sind eröffnet. Der Aushang am schwarzen Brett ist darüber hinaus eine vorformulierte Vertragsbedingung i.S.d. § 305 Abs. 1 BGB, die den Mitarbeitern – somit auch der F – gestellt wurde, ohne dass diese selbst gestaltenden Einfluss nehmen konnten und ohne dass die Regelungen im Einzelnen ausgehandelt wurden (vgl. § 310 Abs. 3 BGB). 2. Einbeziehung in den Vertrag Die Allgemeine Geschäftsbedingung müsste auch in den Vertrag einbezogen worden sein. § 310 Abs. 4 S. 2 Halbs. 2 BGB normiert, dass die Einbeziehung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Arbeitsrecht nicht den Beschränkungen der § 305 Abs. 2, Abs. 3 BGB unterliegen. Daher richtet sich die Frage, ob Allgemeine Geschäftsbedingungen wirksam in den Vertrag einbezogen wurden, im Arbeitsrecht ausschließlich nach den §§ 145 ff. BGB. Folglich konnte die fragliche Klausel als Allgemeine Geschäftsbedingung durch Aushang am schwarzen Brett einbezogen werden. Da vorliegend darüber hinaus weder vorrangige Individualvereinbarungen im Sinne des § 305b BGB bestanden haben, noch davon ausgegangen werden kann, dass eine überraschende Klausel gemäß § 305c Abs. 1 BGB vorliegt, wurde die fragliche Klausel wirksam in den durch Gesamtzusage begründeten Vertrag einbezogen. 3. Auslegung Fraglich ist allerdings, wie die vorliegende Klauselformulierung zu verstehen ist. Jeder Inhaltskontrolle hat stets eine Auslegung voranzugehen, um bestimmen zu können, was Prüfungsgegenstand ist. Zu klären ist hier, ob die Klausel überhaupt als Freiwilligkeitsvorbehalt dahingehend zu verstehen ist, dass der Arbeitgeber die Entstehung von Ansprüchen in der Zukunft ausschließen will. Vielmehr kann der bloße Verweis auf die „Freiwilligkeit“ der Leistung ohne den Zusatz, dass „Rechtsansprüche für die Zukunft nicht begründet werden“, so ausgelegt werden, dass der Arbeitgeber mit dem Hinweis auf die „Freiwilligkeit“ lediglich zum Ausdruck bringen will, nicht aus anderen Gründen (Gesetz, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung) zur Leistung verpflichtet zu sein. Der Verweis auf die „Freiwilligkeit“ steht in diesem Fall der Entstehung eines vertraglichen Anspruchs nicht entgegen.4 Zur Vermeidung eines Anspruchs durch Festlegung eines Freiwilligkeitsvorbehalts hätte der Arbeitgeber deutlich machen müssen, dass er sich für die Zukunft durch die Gesamtzusage nicht binden lassen will, was vorliegend nicht erfolgt ist. Nach § 305c Abs. 2 BGB ist jedenfalls für die Zwecke der Inhaltskontrolle

4 BAG 1.3.2006 NZA 2006, 746.

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die für den Klauselgegner ungünstigste Auslegungsmöglichkeit zugrunde zu legen. Denn diese führt am ehesten zu der dem Klauselgegner günstigen Unwirksamkeit der Klausel. K Hinweis: Zur häufig in Prüfungsarbeiten Schwierigkeiten bereitenden Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB siehe Fall 3.

4. Angemessenheitskontrolle Die für die Inhaltskontrolle dahingehend auszulegende Klausel, dass Rechtsansprüche für die Zukunft nicht begründet werden, wäre nicht wirksam, wenn sie den Arbeitnehmer unangemessen im Sinne der §§ 307 ff. BGB benachteiligt. a) Kontrollfähigkeit i.S.d. § 307 Abs. 3 BGB Als einseitiges Leistungsbestimmungsrecht modifiziert ein Freiwilligkeitsvorbehalt die Hauptleistungsabrede – hier die kontrollfreie Zusage einer Jubiläums-Sonderzahlung – und ist daher kontrollfähig i.S.d. § 307 Abs. 3 S. 1 BGB. b) §§ 309, 308 BGB § 308 Nr. 4 BGB als einziges in Betracht kommendes besonderes Klauselverbot ist nicht einschlägig, weil es nicht um die Änderung versprochener Leistungen geht, sondern um die Frage, ob die entsprechende Leistung versprochen ist. c) § 307 Abs. 1 S. 2 BGB (Transparenzgebot) Die Vertragsgestaltung könnte jedenfalls auch gegen das Transparenzgebot gemäß § 307 Abs. 1 S. 2 BGB verstoßen und damit unwirksam sein, wenn sie nicht klar und verständlich ist. Wie gezeigt, kann die Bezeichnung einer Leistung als „freiwillig“ vorliegend derart verstanden werden, dass sich der Arbeitgeber „freiwillig“ zur Erbringung der Leistung verpflichtet, ohne dazu durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Gesetz gezwungen zu sein.5 So gesehen kann aus der Formulierung „freiwillig“ noch kein „Freiwilligkeitsvorbehalt“ gefolgert werden. Jedenfalls ist die Kernaussage der Klausel unklar. Die Klausel ist insoweit intransparent, weil der Arbeitnehmer allein durch die Erwähnung des Wortes „freiwillig“ nicht erkennen kann, dass ein Rechtsanspruch auf die Leistung gar nicht erst entsteht bzw. für die Zukunft ausgeschlossen sein soll.6 Die Klausel verstößt somit gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB. d) Rechtsfolge bei unangemessener Benachteiligung, § 306 BGB Gemäß § 306 Abs. 1 BGB wird eine unwirksame Vertragsbedingung nicht Vertragsbestandteil. Eine geltungserhaltende Reduktion kommt nicht in Betracht, da dem Verwender sonst jegliches Risiko bei der Vorformulierung vorgefasster Vertragswerke abgenommen werden würde. 5 BAG 1.3.2006 NZA 2006, 746. 6 BAG 24.10.2007 NZA 2008, 40.

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„Das exklusive Wellnesshotel“ Fall 9

III. Ergebnis F hat einen Anspruch auf Zahlung eines Monatsgehalts bei Ihrem 5-jährigen Dienstjubiläum aus § 611a i.V.m. Arbeitsvertrag i.V.m. Gesamtzusage.

D. Lösungsvorschlag Abwandlung I. Frage 1: Anspruch des S auf Zahlung des Urlaubsgeldes Möglicherweise hat S gegen A einen Anspruch auf Zahlung eines Urlaubsgeldes in Höhe eines zusätzlichen Monatsgehalts. A und S haben im ursprünglichen Arbeitsvertrag keinen entsprechenden Anspruch vorgesehen. 1. Anspruch aus Arbeitsvertrag i.V.m. § 611a BGB i.V.m. betrieblicher Übung als konkludente Vertragsänderung S könnte jedoch durch die mehrmalige Gewährung der Zulage einen Anspruch auf die Auszahlung des Urlaubsgeldes aus einer konkludenten Änderung des Arbeitsvertrags gemäß §§ 133, 147 BGB im Gewand einer betrieblichen Übung i.V.m. § 611a BGB haben. a) Dogmatische Grundlage der betrieblichen Übung Eine „betriebliche Übung“ wird meist als Rechtsquelle aufgefasst, die Anspruchsgrundlage in den Fällen sein soll, in denen der Arbeitnehmer eine Leistung verlangt, die schon über eine längere Zeit, meist ohne Grundlage im schriftlichen Arbeitsvertrag, vom Arbeitgeber gewährt wurde, die der Arbeitgeber aber in der Zukunft nun nicht mehr gewähren will. Teilweise wird ganz losgelöst von der Rechtsgeschäftslehre behauptet, Grundlage einer solchen betrieblichen Übung sei ein „schützenswertes Vertrauen“ des Arbeitnehmers in die Fortsetzung der Leistungsgewährung („Vertrauenstheorie“). Dieser auf einer Rechtsfortbildung zu § 242 BGB beruhende Ansatz ist schon mangels planwidriger Regelungslücke abzulehnen. Das BAG meint, unter einer betrieblichen Übung sei die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen, aus denen die Arbeitnehmer schließen könnten, ihnen solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden. Dieses als Vertragsangebot zu wertende Verhalten des Arbeitgebers wird von den Arbeitnehmern durch widerspruchslose Inanspruchnahme der Leistung angenommen. Der Zugang der Annahmeerklärung ist gem. § 151 S. 1 BGB als lediglich begünstigende Vertragsänderung entbehrlich. Durch die betriebliche Übung erwachsen vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen („Vertragstheorie“). Genauso könnte man das Phänomen ohne Sonderbezeichnung schlicht als Fall der konkludenten Vertragsänderung verstehen. [Näher zur betrieblichen Übung Fall 5] b) Voraussetzungen der konkludenten Vertragsänderung aa) Angebot Die A-GmbH muss ein Angebot zur Vertragsänderung gemäß § 145 BGB gemacht haben.

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Fall 9 „Das exklusive Wellnesshotel“

Ausdrücklich hat sie nichts erklärt, sie kann aber ein konkludentes Angebot gemacht haben. Dazu muss ihr Verhalten gemäß §§ 133, 157 BGB objektiv und unter Berücksichtigung von Treu und Glauben als Angebot zur Vertragsänderung verstanden werden können, mit der sich die A-GmbH zur dauerhaften Zahlung des Urlaubsgeldes verpflichten will. Bei der Auslegung spielt nach der Rechtsprechung des BAG die Gleichförmigkeit und Häufigkeit der Leistung ebenso eine wesentliche Rolle wie auch die Feststellung, was der Arbeitgeber bei der jeweiligen Zahlung ausdrücklich erklärt. Zur Frage, wie häufig die Leistung erbracht werden muss, damit gemäß § 133, 157 BGB von einem konkludenten Angebot ausgegangen werden kann, ist die dreimalige Wiederholung als Voraussetzung der betrieblichen Übung als Konkretisierung und allgemeine Auslegungsregel heranzuziehen. A hat hier über sieben Jahre hinweg immer als Urlaubsgeld ein zusätzliches Monatsgehalt ausgezahlt. Diese Häufigkeit und Gleichförmigkeit sprechen für ein konkludentes Angebot. Aus der Sicht des Erklärungsempfängers durften diese Umstände als Erklärung der A aufgefasst werden, dass sich die A dauerhaft zur Zahlung eines Urlaubsgeldes verpflichten wollte. Somit ist das Verhalten von A nach den allgemeinen Regeln der §§ 133, 157 BGB unter Berücksichtigung von Treu und Glauben und der Auslegungsregel der dreimaligen Wiederholung aus der betrieblichen Übung als konkludentes Angebot zur Vertragsänderung gemäß § 145 BGB zu verstehen. bb) Annahme S hat ausdrücklich nichts erklärt, das Angebot aber spätestens durch Entgegennahme des Geldes bzw. Abheben vom Konto auch konkludent angenommen (§§ 133, 157 BGB). Der Zugang der Annahmeerklärung ist, weil es sich um eine lediglich begünstigende Vertragsänderung handelt, nach § 151 S. 1 BGB entbehrlich. K Kontext: Das BAG hatte vereinzelt angenommen, dass eine betriebliche Übung durch eine geänderte betriebliche Übung beendet werden kann, indem sich der Arbeitgeber über einen längeren Zeitraum hinweg der betrieblichen Übung widersprechend verhält, konkret sollte durch vorbehaltlose dreimalige Nichtleistung wiederum ein Angebot des Arbeitgebers liegen, das Schweigen des Arbeitnehmers auf die geänderte betriebliche Übung nach Treu und Glauben und nach der Verkehrssitte dürfe der Arbeitgeber als Akzeptierung der geänderten betrieblichen Übung ansehen.7 Dieser Irrweg ist zu Recht aufgegeben.8 Nach der Rechtsgeschäftslehre setzt, selbst wenn man in der Nichtleistung des Arbeitgebers nicht eine bloße Pflichtverletzung, sondern ein verschlechterndes Änderungsangebot nach §§ 133, 157 BGB erblicken wollte, eine Vertragsänderung auch eine Annahme des Arbeitnehmers voraus. In der Nichtbeanstandung der Nichtleistung durch den Arbeitnehmer eine Annahme der Verschlechterung zu sehen, scheint schon ausgeschlossen, jedenfalls aber bedürfte es des Zugangs einer Annahmeerklärung nach § 130 Abs. 1 BGB – diese ist bei belastenden Vertragsänderungen nach der Verkehrssitte gerade nicht nach § 151 S. 1 BGB entbehrlich. Das BAG hat bei der Aufgabe des Konstrukts der negativen betrieblichen Übung etwas umständlich vor allem mit § 308 Nr. 5 BGB argumentiert, dem Verbot fingierter Erklärungen. Um das Schweigen des Arbeitnehmers als Annahmeerklärung ansehen zu können, müsste diese Rechtswirkung von den Parteien vereinbart, also im Sinne des § 308 Nr. 5 BGB fingiert werden. Dies sei hingegen nur unter zusätzlichen Voraussetzungen zulässig, insbesondere einer Fristset7 BAG 26.3.1997 NZA 1997, 1007, 1009; BAG 4.5.1999 NZA 1999, 1162, 1163. 8 BAG 18.3.2009 NZA 2009, 601.

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zung zur Abgabe einer ausdrücklichen Erklärung und der expliziten Aufklärung des Vertragspartners über die Bedeutung seines Schweigens, § 308 Nr. 5 lit. a und b BGB. Der Arbeitgeber kann sich so von einer betrieblichen Übung, wie von jeder anderen vertraglichen Bestimmung auch, nur durch Kündigung oder Änderungskündigung einseitig lösen.

2. Ergebnis Folglich hat S einen Anspruch gegen A auf Auszahlung des Urlaubsgeldes in Höhe eines Monatsgehalts aus einer konkludenten Änderung des Arbeitsvertrags gemäß §§ 133, 147 BGB im Gewand einer betrieblichen Übung i.V.m. § 611a BGB.

II. Frage 2: Anspruch des S auf Zahlung des Urlaubsgeldes S könnte gegen A einen Anspruch auf Zahlung des Urlaubsgeldes aus dem Arbeitsvertrag i.V.m. § 611a BGB haben. Zwischen den Parteien besteht ein wirksamer Arbeitsvertrag. In dem schriftlichen Arbeitsvertrag ist aber keine Regelung enthalten, die A zur Zahlung des Urlaubsgeldes verpflichtet. Auch hier ist es wie bei Frage 1 zu einer Änderung des Arbeitsvertrags durch unter dem Begriff „betriebliche Übung“ zusammengefasste Verhaltensweisen des Arbeitgebers gekommen, mit der eine solche Verpflichtung begründet wurde. Fraglich ist, ob die Vorbehaltsklausel im schriftlichen Arbeitsvertrag, mit der A ja gerade eine Verpflichtung zur Zahlung von zusätzlichen Leistungen ausschließen wollte, den Inhalt der oben festgestellten Vertragsänderung so modifiziert, dass gerade keine Verpflichtung von A entstanden ist, das Urlaubsgeld auch in diesem Jahr zu zahlen. Dann müsste die zitierte Vertragsklausel wirksam sein. Fraglich ist, ob die Klausel den Maßstäben des AGB-Rechts gemäß §§ 305 ff. BGB entsprechen muss. Dazu muss das AGB-Recht überhaupt anwendbar sein. 1. Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB, Vorliegen von AGB, Einbeziehung Sachlicher und persönlicher Anwendungsbereich gemäß § 310 Abs. 4 und Abs. 1 BGB sind eröffnet. Die Klausel in dem Arbeitsvertrag des S ist eine vorformulierte Vertragsbedingung, die ihm von A bei Abschluss des Vertrags gestellt wurde, ohne dass er selbst gestaltenden Einfluss nehmen konnte und ohne, dass die Regelungen im Einzelnen ausgehandelt wurden, §§ 305 Abs. 1, 310 Abs. 3 BGB. Als Vertragsbestandteil wurde die Klausel auch wirksam zwischen den Parteien (jedenfalls konkludent) einbezogen (keine Anwendung von § 305 Abs. 2, Abs. 3 BGB gemäß § 310 Abs. 4 S. 2 BGB). Ebenso wenig liegt eine überraschende Klausel i.S.d. § 305c Abs. 1 BGB vor. Weder handelt es sich bei dem regelmäßig in Arbeitsverträge integrierten Freiwilligkeitsvorbehalt um eine ungewöhnliche Klausel, mit der der Arbeitnehmer nicht rechnen musste, noch befindet sich der Freiwilligkeitsvorbehalt an derart versteckter Stelle im Arbeitsvertrag, dass der Arbeitnehmer nach dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrags nicht vom Vorliegen eines solchen Vorbehalts ausgehen konnte.

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2. Angemessenheitskontrolle Zu untersuchen ist, ob die fragliche Klausel unangemessen benachteiligend ist. Bei der Klausel handelt es sich wie im Ausgangsfall um eine kontrollfähige Vertragsabrede i.S.d. § 307 Abs. 3 BGB. a) § 307 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 und 2 BGB Fraglich ist, ob eine unangemessene Benachteiligung nach § 307 Abs. 1 S. 1 BGB vorliegt. Nach früherer Rechtsprechung des BAG waren Freiwilligkeitsvorbehalte für Sonderzahlungen jeglicher Art möglich, da sie vor allem dem Zweck dienten, die Entstehung einer betrieblichen Übung zu verhindern.9 Das BAG nahm eine Interessenabwägung vor, in der es das Interesse des Arbeitgebers an dem Erhalt der Klausel – und damit seine Bereitschaft, auch weiterhin risikolos Sonderzahlungen gewähren zu können – gegen das Interesse des Arbeitnehmers an der Unwirksamkeit des Vorbehaltes – damit aber auch die Motivation, Sonderzahlung wegen Risikos einer betrieblichen Übung einzustellen – abwog. Das BAG kam zu dem Ergebnis, dass das Interesse des Arbeitgebers letztlich überwiege und es zudem im Interesse des Arbeitnehmers liege, überhaupt eine Sonderzahlung zu bekommen. Diese Rechtsprechung ist zu Recht aufgegeben worden.10 Es bestehen bereits Bedenken, ob ein solcher vertraglicher Vorbehalt dauerhaft den Erklärungswert einer Zahlung, die ohne jeden Vorbehalt und ohne den Hinweis auf die vertragliche Regelung erfolgt, so erschüttern kann, dass der Arbeitnehmer das spätere, konkludente Verhalten des Arbeitgebers entgegen seinem gewöhnlichen Erklärungswert nicht als Angebot zur dauerhaften Leistungserbringung verstehen kann. Ein pauschaler vertraglicher Freiwilligkeitsvorbehalt, der alle zukünftigen Leistungen unabhängig von ihrer Art und ihrem Entstehungsgrund erfassen soll, verstößt überdies gegen den in § 305b BGB bestimmten Vorrang der Individualabrede als auch gegen den allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass vertragliche Regelungen einzuhalten sind. Wenn der Arbeitgeber jede Form der Sonderzahlung unabhängig von ihrem Zweck freiwillig stellen können soll, wird in erheblichem Maße das Synallagma berührt. Auch bei einer Sonderzahlung wie derjenigen des Urlaubsgeldes wird faktisch in das Austauschverhältnis der Parteien eingegriffen. Im vorliegenden Fall bezieht sich der Freiwilligkeitsvorbehalt auf alle sonstigen Sondervergütungen, die nicht vertraglich vereinbart wurden. Damit soll jeglicher Rechtsanspruch auf Leistungen des Arbeitgebers, die nicht im ursprünglichen Arbeitsvertrag vereinbart wurden, ausgeschlossen werden. Wäre die Klausel wirksam, stünde es immer im Belieben des Arbeitgebers, selbst zugesagte Leistungen nicht erbringen zu müssen, während er vom Arbeitnehmer immer dessen vollständige Leistung verlangen könnte. Das widerspricht dem synallagmatischen Charakter des Arbeitsvertrages. Dieser Ausschluss ist somit als den Arbeitnehmer entgegen Treu und Glauben unangemessen benachteiligend anzusehen. Die Klausel verstößt gegen das Verbot unangemessener Benachteiligung des § 307 Abs. 1, Abs. 2 BGB und ist somit gemäß § 307 Abs. 1 S. 1 BGB unwirksam.

9 BAG 30.7.2008 AP BGB § 611 Gratifikation Nr. 274. 10 BAG 14.9.2011 NZA 2012, 81, 84.

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K Kontext: Eine betriebliche Übung bei der Gewährung von Sonderzahlungen zu verhindern, ist aber nicht schwierig11: Es muss bei jeder einzelnen Leistungsgewährung – nicht nur pauschal – deutlich gemacht werden, dass eine Bindung für die Zukunft nicht gewollt ist, etwa mit der Bemerkung auf der Lohnabrechnung: „Das Urlaubsgeld ist eine freiwillige Leistung, die keinesfalls einen Rechtsanspruch für die Zukunft begründet“.

b) Transparenzgebot, § 307 Abs. 1 S. 2 BGB Die Klausel müsste weiterhin dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB genügen. Demnach kann sich eine unangemessene Benachteiligung auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist. Hier ist vor allem problematisch, dass die Klausel im Arbeitsvertrag sowohl besagt, dass zusätzliche Leistungen freiwillig erfolgen, als auch, dass sie jederzeit widerrufen werden können. Es handelt sich dabei um eine Kombination aus Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalt. Zum einen sagt der Arbeitgeber also, dass er Leistungen, die nicht im Arbeitsvertrag vereinbart sind, nicht erbringt, weil er dazu durch irgendeine andere Regelung oder Abrede verpflichtet ist. Auf diese Leistungen soll also gar kein Anspruch des Arbeitnehmers entstehen. Gleichzeitig statuiert aber der Widerrufsvorbehalt, dass der Arbeitnehmer zwar einen Anspruch hat, der Arbeitgeber sich aber vorbehält, die versprochene Leistung einseitig zu ändern.12 Es ist dann nicht erkennbar, ob jede zukünftige Bindung ausgeschlossen oder für den Arbeitgeber die Möglichkeit bestehen soll, sich später wieder von einer vertraglichen Bindung zu lösen. Das gilt erst recht, wenn mehrfach Zahlungen ohne weitere Vorbehalte erfolgen.13 Somit ist die Klausel widersprüchlich und deshalb nicht klar und verständlich. Auch eine Teilung der Klausel in einen wirksamen und einen unwirksamen Teil nach dem so genannten Blue-Pencil-Verfahren ist nicht möglich, weil gerade die Kombination aus Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalt die Klausel widersprüchlich macht. Das Blue-Pencil-Verfahren kann nach dem BAG aber nur angewendet werden, wenn ein abgrenzbarer Teil der Klausel intransparent ist. Eine Aufspaltung der Klausel in zwei – für sich genommen eventuell verständliche – Teile würde gegen das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion gemäß § 306 Abs. 2 BGB verstoßen.14 Die Klausel ist somit unangemessen benachteiligend und unwirksam gemäß §§ 307 Abs. 1 S. 2, 307 Abs. 1 S. 1 BGB und kann somit die konkludent vereinbarte Vertragsänderung nicht verhindern. K Kontext: Freiwilligkeitsvorbehalte haben das BAG mehrfach beschäftigt. In groben Zügen gilt folgendes: (1) laufendes Entgelt kann nicht unter einen Freiwilligkeitsvorbehalt gestellt werden, weil dadurch vom Leitbild (§ 307 Abs. 1 Nr. 1 BGB) des § 611a

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Ausführlich zum Ganzen Preis/Sagan, NZA 2012, 679. BAG 14.9.2011 NZA 2012, 81, 83. BAG 14.9.2011 NZA 2012, 81, 83. BAG 14.9.2011 NZA 2012, 81, 83.

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Fall 9 „Das exklusive Wellnesshotel“

Abs. 2 BGB weit abgewichen wird,15 (2) widersprüchlich und damit intransparent (§ 307 Abs. 1 Nr. 3 BGB) ist eine Kombination von Freiwilligkeits- du Widerrufsvorbehalt, denn ersteres leugnet das Entstehen einer Bindung, zweiteres setzt diese voraus,16 (3) wird einerseits im Arbeitsvertrag ein Anspruch eingeräumt, an anderer Stelle aber bestimmt, dass die Zahlung jeweils freiwillig erfolgt, ist der Vorbehalt intransparent,17 (4) Freiwilligkeitsvorbehalte im Arbeitsvertrag, die das Entstehen einer betrieblichen Übung verhindern sollen, sind ebenfalls nicht geeignet, den Wert der späteren Erklärungen des Arbeitgebers entgegen seinem gewöhnlichen Erklärungswert als Angebot zu entwenden. Eine entsprechende Klausel ist nicht nur intransparent, sondern verstößt auch gegen den Vorrang der Individualabrede (§ 305b BGB).18

3. Ergebnis S hat einen Anspruch auf Zahlung des Urlaubsgeldes aus dem Arbeitsvertrag i.V.m. § 611a BGB gegen A. K Zur Vertiefung: Zur Gesamtzusage s. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 69; Preis/ Temming Individualarbeitsrecht Rn. 679. Zu Sonderzahlungen s. Junker Rn. 233; Preis/ Temming Rn. 1332–1393. Zur betrieblichen Übung s. Junker Rn. 70–75; Preis/Temming Rn. 680–706. Zum Freiwilligkeitsvorbehalt s. Preis/Temming Rn. 1883–1895.

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BAG 25.4.2007 NZA 2007, 853 Rn. 19 f. BAG 8.12.2010 NZA 2011, 628. BAG 24.10.2007 NZA 2008, 40. BAG 14.9.2011 NZA 2012, 81; Preis/Sagan, NZA 2012, 697.

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Fall 10 „Loch in der Kasse“ A. Falldarstellung N ist in der Filiale der G-GmbH, einer Supermarktkette, als Kassiererin beschäftigt. Im Arbeitsvertrag vom 2.1.2019, der einem von der G-GmbH bei Neueinstellungen stets verwendeten Musterarbeitsvertrag entnommen ist, findet sich u.a. folgende Klausel: „Ergibt sich bei der Prüfung der von der Mitarbeiterin geführten Kasse ein Fehlbetrag, ist sie folgendermaßen ausgleichspflichtig: Eine Schadensaufteilung nach dem Verschuldensgrad richtet sich nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen. Im Zweifel ist die Mitarbeiterin für ihren Verschuldensgrad beweispflichtig“. Anlässlich einer am 5.8.2019 durchgeführten Prüfung des Kassenbestandes kommt heraus, dass die von der N geführte Kasse einen Fehlbetrag in Höhe von 500 Euro aufweist. Tatsächlich ergeben Nachforschungen, dass sich ein Unbekannter mit Hilfe des der N anvertrauten Kassenschlüssels Zugang zur Kasse verschaffte. Die Identität dieser Person konnte nie ermittelt werden. Die Geschäftsführerin der G-GmbH bittet N tags darauf in ihr Büro und konfrontiert sie mit diesem Sachverhalt. Dabei beschuldigt sie sie zwar nicht der Unterschlagung, wirft ihr aber grob fahrlässiges Handeln vor, da sie des Öfteren den Kassenschlüssel offen im Ladenlokal habe liegen lassen. N ist über diesen Vorwurf empört. Sie habe den Schlüssel immer sicher in ihrer Tasche verwahrt. Allenfalls habe sie den Schlüssel an einem einzigen Tag, und auch nur für wenige Minuten, aus Versehen offen neben die Kasse gelegt. Für diesen einmaligen Vorfall müsse sie doch wohl nicht haften. Daraufhin weist die Geschäftsführerin auf die Haftungsklausel im Arbeitsvertrag hin und sagt zu der N, dass es „ihr Problem“ sei, wie sie sich entlasten könne. Da ihr dies offenkundig nicht gelänge, fordere die G-GmbH den gesamten Fehlbetrag von ihr zurück. Im weiteren Verlauf des Gesprächs macht die Geschäftsführerin der N klar, dass ihrer Ansicht nach die Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen ihr und der N entfallen sei. Um eine Kündigung zu vermeiden, biete sie der N jedoch den Abschluss eines Aufhebungsvertrages an. Nach kurzer Überlegung willigt N ein und schließt noch im Büro der Geschäftsführerin der G-GmbH einen schriftlichen Aufhebungsvertrag, wonach das Arbeitsverhältnis „in beiderseitigem Einverständnis zum 31.8.2019“ endet. Zwei Tage nach Abschluss des Aufhebungsvertrages kommen N jedoch Zweifel an ihrer Entscheidung. Mit Schreiben vom 13.8.2019 erklärt sie deshalb gegenüber der G-GmbH den „Widerruf“ ihrer „auf den Aufhebungsvertrag vom 6.8.2019 gerichteten Willenserklärung“. Die Geschäftsführerin meint, dass sie der Widerruf nicht zu interessieren brauche und fordert N nochmals zur Zahlung der 500 Euro auf. N wiederum verlangt von der G-GmbH am 1.9.2011, wie bisher beschäftigt zu werden, da das Arbeitsverhältnis fortbestehe.1 Verschiedene Eingaben im Zusammenhang mit dem Aufhebungsvertrag in das Abrechnungssystem der G-GmbH führten dazu, dass die N ihr am 15.8.2019 fälliges Gehalt nicht erhielt. Die N forderte die G-GmbH am 16.8.2019 auf, binnen einer Woche das Gehalt nachzuzahlen. Die Nachzahlung erfolgte am 31.8.2019. Darüber verärgert, verlangt die N

1 Dieser Teil ist inspiriert von BAG 7.2.2019 NZA 2019, 688 Rn. 18 ff.

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Fall 10 „Loch in der Kasse“

am 1.9.2019 gegenüber der G-GmbH die Zahlung der „40-Euro-Verzugspauschale“. Die Geschäftsführerin der G-GmbH meint, die gäbe es im Arbeitsverhältnis nicht.2 Frage: Wie ist die Rechtslage? Bearbeitervermerk: Eine Anfechtung des Aufhebungsvertrags vom 6.8.2019 ist nicht zu prüfen. Schwierigkeitsgrad: Durchschnittlich schwierige und durchschnittlich umfangreiche Semesterabschlussklausur Rechtsfragen: Arbeitnehmerhaftung für Kassenfehlstand, Inhaltskontrolle, Beweislast bei Arbeitnehmerhaftung, Aufhebungsvertrag, Widerrufsrecht eines Aufhebungsvertrags, Arbeitnehmer als Verbraucher, 40-Euro-Verzugspauschale im Arbeitsrecht.

B. Lösungsskizze I. Anspruch G-GmbH gegen N aus § 280 Abs. 1 BGB 1. Bestehen eines Arbeitsvertrages (+) 2. Pflichtverletzung: Nebenpflichtverletzung (§ 241 Abs. 2 BGB) durch zumindest einmaliges Schlüssel liegen lassen 3. Verschulden (+) 4. Schaden: i.H.v. 500 Euro (+) 5. Haftungsmilderung: Grundsätze der eingeschränkten Arbeitnehmerhaftung a) Herleitung b) Anwendungsbereich: Arbeitnehmereigenschaft und betriebliche Veranlassung c) Rechtsfolge: Haftungsteilung Umfang: Abwägung nach Verschuldensgrad aa) Rechtswirksamkeit der Beweislastvereinbarung – Grundsatz: Arbeitgeber ist für Nachweis des Verschuldensgrad des Arbeitnehmers beweispflichtig. – Folge: G müsste für volle Entschädigung (mindestens) grobe Fahrlässigkeit bei N nachweisen – Abweichend: Beweislastumkehr durch Klausel im Arbeitsvertrag – Folge: Beweislast für leichte Fahrlässigkeit und damit Haftungsfreistellung bei N – Maßgeblich: Wirksamkeit der Klausel

2 Dieser Teil ist inspiriert von BAG 25.9.2018 NZA 2019, 121.

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„Loch in der Kasse“ Fall 10

– Verstoß gegen § 619a BGB? Dagegen: § 619a BGB dispositiv, Arg.: Systematik (1) Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB und Vorliegen einer AGB (+) (2) Einbeziehung der AGB (+) (3) Inhaltskontrolle: Verstoß gegen Klauselverbot – Verstoß gegen § 309 Nr. 12 BGB (+) (4) Arbeitsrechtliche Besonderheiten? – Wertung des § 309 Nr. 12 BGB auch im Arbeitsverhältnis zutreffend – Arbeitnehmer strukturell schwächer; Möglichkeiten der Beweisschaffung und -sicherung verringert (5) Zwischenergebnis: Beweislastvereinbarung unwirksam; § 619a BGB anwendbar – G für grobe Fahrlässigkeit beweispflichtig bb) Grad des Verschuldens bei Anwendung des § 619a BGB: leichte Fahrlässigkeit 6. Ergebnis: Anspruch (–) II. Anspruch G-GmbH gegen N aus § 823 Abs. 1 BGB 1. Voraussetzungen (+) 2. Haftungsmilderung (+) 3. Ergebnis: Anspruch (–) III. Anspruch N gegen G-GmbH aus § 611a i.V.m. dem Arbeitsvertrag Anspruchsziel: Weiterbeschäftigung 1. Bestehen eines Arbeitsvertrages (+) 2. Ende des Arbeitsverhältnisses durch Aufhebungsvertrag a) Abschluss des Aufhebungsvertrages am 6.8.2019 (+) b) Unwirksamkeit des Aufhebungsvertrages wegen Widerrufs nach §§ 355, 312b, 312g BGB aa) Verbrauchereigenschaft der N (+) – Dafür: § 13 BGB kann auch Arbeitnehmer erfassen (Wortlautargument) – Dafür: § 491 Abs. 2 Nr. 4 BGB (systematisches Argument) – Dafür: Zweck der Verbraucherschutzbestimmungen ist Schutz der strukturell Unterlegenen (teleologisches Argument) – Dafür: Arbeitnehmer i.d.R. schutzwürdiger als Käufer von (geringwertigen) Sachen (Erst-Recht-Schluss)

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Fall 10 „Loch in der Kasse“

bb) Außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag (–) § 312b Abs. 1 Nr. 1 BGB: Verträge, die bei gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit des Verbrauchers und des Unternehmers an einem Ort geschlossen werden, der kein Geschäftsraum des Unternehmers ist. – Dagegen: Ort des Aufhebungsvertragsabschlusses gerade in Geschäftsraumen der G (Wortlautargument) – Dagegen: Fehlende Vorgaben im Zusammenhang arbeitsrechtlicher Aufhebungsverträge in den Regelungen in §§ 312 ff. BGB (systematisches Argument) – Dagegen: Vorschriften der §§ 312 ff. BGB als Umsetzung der Klauselrichtlinie; Arbeitsverhältnisse kein Regelungsobjekt der Richtlinie (richtlinienkonforme Auslegung) – Dagegen: Verbrauchervertrag soll Lieferung einer Ware oder Erbringung einer Dienstleistung des Unternehmers gegen Zahlung eines Entgelts vom Verbraucher beinhalten (Wille des Gesetzgebers) – Dagegen: Kein situatives Überraschungsmoment; typischer Ort für Vertragsänderungen und -aufhebungen sind Geschäftsräume des Arbeitgebers (teleologisches Argument) 3. Ergebnis: Arbeitsverhältnis endet am 31.8.2019, kein Beschäftigungsanspruch ab 1.9.2019 IV. Anspruch der N gegen die G-GmbH auf Zahlung der Verzugskostenpauschale von 40 Euro aus § 288 Abs. 5 S. 1 BGB 1. Voraussetzungen (+) 2. Anwendbarkeit der Vorschrift im Arbeitsverhältnis: nach Wortlaut, Systematik und Sinn und Zweck (+), a.A. (so das BAG) gut vertretbar 3. Ergebnis: Anspruch auf Verzugspauschale (+)

C. Lösungsvorschlag I. Anspruch G-GmbH gegen N aus § 280 Abs. 1 BGB Die G-GmbH – aktivlegitimiert aufgrund von § 13 Abs. 1 GmbHG – könnte gegen N einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 500 Euro aus § 280 Abs. 1 BGB haben. 1. Bestehen eines Arbeitsvertrages Das für einen vertraglichen Schadensersatzanspruch erforderliche Schuldverhältnis liegt vor, da N und die G-GmbH zum 2.1.2019 einen Arbeitsvertrag geschlossen haben. 2. Pflichtverletzung Die N hat ihre Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis zumindest dadurch verletzt, dass sie – unter Zugrundelegung ihres eigenen Sachvortrags – den Schlüssel zur Kasse an einem Tag 96

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„Loch in der Kasse“ Fall 10

für wenige Minuten offen neben die Kasse gelegt und somit den Zugriff eines Dritten auf das Geld ermöglicht hat. Sie hat dadurch gegen ihre aus § 241 Abs. 2 BGB erwachsende Nebenpflicht, den Arbeitgeber durch Wahrung der Integrität seines an dem Geld in der Kasse bestehenden Eigentums nicht zu schädigen, verstoßen. Dies gilt erst recht, wenn die Behauptung der G-GmbH zutrifft, dass die N den Schlüssel des Öfteren für jeden sichtbar im Ladenlokal liegengelassen habe. 3. Verschulden Die N hat durch ihr Handeln – sowohl nach ihrem eigenen Vortrag als auch nach der Behauptung der G-GmbH – die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen und somit fahrlässig gehandelt (§ 276 Abs. 2 BGB). Ob N nur leicht oder gar grob fahrlässig gehandelt hat, spielt für den Bereich des haftungsbegründenden Verhaltens keine Rolle, da grundsätzlich jede Form von Fahrlässigkeit zur Haftung führt. 4. Schaden Indem die N einem unbekannten Dritten den Zugriff zur Kasse ermöglichte, ist der G-GmbH adäquat-kausal ein Schaden in Höhe des Fehlbetrages von 500 Euro entstanden. Selbst das vorsätzliche Dazwischentreten des unbekannt gebliebenen Dritten unterbricht den Kausalverlauf nicht, weil es sich entsprechend der von der Rechtsprechung des BGH unter dem Stichwort „Herausforderungsfälle“ entwickelten Grundsätze um die typische Folge der pflichtwidrigen Ersthandlung handelt. 5. Haftungsmilderung Zu Gunsten der N könnten jedoch die Grundsätze der Einschränkung der Arbeitnehmerhaftung in entsprechender Anwendung des § 254 BGB eingreifen. a) Herleitung Seit Inkrafttreten des BGB gibt es keine gesetzliche Regelung zur Beschränkung der zivilrechtlichen Totalreparation bei jeder noch so kleinen Sorgfaltspflichtverletzung im Arbeitsverhältnis. Dieser Zustand ist unvereinbar mit der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), das BGB insoweit lückenhaft. Entsprechend bedarf es einer Haftungsmilderung im Arbeitsverhältnis, die vom Gedanken der Verantwortung des Arbeitgebers für die Organisation des Betriebes und die Gestaltung der Arbeitsbedingungen sowie des darin liegenden Betriebsrisikos beherrscht ist. Der Arbeitnehmer kann den vorgegebenen Arbeitsbedingungen weder tatsächlich noch rechtlich ausweichen. Auf Grund des Weisungsrechts bestimmt der Arbeitgeber die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung und prägt zusammen mit der von ihm gesetzten Organisation des Betriebes das Haftungsrisiko für den Arbeitnehmer. Die Mitverantwortung des Arbeitgebers für diese das Schadensrisiko erhöhende Fremdbestimmung rechtfertigt gemäß § 254 BGB analog die Haftungsmilderung für den Arbeitnehmer. [Siehe ausführlich Fall 6]

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Fall 10 „Loch in der Kasse“

b) Anwendungsbereich Die N ist Arbeitnehmerin, der persönliche Anwendungsbereich der Grundsätze der beschränkten Arbeitnehmerhaftung damit eröffnet. N war hinsichtlich ihres schadenstiftenden Verhaltens auch durch ihre das Arbeitsverhältnis zur G-GmbH bestimmende Kassiertätigkeit betrieblich veranlasst. Fraglich ist, ob eine betriebliche Veranlassung nicht mehr vorliegt, wenn die Tätigkeit fehlerhaft erledigt wurde oder sie – wie hier durch das Liegenlassen des Schlüssels – nicht so wie geschehen ausgeübt werden durfte. Dies ist zu verneinen. Der betriebliche Zusammenhang wird nicht dadurch gelöst, dass der Arbeitnehmer bei Durchführung der betreffenden Tätigkeit seine Verhaltenspflichten verletzt. Zwar liegt eine solche Pflichtverletzung typischerweise nicht im Interesse des Arbeitgebers. Dem wird jedoch durch eine entsprechende Haftung des Arbeitnehmers Rechnung getragen. Deshalb reicht es für eine betriebliche Veranlassung, dass die jeweilige Tätigkeit als solche dem betrieblichen Interesse entspricht, auch wenn sie fehlerhaft durchgeführt wird. K Kontext: Geht es um die Haftung für Kassenfehlbestände, fällt häufig der Begriff der „Mankohaftung“. Unter einem Manko versteht man im Arbeitsrecht einen Schaden, den ein Arbeitgeber dadurch erleidet, dass ein seinem Arbeitnehmer anvertrauter Warenbestand eine Fehlmenge aufweist oder sich in einer von seinem Arbeitnehmer geführten Kasse ein Fehlbetrag ergibt.3 Mit der Abkehr vom Merkmal der Gefahrgeneigtheit der Arbeit steht nunmehr fest, dass die Grundsätze des innerbetrieblichen Schadensausgleichs auch im Bereich der Mankohaftung Anwendung finden.4 Eine größere Diskussion ist daher heute entbehrlich. Neben der hier vorliegenden Klausel zur bloßen Beweislastverschiebung bei einem Manko gibt es (oder gab es; die Entscheidungen des BAG dazu sind allesamt älterer Natur) auch Klauseln, nach denen der Arbeitnehmer für ein entstandenes Manko (ohne Klärung der Verschuldensfrage) haften sollte. Zulässig erachtet wird das dann (weil insoweit die Grundsätze der beschränkten Arbeitnehmerhaftung nicht berührt sind), wenn dem Arbeitnehmer eine zusätzliche Mankovergütung gewährt wird und er für Mankos nur bis zur Höhe der Mankovergütung verschuldensunabhängig haften, sodass er dann bei erfolgreicher Verwaltung des Kassenbestands die Chance auf eine zusätzliche Vergütung erhält.5 Andernfalls sind sie, entweder wegen des Verstoßes gegen die vom BAG für zwingend gehaltenen Grundsätze der beschränkten Arbeitnehmerhaftung oder jedenfalls nach §§ 305 ff. BGB unwirksam.

c) Rechtsfolge: Haftungsaufteilung Für den Umfang der Haftung der N kommt es auf das Ergebnis einer Abwägung an, die sich vornehmlich nach dem Grad ihres Verschuldens richtet. Daneben sind nach Maßgabe des konkreten Einzelfalls weitere – wegen der Vielfalt möglicher Schadensursachen nicht als abschließend zu verstehende – Abwägungskriterien zu berücksichtigen.

3 ErfK/Preis § 619a BGB Rn. 28 m.w.N. 4 BAG 22.5.1997, 1279, 1280; BAG 17.9.1998 NZA 1999, 141, 143. 5 BAG 2.12.1999 NZA 2000, 715.

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„Loch in der Kasse“ Fall 10

aa) Rechtswirksamkeit der Beweislastvereinbarung Da der Grad des der N vorzuwerfenden Verschuldens zwischen ihr und der G-GmbH streitig und wegen der Auswirkung auf den Haftungsumfang nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs auch beweiserheblich ist, kommt es darauf an, wer die Beweislast trägt. Ausgangspunkt ist § 619a BGB. Danach hat der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber abweichend von § 280 Abs. 1 S. 2 BGB Schadensersatz für eine Pflichtverletzung aus dem Arbeitsverhältnis nur zu leisten, wenn er die Pflichtverletzung zu vertreten hat. Damit verbleibt es im Bereich der Arbeitnehmerhaftung bei dem Grundsatz, dass der Arbeitgeber nicht nur die objektiven Voraussetzungen der Pflichtverletzung, sondern auch die das Verschulden bedingenden Tatsachen zu beweisen hat. Dies gilt auch für das Maß des Verschuldens des Arbeitnehmers. Folglich wäre die G-GmbH für die Umstände beweispflichtig, welche den Vorwurf grober Fahrlässigkeit der N und somit ihre volle Haftung begründen. Etwas anderes könnte sich jedoch aus der Klausel im Arbeitsvertrag vom 2.1.2019 ergeben, wonach sich die Schadensaufteilung bei Fehlbeträgen in der vom Arbeitnehmer geführten Kasse zwar nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen richtet, die Mitarbeiterin jedoch im Zweifel für ihren Verschuldensgrad beweispflichtig ist. Danach müsste die N beweisen, dass sie allenfalls leicht fahrlässig handelte und ihre Haftung deshalb vollständig ausgeschlossen ist. Wegen der Abweichung von § 619a BGB sowie der Vorformulierung der Vertragsbedingung ist aber problematisch, ob diese Beweislastvereinbarung rechtswirksam ist. Die Beweislastvereinbarung zum Nachteil der N könnte schon gegen § 619a BGB verstoßen und deshalb unwirksam sein. Dies setzt voraus, dass es sich bei § 619a BGB um zwingendes Recht handelt und die Norm daher nicht dispositiv ist. Das ist vorrangig durch Auslegung zu bestimmen. § 619a BGB steht systematisch hinter § 619 BGB. § 619 BGB beschränkt nur die Abdingbarkeit der §§ 617, 618 BGB. Die zwingende Ausgestaltung von § 619a BGB war damit gerade nicht gewollt. Somit ist § 619a BGB selbst dispositiv und steht der vertraglichen Abrede über die Beweislast nicht entgegen. Die Beweislastvereinbarung könnte jedoch nach der AGB-Kontrolle gemäß §§ 305 ff. BGB unwirksam sein. (1) Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB und Vorliegen einer AGB Nach § 310 Abs. 4 S. 1 BGB sind die §§ 305 ff. BGB auf Arbeitsverträge anwendbar. Bei der Klausel muss es sich um eine Allgemeine Geschäftsbedingung i.S.d. § 305 Abs. 1 BGB handeln, also um eine für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingung, die eine Vertragspartei der anderen Vertragspartei bei Abschluss eines Vertrages stellt. Zudem darf keine Individualabrede vorliegen, die Vertragsbedingung daher nicht im Einzelnen ausgehandelt sein. Hier hat die G-GmbH den Arbeitsvertrag vom 2.1.2019 einem Musterarbeitsvertrag entnommen, der bei Neustellungen stets verwendet wird. Folglich liegt mit der betreffenden Klausel eine für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingung (Arbeitsbedingung) vor. Die Klausel ist auch nicht im Einzelnen ausgehandelt worden, da nicht ersichtlich ist, dass die N den Inhalt der Klausel beeinflussen konnte, indem die G-GmbH diese ernsthaft zur Disposition stellte. (2) Einbeziehung der AGB Eine Inhaltskontrolle der Klausel kann nur dann erfolgen, wenn diese Klausel wirksamer Vertragsbestandteil geworden ist. Zweifel aufgrund der zu beachtenden Einbeziehungsvoraus99

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Fall 10 „Loch in der Kasse“

setzungen nach den §§ 145 ff. BGB, und dahin, dass keine vorrangige Individualabrede vorliegt (§ 305b BGB) bzw. die Abrede nicht als überraschende Klausel anzusehen sein darf (§ 305c Abs. 1 BGB), bestehen vorliegend nicht. Folglich steht diese Klausel der Inhaltskontrolle der §§ 307 ff. BGB offen. (3) Inhaltskontrolle: Verstoß gegen Klauselverbot Indem durch die formularmäßige Beweislastvereinbarung entgegen der dispositiven (s.o.) Vorschrift des § 619a BGB die Beweislast für das (Nicht-)Vertretenmüssen der Pflichtverletzung auf die B als Vertragspartner des Verwenders (G-GmbH) zu deren Nachteil verlagert worden ist, liegt ein Verstoß gegen § 309 Nr. 12 BGB vor. Die Vorschrift untersagt jede Änderung der gesetzlichen Beweislast zu Ungunsten des Vertragspartners des Verwenders, also auch ein dem Arbeitnehmer nachteiliges Abweichen von § 619a BGB. (4) Arbeitsrechtliche Besonderheiten? Der Verstoß der Beweislastvereinbarung gegen § 309 Nr. 12 BGB führt aber nur dann zu deren Unwirksamkeit, wenn die im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten, die gemäß § 310 Abs. 4 S. 2 BGB angemessen zu berücksichtigen sind, dem nicht entgegenstehen. Dass die in § 309 Nr. 12 BGB zum Ausdruck kommende Wertung im Arbeitsrecht nicht anwendbar wäre, ist nicht ersichtlich. Der Arbeitnehmer ist zum einen allgemein strukturell schwächer, zum anderen organisiert er anders als der Arbeitgeber nicht den Betrieb und hat daher auch nicht gleichermaßen die Gelegenheit, Möglichkeiten zur Beweisschaffung und -sicherung zu schaffen. § 309 Nr. 12 BGB bringt vielmehr die im Arbeitsrecht bestehende typische Interessenlage zutreffend zum Ausdruck. Folglich stehen arbeitsrechtliche Besonderheiten i.S.d. § 310 Abs. 4 S. 2 BGB der Anwendung des § 309 Nr. 12 BGB auf formularmäßige Beweislastvereinbarungen nicht entgegen. (5) Zwischenergebnis Daraus folgt, dass an die Stelle der vertraglichen Beweislastvereinbarung gemäß § 306 Abs. 2 BGB das dispositive Recht tritt, also hier § 619a BGB. Somit ist die G-GmbH für ihre Behauptung, N habe hinsichtlich des Kassenschlüssels grob fahrlässig gehandelt, beweispflichtig. bb) Grad des Verschuldens bei Anwendung des § 619a BGB Aus dem Sachverhalt ergeben sich keine Hinweise, dass die Behauptung der G-GmbH, N habe des Öfteren den Kassenschlüssel offen im Ladenlokal liegen gelassen, was auf eine besonders grobe Verletzung der verkehrsüblichen Sorgfalt schließen lassen würde, erwiesen ist. Es ist deshalb eine Beweislastentscheidung zu treffen. Diese richtet sich nach § 619a BGB und muss zu Lasten der G-GmbH erfolgen, da sie beweisfällig geblieben ist. Folglich ist davon auszugehen, dass die N nicht grob fahrlässig, sondern – wie sie nach ihrem eigenen Sachvortrag einräumt – allenfalls leicht fahrlässig gehandelt hat. Denn indem sie den Kassenschlüssel an einem einzigen Tag, und auch nur für wenige Minuten aus Versehen neben die Kasse legte, sonst aber stets in ihrer Tasche aufbewahrte, kann ihr nur ein persönlichkeitsuntypisches Augenblicksversagen vorgeworfen werden. Daraus folgt, dass die N in Anwendung der Grundsätze des innerbetrieblichen Schadensausgleichs von jeglicher Haftung freigestellt ist.

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„Loch in der Kasse“ Fall 10

6. Ergebnis Die G-GmbH hat gegen N keinen Anspruch auf Zahlung von 500 Euro aus § 280 Abs. 1 BGB.

II. Anspruch G-GmbH gegen N aus § 823 Abs. 1 BGB Ein Anspruch der G-GmbH gegen N auf Zahlung von 500 Euro könnte sich aus § 823 Abs. 1 BGB ergeben. 1. Voraussetzungen Indem die N den Kassenschlüssel, wenn auch nur für wenige Minuten, offen neben die Kasse legte und somit Dritten den Zugriff auf das in der Kasse liegende Geld ermöglichte, hat sie das Eigentum der G-GmbH an dem Geld verletzt. Dies geschah auch rechtswidrig. N handelte auch fahrlässig. Der G-GmbH ist hierdurch adäquat-kausal ein Schaden in Höhe des Fehlbetrages von 500 Euro entstanden. 2. Haftungsmilderung Allerdings greifen die Grundsätze zur privilegierten Haftung des Arbeitnehmers analog § 254 BGB auch bei deliktischen Ansprüchen ein, erst recht, wenn sie in Anspruchskonkurrenz zu vertraglichen Schadensersatzansprüchen nach § 280 Abs. 1 BGB stehen. Wie bei § 619a BGB im Vertragsrecht, ist der Arbeitgeber auch im Deliktsrecht für alle anspruchsbegründenden Tatsachen voll beweispflichtig. Er muss also auch hier den Grad des Verschuldens beweisen, insbesondere diejenigen Umstände, die eine zur vollen Haftung des Arbeitnehmers führende grobe Fahrlässigkeit begründen. Da die Beweislastvereinbarung auch hier zum Nachteil der N von der gesetzlichen Beweislastverteilung abweicht, ist sie ebenso in Ansehung des Anspruchs aus § 823 Abs. 1 BGB nach § 309 Nr. 12 BGB unwirksam. Die zu Lasten der G-GmbH ergehende Beweislastentscheidung hinsichtlich der nicht nachgewiesenen groben Fahrlässigkeit (s.o.) führt damit auch hier nach den Grundsätzen der beschränkten Arbeitnehmerhaftung zur vollen Haftungsfreistellung der N, weil ihr nach ihrem eigenen Vortrag allenfalls leichteste Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann. Insoweit kann auf die zum vertraglichen Schadensersatzanspruch gemachten Ausführungen Bezug genommen werden. 3. Ergebnis Ein Anspruch der G-GmbH gegen N auf Zahlung von 500 Euro aus § 823 Abs. 1 BGB scheidet somit ebenfalls aus.

III. Anspruch N gegen G-GmbH aus § 611a BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag auf Weiterbeschäftigung N kann von der G-GmbH am 1.9.2019 Beschäftigung verlangen, wenn zwischen den Parteien ein wirksames Arbeitsverhältnis besteht.

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Fall 10 „Loch in der Kasse“

1. Bestehen eines Arbeitsvertrages N und die G-GmbH haben am 2.1.2019 einen Arbeitsvertrag geschlossen. 2. Ende des Arbeitsverhältnisses durch Aufhebungsvertrag Das Arbeitsverhältnis könnte jedoch durch den Aufhebungsvertrag vom 6.8.2019 zum 31.8.2019 beendet worden sein. a) Abschluss des Aufhebungsvertrages am 6.8.2019 Am 6.8.2019 wurde im Büro der Geschäftsführerin der G-GmbH ein Aufhebungsvertrag zwischen N und der G-GmbH geschlossen. Danach sollte das Arbeitsverhältnis zum 31.8.2019 enden. Auch ist das Schriftformerfordernis des § 623 BGB gewahrt worden. b) Unwirksamkeit des Aufhebungsvertrages wegen Widerrufs nach §§ 355, 312b, 312g BGB K Kontext: Die Anfechtung ist nach dem Bearbeitervermerk hier nicht zu prüfen und wäre nach den Informationen des Sachverhalts auch nicht erfolgversprechend gewesen. Prüfungsfälle mit Aufhebungsverträgen sind oft aber so ausgekleidet, dass der Arbeitgeber für den Fall, dass der Aufhebungsvertrag nicht abgeschlossen wird, die fristlose Kündigung ankündigt. Darin liegt für § 123 BGB das Inaussichtstellen eines Übels, also eine Drohung. Diese muss (siehe Fall 2) aber auch widerrechtlich sein. Hier liegt ein beliebter Einstieg in die Inzidentprüfung einer Kündigung, den man ohne Kenntnis der entsprechenden BAG-Rechtsprechung aber kaum finden kann: Widerrechtlich ist die Drohung dann nicht, wenn ein verständiger Arbeitgeber die Kündigung in der gegebenen Situation ernsthaft in Betracht ziehen würde. Würde also die Kündigung mit hoher Wahrscheinlichkeit arbeitsgerichtlicher Überprüfung nicht standhalten, wäre ihre Androhung widerrechtlich.6 Möglicherweise kann N den Aufhebungsvertrag widerrufen. Nach § 355 Abs. 1 BGB wären die Parteien dann nicht mehr an ihre Willenserklärungen gebunden. Ein hier in Betracht kommendes, von § 355 Abs. 1 BGB vorausgesetztes Widerrufsrecht enthält § 312g BGB für außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Verbraucherverträge. aa) Verbrauchereigenschaft der N Nach § 312g Abs. 1 BGB steht dem Verbraucher bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen ein Widerrufsrecht gemäß § 355 BGB zu. Bei N müsste es sich daher um eine Verbraucherin handeln. Nach § 13 BGB ist Verbraucher jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zweck abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbstständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann. N ist eine natürliche Person, die den Aufhebungsvertrag im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses, also gerade einer unselbstständigen Tätigkeit abgeschlossen hat. Dass der Verbraucher etwas „verbrauchen“ muss, ist von § 13 BGB gerade nicht vorausgesetzt. In systematischer 6 BAG 28.11.2007 NZA 2008, 348.

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„Loch in der Kasse“ Fall 10

Hinsicht setzt § 491 Abs. 2 Nr. 4 BGB die Verbrauchereigenschaft des Arbeitnehmers gerade voraus. Und auch nach Sinn und Zweck der Verbraucherschutzbestimmungen des BGB, die dem Schutz des strukturell Unterlegenen dienen, wäre es nicht überzeugend anzunehmen, den Arbeitnehmer gerade im Zusammenhang mit seinem Arbeitsverhältnis weniger zu schützen als denjenigen, der etwa eine geringwertige Sache kauft. Arbeitnehmer allgemein und N im Besonderen sind daher Verbraucher. bb) Außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag Bei dem Aufhebungsvertrag müsste es sich aber auch um einen außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrag handeln. Was außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge sind, regelt § 312b BGB. Nach Abs. 1 Nr. 1 sind das Verträge, die bei gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit des Verbrauchers, hier N, und des Unternehmers, hier der G-GmbH vertreten durch ihre Geschäftsführerin, an einem Ort geschlossen werden, der kein Geschäftsraum des Unternehmers ist. Der Aufhebungsvertrag wurde aber gerade in einem solchen Geschäftsraum, nämlich im Büro der Geschäftsführerin, geschlossen. Dieses Wortlautargument wird unterstützt durch den systematischen Zusammenhang, in dem § 312g BGB steht. Zwar bezieht sich die Überschrift des Untertitels 2 für die Regelungen der §§ 312 ff. BGB einschränkungslos auf Verbraucherverträge und nicht nur auf besondere Vertriebsformen. Unter den Begriff des Verbrauchervertrags (§ 310 Abs. 3 BGB) als Vertrag zwischen Unternehmer und Verbraucher fällt auch der Arbeitsvertrag. Die anderen Regelungen in Untertitel 2 enthalten aber weit überwiegend Vorgaben, die keinen inhaltlichen Bezug zu arbeitsrechtlichen Aufhebungsverträgen aufweisen. Für Wohnraummiete hat der Gesetzgeber, anders als für Arbeitsverhältnisse, in § 312 Abs. 4 BGB auch eine besondere Regelung getroffen. Auch historisch dienen die Vorschriften in §§ 312 ff. BGB vor allem der Umsetzung der Klauselrichtlinie 93/13/EWG, die keine Regelungen für Arbeitsverhältnisse enthält. Entsprechend ging auch der Gesetzgeber davon aus, ein Verbrauchervertrag liege nur vor, wenn sich ein Unternehmer zur Lieferung einer Ware oder Erbringung einer Dienstleistung und der Verbraucher zur Zahlung eines Entgelts verpflichtet. Auch in teleologischer Hinsicht fehlt es am situativen Überraschungsmoment, denn das Büro des Geschäftsführers oder der Personalstelle ist gerade der typische Ort, an dem Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer stattfinden. K Kontext: Auch wenn, anders als hier, der Aufhebungsvertrag nicht im Büro der Geschäftsführerin geschlossen worden wäre, kämen die §§ 312 ff. BGB nach Auffassung des BAG aus den genannten systematischen Gründen nicht zur Anwendung.7 In einer neueren Entscheidung hat das BAG Aufhebungsverträgen aber noch am „Gebot fairen Verhandelns“ gemessen.8 Dieser Aspekt wird zukünftig auch in Prüfungsarbeiten neben der Anfechtung und dem Widerruf bei der Betrachtung der Wirksamkeit von Aufhebungsverträgen zu beachten sein. Bei dem Gebot fairen Verhandelns handele es sich im Zusammenhang mit der Verhandlung eines arbeitsrechtlichen Aufhebungsvertrags um eine durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen begründete Nebenpflicht nach § 311 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB, weil der Aufhebungsvertrag ein eigenständiges Rechtsgeschäft ist. Die aus dem Arbeitsverhältnis stammenden Verpflichtungen zur wechselseitigen Rücksichtnahme gem. § 241 Abs. 2 BGB sollen insoweit auch auf die Verhandlungen hinsichtlich der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausstrahlen. Das 7 BAG 7.2.2019 NZA 2019, 688 Rn. 18 ff.; vgl. zur a.A. Fischinger/Werthmüller, NZA 2016, 193. 8 BAG 7.2.2019 NZA 2019, 688 Rn. 30 ff.; krit. Fischinger, NZA 2019, 729.

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Fall 10 „Loch in der Kasse“

Gebot fairen Verhandelns werde missachtet, wenn die Entscheidungsfreiheit des Vertragspartners in zu missbilligender Weise beeinflusst wird, also wenn eine psychische Drucksituation geschaffen oder ausgenutzt wird, die eine freie und überlegte Entscheidung des Vertragspartners erheblich erschwert oder sogar unmöglich macht (unangenehme Rahmenbedingungen, Ausnutzung körperlicher oder psychischer Schwäche, fehlende Sprachkenntnisse, Überrumpelung – für all das besteht hier im Fall kein Anhaltspunkt). Rechtsfolge einer entsprechenden Pflichtverletzung soll in Form der Naturalrestitution nach § 249 Abs. 1 BGB die Unwirksamkeit des Aufhebungsvertrags sein. cc) Zwischenergebnis Der Aufhebungsvertrag ist damit nicht unwirksam. 3. Ergebnis Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund des Aufhebungsvertrags mit Ablauf des 31.8.2019. N hat somit am 1.9.2011 keinen Beschäftigungsanspruch gegen die G-GmbH.

IV. Anspruch der N gegen die G-GmbH auf Zahlung der Verzugskostenpauschale von 40 Euro aus § 288 Abs. 5 S. 1 BGB Der Anspruch der N gegen die G-GmbH auf Zahlung einer Verzugspauschale in Höhe von 40 Euro könnte sich aus § 288 Abs. 5 S. 1 BGB ergeben. Danach hat der Gläubiger einer Entgeltforderung bei Verzug des Schuldners, wenn dieser kein Verbraucher ist, einen Anspruch auf Zahlung einer Pauschale in Höhe von 40 Euro. 1. Voraussetzungen Bei der G-GmbH als Schuldnerin handelt es sich nicht um einen Verbraucher, sondern um einen Unternehmer im Sinn von § 14 BGB, da sie bei Abschluss des Arbeitsvertrags mit der N als Kassiererin in Ausübung ihrer gewerblichen Tätigkeit, dem Betrieb von Einzelhandelsgeschäften, gehandelt hat. Bei dem Anspruch der N auf Arbeitsentgelt nach § 611a Abs. 2 BGB handelt es sich auch um eine Entgeltforderung. Die G-GmbH befand sich mit der Zahlung des Entgelts auch in Verzug nach § 286 BGB, der zu vertretenden Nichtleistung trotz Fälligkeit, Erfüllbarkeit, Möglichkeit und Mahnung. Fehleingaben im Abrechnungssystem hat der Schuldner zu vertreten im Sinn von § 276 BGB. Die Gehaltszahlung war zum 15.8.2019 fällig und damit erfüllbar, die Erfüllung der Geldschuld auch möglich. Die N hat die Zahlung am 16.8.2019 angemahnt, einer solchen bedürfte es aber schon nach § 286 Abs. 2 Nr. 1 BGB nicht, weil und wenn, wie hier, für die Gehaltsauszahlung eine Zeit nach dem Kalender bestimmt ist. 2. Anwendbarkeit der Vorschrift im Arbeitsverhältnis Fraglich ist aber, ob die Vorschrift im Arbeitsrecht anzuwenden ist. Diese Frage ist umstritten. Der Wortlaut der Vorschrift sieht eine Bereichsausnahme für das Arbeitsrecht in keiner Weise vor. 104

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„Loch in der Kasse“ Fall 10

Auch die historische Auslegung der Vorschrift führt zu keinem anderen Ergebnis. § 288 Abs. 5 BGB dient der Umsetzung der EU-Richtlinie zur Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Geschäftsverkehr. Während die Richtlinie eine entsprechende Regelung lediglich für den unternehmerischen Rechtsverkehr verlangte, hatte deutsche Gesetzgeber die Regelung bewusst dahingehend erweitert, dass der Pauschal-Schadensersatz des § 288 Abs. 5 S. 1 BGB nicht nur im unternehmerischen Rechtsverkehr, sondern auch zugunsten eines Verbrauchers auf Gläubigerseite geschuldet ist, wenn es sich bei dem Schuldner nicht um einen Verbraucher handelt. Da für arbeitsrechtliche Entgeltforderungen regelmäßig Fälligkeitszeitpunkte kalendermäßig bestimmt sind, gerät der Schuldner bei nicht fristgemäßer bzw. nicht vollständiger Zahlung im Regelfall bereits ohne Mahnung in Verzug, § 286 Abs. 2 Nr. 1 BGB. Bereits mit diesem Eintritt des Verzugs entsteht nach der gesetzlichen Systematik des § 288 Abs. 5 S. 1 BGB auch der Anspruch auf den Pauschal-Schadensersatz in Höhe von 40 t. Irgendwelche Anstrengungen oder gar Rechtsverfolgungskosten auf Seiten des Schuldners müssen hiermit in keiner Weise verbunden sein. Der Gesetzgeber hat systematisch die 40-Euro-Pauschale in § 288 Abs. 5 BGB gerade im unmittelbaren Anschluss an die gesetzliche Regelung zum Verzugszins den Verzugsschaden in den gleichen Paragrafen des Bürgerlichen Gesetzbuchs aufgenommen. Verzugszins und Verzugsschaden können jedoch unzweifelhaft auch von Arbeitnehmern bei verspäteter oder unvollständiger Zahlungsarbeitsentgelts verlangt werden. Insoweit wäre es systemwidrig, wenn ein Arbeitnehmer bei verspäteter oder unvollständiger Zahlung des Arbeitsentgelts zwar den gesetzlichen Verzugszins nach § 288 Abs. 1 BGB und den weitergehenden Verzugsschaden nach § 288 Abs. 4 BGB geltend machen könnte, ihm jedoch der neue Pauschal-Schadensersatz nach § 288 Abs. 5 S. 1 BGB verwehrt blieb. Auch teleologisch sind keinerlei Gesichtspunkte erkennbar, weshalb sich der potentielle hinsichtlich der Zahlung einer Arbeitsentgeltforderung säumige Arbeitgeber nicht dieses Druckmittels, dem Zweck, der 40-Euro-Pauschale § 288 Abs. 5 S. 1 BGB ausgesetzt sehen soll.9 [Eine a.A. ist mit Begründung genauso vertretbar und wird auch vom BAG vertreten. Das BAG10 meint, dem Anspruch aus § 288 Abs. 5 S. 1 BGB stehe § 12a Abs. 1 S. 1 ArbGG im Arbeitsverhältnis als speziellere Regelung entgegen. Diese Bestimmung schließe als spezielle arbeitsrechtliche Regelung nicht nur einen prozessualen Kostenerstattungsanspruch, sondern auch einen materiell-rechtlichen Anspruch auf Erstattung von bis zum Schluss einer eventuellen ersten Instanz entstandenen Beitreibungskosten und damit insoweit auch einen Anspruch auf Pauschalen aus. Dafür führt es den Wortlaut von § 12a Abs. 1 S. 1 ArbGG an, wonach „kein Anspruch der obsiegenden Partei“ besteht. Danach sei jeder Erstattungsanspruch und nicht nur ein prozessualer ausgeschlossen. Das soll auch aus dem Zweck von § 12a Abs. 1 S. 1 ArbGG folgen. Es soll mit dem Anliegen, in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten das Kostenrisiko überschaubar zu halten, unvereinbar sein, der Partei, die eine arbeitsrechtliche Streitigkeit ohne Inanspruchnahme der Arbeitsgerichte beendet, grundsätzlich ein Kostenerstattungsanspruch zuzubilligen, die aber in dem Fall, dass es zu einem arbeitsgerichtlichen Verfahren kommt, die entsprechende Erstattung zu versagen. Gerade auch den für Arbeitsverhältnisse typischen Fall, dass die Parteien über Entgeltansprüche des Arbeitnehmers streiten, hätte der Gesetzgeber mit dem in § 12a Ab. 1

9 Die gesamte Argumentation ist dem lehrbuchmäßigen Urteil LAG Köln 22.11.2016 – 12 Sa 524/16 Rn. 80 ff. entnommen. 10 BAG 25.9.2018 NZA 2019, 121 Rn. 23 ff., auch mit zahlreichen Nachweisen zur umfangreichen Literatur.

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Fall 10 „Loch in der Kasse“

S. 1 ArbGG angeordneten Ausschluss jeder Kostenerstattung im Auge gehabt. Bei § 288 Abs. 5 S. 1 BGB handele es sich außerdem nicht um eine Bestimmung mit Strafcharakter, insbesondere sehe sie keinen Strafschadensersatz vor.] 3. Ergebnis Die N hat daher einen Anspruch gegen die G-GmbH auf Zahlung der 40-Euro-Pauschle aus § 288 Abs. 5 BGB. K Zur Vertiefung: Zur Arbeitnehmerhaftung s. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 294–317; Preis/Temming Individualarbeitsrecht Rn. 2376–2433. Insbesondere zur Mankohaftung s. Junker Rn. 309; Preis/Temming Rn. 2422–2433. Zum Aufhebungsvertrag s. Junker Rn. 425–431; Preis/Temming Rn. 3375–3408. Zur Verbrauchereigenschaft des Arbeitnehmers s. Preis/Temming Rn. 219–234.

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Fall 11 „Unfall mit Folgen“ A. Falldarstellung N ist seit 2012 neben fünf anderen vollbeschäftigten Mitarbeitern bei der G-GmbH als Arbeitnehmer beschäftigt. Er ist für die Kundenbetreuung im Außendienst zuständig und bezieht ein jeweils am Monatsende fälliges monatliches Gehalt von 1.200 Euro brutto (850 Euro netto). Im Vertrag ist eine Kündigungsfrist von drei Wochen vereinbart. Üblicherweise erhalten die Außendienstler der G-GmbH keine Dienstfahrzeuge, sondern nutzen ihre Privatfahrzeuge (gegen großzügige Kostenerstattung). N will aber seinen Privatwagen nicht für Dienstfahrten nutzen. Über den Aspekt des Dienstfahrzeugs wurde zwischen N und der G-GmbH verhandelt, im Ergebnis willigte die G-GmbH ein, dem N ein auf sie zugelassenes Firmenfahrzeug zur Verfügung zu stellen, nachdem N und die G-GmbH beschlossen hatten, man könne, um die Bedenken der G-GmbH zu zerstreuen, doch unter dem Punkt „Sonstiges“ handschriftlich folgendes in den Musterarbeitsvertrag einfügen, was auch geschah: „Jede schuldhafte Beschädigung des Fahrzeugs wird dem Mitarbeiter in voller Höhe in Rechnung gestellt, soweit sie nicht durch Versicherungen abgedeckt ist.“ Auf dem Weg zu einem Verkaufsgespräch stieß N Anfang September 2019, als er rückwärts aus einer Parklücke fuhr, aufgrund leichter Unachtsamkeit mit dem Fahrzeug des B zusammen, der ebenfalls gerade rückwärts ausparkte. An dem von N geführten Fahrzeug der G-GmbH entstand ein Sachschaden von 1.600 Euro, außerdem ging die Brille des N dabei irreparabel zu Bruch. Da die beteiligten Versicherungsunternehmen – zutreffend – von einer Fahrlässigkeit der beiden Fahrer in gleicher Höhe ausgingen, erhielt die G-GmbH von der Versicherung des B nur 800 Euro ersetzt. Die restlichen 800 Euro zog die G-GmbH dem N unter Hinweis auf die vertragliche Vereinbarung vom Nettogehalt für September 2019 ab. Darüber hinaus spricht die G-GmbH aufgrund des Unfalls dem N Anfang Oktober 2019 eine ordentliche Kündigung aus. Diese wird dem N schriftlich am Freitag, dem 4. Oktober, im Original und unterzeichnet durch den Geschäftsführer ausgehändigt. In dem Schreiben heißt es wörtlich: „Aufgrund der durch Sie verursachten Beschädigung des firmeneigenen Kraftfahrzeugs sehen wir uns leider gezwungen, das Arbeitsverhältnis mit Ihnen hiermit ordentlich unter Einhaltung der vertraglichen Kündigungsfrist, also zum 25. Oktober 2019, zu kündigen.“ Der empörte N will weder die Lohnkürzung noch die Kündigung hinnehmen. Er ist der Ansicht, dass er den Schaden an dem Fahrzeug nicht ersetzen müsse. Außerdem hätte die Kündigung, wenn überhaupt, erst zu einem späteren Zeitpunkt Wirkung entfalten können. N konsultiert einen Rechtsanwalt, welcher für ihn am 5.11.2019 Klage bei dem zuständigen Arbeitsgericht erhebt. Mit dieser Klage wird die Zahlung der von der G-GmbH einbehaltenen 800 Euro begehrt und zugleich Kündigungsschutzklage erhoben. Darüber hinaus begehrt N mit der Klage von der G-GmbH auch die Zahlung von (der Höhe nach angemessenen) 500 Euro als Ersatz für die zerstörte Brille. Frage: Ist die Klage des N begründet?

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Fall 11 „Unfall mit Folgen“

Bearbeitervermerk: Prüfen Sie die Begründetheit dieser Klage und gehen Sie dabei, gegebenenfalls hilfsgutachterlich, auf alle relevanten Rechtsfragen ein. Betriebsverfassungsrechtliche Fragen sind nicht zu erörtern. Schwierigkeitsgrad: Durchschnittlich schwierige und durchschnittlich umfangreiche Semesterabschlussklausur Rechtsfragen: Aufrechnung, Grundsätze der Arbeitnehmerhaftung, Individualvereinbarung in AGB, Dispositivität der Arbeitnehmerhaftung, Haftung des Arbeitgebers für Eigenschäden des Arbeitnehmers, Kündigungsschutzklage, Dispositivität des § 622 BGB, Rechtsfolge zu kurz gesetzter Kündigungsfrist.

B. Lösungsskizze I. Begründetheit der Leistungsklage auf Lohnzahlung 1. Anspruch entstanden (+) 2. Anspruch untergegangen a) Aufrechnungserklärung (+) b) Aufrechnungslage aa) Schadenersatzanspruch gemäß § 280 Abs. 1 BGB i.V.m. der vertraglichen Haftungsvereinbarung (+) bb) Haftungsmilderung (1) Begründung und Rechtsgrundlage (2) Betriebliche Veranlassung (+) (3) Haftungsumfang: leichte Fahrlässigkeit, vollständiger Haftungsausschluss cc) Ausschluss der Haftungsmilderung aufgrund arbeitsvertraglicher Vereinbarung? (1) Unwirksamkeit der Vereinbarung gemäß § 307 Abs. 1 BGB (–) – Keine AGB, sondern Individualvereinbarung (2) Unwirksamkeit der Haftungsregel wegen Verstoßes gegen die Grundsätze der beschränkten Arbeitnehmerhaftung – Grundsatz: Privatautonomie lässt abweichende Vereinbarungen zu – Problematisch: Arbeitnehmerhaftung dispositiv? BAG: Arbeitnehmerhaftung ist einseitig zwingendes und damit nicht dispositives Recht A.A.: Arbeitnehmerhaftung dispositiv

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„Unfall mit Folgen“ Fall 11

Stellungnahme: Arbeitnehmerhaftung zwingend wegen Umgehungsgefahr und Schutzwürdigkeit des vom Betriebsrisiko betroffenen Arbeitnehmers (a.A. vertretbar) dd) Zwischenergebnis: Kein Schadenersatzanspruch, keine Aufrechnungslage 3. Ergebnis: Lohnanspruch besteht, Klage begründet II. Anspruch des N gegen die G-GmbH auf Zahlung von 500 Euro für die beschädigte Brille 1. Anwendbarkeit des § 670 BGB – Analogie 1 (+) – Analoge Anwendung des § 670 auf das Arbeitsverhältnis wegen fehlender Kodifikation des Arbeitsvertragsrechts und der Nähe des Auftragsrechts zum Dienstvertragsrecht 2. Aufwendungen – Analogie 2 (+) – Ersatz von Aufwendungen und über den Wortlaut hinaus auch Schäden (Sinn und Zweck des § 670 BGB) 3. Einschränkende Voraussetzungen – Zurechnung des Schadens zu einer betrieblichen Tätigkeit des Arbeitnehmers – Schadensrisiko nicht ausnahmsweise beim Arbeitnehmer 4. Quotelung des Anspruchs nach dem Verschuldensgrad – Leichte Fahrlässigkeit, keine Anspruchsminderung 5. Ergebnis: Aufwendungsersatzanspruch besteht, Klage begründet III. Begründetheit der Kündigungsschutzklage des N gegen die G-GmbH 1. Wirksame schriftliche Kündigungserklärung (+) 2. Wahrung der Klagefrist des § 4 KSchG (–) – Rechtzeitige Klageerhebung (–) – Etwaige Unwirksamkeitsgründe der Kündigung präkludiert – Folge: Kündigung gemäß § 7 KSchG von Anfang wirksam 3. Beendigungszeitpunkt des Arbeitsverhältnisses a) Einhaltung der Kündigungsfrist – Vereinbarte Frist 3 Wochen; Frist gem. § 622 Abs. 2 Nr. 2 BGB dagegen 2 Monate – § 622 Abs. 2 BGB als zwingendes Recht der Privatautonomie entzogen; Arg.: § 622 Abs. 1 i.V.m. Abs. 1 BGB (Wortlaut, Systematik) b) Rechtsfolge einer zu kurz gesetzten Frist – Wirksamkeit der Kündigung zum nächsten zulässigen Termin, hier 31.12.2019 c) Anwendbarkeit des § 4 KSchG auf zu kurze Kündigungsfristen (–)

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Fall 11 „Unfall mit Folgen“

– Heilung des Mangels der zu kurzen Kündigungsfrist gemäß §§ 4, 7 KSchG? Dagegen: Einhaltung der Kündigungsfrist und Geltendmachen der Unwirksamkeit der Kündigung sind unterschiedliche Begehren 4. Ergebnis: Kündigung wirksam zum 31.12.2019 IV. Gesamtergebnis: Leistungsklagen voll begründet, Kündigungsschutzklage teilweise begründet

C. Lösungsvorschlag I. Begründetheit der Leistungsklage auf Lohnzahlung N könnte einen Anspruch auf Zahlung des einbehaltenen Lohns in Höhe von 800 Euro gemäß § 611a Abs. 1 BGB gegen die G-GmbH haben. 1. Anspruch entstanden N und die G-GmbH haben laut Sachverhalt im Jahre 2012 einen wirksamen Arbeitsvertrag geschlossen. Somit hat N grundsätzlich gemäß § 611a Abs. 2 BGB einen Anspruch auf Zahlung des einbehaltenen Lohns in Höhe von 800 Euro. 2. Anspruch untergegangen Allerdings könnte der Anspruch des N gemäß §§ 389, 387 BGB erloschen sein. Voraussetzung ist, dass die Einbehaltung des Nettogehalts für September 2019 in Höhe von 800 Euro unter Hinweis auf die vertragliche Vereinbarung eine wirksame Aufrechnung darstellt. Eine solche liegt vor, wenn bei bestehender Aufrechnungslage eine Aufrechnungserklärung gegenüber dem Anderen abgegeben wird und kein Aufrechnungsverbot existiert. a) Aufrechnungserklärung Mithin bedurfte es einer ordnungsgemäßen Aufrechnungserklärung der G-GmbH an N. Die Aufrechnungserklärung ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung. Eine Aufrechnungserklärung könnte in dem Hinweis der G-GmbH auf die vertragliche Vereinbarung und die Einbehaltung des Nettogehalts für September 2019 in Höhe von 800 Euro liegen. Aus dieser Erklärung konnte N eindeutig erkennen, dass die G-GmbH zwei bestehende Forderungen miteinander verrechnen wollte. Eine Aufrechnungserklärung der G-GmbH an N lag mithin vor. b) Aufrechnungslage Die Wirkung der Aufrechnung tritt jedoch nur ein, wenn ein wirksamer und durchsetzbarer Gegenanspruch des Aufrechnenden besteht. Mithin müsste der G-GmbH ein solcher Gegenanspruch gegen N zugestanden haben. Vorliegend kommt nur der von der G-GmbH geltend gemachte gleichartige Schadensersatzanspruch wegen der Beschädigung des Pkw in Höhe von 800 Euro in Betracht.

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aa) Schadensersatzanspruch gemäß § 280 Abs. 1 BGB i.V.m. der vertraglichen Haftungsvereinbarung Die G-GmbH könnte einen Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 280 Abs. 1 BGB in Verbindung mit der zwischen N und der G-GmbH im Arbeitsvertrag getroffenen Haftungsvereinbarung haben. Zwischen der G-GmbH und N besteht ein Arbeitsvertrag. Darüber hinaus müsste N eine Pflicht verletzt haben. In Betracht kommt hier die allgemeine Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Rechtsgüter des anderen Vertragsteils aus § 241 Abs. 2 BGB. Indem N unvorsichtig zurückgesetzt und damit einen Zusammenstoß des im Eigentum der G-GmbH stehenden Dienstwagens mit B mitverursacht hat, hat er diese Pflicht verletzt. Allerdings müsste N die Pflichtverletzung auch zu vertreten haben. Der Maßstab des Verschuldens richtet sich nach § 276 BGB. Demnach hat der Schuldner Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten. N hat aufgrund seiner leichten Unachtsamkeit die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen und somit fahrlässig gehandelt (§ 276 Abs. 2 BGB). Ob N nur leicht oder gar grob fahrlässig gehandelt hat, spielt für den Bereich des haftungsbegründenden Verhaltens keine Rolle, da grundsätzlich jede Form von Fahrlässigkeit zur Haftung führt. K hat zudem durch sein fahrlässiges Verhalten einen Schaden an dem im Eigentum der G-GmbH stehenden Pkw in Höhe von 1600 Euro, wegen des Mitverschuldensanteils des B in Höhe von 800 Euro, verursacht. bb) Haftungsmilderung Fraglich ist aber, ob N den Schaden in voller Höhe ersetzen muss. Ein tatsächliches Mitverschulden der G-GmbH nach § 254 BGB ist dabei nicht ersichtlich. (1) Begründung und Rechtsgrundlage Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG und der allgemeinen Ansicht im Schrifttum gilt für die Haftung eines Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber eine Haftungsmilderung nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs. Die Begründung hierfür liegt darin, dass dem Arbeitnehmer häufig Arbeitsmaterial von großem Wert zur Verfügung gestellt wird. Nach dem in §§ 249 ff. BGB niedergelegten Prinzip der Totalreparation würde der Arbeitnehmer für Beschädigungen an diesem Material selbst bei leichtester Fahrlässigkeit in voller Höhe haften. Das würde aber regelmäßig zu hohen Schadenersatzforderungen führen, die aus dem gewöhnlichen Arbeitslohn nicht beglichen werden könnten. Das ist eine Folge, die mit den Gewährleistungen von Art. 12 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG in der Schutzpflichtendimension nicht vereinbar wäre. Hieraus ergibt sich die für eine Rechtsfortbildung nötige planwidrige Regelungslücke. Darüber hinaus bestimmt der Arbeitgeber durch die Ausübung seines Weisungsrechts nach § 106 GewO und seiner betrieblichen Organisationsmacht die Haftungsrisiken des Arbeitnehmers. Diese organisationsspezifischen Risiken müsste der Arbeitgeber selbst tragen, wenn er sich nicht des Einsatzes von Arbeitnehmern bedienen würde. Es wäre daher unbillig, wenn er die mit seiner Arbeitsorganisation geschaffenen Betriebsrisiken auf die Arbeitnehmer abwälzen könnte. Auch sonst trägt der Arbeitgeber die mit dem Betrieb in Verbindung stehenden Risiken. Die mit seinem Unternehmen geschaffene Betriebsgefahr muss sich der Arbeitgeber daher in analoger Anwendung des § 254 BGB zurechnen lassen. Dementsprechend gilt für den Arbeitnehmer bei „betrieblich veranlassten Tätigkeiten“ eine Haftungserleichterung. [Ausführlich siehe Fall 6] 111

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Fall 11 „Unfall mit Folgen“

(2) Betriebliche Veranlassung Betrieblich veranlasst sind Tätigkeiten des Arbeitnehmers, die ihm arbeitsvertraglich, auch etwa durch Weisung, übertragen worden sind oder die er im Interesse des Arbeitgebers für den Betrieb ausführt. Die Tätigkeit braucht dabei nicht zum eigentlichen Aufgabengebiet des Beschäftigten zu gehören. Zudem spielt es für die Frage der betrieblichen Veranlassung der Tätigkeit, bei der der Schaden eingetreten ist, keine Rolle, ob sie fehlerfrei oder fehlerhaft erledigt und ob bei der Arbeit vorsichtig oder leichtsinnig gehandelt wurde. Der betriebliche Charakter der Tätigkeit geht nicht dadurch verloren, dass der Arbeitnehmer bei Durchführung der Tätigkeit vorsätzlich oder fahrlässig seine Verhaltenspflichten verletzt. Zwar liegen derartige Verhaltensverstöße nicht im Interesse des Arbeitgebers. Dem wird aber durch eine entsprechende Haftung des Arbeitnehmers Rechnung getragen. Für die betriebliche Veranlassung reicht es, dass die jeweilige Tätigkeit als solche dem vertraglich Geschuldeten entspricht, und zwar auch dann, wenn dies nicht für deren jeweilige Durchführung im Einzelfall gilt. Maßgeblich ist insofern das „wohl verstandene Interesse“ des Arbeitgebers.1 Der Unfall des N mit dem Dienstfahrzeug ereignete sich, während er sich auf Weisung sowie im Interesse der G-GmbH und mithin in Erfüllung seiner arbeitsvertraglichen Pflichten zum nächsten Verkaufsgespräch aufmachte. Obwohl die G-GmbH das Rückwärtsfahren, das zum Unfall führte, so nicht angeordnet hatte, handelt es sich um eine betrieblich veranlasste Tätigkeit. Für die Schadensersatzhaftung des N gilt daher dem Grunde nach die Haftungsprivilegierung nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs. (3) Haftungsumfang Liegt ein durch eine betrieblich veranlasste Tätigkeit entstandener Schaden vor, richtet sich der Haftungsumfang nach dem Grad des dem Arbeitnehmer vorgeworfenen Verschuldens. Bei – hier nach dem Sachverhalt vorliegender – leichter Fahrlässigkeit trägt der Arbeitgeber den Schaden in voller Höhe, weil das Verschulden des Arbeitnehmers wertungsmäßig hier völlig hinter den Betriebs- und Organisationsrisiken des Arbeitgebers zurücktritt. cc) Ausschluss der Haftungsmilderung aufgrund arbeitsvertraglicher Vereinbarung? Etwas anderes könnte sich jedoch aus der vertraglichen Haftungsvereinbarung für Schäden des Dienstwagens zwischen N und der G-GmbH ergeben. In dieser haben die Vertragsparteien eine verschuldensunabhängige Haftung für alle Schäden, die nicht von der Versicherung gedeckt sind, vereinbart, sodass N trotz leichter Fahrlässigkeit für den Schaden in Höhe von 800 Euro haften müsste. (1) Unwirksamkeit der Vereinbarung gemäß § 307 Abs. 1 BGB Eine solche Haftungsvereinbarung könnte jedoch gegen § 307 Abs. 1 BGB verstoßen und mithin unwirksam sein. Dazu müssten die §§ 305 ff. BGB anwendbar sein. Grundsätzlich sind die §§ 305 ff. BGB unter der Berücksichtigung der Besonderheiten des Arbeitsrechts auf Arbeitsverträge anwendbar, § 310 Abs. 4 S. 2 BGB. Es müsste sich bei der Klausel dann aber auch um eine Allgemeine Geschäftsbedingung handeln, nach § 305 Abs. 1 S. 1 BGB also um eine für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingung, die eine Vertragspartei der anderen Vertragspartei bei Abschluss eines Vertrags stellt. Ist das nicht der Fall, unterliegt die Klausel nicht der Inhaltskontrolle. 1 BAG 28.10.2010 NZA 2011, 345 Rn. 14.

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„Unfall mit Folgen“ Fall 11

K Kontext: § 305b BGB trifft eine Kollisionsregel für den Fall, dass sowohl eine Allgemeine Geschäftsbedingung als auch eine Individualvereinbarung denselben Sachverhalt regeln, dann hat die Individualvereinbarung Vorrang. Geht es wie hier um die Frage, ob eine Klausel individuell vereinbart worden und somit nicht kontrollfähig ist, ist an § 305 Abs. 1 S. 3 BGB anzusetzen. Im Einzelnen ausgehandelte Vertragsbestimmungen sind keine kontrollfähigen AGB. „Aushandeln“ bedeutet mit Blick auf den Schutzzweck der AGB-Kontrolle dabei mehr als ein „Verhandeln“. Eine Vertragsbedingung wird i.S.d. § 305 Abs. 1 S. 3 BGB ausgehandelt, wenn der Arbeitgeber den gesetzesfremden Kern der Klausel zur ernsthaften Disposition des Arbeitnehmers stellt und ihm so die Möglichkeit einräumt, den Inhalt der fraglichen Klauseln zu beeinflussen. Hier hat der N darauf gedrungen, entgegen der üblichen Praxis bei der G-GmbH einen Dienstwagen zur Verfügung gestellt zu bekommen. Hierüber haben die Parteien verhandelt, schließlich hat sich N mit seinem Begehren, einen Wagen gestellt zu bekommen, durchgesetzt. Nur im Zusammenhang damit wurde auch die Haftungsregelung erst in den Vertrag aufgenommen. Die Klausel stand im Gesamtzusammenhang der Verhandlungen der Parteien über die Dienstwagenstellung. Die Klausel stand daher in ihrem Kern ernsthaft zur Disposition. Es handelt sich daher um eine im Einzelnen ausgehandelte Klausel, die nicht der Kontrolle nach den §§ 305 ff. BGB unterfällt. [Zu diesem Prüfungspunkt muss man nicht kommen, wenn man den folgenden Prüfungspunkt zuerst bearbeitet. Wegen der Informationen im Sachverhalt wären in einer Prüfungsarbeit in einer solchen Situation meist Ausführungen zur Individualabrede erwartet.] (2) Unwirksamkeit der Haftungsregel wegen Verstoßes gegen die Grundsätze der beschränkten Arbeitnehmerhaftung Allerdings könnte die individualvertragliche Regelung wegen eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Arbeitnehmerhaftung nichtig sein, da die Vereinbarung erheblich von diesen abweicht. Grundsätzlich ist es nach den Regeln der Privatautonomie den Arbeitsvertragsparteien freigestellt, welche Regelungen sie treffen, soweit sie nicht gegen geltendes Recht verstoßen. Vorliegend haben N und die G-GmbH eine Vereinbarung über die Haftung des Arbeitnehmers geschlossen. Eine explizite Kodifizierung hinsichtlich der Arbeitnehmerhaftung kennt das Arbeitsrecht aber nicht. Allerdings könnte die in Frage stehende Vereinbarung gegen die oben dargelegten Grundsätze der Haftungserleichterung verstoßen. Das BAG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Grundsätze zur Haftungserleichterung einseitig zwingendes Arbeitnehmerschutzrecht sind, von dem weder individual- noch kollektivvertraglich abgewichen werden könne.2 Eine solche Abweichung liegt durch die Begründung einer von außerhalb des KfZVersicherungsschutzes unbegrenzten Haftung für jede Fahrlässigkeit vor. Rechtsprechung und herrschende Meinung haben davon eine Ausnahme im Fall der Mankohaftung zugelassen [dazu Fall 10], wenn und soweit der Arbeitnehmer, um ihn zu einer sorgfältigen Kassenführung anzureizen, zusätzlich zum Gehalt ein Mankogeld erhält und die Haftungsverschärfung sich im Umfang nur auf die zusätzlich gezahlte Summe beschränkt. 2 BAG 17.9.1998 NJW 1999, 1049, 1052; BAG 5.2.2004 NZA 2004, 649.

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Ein solcher kompensatorischer Ausgleich ist hier nicht ersichtlich. Bei der Stellung des Dienstwagens handelt es sich nicht um eine Kompensation des N für eine schärfere Haftung und wirtschaftlich betrachtet, weil bei Fahrt mit dem Privatfahrzeug „großzügige Kostenerstattung“ gezahlt worden wäre, nicht einmal notwendigerweise um einen Vorteil. Teilweise wird jedoch vertreten, dass die Grundsätze der Haftungserleichterung gerade nicht zwingendes, sondern dispositives Recht sind.3 Jedenfalls seit der Schuldrechtsreform sei die beschränkte Arbeitnehmerhaftung an § 254 BGB oder an § 276 Abs. 1 BGB angeknüpft, diese Vorschriften sind aber ihrerseits dispositiv. Eine für die Arbeitnehmerhaftung geltende Bereichsausnahme sei nach Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte nicht ersichtlich. Nach dieser Ansicht wäre eine vertragliche Vereinbarung hinsichtlich der Haftung des Arbeitnehmers zwischen N und der G-GmbH zulässig gewesen und N müsste für den Schaden in Höhe von 800 Euro haften. K Kontext: Die Auffassungen über die Dispositivität der Grundsätze der beschränkten Arbeitnehmerhaftung (h.M.: Nein, a.A.: Ja, Arg: § 254 BGB ist auch dispositiv) kommen, wenn anders als hier – was der Regelfall ist – eine kontrollfähige AGB und keine Individualvereinbarung vorliegt, zum gleichen Ergebnis. Denn wenn nicht ganz ausnahmsweise ein berechtigtes Interesse des klauselstellenden Arbeitgebers an der Modifikation der Grundsätze der beschränkten Arbeitnehmerhaftung besteht (ein Beispiel wären die angesprochenen Konstellationen der Mankohaftung, bei der der Arbeitnehmer als Anreiz zur ordnungsgemäßen Kassenführung ein zusätzliches Mankogeld erhält und seine Haftung summenmäßig auf dieses Mankogeld beschränkt ist), sind haftungsverschärfende Klauseln unangemessen benachteiligend. Das entschärft auch das Argument der h.M., die im Wesentlichen mit dem Arbeitnehmerschutz argumentiert, der nicht durch einfache vertragliche Vereinbarung ausgehöhlt werden solle4 – denn wenn wirklich einmal eine Individualvereinbarung vorliegt, liegt es unter Berücksichtigung der Privatautonomie dann nahe, nicht einer Partei Schutz aufzuzwingen, den sie gar nicht will und etwa kompensatorische Vereinbarungen der Parteien faktisch zu unterbinden. Dagegen spricht, dass die Grundsätze der Haftungserleichterung entwickelt wurden, um das Betriebsrisiko nicht vollständig dem Arbeitnehmer aufzubürden. Ließe man mit der teilweise vertretenen Auffassung eine Abdingbarkeit dieser Regelungen zu, so könnte der von der Rechtsprechung eingeführte Arbeitnehmerschutz durch eine einfache vertragliche Vereinbarung ausgehöhlt werden. Nach der daher zutreffenden h.M. sind die Grundsätze der beschränkten Arbeitnehmerhaftung daher zwingend. [A.A. sehr gut vertretbar, siehe Kontext. Wurde der Ansicht der Mindermeinung gefolgt, musste man zum Ergebnis der Wirksamkeit der Regelung gelangen, sodass die G-GmbH einen wirksamen und durchsetzbaren Gegenanspruch gehabt hätte. Sodann hätte das Aufrechnungsverbot geprüft werden müssen, das wegen § 394 BGB i.V.m § 850c ZPO (Verbot der Aufrechnung wegen einer unpfändbaren Forderung) einschlägig gewesen wäre. Folglich hätte die G-GmbH auch nach dieser Ansicht nicht mit dem Lohnanspruch des N aufrechnen können.] Mithin ist die Haftungsvereinbarung zwischen N und der G-GmbH unwirksam. Maßgeblich für die Haftungsmilderung bleiben daher die richterrechtlich entwickelten Grundsätze der 3 ErfK/Preis § 619a BGB Rn. 11, 94. 4 MüKoBGB/Henssler § 619a BGB Rn. 13.

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„Unfall mit Folgen“ Fall 11

Haftungserleichterung. Vorliegend hat N leicht fahrlässig gehandelt, sodass er vollständig von der Haftung befreit ist. dd) Zwischenergebnis Der G-GmbH steht mithin kein Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 280 Abs. 1 in Verbindung mit der vertraglichen Haftungsvereinbarung zu. Somit fehlt ein wirksamer und durchsetzbarer Gegenanspruch der G-GmbH und eine wirksame Aufrechnungslage besteht nicht. Die G-GmbH kann daher nicht wirksam mit der Lohnforderung des N in Höhe von 800 Euro aufrechnen. 3. Ergebnis N hat gegen die G-GmbH einen Anspruch auf Zahlung des einbehaltenen Lohns in Höhe von 800 Euro gemäß § 611a Abs. 2 BGB. Die Leistungsklage ist begründet.

II. Anspruch des N gegen die G-GmbH auf Zahlung von 500 Euro für die beschädigte Brille N könnte einen Anspruch auf Aufwendungsersatz in Höhe von 500 Euro wegen Beschädigung seiner Brille gegen die G-GmbH gemäß § 670 BGB analog haben. K Kontext: Weder das BGB noch die übrige Rechtsordnung enthalten eine verschuldensunabhängige Ersatzpflicht des Arbeitgebers für Aufwendungen oder Schäden des Arbeitnehmers. Insbesondere § 670 BGB ist nicht direkt anwendbar, denn (1) nach § 662 BGB ist ein unentgeltliches Auftragsverhältnis Voraussetzung. Die Verweisung des § 675 BGB setzt eine selbstständige Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen voraus. Ein Arbeitsverhältnis ist aber gerade eine unselbstständige Tätigkeit, die regelmäßig nicht unentgeltlich ist. (2) Außerdem erfasst § 670 BGB nach seinem Wortlaut nur Aufwendungen und keine Schäden. Aufwendungen sind, im Gegensatz zu Schäden, freiwillige Vermögensopfer. Insoweit besteht eine Lücke. Für Sachschäden ist anerkannt, dass der Arbeitnehmer bei Selbstschädigungen einen Ersatzanspruch gegen den Arbeitgeber analog § 670 BGB hat (es bedarf also einer Analogiebegründung hinsichtlich zweier Aspekte), wenn der Sachschaden dem Betätigungsbereich des Arbeitgebers zuzurechnen ist.5 Der Zweck des § 670 BGB ist es, dass der im fremden Interesse Handelnde keine Vermögensverluste erleiden soll, die über den Einsatz seiner Arbeitskraft hinausgehen (Interessengleichheit). Auch bei einem Arbeitsverhältnis soll der Arbeitnehmer lediglich für den Einsatz seiner Arbeitskraft vergütet werden, nicht aber darüber hinausgehende Aufwendungen auf sich nehmen (Planwidrigkeit des Fehlens eines Ersatzanspruchs). Der Arbeitgeber soll ausgehend von dieser Interessenlage insoweit zwar auch bei Einsatz eigener Sachen des Arbeitnehmers das Betriebsrisiko tragen, auf der anderen Seite aber nicht mit dem allgemeinen Lebensrisiko des Arbeitnehmers belastet werden. Einschränkende Voraussetzung ist daher, (1) dass der Schaden einer betrieblichen Tätigkeit des Arbeitnehmers zuzurechnen ist und (2) er nach der arbeitsvertraglichen Risikoverteilung nicht ausnahmsweise vom Arbeitnehmer zu tragen ist, letzteres kommt praktisch nur dann in Betracht, wenn der Arbeitneh5 BAG 28.10.2010 NZA 2011, 406 Rn. 25 ff.

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mer gerade im Hinblick auf solche möglichen Eigenschäden eine besondere Vergütung, etwa eine angemessene Risiko- oder Abnutzungszulage, erhält. (3) Auch für diesen Anspruch gilt Quotelung insbesondere nach dem Verschuldensgrad [s. Fall 6].6 Im Hinblick auf den Ausgleich zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer macht es nämlich keinen Unterschied, wessen Sachen beschädigt werden. Für Personenschäden besteht keine Lücke, denn hier ersetzt die gesetzliche Unfallversicherung Schäden des Arbeitnehmers [s. Fall 6].

1. Anwendbarkeit des § 670 BGB – Analogie 1 Grundsätzlich ist § 670 BGB nur auf Geschäftsbesorgungsverträge anwendbar. Aus § 675 BGB ergibt sich, dass Arbeitsverhältnisse in der Regel keine Geschäftsbesorgung zum Gegenstand haben, sodass die Vorschrift des § 670 BGB keine unmittelbare Anwendung findet. Auch eine Anwendung über § 675 BGB scheidet aus, da dem Arbeitnehmer die für den Begriff der Geschäftsbesorgung im Sinne des § 675 BGB erforderliche Selbstständigkeit fehlt. Allerdings hat das BAG die analoge Anwendung des § 670 auf das Arbeitsverhältnis anerkannt. Diese analoge Anwendung der Vorschriften des Auftragsrechts rechtfertigt sich aus der fehlenden Kodifikation des Arbeitsvertragsrechts und der Nähe des Auftragsrechts zum Dienstvertragsrecht. § 670 BGB enthält insofern einen allgemeinen Rechtsgrundsatz: Wer im Interesse eines anderen Aufwendungen macht, für die er keine Vergütung erhält, kann Ersatz der Aufwendungen von demjenigen verlangen, für den er tätig geworden ist. Mithin kann der Arbeitnehmer grundsätzlich Aufwendungen, die er zum Zwecke der Ausführung seiner Arbeit tätigt und welche er den Umständen nach für erforderlich halten durfte, vom Arbeitgeber gemäß § 670 BGB analog ersetzt verlangen. 2. Aufwendungen – Analogie 2 Zudem müsste es sich bei dem Schaden des N um eine Aufwendung handeln. Grundsätzlich sind Aufwendungen im Sinne des § 670 BGB nur freiwillige Vermögenseinbußen. Der Schaden des N wurde jedoch durch einen Unfall herbeigeführt, der nicht freiwillig geschah. Demnach hätte N grundsätzlich keinen Anspruch auf Ersatz seines Schadens. Das BAG hat sich in solchen Fällen allerdings für eine weitere („zweite“) analoge Anwendung des § 670 BGB ausgesprochen. Das ist mit Blick auf die Zwecksetzung des § 670 BGB, dass der im fremden Interesse Handelnde keine Vermögensverluste erleiden soll, die über den Einsatz seiner Arbeitskraft hinausgehen, überzeugend. Der Arbeitnehmer kann somit auch Ersatz von unfreiwilligen Vermögensbußen (sog. Eigenschäden) gemäß § 670 BGB analog verlangen. Folglich könnte N auch den Ersatz für Beschädigung seiner Brille in Höhe von 500 Euro verlangen. 3. Einschränkende Voraussetzungen Die Analogie zu § 670 BGB beruht auf dem Gedanken, dass der Arbeitgeber ausgehend von der Interessenlage, dass der im Interesse eines anderen Handelnde keine Nachteile aus dem Tätigwerden erleiden soll als den Verlust seiner Arbeitszeit, insoweit zwar das Betriebsrisiko tragen, auf der anderen Seite aber nicht mit dem allgemeinen Lebensrisiko des Arbeitnehmers belastet werden soll. Einschränkende Voraussetzung ist daher, dass der Schaden einer 6 BAG 22.6.2011 NZA 2012, 91 Rn. 35 f.

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betrieblichen Tätigkeit des Arbeitnehmers zuzurechnen ist und er nach der arbeitsvertraglichen Risikoverteilung nicht ausnahmsweise vom Arbeitnehmer zu tragen ist Der N ist hier, wie schon bei den Haftungsfragen dargelegt, betrieblich veranlasst tätig geworden, als er mit dem Dienstwagen verunfallte. Verkehrsunfälle, die der Arbeitnehmer erleidet, wenn er im Rahmen seiner Arbeitspflicht ein Kfz benutzen soll, entstammen nicht dem Lebensbereich des Arbeitnehmers und sind nach ständiger Rechtsprechung dem Arbeitgeber zuzurechnen. Auch einen adäquaten Risikoausgleich hat der N nicht erhalten. K Kontext: Ein adäquater Risikoausgleich kann die Zahlung eines Kilometergeldes durch den Arbeitgeber für die dienstliche Nutzung eines Privatfahrzeugs sein, wenn dieses so hoch ist, dass davon neben den laufenden Kosten auch eine Kaskoversicherung abgeschlossen werden kann und soll.7

4. Quotelung des Anspruchs nach dem Verschuldensgrad Etwaiges Mitverschulden des Arbeitnehmers kann zwar nicht in direkter Anwendung des § 254 BGB berücksichtigt werden, weil diese Norm nur für Schadensersatzansprüche gilt. Dennoch wird mit Blick auf die Herleitung des Ersatzanspruchs und der Parallelität zu den Grundsätzen der beschränkten Arbeitnehmerhaftung die von dort bekannte Quotelung insbesondere nach dem Verschuldensgrad vorgenommen. Im Hinblick auf den Ausgleich zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer macht es nämlich keinen Unterschied, wessen Sachen beschädigt werden. Die zwischen N und der G-GmbH vereinbarte Haftungsverschärfung ist unbeachtlich, da sie unwirksam ist. Der Unfall wurde von N laut Sachverhalt nur leicht fahrlässig verursacht, sodass ein Mitverschulden des N sich nicht anspruchsmindernd auswirkt. 5. Ergebnis Folglich hat N gegen die G-GmbH einen Anspruch aus § 670 BGB analog auf Aufwendungsersatz für die Brille in Höhe von 500 Euro. Die Leistungsklage ist auch insoweit begründet.

III. Begründetheit der Kündigungsschutzklage des N gegen die G-GmbH Die Kündigungsschutzklage des N ist begründet, wenn das Arbeitsverhältnis durch die mit Wirkung zum 25.10.2019 ausgesprochene und dem N am 4.10.2019 zugegangene Kündigung nicht wirksam beendet worden ist. 1. Wirksame schriftliche Kündigungserklärung Zur wirksamen Beendigung des Arbeitsverhältnisses müsste die G-GmbH die Kündigung ordnungsgemäß gegenüber N erklärt haben. Laut Sachverhalt hat die G-GmbH dem N am 4.10.2019 eine schriftliche und unterschriebene Kündigung übergeben, sodass das Form7 BAG 28.10.2010 NZA 2011, 406, 408; nicht abschließend ist geklärt, wie hoch die „besondere Vergütung“ sein muss, vgl. dazu schon Schiefer, NJW 1993, 966, 969.

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Fall 11 „Unfall mit Folgen“

erfordernis der §§ 623, 126 BGB gewahrt ist. Eine wirksame Kündigungserklärung liegt mithin vor. 2. Wahrung der Klagefrist des § 4 KSchG Zudem müsste N die Klage gemäß § 4 KSchG innerhalb der Drei-Wochen-Frist erhoben haben. Ob das KSchG anwendbar ist, kann vorerst dahinstehen. Die Klagefrist des § 4 KSchG gilt nach § 23 Abs. 1 S. 1 und 2 KSchG auch für Kleinbetriebe, da die Bereichsausnahme für die §§ 4–7 KSchG ausdrücklich ausgeklammert worden ist. Daher muss auch in den Fällen, in denen das KSchG wegen Vorliegen eines Kleinbetriebs keine Anwendung auf das jeweilige Arbeitsverhältnis findet, die Klagefrist des § 4 KSchG eingehalten werden, um nicht im Hinblick auf die Geltendmachung der fehlenden sozialen Rechtfertigung materiell präkludiert zu werden. Hat N die drei-Wochen-Frist nicht eingehalten, kann er Unwirksamkeitsgründe der Kündigung nicht mehr geltend machen. Da die streitgegenständliche ordentliche Kündigung dem N am 4.10.2019 zugegangen ist, begann der Lauf der Frist am 5.10.2019 (§ 187 Abs. 1 BGB). Mithin endet die Frist mit Ablauf des 25.10.2019 um 24 Uhr (§ 188 Abs. 2 BGB). Die Klage des N ist bei Gericht am 5.11.2019 eingegangen, also nach Ablauf der Klagefrist. Das Handeln seines Rechtsanwalts muss sich N gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen. Gründe zur Fristverlängerung gemäß §§ 5, 6 KSchG sind nicht ersichtlich. Mithin wurde die Drei-Wochen-Frist nicht gewahrt, sodass eventuelle Unwirksamkeitsgründe der Klage präkludiert sind und die Kündigung gemäß § 7 KSchG von Anfang an als wirksam zu behandeln ist. [Hätten die Bearbeitenden diesen Aspekt nicht erkannt, hätten sie sich mit dem personalen Anwendungsbereich des KSchG auseinandersetzen müssen. Nach § 23 Abs. 1 S. 2, 3 KSchG wäre dieser für N nicht eröffnet gewesen. Wäre auch das verkannt worden, käme nur eine verhaltensbedingte Kündigung in Betracht, die mangels Abmahnung jedoch nicht erforderlich gewesen wäre.] 3. Beendigungszeitpunkt des Arbeitsverhältnisses a) Einhaltung der Kündigungsfrist Wenngleich die Kündigung wirksam ist, ist fraglich, zu welchem Zeitpunkt das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung wirksam beendet worden ist. Die G-GmbH hat die Kündigung zum 25.10.2019 ausgesprochen, also mit einer Kündigungsfrist von drei Wochen. Fraglich ist, ob eine Frist von drei Wochen ausreichend ist. Grundsätzlich richten sich die gesetzlichen Kündigungsfristen nach § 622 BGB. Gemäß § 622 Abs. 1 BGB kann der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis mit einer Frist von vier Wochen zum 15. oder zum Ende eines Kalendermonats beenden. Ist der Arbeitgeber länger als zwei Jahre beim Arbeitgeber beschäftigt, richtet sich die Kündigungsfrist nach der spezielleren Regelung des § 622 Abs. 2 BGB. Diese ordnet eine jeweils nach Betriebszugehörigkeit gestaffelte Kündigungsfrist an. N war sieben Jahre bei der G-GmbH beschäftigt. Infolgedessen hätte die G-GmbH gemäß § 622 Abs. 2 Nr. 2 BGB eine Kündigungsfrist von zwei Monaten zum Ende des Monats einhalten müssen. N und die G-GmbH haben jedoch laut Sachverhalt individualvertraglich eine kürzere Kündigungsfrist von drei Wochen vereinbart. Fraglich ist, ob eine solche Vereinbarung zulässig ist. Einzelvertragliche Abänderungen zum Nachteil des Arbeitnehmers sind hingegen nur 118

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„Unfall mit Folgen“ Fall 11

nach Maßgabe des § 622 Abs. 5 BGB statthaft oder mittelbar durch individualvertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag. Demnach wäre eine einzelvertragliche Verkürzung der Kündigungsfrist zulässig, wenn im Betrieb des Arbeitgebers nicht mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigt werden und die Kündigungsfrist mindestens vier Wochen beträgt. Allerdings ist § 622 Abs. 5 BGB seinem Wortlaut nach nur auf die gesetzliche Kündigungsfrist gemäß § 622 Abs. 1 BGB anwendbar. Die verlängerten Kündigungsfristen des § 622 Abs. 2 BGB sind mangels Ausnahmetatbestand einseitig zwingend und mithin der Parteidisposition entzogen. Folglich konnten N und die G-GmbH keine kürzere Kündigungsfrist als die in § 622 Abs. 2 Nr. 2 BGB vorgegebene vereinbaren, sodass die zwischen N und der G-GmbH getroffene Kündigungsfrist von drei Wochen zu kurz gesetzt war. b) Rechtsfolge einer zu kurz gesetzten Frist Die Unwirksamkeit der Kündigungsfristvereinbarung führt hier aber dazu, dass die dreiwöchige Frist zu kurz bemessen war. Bei fehlerhaft zu kurzer Kündigungsfrist ist die Kündigungserklärung nach §§ 133, 157 BGB so auszulegen, dass die Kündigung dann für den nächsten zulässigen Termin wirksam werden soll. Mithin wäre die Kündigung erst zum 31.12.2019 wirksam geworden. c) Anwendbarkeit des § 4 KSchG auf zu kurze Kündigungsfristen Möglicherweise könnte die Kündigung dennoch mit Wirkung zum 25.10.2019 wirksam geworden sein. Dies käme in Betracht, wenn der Mangel der zu kurzen Kündigungsfrist ebenfalls gemäß §§ 4, 7 KSchG geheilt werden könnte. Dafür müssten die §§ 4, 7 KSchG auf den Mangel der zu kurzen Kündigungsfrist anwendbar sein. Dafür könnte der Wortlaut dahin sprechen, dass § 4 KSchG alle Unwirksamkeitsgründe mit Ausnahme der Schriftform umfasst. Dagegen spricht aber schon ein anderes Wortlautargument. Der Arbeitnehmer, der lediglich die Einhaltung der Kündigungsfrist verlangt, will gerade nicht die Sozialwidrigkeit oder die Unwirksamkeit der Kündigung als solche festgestellt wissen. Er geht im Gegenteil von der Wirksamkeit der Kündigung aus. Er will geltend machen, sie wirke, allerdings zu einem anderen Zeitpunkt als es nach Auffassung des Arbeitgebers der Fall ist. Ebenfalls findet die Annahme, dass § 4 KSchG nicht auf die Kündigungsfristen anwendbar ist, ihre Bestätigung in der Entstehungsgeschichte der Norm und ihrer Zwecksetzung. Es war das erklärte Ziel des Gesetzes, „alsbald Klarheit über den Fortbestand oder die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses zu erhalten“. Das zeigt, dass der Gesetzgeber die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum Ziel hat, nicht aber die isolierte Geltendmachung der Kündigungsfrist. Festzuhalten bleibt daher, dass die §§ 4, 7 KSchG auf die zu kurz gesetzte Kündigungsfrist keine Anwendung finden. K Kontext: Die Geltendmachung einer zu kurzen Kündigungsfrist ist also nicht von der Präklusionswirkung der §§ 4, 7 KSchG erfasst,8 denn (1) der Wortlaut spricht von der Geltendmachung der Sozialwidrigkeit der Kündigung (gegen diese wendet sich derjeni-

8 BAG 15.12.2005 NZA 2006, 791.

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Fall 11 „Unfall mit Folgen“

ge nicht, der nur den Kündigungstermin angreift) und (2) der Gesetzgeber wollte schnelle Klarheit über den Fortbestand oder die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses schaffen und hatte dabei die Beendigung, nicht die isolierte Geltendmachung der Kündigungsfrist vor Augen [a.A. vertretbar, etwa mit dem Argument, der Zweck erfasse die Schaffung schneller Klarheit über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses und damit notwendig auch über dessen Termin]. Demnach kann N die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist auch außerhalb der Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG geltend machen. Insbesondere war vorliegend der Kündigungstermin nicht integraler Bestandteil der Wirksamkeit der Kündigung. Die G-GmbH hat nicht zum Ausdruck gebracht, dass sie für den Fall, dass der im Kündigungsschreiben genannte Termin nicht der richtige wäre, am Arbeitsverhältnis festhalten wolle. Mithin ist die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist gemäß §§ 4, 7 KSchG nicht geheilt, sodass die gesetzliche Kündigungsfrist des § 622 Abs. 2 Nr. 2 BGB im Wege der Umdeutung, § 140 BGB, oder der Auslegung, §§ 133, 157 BGB, an die Stelle der zu kurzen Kündigungsfrist tritt. Folglich wird die Kündigung zum 31.12.2019 wirksam. 4. Ergebnis Die Kündigung der G-GmbH vom 4.10.2019 ist wirksam, jedoch wird das Arbeitsverhältnis erst zum 31.12.2019 wirksam beendet, sodass die Kündigungsschutzklage des N teilweise unbegründet ist.

IV. Gesamtergebnis Die Leistungsklagen des N gegen die G-GmbH auf Zahlung der Lohnforderung in Höhe von 800 Euro sowie auf Zahlung des Schadensersatzes in Höhe von 500 Euro für die beschädigte Brille sind begründet. Die dem N am 4.10.2019 zugegangen Kündigung ist wirksam, jedoch wird das Arbeitsverhältnis erst zum 31.12.2019 wirksam beendet. Die Kündigungsschutzklage ist mithin teilweise unbegründet. K Zur Vertiefung: Zur Arbeitnehmerhaftung s. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 294–317; Preis/Temming Individualarbeitsrecht Rn. 2376–2433. Zu Eigenschäden des Arbeitnehmers und einem Freistellungsanspruch gegenüber dem Arbeitgeber s. Junker Rn. 318–319; Preis/Temming Rn. 2446–2453. Zu den Kündigungsfristen s. Junker Rn. 383–388; Preis/Temming Rn. 2704–2737. Zur Rechtsfolge von zu kurz gesetzten Kündigungsfristen s. Preis/Temming Rn. 2735–2737.

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Fall 12 „Ärger im Pharmavertrieb“ A. Falldarstellung Die G betreibt ein Unternehmen, das auf den Vertrieb von Pharmaerzeugnissen spezialisiert ist. In ihrem Sortiment befinden sich etwa 500 Medikamente. Insgesamt hat sie 9 Mitarbeiter, darunter die drei Pharmareferentinnen A, B und C. Diese sind im Außendienst beschäftigt und betreuen jeweils Apotheken in bestimmten Gebieten, darunter der Oberbergische Kreis, die Stadt Leverkusen und die Stadt Köln. Die Aufgabe von A, B und C besteht jeweils darin, in deren jeweiligen Bezirk den Apothekerinnen und Apothekern neue Produkte im Sortiment der G vorzustellen und für die G Verkaufsstatistiken zu erstellen. A ist seit dem 1.12.2010 zu 2.500 Euro brutto monatlich, B seit dem 30.6.2018 zu 2.700 Euro brutto monatlich und C seit dem 2.1.2016 zu 3.000 Euro brutto monatlich bei G beschäftigt. In den „Pharmavertriebsvertrag“ überschriebenen Verträgen ist jeweils eine sechsmonatige Probezeit vereinbart. Ein Betriebsrat ist bei der G nicht eingerichtet. Der Unternehmenssitz der G, in dem A, B und C auch jeweils einen Schreibtisch in einem Gemeinschaftsbüro haben, ist in Bergisch Gladbach. A, B und C suchen morgens jeweils dieses Büro auf, um von der G die Liste der Apotheken entgegenzunehmen, die sie jeweils im Verlaufe des Tages zu besuchen haben. Außerdem packen sie ihre Tasche mit den neuen Produkten, die sie vorführen sollen. A, B und C sind jeweils an vier Tagen in der Woche dann den ganzen Tag bei Kundenbesuchen. Dabei kehren sie abends nicht wieder ins Büro zurück, sind aber telefonisch erreichbar, falls sich eine Änderung der zu besuchenden Apotheken ergibt. An einem weiteren festgelegten Tag verfassen A, B und C im Büro Berichte und Statistiken über ihre Wochentätigkeit. G stellt A, B und C für die Außendiensttätigkeit jeweils ein in ihrem Eigentum stehendes Dienstfahrzeug zur Verfügung. A hatte am 11.6.2018 mit dem Dienstfahrzeug einen Unfall. Nachdem sie morgens im Büro war, begab sie sich zu ihrem Fahrzeug und parkte auf dem Betriebsparkplatz rückwärts aus. Sie fuhr so etwa 5 Meter und bremste das Fahrzeug dann zum Stillstand. Als sie den ersten Vorwärtsgang einlegen wollte, nahm sie versehentlich den Rückwärtsgang nicht vollständig heraus, sodass dieser wieder eingelegt wurde. A kuppelte ein und gab Gas. In Rückwärtsfahrt fuhr sie gegen einen in etwa 30 cm von der Standposition befindlichen Laternenpfahl. An dem Dienstfahrzeug entstand dadurch ein Schaden in Höhe von 2.500 Euro. Der Rückwärtsgang und der erste Vorwärtsgang liegen bei dem Dienstfahrzeug der A links oben direkt nebeneinander. Zum Einlegen des Rückwärtsgangs ist es erforderlich, eine mechanische Sperre zu überwinden, nämlich den Schalthebelkopf nach unten zu drücken. Wird der Rückwärtsgang ordnungsgemäß herausgenommen, springt der Schalthebel sicht- und spürbar zurück nach oben. G verlangt von A die Zahlung von 2.500 Euro. Sie meint, A habe grob fahrlässig gehandelt, spätestens beim Anfahren hätte sie, wenn sie schon nicht auf den Schaltknüppel geachtet hätte, den Fehler erkennen müssen, wenn sie den Wagen vorsichtig hätte anrollen lassen. A meint, sie habe höchstens leicht fahrlässig gehandelt. Außerdem hätte G für das Fahrzeug eine Vollkaskoversicherung abschließen sollen, wodurch (was zutrifft) nur eine Selbstbeteiligung in Höhe von 500 Euro angefallen wäre. Frage 1: Besteht der geltend gemachte Anspruch der G gegen A? Weil die G mit der Leistung der B nicht zufrieden ist, kündigte sie diese ordentlich mit am 30.11.2018 zugegangenen Schreiben zum 14.12.2018. Am 4.12.2018 ging der B eine weitere, 121

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Fall 12 „Ärger im Pharmavertrieb“

diesmal außerordentliche Kündigung zu. Die B hatte noch am Nachmittag des 30.11.2018 bei der zuständigen Aufsichtsbehörde und der Staatsanwaltschaft angegeben, „dass die G überwiegend gepanschte und damit gesundheitsgefährdende Arzneimittelimitate aus China vertreibt“. Am 3.12.2018 fand deshalb unter Nennung der Anzeigeerstatterin eine Durchsuchung der Betriebsräume der G statt, die nichts Außergewöhnliches feststellte. Über diese Durchsuchung berichtete die Rhein-Berg-Zeitung im Lokalteil. Der Verdacht des Handels mit Arzneimittelimitaten wurde in der Folgezeit zerstreut. Im Jahr 2017 hatte es einen solchen Fall mit einem einzelnen Medikament aus dem Sortiment der G gegeben, das der G von einem Großhändler geliefert worden war. Der Fall war der G von C aber angezeigt worden, C hatte dafür auf dem Sommerfest, auf dem alle Mitarbeiter anwesend waren, von der G als Bonus ein Sachgeschenk erhalten. G hatte damals ein Inverkehrbringen des Medikaments rechtzeitig verhindert und selbst die Aufsichtsbehörde eingeschaltet. B hatte sich im Vorfeld nicht an G gewandt. Frage 2: Ist die am 21.12.2018 erhobene Kündigungsschutzklage der B gegen die außerordentliche (!) Kündigung begründet? Als besondere Leistung bot die G ihren Mitarbeiterinnen eine Grippeschutzimpfung im Betrieb an. Die Impfung wurde vor Beginn der Arbeitszeit im Pausenraum in Bergisch Gladbach von einer externen Fachärztin für Arbeitsmedizin auf Kosten der G durchgeführt. Dazu wurde in einer E-Mail über den internen Mailverteiler aufgerufen, die von der Ärztin versandt und unterschrieben worden war. Nach der Impfung hatte die C starke Schmerzen und erhebliche Bewegungseinschränkungen. Über Risiken und mögliche Schäden hatte die G nicht aufgeklärt. Ob die Ärztin die C aufgeklärt hatte, kann nicht mehr festgestellt werden. Einen (sonstigen) Behandlungsfehler gab es nicht. C verlangt von G nun ein (in der Höhe angemessenes) Schmerzensgeld in Höhe von 1.500 Euro. Für die Tätigkeit einer Pharmareferentin ist eine Grippeschutzimpfung nicht erforderlich. Die Teilnahme daran war C freigestellt.1 Frage 3: Besteht der Anspruch der C gegen G auf Zahlung von Schmerzensgeld? Schwierigkeitsgrad: Überdurchschnittlich schwierige und überdurchschnittlich umfangreiche Semesterabschlussklausur Rechtsfragen: Arbeitnehmerhaftung im Zweipersonenverhältnis bei Unfall mit Dienstfahrzeug (Frage 1), Außerordentliche Kündigung nach „Whistleblowing“ (Frage 2), Pflichtverletzung des Arbeitgebers (Frage 3)

B. Lösungsskizze Frage 1 – Der Schaden am Dienstwagen I. Anspruch der G gegen A auf Zahlung von 2.500 Euro aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB 1. Schuldverhältnis „Pharmavertriebsvertrag“ als Arbeitsvertrag? – Abgrenzung: Arbeitnehmerin und selbstständige Handelsvertreterin 1 Dieser Teil ist inspiriert von BAG 21.12.2017 NZA 2018, 708.

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„Ärger im Pharmavertrieb“ Fall 12

– Vertragsdurchführung bei A: Weisungsgebunden sowohl in der inhaltlichen Gestaltung als auch in der inhaltlichen Durchführung der Tätigkeit, damit Arbeitsverhältnis (+) 2. Verletzung einer Pflicht aus dem Schuldverhältnis (+) Eigentumsschädigung, Verletzung einer Nebenpflicht aus § 241 Abs. 2 BGB 3. Vertretenmüssen der Pflichtverletzung (+) – § 619a BGB als Sonderregelung zu § 280 Abs. 1 S. 2 BGB – Kein anderer Verschuldensmaßstab aus § 276 Abs. 1 S. 1 BGB 4. Kausaler Schaden (+) 2.500 Euro, ersatzfähig nach § 249 Abs. 2 BGB 5. Besonderheiten a) Begründung und Rechtsgrundlage b) Betriebliche Veranlassung (+) – Verhaltenspflichtverletzung schadet nicht c) Haftungsumfang Abhängig von Verschuldensgrad, hier mittlere Fahrlässigkeit; Folge: Abwägung aller haftungsmildernden und haftungsschärfenden Gesamtumstände Sachgerecht: Haftungsreduzierung auf Höhe eines fiktiven Selbstbehalts i.H.v. 500 Euro 6. Ergebnis: Anspruch gekürzt i.H.v. 500 Euro (+) II. Anspruch der G gegen A auf Zahlung von 2.500 Euro aus § 823 Abs. 1 BGB Haftungsbegründender Tatbestand erfüllt, Anspruchskürzung wegen beschränkter Arbeitnehmerhaftung auf 500 Euro Frage 2 – Die Durchsuchung I. Kündigungserklärung und Kündigungsfrist (+) II. Einhaltung der Klagefrist: Einhaltung der 3-Wochen-Frist aus § 4 S. 1 KSchG (+) III. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe IV. Wichtiger Grund 1. Frist des § 626 Abs. 2 BGB: Wahrung der 2-Wochen-Frist (+) 2. „Wichtiger Grund“ Definition: Vorliegen von Tatsachen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.

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Fall 12 „Ärger im Pharmavertrieb“

a) „An sich“ geeigneter Kündigungsgrund – Verletzung einer vertraglichen Nebenpflicht (Rücksichtnahmepflicht) durch Anzeige bei einer staatlichen Behörde – Spannungsverhältnis: Einerseits Interessen des Arbeitgebers auf Rücksichtnahme und Loyalität seiner Arbeitnehmer (Art. 12 Abs. 1 GG) – Andererseits Ausübung eines grundrechtlich gewährten Rechts bei Erstattung einer Anzeige des Arbeitnehmers aus Art. 2 Abs. 1 GG (und Art. 5 Abs. 1 GG) i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip (BVerfG) – Kriterien für Interessenausgleich: Anzeige darf nicht auf unwahren Fakten beruhen, leichtfertig erfolgen oder unverhältnismäßig sein (BAG); vorrangige interne Klärung, sorgfältige Prüfung und Überzeugung der Richtigkeit (EGMR) – Gesamtbetrachtung: interne Klärung zumutbar, Anzeige unverhältnismäßig und „an sich“ geeigneter Kündigungsgrund. b) Negativprognose: aufgrund schwerwiegenden Vertrauensbruchs (+) c) Erforderlichkeit (ultima ratio) (+) d) Interessenabwägung: Weiterbeschäftigung unzumutbar V. Ergebnis: Kündigung begründet Frage 3 – Die Grippeschutzimpfung I. Anspruch der C gegen G aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 253 BGB wegen einer Pflichtverletzung eines Behandlungsvertrags zwischen C und G (–) II. Anspruch der C gegen G aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 253 BGB wegen Verletzung einer Nebenpflicht aus dem Arbeitsvertrag (–) 1. Schuldverhältnis (+) 2. Pflichtverletzung (–): Auswahl der Ärztin ordnungsgemäß; keine Überwachungspflicht; keine Pflichtimpfung III. Anspruch der C gegen G aus § 823 Abs. 1 oder § 831 Abs. 1 BGB iVm. § 253 BGB (–)

C. Lösungsvorschlag Frage 1 – Der Schaden am Dienstwagen I. Anspruch der G gegen A auf Zahlung von 2.500 Euro aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB Zu prüfen ist, ob G von A Schadensersatz für die Beschädigung des Dienstwagens nach §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB verlangen kann. 1. Schuldverhältnis Zwischen G und A besteht jedenfalls ein Vertragsverhältnis. Dabei könnte es sich um ein Arbeitsverhältnis nach § 611a BGB handeln. 124

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„Ärger im Pharmavertrieb“ Fall 12

[Genauso wäre es möglich, das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses erst bei den haftungsrechtlichen Besonderheiten bei 5. zu prüfen, die Bearbeitenden können sich hier kurz fassen (auch kürzer als hier), sollten die Problematik der Arbeitnehmereigenschaft insgesamt aber nicht übersehen] Ein Arbeitsvertrag liegt vor, wenn die eine Partei der anderen die Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verspricht. Dabei kommt dem Element der Weisungsgebundenheit die maßgebliche Bedeutung zu. A könnte hier aber auch selbstständiger Handelsvertreter sein. Handelsvertreter ist, wer als selbstständiger Gewerbetreibender ständig damit betraut ist, für einen anderen Unternehmer Geschäfte zu vermitteln oder in dessen Namen abzuschließen, dabei ist selbstständig, wer im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann, § 84 HGB. Dafür spricht die Bezeichnung des Vertrages als „Pharmavertriebsvertrag“. Die reine Bezeichnung des Vertrags ist wegen des zwingenden Charakters der meisten Vorschriften des Arbeitsrechts für die Einstufung aber nicht allein ausschlaggebend, § 611a Abs. 2 S. 6 BGB. Maßgeblich ist vielmehr die tatsächliche Vertragsdurchführung. A übt seine Tätigkeit zwar hauptsächlich außerhalb der Betriebsräume der G aus. In der Gestaltung ihrer Tätigkeit ist sie aber dennoch nicht frei. A übt ihre Tätigkeit zwar hauptsächlich außerhalb der Betriebsräume der G aus. In der inhaltlichen Gestaltung ihrer Tätigkeit ist sie aber dennoch nicht frei, etwa weil sie morgens einen Tourenplan ausgehändigt bekommt, anhand dessen sie die vorgegebenen pharmazeutischen Produkte vorführen muss. Auch in der Durchführung der Tätigkeit hält sich die A für telefonische Weisungen bereit. Hinsichtlich des Ortes und der Zeit ist die A auf ein bestimmtes Gebiet festgelegt, das sie im vorgegebenen zeitlichen Rahmen bedienen muss, weiterhin hat sie jeden Morgen in den Geschäftsräumen in Bergisch Gladbach zu erscheinen und einen festgelegten Tag in der Woche Büroarbeiten zu widmen. A ist damit jedenfalls nach der tatsächlichen Durchführung des Vertrags weisungsgebunden und somit Arbeitnehmerin. 2. Verletzung einer Pflicht aus dem Schuldverhältnis Die Parteien eines Schuldverhältnisses sind gemäß § 241 Abs. 2 BGB zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichtet. Diese allgemeine Sorgfalts- und Obhutspflicht dient dazu, die Erbringung der Hauptleistung vorzubereiten und zu fördern, die Leistungsmöglichkeit zu erhalten und den Leistungserfolg zu sichern.2 (BAG NZA 2011, 345, 347). A war zu einem schonenden Umgang mit dem Dienstfahrzeug verpflichtet, das im Eigentum der G stand und den Zweck erfüllt, die Arbeitsleistung der A zu ermöglichen. A hat ihre Pflicht aus § 241 Abs. 2 BGB verletzt, indem sie bei der Rückwärtsfahrt mit dem Laternenpfahl kollidierte, das Fahrzeug beschädigte und dabei das Eigentum der G verletzte. 3. Vertretenmüssen der Pflichtverletzung A müsste die Pflichtverletzung zu vertreten haben. Abweichend von § 280 Abs. 1 S. 2 BGB bestimmt § 619a BGB jedoch, dass ein Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber Schadenersatz für die Verletzung einer arbeitsvertraglichen Pflicht nur dann zu leisten hat, wenn er die Pflichtverletzung zu vertreten hat. Das Vertretenmüssen der A wird daher nicht nach § 280 Abs. 1 S. 2 BGB vermutet. Die A als Schuldnerin hat die beim Autofahren erforderliche Sorgfalt zu 2 BAG 28.10.2010 NZA 2011, 345, 347.

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Fall 12 „Ärger im Pharmavertrieb“

beachten, § 276 Abs. 2 BGB. Die Rückwärtsfahrt beruhte auf einem Schaltfehler. Dadurch, dass die A Gas gab, ohne sicherzustellen, dass der Vorwärtsgang eingelegt war, hat sie fahrlässig gehandelt. Aus § 276 Abs. 1 S. 1 BGB ergibt sich im Übrigen kein milderer Haftungsmaßstab im bestehenden Arbeitsverhältnis. Der Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes ging zwar davon aus, hier die Rechtsprechung des BAG zur beschränkten Arbeitnehmerhaftung zu kodifizieren.3 Dagegen spricht jedoch, dass die richterrechtlichen Grundsätze der beschränkten Arbeitnehmerhaftung nicht an den Haftungsgrund anknüpfen, indem sie das Vertretenmüssen gegenüber der Grundregel des § 276 BGB einschränken. Vielmehr nehmen sie, wenn der Haftungsgrund feststeht, eine besondere Risikozuweisung vor. Es geht daher um eine Regelung der Haftungsfolgen, die nicht Gegenstand von § 276 BGB sind. Die Einbettung der Haftungsprivilegierung des Arbeitnehmers in das Vertretenmüssen nach § 276 BGB erlaubt zudem nur eine „Alles-oder-Nichts-Lösung“ und bietet keine Erklärung für die von der Rechtsprechung zumeist vorgenommene Schadensteilung. Das BAG hat seine bisherige Rechtsprechung auf der Grundlage zur Analogie des § 254 BGB beibehalten, ohne die Überlegungen der Gesetzesverfasser zu § 276 BGB auch nur zu erwähnen.4 Zudem hält die Gesetzesbegründung den Rückgriff auf § 254 BGB ausdrücklich weiterhin offen. Der Gang über § 276 Abs. 1 S. 1 BGB soll lediglich das dogmatische Fundament stärken, auf dem die Grundsätze der Arbeitnehmerhaftung stehen. Eine Einschränkung der Arbeitnehmerhaftung nach dem Inhalt des Arbeitsverhältnisses gemäß § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB ist daher abzulehnen. [Fehlt der letzte Absatz, ist das nur ein leichter Mangel, das Problem kann auch bei den Grundlagen der Besonderheiten der Haftung besprochen werden; die Diskussion, welcher Grad der Fahrlässigkeit vorliegt, kann schon hier erfolgen.] [Dazu mit Nachweisen Fall 6] 4. Kausaler Schaden Durch die Beschädigung des Fahrzeugs ist G ein Schaden entstanden. Gemäß § 249 Abs. 2 BGB kann die die von A dient zur Herstellung der Sache erforderlichen Geldbetrag verlangen. Letzterer besteht in Reparaturkosten in Höhe von 2.500 Euro. 5. Besonderheiten Fraglich ist aber, ob A den Schaden in voller Höhe ersetzen muss. Ein tatsächliches Mitverschulden der G nach § 254 BGB ist dabei nicht ersichtlich. a) Begründung und Rechtsgrundlage Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG und der allgemeinen Ansicht im Schrifttum gilt für die Haftung eines Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber eine Haftungsmilderung nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs.

3 BT-Drs. 14/6837, S. 48. 4 BAG 18.4.2002 NZA 2003, 37; näher Henssler, RdA 2002, 129, 133.

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„Ärger im Pharmavertrieb“ Fall 12

Die Begründung hierfür liegt darin, dass dem Arbeitnehmer häufig Arbeitsmaterial von großem Wert zur Verfügung gestellt wird. Nach dem in §§ 249 ff. BGB niedergelegten Prinzip der Totalreparation würde der Arbeitnehmer für Beschädigungen an diesem Material selbst bei leichtester Fahrlässigkeit in voller Höhe haften. Das würde aber regelmäßig zu hohen Schadenersatzforderungen führen, die aus dem gewöhnlichen Arbeitslohn nicht beglichen werden könnten. Das ist eine Folge, die mit den Gewährleistungen von Art. 12 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG in ihrer Schutzpflichtendimension nicht vereinbar wäre. Hieraus ergibt sich die für eine Rechtsfortbildung nötige planwidrige Regelungslücke. Darüber hinaus bestimmt der Arbeitgeber durch die Ausübung seines Weisungsrechts nach § 106 GewO und seiner betrieblichen Organisationsmacht die Haftungsrisiken des Arbeitnehmers. Diese organisationsspezifischen Risiken müsste der Arbeitgeber selbst tragen, wenn er sich nicht des Einsatzes von Arbeitnehmern bedienen würde. Es wäre daher unbillig, wenn er die mit seiner Arbeitsorganisation geschaffenen Betriebsrisiken auf die Arbeitnehmer abwälzen könnte. Auch sonst trägt der Arbeitgeber die mit dem Betrieb in Verbindung stehenden Risiken. Die mit seinem Unternehmen geschaffene Betriebsgefahr muss sich der Arbeitgeber daher in analoger Anwendung des § 254 BGB zurechnen lassen. Dementsprechend gilt für den Arbeitnehmer bei „betrieblich veranlassten Tätigkeiten“ eine Haftungserleichterung. [Besonders positiv zu bewerten ist es, wenn die Bearbeiter zunächst klar das Bestehen einer Lücke herausarbeiten und in einem zweiten Schritt dann auf die Lückenschließung durch Analogie zu sprechen kommen] [Dazu mit Nachweisen Fall 6] b) Betriebliche Veranlassung Betrieblich veranlasst sind Tätigkeiten des Arbeitnehmers, die ihm arbeitsvertraglich übertragen worden sind oder die er im Interesse des Arbeitgebers für den Betrieb ausführt. Die Tätigkeit braucht dabei nicht zum eigentlichen Aufgabengebiet des Beschäftigten zu gehören. Zudem spielt es für die Frage der betrieblichen Veranlassung der Tätigkeit, bei der der Schaden eingetreten ist, keine Rolle, ob sie fehlerfrei oder fehlerhaft erledigt und ob bei der Arbeit vorsichtig oder leichtsinnig gehandelt wurde. Der betriebliche Charakter der Tätigkeit geht nicht dadurch verloren, dass der Arbeitnehmer bei Durchführung der Tätigkeit vorsätzlich oder fahrlässig seine Verhaltenspflichten verletzt. Zwar liegen derartige Verhaltensverstöße nicht im Interesse des Arbeitgebers. Dem wird aber durch eine entsprechende Haftung des Arbeitnehmers Rechnung getragen. Für die betriebliche Veranlassung reicht es, dass die jeweilige Tätigkeit als solche dem vertraglich Geschuldeten entspricht, und zwar auch dann, wenn dies nicht für deren jeweilige Durchführung im Einzelfall gilt. Maßgeblich ist insofern das „wohl verstandene Interesse“ des Arbeitgebers.5 Der Unfall der A mit dem Dienstfahrzeug ereignete sich, während sie sich auf Weisung sowie im Interesse der G und mithin in Erfüllung ihrer arbeitsvertraglichen Pflichten zur Produktvorstellung fuhr. Obwohl G das Rückwärtsfahren, das zum Unfall führte, nicht angeordnet hatte, handelt es sich um eine betrieblich veranlasste Tätigkeit. Für die Schadensersatzhaftung der A gilt daher dem Grunde nach die Haftungsprivilegierung nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs.

5 BAG 28.10.2010 NZA 2011, 345, 347.

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Fall 12 „Ärger im Pharmavertrieb“

c) Haftungsumfang Liegt ein durch eine betrieblich veranlasste Tätigkeit entstandener Schaden vor, richtet sich der Haftungsumfang insbesondere nach dem Grad des dem Arbeitnehmer vorgeworfenen Verschuldens, hinter das, je nach Schwere, die Betriebs- und Organisationsrisiken des Arbeitgebers zurücktreten. Anders als sonst im bürgerlichen Recht muss sich das Verschulden nicht nur auf die Pflichtverletzung, sondern auch auf den Schadenseintritt beziehen. Hierfür gilt, dass der Arbeitnehmer den Schaden in seiner konkreten Höhe zumindest als möglich voraussehen und dieser für den Fall des Eintritts vom Verschulden umfasst sein muss, wobei Fahrlässigkeit genügt. [Auf die Frage, ob sich das Verschulden auch auf den Schaden beziehen muss, wie das BAG6 einmal im Fall der vorsätzlichen Pflichtverletzung entschieden hat, dazu Fall 6, kommt es hier nicht an.] Nach der Rechtsprechung des BAG werden verschiedene Haftungsstufen unterschieden. Bei Vorsatz hat der Arbeitnehmer den Schaden stets, bei gröbster Fahrlässigkeit und grober Fahrlässigkeit in der Regel allein zu tragen. Bei mittlerer Fahrlässigkeit ist der Schaden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls quotal zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufzuteilen. Bei leichter Fahrlässigkeit trägt der Arbeitgeber den Schaden in voller Höhe. Grobe Fahrlässigkeit fällt dem Arbeitnehmer zur Last, wenn er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in einem besonders schweren Maße verletzt hat und unbeachtet gelassen hat, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Als Steigerung hierzu soll nach (wohl mittlerweile allerdings aufgegebener) Ansicht des BAG „gröbste“ Fahrlässigkeit vorliegen, wenn die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße verletzt wurde und dabei außer Acht blieb, was im konkreten Fall jedem hätte einleuchten müssen7 oder Sicherheitsvorschriften mehrfach und in subjektiv unentschuldbarer Weise verletzt wurden8. Leichte Fahrlässigkeit liegt dagegen in den Fällen des „typischen Abirrens“ der Arbeitsleistung vor, also wenn der Arbeitnehmer sich vergreift, verspricht oder vertut. [Die einleitenden Ausführungen können sehr gut kürzer ausfallen] Entscheidend ist somit, welcher Verschuldensgrad A vorzuwerfen ist. Grobe Fahrlässigkeit wäre wohl anzunehmen, wenn A die Ausfahrt aus der Parkbox bis zum Laternenpfahl in einem Zug schnell durchfahren hätte ohne anzuhalten und sich zu vergewissern, ob Hindernisse bestehen. Bis zum ersten Stopp hielt A aber die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen ein. Ihr Fehlverhalten begrenzte sich auf den Anfahrvorgang, bei dem die Konzentration besonders der Frage gilt, ob der Vorwärtsgang korrekt eingelegt ist. Der Laternenpfahl war im Übrigen nicht so weit entfernt, dass die Vermeidung einer Kollision jedermann durch rechtzeitiges Erkennen der Rückwärtsfahrt sofort möglich gewesen wäre. Grobe Fahrlässigkeit liegt hier daher nicht vor. Leichteste Fahrlässigkeit liegt hier nicht vor, weil der Schalthebel beim Herausnehmen des Rückwärtsgangs nach oben springt, also dem Fahrer ein haptisches und optisches Signal gibt. Dessen Ausbleiben hätte A zur Vorsicht mahnen müssen. Dadurch, dass A beim Wiederanfahren weder den Schalthebel auf seine korrekte Lage im ersten Gang überprüfte noch den Anfahrvorgang durch behutsames Entkuppeln so vorsichtig ge6 BAG 18.4.2002 NZA 2003, 37, 39; abl. Krause, NZA 2003, 577, 582 f. 7 BAG 28.10.2010 NZA 2011, 345, 348. 8 BAG 25.9.1997 NZA 1998, 310, 312.

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staltete, dass ein versehentliches Zurückfahren sofort erkannt hätte werden können, hat A aber normal (mittel) fahrlässig gehandelt. [Mit guter Begründung sind andere Auffassungen vertretbar] Die Haftungsquote richtet sich im Rahmen einer Abwägung der Gesamtumstände, insbesondere von Schadensanlass und Schadensfolgen, nach Billigkeits- und Zumutbarkeitsgesichtspunkten. Primär ist auf den Grad des dem Arbeitnehmer zur Last fallenden Verschuldens, die Gefahrgeneigtheit der Arbeit, die Höhe des Schadens, die Versicherbarkeit des Risikos, die Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb und die Höhe seines Arbeitsentgelts sowie persönliche Umstände des Arbeitnehmers, wie etwa die Dauer der Betriebszugehörigkeit, sein Lebensalter, seine Familienverhältnisse sowie das bisherige Verhalten des Arbeitnehmers abzustellen9. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze dürfte zunächst eine hälftige Teilung der Reparaturkosten von 2.500 Euro sachgerecht sein, sodass für den Schadensanteil der A 1.250 Euro anzusetzen wären. Diese hälftige Teilung kann durch die Umstände des Einzelfalls aber noch modifiziert werden. Der A treffende Verschuldensvorwurf beschränkt sich auf mittlere Fahrlässigkeit. A übt als Außendienstmitarbeiterin zwar keine besonders gefahrgeneigte Tätigkeit aus, ihr Aufgabengebiet erfordert aber das Führen eines Kraftfahrzeugs, was generell gefahrgeneigt ist. Bei Abwägung aller für den Haftungsumfang maßgebenden Umstände fällt zulasten der G ins Gewicht, dass diese es unterlassen hat, für das Dienstfahrzeug eine Vollkaskoversicherung abzuschließen. Deshalb ist es sachgerecht, die Haftung der A auf einen fiktiven Selbstbehalt zu reduzieren, den G bei Abschluss einer Vollkaskoversicherung zu tragen gehabt hätte. Zwar besteht keine Pflicht der G zum Abschluss einer solchen Versicherung für ihre eigenen Gegenstände. In Kombination mit dem Rechtsgedanken des § 241 Abs. 2 BGB (Fürsorgepflicht des Arbeitgebers als vertragliche Nebenpflicht) folgt aus dem Gesichtspunkt der Schadensminderung und den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs eine Obliegenheit des Arbeitgebers, zur Minderung des bei der betrieblich veranlassten Nutzung eines KfZ vom Arbeitnehmer zu tragenden Schadens eine Vollkaskoversicherung abzuschließen und auf diese Weise Schadenshöhe und innerbetriebliche Haftung des Arbeitnehmers zu reduzieren. Deshalb ist die Haftung der A auf den Selbstbehalt von 500 Euro zu begrenzen. [Es kommt in erster Linie auf die Abwägung der haftungsschärfenden und haftungsmildernden Umstände an. Die Bemessung der Haftungssumme ist zweitrangig.] 6. Ergebnis Nach § 280 Abs. 1 BGB kann G von A Schadensersatz in Höhe von 500 Euro verlangen.

II. Anspruch der G gegen A auf Zahlung von 2.500 Euro aus § 823 Abs. 1 BGB Ferner ist zu untersuchen, ob G gegen A einen Schadenersatzanspruch nach § 823 Abs. 1 BGB zusteht. A hat rechtswidrig und fahrlässig das Eigentum der G, namentlich deren Dienstfahrzeug, beschädigt. Dabei hat sie einen nach § 249 Abs. 1 BGB erstattungsfähigen Vermögensschaden in Höhe von 2.500 Euro verursacht. Fraglich ist, ob die Grundsätze des innerbetrieblichen Schadensausgleichs auch im Rahmen gesetzlicher Schuldverhältnisse An9 BAG 18.4.2002 NZA 2003, 37, 39; BAG 28.10.2010 NZA 2011, 345, 347.

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wendung finden. Hiergegen spricht der Umstand, dass die Haftungsprivilegierung des Arbeitnehmers ihren Ursprung in der vertraglichen Verbindung von Arbeitnehmer und Arbeitgeber hat. Diese Privilegierung liefe jedoch leer, wenn sie nur für vertragliche, nicht aber für deliktische Ansprüche gelten würde. Sie findet nach allgemeiner Ansicht auch auf Ansprüche des Arbeitgebers aus § 823 Abs. 1 BGB Anwendung.10 Nach § 823 Abs. 1 BGB steht G gegen A ein Schadenersatzanspruch folglich ebenfalls nur in Höhe von 500 Euro zu.

D. Lösungsvorschlag Frage 2 – Die Durchsuchung Die Klage gegen die außerordentliche Kündigung ist begründet, wenn die Kündigung unwirksam ist. Zu prüfen ist daher die Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung. Diese richtet sich vor allem, aber nicht nur, nach § 626 BGB. K Kontext: Die Prüfung der außerordentlichen Kündigung folgt zweckmäßigerweise im Wesentlichen dem gleichen Muster wie die Prüfung der ordentlichen Kündigung, nämlich (1) Kündigungserklärung, (2) Klageerhebungsfrist (Präklusion), § 13 Abs. 1 S. 2 KSchG i.V.m. §§ 4, 7 KSchG, (3) Kündigungsfrist (grds. nämlich keine), (4) allgemeine Unwirksamkeitsgründe, (5) Anhörung des Betriebsrats und (6) als Besonderheit gegenüber der ordentlichen Kündigung der wichtige Grund (dazu sogleich).

I. Kündigungserklärung und Kündigungsfrist Mit dem am 4.12.2018 zugegangenen Kündigungsschreiben werden die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Kündigungserklärung, nämlich Bestimmtheit, Zugang (§ 130 I BGB), Ausspruch durch den Vertragspartner und Schriftform (§ 623 BGB) gewahrt. Eine Kündigungsfrist ist bei der außerordentlichen Kündigung nicht einzuhalten. [Längere Ausführungen als hier sind nicht geboten]

II. Einhaltung der Klagefrist C müsste die dreiwöchige Klagefrist nach § 4 S. 1 KSchG eingehalten haben, sonst gilt die Kündigung nach § 7 KSchG als von Anfang an wirksam. Die Klagefrist ist nach § 13 I 2 KSchG auch bei einer außerordentlichen Kündigung einzuhalten. Nach § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG finden die Vorschriften der §§ 4–7 und 13 KSchG auch dann Anwendung, wenn das Kündigungsschutzgesetz grundsätzlich nach § 23 KSchG nicht in betrieblicher Hinsicht auf das Arbeitsverhältnis anwendbar ist, letzteres wäre bei der G aufgrund der Arbeitnehmerzahl, die 10 unterschreitet, jedenfalls bezogen auf die B nicht der Fall. Die B hat Kündigungsschutzklage am 21.12.2018 erhoben. Das ist innerhalb des nach §§ 186 ff. BGB zu berechnenden 3-Wochen-Zeitraums. [Es ist nicht erforderlich, dass das genaue Datum des Fristendes berechnet wird] Die Klagefrist ist damit eingehalten. 10 BAG 17.9.1998 NZA 1999, 141, 144.

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III. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe Allgemeine Unwirksamkeitsgründe sind nicht ersichtlich. Insbesondere bestand bei der G kein Betriebsrat, der nach § 102 BetrVG anzuhören gewesen wäre und es ist kein Eingreifen von Sonderkündigungsschutz ersichtlich. [Die Bearbeitenden können es auch dabei belassen, dass keine allgemeinen Unwirksamkeitsgründe ersichtlich sind und den Punkt sogar ganz weglassen]

IV. Wichtiger Grund Es müsste ein wichtiger Grund zur Kündigung im Sinn von § 626 Abs. 1 BGB vorliegen, wobei die Kündigung nach § 626 Abs. 2 BGB nur innerhalb von zwei Wochen nach Erlangung von Kenntnis über die maßgeblichen Tatsachen für die Kündigung ausgesprochen werden kann. K Kontext: Die Prüfung des „wichtigen Grunds“ erfolgt in mindestens drei Schritten, nämlich (1) Einhaltung der Kündigungserklärungsfrist (Prüfung auch als letztes möglich) gem. § 626 Abs. 2 BGB, wobei die Frist beginnt von dem Zeitpunkt an, in dem der Kündigungsberechtigte positive Kenntnis von Tatsachen erhält, aus denen sich der wichtige Grund ergibt (bei arbeitsteiliger Leitungsorganisation erfolgt eine Zurechnung nach § 31 BGB oder § 166 BGB analog), (2) ein „an sich“ geeigneter Kündigungsgrund, den das BAG unabhängig von Umständen des Einzelfalls prüft und der daher im Grunde stets zu bejahen ist und (3) eine Interessenabwägung. Kontur erlangt diese Prüfung nur, wenn beim „an sich“ geeigneten Kündigungsgrund schon eine Einstufung als personen-, verhaltens- oder betriebsbedingt erfolgt und die Interessenabwägung sich orientiert an den Aspekten, die auch im Rahmen der ordentlichen Kündigung die Prüfung bestimmen, nämlich (a) Negativprognose (bei Zugang der Kündigung ist zu erwarten, dass der wichtige Grund in Zukunft fortbestehen wird), (b) Erforderlichkeit (milderes Mittel ist insbesondere die ordentliche Kündigung), und (c) Interessenabwägung – dem Arbeitgeber kann unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist nicht zugemutet werden. Wenn man Punkt 3 – die allgemeine Interessenabwägung – dergestalt konturiert, ist sie als übergeordneter Gesichtspunkt entbehrlich.

1. Frist des § 626 Abs. 2 BGB G kann von den für die Kündigung maßgeblichen Tatsachen, nämlich die Anzeige der B bei der Aufsichtsbehörde und der Staatsanwaltschaft, frühestens am 30.11.2018 Kenntnis erlangt haben (nach lebensnaher Auslegung des Sachverhalts am 3.12.2018, dem Tag der Durchsuchung), sodass die am 4.12.2018 zugegangene außerordentliche Kündigung die Zweiwochenfrist wahrt. [Auch hier ist eine genaue Fristberechnung nicht erforderlich]

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2. „Wichtiger Grund“ Ein wichtiger Grund ist gegeben, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Es ist zunächst zu prüfen, ob ein bestimmter Sachverhalt (überhaupt) geeignet ist, einen wichtigen Grund zu bilden. Sodann ist zu untersuchen, ob unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die konkrete Kündigung gerechtfertigt ist, d.h., ob es dem Kündigenden unzumutbar geworden ist, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen. a) „An sich“ geeigneter Kündigungsgrund Als „an sich“ geeigneter Kündigungsgrund kommt hier ein verhaltensbedingter Grund in Form der Verletzung einer vertraglichen Nebenpflicht durch Anzeige bei einer staatlichen Behörde in Betracht. Zu den arbeitsvertraglichen Nebenpflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) beider Vertragsparteien gehört insbesondere die vertragliche Rücksichtnahmepflicht, in deren Gehalt als unbestimmter Rechtsbegriff auch grundrechtliche Wertungen einfließen. Kollidiert das dem Arbeitgeber als Ausfluss seiner durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Betätigungsfreiheit zustehende Recht, von dem Arbeitnehmer die Einhaltung eines gewissen Maßes an Rücksicht zu verlangen, mit grundrechtlich geschützten Position des Arbeitnehmers, so ist das Spannungsverhältnis im Rahmen einer Konkretisierung und Anwendung des § 242 BGB grundrechtskonform anzugleichen. Die arbeitsvertraglichen Nebenpflichten sind entsprechend zu konkretisieren. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass der Arbeitnehmer mit der Erstattung einer Strafanzeige ein grundrechtliches Freiheitsrecht, nämlich Art. 2 Abs. 1 GG (Art. 5 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, ausübt, das ihm die Rechtsordnung ausdrücklich gewährt. Es entspricht auch dem allgemeinen Interesse des Rechtsstaats an der Erhaltung des Rechtsfriedens und der Aufklärung von Straftaten, dass auch der Arbeitnehmer zur Aufklärung von Straftaten beitragen darf und diesen besonderen Fällen sogar muss, selbst wenn diese vom Arbeitgeber begangen wurden.11 Die unternehmerische Freiheit des Arbeitgebers wiederum ist durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützt. Daraus folgt ein rechtlich geschütztes Interesse des Arbeitgebers daran, nur mit solchen Mitarbeitern zu arbeiten, die die Ziele des Arbeitgebers fördern und diesen vor Schäden bewahren. Das Bundesarbeitsgericht hat diesen grundrechtlich konturierten, so festgestellten Rahmen dahingehend konkretisiert, dass die Anzeige des Arbeitnehmers weder auf wissentlich unwahrem Vortrag beruhen noch leichtfertig erfolgen darf, noch darf sie sich aus anderen Gründen als eine unverhältnismäßige Reaktion auf ein Verhalten des Arbeitgebers darstellen.12 Die Gründe, die den Arbeitnehmer zu einer Anzeige bewogen haben, sind dabei von besonderer Bedeutung. Erfolgt die Anzeige ausschließlich, um den Arbeitgeber zu schädigen, kann darin eine unverhältnismäßige Reaktion des Arbeitnehmers liegen. Dabei bedarf es hier keiner Klärung, ob das auch für den Fall des sicheren Wissens von einer Pflichtverlet11 BVerfG 2.7.2001 NZA 2001, 888. 12 BAG 2.7.2001 NZA 2004, 427.

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zung des Arbeitgebers gilt. Durch ein derartiges pflichtwidriges Verhalten nimmt der Arbeitnehmer keine verfassungsrechtlichen Rechte war, sondern verhält sich, jedenfalls gegenüber dem Arbeitgeber, rechtsmissbräuchlich. Einer innerbetrieblichen Klärung gebührt zwar kein genereller Vorrang vor einer Anzeige bei staatlichen Stellen, vielmehr ist im Einzelfall zu bestimmen, wann dem Arbeitnehmer eine vorherige innerbetriebliche Anzeige ohne weiteres zumutbar ist und ob ein Unterlassen ein pflichtwidriges Verhalten darstellt. Unzumutbar ist eine vorherige innerbetriebliche Meldung dem Arbeitnehmer dann, wenn er Kenntnis von Straftaten erhält, durch deren Nichtanzeige er sich selbst einer Strafverfolgung aussetzen würde. Entsprechendes gilt auch bei schweren Straftaten. Ebenfalls trifft den Arbeitnehmer keine Pflicht zur innerbetrieblichen Klärung, wenn Abhilfe berechtigterweise nicht zu erwarten ist. Der EGMR13 hat klargestellt, dass Strafanzeigen von Arbeitnehmern gegen ihren Arbeitgeber mit dem Ziel, Missstände in Ihrem Unternehmen offen zu legen, dem Geltungsbereich des Art. 10 EMRK unterliegen und mittels der Strafanzeige vom Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht wird. In erster Linie gebiete die Loyalitätspflicht des Arbeitnehmers aber, zunächst eine interne Klärung zu versuchen, um dann als Ultima Ratio die Öffentlichkeit zu informieren. Darüber hinaus habe jede Person, die Informationen offenlegen wolle, sorgfältig zu prüfen, ob die Informationen zutreffend und zuverlässig seien. Auf der anderen Seite sei auch der Schaden von Bedeutung, der dem Arbeitgeber durch die Veröffentlichung entstanden sei. Wesentlich sei außerdem, ob die Person die Offenlegung in gutem Glauben und in der Überzeugung vorgenommen habe, dass die Information wahr sei, dass sie im öffentlichen Interesse liege, und dass keine anderen, diskreteren Mittel existierten, um gegen den Missstand vorzugehen. [Derart umfangreiche Kenntnisse der Rechtsprechung sind von den Bearbeitenden nicht zu erwarten. Im Kern geht es darum, die vertraglichen Nebenpflicht aus grundrechtlichen Wertungen und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu konkretisieren im Hinblick auf die Problematik des Falles.] Im vorliegenden Fall ist nicht erkennbar, dass die B den Sachverhalt sorgfältig geprüft hat, die übertriebene Schilderung, dass die G „hauptsächlich“ mit Imitaten handeln würde, spricht vor dem Hintergrund, dass eine staatsanwaltschaftliche Durchsuchung nichts Belastendes ergeben hat, eher dagegen. Das Bestehen einer Schädigungsabsicht liegt bei lebensnaher Auslegung des Sachverhalts wegen des zeitlichen Zusammenhangs des Zugangs der ordentlichen Kündigung nahe, ist aber nicht zweifelsfrei. Des weiteren erscheint nach den gegebenen Umständen eine eigene Strafverfolgung der B aufgrund einer Nichtanzeige des Imitats eher fernliegend. In einer Gesamtbetrachtung dürfte es sich bei der Anzeige gegenüber der Staatsanwaltschaft der Aufsichtsbehörde um eine unverhältnismäßige Reaktion auf die zuvor ausgesprochene Kündigung handeln. Jedenfalls hätte die B, ihr Vorbringen zur Wahrnehmung der angeblichen Missstände als richtig unterstellt, schon früher unter Beachtung ihrer Loyalitätspflicht eine interne Klärung versuchen müssen. Ein klärendes Gespräch wäre der B auch zumutbar gewesen. Der B musste durch den Vorgang im Jahr 2017, bei der C der G ein tatsächlich vorliegendes Arzneimittelimitaten angezeigt hatte, bekannt sein, dass die G sich um das Erkennen von Imitaten bemüht, die anzeigenden Mitarbeiter belohnt und ein Inverkehrbringen verhindert. Die B hat damit gegen ihre vertragliche Rücksichtnahmepflicht nach § 241 Abs. 2 BGB verstoßen und somit einen wichtigen Grund zur Kündigung im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB gesetzt.

13 EGMR 21.7.2011 NZA 2011, 1269.

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b) Negativprognose Für die Rechtfertigung einer Kündigung sind angesichts der dem Kündigungsrecht immanenten Wirkung für die Zukunft in erster Linie die künftigen Auswirkungen vergangener oder gegenwärtiger Ereignisse ausschlaggebend. Die Kündigung ist nicht das geeignete Mittel, um bereits eingetretene Störungen einer Vertragsbeziehung abzuwickeln, sondern soll vielmehr weitere Störungen verhindern. Der mit der Anzeige verbundene Vertrauensbruch ist hier aber so schwerwiegend, dass mit einer vertrauensvollen Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses in der Zukunft, auch nur bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist, nicht zu rechnen ist. c) Erforderlichkeit (ultima ratio) Die außerordentliche Kündigung kann wegen der mit ihr verbundenen Durchbrechung des Prinzips „pacta sunt servanda“ stets nur das äußerste Mittel zur Vertragsbeendigung, also Ultima Ratio sein. Nach dem Grundsatz der Erforderlichkeit ist also insbesondere zu fragen, ob der mit der außerordentlichen Kündigung verfolgte Zweck nicht auch mit dem milderen Mittel der ordentlichen Kündigung erreicht werden könnte. Dieser Grundsatz ist im Tatbestand des § 626 Abs. 1 BGB immanent. Insbesondere ist auch die vorherige Abmahnung bei der außerordentlichen Kündigung ein wesentlich milderes Mittel. Bei besonders schweren Pflichtverletzungen ist eine vorherige Abmahnung allerdings entbehrlich. Das ist dann der Fall, wenn es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist. So liegt es hier. Nach der unverhältnismäßigen und wohl von unlauteren Motiven getragenen Anzeige der B kann nicht erwartet werden, dass das Arbeitsverhältnis jemals gedeihlich fortgesetzt werden könnte. d) Interessenabwägung Durch die vorschnelle Anzeige hat die B die G leichtfertig beschuldigt, eine, nicht nur durch die Berichterstattung der Lokalzeitung öffentlichkeitswirksame Durchsuchung der Betriebsräume der G verursacht und so das Vertrauensverhältnis in einer Weise belastet, dass G eine Weiterbeschäftigung auch nur während der noch laufenden Kündigungsfrist nicht mehr zumutbar wäre. [Die Punkte b–d können auch kürzer und zusammen angesprochen werden]

V. Ergebnis Ein wichtiger Grund liegt damit vor, die Kündigung ist somit wirksam, die Kündigungsschutzklage mithin unbegründet. K Kontext: Ist die außerordentliche Kündigung – anders als hier – unwirksam, ist die Kündigungserklärung regelmäßig in die Erklärung einer regelmäßig auch ohne ausdrücklichen Vorbehalt mit umfasste ordentliche Kündigung umzudeuten (§ 140 BGB). 134

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Der Arbeitgeber wird regelmäßig die ordentliche Kündigung wollen, wenn die außerordentliche Kündigung unwirksam ist. Dann ist in einer Prüfungsarbeit die Wirksamkeit der ordentlichen Kündigung zu prüfen. Aber Achtung: Hier kann die Unterrichtung des Betriebsrats nach § 102 BetrVG von der ordentlichen Kündigung fehlen und es besteht eine längere Stellungnahmefrist (in der Praxis wird der Betriebsrat daher regelmäßig direkt zu einer „außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen“ Kündigung angehört).

E. Lösungsvorschlag Frage 3 – Die Grippeschutzimpfung I. Anspruch der C gegen G aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 253 Abs. 2 BGB wegen einer Pflichtverletzung des Behandlungsvertrags Die C könnte gegen G einen Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes nach §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 253 Abs. 2 BGB wegen der Verletzung einer (Aufklärungs-) Pflicht aus einem Behandlungsvertrag (§ 630a BGB) haben. Das setzt voraus, dass zwischen C und G ein Behandlungsvertrag zustande gekommen ist. Ein solcher kommt durch Angebot und Annahme zustande, §§ 145 ff. BGB. Ob hier ein Angebot der G vorliegt, ist nach §§ 133, 157 BGB unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls festzustellen. Zur Impfung hat nicht die G, sondern die Ärztin aufgerufen. Die Einladungs-E-Mail war im Namen der Ärztin unterzeichnet, die Impfung erfolgte gerade vor Beginn der Arbeitszeit. Üblicherweise erbringt die G auch keine medizinischen Dienstleistungen. Die Kostenübernahme durch G allein kann in der Gesamtbetrachtung dagegen nicht die Annahme begründen, dass G die Behandlung habe zusagen oder sich zu dieser verpflichten wollen. Ein Angebot der G liegt nach den Umständen des Falles daher nicht vor. Die Frage einer Verletzung einer Pflicht aus einem Behandlungsvertrag kann wegen dessen Fehlen daher dahinstehen. [Es ist zu erwarten, dass einige Bearbeitende diesen Anspruch nicht ordnungsgemäß prüfen. Erfolgt eine Prüfung dennoch, ist das als besonders positiv zu werten]

II. Anspruch der C gegen G aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 253 BGB wegen der Verletzung einer Nebenpflicht aus dem Arbeitsvertrag Die C könnte gegen G einen Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes nach §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 253 BGB wegen der Verletzung einer Schutzpflicht aus dem Arbeitsvertrag (§ 611a BGB) haben. 1. Schuldverhältnis Zwischen den Parteien besteht eine vertragliche Beziehung, die aus denselben Gründen wie bei A als Arbeitsvertrag zu qualifizieren ist, und damit ein Schuldverhältnis.

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2. Pflichtverletzung Die G müsste eine Pflicht aus dem Arbeitsverhältnis verletzt haben. Im Arbeitsverhältnis bestehen nicht nur Haupt-, sondern nach § 241 Abs. 2 BGB auch vertragliche Nebenpflichten. Diese wären hier verletzt, wenn die G als Arbeitgeberin eine Gefahrenlage geschaffen hätte und deswegen zu Hinweisen und Informationen verpflichtet gewesen wäre. Inwieweit diese Pflichten bestehen, hängt von einer umfassenden Interessenabwägung ab. Der Arbeitgeber, hier die G, muss die Maßnahmen ergreifen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Arbeitgeber für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schaden zu bewahren. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Arbeitgeber nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnen kann. Haftungsbegründend wird eine Gefahr erst, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die nahe liegende Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden. Daher reicht es aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Arbeitgeber für ausreichend halten darf, um die Arbeitnehmer vor Schäden zu bewahren und die den Umständen nach zuzumuten sind. [Der letzte Absatz kann knapper dargestellt werden.] Die Auswahl der Ärztin ließ vorliegend keine Mängel erkennen. Deren Überwachung war nicht erforderlich. Ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Arbeitgeber darf davon ausgehen, dass ein approbierter Arzt eine Impfung nach den Regeln der Kunst ausführt und ordnungsgemäß aufklärt. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem gesteigerten Interesse des Arbeitgebers daran, dass sich die Arbeitnehmer impfen lassen: es stand den Arbeitnehmern völlig frei, an der Impfung teilzunehmen oder auch nicht. Die Impfung stand in keinem Zusammenhang mit der Arbeitsleistung der C, weshalb sie dem privaten Bereich zuzurechnen ist, für den diese in erster Linie selbst verantwortlich ist. Eine Verletzung einer arbeitsvertraglichen Pflicht liegt damit nicht vor. Der Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 253 Abs. 2 BGB besteht daher nicht. [Hier ist insgesamt eine andere Auffassung mit entsprechender Begründung vertretbar. Negativ ist es aber zu bewerten, wenn über die Pflichtverletzung, die hier der Schwerpunkt des Klausurteils war, gar nicht oder nur pauschal gesprochen wird. Wird an dieser Stelle eine Pflichtverletzung angenommen, müssen die Bearbeitenden unter einem Punkt nach Vertretenmüssen (wird vermutet, § 619a BGB findet in diese Richtung keine Anwendung) und dem kausalen Schaden zu Besonderheiten des Arbeitsverhältnisses kommen. Hier ist schon die Kausalität des Schadens nicht unproblematisch, diese wäre nämlich von der C zu beweisen. Fahren die Kandidaten mit der Prüfung fort, was häufig der Fall sein dürfte, wirkt sich die Regelung des § 104 Abs. 1 SGB VII aus, danach sind Unternehmer den Versicherten, die für ihre Unternehmen tätig sind oder zu ihrem Unternehmen in einer sonstigen die Versicherung begründenden Beziehung stehen, für den Ersatz des Personenschadens, den ein Versicherungsfall verursacht hat, nur verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder im Sinne eines Wegeunfalls herbeigeführt haben. Weder ein vorsätzliches Herbeiführen noch ein Wegeunfall dürfte hier vorliegen. Nicht negativ zu bewerten ist es im Rahmen dieser Klausur, wenn der Versicherungsfall nach § 8 SGB VII nur oberflächlich geprüft wird.]

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III. Anspruch der C gegen G aus § 823 Abs. 1 oder § 831 Abs. 1 BGB iVm § 253 Abs. 2 BGB Der Anspruch der C gegen G aus § 823 Abs. 1 oder § 831 Abs. 1 BGB iVm § 253 Abs. 2 BGB scheitert daran, dass die G nur zur ordnungsgemäßen Auswahl der die Impfung durchführenden Person verpflichtet war, dieser Pflicht ist sie nachgekommen.

IV. Ergebnis Die C hat keinen Anspruch auf Schmerzensgeld gegen G. K Zur Vertiefung: Zur Arbeitnehmerhaftung s. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 294– 317; Preis/Temming Individualarbeitsrecht Rn. 2376–2433. Zur außerordentlichen Kündigung s. Junker Rn. 394–415; Preis/Temming Rn. 3064–3139. Insbesondere zu Whistleblowing und Loyalitätspflichten s. Junker Rn. 224; Preis/Temming Rn. 1174–1183; 1209–1211.

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Fall 13 „Verspätungen in der Konzernholding“ A. Falldarstellung Der N ist bei der G seit dem 1.3.2017 als Vorstandsassistent gegen ein monatliches Bruttogehalt von 3.500 Euro beschäftigt. N ist einem kleinen Team zugeordnet, in dem die Chefin selbst mitarbeitet. Die G ist als Holding an mehreren Tochtergesellschaften beteiligt. Dabei handelt es sich um Gesellschaften mit beschränkter Haftung, die den Verkauf von Kraftfahrzeugen betreiben. An sechs Autohäusern in Deutschland ist die G zu 100 %, an einem Tochterunternehmen in Frankreich mit mehreren Enkelunternehmen zu 99,48 % und an weiteren Tochterunternehmen zu 90 % beteiligt. Zwischen den Untergesellschaften und G bestehen Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge. Der Geschäftszweck der G ist auf die Vermögensverwaltung und Geschäftsführung beschränkt. Mit den ihr nachgeordneten Autohäusern teilt die G weder einen Standort noch eine Büroorganisation. Im gesamten Konzern waren 2017 insgesamt 294 Arbeitnehmer beschäftigt. Bei G selbst waren im gleichen Jahr zwölf Mitarbeiter tätig. Im Verlauf des Jahres 2018 waren, bis auf zwei kurzfristige Probearbeitsverhältnisse, nicht mehr als zehn Mitarbeiter bei der G beschäftigt. Es existiert kein Betriebsrat. Im Laufe des Jahres 2018 kommt es zwischen N und G zu Spannungen, weil N mindestens zwei Verhandlungstermine mit Kunden der G mangelhaft vorbereitete und es deshalb nicht zum Geschäftsabschluss kam. Eine Abmahnung seitens der G erfolgte nicht. Mit Schreiben vom 7.1.2019, das dem N am selben Tage zugeht, kündigt die G das Arbeitsverhältnis mit N fristgerecht zum 31.3.2019. Mit seiner am 27.1.2019 bei dem zuständigen Gericht eingegangenen und der G am 30.1.2019 zugestellten Kündigungsschutzklage macht N die Sozialwidrigkeit der Kündigung geltend. Er ist der Auffassung, dass das KSchG bei G Anwendung findet. Auch wenn die G regelmäßig nur zehn Arbeitnehmer beschäftige, müsse sie sich als Konzernholding zumindest die Arbeitnehmer jener Unternehmen zurechnen lassen, an denen sie zu 100 % beteiligt sei und mit denen sie Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge geschlossen habe. Hier liege wirtschaftliche Identität vor, sodass nicht allein auf die G für die Anzahl der beschäftigten Arbeitnehmer abgestellt werden dürfe. Alles andere liefe auf eine Umgehung des KSchG hinaus; dies sei verfassungswidrig. Zudem falle die G als millionenschweres Unternehmen nicht unter den Schutzzweck der Kleinbetriebsklausel. Die G meint, dass das KSchG auf sie keine Anwendung finde, weil nur ihre Arbeitnehmer mitzuzählen seien. Sie als Holding bilde mit ihren nachgeordneten Autohäusern keinen einheitlichen Betrieb. Sie sei lediglich Trägerin und Verwalterin von Geschäftsanteilen ihrer Tochtergesellschaften und übe daher nur konzernrechtliche Leitungsmacht aus. Sie unterhalte auch keine eigene Personalverwaltung. Im Übrigen sei die Kündigung aus personenbedingten Gründen gerechtfertigt, weil N schlechte Leistungen erbracht und dies zu dem Betriebsklima abträglichen Querelen im kleinen Team geführt habe. Frage 1: Wie wird das Arbeitsgericht über die zulässige Klage entscheiden? Dem jetzt 26-jährigen F, der seit Beginn des Jahres 2014 bei der G als Sekretär beschäftigt ist, fällt das allmorgendliche Aufstehen schwer. Er kommt daher gelegentlich zu spät zur Arbeit, obwohl seine Vorgesetzte besonderen Wert auf pünktliches Erscheinen legt. Als die dunkle 138

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„Verspätungen in der Konzernholding“ Fall 13

Jahreszeit beginnt – im Oktober und November 2014 – häufen sich diese Vorkommnisse. In dieser Zeit erscheint F drei- bis viermal pro Woche fünf bis zehn Minuten nach Arbeitsbeginn im Büro. Mit Schreiben an den F vom 8.12.2014 führt die G diese „schwerwiegenden Verstöße gegen die Arbeitspflicht“ im Einzelnen auf. Sie fordert von F die strikte Einhaltung der Arbeitszeiten und droht im Falle der weiteren Unpünktlichkeit mit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Eine Abschrift des Schreibens wird zur Personalakte genommen. F, der um seinen Arbeitsplatz bangt, trifft Vorkehrungen, morgens rechtzeitig aufzustehen. Entsprechend gelingt es ihm, in der Folgezeit seine Arbeit pünktlich aufzunehmen. Fünf Jahre später, im Herbst 2019, kommt F erneut häufig zwischen sieben und zwölf Minuten zu spät zur Arbeit. Mitte November fasst die Geschäftsführerin der G angesichts der Vorkommnisse den Entschluss, F zu kündigen. Die Geschäftsführerin der G übergibt dem F noch am selben Tag (23.11.2019) ein Schreiben, in dem sie ihm fristgemäß kündigt. F erhebt am 29.11.2019 Klage vor dem örtlich zuständigen Arbeitsgericht auf Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der G vom 23.11.2019 nicht aufgelöst wurde. Frage 2: Unterstellt, das KSchG wäre anwendbar, hätte die zulässige Klage Erfolg? Schwierigkeitsgrad: Überdurchschnittlich schwierige und durchschnittlich umfangreiche Semesterabschlussklausur Rechtsfragen: Anwendbarkeit des KSchG, Kleinbetriebsklausel, Gemeinschaftsbetrieb, Berechnungsdurchgriff im Konzern, Anwendung des KSchG trotz Kleinbetrieb, Verhaltensbedingte Kündigung, ultima-ratio-Prinzip.

B. Lösungsskizze Frage 1 – Klage des N I. Wahrung der Klagefrist des § 4 KSchG – Fristgemäßer Eingang der Klage am 27.1.2019 – Zustellung der Klage außerhalb der Frist am 30.1.2019 – Verspätete Zustellung unschädlich gem. §§ 253, 261 ZPO, § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG II. Anwendbarkeit des KSchG 1. Persönlicher Anwendungsbereich (§ 1 Abs. 1 KSchG) 2. Sachlicher Anwendungsbereich (§ 23 Abs. 1 S. 3 KSchG) Maßgeblich: Mehr als 10 Arbeitnehmer bei G beschäftigt (§ 23 Abs. 1 S. 3 KSchG)? a) Zahl der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer im Betrieb der G – Nicht mehr als 10 Arbeitnehmer zum maßgeblichen Zeitpunkt (Kündigungszugang) b) Vorliegen eines Gemeinschaftsbetriebes zwischen G als Konzernholding und den beherrschten Unternehmen – Grundsatz § 23 Abs. 1 KSchG: betriebsbezogene Sichtweise, keine Berücksichtigung der Arbeitnehmerzahl anderer selbstständiger Unternehmen 139

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Fall 13 „Verspätungen in der Konzernholding“

c) Berücksichtigung der in den Untergesellschaften beschäftigten Arbeitnehmer durch kündigungsschutzrechtlichen „Berechnungsdurchgriff im Konzern“ – Hintergrund: Zwecke der Herausnahme von Kleinbetrieben aus dem allgemeinen Kündigungsschutz u.a. Bedeutung des Betriebsklimas durch persönlichen Kontakt, geringe Finanzausstattung und Verwaltungskapazität – BVerfG: Verfassungskonforme Auslegung von § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG; Kleinbetriebsklausel wegen Arbeitnehmergrundrechten (Art. 12 Abs. 1, 3 Abs. 1 GG) nur bei tatsächlichen Vorliegen einer Kleinbetriebskonstellation anwendbar – Zurechnung der Arbeitnehmer der Tochterunternehmen zu G? Dafür: Konzerngesellschaft in der Lage Abfindungen zu zahlen (§ 1a KSchG oder §§ 9, 10 KSchG) Dagegen: Zusammenarbeit in kleinem Team (kleinbetriebsähnlich); sensibles Betriebsklima Dagegen: geringe Verwaltungskapazität Abwägung: finanzielle Leistungsfähigkeit der G allein genügt nicht für „Berechnungsdurchgriff“; Risiko der erzwungenen Weiterbeschäftigung besteht d) Zwischenergebnis: KSchG unanwendbar; keine Prüfung der sozialen Rechtfertigung (§ 1 Abs. 2 KSchG) III. Sonstige Unwirksamkeitsgründe für die Kündigung des K – Verfassungsrechtlicher Mindestkündigungsschutz (§§ 242, 138 Abs. 1 BGB) außerhalb des KSchG – Kündigung der K aufgrund von sich negativ auf das Betriebsklima auswirkenden Spannungen nicht willkürlich oder sachfremd IV. Ergebnis: Kündigung wirksam, Klage unbegründet Frage 2 – Klage des F I. Wirksame Kündigungserklärung der G Wirksame Willenserklärung, Schriftform (§ 623 BGB) und Bestimmtheit (+) II. Einhalten der Klagefrist, § 4 KSchG (+) III. Wirksamkeit der Kündigung nach § 1 KSchG 1. Schuldhafte Verletzung einer Vertragspflicht – Verletzung der Pflicht zum pünktlichen Arbeitsbeginn durch Verschlafen; Vertretenmüssen (+) – Vermutung der Störung des Betriebsablaufs 2. Fehlen milderer Mittel (Ultima-Ratio-Prinzip: Vorrang der Abmahnung) – Wirksamkeit einer lang zurückliegenden Abmahnung unter Berücksichtigung des Zwecks der Abmahnung: Rüge- und Warnfunktion

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– Warnfunktion zum Zeitpunkt der Kündigung noch gegeben? Dagegen: keine regelmäßigen Verspätungen zwischen Dezember 2014 und Herbst 2019 Dagegen: Bestand des Arbeitsverhältnisses seit mehreren Jahren; erfahrungsgemäß schneller Ausspruch einer Abmahnungen zu Beginn eines Arbeitsverhältnisses als bei verdienten Arbeitnehmern 3. Zwischenergebnis: keine wirksame Abmahnung, keine soziale Rechtfertigung IV. Ergebnis: Kündigung unwirksam, Klage begründet

C. Lösungsvorschlag – Klage des N Das Arbeitsgericht wird der zulässigen Klage des N stattgeben, wenn sie begründet ist. Dies ist der Fall, wenn die Kündigung der G vom 7.1.2019, die schriftlich (§§ 623, 126 BGB) abgefasst war und dem N am selben Tag zugegangen ist, unwirksam ist.

I. Wahrung der Klagefrist des § 4 KSchG Die Klagefrist des § 4 KSchG gilt nach § 23 Abs. 1 KSchG auch für Kleinbetriebe, da die Bereichsausnahme u.a. für die §§ 4 bis 7 KSchG ausdrücklich ausgeklammert worden ist. Darum muss auch in den Fällen, in denen das KSchG wegen Vorliegens eines Kleinbetriebs keine Anwendung auf das jeweilige Arbeitsverhältnis findet, die Klagefrist des § 4 KSchG eingehalten werden, um nicht im Hinblick auf die Geltendmachung der Unwirksamkeit der Kündigung materiell präkludiert zu werden. N muss also innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 4 S. 1 KSchG Klage erhoben haben. Da die streitgegenständliche ordentliche Kündigung dem N am 7.1.2019 zugegangen ist, endete die Frist mit Ablauf des 27.1.2019 (§ 188 Abs. 2 BGB). Die Klage ist bei Gericht am 27.1.2019 eingegangen, also noch innerhalb der Frist des § 4 KSchG. Allerdings wird die Klage erst erhoben, wenn sie dem Beklagten zugestellt und damit rechtshängig geworden ist (§§ 253, 261 ZPO, § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG). Die Zustellung erfolgte am 30.1.2019 und damit außerhalb der Frist. Dies ist jedoch unschädlich, wenn ein Fall des §§ 167, 495 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG vorliegt. Danach wird die Klagefrist auch dann gewahrt, wenn nach innerhalb der Frist erfolgtem Eingang der Klage deren Zustellung „demnächst“ erfolgt. Dies ist stets der Fall, wenn das Gericht die Klage innerhalb einer nach den jeweiligen Umständen noch angemessenen Frist zustellt, ohne dass es auf ein Verschulden des Klägers ankäme; dieses schadet nur bei längerer Verzögerung. Hier sind drei Tage in jedem Fall noch angemessen. Somit hat N die Klagefrist des § 4 KSchG gewahrt. K Kontext: Für die rechtzeitige Klageerhebung allgemein und zur Wahrung der Präklusionsfrist kommt es grundsätzlich auf die Zustellung beim Beklagten (Arbeitgeber) an, §§ 253, 261 ZPO, § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG. Die Klagefrist wird nach §§ 167, 495 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG aber durch Eingang bei Gericht gewahrt, wenn die Zustellung durch das Gericht beim Beklagten „demnächst“ erfolgt, was der Fall ist, wenn das Gericht die Klage innerhalb einer den jeweiligen Umständen noch angemessenen Frist zustellt. Nach der Rechtsprechung sind selbst zwei Wochen bei Verschulden des

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Fall 13 „Verspätungen in der Konzernholding“

Klägers noch eine angemessene Frist.1 In der Regel finden sich in Prüfungssachverhalten (etwas ungenau) keine Angaben zur Zustellung beim Beklagten, diese Ausführungen zur ZPO sind dann entbehrlich.

II. Anwendbarkeit des KSchG Im Gegensatz zur Klagefrist kann die soziale Rechtfertigung der ordentlichen Kündigung nur überprüft werden, wenn das KSchG auf das Arbeitsverhältnis des N mit G Anwendung findet. 1. Persönlicher Anwendungsbereich (§ 1 Abs. 1 KSchG) Das Arbeitsverhältnis zwischen N und G müsste im Zeitpunkt der Kündigung länger als sechs Monate bestanden haben, § 1 Abs. 1 KSchG. Da N bei G seit dem 1.3.2017 beschäftigt ist und ihm die Kündigung am 7.1.2019 zuging, ist dies der Fall. Folglich ist der persönliche Anwendungsbereich des KSchG gegeben. 2. Sachlicher Anwendungsbereich (§ 23 Abs. 1 S. 2, 3 KSchG) Der sachliche Anwendungsbereich des KSchG ist für N davon abhängig, ob bei G mehr als 10 Arbeitnehmer beschäftigt sind, § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG. a) Zahl der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer im Betrieb der G Für die Ermittlung der Beschäftigtenzahl im Betrieb der G ist der Zeitpunkt des Kündigungszugangs maßgebend. Ausgehend von diesem ist die Zahl der regelmäßig beschäftigten ständigen Arbeitnehmer durch einen Rückblick auf die bisherige personelle Situation und eine Vorschau auf die künftige Entwicklung zu bestimmen. Im Betrieb der G waren im Zeitpunkt der Kündigung (Januar 2019) nur zehn Arbeitnehmer regelmäßig beschäftigt. Dagegen zählen die zwei kurzfristigen Probearbeitsverhältnisse nicht mit. Die betreffenden Mitarbeiter gehörten nicht ständig der G an und können somit auch nicht die Zahl der Regelarbeitsplätze erhöhen. Dass im Jahr 2017 noch 12 Arbeitnehmer beschäftigt waren, erhöht die Zahl der regelmäßig beschäftigten Mitarbeiter im Januar 2019 ebenfalls nicht, da – bei gebotener Einbeziehung der zukünftigen Entwicklung – im Gegenteil ein gegenläufiger Trend in Richtung einer rückläufigen Beschäftigtenentwicklung erkennbar ist. Stellt man getreu dem Wortlaut des § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG nur auf den Betrieb der G ab, wird der hier für die Anwendung des KSchG erforderliche Schwellenwert von mehr als zehn regelmäßig beschäftigen Arbeitnehmern somit nicht erreicht, sodass die Kündigung nicht der Prüfung ihrer sozialen Rechtfertigung nach § 1 Abs. 2 KSchG unterliegt. b) Vorliegen eines Gemeinschaftsbetriebes zwischen G als Konzernholding und den beherrschten Unternehmen An diesem Ergebnis könnten jedoch deshalb Zweifel bestehen, weil die G als Holdinggesellschaft mehrere Tochtergesellschaften beherrscht, indem sie insbesondere an sechs Autohäusern in Deutschland zu 100 % beteiligt ist und auch mit diesen Beherrschungs- und Ge1 BAG 13.5.1987 AP BGB § 209 Nr. 3.

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winnabführungsverträge nach §§ 291 ff. AktG abgeschlossen hat. Die G steht deshalb als herrschendes Unternehmen an der Spitze vertraglich verbundener, jedoch rechtlich selbstständiger Unternehmen (sog. Vertragskonzern). Allerdings ist § 23 Abs. 1 KSchG ausdrücklich betriebsbezogen und schon gar nicht unternehmensübergreifend. Daraus folgt, dass bei der Berechnung der für die Anwendung des allgemeinen Kündigungsschutzes notwendigen Arbeitnehmerzahl die von anderen Arbeitgebern (Unternehmen) beschäftigten Arbeitnehmer grundsätzlich nicht mit zu berücksichtigen sind. Etwas anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn zwei oder mehr Unternehmen einen gemeinsamen Betrieb im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BetrVG gründen. Ein solcher Gemeinschaftsbetrieb könnte hier zwischen der G als Konzernholding und ihren Tochterunternehmen oder zumindest einzelnen von ihnen bestehen, was angesichts der Beschäftigung von fast 300 Arbeitnehmern im gesamten Konzern zur Überschreitung des Schwellenwertes des § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG führen würde. Ein Gemeinschaftsbetrieb setzt voraus, dass sich die an ihm beteiligten Unternehmen rechtlich – ausdrücklich oder stillschweigend – verbunden haben, um im Rahmen einer gemeinsamen Arbeitsorganisation unter einheitlicher Leitungsmacht arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt zu verfolgen. Hier besteht aber kein solch betrieblich-organisatorischer Leitungsapparat. Es ist nicht ersichtlich, dass die G für alle Autohäuser entsprechende Leitungsentscheidungen wie Urlaubs- und Schichtplanung oder Personalpolitik trifft. Es ist vielmehr ein konzernbezogenes Weisungsrecht gegeben, das sich aufgrund des Beherrschungsvertrags in Anweisungen an das Leitungsorgan des beherrschten Unternehmens, noch dazu meist nur auf wirtschaftlichem Gebiet, erschöpft. Auch besteht kein einheitlicher arbeitstechnischer Zweck. Die G als Konzernholding und die von ihr beherrschten Untergesellschaften verfolgen unterschiedliche Betriebszwecke. Während die Autohäuser mit dem Verkauf befasst sind, ist der Geschäftszweck der G als Holdinggesellschaft auf die Vermögensverwaltung und Geschäftsführung beschränkt. Auch kann von einer Ausübung der grundlegenden Arbeitgeberbefugnisse im sozialen und personellen Bereich unter einem einheitlichen organisatorischen Leitungsapparat keine Rede sein, da die G mit den Autohäusern weder einen Standort noch eine Büroorganisation teilt. Folglich scheidet ein den hier maßgeblichen Schwellenwert des § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG überschreitender Gemeinschaftsbetrieb zwischen der G und ihren Tochterunternehmen aus. c) Berücksichtigung der in den Untergesellschaften beschäftigten Arbeitnehmer durch kündigungsschutzrechtlichen „Berechnungsdurchgriff im Konzern“ Möglicherweise muss sich die G die in den abhängigen Konzernunternehmen beschäftigten Arbeitnehmer jedoch in Form eines sog. Berechnungsdurchgriffs im Konzern zurechnen lassen. Eine Regelung für Konzernsachverhalte enthält § 23 Abs. 1 S. 2, 3 KSchG nicht. Die Herausnahme von Kleinbetrieben aus dem allgemeinen Kündigungsschutz bezweckt die Berücksichtigung von Besonderheiten der für einen Kleinbetrieb typischen Art der Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern, die sich mehr als bei Großbetrieben durch persönlichen Einsatz in Abhängigkeit von einem gedeihlichen Betriebsklima auszeichnet. Häufig arbeitet der Kleinunternehmer selbst als Chef vor Ort in kleinen Teams mit, was ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen ihm und seinen Mitarbeitern für den geschäftlichen Erfolg unabdingbar macht. Auch fällt eine regelmäßig geringe Finanzausstattung ins Gewicht, die es dem Arbeitgeber nicht erlaubt, Abfindungen bei Auflösung des Arbeitsverhältnisses 143

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Fall 13 „Verspätungen in der Konzernholding“

zu zahlen. Zudem ist die Verwaltungskapazität des Kleinbetriebes meist so schwach ausgeprägt, dass ein Kündigungsschutzprozess diesen stärker belastet als ein größeres Unternehmen. Das spricht stark dafür, das Merkmal des Klein„betrieb“s des § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG dahingehend teleologisch zu reduzieren, dass darunter grundsätzlich ein Klein„unternehmen“ zu verstehen ist. K Kontext: Der Zweck der Herausnahme von Kleinbetrieben aus dem sachlichen Anwendungsbereich des KSchG nach § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG ist es, den dortigen Besonderheiten Rechnung zu tragen (Betriebsklima durch persönlichen Kontakt, geringe Finanzausstattung, Verwaltungskapazität).2 Diese Besonderheiten knüpfen bei genauer Betrachtung aber nicht an den Betrieb als arbeitsorganisatorische Einheit, sondern am Unternehmen als wirtschaftliche Einheit an. Unter einem Klein„betrieb“ des § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG ist also im Weg teleologischer Reduktion in den Fällen, in denen die Zwecksetzung der Kleinbetriebsprivilegierung nicht einschlägig ist, ein Klein„unternehmen“ zu verstehen. Die für die teleologische Reduktion erforderliche planwidrige Lücke ergibt sich, wenn nicht schon aus der Verfehlung des Zwecks bei Fehlen typischer Kleinbetriebskonstellationen, aus verfassungsrechtlichen Erwägungen. Nach der Rechtsprechung des BVerfG verstößt die Anknüpfung des § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG an den Betriebsbegriff im Grundsatz nicht gegen das aus der objektiv-rechtlichen Schutzgebotsfunktion des Art. 12 Abs. 1 GG (freie Wahl des Arbeitsplatzes) folgende Postulat eines Mindestschutzes des Arbeitnehmers vor sachfremden und willkürlichen Kündigungen. Auch ist sie mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Allerdings bedarf es einer am Sinn und Zweck der Kleinbetriebsklausel orientierten verfassungskonformen Auslegung des § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG, welche die Anwendung der Norm auf solche Unternehmenseinheiten beschränkt, für deren Schutz sie allein bestimmt ist und die das für Arbeitnehmer in Kleinbetrieben bestehende größere rechtliche Risiko eines Arbeitsplatzverlustes zu rechtfertigen vermag. Ein „Berechnungsdurchgriff“ auf andere betriebliche Einheiten eines Unternehmens kommt insofern nur in Betracht, wenn angesichts der vom Arbeitgeber geschaffenen konkreten Organisation die gesetzgeberischen Erwägungen für die Privilegierung des Kleinbetriebs bei verständiger Betrachtung ins Leere gehen und die Bestimmung des Betriebsbegriffs nach herkömmlicher Definition unweigerlich zu einer sachwidrigen Ungleichbehandlung betroffener Arbeitnehmer führen würde. K Kontext: Die planwidrige Lücke (oder verfassungskonforme Auslegung von § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG) lässt sich jedenfalls zusätzlich mit der verfassungsrechtlichen Erwägung begründen, dass durch das Weniger an Kündigungsschutz von Arbeitnehmern im Kleinbetrieb die Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1 und 12 Abs. 1 GG betroffen sind. Das wird durch die besondere Interessenlage im Kleinbetrieb gerechtfertigt – aber nur dann, wenn im konkreten Fall diese besondere Interessenlage im Kleinbetrieb des Arbeitgebers auch wirklich vorliegt und nicht, wenn eigentlich ein starkes Unternehmen mit vielen kleinen Betriebseinheiten organisiert ist.3

2 Vgl. BVerfG 27.1.1998 NZA 1998, 470, 472. 3 BVerfG 27.1.1998 BVerfGE 97, 169 zu § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG a.F.; diese Rspr. für § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG der aktuellen Fassung bestätigend BVerfG 12.3.2009 – 1 BvR 1250/08; BAG 21.9.2006 NZA 2007, 438, 442.

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Fraglich ist mithin, ob diese Grundsätze über die Auslegung der Kleinbetriebsklausel des § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG einer Konzernholding wie der G mit nicht mehr als zehn regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmern die Schutzwürdigkeit nimmt und ihr deshalb die in den beherrschten Tochtergesellschaften beschäftigten Arbeitnehmer zugerechnet werden müssen. Dafür könnte sprechen, dass die Finanzausstattung einer Konzernobergesellschaft im Gegensatz zum typischen Kleinbetrieb meist so beschaffen ist, dass sie ohne Weiteres in die Lage versetzt wird, Abfindungen nach § 1a KSchG oder §§ 9, 10 KSchG zu zahlen. Allerdings sprechen hier die übrigen Gesichtspunkte, die einen Ausschluss des Kündigungsschutzes nach dem KSchG rechtfertigen, dafür, der G den Schutz des § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG zu versagen. Zum einen entspricht die Art der Zusammenarbeit zwischen N und der G derjenigen in einem typischen Kleinunternehmen, da N als Vorstandsassistent einem kleinen Team zugeordnet ist, in dem die Chefin selbst mitarbeitet. Auch beruht der Kündigungsgrund auf Missstimmungen und Querelen, die zu einer Störung des für Kleinbetriebe besonders sensiblen Betriebsklimas geführt haben. Außerdem ist die Personalverwaltungskapazität der G gering. Daraus folgt, dass von den für die Rechtfertigung der Bereichsausnahme des § 23 KSchG maßgeblichen Kriterien nur der Gesichtspunkt der geringen Finanzausstattung auf G als Holdinggesellschaft nicht zutrifft. Dies allein kann aber nicht zu einem konzernrechtlichen „Berechnungsdurchgriff“ führen. Liegen bei einer Konzernholding wie der G Kündigungsgründe vor, die wegen der für einen Kleinbetrieb typischen Art der Zusammenarbeit von Arbeitnehmer und Arbeitgeber nach dem Sinn und Zweck des § 23 KSchG eine Trennungsmöglichkeit unter erleichterten Bedingungen erfordern, nützt es einer Holding, die insbesondere (wie hier) einen anderen Betriebszweck als die von ihr beherrschten Untergesellschaften verfolgt, meist wenig, wenn sie mehr finanzielle Möglichkeiten zu Abfindungszahlungen hat als andere Kleinbetriebe. Bietet die G keine Abfindung nach § 1a KSchG an oder lehnt der Arbeitnehmer ein entsprechendes Angebot ab, fehlt es aber an einer Weiterbeschäftigungsmöglichkeit des Arbeitnehmers in den Tochtergesellschaften, und stellt dieser keinen Auflösungsantrag nach § 9 KSchG, verwirklicht sich, wenn auch der Arbeitgeber seinerseits Auflösungsgründe nach § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG (wie in den überwiegenden Fällen) nicht darlegen oder beweisen kann, genau dasjenige Risiko, vor dem § 23 Abs. 1 S. 2, 3 KSchG Kleinbetriebe gerade schützen will – die erzwungene Weiterbeschäftigung. Daraus folgt, dass die G als Konzernholding unter den Schutzzweck der Kleinbetriebsklausel fällt und ein zur Hinzurechnung der in den Tochterunternehmen beschäftigten Arbeitnehmer führender „Berechnungsdurchgriff im Konzern“ ausscheidet. d) Zwischenergebnis Somit unterliegt die streitgegenständliche ordentliche Kündigung des N durch die G vom 7.1.2019 nicht dem KSchG, sodass eine Prüfung ihrer sozialen Rechtfertigung (§ 1 Abs. 2 KSchG) ausscheidet.

III. Sonstige Unwirksamkeitsgründe für die Kündigung des N Die Kündigung des N könnte gemäß §§ 242, 138 Abs. 1 BGB unwirksam sein. Wie bereits angesprochen, gebietet der objektiv-rechtliche Gehalt des Art. 12 Abs. 1 GG als Schutzpflicht ein Mindestmaß an Kündigungsschutz auch für einen Arbeitnehmer im Kleinbetrieb. Der über die Generalklauseln vermittelte Mindestschutz für Arbeitnehmer ist allerdings umso 145

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Fall 13 „Verspätungen in der Konzernholding“

schwächer, je stärker der mit der Kleinbetriebsklausel bezweckte Grundrechtsschutz des Unternehmers (Art. 12 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG) im Einzelfall ins Gewicht fällt. Der Arbeitnehmer soll daher insbesondere vor willkürlichen oder auf sachfremde Motive gestützten Kündigungen geschützt werden; zudem soll auch ein durch langjährige Mitarbeit verdientes Vertrauen in den Fortbestand eines Arbeitsverhältnisses nicht unberücksichtigt bleiben. Hier ist es im Vorfeld der streitgegenständlichen Kündigung auf Grund mangelhafter Vorbereitung zweier Verhandlungstermine durch N, in deren Folge der G ein Geschäft entging, zu Spannungen zwischen der G und N gekommen, die sich negativ auf das für Kleinbetriebe besonders wichtige Betriebsklima ausgewirkt haben. Darauf stützt die G die Kündigung ausdrücklich. Insoweit kann sie nicht als willkürlich oder sachfremd qualifiziert werden, zumal die Gründe mit dem verfassungsrechtlich auf Unternehmerseite determinierten Schutzzweck der Kleinbetriebsklausel konform gehen. Es spielt auch keine Rolle, ob die von der G vorgenommene Einstufung der Kündigung als personenbedingt statt verhaltensbedingt zutrifft und schon deshalb keine Abmahnung erforderlich war. Eine dahingehende Würdigung hätte faktisch eine Überprüfung der sozialen Rechtfertigung durch die „Hintertür“ des § 242 BGB zur Folge, was die mit § 23 KSchG verbundene und zu respektierende Entscheidung des Gesetzgebers unterlaufen würde und auch verfassungsrechtlich nicht geboten ist. Schließlich kann sich N auf einen wie auch immer gearteten Vertrauensschutz als langjährig Beschäftigter schon deshalb nicht berufen, weil sein Arbeitsverhältnis erst am 1.3.2017 begonnen hatte. Folglich sind auf §§ 242, 138 BGB gestützte Gründe für die Unwirksamkeit der Kündigung des N nicht ersichtlich.

IV. Ergebnis Die ordentliche Kündigung der G gegenüber N vom 7.1.2019 ist demnach wirksam, die Klage daher unbegründet, sodass das Arbeitsgericht sie abweisen wird.

D. Lösungsvorschlag Frage 2 – Klage des F Die Klage des F ist begründet, wenn die angegriffene Kündigung nicht den Vorschriften über die Wirksamkeit und ggf. die soziale Rechtfertigung einer Kündigung entspricht.

I. Wirksame Kündigungserklärung der G Die Wirksamkeit einer Kündigung setzt zunächst voraus, dass die Kündigungserklärung wirksam ist. Da es sich bei der Kündigung um eine einseitige, rechtsgestaltende Willenserklärung handelt, ist ihre Wirksamkeit anhand der allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen (§§ 104 ff. BGB) zu beurteilen. Zweifel an der Wirksamkeit der Willenserklärung bestehen im vorliegenden Fall nicht. Eine besondere Form der Kündigung ist gemäß § 623 BGB vorgeschrieben. Die Schriftform ist vorliegend gewahrt (vgl. §§ 125, 126 BGB). Von seinem Inhalt war das Schreiben der G hinreichend bestimmt, sodass für F der Wille der G, das Vertragsverhältnis mit Wirkung für die Zukunft zu beenden, zweifelsfrei erkennbar war. Die Kündigung ist dem F auch zugegangen i.S.d. § 130 BGB.

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„Verspätungen in der Konzernholding“ Fall 13

II. Einhalten der Klagefrist, § 4 KSchG Gemäß § 4 S. 1 KSchG muss eine Kündigungsschutzklage binnen drei Wochen nach Zugang der Kündigung erhoben werden. Nach Ablauf dieser Frist gilt die Kündigung gemäß § 7 KSchG als von Anfang an wirksam. Die Kündigung ist dem F am 23.11.2019 zugegangen. Da F am 29.11.2019 seine Klage erhoben hat, ist die Drei-Wochen-Frist gemäß § 4 S. 1 KSchG offensichtlich gewahrt.

III. Wirksamkeit der Kündigung nach § 1 KSchG Die Kündigung gegenüber F könnte gemäß § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam sein, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. Die Bestimmungen des K sind hier nach dem Sachverhalt anwendbar. Nach § 1 Abs. 2 KSchG ist eine Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. G begründet die Kündigung mit dem wiederholten verspäteten Arbeitsantritt des F. Da es sich hierbei um ein steuerbares Verhalten des F handelt, kommt die verhaltensbedingte Kündigung in Betracht. Eine verhaltensbedingte Kündigung i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG ist sozial gerechtfertigt, wenn ein Arbeitnehmer schuldhaft eine Vertragspflicht verletzt, dies zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Interessen des Arbeitgebers führt, sich diese Beeinträchtigung aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft fortsetzen wird (Negativprognose) und nicht durch mildere Mittel, insbesondere durch eine Abmahnung, abgewendet werden kann (UltimaRatio-Prinzip) und das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt seines Arbeitsplatzes überwiegt (Interessenabwägung). 1. Schuldhafte Verletzung einer Vertragspflicht Sofern zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer nichts Abweichendes vereinbart ist, hat der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung grundsätzlich innerhalb der betrieblichen Arbeitszeit zu erbringen. Der Arbeitnehmer ist daher verpflichtet, seine Arbeit pünktlich mit Beginn der betrieblichen Arbeitszeit aufzunehmen. Diese Verpflichtung hat F verletzt, indem er im Herbst 2014 häufig zwischen 7 und 12 Minuten zu spät gekommen ist und dadurch seine Arbeitsleistung erst nach Beginn der betrieblichen Arbeitszeit aufgenommen hat. Mit einer derartigen Verletzung der Arbeitspflicht geht regelmäßig eine Störung des Betriebsablaufs einher, denn ansonsten müsste angenommen werden, dass der Arbeitnehmer in der fraglichen Zeit überflüssig und sein Einsatz für den Arbeitgeber nicht von Nutzen wäre. Daher spricht eine Vermutung dafür, dass auch die Verspätungen des F zu entsprechenden Störungen geführt haben. Mithin obläge dem F die Beweislast dafür, dass derartige Störungen ausnahmsweise nicht aufgetreten sind. Anhaltspunkte, auf die F einen entsprechenden Vortrag stützen könnte, sind jedoch nicht ersichtlich. Eine Verletzung der Arbeitspflicht rechtfertigt nur dann eine Kündigung, wenn den Arbeitnehmer ein Verschulden an dem vertragswidrigen Verhalten trifft. Als Verschulden ist gemäß § 276 Abs. 1 S. 1 BGB sowohl vorsätzliches als auch fahrlässiges Handeln zu betrachten.

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Fall 13 „Verspätungen in der Konzernholding“

Hinweise für ein vorsätzliches Zuspätkommen des A liegen nicht vor, sodass lediglich Fahrlässigkeit in Betracht kommt. Fahrlässig handelt gemäß § 276 Abs. 2 BGB, wer die im Verkehr objektiv erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Die Verspätungen des F beruhen darauf, dass ihm – insbesondere im Winter – das frühe Aufstehen schwerfällt. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Schwierigkeiten unabänderlich wären, wie dies beispielsweise bei krankhaften Schlafstörungen anzunehmen wäre. Vielmehr dürfte es dadurch zu den Verspätungen kommen, dass F nicht in hinreichendem Maße für ein rechtzeitiges Aufstehen Vorsorge trifft, was beispielsweise durch zeitigeres Zubettgehen am Vorabend oder durch ein besseres Absichern des Aufweckens am Morgen erfolgen könnte. Indem F derartige Vorkehrungen unterlässt, obwohl er um seine „morgendlichen Startschwierigkeiten“ weiß, lässt er die im Verkehr objektiv erforderliche Sorgfalt außer Acht. Die Verletzung der Arbeitspflicht durch F ist mithin fahrlässig i.S.d. § 276 Abs. 2 BGB. 2. Fehlen milderer Mittel (Ultima-Ratio-Prinzip) Eine verhaltensbedingte Kündigung ist jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn dem Interesse des Arbeitgebers an einem Ende des vertragswidrigen Verhaltens nicht durch andere mildere Maßnahmen Rechnung getragen werden kann. Dies ergibt sich aus dem Ultima-Ratio-Prinzip, das nicht nur in § 1 Abs. 2 S. 2 KSchG seinen Niederschlag gefunden hat, sondern auch darüber hinaus als Grundprinzip des allgemeinen Kündigungsschutzes zu beachten ist. Zu den milderen Mitteln, die der Arbeitgeber vor Ausspruch einer verhaltensbedingten Kündigung ergreifen muss, gehört insbesondere die Erteilung einer Abmahnung. Das Erfordernis einer Abmahnung kann auch dem Rechtsgedanken des § 314 Abs. 2 S. 1 BGB als allgemeine Regelung zur Kündigung von Dauerschuldverhältnissen entnommen werden. Erst wenn der Arbeitnehmer das vertragswidrige Verhalten trotz einer ordnungsgemäßen Abmahnung nicht unterlässt, ist eine Kündigung unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit zulässig. Vor Ausspruch der Kündigung hat die G gegenüber F eine ordnungsgemäße Abmahnung wegen wiederholter Verspätungen ausgesprochen. Allerdings ist diese Abmahnung im Jahre 2014 erfolgt. Fraglich ist daher, ob sie im Zeitpunkt der Kündigung noch wirksam ist. In diesem Zusammenhang ist der Zweck der Abmahnung zu berücksichtigen: Diese dient nicht nur dazu, ein genau zu bezeichnendes Fehlverhalten zu rügen, sondern es muss für den Arbeitnehmer auch erkennbar werden, dass bei einer Wiederholung dieses Verhaltens der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses unmittelbar in Gefahr ist. Eine Abmahnung, die längere Zeit vor dem kündigungsrelevanten Verhalten ausgesprochen ist, ist nur dann noch wirksam, wenn sie im Zeitpunkt der Kündigung die angestrebte Warnfunktion noch erfüllt. Eine Regelausschlussfrist, nach deren Ablauf die Warnfunktion und damit die Wirksamkeit der Abmahnung erlischt, gibt es nicht. Vielmehr ist anhand der Umstände des Einzelfalles zu ermitteln, ob dem Arbeitnehmer noch bewusst war, dass eine Wiederholung des gerügten Verhaltens das Arbeitsverhältnis akut gefährdet. Mit anderen Worten ist danach zu fragen, ob der Arbeitnehmer nach § 242 BGB davon ausgehen durfte, dass er wegen seiner Verfehlung nicht mehr belangt wird. Im vorliegenden Fall wird die Warnfunktion durch die Abmahnung, die vor fünf Jahren ausgesprochen wurde, nicht mehr erfüllt. Verspätungen, wie sie in der damaligen Abmahnung gerügt wurden, sind zwischen dem Ausspruch der Abmahnung im Dezember 2014 und dem Herbst des Jahres 2019 nicht mehr vorgekommen. Zwar durfte F nicht davon ausgehen, dass die G nun sein häufiges Zuspätkommen sanktionslos hinnehmen würde, doch musste er nicht mehr damit rechnen, dass durch erneute, wiederholte Verspätungen der Bestand des Arbeitsverhältnisses akut gefährdet sei. Dies gilt umso mehr, als das Arbeitsverhältnis im Zeitpunkt der Abmahnung erst 148

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einige Monate bestand. Erfahrungsgemäß spricht ein Arbeitgeber gegenüber einem Arbeitnehmer, der dem Betrieb noch nicht lange angehört, schneller eine Kündigung aus als gegenüber einem Arbeitnehmer, der bereits seit mehreren Jahren zur Zufriedenheit des Arbeitgebers tätig ist. Mithin ist die Abmahnung vom 8.12.2014 durch Zeitablauf wirkungslos geworden. Die G-GmbH wäre mithin verpflichtet gewesen, gegenüber F zunächst eine erneute Abmahnung auszusprechen. Da sie dies unterlassen hat, verstößt die Kündigung des F gegen das Ultima-Ratio-Prinzip. [a.A. vertretbar] 3. Zwischenergebnis Mangels wirksamer Abmahnung ist die Kündigung nicht erforderlich und damit nicht sozial gerechtfertigt i.S.d. § 1 KSchG.

IV. Ergebnis Die Klage des F ist daher begründet. Das Arbeitsgericht wird feststellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen F und der G durch die Kündigung vom 23.11.2019 nicht aufgelöst worden ist. K Zur Vertiefung: Zum Geltungsbereich des KSchG s. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 357–360; Preis/Temming Individualarbeitsrecht Rn. 2738–2767. Zur verhaltensbedingten Kündigung s. Junker Rn. 368–370; Preis/Temming Rn. 3001–3063.

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Fall 14 „Überteuertes Gemüse“ A. Falldarstellung N ist seit fünf Jahren als Einkäufer für Obst und Gemüse bei der G-GmbH angestellt, die regelmäßig mehr als zehn Vollzeitarbeitnehmer beschäftigt. Der Geschäftsführerin der G-GmbH G geht am 15.1.2020 ein anonymes Schreiben zu, das die Behauptung enthält, dass N von dem Lieferanten X Bargeld erhalten habe. Daraufhin überprüft die G die Unterlagen des N und gelangt zu der Auffassung, dass N Kartoffeln und Zwiebeln zu überhöhten Preisen eingekauft habe. Die G legt dem N am 27.1.2020 den Sachverhalt dar und konfrontiert ihn mit ihrem Verdacht, dass N sie vorsätzlich geschädigt und „Schmiergeld“ angenommen habe. N streitet die Vorwürfe pauschal ab mit den Worten: „Da ist nichts dran, mehr ist nicht zu sagen!“. Bei weiteren Überprüfungen stellt die G am 3.2.2020 fest, dass N im letzten Jahr ein schriftliches Angebot der Firma Y über Kartoffeln der Sorte Nicola unberücksichtigt gelassen und stattdessen Kartoffeln bei dem Lieferanten X gekauft hat, obwohl der Preis 5.000 Euro höher war als bei der Firma Y. Über dieses Vorkommnis findet kein Gespräch mit N statt. Nach Anhörung des Betriebsrats geht dem N am 17.2.2020 die fristlose Kündigung zu. N erhebt am 3.3.2020 Kündigungsschutzklage. Während des arbeitsgerichtlichen Prozesses entdeckt G einen weiteren Vorgang. N hatte auch ein günstigeres Angebot des Lieferanten Y über Zwiebeln außer Acht gelassen und die Zwiebeln zu höheren Preisen bei dem Lieferanten X gekauft. Nach erneuter Anhörung des Betriebsrats bringt die G-GmbH auch diese Verdachtsmomente in den Prozess ein. Nach diesem weiteren Vorwurf lässt sich N in der Verhandlung dahingehend ein, dass er die Waren bei X eingekauft habe, da zwischen den Waren des Lieferanten Y und denen des Lieferanten X große Qualitätsunterschiede bestünden. Die Preise des Y sind regelmäßig niedrig, da Y Obst und Gemüse von schlechter Qualität vertreibt, das teilweise sogar überlagert ist. Diese Aussage erweist sich als zutreffend. Frage: Wie wird das Arbeitsgericht über die Begründetheit der zulässigen Klage des N entscheiden? Schwierigkeitsgrad: Durchschnittlich schwierige und unterdurchschnittlich umfangreiche Semesterabschlussklausur Rechtsfragen: Außerordentliche Kündigung, Verdachtskündigung.

B. Lösungsskizze I. Kündigungserklärung (+) II. Einhaltung der Klagefrist (+) III. Anhörung des Betriebsrates nach § 102 Abs. 1 BetrVG (+) 150

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„Überteuertes Gemüse“ Fall 14

IV. Voraussetzungen des § 626 BGB Kündigungsgrund und Fristeinhaltung 1. Vorliegen eines wichtigen Grundes a) Grund, der an sich geeignet ist, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen Verdacht einer strafbaren oder vertragswidrigen Handlung als wichtiger Grund i.S.d. § 626 BGB? aa) Systematische Einordnung der Verdachtskündigung – Verdachtskündigung als personenbedingte Kündigung: Wegfall der Eignung des Arbeitnehmers für vertraglich geschuldete Tätigkeit wegen Vertrauensverlust seitens des Arbeitgebers bb) Zulässigkeit einer Verdachtskündigung – Verdachtskündigung zulässig; insb. kein Verstoß gegen EMRK cc) Voraussetzungen der Verdachtskündigung (1) Erhebliche Beeinträchtigung der vertraglichen Interessen des Arbeitgebers – Strenge Anforderungen an die Verdachtskündigung wegen Art. 12 GG: erhebliche Vertrauensstörung nötig – Einkauf teurerer Produkte im Zusammenhang mit Schmiergeldzahlungen als erhebliche Beeinträchtigung und außerordentlicher Kündigungsgrund (2) Hinreichende Bemühungen des Arbeitgebers zur Aufklärung des Sachverhalts (Ultima-Ratio-Prinzip) – Pflicht zur Anhörung des beschuldigten Arbeitnehmers unter Darlegung der bisherigen Erkenntnisse; lediglich pauschaler Vorwurf dabei unzureichend – Anhörung am 27.1.2020 ordnungsgemäß, Anhörung am 3.2.2020 zu weiteren Verdachtsmomenten nicht erfolgt; Anhörung entbehrlich wegen fehlender Bereitschaft des N zu substantiierter Stellungnahme – Verdacht bzgl. des Einkaufs von Zwiebeln zu überhöhten Preisen während des Prozesses; Anhörung entbehrlich, Möglichkeit der Stellungnahme des Arbeitnehmers im Prozess (3) Vorliegen hinreichender Anhaltspunkte für einen dringenden Verdacht (Negativprognose) – Fortbestehen der Vertrauensstörung durch dringenden, nicht zu entkräftenden Tatverdacht – Dringender Tatverdacht zum Zeitpunkt der Kündigung (+) – Dringender Tatverdacht zum Zeitpunkt der Einlassung im Prozess (–)

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Fall 14 „Überteuertes Gemüse“

– Maßgeblich: Beurteilungszeitpunkt für dringenden Tatverdacht Lit.: Zeitpunkt der Kündigungserklärung; ggf. Wiedereinstellungsanspruch im späteren Prozess BAG: Wirksamkeit unter Berücksichtigung späterer entlastender Umstände im Prozess Stellungnahme: BAG nicht überzeugend wegen Unterschied von Verdachtskündigung und verhaltensbedingter Kündigung; nachträglich entkräfteter Verdacht als Problem der Prognosekorrektur; Lösung über Wiedereinstellungsanspruch (4) Zwischenergebnis: Verdacht als Kündigungsgrund (+) b) Unzumutbarkeit der Einhaltung der Kündigungsfrist Interessenabwägung zum Zeitpunkt der Kündigungserklärung – Einerseits: N seit fünf Jahren Arbeitnehmer ohne nennenswerte Störungen – Andererseits: Erhebliche, mehrfache Verfehlungen mit großem finanziellen Schaden und fehlende Bereitschaft zur Sachverhaltsaufklärung c) Zwischenergebnis: wichtiger Grund (+) 2. Kündigungserklärungsfrist – § 626 Abs. 2 BGB: Zwei Wochen – Fristbeginn: sichere und möglichst vollständige Kenntnis der kündigungsbegründenden Geschehnisse; hier am 3.2.2020, Kündigung am 17.2.2020 fristgerecht V. Ergebnis: Kündigung wirksam, Kündigungsschutzklage unbegründet.

C. Lösungsvorschlag Die zulässige Klage ist begründet, wenn die angegriffene Kündigung nicht die Voraussetzungen für die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung erfüllt.

I. Kündigungserklärung Die Wirksamkeit einer Kündigung setzt zunächst voraus, dass die Kündigungserklärung wirksam ist. Da es sich bei der Kündigung um eine einseitige, rechtsgestaltende Willenserklärung handelt, ist ihre Wirksamkeit anhand der allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen (§§ 104 ff. BGB) zu beurteilen. An der Wirksamkeit der Kündigungserklärung der G-GmbH bestehen im Hinblick auf Schriftform (vgl. §§ 623, 125, 126 BGB), hinreichende inhaltliche Bestimmtheit (§ 145 BGB), Vertretungsmacht des Erklärenden (§§ 164 BGB, § 35 Abs. 1 GmbHG) und Zugang (§ 130 BGB) keine Bedenken.

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„Überteuertes Gemüse“ Fall 14

II. Einhaltung der Klagefrist Gemäß § 13 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 4 S. 1 KSchG können Arbeitnehmer die Unbegründetheit einer außerordentlichen Kündigung nur innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung durch eine Kündigungsschutzklage geltend machen. Diese Klagefrist ist gewahrt, da N die Klage gegen die Kündigung, die ihm am 17.2.2020 zugegangen ist, am 3.3.2020 erhebt. K Kontext: Der Kündigungsschutz nach dem KSchG betrifft nicht die außerordentliche Kündigung, § 13 Abs. 1 S. 1 KSchG. Die Präklusionsfrist der §§ 4, 7 KSchG finden aber auch auf außerordentliche Kündigungen Anwendung, § 13 Abs. 1 S. 2 KSchG.

III. Anhörung des Betriebsrates nach § 102 Abs. 1 BetrVG Gemäß § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG ist vor jeder Kündigung der Betriebsrat zu hören. Dieses Anhörungserfordernis gilt auch für eine außerordentliche Kündigung. Dabei ist der Arbeitgeber verpflichtet, dem Betriebsrat die Gründe für die beabsichtigte Kündigung mitzuteilen und ihm Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Eine entsprechende Anhörung ist hinsichtlich der am 27.1.2020 entstandenen Verdachtsmomente ebenso erfolgt wie in Bezug auf die am 3.2.2020 und die während des Kündigungsschutzprozesses entdeckten Verdachtsmomente. Die prozessuale Berücksichtigung letzterer, vor dem Kündigungszeitpunkt begründeten, dem Arbeitgeber aber zuvor unbekannten Tatsachen erforderte insofern in analoger Anwendung des § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG das Nachholen der Anhörung.

IV. Voraussetzungen des § 626 BGB Fraglich ist, ob die außerordentliche Kündigung, die die G-GmbH gegenüber N ausgesprochen hat, den Voraussetzungen des § 626 BGB genügt. Gemäß § 626 BGB ist eine außerordentliche Kündigung nur dann gerechtfertigt, wenn ein wichtiger Kündigungsgrund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB gegeben und die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB eingehalten worden ist. 1. Vorliegen eines wichtigen Grundes Ein wichtiger Grund ist gegeben, wenn Tatsachen vorliegen, die prinzipiell geeignet sind, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen und dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragspartner die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. a) Grund, der an sich geeignet ist, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen Die G begründet die Kündigung des N mit der Vermutung, dieser habe die G-GmbH vorsätzlich geschädigt, indem er überteuerte Ware bei dem Lieferanten X eingekauft und dafür von X Schmiergelder angenommen habe. Im Zeitpunkt der Kündigungserklärung sind diese Vorwürfe jedoch nicht nachweisbar. Vielmehr liegt lediglich ein entsprechender Verdacht

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vor, auf den die Arbeitgeberin ihre Kündigung stützt. Fraglich ist, inwieweit in einem solchen Verdacht ein wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB liegen kann. Als wichtiger Grund für eine außerordentliche arbeitgeberseitige Kündigung kommen, ähnlich wie § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG dies für die ordentliche Kündigung vorsieht, Gründe, die in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, in Betracht, im Ausnahmefall auch betriebliche Gründe. aa) Systematische Einordnung der Verdachtskündigung Der Verdacht einer strafbaren oder vertragswidrigen Handlung stellt gegenüber der tatsächlichen Begehung dieser Tat einen eigenständigen Kündigungssachverhalt dar. Während bei einem erwiesenen Fehlverhalten das Institut der verhaltensbedingten Kündigung einschlägig ist, handelt es sich bei einer Verdachtskündigung jedoch um eine personenbedingte Kündigung. Es ist der Verdachtskündigung immanent, dass ein vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers gerade nicht nachweislich vorliegt, wie es für eine verhaltensbedingte Kündigung notwendig wäre. Ansatzpunkt der Verdachtskündigung als personenbedingter Kündigung ist vielmehr, dass durch den Tatverdacht die Eignung des Arbeitnehmers für die vertraglich geschuldete Tätigkeit entfällt, weil dieser nicht mehr das für eine weitere Zusammenarbeit erforderliche Vertrauen des Arbeitgebers genießt. bb) Zulässigkeit einer Verdachtskündigung Teilweise wird bezweifelt, ob eine Verdachtskündigung mit der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK vereinbar ist. Dieses Argument greift jedoch nicht durch, da die Unschuldsvermutung der EMRK lediglich den Staat und seine Institutionen bindet, jedoch keine Wirkung zwischen Privatpersonen entfaltet. Mithin ist eine Verdachtskündigung als Spezialfall der personenbedingten Kündigung prinzipiell zulässig. cc) Voraussetzungen der Verdachtskündigung K Kontext: Die Verdachtskündigung, bei der nicht eine Pflichtverletzung des Arbeitnehmers bewiesen ist (dann verhaltensbedingte Kündigung), sondern nur dahingehend ein Verdacht besteht, ist eine personenbedingte Kündigung, weil und wenn die Eignung des Arbeitnehmers für die vertraglich geschuldete Tätigkeit entfällt, weil dieser nicht mehr das für eine weitere Zusammenarbeit erforderliche Vertrauen des Arbeitgebers genießt. Eine Unvereinbarkeit mit der Unschuldsvermutung in Art. 6 Abs. 2 EMRK1 lehnt die h.M. mit dem Argument ab, dass die EMRK lediglich den Staat binde, jedoch keine Wirkung zwischen Privatpersonen entfalte.2 Ansonsten sind die Besonderheiten der verdachtsbedingten Kündigung unter den allgemeinen Gesichtspunkten (1) Erheblichkeit der Beeinträchtigung, (2) Ultima-ratio (hinreichende Bemühungen des Arbeitgebers um Aufklärung, insbesondere: Information über Verdacht und Anhörung des Arbeitnehmers3), (3) Negativprognose (Vorliegen hinreichender Anhaltspunkte für große Wahrscheinlichkeit, dass Arbeitnehmer Pflichtverletzung begangen hat4) zu prüfen.

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Vgl. Dörner NZA 1993, 873 ff.; Schütte NZA-Beil. 2/1991, 17 ff. BAG 14.9.1994 NZA 1995, 269. So auch BAG 28.11.2007 NZA-RR 2008, 344, 346. BAG 10.2.2005 NZA 2005, 1056, 1059; BAG 12.5.2010 NZA-RR 2011, 15; BAG 25.11.2010 DB 2011, 880.

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„Überteuertes Gemüse“ Fall 14

Als Spezialfall der personenbedingten Kündigung setzt die Verdachtskündigung voraus, dass ein in der Person des Arbeitnehmers liegender Grund zu einer erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher oder vertraglicher Interessen des Arbeitgebers führt, die nicht durch andere mildere Mittel abgewendet werden kann (Ultima-Ratio-Prinzip; insb. Bemühen um Sachverhaltsaufklärung durch Anhörung des Arbeitnehmers), und sich diese Beeinträchtigung aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft fortsetzen wird (Negativprognose; insb. Dringlichkeit des Verdachts). (1) Erhebliche Beeinträchtigung der vertraglichen Interessen des Arbeitgebers Damit der Tatverdacht als in der Person des N liegender Grund eine Kündigung rechtfertigt, müssten durch den Tatverdacht vertragliche Interessen der G-GmbH in erheblichem Maße beeinträchtigt worden sein. Der Tatverdacht hat keinen unmittelbaren Einfluss auf die Fähigkeit des N, die vertraglich geschuldete Tätigkeit als Einkäufer für Obst und Gemüse auszuüben. Eine fehlende Eignung könnte sich lediglich daraus ergeben, dass der Tatverdacht das Vertrauensverhältnis zwischen N und der G-GmbH zerstört hat. Auf Grund der Verdachtsmomente wird die G-GmbH nun der Tätigkeit des N im Hinblick auf dessen Loyalität ein erhebliches Misstrauen entgegenbringen. Ein grundsätzliches Vertrauen des Arbeitgebers in die Loyalität und Ehrlichkeit seiner Mitarbeiter ist jedoch für die Zusammenarbeit unerlässlich, da eine vollständige Kontrolle des Arbeitnehmers weder wünschenswert noch möglich ist. Mithin sind auch Umstände, die zu einer Störung im Vertrauensbereich führen, grundsätzlich geeignet, eine personenbedingte Kündigung zu rechtfertigen. Da der Verdacht eines vertragswidrigen oder strafbaren Verhaltens jedoch unabhängig vom Verschulden des Arbeitnehmers zu beurteilen ist und das Interesse des Arbeitnehmers an der Beibehaltung seines Arbeitsplatzes durch Art. 12 GG geschützt ist, sind an die Zulässigkeit einer Verdachtskündigung strenge Anforderungen zu stellen. Daher liegt nur dann eine erhebliche Störung im Vertrauensbereich vor, die eine Kündigung rechtfertigen kann, wenn die Tat, derer der Arbeitnehmer verdächtigt wird, im Falle ihrer tatsächlichen Begehung eine (verhaltensbedingte, ggf. außerordentliche) Kündigung rechtfertigen würde. Der Arbeitnehmer ist grundsätzlich verpflichtet, bei der Ausführung der ihm übertragenen Tätigkeiten im Interesse des Arbeitgebers zu handeln. Daher ist ein Arbeitnehmer, der die Tätigkeit eines Einkäufers ausübt, prinzipiell verpflichtet, das nach dem Preis-Leistungsverhältnis für den Arbeitgeber günstigste Angebot anzunehmen. Hätte N, wie ihm dies vorgeworfen wird, die preiswerteren Angebote anderer Anbieter ausgeschlagen und die teureren Angebote des X angenommen, ohne dass ein qualitativer Unterschied zwischen den angebotenen Waren bestand, hätte N eine Vertragspflichtverletzung begangen. Zwar wäre in diesem Falle problematisch, ob die G-GmbH zunächst gegenüber N eine Abmahnung hätte aussprechen müssen. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu beachten, dass mit dem Einkauf überteuerter Waren zudem Geldzahlungen des X verbunden waren. In der Annahme von Schmiergeldern liegt ein zusätzlicher Verstoß gegen die Treuepflicht des Arbeitnehmers, da aus einem solchen Verhalten hervorgeht, dass der Arbeitnehmer weniger im Interesse seines Arbeitgebers als im eigenen Interesse handelt. Daher wäre ohne Abmahnung eine verhaltensbedingte, außerordentliche Kündigung gerechtfertigt, wenn N die ihm vorgeworfenen Taten tatsächlich begangen hätte. Mithin führt der Tatverdacht gegenüber N zu einer erheblichen Beeinträchtigung der vertraglichen Interessen der G-GmbH, die bei erwiesener Tat eine außerordentliche Kündigung ohne vorherige Abmahnung rechtfertigen würde.

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Fall 14 „Überteuertes Gemüse“

(2) Hinreichende Bemühungen des Arbeitgebers zur Aufklärung des Sachverhalts (Ultima-Ratio-Prinzip) Nach dem Ultima-Ratio-Prinzip ist eine Kündigung nur dann gerechtfertigt, wenn dem Kündigungsinteresse des Arbeitgebers nicht durch andere mildere Maßnahmen Rechnung getragen werden kann. Daher muss der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Verdachtskündigung alle Möglichkeiten ausschöpfen, um die Störung im Vertrauensbereich, die durch den Tatverdacht eingetreten ist, zu beseitigen. Zu den Mitteln, die hierfür geeignet sind, gehört insbesondere eine Aufklärung des Sachverhalts. Denn hierbei könnte sich die Unschuld des Arbeitnehmers herausstellen, sodass die für die Zusammenarbeit erforderliche Vertrauensbasis wiederhergestellt wäre. Daher ist eine Verdachtskündigung erst zulässig, wenn auch die Aufklärungsbemühungen des Arbeitgebers die Verdachtsmomente, die das Vertrauensverhältnis belasten, nicht ausräumen können. Zu der Verpflichtung des Arbeitgebers, alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts zu unternehmen, gehört insbesondere eine Anhörung des beschuldigten Arbeitnehmers. Diese Anhörung ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG Wirksamkeitsvoraussetzung der Verdachtskündigung, sodass ein schuldhaftes Unterlassen der Anhörung zur Unwirksamkeit der Kündigung führt. Für eine ordnungsgemäße Anhörung des Arbeitnehmers ist es nicht ausreichend, dass der Arbeitnehmer lediglich mit einem pauschalen Vorwurf konfrontiert wird. Der Arbeitgeber muss den Sachverhalt vielmehr unter Heranziehung all seiner bisherigen Erkenntnisse soweit konkretisieren, dass der Arbeitnehmer sich darauf substantiiert einlassen kann. Dabei muss er alle erheblichen Umstände angeben, aus denen er den Verdacht ableitet. Die G-GmbH hat dem N am 27.1.2020 den Sachverhalt dargelegt und ihn mit dem Verdacht konfrontiert, er habe sie vorsätzlich geschädigt, indem er Kartoffeln und Zwiebeln zu überhöhten Preisen von X eingekauft und Schmiergeld angenommen habe. Damit hat die Arbeitgeberin dem N alle Erkenntnisse, die sie im Zeitpunkt der Anhörung hatte, so konkret mitgeteilt, dass N die Möglichkeit gehabt hätte, sich gegen die Anschuldigungen zu verteidigen. Dass N diese Möglichkeit nicht genutzt hat, ändert nichts daran, dass hinsichtlich des ersten Tatverdachts eine ordnungsgemäße Anhörung vorliegt. Allerdings hat die G-GmbH den N nicht erneut angehört, als sich am 3.2.2020 weitere Verdachtsmomente in Bezug auf den Einkauf von Kartoffeln zu überhöhten Preisen von X ergeben haben. Da die G-GmbH ihre Kündigung auch auf diesen Verdacht stützt, wäre sie prinzipiell zu einer erneuten Anhörung des N verpflichtet gewesen. Fraglich ist, ob die Verdachtskündigung durch diese unterbliebene Anhörung unwirksam wird. In diesem Zusammenhang ist der Zweck der Anhörung zu berücksichtigen: Sie dient einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts. Diesen Sinn kann sie allerdings nur dann erfüllen, wenn der Arbeitnehmer bereit ist, sich zu den Verdachtsmomenten zu äußern und damit zur Ermittlung der tatsächlichen Geschehnisse beizutragen. In der Anhörung vom 27.1.2020 hat sich N nicht substantiiert zu den Vorwürfen geäußert, sondern diese pauschal abgestritten. Die G-GmbH konnte daher ohne Verschulden davon ausgehen, dass N nicht bereit sei, durch eine substantiierte Stellungnahme an einer Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken, sodass sich eine weitere Anhörung als nicht zweckdienlich darstellte. Die unterbliebene weitere Anhörung führt daher nicht zur Unwirksamkeit der Verdachtskündigung. Weitere Verdachtsmomente, die den Einkauf von Zwiebeln zu überhöhten Preisen betreffen, werden während des Prozesses von G eingeführt. Auch hierzu hat die G-GmbH den N nicht erneut gehört. Prinzipiell ist es dem Arbeitgeber gestattet, während des Kündigungsschutz-

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prozesses weitere Gründe für die streitige Kündigung vorzubringen, sofern diese im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bereits vorlagen. Eine außergerichtliche Anhörung des Arbeitnehmers ist hier nicht erforderlich, da der Arbeitnehmer während des Rechtsstreits vor Gericht die Möglichkeit hat, sich zu den neu in den Prozess eingebrachten Vorwürfen zu äußern. Danach ist N ausreichend angehört worden. Die G-GmbH hat alle Möglichkeiten zur Sachverhaltsaufklärung ausgeschöpft, ohne dadurch die bestehenden Verdachtsmomente ausräumen zu können. Daher verstößt der Ausspruch der Verdachtskündigung nicht gegen das Ultima-Ratio-Prinzip. (3) Vorliegen hinreichender Anhaltspunkte für einen dringenden Verdacht (Negativprognose) Eine personenbedingte Kündigung setzt weiterhin voraus, dass eine hinreichend gesicherte Negativprognose dergestalt besteht, dass sich die Beeinträchtigung der Interessen des Arbeitgebers in Zukunft aller Wahrscheinlichkeit nach fortsetzen wird. Im Falle einer Verdachtskündigung ist daher erforderlich, dass die Störung im Vertrauensbereich voraussichtlich fortbestehen wird, da der Tatverdacht so dringend ist, dass mit seiner Entkräftung nicht zu rechnen ist. Insofern ist ein Tatverdacht dringend, wenn eine große Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der gekündigte Arbeitnehmer die Straftat oder die Pflichtverletzung begangen hat. Im Zeitpunkt des Ausspruchs der angegriffenen Kündigung bestand ein derartiger dringender Tatverdacht. Der anonyme Brief, den die G-GmbH erhalten hatte, sowie die zwei Einkaufsvorgänge, in denen N das preiswertere Angebot des Anbieters Y zugunsten eines teureren Angebots des X ausgeschlagen hatte, sowie die Tatsache, dass N nicht zu einer Äußerung zu diesen Vorgängen bereit war, begründeten eine hinreichend große Wahrscheinlichkeit dafür, dass N die entsprechenden Taten begangen hat. Im Kündigungsschutzprozess lässt sich N allerdings dahingehend ein, dass er die Waren deshalb bei X eingekauft hätte, weil zwischen den preiswerteren Waren des Anbieters Y und den teureren Waren des X erhebliche Qualitätsunterschiede bestünden. So seien Obst und Gemüse des Y regelmäßig von schlechterer Qualität, teilweise sogar überlagert. Diese Aussage erweist sich als zutreffend. Da der Einkauf qualitativ schlechter Ware auf Dauer die Abwanderung vieler Kunden zur Folge haben dürfte, liegen derartige Geschäfte nicht im Interesse des Arbeitgebers. In Bezug auf das Preis-Leistungsverhältnis waren daher die Angebote des X, die N namens der G-GmbH angenommen hat, günstiger. Daher hat N seine arbeitsvertraglichen Pflichten nicht verletzt, indem er die Angebote des Y ausgeschlagen hat. Nach dem Erkenntnisstand in der mündlichen Verhandlung kann sich der Verdacht eines vertragswidrigen Verhaltens des N daher allein auf den anonymen Brief stützen, den die G-GmbH erhalten hat. Dieser Verdacht ist jedoch nicht hinreichend dringend, um eine Kündigung rechtfertigen zu können. Denn es sind zahlreiche Gründe denkbar, die den Absender dieses Briefes zu unwahren Behauptungen über ein vertragswidriges Verhalten des N bewogen haben könnten, beispielsweise Neid eines Kollegen oder der Versuch eines Konkurrenzunternehmens, einen fähigen Einkäufer „loszuwerden“. Legt man daher die Tatsachen zugrunde, die zum Abschluss der mündlichen Verhandlung bekannt waren, wäre die Kündigung des N mangels eines dringenden Tatverdachts unwirksam. Fraglich ist daher, welcher Beurteilungszeitpunkt für das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts maßgeblich ist. Prinzipiell ist die Wirksamkeit einer Kündigung auf Grund der Sachlage zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung zu beurteilen. Nach einer in der 157

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Fall 14 „Überteuertes Gemüse“

Literatur vertretenen Ansicht soll dies auch für die Verdachtskündigung gelten.5 Dies hätte zur Folge, dass die Kündigung des N wirksam ist, ihm jedoch auf Grund der später bekannt gewordenen Entlastungsmomente ggf. ein Wiedereinstellungsanspruch zusteht, den er allerdings mit einem entsprechenden Antrag im Prozess geltend machen muss. Im Gegensatz dazu vertritt das BAG die Auffassung, dass für die Beurteilung der Wirksamkeit einer Verdachtskündigung auch später bekannt gewordene be- oder entlastende Umstände heranzuziehen sind, die bereits im Zeitpunkt des Kündigungszugangs vorgelegen haben.6 Danach würde das bisherige Arbeitsverhältnis zwischen N und der G-GmbH mangels wirksamer Kündigung fortbestehen, ohne dass N einen entsprechenden ausdrücklichen Antrag in den Prozess einbringen müsste. Gegen die vom BAG vertretene Ansicht spricht indes, dass die Kündigung wegen eines tatsächlich vorliegenden vertragswidrigen Verhaltens und die Kündigung wegen eines Verdachts zwei voneinander unabhängige Kündigungssachverhalte darstellen. Nur bei der Kündigung wegen eines tatsächlichen vertragswidrigen Verhaltens kommt es darauf an, ob das Verhalten des Arbeitnehmers im Zeitpunkt der Kündigungserklärung tatsächlich gegen arbeitsvertragliche Pflichten verstößt und dadurch vertragliche Interessen des Arbeitgebers beeinträchtigt werden. Im Gegensatz dazu ist für die Verdachtskündigung maßgeblich, ob im Zeitpunkt der Kündigungserklärung tatsächlich ein entsprechender Tatverdacht vorlag, der zu einer Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer führt. Das BAG selbst führt zur Begründung seiner Auffassung an, es seien die objektiven Umstände im Zeitpunkt der Kündigungserklärung maßgeblich. Dies ist zweifellos zutreffend, doch handelt es sich bei diesen objektiven Umständen im Falle der Verdachtskündigung nicht um die Frage, ob der Arbeitnehmer die Tat begangen hat oder nicht. Es kommt vielmehr darauf an, ob der Arbeitgeber bei verständiger Würdigung der Sachlage einen entsprechenden Tatverdacht hegen durfte. Zu berücksichtigen sind daher alle Gegebenheiten, die bei verständiger Würdigung der Sachlage im Kündigungszeitpunkt einen Verdacht gegen N begründeten oder entkräfteten. Hierzu gehören aber nur die für den Arbeitgeber erkennbaren Gegebenheiten, nicht hingegen die Tatsache, dass bereits im Kündigungszeitpunkt feststand, dass N die Schädigungen zu Lasten der G-GmbH nicht begangen hat. Stellt sich nachträglich heraus, dass der Verdacht, auf den ein Arbeitgeber eine Kündigung gestützt hat, unbegründet ist, handelt es sich um ein Problem der Prognosekorrektur. Dieses ist nach zutreffender Ansicht nicht dadurch zu lösen, dass die – im Kündigungszeitpunkt wirksame – Kündigung im Nachhinein unwirksam wird, sondern führt gegebenenfalls zu einem Wiedereinstellungsanspruch des Arbeitnehmers. (4) Zwischenergebnis Der Verdacht der G-GmbH gegen N, dieser habe seinen Arbeitgeber durch überteuerte Einkäufe geschädigt und habe in diesem Zusammenhang Schmiergelder angenommen, ist grundsätzlich geeignet, um eine ordentliche personenbedingte Kündigung zu rechtfertigen. b) Unzumutbarkeit der Einhaltung der Kündigungsfrist Damit ein Kündigungsgrund einen wichtigen Grund i.S.d. § 626 BGB darstellt, der eine fristlose Kündigung rechtfertigt, muss der Kündigungsgrund so schwer wiegen, dass dem Arbeitgeber unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der 5 SPV/Preis, Rn. 714. 6 BAG 14.9.1994 NZA 1995, 269.

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„Überteuertes Gemüse“ Fall 14

Interessen beider Vertragspartner die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. In der Interessenabwägung, die ebenfalls auf Grund der Sachlage im Zeitpunkt der Kündigungserklärung vorzunehmen ist, lässt sich zugunsten des N anführen, dass dieser bereits seit fünf Jahren für die G-GmbH beschäftigt ist. In dieser Zeit ist es offensichtlich nicht zu nennenswerten Störungen zwischen N und der G-GmbH gekommen. Dafür, dass der G-GmbH die Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist unzumutbar ist, spricht jedoch, dass sich der Verdacht nicht nur auf ein vertragswidriges Verhalten bezieht, sondern auf mehrfache Verfehlungen. Dabei handelt es sich jeweils um Vertragsverletzungen, die – sofern sie tatsächlich vorliegen – dem Arbeitgeber finanzielle Schäden in beträchtlicher Höhe zufügen. Zumal N nicht willens war, zu der Aufklärung der Vorfälle beizutragen, ist es der G-GmbH nicht zumutbar, N bis zum Ablauf der regulären Kündigungsfrist von zwei Monaten zum Monatsende (§ 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB), also bis zum Ende des Monats April, weiter zu beschäftigen. c) Zwischenergebnis Damit liegt ein wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB für eine fristlose Kündigung vor. 2. Kündigungserklärungsfrist Gemäß § 626 Abs. 2 BGB muss eine fristlose Kündigung innerhalb von zwei Wochen erfolgen, nachdem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt hat. Nicht ausreichend ist die Kenntnis des konkreten, die Kündigung auslösenden Anlasses. Die Frist beginnt vielmehr erst dann zu laufen, wenn der Kündigungsberechtigte sichere und möglichst vollständige Kenntnis der kündigungsbegründenden Geschehnisse hat, sodass ihm eine Gesamtwürdigung der Sachlage möglich ist. Auch bei einer Verdachtskündigung stellt die vermutete Handlung, etwa eine Straftat, keinen Dauerzustand dar, die es dem Arbeitgeber ermöglicht, bis zum Vollbeweis der Handlung, etwa der strafrechtlichen Verurteilung, zu einem beliebigen Zeitpunkt die Kündigung auszusprechen. Besitzt der Arbeitgeber Anhaltspunkte für einen Verdacht, der zur fristlosen Kündigung berechtigt, ist er gehalten, Ermittlungen anzustellen und den Arbeitnehmer anzuhören, ohne dass die Frist des § 626 Abs. 2 BGB zu laufen beginnt. Dabei dürfen die Ermittlungen jedoch nicht hinausgezögert werden. Sind diese Ermittlungen abgeschlossen, beginnt die Ausschlussfrist. K Die Kündigungserklärungsfrist beginnt grundsätzlich mit positiver Kenntnis (nicht: grob fahrlässiger Unkenntnis) vom zur Kündigung berechtigenden Sachverhalt. Bei der Verdachtskündigung besteht nun einerseits die Besonderheit, dass letztlich nie positive Kenntnis besteht, andererseits wäre weder den Arbeitnehmer- noch den Arbeitgeberinteressen gedient, wenn schon das erste Verdachtsmoment fristauslösend wäre. Deshalb ist bei der Verdachtskündigung nach ganz h.M. der Abschluss angemessener, nicht hinausgezögerter Ermittlungen maßgeblich.7 Der Arbeitgeber kann auch staatsanwaltschaftliche Ermittlungen abwarten. Die Kenntnisnahme von deren Ermittlungsergebnis löst dann den Fristbeginn aus.8

7 BAG 28.11.2007 NZA-RR 2008, 344, 346. 8 BAG 17.3.2005 NZA 2006, 101, 103.

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Fall 14 „Überteuertes Gemüse“

Erste Verdachtsmomente haben sich für die G-GmbH am 15.1.2020 ergeben, als ihr das anonyme Schreiben zugeht, das Beschuldigungen des N enthält. Daraufhin erfolgt eine Überprüfung der Unterlagen des N, woraus sich weitere Verdachtsmomente ergeben. Allein auf Grund dieser Nachforschungen ist der G-GmbH jedoch noch keine Gesamtwürdigung der Umstände möglich. Da auch die Anhörung des N am 27.1.2020 nicht zur Klärung der Sachlage beigetragen hat, waren aus der Sicht der G-GmbH weitere eigene Überprüfungen notwendig, die bis zum 3.2.2020 angedauert haben. Erst als sich durch diese Ermittlungen der Anfangsverdacht gegen N bestätigt hat, sah sich die G-GmbH in der Lage, über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zu entscheiden. Maßgeblich für den Beginn der Kündigungserklärungsfrist ist vorliegend daher der 3.2.2020. Damit ist die Kündigung, die dem N am 17.2.2020 zugegangen ist, noch rechtzeitig erfolgt (vgl. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB). 3. Zwischenergebnis Die außerordentliche Kündigung seitens der G-GmbH erfüllt die Voraussetzungen des § 626 BGB.

V. Ergebnis Die Kündigungsschutzklage des N ist unbegründet. K Zur Vertiefung: Zur außerordentlichen Kündigung s. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 394–415; Preis/Temming Individualarbeitsrecht Rn. 3064–3139. Speziell zur Verdachtskündigung s. Junker Rn. 411; Preis/Temming Rn. 3093–3105.

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Fall 15 „Vom Waldcafé zur Bauchtanzbar“ A. Falldarstellung A ist seit 2011 bei der Gastronomie-Service und Hotel GmbH (G) in dem durch diese betriebenen Restaurant „Waldcafé“ als Kellner beschäftigt. Das „Waldcafé“ ist nicht zuletzt wegen des großen Kuchen- und Tortenangebots bei älteren Menschen sehr beliebt. Zudem wird ein musikalisches Begleitprogramm geboten. Einziger Nachteil ist die recht abgelegene Lage des Waldcafés. Diese wird zum Verhängnis, als in unmittelbarer Stadtnähe ein anderes Café eröffnet und die städtischen Verkehrsbetriebe zudem noch nahezu alle Busverbindungen zum Waldcafé streichen. Angesichts der schwierigen Lage entscheidet sich die G, den Betrieb des Waldcafés zum 1.9.2019 einzustellen und nach möglichen Pächtern Ausschau zu halten. Nach viermonatiger Suche steht fest, dass das „Waldcafé“ von der Unternehmerin B übernommen wird. Diese pachtet die Räumlichkeiten zum 1.1.2020 und führt zunächst umfangreiche Umbaumaßnahmen durch, im Zuge derer sie sich von einem Großteil des Inventars trennt. Profitieren kann B jedoch von der erst kürzlich rundum erneuerten Kühlanlage und den nahezu neuen Elektrogeräten. Auch das ihr zusagende Mobiliar nutzt sie. Abgesehen davon ändert sich das gastronomische Konzept jedoch grundlegend. Der neue Name des Restaurants „1000 und 1 Nacht“ ist Programm: Angeboten werden ausschließlich arabische Gerichte, die von einem darauf spezialisierten Koch zubereitet und von arabischem Personal serviert werden. Am Wochenende versüßt Bauchtanz den kulinarischen Genuss. Wie bereits von B erwartet und beabsichtigt, ändert sich die Kundschaft völlig. „1000 und 1 Nacht“ wird vornehmlich von arabischstämmigen und Arabien-Begeisterten frequentiert, die das kulinarische und kulturelle „Stück Heimat“ schätzen. Als A von der Fortführung des Restaurants erfährt, sucht er B am 13.1.2020 auf und erklärt seine Arbeitsbereitschaft. Vorsorglich kündigt diese A am 14.1.2020 ordnungsgemäß. A trägt vor, dass sein Arbeitsverhältnis auf B übergegangen sei, da diese neben Teilen der Einrichtung insbesondere auch von der so wichtigen Kühleinrichtung profitiere und diese nutze. Nicht ausschlaggebend jedenfalls könne sein, dass er nunmehr andere Speisen servieren müsse; seine Arbeit bleibe identisch. B hingegen beruft sich darauf, dass sich der gesamte Charakter des Restaurants ganz grundlegend verändert habe. Schon deswegen müsse es ihr freistehen, sich ihre Belegschaft selbst auszusuchen. Weitaus weniger weitreichend sind die Veränderungen bei dem ebenfalls im Eigentum der G stehenden Tagungszentrum mit Übernachtungsmöglichkeiten, in dem insgesamt 25 Arbeitnehmer beschäftigt sind. G entschließt sich, das Tagungsrestaurant mit 12 Mitarbeitern auszugliedern, da mit dem Verlust des Waldcafés wichtige Synergieeffekte ausbleiben und die profitable Fortführung des Tagungsrestaurants damit nicht möglich ist. Die M-Gruppe wird als neuer Pächter des Restaurants ab 1.2.2020 gewonnen. Diese nutzt das vorhandene Inventar, die Küchengeräte und beschäftigt den Großteil der Belegschaft weiter. Angesichts des fließenden „Übergangs“ und der – bis auf veränderte Kleidung und Dekoration – unveränderten Fortführung speisen auch die Tagungsgäste nach wie vor in dem Restaurant im Tagungszentrum. Am 3.12.2019 unterrichtet G anlässlich eines Personalgesprächs die im Restaurantmanagement beschäftigte und gelernte Hotelkauffrau C darüber, dass der Betrieb des Restaurants zum 31.1.2020 eingestellt und ab dem 1.2.2020 von der M-Gruppe übernommen werde. Obwohl zunächst entschlossen, unter den neuen Bedingungen tätig zu werden, entschließt sich C letztlich doch, dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses am 3.2.2020 161

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Fall 15 „Vom Waldcafé zur Bauchtanzbar“

schriftlich zu widersprechen. Sie weist darauf hin, dass – was zutrifft – sich die M-Gruppe in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation befinde und es bereits zu diversen Betriebsaufgaben gekommen sei. Daher ziehe sie es vor, in dem bei der G verbleibenden Tagungszentrum als Verwaltungskraft beschäftigt zu werden. Mit Schreiben vom 4.2.2020, das der C am gleichen Tage zugeht, kündigt G daraufhin das Arbeitsverhältnis mangels Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten aus betriebsbedingten Gründen ordentlich zum nächstmöglichen Zeitpunkt. Dagegen wehrt sich die C mit fristgemäß erhobener Kündigungsschutzklage. Sie macht geltend, dass anderen Arbeitnehmern hätte gekündigt werden müssen. Insbesondere sei sie als 45-jährige Arbeitnehmerin mit drei unterhaltsberechtigten Kindern und 15-jähriger Betriebszugehörigkeit schutzwürdiger als die im Servicemanagement des Tagungshotels tätige 35-jährige K, die erst fünf Jahre bei G arbeite und nur ein unterhaltsberechtigtes Kind habe. Die K ist ebenso wie die C gelernte Hotelkauffrau und in der gleichen Vergütungsgruppe wie C. C wäre auch in der Lage, die Aufgaben der K nach kurzer Einarbeitungszeit zu übernehmen. G bezweifelt, ob C überhaupt noch wirksam habe widersprechen können. Zumindest wirke sich der Widerspruch zu Lasten der C aus; sie habe es sich letztlich selbst zuzuschreiben, dass sie ihren Arbeitsplatz verloren habe. Frage 1: Besteht zwischen A und B ein wirksames Arbeitsverhältnis? Frage 2: Ist die zulässige Kündigungsschutzklage der C begründet? Schwierigkeitsgrad: Überdurchschnittlich schwierige und überdurchschnittlich umfangreiche Semesterabschlussklausur Rechtsfragen: Betriebsübergang, Widerspruch gegen Betriebsübergang, Betriebsbedingte Kündigung, Sozialauswahl bei Widerspruch gegen Betriebsübergang

B. Lösungsskizze Frage 1 – Arbeitsverhältnis A und B I. Betrieb (+) Definition: organisierte Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Tätigkeit II. Übergang des Betriebs auf B Maßgeblich: Gesamtbewertung aller Umstände des Einzelfalls; Vorliegen eines identitätswahrenden Übergangs (–) 1. Identitätsprägende Produktionsfaktoren – Abhängig von Art des Unternehmens; Gastronomie insb. immaterielle Werte wie Know-how, Atmosphäre und Kundenstamm 2. Identitätswahrender Übergang – Faktoren: Name, Angebot, Konzept, Personal, Programm, Zielgruppe, Imagewechsel, Betriebsunterbrechung

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III. Ergebnis: Mangels Betriebsübergang kein Eintritt in das Arbeitsverhältnis gem. § 613a Abs. 1 S. 1 BGB Frage 2 – Begründetheit der Kündigungsschutzklage der C I. Bestand eines Arbeitsverhältnisses zwischen G und C (–) wegen Betriebsübergang an M? 1. Vorliegen eines Betriebs- bzw. Betriebsteilübergangs a) Betrieb (+) b) Übergang (+) Identitätswahrender Übergang eines wesentlichen Teils der identitätsprägenden Produktionsfaktoren? Dafür: nahezu Identität der Geschäftstätigkeit; nur einmonatige Unterbrechung; keine Änderung des Konzepts; Übernahme der Belegschaft mitsamt Küchenpersonal; Nutzung der materiellen Betriebsmittel; gleiche Zusammensetzung des Kundenstamms c) Übertragung durch Rechtsgeschäft (+) 2. Widerspruch der C gemäß § 613a Abs. 6 BGB a) Schriftform des Widerspruchs (+) b) Fristgemäße Erklärung – Widerspruchsfrist: ein Monat nach Unterrichtung, § 613a Abs. 6 BGB – Widerspruch der C nach zwei Monaten (3.2.2020) – Formerfordernis der Unterrichtung: Textform, § 613a Abs. 5 BGB; Keine Formwahrung durch mündliche Unterrichtung – Folge des Formverstoßes: keine ordnungsgemäße Fristingangsetzung, Widerspruch fristgemäß 3. Zwischenergebnis: Arbeitsverhältnis zwischen G und C (+) II. Wirksamkeit der Kündigung Wirksamkeit der Kündigungserklärung und Klagefrist (+); Soziale Rechtfertigung? 1. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe: § 613a Abs. 4 S. 1 BGB – Kündigung wegen fehlender Beschäftigungsmöglichkeit nicht „wegen des Übergangs“ nach § 613a Abs. 4 S. 1 BGB unwirksam – Maßstab: betriebsbedingte Kündigung aus sonstigen Gründen i.S.d. § 613a Abs. 4 S. 2 BGB; Beurteilung nach § 1 Abs. 2 KSchG 2. Soziale Rechtfertigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG a) Anwendungsbereich des KSchG (+) b) Kündigungsgrund: dringende betriebliche Erfordernisse (+)

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– Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit der C als Restaurantmanagerin aufgrund unternehmerischer Entscheidung der G c) Sozialauswahl, § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG aa) Auswirkung des Widerspruchs nach § 613a Abs. 6 BGB auf die Sozialauswahl – Einbezug des Arbeitnehmers in die Sozialauswahl trotz Widerspruchs und damit verbundener „Mitverursachung“ der Kündigung? Dafür: abschließende Aufzählung der zu berücksichtigenden Kriterien bei der Sozialauswahl in § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG (Systematik) bb) Vergleichbarer Personenkreis – C und K als vergleichbare Arbeitnehmer auf gleicher Ebene der Betriebshierarchie cc) Ausreichende Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte – C deutlich schutzwürdiger als K in allen relevanten Kriterien – Folge: Sozialauswahl fehlerhaft III. Ergebnis: Kündigung wegen fehlerhafter Sozialauswahl unwirksam; Kündigungsschutzklage begründet

C. Lösungsvorschlag Frage 1 – Arbeitsverhältnis A und B Weil B und A keinen Arbeitsvertrag geschlossen haben, besteht zwischen B und A nur ein Arbeitsverhältnis, wenn B gemäß § 613a Abs. 1 S. 1 BGB zum 1.1.2020 in die Rechte und Pflichten des ursprünglich zwischen G und A begründeten Arbeitsverhältnisses eingetreten ist. K Kontext: Der Tatbestand des Betriebsübergangs setzt nach § 613a Abs. 1 S. 1 BGB voraus (1) einen Betrieb(steil) – das ist eine wirtschaftliche Einheit im Sinn einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Hauptoder Nebentätigkeit (Art. 1 Abs. 1 lit. b RL 2001/23/EG, EuGH), (2) den Übergang auf einen neuen Inhaber und (3) ein Rechtsgeschäft (das meint auf Grundlage eines Rechtsgeschäfts, nicht den Übergang kraft Gesetz, Hoheitsakt oder Erbfall). Die Feststellung des zweiten Merkmals („Übergang“) bereitet in Prüfung und Praxis die meisten Schwierigkeiten. Anhand folgender Prüfungspunkte kann die Frage nach dem Übergang der wirtschaftlichen Einheit untersucht werden1: (a) Selbstständige, abtrennbare organisatorische Einheit beim Veräußerer, (b) Feststellung des Wertschöpfungszusammenhangs beim Veräußerer anhand der identitätsprägenden Produktionsfaktoren (sächliche und menschliche Betriebsmittel, str., Berücksichtigung von Art des Unternehmens und Wert der immateriellen Aktiva), (c) identitätswahrender Übergang, d.h. Übernahme eines wesentlichen Teils der identitätsprägenden Produktionsfaktoren und Beibehaltung der funktionellen Verknüpfung zwischen den Produktionsfaktoren (Produktionsfaktoren werden identisch eingesetzt und wirken unverändert zusammen, vor allem 1 Zum Ganzen mit allen Nachweisen ErfK/Preis, § 613a BGB Rn. 5 ff.

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Übernahme der materiellen Aktiva, Arbeitnehmer, Kundschaft), (d) Fortsetzung derselben wirtschaftlichen Tätigkeit (vor allem Ähnlichkeit der Tätigkeit vor und nach der Übernahme, Dauer einer Unterbrechung der Geschäftstätigkeit), (e) Kausalzusammenhang zwischen identitätswahrender Übernahme der Produktionsfaktoren und der Fortsetzung derselben wirtschaftlichen Tätigkeit.

I. Betrieb Das Waldcafé war vor dem Übergang eine organisierte Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Tätigkeit und damit ein Betrieb im Sinn von § 613a BGB.

II. Übergang des Betriebes auf B Fraglich ist, ob es mit der Verpachtung des „Waldcafés“ zum Übergang des Betriebs gekommen ist. Entscheidend dafür ist, ob in einer Gesamtbewertung aller Umstände des Einzelfalls ein identitätswahrender Übergang stattgefunden hat, ob also ein wesentlicher Teil der identitätsprägenden Produktionsfaktoren übernommen wurde und die funktionelle Verknüpfung zwischen den Produktionsfaktoren beibehalten wird und deshalb dieselbe wirtschaftliche Tätigkeit fortgesetzt wird. Bei der Feststellung der identitätsprägenden Produktionsfaktoren und deren identitätswahrendem Übergang müssen sämtliche den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen berücksichtigt werden. Es ist somit eine typologische Gesamtbetrachtung anzustellen, welche die Frage nach dem Übergang einer wirtschaftlichen Einheit unter Abstellen auf verschiedene Kriterien beantwortet. Maßgeblich sind als Teilaspekte der Gesamtwürdigung die Art des betreffenden Unternehmens oder Betriebs, der Wert der immateriellen Aktiva im Zeitpunkt des Übergangs, der etwaige Übergang der materiellen Betriebsmittel wie Gebäude und bewegliche Güter, die etwaige Übernahme der Hauptbelegschaft, der etwaige Übergang der Kundschaft sowie der Grad der Ähnlichkeit zwischen den vor und nach dem Übergang verrichteten Tätigkeiten und die Dauer einer eventuellen Unterbrechung dieser Tätigkeit. 1. Identitätsprägende Produktionsfaktoren Bei der Beantwortung der Frage, wie sich im konkreten Fall die identitätsprägenden Produktionsfaktoren zusammensetzen, ist ganz entscheidend die Art des Unternehmens zu berücksichtigen. Es ist besonders zu beachten, dass den maßgeblichen Kriterien je nach der ausgeübten Tätigkeit und selbst nach den Produktions- oder Betriebsmethoden, die in dem „Betrieb“ angewendet werden, unterschiedliches Gewicht zukommt. Gerade in Dienstleistungsbetrieben, zu denen auch die Gastronomie zu zählen ist, stehen immaterielle Werte wie Know-how, Atmosphäre und Kundenstamm im Vordergrund. Sie prägen oder begründen die für ein Restaurant so wichtige Reputation und sind der entscheidende Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg.

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2. Identitätswahrender Übergang Diese identitätsprägenden Produktionsfaktoren müssen für einen identitätswahrenden Übergang im Wesentlichen übernommen werden, die funktionelle Verknüpfung zwischen den Produktionsfaktoren muss identisch eingesetzt werden, sie müssen unverändert zusammenwirken. Zunächst hat sich hier Namensbezeichnung des Restaurants verändert. Hinzu kommt, dass sich grundlegende Veränderungen auch in Bezug auf den tatsächlichen Restaurantbetrieb feststellen lassen: Während zuvor vor allem Kuchen angeboten wurde, ist das Speisenangebot nunmehr ausschließlich arabisch geprägt. Der orientalische Name „1000 und 1 Nacht“ unterscheidet sich deutlich von der Bezeichnung Waldcafé und gibt rein äußerlich bereits einen „Programmwechsel“ vor. Hinzu kommt, dass das kulinarische Angebot durch kulturelle Darbietungen abgerundet wird. Insofern werden nicht nur andere Speisen, sondern auch eine gänzlich andere Atmosphäre geboten. Größer kann der Unterschied im Angebot zwischen Gaststätten kaum sein, sodass bis auf den Umstand, dass ebenfalls Speisen geboten werden, keine Ähnlichkeit zwischen den vor und nach der Pacht wahrgenommenen Tätigkeiten besteht. Hinzu kommt, dass jedwede Tätigkeit in dem Restaurant für einen Zeitraum von vier Monaten eingestellt worden ist. Gegen die Übernahme des wesentlichen Teils der Produktionsfaktoren spricht des Weiteren, dass sich der Kundenstamm des Restaurants grundlegend geändert hat. B zieht durch sein grundverschiedenes Konzept nunmehr bewusst Gäste mit einem anderen Geschmack und anderen Interessen an. Insoweit kann B infolge einer bewussten Entscheidung nicht etwa auf eine über Jahre gewachsene und dem Restaurant eng verbundene Stammkundschaft zurückgreifen. Vielmehr ist es so, dass B das Risiko der neuen (Stamm)Kundschaftsakquise und somit auch das gastronomische Unternehmensrisiko vollumfänglich – neu – trägt. Insofern besteht kein Unterschied zu einem Restaurant, das in erst neu errichteten Räumlichkeiten seinen Betrieb aufnimmt. Die Wahrung der identitätsprägenden Faktoren kann auch in der Übernahme des Personals begründet liegen. Laut Sachverhalt hat B angesichts der intendierten Tätigkeitsänderung kaum Belegschaft übernommen. Insbesondere in Branchen, in denen es im Wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft oder das Know-how ankommt, ist die Übernahme des Personals jedoch von besonderer Bedeutung für die Wahrung einer wirtschaftlichen Einheit. Speziell bei Gastronomiebetrieben kommt dem Personal insofern eine zentrale Rolle zu, als gerade die besondere Freundlichkeit des Servicepersonals, die hohe Qualifizierung des Küchenpersonals oder auch ihre spezielle, kulinarische Ausrichtung den Beurteilungsmaßstab für ein gutes Restaurant bilden und die so wichtige Anziehungskraft auf die (Stamm)Kundschaft ausüben. In diesem Zusammenhang ist von ganz zentraler Bedeutung, dass B angesichts der kompletten Menüumstellung auch nicht den zuvor tätigen Koch weiterbeschäftigt, sondern nunmehr einen auf arabische Gerichte spezialisierten Koch beschäftigt. Gerade von den Fähigkeiten bezüglich der Auswahl und Herstellung der angebotenen Speisen sind jedoch das Ansehen und langfristige Überleben eines Gastronomiebetriebs abhängig. Auch die Nichtübernahme spricht somit entscheidend gegen die Wahrung der wirtschaftlichen Einheit. Auch der Wert der immateriellen Betriebsmittel spricht gegen die Übernahme eines wesentlichen Teils der identitätsprägenden Produktionsfaktoren. Insbesondere der zu den immateriellen Betriebsmitteln zählende „good will“ des Betriebes gibt für eine Identitätswahrung

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nichts her, da die B sich durch sein gegenüber G radikal verändertes Gastronomiekonzept im Gegenteil ein neues Image verschafft hat, welches einer Neugründung gleichkommt. B konnte allerdings von der Übernahme materieller Betriebsmittel (Mobiliar, Elektrogeräte, Kühlanlagen) erheblich profitieren. Grundsätzlich kommt solchen Betriebsmitteln bereits insofern eine wichtige Bedeutung zu, als sie letztlich in einer Vielzahl der Fälle einerseits die unbedingt erforderliche Infrastruktur für die erfolgreiche Fortsetzung jedes wirtschaftlichen Handelns bilden, andererseits jedoch besonders kostenintensiv sind. 3. Gesamtbetrachtung Aus alledem ergibt sich, dass außer dem Übergang materieller Betriebsmittel sämtliche anderen Kriterien gegen einen identitätswahrenden Übergang, damit gegen den Übergang einer wirtschaftlichen Einheit und damit gegen einen Betriebsübergang von G auf B sprechen. Es ist bei der Gewichtung der einzelnen Kriterien eine wertende Betrachtungsweise zugrunde zu legen und zu fragen, welche Umstände „den eigentlichen Kern des zur Wertschöpfung erforderlichen Funktionszusammenhangs“ ausmachen. Da für die Gäste eines Restaurants letztlich weitgehend irrelevant ist, mit welchen Betriebsmitteln der Betreiber die besondere Atmosphäre schafft oder sein Konzept verfolgt, tritt die Übertragung der materiellen Betriebsmittel nach dieser Maßgabe hinter die übrigen gewichtigeren Gesichtspunkte wie die lange Schließung, den Wegfall der Kundschaft und die fehlende Übernahme des Personals, insbesondere des Kochs zurück, die der Wahrung der wirtschaftlichen Identität im Ergebnis entgegenstehen.

III. Ergebnis Im Ergebnis ist festzustellen, dass keine Wahrung der wirtschaftlichen Identität gegeben ist. B ist somit nicht gemäß § 613a Abs. 1 S. 1 BGB in die Rechte und Pflichten des zwischen A und G begründeten Arbeitsverhältnisses eingetreten. Folglich besteht zwischen A und B kein Arbeitsverhältnis.

D. Lösungsvorschlag Frage 2: Begründetheit der Kündigungsschutzklage der C Die zulässige Kündigungsschutzklage der C ist begründet, wenn das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung vom 4.2.2020 aufgelöst worden ist. Dies setzt voraus, dass die Kündigung sozial nicht gerechtfertigt oder aus anderen Gründen unwirksam ist.

I. Bestand eines Arbeitsverhältnisses zwischen G und C Ursprünglich lag ein Arbeitsverhältnis zwischen G und C vor. Fraglich ist jedoch, ob auch im Zeitpunkt der Kündigung (4.2.2020) noch ein Arbeitsverhältnis zwischen G und C bestand, das durch eine Kündigung aufgelöst werden konnte. Dem Bestand des Arbeitsverhältnisses könnte die Rechtsfolge des § 613a Abs. 1 BGB entgegenstehen, wonach der Erwerber in die Rechte und Pflichten der Arbeitsverhältnisse solcher Arbeitnehmer eintritt, die in einem übergegangenen Betrieb oder Betriebsteil beschäf167

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tigt sind. Dies könnte mit der Übernahme des Restaurantbetriebes durch die M zum 1.2.2020 geschehen sein. 1. Vorliegen eines Betriebs- bzw. Betriebsteilübergangs a) Betrieb Das Tagungsrestaurant verfolgt den Zweck, insbesondere die Tagungsgäste mit Speisen zu versorgen. Es handelt sich dabei um eine organisierte Zusammenfassung von sächlichen und menschlichen Ressourcen zur Verfolgung eines wirtschaftlichen Zwecks und damit um einen Betrieb. b) Übergang Identitätsprägende Produktionsfaktoren des Tagungsrestaurants sind, wie bei Frage 1, in Dienstleistungsbetrieben, zu denen auch die Gastronomie zu zählen ist, vor allem immaterielle Werte wie Know-how, Atmosphäre und Kundenstamm. Sie prägen oder begründen die für ein Restaurant so wichtige Reputation und sind der entscheidende Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg. Ob ein identitätswahrender Übergang eines wesentlichen Teils der identitätsprägenden Produktionsfaktoren stattgefunden hat, hängt davon ab, ob der wesentliche Teil der identitätsprägenden Produktionsfaktoren übernommen worden sind und die funktionelle Verknüpfung zwischen den Produktionsfaktoren beibehalten worden ist. Dafür spricht zunächst, dass die durch M wahrgenommene Geschäftstätigkeit nahezu identisch mit der zuvor ausgeübten Tagungsgastronomie ist und bereits nach einmonatiger Unterbrechung aufgenommen wurde. Von zentraler Bedeutung ist, dass sich offensichtlich das Konzept, die Tagungsgäste zu versorgen, nicht geändert hat. Weder bestehen Anhaltspunkte für eine konzeptionelle Menüänderung noch solche für einen Qualitätsunterschied des Essens. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass M die zwölfköpfige Belegschaft mitsamt dem in der Gastronomie besonders wichtigen Küchenpersonal übernommen hat und zudem die materiellen Betriebsmittel unverändert nutzt. Letztlich resultiert diese Fortführung darin, dass sich der Kundenstamm nach wie vor aus den auf eine Verpflegung angewiesenen Tagungsgästen zusammensetzt. Ein identitätswahrender Übergang hat damit stattgefunden. Auch wird die wirtschaftliche Tätigkeit so fortgesetzt, weil die Produktionsfaktoren übernommen worden sind. Ein Übergang hat damit stattgefunden. c) Übertragung durch Rechtsgeschäft Indem M und G einen Pachtvertrag über die Übernahme des Restaurants geschlossen haben, hat M dieses durch Rechtsgeschäft übernommen. d) Zwischenergebnis Ein Betriebsübergang im Sinn des § 613a Abs. 1 S. 1 BGB hat damit stattgefunden. Nach der Rechtsfolge des § 613a Abs. 1 BGB ist das Arbeitsverhältnis zwischen C und G somit an sich zum 31.1.2020 durch Übergang an M beendet worden.

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„Vom Waldcafé zur Bauchtanzbar“ Fall 15

2. Widerspruch der C gemäß § 613a Abs. 6 BGB Allerdings könnte C dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses gemäß § 613a Abs. 6 BGB ordnungsgemäß widersprochen haben. Folge davon wäre das Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses zwischen C und G. a) Schriftform des Widerspruchs Gemäß § 613a Abs. 6 BGB muss der Widerspruch schriftlich erfolgen. Die Schriftform hat C eingehalten. b) Fristgemäße Erklärung Weiterhin müsste C den Widerspruch fristgemäß erklärt haben. Dem könnte entgegenstehen, dass C den Widerspruch erst am 3.2.2020, also knapp zwei Monate nach der Information, erklärt hat, sich aus § 613a Abs. 6 BGB aber ergibt, dass der Widerspruch innerhalb eines Monats nach Zugang der Unterrichtung zu erklären ist. Allerdings beginnt die Frist für die Erklärung des Widerspruchs nach § 613a Abs. 6 BGB nur dann zu laufen, wenn die Unterrichtung des Arbeitgebers ihrerseits gemäß § 613a Abs. 5 BGB ordnungsgemäß erfolgt ist, nämlich durch Textform. Daran fehlt es im vorliegenden Fall, weil C anlässlich eines Personalgesprächs lediglich mündlich unterrichtet worden ist. Insofern hat die Frist des § 613a Abs. 6 BGB noch nicht zu laufen begonnen. Hat der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht oder nicht ordnungsgemäß i.S.d. § 613a Abs. 5 BGB unterrichtet, muss vom Arbeitnehmer keine Höchstfrist für die Ausübung seines Widerspruchs beachtet werden. Das Widerspruchsrecht unterliegt in einem solchen Fall lediglich der allgemeinen Grenze der Verwirkung. Von einer solchen kann vorliegend jedoch nicht ausgegangen werden, da eine Erklärung des Widerspruchs lediglich zwei Monate nach der formfehlerhaften Unterrichtung erfolgt ist. Somit hat C dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses auf M wirksam widersprochen. 3. Zwischenergebnis Im Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs (4.2.2020) bestand somit weiterhin ein Arbeitsverhältnis zwischen C und G.

II. Wirksamkeit der Kündigung Das Arbeitsverhältnis ist durch die Kündigung aufgelöst worden, wenn die Kündigung sozial gerechtfertigt und nicht aus anderen Gründen unwirksam ist. An der Wirksamkeit der schriftlichen (§§ 623, 126 BGB) Kündigungserklärung bestehen keine Zweifel. Auch hat C die Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG gewahrt. 1. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe: § 613a Abs. 4 S. 1 BGB Die Kündigung könnte bereits gemäß § 613a Abs. 4 S. 1 BGB unwirksam sein. Dies setzt voraus, dass G die Kündigung „wegen“ des Übergangs des Betriebsteils „Tagungsrestaurant“ ausgesprochen hat. Schwierig ist die Begriffsbestimmung des Tatbestandsmerkmals „wegen“, zumal § 613a Abs. 4 S. 2 BGB klarstellt, dass das Recht zur Kündigung des Arbeitsverhält169

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nisses aus anderen Gründen unberührt bleibt. Deshalb ist auf Grund dieses Konkurrenzverhältnisses stets zu prüfen, ob es – neben dem Betriebsübergang – einen sachlichen Grund gibt, der „aus sich heraus“ die Kündigung zu rechtfertigen vermag, sodass der Betriebsübergang nur äußerer Anlass, nicht aber der tragende Grund für die Kündigung gewesen ist. Fraglich ist deshalb, was gilt, wenn wie im vorliegenden Fall der bisherige Betriebsinhaber einem Arbeitnehmer, der dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses widersprochen hat, mit der Begründung kündigt, nunmehr bestehe für ihn keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr. Zwar ist eine Mitursächlichkeit des Betriebsübergangs gegeben, da der Arbeitsplatz der C bei Fortführung des Betriebsteils durch G nicht entfallen wäre. Tragender Grund für die Kündigung ist jedoch nicht der Übergang des Tagungsrestaurants als solcher, sondern die mit dem Widerspruch der C verbundene Weigerung der Fortsetzung der Tätigkeit beim neuen Inhaber M. Folglich liegt keine nach § 613a Abs. 4 S. 1 BGB unzulässige Kündigung „wegen“ des Betriebsübergangs vor, wenn der Betriebsveräußerer auf den Widerspruch des Arbeitnehmers das Fehlen einer Beschäftigungsmöglichkeit für diesen Arbeitnehmer geltend macht. In diesem Fall handelt es sich vielmehr um eine nach § 1 Abs. 2 KSchG zu beurteilende betriebsbedingte Kündigung aus sonstigen Gründen i.S.d. § 613a Abs. 4 S. 2 BGB.2 Die auf eine fehlende Beschäftigungsmöglichkeit gestützte Kündigung der C ist daher nicht schon nach § 613a Abs. 4 S. 1 BGB unwirksam. 2. Soziale Rechtfertigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG Die Kündigung könnte gemäß § 1 Abs. 2 KSchG nicht sozial gerechtfertigt sein. a) Anwendungsbereich des KSchG Dann muss zunächst das Kündigungsschutzgesetz anwendbar sein. In personeller Hinsicht hat die C als Arbeitnehmerin mit ihrer langjährigen Beschäftigungszeit die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG überschritten. In sachlicher Hinsicht geht es um eine ordentliche Kündigung. In betrieblicher Hinsicht ist das KSchG nach § 23 Abs. 1 S. 2, 3 KSchG nur anwendbar in Betrieben mit mehr als 10 Beschäftigten. Das Tagungsrestaurant ist auf die M mit 12 beschäftigten Arbeitnehmern übergegangen, während im gesamten Tagungszentrum 25 Arbeitnehmer regelmäßig beschäftigt sind. Im bei der G-GmbH verbleibenden Restbetrieb sind damit noch 13 Arbeitnehmer beschäftigt, damit ist die Schwelle von mehr als 10 Arbeitnehmern überschritten. b) Kündigungsgrund: dringende betriebliche Erfordernisse Nach § 1 Abs. 1 KSchG ist eine Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung im Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. Vorliegend könnte ein betriebsbedingter Kündigungsgrund vorliegen. Dringende betriebliche Erfordernisse für eine Kündigung liegen vor, wenn die Durchführung oder eingeleitete Durchführung einer unternehmerischen Entscheidung einer Beschäftigungsmöglichkeit die Grundlage entzieht.

2 BAG 21.3.1996 NZA 1996, 974, 977; BAG 18.3.1999 NZA 1999, 870, 871; ErfK/Preis § 613a BGB Rn. 155 f.

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Die G hat die unternehmerische Entscheidung, den Betrieb des Tagungsrestaurants auf Grund entfallener Synergieeffekte und dadurch bedingter Unwirtschaftlichkeit einzustellen, mit der Folge getroffen, dass die Beschäftigungsmöglichkeit der C als Restaurantmanagerin weggefallen ist. Die unternehmerische Entscheidung der G ist nicht offensichtlich unsachlich oder willkürlich; daher liegt ein dringendes betriebliches Erfordernis für die Kündigung der C vor. Auch besteht für die C als Restaurantmanagerin keine andere Beschäftigungsmöglichkeit auf einem freien Arbeitsplatz i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG, die Kündigung ist damit erforderlich. Eine Beschäftigungsmöglichkeit als Restaurantmanagerin ist bei der G auch auf absehbare Zeit nicht gegeben, es besteht daher eine Negativprognose. c) Sozialauswahl Bei der betriebsbedingten Kündigung ist die vorzunehmende Interessenabwägung vom Gesetzgeber vorgezeichnet. Weitere Voraussetzung für die soziale Rechtfertigung der betriebsbedingten Kündigung ist nämlich gemäß § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG, dass der Arbeitgeber eine ordnungsgemäße Sozialauswahl vorgenommen hat. Bei der Auswahl der C müsste G somit die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter sowie die Unterhaltspflichten (für eine Schwerbehinderung der C ist nichts ersichtlich) ausreichend berücksichtigt und die zur Kündigung führenden dringenden betrieblichen Erfordernisse auf den sozial schutzwürdigsten Arbeitnehmer konkretisiert haben. aa) Auswirkung des Widerspruchs nach § 613a Abs. 6 BGB auf die Sozialauswahl Etwas anderes könnte sich ausnahmsweise aus dem Umstand ergeben, dass C dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses auf die M widersprochen hat. Inwieweit ein widersprechender Arbeitnehmer überhaupt verlangen kann, in die Sozialauswahl einbezogen zu werden, ist nicht direkt einleuchtend. Denn derjenige Arbeitnehmer, der dem Übergang seines Beschäftigungsverhältnisses widersprochen hat, hat gewissermaßen, wenn beim Veräußerer sein Arbeitsplatz weggefallen ist, die betriebsbedingte Kündigung mitverursacht. Dann könnte es unbillig sein, diesen Arbeitnehmer in eine Sozialauswahl mit Arbeitnehmern zu stellen, die im Veräußererbetrieb verblieben sind und deren Arbeitsverhältnis nicht auf einen Erwerber übergegangen ist. Diese Billigkeitserwägungen finden allerdings keine Stütze im Gesetz. § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG nennt abschließend die zu berücksichtigenden Kriterien bei der Sozialauswahl. Außerdem würde das Widerspruchsrecht entwertet, wenn dessen Ausübung, das ja den Arbeitnehmer vor Aufdrängung eines neuen Vertragspartners schützt, mit Nachteilen bei der Sozialauswahl verbunden wäre. K Kontext: Auch wenn der Arbeitnehmer dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses durch Betriebsübergang widersprochen hat, ist er grundsätzlich ohne Besonderheiten in die Sozialauswahl mit den verbleibenden Arbeitnehmern beim Veräußerer einzubeziehen.3 Zwar hat er in gewisser Weise die betriebsbedingte Kündigung mitverursacht, das Gesetz nennt in § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG aber abschließend die zu berücksichtigenden Kriterien bei der Sozialauswahl. Außerdem würde sonst das Widerspruchsrecht entwertet, wenn dessen Ausübung, das ja den Arbeitnehmer vor Aufdrängung eines neuen Vertragspartners schützt, mit Nachteilen bei der Sozialauswahl verbunden wäre. Die Rechtsprechung behält sich eine Missbrauchskontrolle vor.

3 BAG 31.5.2007 NZA 2008, 33.

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Auch soweit die Ausübung des Widerspruchsrechts an eine Rechtsmissbrauchskontrolle gebunden wird, wirkt sich das nicht zulasten der C aus. Ihr Widerspruch war offensichtlich nicht missbräuchlich. Sie weist auf die objektiv gegebene Tatsache hin, dass sich die M-Gruppe in einer wirtschaftlich schwierigen Situation befinde und es bereits zu diversen Betriebsaufgaben gekommen sei. Damit ist nicht auszuschließen, dass ihr Arbeitsplatz bei der M auf absehbare Zeit gefährdet ist oder sie zumindest eine baldige wesentliche Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen zu gewärtigen hat. Da die C dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses auf M nicht rechtsmissbräuchlich widersprochen hat, kommt sie somit in den Genuss einer vollständigen Berücksichtigung der sozialen Gesichtspunkte nach Maßgabe des § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG. bb) Vergleichbarer Personenkreis Bei der von C als weniger schutzwürdig bezeichneten K müsste es sich zunächst um eine vergleichbare Arbeitnehmerin handeln. Die Vergleichbarkeit von Arbeitnehmern verlangt, dass sie nach ihrem Arbeitsvertragsinhalt austauschbar sind, also kraft Direktionsrecht mit den anderen Aufgaben beschäftigt werden können. Die K ist ebenso wie die C gelernte Hotelkauffrau und in derselben Vergütungsgruppe beschäftigt. Damit sind sie nach dem Inhalt ihrer Arbeitsverträge vergleichbar, also austauschbar. Das Erfordernis, dass die Arbeitnehmer nicht auf verschiedenen Ebenen der Betriebshierarchie stehen dürfen, ist in Bezug auf C und K ebenfalls erfüllt, was insbesondere durch die gleiche Eingruppierung illustriert wird. Darüber hinaus müssten C und K auch aktuell vergleichbar sein. Maßgebend für eine nicht mehr gegebene Vergleichbarkeit können Kenntnisse und Fähigkeiten in bestimmten Projekten sein, die sich andere Arbeitnehmer erst durch längere Einarbeitungszeiten aneignen müssten. Insofern könnten an der Vergleichbarkeit der C mit der K Zweifel bestehen, da die C bisher als Restaurantmanagerin, die K hingegen im Servicemanagement beschäftigt ist und die C erst nach einer gewissen Einarbeitungszeit in der Lage wäre, die Aufgaben der K zu übernehmen. Allerdings liefe die Annahme, dass auch die generelle Notwendigkeit einer Einarbeitungszeit bereits der Vergleichbarkeit entgegensteht, auf eine außerordentlich geringe Vergleichbarkeitsquote hinaus. Es ist zwangsläufig so, dass ein Arbeitnehmer, der bestimmte Aufgaben über einen längeren Zeitraum wahrnimmt, gegenüber anderen Arbeitnehmern einen deutlichen Routine- und Kenntnisvorsprung hat. Daher steht die Notwendigkeit einer kurzen Einarbeitungszeit wegen eines aktuellen Routinevorsprungs der Vergleichbarkeit nicht entgegen. Somit sind C und K vergleichbare Arbeitnehmer, unter denen eine soziale Auswahl vorzunehmen ist. cc) Ausreichende Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte Bei der Entscheidung, C zu kündigen, müsste G gemäß § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG die sozialen Gesichtspunkte „Dauer der Betriebszugehörigkeit“, „Lebensalter“ und „Unterhaltspflichten“ ausreichend berücksichtigt haben. Hier ist C hinsichtlich aller drei Sozialkriterien deutlich schutzwürdiger als K. C ist 45 Jahre alt, weist eine 15jährige Betriebszugehörigkeit auf und hat drei unterhaltsberechtigte Kinder. Dagegen ist K erst 35, arbeitet erst seit fünf Jahren bei G und hat nur ein unterhaltsberechtigtes Kind. Überwiegen alle drei Sozialauswahlkriterien in einer derart deutlichen Weise, reduziert sich das Auswahlermessen des Arbeitgebers „auf Null“, sodass G der vergleichbaren Arbeitnehmerin K hätte kündigen müssen.

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III. Ergebnis Bei ihrer Entscheidung, C zu kündigen, hat G soziale Gesichtspunkte nicht ausreichend beachtet. Die Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 1, 3 S. 1 KSchG rechtsunwirksam und das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst worden. Die Kündigungsschutzklage der C ist begründet. K Zur Vertiefung: Zu den Voraussetzungen und den Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs s. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 133–144; Preis/Temming Individualarbeitsrecht Rn. 3446–3573. Insbesondere zur Kündigung wegen Betriebsübergang s. Junker Rn. 340; Preis/Temming Rn. 3562–3573.

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Teil 3 Fälle, die Examensklausuren waren oder sein könnten Fall 16 „Der Low Performer“ A. Falldarstellung A ist seit dem Jahr 2000 ununterbrochen bei einem Einzelhandelsunternehmen, der U-GmbH (U), als einer von rund 35 Kommissionierern in deren Zentrallager beschäftigt. Dort bearbeitet er Warenbestellungen, indem er Lieferungen durch Entnahmen aus dem Lager zusammenstellt, auf Vollständigkeit und Beschaffenheit hin überprüft und anschließend fachgerecht verlädt. Als U im Jahr 2016 in eine bedrohliche betriebswirtschaftliche Situation gerät, werden einige unternehmerische Entscheidungen getroffen. Unter anderem wird ein Prämiensystem eingeführt, wodurch die Mitarbeiter zu überobligatorischen Leistungen animiert werden sollen. So können sich die Kommissionierer ab Januar 2017 zusätzlich zu dem unverändert fortbestehenden Zeitlohn eine monatliche Prämie verdienen. Zur Bemessung dieser Prämie hat U die einzelnen Arbeitsschritte der Kommissionierer mit Planzeiten versehen und dadurch eine Normalleistung definiert. Soweit ein Kommissionierer schneller bzw. mehr als vorgesehen arbeitet, mithin die Normalleistung übertrifft, erhält er eine entsprechende Prämie. Gleichzeitig führt U ein neues EDV-System ein. Die Kommissionierer sollen fortan alle Warenentnahmen mithilfe von EDV-Geräten abbuchen sowie den weiteren Verlauf des Versandauftrags in das System eingeben. Hierdurch wird u.a. die für die Prämienzahlung erforderliche Leistungserfassung ermöglicht. Die Kommissionierer werden Ende November 2016 im Rahmen einer eintägigen Fortbildung in der Handhabung der EDV-Geräte geschult und haben den Dezember 2016 über die Gelegenheit, die Geräte probehalber in der Praxis zu benutzen. Die Leistungserfassung ergibt, dass A im Verhältnis zu den anderen Kommissionierern eine deutlich niedrigere Arbeitsleistung erbringt. Dies ist darin begründet, dass A erhebliche Probleme im Umgang mit dem neuen EDV-Gerät hat und für dessen korrekte Bedienung erheblich mehr Zeit aufwenden muss als alle anderen Kommissionierer. A erbringt im Jahr 2017 nur rund 60 % der Durchschnittsleistung. Deshalb erteilt U dem A mit Schreiben vom 9.11.2017 eine Abmahnung, in der seine Minderleistungen im Einzelnen aufgelistet sind. Ferner fordert U den A dazu auf, eine Leistung von mindestens 100 % zu erbringen. Anderenfalls werde das Arbeitsverhältnis gekündigt. Die Abmahnung bleibt aber erfolglos. Auch im ersten Quartal 2018 liegen die monatlichen Leistungswerte des A um rund 35–40 % unter der Durchschnittsleistung aller Kommissionierer. Demgegenüber übertreffen die anderen Kommissionierer die von U festgelegte Normalleistung durchschnittlich um 5 % und erarbeiten sich somit regelmäßig Prämien. A wird mit Schreiben vom 26.4.2018 nochmals von U mit gleichem Inhalt abgemahnt.

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Fall 16 „Der Low Performer“

Im Rahmen einer auswärtigen Betriebsfeier am Abend des 17.8.2018 führen der Personalleiter (P) und der Betriebsratsvorsitzende (B) des Unternehmens ein vertrauliches Gespräch, in dem P dem B seine Absicht mitteilt, das Arbeitsverhältnis mit A durch ordentliche Kündigung zum 28.2.2019 zu beenden. Zur Begründung verweist P auf die unterdurchschnittliche Arbeitsleistung des A sowie auf die beiden erfolglosen Abmahnungen. B sichert P zu, den Fall in der nächsten Betriebsratssitzung zu behandeln. In dieser stimmt der Betriebsrat einer Kündigung grundsätzlich zu, schlägt aber vor, A zunächst ein neues Vertragsangebot zu unterbreiten, wobei die Grundvergütung entsprechend der Minderleistung herabzusetzen sei. Nachdem A indes das Angebot der U, zu einer um ein Drittel geringeren Grundvergütung weiterzuarbeiten, ablehnt, kündigt P im Namen der U das Arbeitsverhältnis mit A durch Schreiben vom 24.8.2018 zum 28.2.2019. Dabei wurde berücksichtigt, dass ein anderweitiger, den Qualifikationen des A entsprechender Arbeitsplatz im Betrieb der U nicht vorhanden ist. Um A den Brief mit der Kündigung zu übergeben, begibt sich die Sekretärin (S) des P am Freitag, den 24.8.2018, zur Wohnung des A. Dort trifft sie aber nur dessen Ehefrau (F) an, die eine Entgegennahme des Schreibens mit den Worten „Ich nehme nichts an, was nicht an mich adressiert ist!“ ablehnt. Deshalb gibt S das Schreiben am Montag, den 27.8.2018 auf den Postweg. Schließlich wirft der Postbote den Brief am Morgen des 28.8.2018 in den Briefkasten des A. Dieser hatte jedoch zwei Wochen Urlaub genommen und war, wie S bekannt war, in die Niederlande verreist. Von dem Inhalt des Kündigungsschreibens nimmt A erst nach seiner Rückkehr am 8.9.2018 Kenntnis. A erhebt daraufhin am Montag, den 17.9.2018, Klage vor dem örtlich zuständigen Arbeitsgericht auf Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der U vom 24.8.2018 nicht aufgelöst wurde. A hält die Kündigung für sozial ungerechtfertigt. Zur Begründung führt er unter anderem an, dass die Ergebnisse eines Prämiensystems keine Kündigung rechtfertigen könnten. Außerdem bemerkt A, er habe – was zutrifft – stets sein Bestes gegeben und dies habe doch offenbar bis zur Einführung des Prämiensystems der U auch ausgereicht. Auch bemühe er sich im Umgang mit dem neuen EDV-System, sehe sich aber außerstande, dieses schneller zu bedienen und so in seiner Arbeitszeit mehr Kommissionsaufträge zu erledigen.1 Frage: Wie wird das Arbeitsgericht entscheiden? Kalender 2018

M 1 6 13 20 27

D 2 7 14 21 28

August M D F 1 2 3 8 9 10 15 16 17 22 23 24 29 30 31

S 4 11 18 25

S 5 12 19 26

September M D M D F S 1 3 4 5 6 7 8 10 11 12 13 14 15 17 18 19 20 21 22 24 25 26 27 28 29

S 2 9 16 23 30

1 Dieser Fall ist inspiriert von BAG 17.1.2008 NZA 2008, 693.

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„Der Low Performer“ Fall 16

Schwierigkeitsgrad: Durchschnittlich schwierige und durchschnittlich umfangreiche Examensklausur Rechtsfragen: Kündigung wegen dauerhafter und erheblicher Minderleistung des Arbeitnehmers, Abgrenzung zwischen personen-, verhaltens- und betriebsbedingter Kündigung, Leistungsbegriff im Arbeitsverhältnis, Zugangsverständnis einer Willenserklärung

B. Lösungsskizze I. Zulässigkeit (+) 1. Rechtsweg und Zuständigkeit 2. Partei- und Prozessfähigkeit 3. Statthafte Klageart 4. Feststellungsinteresse II. Begründetheit 1. Wirksame Kündigungserklärung (+) a) Schriftform und Bestimmtheit der Kündigungserklärung (+) b) Personalchef als kündigungsberechtigte Person (+) 2. Einhaltung der Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG a) Anwendbarkeit und Rechtsfolge von § 4 S. 1 KSchG (+) b) Berechnung der Klagefrist Maßgeblich: Zeitpunkt des Kündigungszugangs aa) Zugang der Kündigung am 24.8.2018 gem. § 130 BGB durch Übergabeversuch an F (1) F als Empfangsbotin des A (+) (2) Zurechenbare Zugangsvereitelung durch F (–) Dafür: kein missbräuchliches Verhalten von A (§ 242 BGB), kein Anlass für Zurechnung bb) Zwischenergebnis: fristgerechte Klageerhebung nach allen potentiellen Zugangszeitpunkten 3. Kündigungsfrist des § 622 Abs. 2 BGB a) Berechnung der Kündigungsfrist Für A (Beschäftigungsdauer 18 Jahre) gem. § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 6 BGB: 6 Monate

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Fall 16 „Der Low Performer“

b) Einhaltung der Kündigungsfrist Kündigung zum 28.2.2019; Wahrung der 6-Monatsfrist, wenn Zugang noch im August 2018 aa) Fristwahrender Zugang des Kündigungsschreibens am 28.8.2018 Grundsätzlich: Fristwahrender Einwurf am 28.8.2018 (+) (1) personalisiertes Zugangsverständnis im Arbeitsrecht – Besonderes Zugangsverständnis im Arbeitsrecht: Abweichender Zugangszeitpunkt wegen urlaubsbedingter Abwesenheit? Dafür: Kenntnis des Arbeitgebers von der Abwesenheit und des fehlenden Zugangs (2) Objektives Zugangsverständnis – Überzeugender: Kein eigener arbeitsrechtlicher Zugangsbegriff Dafür: Wortlaut § 130 BGB; Rechtssicherheit; Risikosphäre des Arbeitnehmers; Schutz der Arbeitnehmerrechte über § 5 KSchG bb) Zwischenergebnis: Zugang am 28.8.2018; Fristwahrung zum 28.2.2019 4. Anhörung des Betriebsrats – Problematisch: Anhörung weder während der Arbeitszeit, noch im Betrieb – Allerdings: Anhörung ordnungsgemäß durch widerspruchslose Entgegennahme des Betriebsratsvorsitzenden und anschließende Behandlung im Betriebsrat 5. Wirksamkeit nach § 1 KSchG a) Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes (+) b) Soziale Rechtfertigung der Kündigung aa) Betriebsbedingte Kündigung (–) Keine maßgebliche Änderung der bisherigen Tätigkeit durch Einführung des EDVSystems bb) Verhaltensbedingte Kündigung (1) Pflichtverletzung – Minderleistung als Verletzung von Vertragspflicht? – Problematisch: Präzisierung des Inhalts der Arbeitspflicht bei fehlender Regelung zu Qualität und Quantität im Arbeitsvertrag (2) Objektiver Leistungsbegriff – Anspruch des Arbeitgebers auf objektive Normalleistung des Arbeitnehmers – Folge: Minderleistung von A und damit Pflichtverletzung

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(3) Subjektiver Leistungsbegriff – Bestimmung des Leistungsbegriffs nach persönlichen, subjektiven Leistungsvermögen des Arbeitnehmers – Folge: zumindest dem Grunde nach keine Pflichtverletzung des A (4) Stellungnahme – Subjektiver Leistungsbegriff vorzugswürdig Dafür: personale Charakter des Arbeitsverhältnisses Dafür: kein Mängelgewährleistungsrecht im Arbeitsverhältnis, keine § 243 Abs. 1 BGB entsprechende Regelung (a.A. vertretbar) (5) Zwischenergebnis: mangels Pflichtverletzung kein verhaltensbedingter Kündigungsgrund cc) Personenbedingte Kündigung (1) Erhebliche Störung des Austauschverhältnisses (+) – Personenbedingte Kündigung möglich wegen dauerhafter Minderleistung – Voraussetzung: erhebliche Störung des Austauschverhältnisses im Arbeitsvertrag – „Drittellehre“ (BAG) bei Abweichung von Normalleistung (2) Negative Prognose (+) (3) Erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen – Notwendigkeit einer personenbezogenen Kündigung indiziert durch erhebliche Vertragsstörung (4) Milderes Mittel (+) – Vertragsangebot und Abmahnung (5) Interessenabwägung (+) III. Ergebnis: Kündigungsschutzklage zulässig, aber unbegründet

C. Lösungsvorschlag Das Arbeitsgericht wird der Klage des A stattgeben, wenn diese zulässig und begründet ist.

I. Zulässigkeit 1. Rechtsweg und Zuständigkeit A wendet sich als Arbeitnehmer mit seiner Klage vor dem örtlich zuständigen Arbeitsgericht gegen die schriftliche Kündigung durch seinen Arbeitgeber U. Insofern liegt eine die aus179

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Fall 16 „Der Low Performer“

schließliche Zuständigkeit des Arbeitsgerichts begründende bürgerliche Rechtsstreitigkeit i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG vor. Der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten ist gegeben. Verhandelt wird vor dem nach § 8 Abs. 1 ArbGG instanziell und nach § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. §§ 12 ff. ZPO örtlich zuständigen Arbeitsgericht im Urteilsverfahren, vgl. §§ 2 Abs. 1, 5, 46 Abs. 1 ArbGG. 2. Partei- und Prozessfähigkeit Hinsichtlich der Partei- und Prozessfähigkeit des A als natürliche Person bestehen keine Zweifel. Die Parteifähigkeit der U richtet sich gem. § 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 50 Abs. 1 ZPO nach der Rechtsfähigkeit und die Prozessfähigkeit gem. § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. § 52 Abs. 1 ZPO nach der Geschäftsfähigkeit. U kann als Gesellschaft mit beschränkter Haftung gem. § 13 Abs. 1 GmbHG selbst Träger von Rechten und Pflichten sein, also auch klagen und verklagt werden. Die U-GmbH ist damit rechts- und parteifähig. Das Gesetz ordnet in § 35 Abs. 1 GmbHG für die GmbH als juristische Person des Handelsrechts eine gesetzliche Vertretung an, mithin vertritt der Geschäftsführer die Gesellschaft im Prozess. 3. Statthafte Klageart A wendet sich gegen die schriftliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch U vom 24.8.2018. Einschlägige Klageart ist demnach die Kündigungsschutzklage nach § 4 S. 1 KSchG. 4. Feststellungsinteresse Die Kündigungsschutzklage ist eine besondere Feststellungsklage. Insoweit wäre an sich nach § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. § 256 ZPO die Darlegung eines besonderen Feststellungsinteresses erforderlich. Im Falle der Kündigungsschutzklage nach § 4 S. 1 KSchG ergibt sich das Feststellungsinteresse des Arbeitnehmers aber bereits daraus, dass die Klageerhebung notwendig ist, um die Präklusionswirkung des § 7 KSchG zu verhindern. 5. Zwischenergebnis Die Klage des A ist zulässig.

II. Begründetheit Die Klage des A ist begründet, wenn das Arbeitsverhältnis nicht durch die von U ausgesprochene Kündigung zum 28.2.2019 aufgelöst wird. Dazu müsste die Kündigung sozialwidrig sein oder aus anderen Gründen rechtsunwirksam sein. 1. Wirksame Kündigungserklärung Die Wirksamkeit einer Kündigung setzt zunächst eine wirksame Kündigungserklärung voraus.

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a) Schriftform und Bestimmtheit der Kündigungserklärung Bei einer Kündigung handelt es sich um eine einseitige, rechtsgestaltende Willenserklärung, sodass ihre Wirksamkeit anhand der allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen zu beurteilen ist, §§ 104 ff. BGB.2 Durch die schriftliche Kündigungserklärung der U gegenüber A wird dem Schriftformerfordernis in § 623 BGB entsprochen, sodass eine Nichtigkeit nach § 125 S. 1 BGB außer Betracht bleibt. Die inhaltlichen Anforderungen an die Bestimmtheit der Kündigungserklärung sind nicht zweifelhaft. Insbesondere hat U keine außerordentliche, sondern erkennbar eine ordentliche Kündigung zum regulären Kündigungstermin aussprechen wollen. b) Personalchef als kündigungsberechtigte Person Fraglich könnte sein, ob der die Kündigung erklärende P auch zur Kündigung berechtigt war. Im Grundsatz muss die Kündigung bei juristischen Personen vom Organ abgegeben werden. Trotz des höchstpersönlichen Charakters des Kündigungsrechts ist eine Vertretung aber nicht ausgeschlossen. Die Kündigung kann durch einen Bevollmächtigten erklärt werden, was auf Arbeitgeberseite die Regel sein dürfte. Regelmäßig besitzt der Betriebs- oder der Personalleiter eine Vollmacht zur Kündigung.3 Es ist zu unterstellen, dass P als Personalchef entweder durch eine die Kündigungsvollmacht beinhaltende Generalvollmacht oder durch eine isolierte Vollmacht zur Kündigung berechtigt war. Mit Blick auf § 174 BGB wird davon auszugehen sein, dass das Kündigungsschreiben an A einen entsprechenden Nachweis der Bevollmächtigung enthielt. Im Übrigen wäre Gegenteiliges nicht schädlich, da Personalleiter ebenso wenig wie Prokuristen (wegen § 15 Abs. 2 HGB) eine Vollmachtsurkunde vorlegen müssen. Das „Inkenntnissetzen“ i.S.d. § 174 S. 2 BGB gegenüber den Betriebsangehörigen liegt in der Regel darin, dass der Arbeitgeber bestimmte Mitarbeiter zum Beispiel durch die Bestellung zum Prokuristen, Generalbevollmächtigten oder Leiter der Personalabteilung in eine Stellung beruft, mit der das Kündigungsrecht verbunden zu sein pflegt.4 c) Zwischenergebnis Insgesamt liegt also eine wirksame Kündigungserklärung der U an A vor. 2. Einhaltung der Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG Die Kündigung könnte nach § 7 KSchG rechtswirksam sein, wenn die Kündigungsschutzklage nicht fristgerecht nach § 4 S. 1 KSchG erhoben wurde. a) Anwendbarkeit und Rechtsfolge von § 4 S. 1 KSchG § 4 S. 1 KSchG gilt gem. § 23 Abs. 1 KSchG unabhängig von der Betriebsgröße und ist demnach vorliegend anwendbar. Nach § 4 S. 1 KSchG muss eine Kündigungsschutzklage binnen drei Wochen nach Zugang der Kündigung erhoben werden. Nach Ablauf dieser Frist gilt die Kündigung gem. § 7 KSchG als von Anfang an rechtswirksam. Zwar ist streitig, ob diese Rechtsfolge alle Unwirksamkeitsgründe umfasst oder z.B. die Frage der Kündigungsberechti2 ErfK/Müller-Glöge § 620 BGB Rn. 16. 3 Preis/Temming Rn. 2541. 4 BAG 25.9.2014 NJW 2014, 3595.

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gung und der Einhaltung der Kündigungsfrist ausgeklammert bleiben. Dieser Streit kann jedoch dahinstehen, wenn die Klage gem. § 4 S. 1 KSchG fristgerecht erhoben wurde. b) Berechnung der Klagefrist Für die Berechnung der Klagefrist gelten über die Verweisung des § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. § 222 Abs. 2 ZPO die §§ 187 ff. BGB. Entscheidend ist, wann A die Kündigung zugegangen ist. Hierbei kommen drei voneinander zu trennende Zeitpunkte in Betracht. Frühester Zugangszeitpunkt könnte der 24.8.2018 sein, als S die schriftliche Kündigung an F übergeben wollte, diese jedoch die Annahme verweigerte. Dann hätte die Klageerhebung bis zum 14.9.2018 erfolgen müssen. Die Klage des A ist aber erst am 17.9.2018 beim Arbeitsgericht eingegangen, sodass die Frist des § 4 S. 1 KSchG in diesem Falle nicht eingehalten worden wäre. Die Kündigung könnte aber auch erst durch den Einwurf in den Briefkasten des A am 28.8.2018 zugegangen sein. Dann wäre die Drei-Wochen-Frist am 18.9.2018 abgelaufen und die Klageerhebung am 17.9.2018 demnach noch rechtzeitig erfolgt. Erst recht läge eine fristgerechte Klageerhebung vor, wenn man die Urlaubsrückkehr des A am 8.9.2018 als maßgeblichen Zugangszeitpunkt ansehen würde. Demnach wäre die Kündigung gem. § 7 KSchG nur dann schon wegen der materiellen Präklusion rechtswirksam, wenn die versuchte Übergabe der schriftlichen Kündigung an F am 24.8.2018 einen Zugang der Kündigung bewirkte. aa) Zugang der Kündigung am 24.8.2018 gem. § 130 BGB durch Übergabeversuch an F Eine Willenserklärung ist dem Empfänger iSd § 130 Abs. 1 BGB zugegangen, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt und für ihn unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von dem Inhalt des Schreibens Kenntnis zu nehmen. Dies vorausgesetzt, erscheint es in zweierlei Hinsicht problematisch, einen Zugang der Kündigungserklärung an A durch die fehlgeschlagene Übergabe an F anzunehmen. Fraglich ist zunächst, ob die Kündigung als verkörperte Willenserklärung bereits durch den Zustellungsversuch an einen Dritten derart in die Verfügungsgewalt des Empfängers geraten kann, dass ein Zugang bejaht werden kann. Darüber hinaus ist problematisch, ob die Annahmeverweigerung durch den Dritten einem Zugang entgegensteht. (1) F als Empfangsbotin des A Eine Willenserklärung muss nicht zwingend dem Empfänger gegenüber abgegeben werden, um nach § 130 Abs. 1 BGB wirksam zu sein. Sie geht einem Abwesenden auch dann zu, wenn der Erklärende sie einem Empfangsboten übergibt. Der Zugang ist in einem solchen Fall in dem Zeitpunkt erfolgt, in dem nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge die Weiterleitung an den Adressaten zu erwarten war. Demnach wäre der Zustellversuch an F unschädlich, wenn diese Empfangsbotin des A ist. Empfangsbote ist, wer vom Empfänger zur Entgegennahme von Erklärungen bestellt worden ist oder nach der Verkehrsanschauung als bestellt und geeignet anzusehen ist, ohne Empfangsvertreter nach § 164 Abs. 3 BGB zu sein. Ehegatten, die schriftliche Erklärungen innerhalb der gemeinsamen Wohnung entgegennehmen, fungieren unter Berücksichtigung der Gesamtumstände regelmäßig lediglich als unselbstständige Empfangseinrichtungen und nicht als Hilfsperson mit eigener Empfangszuständigkeit. Sie sind damit als Empfangsboten anzusehen.5 F ist folglich Empfangsbotin 5 Zu allem m.N. Palandt/Ellenberger BGB § 130 Rn. 9.

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des A. Der Versuch der S, den Zugang des Kündigungsschreibens durch Übergabe an die Ehefrau des eigentlichen Empfängers A herbeizuführen, ist folglich nicht zu beanstanden. (2) Zurechenbare Zugangsvereitelung durch F Fraglich ist jedoch, wie es sich auswirkt, dass F die Entgegennahme des Kündigungsschreibens kategorisch ablehnt. Es wäre denkbar, die grundlose Ablehnung durch einen Empfangsboten dem Erklärungsempfänger zuzurechnen, sodass dieser sich nach Treu und Glauben so behandeln lassen muss, als sei ihm das Schreiben im Zeitpunkt der Ablehnung zugegangen. Dann wäre A nach § 242 BGB so zu behandeln, als sei ihm die Kündigung bereits am 24.8.2018 zugegangen. Gegen eine solche Auslegung des § 130 Abs. 1 S. 1 BGB ist jedoch einzuwenden, dass dann die Gefahr besteht, einen Zugang auch anzunehmen, wenn der Empfangsbote eigenmächtig, ohne ein Einvernehmen mit dem Erklärungsempfänger hergestellt zu haben, die Annahme der Erklärung verweigert. Wenn der Erklärungsempfänger aber keinen Einfluss auf das Verhalten des Empfangsboten genommen hat, kann auch kein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Erklärungsempfängers angenommen werden, welches aber Voraussetzung für die Anwendung des § 242 BGB wäre.6 Hier ist ein derartiges Einvernehmen zwischen den Ehepartnern indes nicht ersichtlich. Demzufolge ist die Kündigungserklärung nicht bereits durch den Übergabeversuch der S am 24.8.2018 zugegangen. [Die (genaue) Kenntnis dieses Meinungsstreits kann vom Klausurbearbeiter nicht erwartet werden. Erforderlich ist es jedoch, die Frage des Zugangs zu problematisieren. Wer der Gegenposition folgt und einen Zugang annimmt, muss zu Beginn der Prüfungspunkte jeweils feststellen, ob die Heilungswirkung des § 7 KSchG eingreift.] bb) Zwischenergebnis Da die übrigen in Betracht kommenden Zugangszeitpunkte eine fristgerechte Klageerhebung zur Folge haben, kann die Frage, ob die Kündigung am 28.8.2018 oder erst am 8.9.2018 zugegangen ist, an dieser Stelle (noch) dahinstehen. Eine Heilung möglicher Unwirksamkeitsgründe nach § 7 KSchG kommt nicht in Betracht. [Die Frage kann aber auch schon hier genau geklärt werden.] 3. Kündigungsfrist des § 622 Abs. 2 BGB Weiterhin müsste die Kündigungsfrist gewahrt worden sein. Die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist führt zwar im Regelfall nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Die Auslegung einer solchen Kündigung hat jedoch zur Folge, dass die Kündigung erst zum nächstmöglichen Kündigungszeitpunkt wirksam wird.7 a) Berechnung der Kündigungsfrist In dem Arbeitsvertrag zwischen A und U ist keine Kündigungsfrist vereinbart, sodass auf die gesetzlich festgelegten Kündigungsfristen zurückzugreifen ist. Deren Länge hängt von der Dauer der Betriebszugehörigkeit ab. A ist seit dem Jahr 2000 in dem Betrieb des U ange-

6 Palandt/Ellenberger BGB § 130 Rn. 16; ErfK/Müller-Glöge BGB § 620 Rn. 55 ff. 7 BAG 15.5.2013 NZA 2013, 1076, 1077.

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stellt, sodass er zum Kündigungszeitpunkt 18 Jahre bei U beschäftigt war. Gemäß § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 6 BGB beträgt die Kündigungsfrist für Arbeitnehmer, die mehr als fünfzehn, aber noch keine zwanzig Jahre für den kündigenden Arbeitgeber tätig sind, sechs Monate zum Ende eines Kalendermonats. b) Einhaltung der Kündigungsfrist Die Kündigungsfrist wird durch den nach § 130 Abs. 1 BGB zu bestimmenden Zugang der Kündigung in Gang gesetzt.8 Laut der Kündigungserklärung vom 24.8.2018 soll das Arbeitsverhältnis zum 28.2.2019 beendet werden. Die sechsmonatige Kündigungsfrist ist demnach nur dann gewahrt, wenn die Kündigung A bis Ende August 2018 zugegangen ist. Wie bereits festgestellt, ist die Kündigungserklärung A nicht durch die versuchte Übergabe von S an F zugegangen. aa) Fristwahrender Zugang des Kündigungsschreibens am 28.8.2018 Möglicherweise ist die Kündigung dem A aber mit dem Einwurf des Kündigungsschreibens durch den Postboten am 28.8.2018 zugegangen. Durch den Einwurf des Kündigungsschreibens am 28.8.2018 in den Briefkasten des A gelangt das Kündigungsschreiben in dessen Machtbereich.9 Die Möglichkeit der Kenntnisnahme durch A bestand zu dem Zeitpunkt, zu dem unter normalen Umständen mit einer Leerung des Briefkastens zu rechnen ist. Die Leerung des Briefkastens erfolgt idR jedenfalls im Lauf des Nachmittags, sodass der bereits morgens eingeworfene Brief am selben Tag zugeht. Demzufolge wäre die Kündigung fristwahrend am 28.8.2018 zugegangen. (1) Personalisiertes Zugangsverständnis im Arbeitsrecht Allerdings könnte die urlaubsbedingte Abwesenheit des A zu dem nunmehr maßgeblichen Zeitpunkt dem Zugang der Kündigungserklärung am 28.8.2018 entgegenstehen. Fraglich ist daher, ob die urlaubsbedingte Abwesenheit eines Arbeitnehmers derart von den gewöhnlichen Umständen abweicht, dass der Absender mit einer Kenntnisnahme durch den Empfänger nicht rechnen konnte. Es ließe sich aufgrund der engen Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vertreten, den Zugang im Rahmen des Arbeitsverhältnisses individuell zu bestimmen. Dies hieße, dass der Arbeitgeber, der von der urlaubsbedingten Abwesenheit seines Arbeitnehmers weiß, berechtigterweise nicht damit rechnen kann, dass eine an die Heimatadresse seines Arbeitnehmers gerichtete Kündigungserklärung dem Arbeitnehmer vor seiner Urlaubsrückkehr zugeht.10 Für eine subjektive Auslegung des § 130 Abs. 1 S. 1 BGB spricht, dass der Arbeitnehmer mit der Inanspruchnahme des Urlaubs lediglich ein in § 1 BUrlG verbürgtes Recht wahrnimmt, was ihm nicht zum Nachteil gereichen kann. Dann müsste der Arbeitgeber die urlaubsbedingte Abwesenheit respektieren. Entscheidend ist nach dieser Ansicht die Kenntnis des Arbeitgebers von der urlaubsbedingten Abwesenheit des Arbeitnehmers. P wird als Personalleiter über die Urlaubszeiten der Arbeitnehmer informiert sein. Angesichts der bei S bestehenden Kenntnis über die Ortsabwesenheit des A ist auch davon auszugehen, dass P weiß, dass A verreist ist.

8 ErfK/Müller-Glöge BGB § 622 Rn. 11. 9 Vgl. Palandt/Ellenberger BGB § 130 Rn. 6. 10 So früher BAG 16.12.1980 NJW 1981, 1470.

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[Sollte S über die Urlaubsgesuche selbst entscheiden und deshalb nur sie alleine Kenntnis über die Ortsabwesenheit des A haben, kann die Kenntnis der S dem P analog § 166 Abs. 1 BGB zugerechnet werden, weil S dann als sog. Wissensvertreterin gehandelt hat.] Die Kenntnis des P wiederum wird, weil er bevollmächtigt ist, die GmbH in Personalangelegenheiten zu vertreten, der U über § 166 Abs. 1 BGB zugerechnet. Mithin war U die Urlaubsabwesenheit des A bekannt. Nach dieser Ansicht wäre die Kündigungserklärung A nicht allein durch den Einwurf in den Briefkasten am 28.8.2018, sondern erst durch die konkrete Möglichkeit zur Kenntnisnahme bei seiner Rückkehr am 8.9.2018 zugegangen, was für die Einhaltung des Kündigungstermins zum 28.2.2019 zu spät gewesen wäre. (2) Objektives Zugangsverständnis Gegen ein besonderes Zugangsverständnis im Arbeitsrecht bestehen aber erhebliche Bedenken. Dem Wortlaut des § 130 Abs. 1 S. 1 BGB lässt sich nicht entnehmen, dass eine Kündigung zB der Mietwohnung dem Erklärungsempfänger auch dann zugeht, wenn dieser urlaubsbedingt ortsabwesend ist, der Vermieter weiß schließlich typischerweise nichts über den Urlaub des Mieters, dies jedoch nicht für eine Kündigungserklärung gelten soll, die das Arbeitsverhältnis betrifft. Abweichend zum allgemeinen Rechtsverkehr für den Fall der Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer besondere Zugangsvoraussetzungen zu errichten, entbehrt einer einsichtigen Begründung. Bereits deshalb ist eine spezifisch arbeitsrechtliche Auslegung des im allgemeinen Teil des BGB stehenden § 130 Abs. 1 S. 1 BGB abzulehnen. Weiterhin sprechen Sinn und Zweck des § 130 Abs. 1 S. 1 BGB gegen dessen subjektives Verständnis. Die klare Bestimmung des Zugangs einer Willenserklärung ist aus Gründen der Rechtssicherheit erforderlich. Der Absender einer Erklärung muss erkennen können, wann diese zugeht und damit wirksam ist. Dies wird jedoch erschwert, wenn der Zugang von der Ortsabwesenheit des Erklärungsempfängers abhängig gemacht wird. Da es prinzipiell zur Privatsphäre des Arbeitnehmers gehört, wie er seinen Urlaub verbringt, darf die Mitteilung eventueller Reisepläne keinen Einfluss auf den Zugang von Willenserklärungen haben. Eine Differenzierung derart, dass eine Kündigung gegenüber einem Arbeitnehmer ausgeschlossen ist, der den Arbeitgeber von seinen Reisevorhaben unterrichtet hat, während eine Kündigung von Arbeitnehmern möglich ist, die dem Arbeitgeber ihre Abwesenheit während des Urlaubs nicht mitgeteilt haben, erscheint ungerechtfertigt. Auch ist es möglich, dass der Arbeitnehmer seine Urlaubspläne kurzfristig ändert und trotz vorheriger Ankündigung nicht verreist. Dem Arbeitgeber würde damit bei einer subjektiven Auslegung des Zugangsbegriffes eine über das normale Transportrisiko hinausgehende Unsicherheit aufgebürdet, ob der Arbeitnehmer tatsächlich verreist ist oder nicht. Daher ist auch im Arbeitsrecht von einem objektiven Zugangsbegriff auszugehen.11 Durch eine objektive Auslegung des § 130 Abs. 1 S. 1 BGB besteht auch nicht die Gefahr einer Verkürzung von Arbeitnehmerrechten. In der wesentlichen Frage der rechtzeitigen Erhebung der Kündigungsschutzklage nach § 4 S. 1 KSchG hat der Arbeitnehmer auch in diesem Fall die Möglichkeit, nachträglich eine Klagezulassung nach § 5 KSchG zu erlangen. Somit ist eine Abweichung vom objektiven Zugangsbegriff auch nicht durch die konkrete Interessenlage des Erklärungsempfängers geboten. [Angesichts der Hinweise im Sachverhalt kann man erwarten, dass das Problem der urlaubsbedingten Abwesenheit des A aufgeworfen wird. Eine dem vorliegenden Lösungsvorschlag vergleichbare Argumentationsdichte kann nicht erwartet werden und wäre ggf. bei der Bewertung (besonders) positiv zu berücksichtigen.] 11 Std. Rspr. seit BAG 16.3.1988 NJW 1989, 606, 607, ausführlich siehe Fall 8.

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bb) Zwischenergebnis Die urlaubsbedingte Abwesenheit des A ändert demnach nichts an dem Befund, dass das Kündigungsschreiben mit dem Einwurf in den Briefkasten des A am 28.8.2018 zugegangen ist. Die Frist des § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 6 BGB für eine Kündigung zum 28.2.2019 ist folglich gewahrt. 4. Anhörung des Betriebsrats Die Kündigung könnte gem. § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG unwirksam sein. Voraussetzung hierfür ist, dass der Betriebsrat nicht angehört wurde. Nach dem Sinn und Zweck der Regelung gilt diese Rechtsfolge auch bei einer fehlerhaften Anhörung.12 Für eine ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats müsste der Arbeitgeber zunächst seiner Mitteilungspflicht gem. § 102 Abs. 1 S. 2 BetrVG Genüge tun. Inhaltlich erfüllt der Arbeitgeber seine Mitteilungspflichten, wenn er dem Betriebsrat die Gründe der Kündigung nennt, die Personalien des zu kündigenden Arbeitnehmers mitteilt und die Art der Kündigung angibt.13 P teilte dem B während einer Unterredung am Abend des 17.8.2018 den Kündigungssachverhalt des A mit, spezifiziert durch Grund, Art und Termin der Kündigung. Damit hat P den inhaltlichen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Mitteilung iSd § 102 Abs. 1 S. 2 BetrVG entsprochen. Die Mitteilung erfolgte gegenüber B, der als Betriebsratsvorsitzender nach § 26 Abs. 2 S. 2 BetrVG richtiger Adressat der Erklärung ist. Gegen die ordnungsgemäße Einleitung des Anhörungsverfahrens könnte aber sprechen, dass B im Rahmen einer „auswärtigen Betriebsfeier“ von P über die Kündigung informiert wurde. Fraglich ist, ob eine Mitteilung an den Betriebsrat deshalb unwirksam ist, weil sie außerhalb des Betriebes und der Arbeitszeit stattfindet. Einen Anhaltspunkt bietet das Gesetz in §§ 30 S. 1, 37 Abs. 3, 39 Abs. 1 S 1, Abs. 3 BetrVG. Hieraus ergibt sich, dass der Betriebsrat die ihm obliegenden gesetzlichen Aufgaben grundsätzlich während der Arbeitszeit durchführen soll. Demgemäß hat auch die Information des Betriebsrates regelmäßig während der Arbeitszeit des Betriebsratsmitglieds und innerhalb der Arbeitsräume zu erfolgen. Allerdings zeigt § 37 Abs. 3 BetrVG, dass eine Betriebsratstätigkeit auch außerhalb der Arbeitszeit erforderlich sein kann und vom Gesetzgeber zugelassen wird. Dennoch verpflichtet der Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit, § 2 Abs. 1 BetrVG, den Arbeitgeber, dafür zu sorgen, dass Betriebsratsmitglieder in ihrer Amtseigenschaft nur während der Arbeitszeit in Anspruch genommen werden. Anhörungsverfahren nach § 102 Abs. 1 BetrVG sind grundsätzlich während der Arbeitszeit in den Betriebsräumen einzuleiten. Infolgedessen ist der Betriebsratsvorsitzende nicht dazu verpflichtet, Erklärungen des Arbeitgebers außerhalb der Arbeitszeit und der Betriebsräume entgegenzunehmen. Wenn aber der Betriebsratsvorsitzende, wie hier geschehen, die zur „Unzeit“ erfolgte Mitteilung des Arbeitgebers nicht nur widerspruchslos entgegennimmt, sondern sogar eine Behandlung in der nächsten Betriebsratssitzung zusichert, wird eine formell einwandfreie Einleitung des Anhörungsverfahrens nach § 102 Abs. 1 BetrVG durch den Arbeitgeber zu bejahen sein.14 Letztlich hat der Betriebsratsvorsitzende die vorgesehene Kündigung des A auch in die Betriebsratssitzung eingebracht und der Betriebsrat hat der Kündigung zugestimmt. Insgesamt hat damit ein ordnungsgemäßes Anhörungsverfahren nach § 102 Abs. 1 BetrVG stattgefunden. Eine Unwirksamkeit der Kündigung nach § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG scheidet aus. 12 BAG 27.9.2001 NZA 2002, 750, 753. 13 ErfK/Kania § 102 BetrVG Rn. 5. 14 BAG 27.8.1982 NJW 1983, 2835.

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5. Wirksamkeit nach § 1 KSchG Die Kündigung gegenüber A könnte aber gem. § 1 Abs. 1, Abs. 2 KSchG unwirksam sein, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. a) Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes Nach § 1 Abs. 1 KSchG findet das KSchG nur Anwendung, wenn der zu kündigende Arbeitnehmer bereits sechs Monate ununterbrochen in einem Arbeitsverhältnis stand. A ist seit 2000 ununterbrochen bei U beschäftigt und erfüllt damit die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG. Die U-GmbH beschäftigt zumindest 35 Kommissionierer, sodass die nach § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG für die Anwendbarkeit des § 1 KSchG erforderliche Mindestbetriebsgröße gegeben ist. b) Soziale Rechtfertigung der Kündigung Die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses von A ist rechtsunwirksam, wenn sie nicht sozial gerechtfertigt ist. Sozial ungerechtfertigt ist die Kündigung nach § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. aa) Betriebsbedingte Kündigung Zunächst wäre an eine betriebsbedingte Kündigung zu denken. Eine betriebsbedingte Kündigung ist gem. § 1 Abs. 2, Abs. 3 KSchG sozial gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber eine unternehmerische Entscheidung trifft, durch die die Beschäftigungsmöglichkeit eines Arbeitnehmers dauerhaft wegfällt, der Arbeitnehmer weder auf einem anderen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden kann noch sonstige mildere Mittel statt der Kündigung möglich sind und der Arbeitgeber die Sozialauswahl ordnungsgemäß durchführt. Fraglich erscheint, ob die Einführung der EDV-Geräte eine derart gravierende innerbetriebliche Veränderung darstellt, dass die bisherige Kommissionierertätigkeit wegfällt und neue wesensverschiedene Arbeitsplätze geschaffen werden. Hiergegen spricht, dass die grundsätzliche Aufgabe der Kommissionierer, Warenbestellungen und Versandaufträge zu bearbeiten, bestehen bleibt. Auch bleibt das Zentrallager als Ort und Sachgrund für die Tätigkeit unverändert. Die einzige innerbetriebliche Veränderung liegt darin, dass die arbeitsvertraglichen Anforderungen an die Tätigkeit geändert werden. Aus technischen Gründen wird die zusätzliche Handhabung von EDV-Geräten notwendig, welche die gleich gebliebenen Arbeitsschritte dokumentieren. Eine betriebsbedingte Kündigung kommt bei geänderten Anforderungen an den konkreten Arbeitsplatz aber allenfalls dann in Betracht, wenn die vom Arbeitgeber aufgestellte Forderung nach zusätzlichen Kenntnissen des Mitarbeiters so weit außerhalb der üblichen Schwankungsbreite steht, dass sie vom Direktionsrecht nicht mehr gedeckt ist.15 Durch das arbeitsvertragliche Direktionsrecht kann der Arbeitgeber die im Arbeitsvertrag nur rahmenmäßig umschriebene Leistungspflicht nach Zeit, Ort und Art bestimmen, vgl. § 106 GewO.16 Das Direktionsrecht muss sich dabei innerhalb der durch den Arbeitsvertrag aufgestellten Grenzen bewegen, sodass dem Arbeitnehmer kein anderer Tä15 APS/Vossen KSchG § 1 Rn. 248a. 16 BAG 10.12.2014 NZA 2015, 483, 386.

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tigkeitsbereich zugewiesen werden darf. Entscheidend ist daher, ob sich durch das neu eingeführte EDV-System das bisherige Tätigkeitsbild maßgeblich geändert hat. Gegen eine wesentliche Änderung der arbeitsvertraglich festgelegten Anforderungen spricht bereits, dass die Bedienung des Gerätes im Rahmen einer eintägigen Schulung zu erlernen war. Auch können mit Ausnahme des A alle Kommissionierer ohne Probleme mit den neuen Geräten umgehen. Demnach findet keine prägende Veränderung des Tätigkeitsbildes statt. Die vorgenommene „Technisierung“ des Arbeitsplatzes liegt innerhalb der üblichen Schwankungsbreite und ist vom Direktionsrecht des Arbeitgebers gedeckt. Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass die Arbeitsplätze der Kommissionierer als solche fortbestehen. Eine betriebsbedingte Kündigung scheidet aus. [Die maßgeblichen Gründe für die Kündigung liegen hier eindeutig entweder im Verhalten oder in der Person des Arbeitnehmers. Infolgedessen ist es nicht (besonders) negativ zu bewerten, wenn die Möglichkeit einer betriebsbedingten Kündigung nicht erkannt wird; keinesfalls ist eine betriebsbedingte Kündigung aber als fernliegend oder abwegig zu erachten.] bb) Verhaltensbedingte Kündigung Die Kündigung des A wegen Unterschreitung der durchschnittlichen Arbeitsleistung könnte aber als verhaltensbedingte Kündigung sozial gerechtfertigt sein. Eine verhaltensbedingte Kündigung ist gem. § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt, wenn ein Arbeitnehmer schuldhaft eine Vertragspflicht verletzt. Darüber hinaus muss die Vertragsverletzung auch künftig negative Auswirkungen zeitigen und darf nicht durch mildere Mittel, insbesondere eine Abmahnung, abgewendet werden können. Schließlich ist anhand einer Interessenabwägung darüber zu entscheiden, ob die Vertragsverletzung so gewichtig ist, dass sie das Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt des Arbeitsplatzes überwiegt. (1) Pflichtverletzung Problematisch erscheint bereits die rechtswidrige Verletzung einer arbeitsvertraglichen Pflicht durch A. U macht A den kündigungsrelevanten Vorwurf, keine ausreichende Arbeitsleistung zu erbringen. Grund zur Beanstandung ist dabei nicht die Qualität der von A erbrachten Leistung; der Vorwurf lautet vielmehr, dass A seit Einführung des neuen EDV-Gerätes in der vorgesehenen Zeit nicht genügend Ware kommissioniert, mithin mengenmäßig zu wenig arbeitet. Zur Begründung bezieht sich U, wie aus den beiden Abmahnungen hervorgeht, zum einen auf die Minderleistung des A im Vergleich zum Abteilungsdurchschnitt. Zum anderen fordert U den A auf, eine Leistung von mindestens 100 % zu erbringen. Als Maßstab zur Definition der einhundertprozentigen Arbeitsleistung zieht U die im Rahmen eines Prämiensystems festgelegte „Normalleistung“ heran. Insoweit ist fraglich, ob die konkrete quantitative Arbeitsleistung des A tatsächlich als eine die vertraglichen Pflichten verletzende Minderleistung anzusehen ist. Dies hängt davon ab, zu welcher Leistung der Arbeitnehmer genau verpflichtet ist. Der konkrete Inhalt der Verpflichtung zur Arbeitsleistung ergibt sich zunächst aus dem Inhalt des Arbeitsvertrages. Dieser enthält regelmäßig Aussagen über Ort, Art und Zeit der zu leistenden Arbeit. Diese Faktoren stehen hier aber nicht infrage. Streitig ist vielmehr die Quantität der von A geforderten Arbeitsleistung, wozu der Arbeitsvertrag des A allerdings keine Angaben macht. Problematisch ist demzufolge, wie der Inhalt der Arbeitspflicht zu präzisieren ist, wenn der Arbeitsvertrag Qualität und Quantität der Leistung nicht regelt.

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(2) Objektiver Leistungsbegriff Man könnte die vertraglich geforderte Arbeitsleistung objektiv bestimmen. Dann hätte der Arbeitgeber, sofern arbeitsvertraglich nichts Abweichendes vereinbart ist, bei verständiger Auslegung des Arbeitsvertrages nach § 157 BGB einen Anspruch auf eine objektive Normalleistung des Arbeitnehmers. Um eine Pflichtverletzung des A annehmen zu können, müsste demnach die von A erbrachte Arbeitsleistung dauerhaft hinter der objektiv zu bestimmenden Normalleistung liegen. A kommissioniert im Verhältnis zu den anderen Kommissionierern permanent deutlich weniger Ware. Die von ihm erbrachte Arbeitsleistung beträgt 2017 und im 1. Quartal 2018 nur zwischen 60 und 65 % der durch U definierten Normalleistung. Entscheidend ist damit, ob die durch U definierte Normalleistung die objektiv zu bestimmende Normalleistung widerspiegelt. Das wäre nicht der Fall, wenn U einen willkürlichen Leistungsmaßstab aufgestellt hätte, der bestimmte Personengruppen bevorzugt oder benachteiligt. Die Leistung wird nach einem Planzeiten- und Prämienabrechnungssystem gemessen, das auf einem Planzeitenkatalog aufbaut. Dass die von U dargelegte Methode der Ermittlung des Leistungsgrades Fehler aufweist, die einzelne Arbeitnehmer benachteiligen würden oder das prozentuale Verhältnis der Leistungsgrade zueinander verschiebt, ist nicht erkennbar. Vielmehr sind die einzelnen Arbeitsschritte unabhängig von den sie ausführenden Personen mit Planzeitwerten versehen. Aus dem Verhältnis der monatlichen Arbeitsleistung zu der monatlichen Arbeitszeit ergibt sich eine objektive Aussage über die erledigte Arbeitsmenge. Dies bietet einen objektiven Vergleichsmaßstab. Dass die Normalleistung jedenfalls nicht willkürlich definiert ist, zeigt im Übrigen auch der Umstand, dass sie von der Durchschnittsleistung der Kommissionierer um 5 % nach unten abweicht. Auch die Gruppengröße von 35 Personen ist vorliegend geeignet, einen aussagekräftigen Durchschnittswert zu gewinnen. Gegen die Maßstabsbildung bestehen demnach keine Bedenken, sodass die von U festgelegte Normalleistung einer objektiven Normalleistung entspricht. Die Leistungen des A unterschreiten die Normalleistung vorliegend dauerhaft um mehr als ein Drittel. Nach dem objektiven Leistungsverständnis erbringt A eine Minderleistung, die wegen der erheblichen Abweichung auch als Pflichtverletzung zu werten ist. (3) Subjektiver Leistungsbegriff Die zu erbringende Arbeitsleistung ließe sich aber auch subjektiv festlegen, sodass sich der Inhalt des Leistungsversprechens innerhalb des vom Arbeitgeber durch Ausübung des Direktionsrechts festgelegten Arbeitsinhalts nach dem persönlichen, subjektiven Leistungsvermögen des Arbeitnehmers bestimmt. Der Arbeitnehmer muss danach tun, was er soll und zwar so gut, wie er es kann. Die Leistungspflicht ist dann im Gegensatz zur objektiven Bestimmung nicht starr, sondern dynamisch und orientiert sich an der Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers.17 A gibt nach seiner zutreffenden Aussage „sein Bestes“. Damit leistet er unter angemessener Anspannung seiner geistigen und körperlichen Kräfte auf Dauer und ohne Gefährdung seiner Gesundheit das, wozu er imstande ist. Der Umstand, dass seine Arbeitsleistung dennoch vergleichsweise unterdurchschnittlich bleibt, ist belanglos. Nach dem subjektiven Leistungsbegriff genügt derjenige, der nur unterdurchschnittlich leistungsfähig ist, mit einer unterdurchschnittlichen Leistung seiner Arbeitspflicht genauso, wie von einem zu überdurchschnittlichen Leistungen fähigen Arbeitnehmer auch eine überdurchschnittliche Leistung gefordert werden kann. Dem subjektiven Leistungsverständnis zufolge liegt zumindest dem Grunde nach keine Schlechtleistung, mithin keine Pflichtverletzung durch A vor. Eine verhaltensbedingte Kündigung wäre bereits im Ansatz ungerechtfertigt. 17 BAG 17.1.2008 NZA 2008, 693, 694.

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(4) Stellungnahme Fraglich ist, welcher Leistungsbegriff vorzugswürdig ist. Unter systematischen Gesichtspunkten könnte die Haftung wegen Pflichtverletzungen nach § 280 Abs. 1 BGB, der auch auf Schlechtleistungen im Arbeitsverhältnis Anwendung findet, für eine objektive Bestimmung des Leistungsprogramms sprechen. Die im Rahmen von § 280 Abs. 1 BGB ebenfalls erforderliche Pflichtverletzung ist nämlich objektiv zu bestimmen.18 Dann scheint es sachgerecht, die für eine Kündigung notwendige Pflichtverletzung ebenfalls objektiv festzulegen. Gegen den Vergleich zu § 280 Abs. 1 BGB spricht jedoch, dass die objektive Bestimmung des Leistungsprogramms nur als Gegensatz zum subjektiven Tatbestandsmerkmal des Vertretenmüssens zu verstehen ist. Der Leistungsmaßstab an sich wird damit nicht normiert, sondern muss aus dem Schuldverhältnis selbst entnommen werden. Sieht das Schuldverhältnis eine subjektive Leistungspflichtbestimmung vor, besteht also kein Widerspruch zu der in § 280 Abs. 1 BGB vorzunehmenden Auslegung des Merkmals „Pflichtverletzung“. Gegen den objektiven Leistungsbegriff spricht entscheidend der personale Charakter des Arbeitsverhältnisses. Der Arbeitsvertrag richtet sich im Gegensatz zum Dienstverschaffungsvertrag auf die Arbeitskraft des Arbeitnehmers als einen wesentlichen Teil der Persönlichkeit des Arbeitnehmers. Dieser drückt sich vor allem darin aus, dass der Arbeitnehmer grundsätzlich nicht einen bestimmten Arbeitserfolg schuldet, sondern nur verpflichtet ist, die eigene Arbeitskraft während der vereinbarten Arbeitszeit im Rahmen der vertraglichen und gesetzlichen Grenzen zur Leistung der „versprochenen Dienste“ unter Aufwendung aller seiner Kräfte und Möglichkeiten voll einzusetzen. Infolgedessen ist eine objektiv bestimmte Leistungsquantität oder -qualität mit der Individualität der persönlichen Arbeitspflicht unvereinbar. Der Umfang der Arbeitspflicht kann daher nur nach dem subjektiven Leistungsvermögen des jeweiligen Arbeitnehmers bestimmt werden. Der Arbeitsvertrag kann den Arbeitnehmer im Gegensatz zu der Regelung des § 243 Abs. 1 BGB nur dazu verpflichten, die „versprochenen Dienste“ zu leisten. Mit dieser Auslegung steht es im Einklang, dass es im Arbeits- und Dienstvertragsrecht keine Vorschriften zur Mängelgewährleistung gibt. Diese würden im Zweifel einen objektiv zu bestimmenden Fehlerbegriff voraussetzen (vgl. §§ 434 Abs. 1 S. 2, 633 Abs. 1 S. 2 BGB), was aufgrund des personalen Charakters der Arbeitsleistung aber unzulässig ist. Insgesamt sprechen die besseren Gründe daher für den subjektiven Leistungsbegriff. Hiernach ist die vergleichsweise schlechte Arbeitsleistung des A nicht als Minderleistung zu qualifizieren. Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor. [A.A. mit entsprechender Begründung vertretbar. In diesem Fall wären die nachfolgenden Ausführungen zur Negativprognose, einem möglichen milderen Mittel und der Interessenabwägung bereits hier anzubringen.] (5) Zwischenergebnis Mangels Pflichtverletzung scheidet eine verhaltensbedingte Kündigung nach der vorzugswürdigen Auslegung des Leistungsbegriffs damit aus. [Eine längerfristige deutliche Überschreitung der durchschnittlichen Fehlerquote kann im Einzelfall allerdings gleichwohl ein Anhaltspunkt für eine vorwerfbare Verletzung vertraglicher

18 Palandt/Grüneberg BGB § 280 Rn. 3, 12.

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Pflichten im Sinn eines Indizes dafür sein, dass der Arbeitnehmer entsprechend dem subjektiven Leistungsverständnis seine persönliche Leistungsfähigkeit nicht ausgeschöpft hat.19] cc) Personenbedingte Kündigung Möglicherweise lässt sich die Kündigung des A jedoch als personenbedingte Kündigung rechtfertigen. Dies setzt voraus, dass Gründe in der Person des Arbeitnehmers die Erreichung des Vertragszwecks unmöglich machen. Gründe in der Person des Arbeitnehmers sind solche, die auf den persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten des Arbeitnehmers beruhen. Demnach müsste die Fähigkeit oder Eignung des A, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, entfallen sein. (1) Erhebliche Störung des Austauschverhältnisses A ist nicht in der Lage, mit der neuen EDV-Technik so umzugehen, wie es die anderen Kommissionierer tun. Dies ist allerdings darauf beschränkt, dass A vergleichsweise länger braucht, um die entsprechenden Bedienungsvorgänge am Gerät vorzunehmen. Keineswegs ist er grundsätzlich außerstande, das EDV-Gerät zu bedienen. Die generelle Fähigkeit, mit der neu eingeführten Technik umzugehen und die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, ist ihm also nicht abzusprechen. Auch wenn A die vertraglich geschuldete Leistung an sich erbringen kann, weicht sie vom Umfang her erheblich von der vergleichbarer Arbeitnehmer ab. Problematisch ist, ob das bei A vorhandene quantitative Leistungsdefizit eine personenbedingte Kündigung rechtfertigen kann. Voraussetzung hierfür ist, dass das dem Arbeitsvertrag zugrunde liegende Austauschverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung durch das Leistungsdefizit erheblich gestört ist. Gegen die Annahme, eine Störung des Austauschverhältnisses liege bereits bei einer Leistungsminderung vor, spricht, dass der Arbeitnehmer trotz der verminderten Leistungsfähigkeit die von ihm vertraglich geschuldete Leistung erbringt. Eine solche Sichtweise würde jedoch verkennen, dass der Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Vertragsverhältnisses haben kann, selbst wenn der Arbeitnehmer zwar dauerhaft entsprechend dem subjektiven Leistungsbegriff die vertraglich vereinbarte Leistung erbringt, er gleichwohl aber deutlich hinter dem objektiven Leistungsmaßstab hinterherhinkt. Eine personenbedingte Kündigung kann also auch dann sozial gerechtfertigt sein, wenn der Arbeitnehmer aus Gründen, die in seiner Sphäre liegen, die jedoch nicht von ihm verschuldet sein müssen, zu der nach dem Vertrag vorausgesetzten Arbeitsleistung ganz oder teilweise nicht mehr in der Lage ist.20 Der Arbeitnehmer, der trotz angemessener Bemühung die Normalleistung unterschreitet, verstößt dann zwar nicht gegen den Vertrag, gleichwohl kann die dauerhafte, nicht verhaltensgesteuerte Minderleistung die zur Vertragsbedingung erhobene Erwartung des Arbeitgebers von einem ausgewogenen Verhältnis von Leistung und Gegenleistung erschüttern und zu einer Störung des Austauschverhältnisses führen, die ein Festhalten am Vertrag für die enttäuschte Vertragspartei als nicht mehr zumutbar erscheinen lässt. [Die besondere Schwierigkeit des Falles besteht darin, dass die Unterschreitung des objektiven Leistungsminimums zwar keine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigen kann, weil die Bestimmung des arbeitsvertraglichen Pflichtenprogramms einem subjektiven Leistungsmaßstab folgt, gleichwohl aber eine personenbedingte Kündigung tragen kann. Dogmatisch kann hierzu auf die in § 313 BGB geregelte Störung der Geschäftsgrundlage zurückgegriffen werden. Die 19 BAG 17.1.2008 NZA 2008, 693. 20 BAG 11.12.2003 NJW 2004, 2545, 2548.

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Fall 16 „Der Low Performer“

zwar vertragsgemäße, den Arbeitgeber aber aufgrund der Äquivalenzstörung erheblich belastende Vertragsdurchführung ist an die tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen bzw. durch eine Kündigung aufzulösen.21] Entscheidend ist, ob die objektive Minderleistung eine erhebliche Störung des Äquivalenzverhältnisses bewirkt. Die Parteien des gegenseitigen Vertrages gehen typischerweise davon aus, dass die Leistung des anderen Teils der eigenen gleichwertig ist.22 Diese Vorstellung der Parteien ist regelmäßig Geschäftsgrundlage. Weichen die tatsächlichen Verhältnisse von den Erwartungen schwerwiegend ab, kann der in ihrer Erwartung enttäuschten Partei ein Recht zur Anpassung oder Kündigung zustehen. Zunächst ist unter Bezugnahme auf obige Ausführungen davon auszugehen, dass die Erwartungen der U an die Leistung des A, nämlich die Erbringung der allgemein definierten Normalleistung, zulässig sind. Über die Zulässigkeit einer personenbedingten Kündigung des A entscheidet die Frage, ob seine Minderleistung derart „schwerwiegend“ ist, dass die Geschäftsgrundlage gestört ist. Als Anhaltspunkt dienen bei quantitativen Minderleistungen Werte, aufgrund derer bereits über die Erheblichkeit von Minderleistung im Rahmen von krankheitsbedingten Kündigungen geurteilt wurde. A erbringt regelmäßig nur 60–65 % der Durchschnittsleistung und bleibt damit quantitativ noch weiter unter der objektiven Normalleistung, als es die „Drittellehre“ des BAG fordert. Folglich ist eine schwerwiegende Störung des Vertragsgleichgewichts anzunehmen, die geeignet ist, eine personenbedingte Kündigung zu tragen. K Kontext: Auch in den Fällen einer überdurchschnittlichen Fehlerquote des Arbeitnehmers, also einer qualitativen Minderleistung, richtet das BAG die Prüfung am Maßstab aus, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung beeinträchtigt ist.23 Eine Störung des Verhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung könne jedoch anders als bei den Fällen quantitativer Minderleistungen nicht anhand absoluter Bezugsgrößen angenommen werden. Solche absoluten Bezugsgrößen, etwa dergestalt, dass bei einer doppelten oder dreifachen Fehlerquote ein Kündigungsgrund angenommen wird, berücksichtigten bei einer qualitativen Minderleistung nach Ansicht des BAG nicht hinreichend, dass je nach Art der Tätigkeit und der dabei möglicherweise auftretenden Fehler diesen ein sehr unterschiedliches kündigungsrelevantes Gewicht beizumessen sei. Es seien insofern zum einen Tätigkeiten denkbar, bei denen bereits ein einmaliger Fehler derart weitreichende Konsequenzen hat, dass eine Vertragspflichtverletzung erheblich eher anzunehmen sei als bei anderen Fehlern (zB Sorgfaltspflichten eines Piloten). Zum anderen gäbe es Tätigkeiten, bei denen Fehler nach der Art der Tätigkeit vom Arbeitnehmer kaum zu vermeiden und vom Arbeitgeber eher hinzunehmen seien, weil ihre Folgen das Arbeitsverhältnis nicht allzu stark belasten. Deshalb sei in den Fällen qualitativer Minderleistungen über die bloße Betrachtung der Fehlerhäufigkeit hinaus eine einzelfallbezogene Betrachtungsweise unter Berücksichtigung der konkreten Arbeitsanforderungen und der konkreten Gegebenheiten des Arbeitsplatzes geboten. Für die Einzelfallbetrachtung relevant ist insofern neben der tatsächlichen Fehlerzahl Art, Schwere und Folgen der fehlerhaften Arbeitsleistung des betreffenden Arbeitnehmers.

21 Zum Ganzen Greiner, RdA 2007, 22, 28 f. 22 BGH 13.6.1980 NJW 1980, 2304, 2305. 23 BAG 17.1.2008 NZA 2008, 693, 695.

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(2) Negative Prognose Darüber hinaus setzt die Kündigung aus personenbedingten Gründen stets voraus, dass auch für die Zukunft nicht mit einer Wiederherstellung des Gleichgewichts von Leistung und Gegenleistung zu rechnen ist.24 Die Prognose fällt durch die Aussage des A, er sehe sich außerstande, das EDV-Gerät schneller zu bedienen und dadurch mehr zu leisten, negativ aus. (3) Erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen Allerdings wird durch die Person des Arbeitnehmers die Kündigung grundsätzlich nur dann bedingt, wenn erhebliche vertragliche oder betriebliche Interessen diese notwendig machen. Insoweit müssen konkrete Auswirkungen auf den Betrieb tatsächlich feststellbar sein; allein eine Gefahr für Arbeitsablauf oder Betriebsfrieden reicht nicht aus.25 Ausnahmsweise kommt es auf das Vorliegen tatsächlicher Betriebsstörungen nicht an, wenn feststeht, dass wegen eines rechtlichen oder tatsächlichen Leistungshindernisses die Möglichkeit zur Vertragsdurchführung auf Dauer entfällt.26 A beteuert, stets sein Bestes gegeben zu haben, und gesteht gleichzeitig ein, seine Tätigkeit nicht schneller vollbringen zu können, mithin ist ihm eine Leistungssteigerung gänzlich unmöglich. Er ist zur Vertragsdurchführung dauerhaft nicht in der Lage. Demnach kommt es auf eine tatsächliche Betriebsstörung nicht an. Vielmehr indiziert die erhebliche Vertragsstörung bereits die Notwendigkeit der personenbedingten Kündigung. (4) Milderes Mittel Eine personenbedingte Kündigung ist aber nur dann sozial gerechtfertigt, wenn kein milderes Mittel zur Wiederherstellung eines Vertragsgleichgewichts zur Verfügung steht. Ein Einsatz des A auf einem anderen Arbeitsplatz ist ausgeschlossen. Darüber hinaus hat A ein Angebot der U, ihn zu geänderten Vertragsbedingungen zu beschäftigen, abgelehnt. Dabei lag die Herabsetzung der Grundvergütung um ein Drittel im neuen Vertragsangebot der U noch unter der nominellen Minderleistung des A und war infolgedessen jedenfalls angemessen. Soweit das BAG in seiner neueren Rechtsprechung auch bei einer personenbedingten Kündigung die Abmahnung zu den gleich geeigneten, milderen Mitteln zählt27, wurde diesem Erfordernis durch die Abmahnungen der U vom 9.11.2017 und 26.4.2018 entsprochen. (5) Interessenabwägung Letztlich ist eine personenbedingte Kündigung aber nur dann gerechtfertigt, wenn unter Berücksichtigung der in der Rechtsordnung verankerten Wertentscheidungen zum Schutz der Person des Arbeitnehmers eine so starke Beeinträchtigung schutzwerter betrieblicher, unternehmerischer oder vertraglicher Interessen des Arbeitgebers vorliegt, dass diese im konkreten Fall die zugunsten des Arbeitnehmers bestehenden Rechtspositionen überwiegt. Zugunsten des A könnte man argumentieren, dass die Einschränkung der Eignung oder Fähigkeit zur Erbringung der Arbeitsleistung zumindest auch auf betriebliche Umstände, nämlich die Einführung der neuen EDV-Geräte durch den Arbeitgeber zurückzuführen ist. Allerdings wird man dem Arbeitgeber auch zugestehen müssen, die technischen Anforderungen 24 25 26 27

BAG 12.4.2002 NJW 2002, 3271, 3273. BAG 20.7.1989 NJW 1990, 597, 598. BAG 11.12.2003 NJW 2004, 2545, 2548. Krit. hierzu Preis/Temming Rn. 3042.

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Fall 16 „Der Low Performer“

an den Arbeitsplatz zu novellieren. Sofern sich diese Änderungen, wie hier der Fall, auch innerhalb der üblichen Schwankungsbreite halten und infolgedessen vom Direktionsrecht gedeckt sind, erscheint es ungerechtfertigt, diese „betrieblichen Umstände“ im Rahmen der Interessenabwägung zugunsten des Arbeitnehmers wirken zu lassen. Weiterhin ist auch das unternehmerische Interesse der U zu berücksichtigen, durch die Einführung des Prämiensystems die Kommissionierer insgesamt zu überobligatorischen Leistungen zu animieren. Insofern ist zu befürchten, dass es der Arbeitsmoral der anderen Kommissionierer abträglich sein wird, wenn sich herausstellt, dass es von Arbeitgeberseite geduldet wird, dass einzelne Arbeitnehmer bei gleicher Grundvergütung erheblich weniger leisten. Dies würde nicht zuletzt die definierte Normalleistung als Schwellenwert für die Prämienzahlung infrage stellen. Letztlich spricht für die soziale Rechtfertigung der Kündigung, dass A das angemessene Angebot der U zur Weiterbeschäftigung abgelehnt hat. A hat sich damit sehenden Auges gegen eine Korrektur des vertragswidrigen Zustandes gewehrt und muss demnach auch hinnehmen, dass U diesen vertragswidrigen Zustand mit Rechtsmitteln beseitigt.

III. Ergebnis Die personenbedingte Kündigung des A ist sozial gerechtfertigt. Die Kündigungsschutzklage ist zulässig, aber unbegründet. Das Arbeitsgericht wird die Kündigungsschutzklage des A daher abweisen. K Zur Vertiefung: Zur Ordentlichen Kündigung s. Junker Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 323–393; Preis/Temming Individualarbeitsrecht Rn. 2704–3063. Zur betriebsbedingten Kündigung s. Junker Rn. 371–381; Preis/Temming Rn. 2827–2923. Zur personenbedingten Kündigung s. Junker Rn. 365–367; Preis/Temming Rn. 2924–3000. Zur verhaltensbedingten Kündigung s. Junker Rn. 368–370; Preis/Temming Rn. 3001–3063. Zur Qualität der Arbeitsleistung s. Preis/Temming Rn. 1078–1082. Zur Kündigung wegen dauerhafter Minderleistung („low performer“) s. Junker Rn. 368; Preis/Temming Rn. 3014–3015.

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Fall 17 „Produktionsdrosselung“ A. Falldarstellung Der 50-jährige Familienvater und als „eingefleischter“ Kölner und Fortuna Köln-Fan bekannte A ist seit 20 Jahren bei der Maschinenbau-GmbH (G-GmbH) in Köln als Mechaniker beschäftigt, ebenso wie der dort seit fünf Jahren arbeitende 30-jährige ledige B. Wegen Rückgangs der Nachfrage beschloss der Geschäftsführer G der GmbH jedoch, die Produktion zu drosseln, wodurch im Werk Köln beim Bau von Fräsmaschinen der Beschäftigungsbedarf für zwei Arbeitnehmer entfallen würde. A und B sollten deshalb zum 30.11.2019 gekündigt werden. Der Betriebsrat wurde ordnungsgemäß angehört, hatte sich aber nicht geäußert. Zuvor hatte G den A schriftlich über den Wegfall seines Arbeitsplatzes in Köln informiert und ihm wegen seiner langjährigen Dienste eine freie Stelle als Mechaniker im Düsseldorfer Werk der G-GmbH bei ansonsten gleichbleibenden Arbeitsbedingungen und Anforderungen angeboten. Anbei übersandte er einen entsprechenden Arbeitsvertrag. Dessen Unterzeichnung sei erforderlich, da A bei seiner Einstellung auf einer Klausel im Arbeitsvertrag bestanden hatte, die ihm eine ausschließliche Tätigkeit im Kölner Werk garantiert. Er könne über dieses Angebot erstmal in Ruhe, maximal aber zwei Wochen, nachdenken. Nach diesen zwei Wochen lehnte A in einem Gespräch mit G das Änderungsangebot ab. G hielt diesen Entschluss des A für verfehlt und versicherte ihm, wie auch schon das Schreiben betonte, dass eine Beendigungskündigung ausgesprochen werden müsse, wenn A das Angebot ablehnte. Er würde ihm aber jetzt erst einmal eine Änderungskündigung zuschicken, denn dann könne er sich noch mal überlegen, ob er nicht doch der Vertragsänderung zustimmen wolle. A versicherte dem G jedoch, dass er sein Angebot, in Düsseldorf zu arbeiten, nie im Leben – nicht einmal für mehr Geld – annehmen werde. Er sei zwar über das Angebot dankbar. Sein Entschluss sei nach reiflicher Überlegung jedoch absolut felsenfest. Selbst wenn man ihm nun eine Änderungskündigung zuschicken wolle, werde er dieses Angebot ablehnen. Denn er wolle lieber entlassen werden und sich einen neuen Job in Köln suchen, statt auch nur einen Tag in Düsseldorf arbeiten zu müssen, wo „dä Lück bedrissenes Alt dringe un‘ zu dä falsche Fortuna jon“. Dafür sei er einfach zu sehr Kölner. G könne sich also definitiv die Mühe sparen, ihm eine Änderungskündigung zuzuschicken. Dermaßen vom unumstößlichen Willen des A überzeugt, unterließ G letztlich auch den Ausspruch der Änderungskündigung und entschloss sich, gegenüber A eine Beendigungskündigung auszusprechen. Die schriftliche Kündigungserklärung ging dem A am 29.4.2019 zu. Nachdem A die Weiterbeschäftigung im Düsseldorfer Werk abgelehnt hatte, bot G auch dem B schriftlich die Weiterbeschäftigung als Mechaniker auf der freien Stelle im Düsseldorfer Werk der G-GmbH an. Allerdings teilte G dem B im Schreiben mit, dass die Stelle mit einer Gehaltseinbuße von monatlich 400 Euro verbunden sei. Lehne er dieses Angebot ab, so müsse ihm gegenüber aber eine Beendigungskündigung ausgesprochen werden. Noch innerhalb der gewährten zweiwöchigen Überlegungsfrist suchte B das Gespräch mit G, und teilte ihm mit, dass er das Weiterbeschäftigungsangebot zu diesen Konditionen ablehne. Er sei jedoch mit einer Gehaltseinbuße von 200 Euro einverstanden, eine Weiterbeschäftigung in Düsseldorf sei für ihn kein Problem. Er wolle aber keinesfalls seinen Job verlieren, brauche das Geld jedoch zur Finanzierung seines kostspieligen Hobbys, der Froschzucht. Über 195

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Fall 17 „Produktionsdrosselung“

die erneuten Komplikationen genervt, die der Versuch, einen der zwei in Köln zu reduzierenden Arbeitsplätze durch eine Weiterbeschäftigung im Düsseldorfer Werk „zu retten“, mit sich zu bringen schien, beschloss G, gegenüber B eine Beendigungskündigung auszusprechen. Er hielt es allerdings auch für sinnlos, dem B ein weiteres Angebot im Wege der Änderungskündigung zu unterbreiten, da dieser ja betont hatte, er könne sich sein Hobby bei einer solchen Gehaltseinbuße nicht mehr leisten. Es war im Betrieb jedem bekannt, wie leidenschaftlich B die Froschzucht betrieb, sodass G davon ausging, B würde eine Gehaltseinbuße in Höhe von 400 Euro für „unzumutbar“ halten. Dem B schickte die Sekretärin die Kündigung per Einschreiben vom 23.9.2019. Der Postbote traf am 24.9.2019 den B nicht in seiner Wohnung an. So hinterließ er einen Benachrichtigungszettel im Briefkasten, den B am selben Tag fand. Von seinem Meister hatte B einen Hinweis erhalten, dass G nach dem Verhandlungsversuch beschlossen hatte, ihm in Kürze zu kündigen. Deshalb holte B das Einschreiben nicht von der Post ab. Nachdem das Einschreiben eine Woche bei der Post gelegen hatte, ging es an die G-GmbH zurück mit der Bemerkung, dass die Zustellung erfolglos versucht worden sei. Daraufhin schickte die G-GmbH ein erneutes Einschreiben mit der Kündigung an B, das dieser am 7.10.2019 erhielt. Zuvor unternahm B jedoch einen weiteren Versuch, eine Einigung über die Weiterbeschäftigung im Düsseldorfer Werk zu erzielen. Mit Schreiben vom 28.9.2019 – auf das G jedoch nicht mehr reagierte – erklärte er, dass er auch mit einer Gehaltseinbuße von 300 Euro einverstanden sei, es ließe sich doch „über alles reden“. Als A aus dem Urlaub zurückkommt, möchte er wissen, warum ihm die Kündigung nicht an die Urlaubsadresse geschickt worden ist. Er macht geltend, dass statt seiner dem 30-jährigen ledigen Mechaniker M hätte gekündigt werden müssen, der erst seit fünf Jahren bei der GmbH beschäftigt ist. M hat zwei Jahre wie A in der Montage-Abteilung als Mechaniker gearbeitet und ist als Mechaniker bei der Haustechnik beschäftigt. Er meint, er habe mit der ganzen Angelegenheit bei den Fräsmaschinen nichts zu tun. Eine Arbeit außerhalb von Köln lehnt A weiterhin definitiv ab. B trägt vor, die Kündigung habe er erst am 7.10.2019 erhalten. G hätte ihm nur aufgrund seiner Ablehnung der Gehaltseinbuße von 400 Euro doch nicht sofort kündigen dürfen, sondern ihm die neuen Arbeitsbedingungen erstmal in Form einer Änderungskündigung anbieten müssen. Wenn er sich mit den angebotenen Vertragsänderungen vorbehaltlos einverstanden erklärt hätte, hätte er die Möglichkeit verloren, die soziale Rechtfertigung gemäß § 2 KSchG überprüfen zu lassen. Wäre er aber vorher darauf hingewiesen worden, dass es auch schon beim schriftlichen Vertragsänderungsangebot der G-GmbH neben der Ablehnung oder Annahme die Möglichkeit der Vorbehaltsannahme gab, hätte er schon diesen Änderungsvertrag unter Vorbehalt angenommen. Frage: Sind die gegenüber A und B ergangenen Kündigungen wirksam und wenn ja, zu welchem Zeitpunkt? Schwierigkeitsgrad: Überdurchschnittlich schwierige und überdurchschnittlich umfangreiche Examensklausur Rechtsfragen: Betriebsbedingte Kündigung, Zugang der Kündigungserklärung während Urlaubsabwesenheit und bei treuwidriger Zugangsvereitelung, Vorrang der Änderungsvor einer Beendigungskündigung, auswahlrelevanter Personenkreis bei der Sozialauswahl

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„Produktionsdrosselung“ Fall 17

B. Lösungsskizze Wirksamkeit der Kündigung gegenüber A I. Kündigungserklärung (+) II. Einhaltung der Kündigungsfrist: 7 Monate, § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 7 BGB zum 30.11.2019 III. Anhörung des Betriebsrates (§ 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG) (+) IV. Wirksamkeit der Kündigung nach § 1 KSchG 1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes (+) 2. Soziale Rechtfertigung der Kündigung: Betriebsbedingte Kündigung 3. Dringendes betriebliches Erfordernis i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG a) Unternehmerische Entscheidung (+) b) Kausaler, dauerhafter Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit (+) c) Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses: Prüfung einer Weiterbeschäftigungsmöglichkeit i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 2 und 3 KSchG trotz fehlendem Widerspruch des Betriebsrats d) Weiterbeschäftigung in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens: Vertraglich zugesicherter Beschäftigungsort (Köln) steht Versetzung kraft Direktionsrecht nach Düsseldorf entgegen e) Weiterbeschäftigung nach Änderung der Arbeitsbedingungen: grundsätzlicher Vorrang der Änderungs- vor der Beendigungskündigung; aber erneutes Angebot einer Vertragsänderung entbehrlich wegen feststehender ablehnender Haltung des A f) Zwischenergebnis: dringende betriebliche Erfordernisse (+) 4. Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG a) Auswahlrelevanter Personenkreis (1. Stufe): Einbezug des M in die Sozialauswahl (+) b) Berücksichtigung und Gewichtung der Auswahlkriterien (2. Stufe): Sozialauswahl zwischen A und M zugunsten des sozial schutzwürdigeren A c) Ausnahmen von der Sozialauswahl im berechtigten betrieblichen Interesse (3. Stufe) (–) d) Zwischenergebnis: Sozialauswahl wegen Verstoß gegen § 1 Abs. 3 KSchG fehlerhaft V. Ergebnis: Kündigung des A unwirksam Wirksamkeit der Kündigung gegenüber B I. Kündigungserklärung (+) II. Einhaltung der Kündigungsfrist 1. Länge der Kündigungsfrist: zwei Monate zum Monatsende (§ 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB); Zugang spätestens am 30.9.2019 für Wirksamkeit zum 30.11.2019

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Fall 17 „Produktionsdrosselung“

2. Rechtzeitiges Wirksamwerden der Kündigungserklärung a) Zugang am 23.9.2019 b) Zwischenergebnis: Kündigung jedenfalls zum 30.11.2019 fristgerecht III. Anhörung des Betriebsrates (§ 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG) (+) IV. Wirksamkeit der Kündigung nach § 1 KSchG 1. Anwendbarkeit des KSchG (+) 2. Soziale Rechtfertigung der Kündigung a) Dringendes betriebliches Erfordernis i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG aa) Unternehmerische Entscheidung (+) bb) Kausaler, dauerhafter Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit (+) cc) Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses (1) Entbehrlichkeit der Änderungskündigung wegen vorheriger Ablehnung einer Vertragsänderung (–) (2) Zumutbarkeit der Änderung als Grenze des Vorrangs der Änderungskündigung Bewertung der Zumutbarkeit der Änderungskündigung und des neuen Arbeitsverhältnisses obliegt dem Arbeitnehmer; Arbeitgeber darf deshalb nicht allein deshalb von Änderungskündigung absehen, weil diese nach seiner Einschätzung für den Arbeitnehmer unzumutbar ist. Folge: Missachtung des Vorrangs der Änderungskündigung und damit kein Vorliegen dringender betrieblicher Erfordernisse b) Zwischenergebnis: Kündigung des B nicht sozial gerechtfertigt i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG V. Ergebnis: Kündigung des B wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Kündigungsschutz aus § 1 KSchG unwirksam

C. Lösungsvorschlag – Wirksamkeit der Kündigung gegenüber A Die Kündigung gegenüber A zum 30.11.2019 ist wirksam, wenn die G-GmbH die Kündigung unter Einhaltung der Kündigungsfrist erklärt hat sowie besondere und allgemeine Kündigungsschranken beachtet worden sind.

I. Kündigungserklärung Die Wirksamkeit einer Kündigung setzt zunächst voraus, dass die Kündigungserklärung wirksam ist. Da es sich bei der Kündigung um eine einseitige, rechtsgestaltende Willenserklärung handelt, ist ihre Wirksamkeit anhand der allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen (§§ 104 ff. BGB) zu beurteilen.

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„Produktionsdrosselung“ Fall 17

Die G-GmbH erklärte gegenüber A schriftlich die Kündigung zum 30.11.2019. Das Schriftformerfordernis für die Kündigung von Arbeitsverhältnissen nach § 623 BGB ist mithin gewahrt (vgl. §§ 125, 126 BGB). Die inhaltlichen Anforderungen an die Bestimmtheit der Kündigungserklärung sind nicht zweifelhaft. Insbesondere hat die G-GmbH keine Änderungskündigung, sondern eine ordentliche Beendigungskündigung zum regulären Kündigungstermin aussprechen wollen. Eine Änderungskündigung besteht, wie die Legaldefinition des § 2 S. 1 KSchG zeigt, aus zwei Willenserklärungen, nämlich der Kündigungserklärung sowie einem bestimmten bzw. bestimmbaren, somit den Voraussetzungen des § 145 BGB entsprechenden Angebot zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu geänderten Bedingungen. Zwar hat A vor der schriftlichen Kündigung auch ein solches Änderungsangebot erhalten. Eine unbedingte Kündigungserklärung ohne gleichzeitiges oder vorausgegangenes Änderungsangebot, auf das in dieser Kündigung Bezug genommen wird, ist nach §§ 133, 157 BGB jedoch nicht als Änderungs-, sondern als Beendigungskündigung auszulegen. Das Änderungsangebot kann somit zwar wie vorliegend bereits vor Ausspruch der Kündigung abgegeben worden sein. In diesem Fall muss der Arbeitgeber aber beim späteren Ausspruch der Kündigung klarstellen, dass er das Änderungsangebot trotz der gescheiterten Vertragsverhandlungen aufrechterhält. Hiervon kann nach den Angaben des Sachverhalts erkennbar nicht ausgegangen werden, da vom objektiven Empfängerhorizont her nur mit dem Ausspruch einer Beendigungskündigung gerechnet werden konnte. Dies verdeutlicht insbesondere die Verbindung des Änderungsantrags mit einer – zum Zeitpunkt der Kündigung bereits abgelaufenen – Annahmefrist nach § 147 BGB. Es ist letztlich auch davon auszugehen, dass die Kündigung durch das vertretungsberechtigte Organ der GmbH, den Geschäftsführer G, erklärt worden ist (vgl. § 35 Abs. 1 GmbHG). K Kontext: Die Änderungskündigung besteht aus zwei Willenserklärungen, nämlich der Kündigungserklärung sowie einem bestimmten Angebot zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu geänderten, üblicherweise für den Arbeitnehmer verschlechterten Konditionen. Die Kündigung steht in der Regel unter der Bedingung (§ 158 BGB), dass das Änderungsangebot nicht angenommen wird. Der Arbeitnehmer hat dann drei Möglichkeiten: (1) Annahme des Angebots, dann wird der Vertrag entsprechend geändert und die Bedingung für die Kündigung tritt nicht ein, (2) Ablehnung des Angebots, dann tritt die Bedingung ein, der Arbeitnehmer muss, wenn er die Präklusion der §§ 4, 7 KSchG verhindern will, Kündigungsschutzklage erheben, (3) Annahme unter dem Vorbehalt, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen nicht sozial ungerechtfertigt ist. Diese Möglichkeit schafft § 2 KSchG mit der Änderungsschutzklage. Gewinnt der Arbeitnehmer hier, gelten die bisherigen Arbeitsbedingungen, verliert er, gelten die geänderten Arbeitsbedingungen.

II. Einhaltung der Kündigungsfrist Weiterhin ist zu prüfen, ob die Kündigungsfrist eingehalten worden ist. Die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist führt zwar nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, hat jedoch zur Folge, dass die Kündigung erst zum nächstmöglichen Kündigungszeitpunkt wirksam wird. In dem Vertrag zwischen A und der G-GmbH ist keine Kündigungsfrist vereinbart, sodass auf die gesetzlich festgelegten Kündigungsfristen zurückzugreifen ist.

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Fall 17 „Produktionsdrosselung“

1. Länge der Kündigungsfrist Die maßgebliche Kündigungsfrist richtet sich hier nach § 622 BGB, da A als Arbeitnehmer bezeichnet ist. Mithin kann davon ausgegangen werden, dass zwischen der G-GmbH und A ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen ist. Nach § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 7 BGB beträgt die Kündigungsfrist für die Kündigung des A sieben Monate zum Monatsende, da A seit 20 Jahren bei der G-GmbH beschäftigt ist. Die Frist beginnt mit dem Zugang der Kündigungserklärung am 29.4.2019 und endet somit am 30.11.2019.

III. Anhörung des Betriebsrates (§ 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG) Gemäß § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG ist vor jeder Kündigung der Betriebsrat zu hören. Eine Anhörung ist erfolgt. Eine Äußerung des Betriebsrates ist nicht erforderlich.

IV. Wirksamkeit der Kündigung nach § 1 KSchG Die Kündigung gegenüber A könnte gemäß § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam sein, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. Ob die Kündigung sozial gerechtfertigt ist, ist nur dann von Bedeutung, wenn A den allgemeinen Kündigungsschutz gemäß § 1 KSchG genießt, also das KSchG anwendbar ist. 1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes Das Kündigungsschutzgesetz ist gemäß §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG anwendbar, wenn der Betroffene als Arbeitnehmer in einem Betrieb beschäftigt ist, dem in der Regel mehr als fünf vor dem 31.12.2003 eingestellten Arbeitnehmer (§ 23 Abs. 1 S. 2 KSchG) bzw. mehr als zehn Arbeitnehmer (§ 23 Abs. 1 S. 3 KSchG) angehören, und das Arbeitsverhältnis bereits mindestens sechs Monate besteht. Angaben zur Größe des Betriebes in Köln liegen nicht vor. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die G-GmbH ein größeres Werk ist, das die Grenze des § 23 Abs. 1 S. 2, 3 KSchG überschreitet. A selbst ist Arbeitnehmer und mehr als sechs Monate bei der G-GmbH beschäftigt, sodass auch die persönlichen Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des KSchG gegeben sind. 2. Soziale Rechtfertigung der Kündigung Nach § 1 Abs. 2 KSchG ist eine Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. In Betracht kommt im vorliegenden Fall nur die Rechtfertigung einer Kündigung aus betrieblichen Erfordernissen, denn die Kündigung des A geht einher mit einer Produktionsdrosselung in seinem Beschäftigungsbetrieb und es sind daneben bei A weder verhaltensbedingte noch personenbedingte Gründe erkennbar. Eine betriebsbedingte Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 2 und 3 KSchG sozial gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber eine unternehmerische Entscheidung trifft, durch die die Beschäftigungsmöglichkeit eines Arbeitnehmers dauerhaft wegfällt (betriebliches Erfordernis), der

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„Produktionsdrosselung“ Fall 17

Arbeitnehmer weder auf einem anderen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden kann noch sonstige mildere Mittel statt der Kündigung möglich sind (Dringlichkeit) und der Arbeitgeber eine fehlerfreie Sozialauswahl durchführt. 3. Dringendes betriebliches Erfordernis i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG a) Unternehmerische Entscheidung Unter einer unternehmerischen Entscheidung ist die Bestimmung der Unternehmenspolitik zu verstehen, die der Geschäftsführung zugrunde liegt. Die unternehmerische Entscheidung der G-GmbH liegt in dem Entschluss, die Produktion von Fräsmaschinen zu drosseln. Die Kündigungserklärung selbst kann nicht als unternehmerische Entscheidung betrachtet werden. Vielmehr handelt es sich bei der unternehmerischen Entscheidung stets um eine Reaktion des Arbeitgebers auf außerbetriebliche oder innerbetriebliche Umstände. Grund für die Kündigung ist der Rückgang bei der Nachfrage nach Fräsmaschinen. Dabei handelt es sich um einen außerbetrieblichen Umstand. Außerbetriebliche Umstände können in zweierlei Hinsicht für eine betriebsbedingte Kündigung ursächlich sein. Denkbar ist zum einen, dass der Arbeitgeber die Zahl der benötigten Arbeitskräfte in seinem Betrieb unmittelbar vom Umfang des Arbeitsaufkommens abhängig macht und durch den Ausspruch einer Kündigung lediglich den Personalbestand dem rückläufigen Arbeitsaufkommen anpassen will, ohne dass mit dem Personalabbau weitere Änderungen der innerbetrieblichen Organisation verbunden sind. In diesem Fall liegt der Kündigung eine sog. selbstbindende Unternehmerentscheidung zugrunde, die unmittelbar zum Wegfall von Arbeitsplätzen führt. Zum anderen kann der Arbeitgeber außerbetriebliche Umstände zum Anlass nehmen, um innerbetriebliche Veränderungen durchzuführen. Der Wegfall von Arbeitsplätzen ist dann die unmittelbare Folge dieser gestaltenden Unternehmerentscheidung und ist nur mittelbar auf die jeweiligen außerbetrieblichen Ursachen zurückzuführen. Bei einer Betriebseinschränkung handelt es sich regelmäßig um eine innerbetriebliche Veränderung, der eine gestaltende Unternehmerentscheidung zugrunde liegt. Im vorliegenden Fall ist nicht erkennbar, dass eine feste Relation zwischen der Zahl der produzierten Fräsmaschinen und der Zahl der dazu benötigten Arbeitnehmer bestünde. Ein solcher Berechnungsmodus für den Personalbedarf dürfte sich für die Fertigung komplizierter Maschinen kaum aufstellen lassen, da der Fertigungsprozess aus zahlreichen Einzelschritten besteht und im Einzelfall je nach Kundenwunsch variieren kann. Daher hat die G-GmbH im vorliegenden Fall keine selbstbindende, sondern eine gestaltende Unternehmerentscheidung getroffen. Eine derartige unternehmerische Entscheidung wird nur daraufhin geprüft, ob sie tatsächlich getroffen wurde und weder offenbar unsachlich oder willkürlich ist. Einer weitergehenden Prüfung, ob die Entscheidung unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten sinnvoll ist, steht die durch Art. 14 GG garantierte unternehmerische Entscheidungsfreiheit entgegen. Vom Vorliegen einer gestaltenden unternehmerischen Entscheidung ist dann auszugehen, wenn die entsprechenden Pläne des Arbeitgebers feststehen und hinsichtlich des Zeitpunkts und der Art ihrer Durchführung bereits konkrete Formen angenommen haben. Der Entschluss der G-GmbH zur Produktionsdrosselung ist definitiv, und für seine Umsetzung besteht, wie sich aus dem 30. November als Kündigungstermin für A und B ergibt, ein konkre-

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ter Zeitplan. Es liegen keinerlei Anzeichen dafür vor, dass der Entschluss zur Produktionsdrosselung offensichtlich unsachlich oder willkürlich wäre. Mithin liegt der Kündigung des A eine den Anforderungen des § 1 Abs. 2 KSchG entsprechende unternehmerische Entscheidung zugrunde. b) Kausaler, dauerhafter Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit Weitere Voraussetzung für die soziale Rechtfertigung der betriebsbedingten Kündigung ist, dass diese (gestaltende oder selbstbindende) Unternehmerentscheidung kausal zum dauerhaften Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten führt. Diese Voraussetzung ist nicht nur dann erfüllt, wenn die veränderten betrieblichen Verhältnisse den Wegfall des konkreten Arbeitsplatzes des gekündigten Arbeitnehmers bedingen. Es genügt vielmehr, dass ein rechnerischer Überhang an Arbeitskräften entstanden ist. Entscheidend ist also die Verringerung des Personalbedarfs, die sich prozentual auf eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern niederschlägt, zu der auch der gekündigte Arbeitnehmer gehört. Die unternehmerische Entscheidung muss mithin zu der Konsequenz führen, dass der Arbeitgeber nicht mehr alle zu dieser Gruppe gehörenden Arbeitnehmer vertragsgemäß beschäftigen kann. Durch die unternehmerische Entscheidung der G-GmbH, die Produktion auf unabsehbare Zeit zu drosseln, wurde nicht mehr die gleiche Anzahl an Arbeitskräften für die Produktion benötigt. Durch die unternehmerische Entscheidung sind damit dauerhaft Beschäftigungsmöglichkeiten in der Gruppe der in der Produktion beschäftigten Mechaniker, zu der auch der gekündigte A gehört, weggefallen. c) Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses Ein „dringendes“ betriebliches „Erfordernis“ liegt nur vor, wenn nach dem Zweck der betriebsbedingten Kündigung dem Kündigungsinteresse nicht durch andere mildere Maßnahmen Rechnung getragen werden kann. Zu den milderen Mitteln, die der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Beendigungskündigung ergreifen muss, gehört gemäß § 1 Abs. 2 S. 2 und 3 KSchG insbesondere die Weiterbeschäftigung auf einem freien Arbeitsplatz in einem anderen Betrieb des Unternehmens oder die Weiterbeschäftigung auf einem freien Arbeitsplatz unter Änderung sonstiger Vertragsbedingungen, auch wenn diese Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten erst nach Fortbildung oder Umschulung des Arbeitnehmers offen stehen. Hier stand ein freier Arbeitsplatz in einem zur G-GmbH gehörenden Werk in Düsseldorf zur Verfügung. Nach dem Wortlaut der Norm greift dieses mildere Mittel jedoch nur, wenn der Betriebsrat aus diesem Grunde der Kündigung widersprochen hat. Ein entsprechender Widerspruch liegt im vorliegenden Fall aber nicht vor. Nach herrschender Meinung in Rechtsprechung und Literatur steht eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 2 und 3 KSchG der sozialen Rechtfertigung einer Kündigung jedoch unabhängig vom Widerspruch des Betriebsrats entgegen. Dies ergibt sich aus dem Zweck dieser Vorschrift. So wurde Abs. 2 S. 2 und 3 erst nachträglich in § 1 KSchG eingefügt, um die individualrechtliche Position des Arbeitnehmers zu verbessern. Diese Absicht des Gesetzgebers würde jedoch vereitelt, wenn die Berufung auf eine anderweitige Weiterbeschäftigungsmöglichkeit vom Widerspruch des Betriebsrats abhängig gemacht würde. Daher ist das Vorliegen einer Weiterbeschäftigungsmöglichkeit i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 2 und 3 KSchG in diesem Fall trotz fehlendem Widerspruch des Betriebsrats zu prüfen.

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d) Weiterbeschäftigung in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens Als milderes Mittel kommt aufgrund des freien Arbeitsplatzes im Düsseldorfer Werk zunächst die Weiterbeschäftigungsmöglichkeit in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens nach § 1 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 lit. b KSchG in Betracht. Der freie Arbeitsplatz müsste hierfür jedoch mit dem bisherigen vergleichbar sein und der Arbeitnehmer den dortigen Anforderungen entsprechen. Zwar verlangt der Arbeitsplatz von A die gleichen Anforderungen. Die Vergleichbarkeit ist allerdings nur dann gegeben, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auf dem neuen Arbeitsplatz kraft seines Direktionsrechts weiterbeschäftigen kann, ohne dass es einer Änderung des Arbeitsvertrags bedarf.1 Vorliegend steht der Vergleichbarkeit und damit der Weiterbeschäftigung in einem anderen Betrieb des Unternehmens entgegen, dass die G-GmbH A aufgrund der Klausel im Arbeitsvertrag, die ihm eine Beschäftigung in Köln zusichert, nicht auf den neuen Arbeitsplatz in Düsseldorf kraft seines Direktionsrechts versetzen kann. Vielmehr wäre eine Änderung des Arbeitsvertrags erforderlich. e) Weiterbeschäftigung nach Änderung der Arbeitsbedingungen Damit kommt eine Weiterbeschäftigung des A nach Änderung der Vertragsbedingungen i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 3 KSchG als milderes Mittel vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses in Betracht. § 1 Abs. 2 S. 3 KSchG normiert insofern auch den aus dem Ultima-Ratio-Prinzip resultierenden Vorrang der Änderungs- gegenüber der Beendigungskündigung. In Betracht zu ziehen sind für vorrangige Änderungskündigungen alle Vertragsänderungen, die das konkrete betriebliche Bedürfnis befriedigen, das zum Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit führt. Dies können beispielsweise die Versetzung auf einen anderen (geringerwertigen) Arbeitsplatz, die Kürzung übertariflicher Leistungen, aber auch das Angebot der Teilzeitbeschäftigung sein. Vorliegend hätte die Änderung des Arbeitsvertrags des A dahingehend, dass eine Beschäftigung in Düsseldorf möglich würde, bei im Übrigen gleichbleibenden Bedingungen das betriebliche Bedürfnis der G-GmbH gleichsam befriedigen können. Danach hätte die G-GmbH vorrangig eine Änderungskündigung statt einer Beendigungskündigung aussprechen müssen, da diese eine solche Änderung des Arbeitsvertrags hätte ermöglichen können. Da sie dies unterließ, wäre grundsätzlich vom Fehlen der Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses auszugehen. Allerdings verlangt § 1 Abs. 2 S. 3 KSchG auch, dass der Arbeitnehmer sein Einverständnis mit den geänderten Arbeitsbedingungen erklärt hat. Fraglich ist in diesem Kontext, wie es sich auswirkt, dass A die Annahme eines Vertragsänderungsangebots durch die G-GmbH bereits vor dem Ausspruch der Beendigungskündigung abgelehnt hatte. Insofern könnte die Erklärung einer Änderungskündigung, die ebenfalls ein Angebot auf Vertragsänderung enthalten hätte, entbehrlich geworden sein. Im Wege der Rechtsfortbildung hat das BAG2 in seiner früheren Rechtsprechung das Entfallen des Vorrangs der Änderungskündigung vom Ergebnis der Verhandlungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer abhängig gemacht, die der Arbeitgeber einzuleiten hatte. Ausgangspunkt war die Pflicht des Arbeitgebers, dem Arbeitnehmer von sich aus eine zumutbare Weiterbeschäftigung auf einem vorhandenen freien Arbeitsplatz auch zu geänderten Bedingungen anzubieten. Der Arbeitgeber hatte dabei klarzustellen, dass bei Ablehnung 1 BAG 29.3.1990 NZA 1991, 181. 2 BAG 27.9.1984 NJW 1985, 1797.

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des Änderungsangebots eine Kündigung beabsichtigt sei, und ihm eine Überlegungsfrist von einer Woche einzuräumen (sog. „Wochengespräch“). Lehnte der Arbeitnehmer das Änderungsangebot sodann vorbehaltlos und endgültig ab, konnte der Arbeitgeber zu einer Beendigungs- statt einer Änderungskündigung greifen. Allerdings konnte der Arbeitnehmer das Angebot auch unter einem dem § 2 KSchG entsprechenden Vorbehalt annehmen mit der Folge, dass der Arbeitgeber dann eine Änderungskündigung aussprechen konnte. Unterließ es der Arbeitgeber entgegen dieser Maßgabe, dem Arbeitnehmer vor Ausspruch der Beendigungskündigung ein mögliches und zumutbares Angebot zu unterbreiten, dann war ein Verstoß der Kündigung gegen den Vorrang milderer Mittel anzunehmen, wenn der Arbeitnehmer einem vor der Kündigung gemachten entsprechenden Vorschlag zumindest unter Vorbehalt zugestimmt hätte. Es war mithin eine hypothetische Prüfung des Änderungsangebots vorzunehmen, wobei für die Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung auf einen objektiven Maßstab zurückgegriffen wurde. Das Angebot einer Stelle mit geringerwertigen Arbeitsbedingungen sollte danach entbehrlich sein, wenn es aus der Perspektive eines objektiv urteilenden Arbeitgebers dem sozialen und wirtschaftlichen Status des Mitarbeiters widersprach. Dies war dann anzunehmen, wenn die Tätigkeit eine erheblich geringere Qualifikation erforderte oder die Vergütung erheblich niedriger war. Nach diesen Grundsätzen verstößt die Beendigungskündigung der G-GmbH nicht gegen den Vorrang milderer Mittel, da dem A das Angebot einer Weiterbeschäftigung zu gleichen Arbeitsbedingungen mit Ausnahme des Arbeitsortes mit dem Hinweis unterbreitet wurde, dass die Ablehnung des Angebots eine Beendigungskündigung nach sich ziehen würde. A lehnte dieses Angebot allerdings mit Ablauf der von der G-GmbH gewährten Annahmefrist von zwei Wochen, also einer ausreichenden Überlegungsfrist, ab. [Diese Rspr. muss nicht bekannt sein, sie dient hier zur Illustration einer Lösungsmöglichkeit.] In seinen Grundsatzentscheidungen vom 21.4.2005 hat das BAG3 unter teilweiser Aufgabe seiner vorherigen Rechtsprechung den Vorrang der bestandsschutzsichernden Änderungskündigung gestärkt. Danach sollen folgende Grundsätze gelten: Besteht eine, beiden Parteien objektiv mögliche und zumutbare Weiterbeschäftigungsmöglichkeit zu geänderten Vertragsbedingungen, hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer diese wie nach bisheriger Rechtsprechung anzubieten. Dabei sei der Arbeitgeber jedoch nicht grundsätzlich dazu verpflichtet, mit dem Arbeitnehmer eine einvernehmliche Lösung in einer Art „Vorverfahren“ zu suchen, etwa indem er zunächst ein Gespräch mit dem Arbeitnehmer führt. Insofern stünde dem Arbeitgeber das Recht zu, auch ohne vorherige Verhandlungen mit dem Arbeitnehmer direkt eine Änderungskündigung auszusprechen, indem er das Änderungsangebot und die Kündigung miteinander verbindet. Suche der Arbeitgeber aber eine einvernehmliche Lösung, indem er dem Arbeitnehmer zunächst keine Änderungsoder Beendigungskündigung, sondern lediglich ein Änderungsangebot überreicht, so müsse dem Arbeitnehmer entgegen der bisherigen Rechtsprechung keine zwingende Überlegungsfrist von einer Woche gewährt werden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Kündigungen erfordere eine solche Rechtsfortbildung nicht. Ganz entscheidend geändert wurden allerdings die Grundsätze, wann die Ablehnung des Änderungsangebots dazu führt, dass der Ausspruch einer Änderungskündigung entbehrlich wird. Das durch eine Änderungskündigung unterbreitete Angebot, den Arbeitnehmer zu geänderten Vertragsbedingungen weiterzubeschäftigen, dürfe nur in Extremfällen unterbleiben. Ein 3 BAG 21.4.2005 NZA 2005, 1289.

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solcher sei aber nicht schon dann anzunehmen, wenn der Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung dem Arbeitnehmer das Angebot gemacht hat, den Vertrag der noch bestehenden Weiterbeschäftigungsmöglichkeit anzupassen, und der Arbeitnehmer dieses Angebot abgelehnt hat. Denn die Ablehnung der einverständlichen Abänderung (etwa aufgrund einer emotionalen Blockadehaltung) schließe nicht zwangsläufig aus, dass der Arbeitnehmer bereit sei, zu den geänderten Bedingungen weiterzuarbeiten, wenn sich in einem Änderungsschutzverfahren nach § 2 KSchG die Berechtigung der Änderung herausstellt. Eine sofortige Beendigungskündigung sei deswegen strenger als nach bisheriger Rechtsprechung nur dann zulässig, wenn der Arbeitnehmer unmissverständlich zum Ausdruck gebracht habe, er werde die geänderten Arbeitsbedingungen im Fall des Ausspruchs einer Änderungskündigung unter keinen Umständen, auch nicht unter dem Vorbehalt ihrer sozialen Rechtfertigung, annehmen. Zwar reicht es nach diesen Rechtsprechungsgrundsätzen für die Entbehrlichkeit der Änderungskündigung grundsätzlich somit nicht aus, dass die G-GmbH dem A vor Ausspruch der Beendigungskündigung das Angebot gemacht hat, den Vertrag der noch bestehenden Weiterbeschäftigungsmöglichkeit anzupassen, und dieser das Angebot abgelehnt hat. Indem A im Gespräch mit G jedoch versicherte, dass er sein Angebot, in Düsseldorf zu arbeiten nie im Leben – nicht einmal für mehr Geld – annehmen werde, selbst wenn man ihm nun eine Änderungskündigung zuschicke, hat er unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, er werde die geänderten Arbeitsbedingungen im Fall des Ausspruchs einer Änderungskündigung unter keinen Umständen, auch nicht unter dem Vorbehalt ihrer sozialen Rechtfertigung, annehmen. Hierbei betonte er nicht nur die Unumstößlichkeit seines Entschlusses. Dass er keinesfalls von einer Vorbehaltsannahme im Sinne des § 2 KSchG Gebrauch gemacht hätte, verdeutlicht die Aussage des A, dass er lieber entlassen werden wolle, um sich einen neuen Job in Köln zu suchen, statt auch nur einen Tag in Düsseldorf arbeiten zu müssen. Bei einer Annahme unter Vorbehalt, wäre dies jedoch erforderlich gewesen. Mithin liegt ein „Extremfall“ vor, der zur Entbehrlichkeit eines weiteren Angebots zur Vertragsänderung durch eine Änderungskündigung führt. Dies resultiert letztlich aus der Erwägung, dass ein Arbeitnehmer, der wie vorliegend erkennen lässt, dass er das Änderungsangebot in keinem Fall annehmen werde, widersprüchlich handeln würde, wenn er sich später auf eine mögliche Änderungskündigung beruft. Da A es darüber hinaus nach Ausspruch der Kündigung weiterhin „definitiv“ ablehnt, außerhalb von Köln tätig zu werden, spricht auch dieses Indiz dafür, dass es in keinem Fall – auch nicht unter Vorbehalt – zu einer Annahme der Änderungskündigung durch A gekommen wäre. Somit war ein erneutes Angebot einer Vertragsänderung im Rahmen einer Änderungskündigung für die G-GmbH entbehrlich, sodass die Beendigungskündigung nicht gegen den Vorrang des milderen Mittels der Weiterbeschäftigung zu geänderten Vertragsbedingungen nach § 1 Abs. 2 S. 3 KSchG verstößt. Ob die Entbehrlichkeit der Änderungskündigung vorliegend auch aus einer Unzumutbarkeit der Vertragsänderung resultieren könnte, ist nicht mehr zu untersuchen. [Auch für eine gelungene Bearbeitung wäre eine so ausführliche Darstellung des Meinungs- und Problemstands bei weitem nicht erforderlich. Erwartet werden konnte wegen der Hinweise im Sachverhalt aber eine Auseinandersetzung mit dem Zugrundeliegenden Problem, nämlich dass zwar grundsätzlich ein Vorrang der Änderungs- vor der Beendigungskündigung zu beachten ist, der A hier aber zum Ausdruck gebracht hat, er werde das Angebot ohnehin nicht annehmen.]

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f) Zwischenergebnis Die Kündigung gegenüber A ist jedenfalls durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt. 4. Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG Die Kündigung des A könnte jedoch trotzdem sozial ungerechtfertigt sein, wenn der Arbeitgeber keine den Anforderungen des § 1 Abs. 3 KSchG entsprechende Sozialauswahl durchgeführt hat. Die Prüfung der vom Arbeitgeber vorzunehmenden Sozialauswahl vollzieht sich in drei Schritten: Zunächst ist der auswahlrelevante Personenkreis (vergleichbare Arbeitnehmer des betroffenen Betriebs) zu bestimmen. Alsdann ist zu prüfen, ob die sozialen Gesichtspunkte im Sinne des § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG berücksichtigt und hinreichend gewichtet worden sind. Schließlich ist zu prüfen, ob dem Ergebnis der Sozialauswahl berechtigte betriebliche Bedürfnisse entgegenstehen (§ 1 Abs. 3 S. 2 KSchG). a) Auswahlrelevanter Personenkreis (1. Stufe) Fraglich ist zunächst, zwischen welchen Arbeitnehmern die Sozialauswahl durchzuführen ist. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG obliegt es dem gekündigten Arbeitnehmer, andere Arbeitnehmer zu benennen, die der Arbeitgeber in die Sozialauswahl hätte einbeziehen müssen. A beruft sich insofern lediglich auf M. Zumal Angaben über die übrigen Beschäftigten der GmbH fehlen, ist die Prüfung darauf zu beschränken, ob M in die Sozialauswahl hätte einbezogen werden müssen. Zunächst ist festzuhalten, dass sich die Sozialauswahl lediglich auf den Betrieb, also nicht auf das Unternehmen oder gar den Konzern, erstreckt. Da A und M im Werk Köln der G-GmbH beschäftigt sind, sind unter dem Aspekt des Betriebsbezuges als äußerste Grenze der Sozialauswahl beide Arbeitnehmer in die Sozialauswahl einzubeziehen. Es bedarf jedoch einer weiteren qualitativen Bestimmung des auswahlrelevanten Personenkreises. Nach ganz herrschender Rechtsprechung und Meinung in der Literatur findet die Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG nur zwischen „vergleichbaren Arbeitnehmern“ statt. Die Vergleichbarkeit setzt voraus, dass der Arbeitnehmer, dessen konkreter Arbeitsplatz weggefallen ist, die Arbeit eines anderen Arbeitnehmers, dessen Arbeitsplatz noch besteht, übernehmen kann. Maßgeblich hierfür ist zum einen der Arbeitsvertrag des Arbeitnehmers. So ist die Vergleichbarkeit nach der herrschenden Meinung nur dann zu bejahen, wenn der unmittelbar betroffene Arbeitnehmer die Tätigkeit seines Kollegen ohne Änderung seines Arbeitsvertrages übernehmen könnte, die Versetzung auf den anderen Arbeitsplatz also durch das Direktionsrecht, § 106 GewO, des Arbeitgebers gedeckt ist. Wäre hingegen eine Änderungskündigung erforderlich, so schließt dies die Vergleichbarkeit aus. Zum anderen richtet sich die Vergleichbarkeit nach dem Anforderungsprofil des Arbeitsplatzes, dessen Übernahme durch den unmittelbar betroffenen Arbeitnehmer in Rede steht. Ist die auf diesem Arbeitsplatz zu verrichtende Tätigkeit identisch mit der bisher von dem unmittelbar betroffenen Arbeitnehmer ausgeübten Tätigkeit, so ist die Vergleichbarkeit problemlos zu bejahen. Handelt es sich hingegen um eine nur partiell identische oder um eine andersartige Tätigkeit, so ist zu prüfen, ob der Arbeitnehmer, dessen Arbeitsplatz weggefallen ist, diese aufgrund seiner individuellen Ausbildung und seiner fachlichen Qualifikation übernehmen kann. Erforderlich ist in diesem Falle eine alsbaldige Substituierbarkeit, an der es fehlt, wenn 206

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der unmittelbar betroffene Arbeitnehmer eine nicht unerhebliche Einarbeitungszeit benötigt. Diese Voraussetzungen für eine Vergleichbarkeit zwischen A und M sind im vorliegenden Fall gegeben. A ist als Mechaniker für die G-GmbH eingestellt worden, ohne dass seine Tätigkeit in seinem Arbeitsvertrag weiter präzisiert oder eingeschränkt wird. Daher könnte die G-GmbH den A aufgrund ihres arbeitgeberseitigen Direktionsrechts auf den Arbeitsplatz des M versetzen, ohne dass es einer Änderung des Vertrages bedürfte. Allerdings ist die Tätigkeit, die M gegenwärtig ausübt, nicht mit der von A ausgeübten Tätigkeit identisch. Da M jedoch zuvor, ebenso wie A, in der Montageabteilung gearbeitet hat und sodann in den Bereich „Haustechnik“ gewechselt ist, kann davon ausgegangen werden, dass auch A einen solchen Wechsel vollziehen könnte. Dem Sachverhalt ist nicht zu entnehmen, dass es sich um eine besonders qualifizierte Tätigkeit handelt, die durch A nicht ausgeübt werden könnte. Insoweit sind A und M daher miteinander vergleichbar. K Kontext: Die Sozialauswahl, die die vom Gesetz vorgezeichnete Interessenabwägung bei der betriebsbedingten Kündigung ist, ist in drei Schritten vorzunehmen. Der erstere und schwierigere ist es, den auswahlrelevanten Personenkreis festzulegen. Dabei kann man sich an folgenden Leitlinien orientieren: (1) Dem Konzept der „Auswahl“ wird entnommen, dass eine Austauschbarkeit zwischen den gekündigten Arbeitnehmern vorliegen muss, denn es ist eine Auswahlentscheidung zwischen konkurrierenden arbeitsvertraglichen Beschäftigungsansprüchen; (2) Bezugsrahmen: Betrieb, nicht Unternehmen oder Konzern (Wortlaut, der hier nicht korrigiert wird),4 (3) Arbeitsvertragliche Austauschbarkeit: Beschäftigung auf einem solchen Arbeitsplatz, auf den der AG den kündigungsbedrohten AN allein durch Ausübung des arbeitgeberseitigen Direktionsrechts (§ 106 GewO) versetzen kann. Maßgeblich ist der Arbeitsvertrag des Arbeitnehmers, die Notwendigkeit Vertragsänderung oder Änderungskündigung schließt Vergleichbarkeit aus, (4) Qualifikationsmäßige Austauschbarkeit: Nach Ausbildung/Qualifikation muss kündigungsbedrohter AN in der Lage sein, die Stelle eines anderen AN zu erfüllen, (5) Vergleich nur auf derselben Ebene der Betriebshierarchie („horizontale Vergleichbarkeit“) – „Auswahl“ meint keine Weiterbeschäftigung zu günstigeren oder ungünstigeren Bedingungen, (6) nicht einbezogen werden Arbeitnehmer mit gesetzlichen oder (tarif-)vertraglichen Kündigungsverboten.

b) Berücksichtigung und Gewichtung der Auswahlkriterien (2. Stufe) Gemäß § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG muss der Arbeitgeber bei der Sozialauswahl die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers ausreichend in seinen Erwägungen berücksichtigen. Im vorliegenden Fall liegen zu den ersten drei sozialen Gesichtspunkten Angaben vor. A ist seit 20 Jahren im Betrieb tätig, während M erst seit fünf Jahren bei der G-GmbH beschäftigt ist. A ist überdies wesentlich älter als M, weshalb seine Chancen geringer sein dürften, eine neue Anstellung zu finden. Zudem ist A verheiratet und hat Unterhaltspflichten, während M ledig ist und keine weiteren Unterhaltsverpflichtungen hat. Demnach ist A eindeutig sozial schwächer als M. Die Sozialauswahl fällt damit zu Gunsten des A aus.

4 Z.B. BAG 31.5.2007 NZA 2008, 33.

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K Kontext: Die zweite Stufe der Sozialauswahl verlangt die ausreichende Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte, nämlich Betriebszugehörigkeit, Alter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung. Die „ausreichende“ Gewichtung erfolgt idR anhand einer Punktetabelle, nach dem BAG besteht hier Spielraum, die Auswahl darf nur nicht „jede Ausgewogenheit vermissen“ lassen. Problematisch ist das Kriterium des Lebensalters, gerade bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Betriebszugehörigkeit. Dennoch ist die damit verbundene unterschiedliche Behandlung wegen Alters gerechtfertigt, u.a. wegen der typischerweise größeren Schwierigkeiten von älteren Arbeitnehmern am Arbeitsmarkt. Dennoch scheint die pauschale Wertung, dass jedenfalls Arbeitnehmer höheren Alters schwerer einen Arbeitsplatz finden als jüngere, zweifelhaft. Richtigerweise ist § 1 Abs. 3 KSchG richtlinienkonform so auszulegen, dass dem Alter kein zu großes Gewicht beigemessen werden darf und ein reinen Schematismus zu vermeiden ist.5 Es bietet sich an, Altersgruppen zu bilden, innerhalb derer dann eine Sozialauswahl stattfindet. So würde eine gleichmäßige, altersunabhängige Auswahl gewährleistet, da in jeder Gruppe, sprich jeder Altersklasse, Kündigungen ausgesprochen werden, die innerhalb derselben aber dem Alter schon deswegen kein übermäßiges Gewicht beimessen können, weil es kaum Altersunterschiede gibt.

c) Ausnahmen von der Sozialauswahl im berechtigen betrieblichen Interesse (3. Stufe) Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass bezüglich des M Ausnahmen von der Sozialauswahl aus berechtigten betrieblichen Interessen nach § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG gerechtfertigt sind. K Kontext: In der dritten Stufe der Sozialauswahl können ausnahmsweise berechtigtes betriebliche Weiterbeschäftigungsinteresse hinsichtlich bestimmter, eigentlich weniger schutzwürdiger Arbeitnehmer nach § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG berücksichtigt werden. Das betrifft einmal Leistungsträger, das sind Arbeitnehmer mit besonderen Kenntnissen, Fähigkeiten oder Leistungen (selten, weil regelmäßig recht schnell eine Einarbeitung erfolgen kann) und Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur (nicht: Verbesserung der Altersstruktur!).

d) Zwischenergebnis Die von der G-GmbH durchgeführte Sozialauswahl entspricht daher nicht den Anforderungen des § 1 Abs. 3 KSchG.

V. Ergebnis Die Kündigung gegenüber A ist wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Kündigungsschutz aus § 1 KSchG sozial ungerechtfertigt und damit rechtsunwirksam. Allerdings muss A die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung innerhalb von drei Wochen, gerechnet ab dem Zeit5 BAG 6.11.2008 NZA 2009, 361.

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punkt des Zugangs der Kündigung, gerichtlich geltend machen (§ 4 S. 1 KSchG). Erhebt A nicht fristgerecht Klage, gilt die Kündigung gemäß § 7 KSchG als von Anfang an rechtswirksam.

D. Lösungsvorschlag – Wirksamkeit der Kündigung gegenüber B Die gegenüber B ausgesprochene Kündigung ist wirksam, wenn die G-GmbH die Kündigung unter Einhaltung der Kündigungsfrist erklärt hat sowie besondere und allgemeine Kündigungsschranken beachtet worden sind.

I. Kündigungserklärung Die Kündigungserklärung erfolgte mit Schreiben vom 23.9.2019 durch Einschreiben. Zweifel an der Wirksamkeit dieser Kündigungserklärung liegen nicht vor. Auch die Kündigungserklärung vom 23.9.2019 stellt keine Änderungs-, sondern eine ordentliche Beendigungskündigung dar. Wenngleich die G-GmbH dem B vor der schriftlichen Kündigung auch ein Änderungsangebot unterbreitet hat, ist die unbedingte Kündigungserklärung als Beendigungskündigung auszulegen. Insoweit ergeben sich keine Abweichungen zur Lage des A.

II. Einhaltung der Kündigungsfrist Weiterhin ist zu prüfen, ob die Kündigungsfrist eingehalten worden ist. In dem Vertrag zwischen B und der G-GmbH ist keine Kündigungsfrist vereinbart, sodass auf die gesetzlich festgelegten Kündigungsfristen zurückzugreifen ist. 1. Länge der Kündigungsfrist Da B fünf Jahre bei der G-GmbH beschäftigt ist, beträgt die Kündigungsfrist nach § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB zwei Monate zum Monatsende. Damit die Kündigung am 30.11.2019 fristgerecht wirksam werden kann, müsste die Kündigung daher spätestens zum 30.9.2019 zugegangen sein. 2. Rechtzeitiges Wirksamwerden der Kündigungserklärung Fraglich ist, ob die Kündigungserklärung der G-GmbH rechtzeitig gegenüber B wirksam geworden ist, also die Kündigungsfrist gewahrt ist. Nach § 130 Abs. 1 BGB wird eine unter Abwesenden abgegebene Willenserklärung wirksam, wenn sie dem Empfänger zugeht. Zu prüfen ist also, wann B die Kündigungserklärung der G-GmbH zugegangen ist. a) Zugang am 23.9.2019 Möglicherweise ist die Kündigung B schon mit dem Einwurf des Benachrichtigungszettels in den Hausbriefkasten am 23.9.2019 zugegangen. Bei Annahme dieses Zugangszeitpunkts wäre die Kündigungserklärung rechtzeitig mit Wirkung zum 30.11.2019 erfolgt.

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Eine Willenserklärung ist dem Empfänger i.S.d. § 130 Abs. 1 BGB zugegangen, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt und für den Empfänger unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von dem Inhalt des Schreibens Kenntnis zu nehmen. Durch den Einwurf des Benachrichtigungsscheins ist zwar diese Benachrichtigung, nicht jedoch die Kündigungserklärung selbst in den Machtbereich des Empfängers B gelangt, denn das Einschreiben selbst verblieb bei der Post. Da aus dem Benachrichtigungsschein weder der Absender noch der Inhalt des Einschreibens erkennbar sind, bestand für B allein durch den Einwurf des Benachrichtigungsschreibens keine Möglichkeit, vom Inhalt der eingeschriebenen Erklärung Kenntnis zu nehmen. Die bloße Benachrichtigung des Empfängers und die Niederlegung des Kündigungsschreibens bei der Post erfüllt damit nicht die Anforderungen an einen Zugang i.S.d. § 130 Abs. 1 BGB. Das Kündigungsschreiben selbst ist erst am 7.10.2019 in den Machtbereich des B gelangt, sodass dieser von seinem Inhalt Kenntnis nehmen konnte. Bei einem Zugang der Kündigungserklärung zu diesem Zeitpunkt wäre die Kündigung zum 30.11.2019 wegen Überschreitung der Frist nach § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB nicht mehr fristgemäß. Allerdings hätte B bereits nach Zugang des Benachrichtigungsscheins am 23.9.2019 die Möglichkeit gehabt, das Einschreiben bei der Post abzuholen und von seinem Inhalt Kenntnis zu nehmen. B hat dies unterlassen, da er aufgrund des Hinweises des Meisters davon ausging, dass es sich bei dem Einschreiben um die angekündigte Kündigung handeln würde. In Anbetracht dieses Verhaltens erscheint es fraglich, ob sich B auf den verspäteten Zugang der Kündigungserklärung berufen kann. Eine Verpflichtung des B, die Erklärung als rechtzeitig gegen sich gelten zu lassen, könnte sich auf Grundlage der §§ 162 Abs. 1, 242 BGB ergeben. Gemäß § 162 Abs. 1 BGB muss sich derjenige, der den Eintritt einer für ihn nachteiligen Bedingung treuwidrig verhindert, so behandeln lassen, als wäre die Bedingung eingetreten. Zwar gilt § 162 BGB unmittelbar nur für rechtsgeschäftliche Bedingungen i.S.d. § 158 BGB, sodass im vorliegenden Fall lediglich eine analoge Anwendung in Betracht kommt. Die analoge Anwendung einer Vorschrift setzt voraus, dass eine planwidrige Regelungslücke besteht und der Grundgedanke der Vorschrift auf den nicht geregelten Sachverhalt angesichts einer vergleichbaren Interessenlage übertragbar ist. Eine spezielle Regelung für Fälle der sog. „Zugangsverzögerung“ besteht nicht. § 162 Abs. 1 BGB enthält den allgemeinen Rechtsgedanken, dass niemand davon profitieren soll, dass er treuwidrig ein bestimmtes, für ihn nachteiliges Ereignis verhindert. Der Zugang der Kündigungserklärung vor dem 30.9.2019 ist für B insofern nachteilig, als dadurch die Frist für eine Kündigung zum 30.11.2019 eingehalten wäre und sein Arbeitsverhältnis früher enden würde. Den Eintritt dieses Ereignisses hat B verhindert, indem er das Kündigungsschreiben nach Erhalt des Benachrichtigungsschreibens nicht abgeholt hat und dadurch den Zugang solange hinausgezögert hat, bis die Kündigung zum 30.11.2019 wegen Fristüberschreitung nicht mehr möglich war. Fraglich ist jedoch, ob es sich hierbei um ein treuwidriges Verhalten des B handelt. Prinzipiell muss der Erklärende dafür Sorge tragen, dass der Erklärungsempfänger die Erklärung zur Kenntnis nehmen kann. Wenn der Arbeitnehmer mit dem Zugang einer Erklärung rechnen musste und die Zugangsverzögerung allein aus dem Verhalten des Erklärungsempfängers resultiert, muss für den Zugang der Willenserklärung jedoch etwas anderes gelten. So ist es als treuwidrig anzusehen, wenn der Empfänger grundlos die Annahme einer Willenserklärung ablehnt, obwohl er im Rahmen vertragliche Beziehungen mit rechtserheblichen 210

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Mitteilungen gerechnet hat. Gleichsam handelt der Adressat einer per Übergabe-Einschreibens erklärten Kündigung in diesem Sinne rechtsmissbräuchlich, wenn er es unterlässt, das Einschreiben im Hinterlegungszeitraum abzuholen, obwohl er davon ausgehen musste, dass dieses Schreiben die Kündigung des Arbeitsverhältnisses enthält. Wenn der Empfänger durch einen entsprechenden Benachrichtigungszettel erfährt, dass ein Einschreiben für ihn bei der Post niedergelegt ist, darf der Erklärende erwarten, dass der Empfänger das Einschreiben abholt. Eine Einlösung dürfte in diesen Fällen wohl binnen einer Woche erwartet werden können. Unterlässt der Empfänger dies wie vorliegend, handelt er treuwidrig i.S.d. § 242 BGB. Analog § 162 Abs. 1 BGB kann er sich dann auf die Verspätung und damit die Fristversäumnis nicht berufen, wenn der Erklärende die Erklärung unverzüglich wiederholt. Daher muss sich B analog § 162 BGB so behandeln lassen, als ob ihm die Kündigung zum normalen Zeitpunkt zugegangen wäre. Als Zugangszeitpunkt ist in diesem Fall der Zeitpunkt anzunehmen, zu dem unter Berücksichtigung der Verkehrssitte erwartet werden kann, dass der Empfänger das Einschreiben abholt. Dies dürfte regelmäßig der nächste Werktag sein. Aber selbst wenn man im vorliegenden Fall einen späteren Zeitpunkt für angemessen hielte, ist von einem Zugang vor dem 30.9.2019 auszugehen und damit die Frist von zwei Monaten nach § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB gewahrt. [Eine derart ausführliche Diskussion wäre auch für eine gelungene Bearbeitung nicht erforderlich.] b) Zwischenergebnis Die Kündigung ist daher zum 30.11.2019 fristgerecht erfolgt.

III. Anhörung des Betriebsrates (§ 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG) Die Anhörung des Betriebsrates ist erfolgt.

IV. Wirksamkeit der Kündigung nach § 1 KSchG Die Kündigung gegenüber B könnte gemäß § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam sein, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. 1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes Die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes gemäß §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG sind im vorliegenden Fall gegeben. Insoweit gilt für B nichts anderes als für A. 2. Soziale Rechtfertigung der Kündigung Bei der Kündigung gegenüber B handelt es sich, ebenso wie bei der Kündigung gegenüber A, um eine betriebsbedingte Kündigung. Eine betriebsbedingte Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 2 und 3 KSchG sozial gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber eine unternehmerische Entscheidung trifft, durch die die Beschäfti211

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Fall 17 „Produktionsdrosselung“

gungsmöglichkeit eines Arbeitnehmers dauerhaft wegfällt (betriebliches Erfordernis), der Arbeitnehmer weder auf einem anderen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden kann noch sonstige mildere Mittel statt der Kündigung möglich sind (Dringlichkeit) und der Arbeitgeber eine fehlerfreie Sozialauswahl durchführt. a) Dringendes betriebliches Erfordernis i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG aa) Unternehmerische Entscheidung Der Kündigung des B liegt die gestaltende unternehmerische Entscheidung der G-GmbH zugrunde, der rückläufigen Nachfrage nach Fräsmaschinen durch eine Produktionsdrosselung zu begegnen. Mithin liegt der Kündigung des B eine den Anforderungen des § 1 Abs. 2 KSchG entsprechende unternehmerische Entscheidung zugrunde. bb) Kausaler, dauerhafter Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit Durch die unternehmerische Entscheidung der G-GmbH, die Produktion auf unabsehbare Zeit zu drosseln, wurde nicht mehr die gleiche Anzahl an Arbeitskräften für die Produktion benötigt. Durch die unternehmerische Entscheidung sind damit dauerhaft Beschäftigungsmöglichkeiten in der Gruppe der in der Produktion beschäftigten Mechaniker, zu der auch der gekündigte B gehört, weggefallen. cc) Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses Ein „dringendes“ betriebliches „Erfordernis“ liegt nur vor, wenn nach dem Zweck der betriebsbedingten Kündigung dem Kündigungsinteresse nicht durch andere mildere Maßnahmen Rechnung getragen werden kann. Zu den milderen Mitteln, die der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Beendigungskündigung ergreifen muss, gehört gemäß § 1 Abs. 2 S. 2 und 3 KSchG insbesondere die Weiterbeschäftigung auf einem freien Arbeitsplatz in einem anderen Betrieb des Unternehmens oder die Weiterbeschäftigung auf einem freien Arbeitsplatz unter Änderung sonstiger Vertragsbedingungen, auch wenn diese Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten erst nach Fortbildung oder Umschulung des Arbeitnehmers offen stehen. Wie bereits ausgeführt, sind diese Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten entgegen dem Wortlaut der Norm unabhängig vom Widerspruch des Betriebsrats zu prüfen. Vorliegend war ein freier Arbeitsplatz in einem zur G-GmbH gehörenden Werk in Düsseldorf verfügbar. Dieser hätte nach der Qualifikation des B von diesem besetzt werden können. Da diese Stelle jedoch mit einer Gehaltseinbuße verbunden gewesen wäre, wäre für die Weiterbeschäftigung eine Vertragsänderung erforderlich. Mithin verstößt die Kündigung des B zwar nicht gegen § 1 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 lit. b KSchG, der nur bei einer Weiterbeschäftigung einschlägig ist, die mittels Ausübung des Direktionsrechts realisierbar wäre. Allerdings kommt eine Weiterbeschäftigung des A nach Änderung der Vertragsbedingungen i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 3 KSchG als milderes Mittel vor dem Ausspruch einer Beendigungskündigung in Betracht, da diese das betriebliche Bedürfnis der G-GmbH gleichsam hätte befriedigen können. Hieraus resultiert, dass die G-GmbH grundsätzlich eine Änderungskündigung statt einer Beendigungskündigung hätte aussprechen müssen, da diese eine solche Änderung des Arbeitsvertrags hätte ermöglichen können. Da sie dies unterließ, wäre grundsätzlich vom Fehlen der Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses auszugehen. Allerdings verlangt § 1 Abs. 2 S. 3 KSchG, dass der Arbeitnehmer sein Einverständnis mit den geänderten Arbeitsbedingungen erklärt hat. Auch hier ist fraglich, wie es sich auswirkt, dass B die Annahme eines Vertragsänderungsangebots durch die G-GmbH vor dem Ausspruch der Been212

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digungskündigung abgelehnt hatte. Insofern könnte die Erklärung einer Änderungskündigung, die ebenfalls ein Angebot auf Vertragsänderung enthalten hätte, wie bei der Kündigung des A entbehrlich geworden sein. (1) Entbehrlichkeit der Änderungskündigung wegen vorheriger Ablehnung einer Vertragsänderung Nach der neuen Rechtsprechung des BAG6 darf das durch eine Änderungskündigung unterbreitete Angebot, den Arbeitnehmer zu geänderten Vertragsbedingungen weiterzubeschäftigen, nur noch in Extremfällen unterbleiben. Ein solcher sei aber nicht schon dann anzunehmen, wenn der Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung dem Arbeitnehmer das Angebot gemacht hat, den Vertrag der noch bestehenden Weiterbeschäftigungsmöglichkeit anzupassen, und der Arbeitnehmer dieses Angebot abgelehnt hat. Denn die Ablehnung der einverständlichen Abänderung (etwa aufgrund einer emotionalen Blockadehaltung) schließe nicht zwangsläufig aus, dass der Arbeitnehmer bereit sei, zu den geänderten Bedingungen weiterzuarbeiten, wenn sich in einem Änderungsschutzverfahren nach § 2 KSchG die Berechtigung der Änderung herausstellt. Eine sofortige Beendigungskündigung sei deswegen nur zulässig, wenn der Arbeitnehmer unmissverständlich zum Ausdruck gebracht habe, er werde die geänderten Arbeitsbedingungen im Fall des Ausspruchs einer Änderungskündigung unter keinen Umständen, auch nicht unter dem Vorbehalt ihrer sozialen Rechtfertigung, annehmen. Vorliegend lehnte B nicht mit dieser Klarheit das vor der Kündigung unterbreitete Vertragsänderungsangebot der G-GmbH ab. Vielmehr hat er sich als grundsätzlich verhandlungsbereit erwiesen und gab zu erkennen, dass er jedenfalls nicht prinzipiell etwas gegen eine Weiterbeschäftigung im Düsseldorfer Werk einzuwenden hatte. B lehnte das Weiterbeschäftigungsangebot insofern lediglich zu den vorgeschlagenen Konditionen ab. Seine Verhandlungsbereitschaft signalisierte er dabei schon dadurch, dass er sich mit einer Gehaltseinbuße von 200 Euro einverstanden erklärte und äußerte, dass eine Weiterbeschäftigung in Düsseldorf für ihn „kein Problem“ sei. Zudem betonte er, dass er keinesfalls seinen Job verlieren wolle. Er lehnte vielmehr lediglich das konkrete Angebot zur einvernehmlichen Vertragsänderung der G-GmbH ab. Damit wurde aber der Ausspruch einer Änderungskündigung nicht entbehrlich, da es gerade Sinn des Verfahrens nach § 2 KSchG ist, die Frage der Zumutbarkeit der geänderten Vertragsbedingung zu überprüfen, ohne dass der Arbeitnehmer den sofortigen Verlust seines Arbeitsplatzes fürchten muss. Nach diesen Äußerungen des B durfte die G-GmbH jedenfalls nicht annehmen, dass die Ablehnung der einverständlichen Abänderung durch B zugleich bedeutete, dass er nicht bereit sei, zu den geänderten Bedingungen weiterzuarbeiten, wenn sich in einem Änderungsschutzverfahren nach § 2 KSchG die Berechtigung der Änderung herausstellt. Hierfür spricht auch das weitere Verhalten des B nach dem Gespräch mit G. Mit Schreiben vom 28.9.2019 erklärte B, dass er auch mit einer Gehaltseinbuße von 300 Euro einverstanden sei, es ließe sich doch „über alles reden“, was erneut die grundsätzlich bestehende Verhandlungsbereitschaft des B über die Weiterbeschäftigung im Düsseldorfer Werk verdeutlichte. Doch auch das Verhalten des B nach Kenntnis der Beendigungskündigung spricht in seiner Indizwirkung nicht dafür, dass B die geänderten Vertragsbedingungen im Fall des Ausspruchs einer Änderungskündigung unter keinen Umständen, auch nicht unter dem Vorbehalt ihrer sozialen Rechtfertigung, angenommen hätte. Denn B beruft sich nicht erst lange nach Beginn der Auseinandersetzung auf die Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auf der 6 BAG 21.4.2005 NZA 2005, 1289; BAG 21.4.2005 NZA 2005, 1294.

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freien Stelle im Düsseldorfer Werk. Vielmehr betont er, dass er sich mit den angebotenen Vertragsänderungen unter Vorbehalt einverstanden erklärt hätte, wenn er gewusst hätte, dass es auch schon beim schriftlichen Vertragsänderungsangebot der G-GmbH neben der Ablehnung oder Annahme die Möglichkeit der Vorbehaltsannahme gegeben hätte. Allein aufgrund der Ablehnung des vorherigen Angebots auf Vertragsänderung durfte die G-GmbH mithin nicht von einer Entbehrlichkeit des vorrangigen Ausspruchs einer Änderungs- statt einer Beendigungskündigung ausgehen. (2) Zumutbarkeit der Änderung als Grenze des Vorrangs der Änderungskündigung Allerdings könnte ein weiteres mit einer Änderungskündigung verbundenes Angebot auf Vertragsänderung aufgrund von Unzumutbarkeit der geänderten Vertragsbedingungen entbehrlich sein. In solchen Fällen wäre der Ausspruch einer Änderungskündigung reine Förmelei. Insofern ging G davon aus, dass B die Gehaltseinbuße von 400 Euro als unzumutbar empfinden würde, da diese die Finanzierung seines Hobbys gefährden würde. Der Arbeitnehmer muss aber grds. selbst entscheiden, ob er Einbußen oder Nachteile akzeptiert, die mit einer neuen Stelle verbunden sind. Eine Änderungskündigung darf entsprechend nur unterbleiben, wenn der Arbeitgeber bei vernünftiger Betrachtung nicht mit einer Annahme des neuen Vertragsangebots durch den Arbeitnehmer rechnen konnte und ein derartiges Angebot im Gegenteil eher beleidigenden Charakter gehabt hätte etwa, wenn die Weiterbeschäftigungsmöglichkeit lediglich eine offensichtlich völlig unterwertige Beschäftigung darstellen würde. Dies könne dann gegeben sein, wenn der betroffene Arbeitnehmer so weit in der Personalhierarchie zurückgestuft würde, dass viele seiner bisher Untergegebenen ihm nunmehr Weisungen erteilen könnten. Als Beispiel nennt das BAG insofern die Degradierung des bisherigen Personalchefs zum Pförtner. [Auch hier setzt die gelungene Bearbeitung nicht die genaue Kenntnis der BAG-Rechtsprechung voraus, sondern vor allem ein Bewusstsein für das zugrundeliegende Problem und dessen Lösung anhand der Besonderheiten des vorliegenden Falls.] Nach diesen Grundsätzen konnte das Angebot einer Weiterbeschäftigung mittels Änderungskündigung vorliegend nicht schon deswegen unterbleiben, weil G davon ausging, dass B die verringerte Vergütung für unzumutbar hielt. Ein „Extremfall“ im Sinne der Rechtsprechung konnte von G nicht angenommen werden, da die Weiterbeschäftigungsmöglichkeit in Düsseldorf nicht „völlig unterwertig“ war. Insofern entsprach sie zum einen den Qualifikationen des B. Ihre Unterwertigkeit ergab sich zum anderen ausschließlich aus der Gehaltseinbuße in Höhe von 400 Euro. Diesbezüglich oblag es aber einzig dem B, darüber zu entscheiden, ob er die Gehaltseinbuße akzeptiert, die mit einer neuen Stelle verbunden war. Insofern könnte er freilich auch andere Gründe haben, wie die Bindung an den Arbeitgeber oder die Hoffnung auf einen Aufstieg im Arbeitsverhältnis, warum sich ein Arbeitnehmer mit schlechteren Arbeitsbedingungen arrangieren will. B betonte in diese Richtung weisend, dass er keinesfalls seinen Arbeitsplatz verlieren wolle. K Kontext: Der Ausspruch einer Änderungskündigung ist grundsätzlich immer milderes Mittel gegenüber dem Ausspruch einer betriebsbedingten Beendigungskündigung.7 Der Arbeitnehmer soll dabei selbst entscheiden können, ob er Einbußen oder Nachteile akzeptiere, die mit einer neuen Stelle verbunden sind. Die neuere Rechtsprechung des 7 BAG 21.4.2005 NZA 2005, 1289, 1292; BAG 21.4.2005 NZA 2005, 1294, 1296; vgl. auch BAG 21.9.2006 NZA 2007, 431, 434 f.

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BAG legt entgegen der älteren zutreffend einen subjektiven Maßstab an. Eine Änderungskündigung darf nur ganz ausnahmsweise unterbleiben, nämlich wenn der Arbeitgeber bei vernünftiger Betrachtung nicht mit einer Annahme des neuen Vertragsangebots durch den Arbeitnehmer rechnen konnte und ein derartiges Angebot im Gegenteil eher beleidigenden Charakter (Personalchef zu Pförtner) hat. Dabei ist aber nicht erforderlich, dass der Arbeitgeber im Weg der Änderungskündigung einen höherwertigen Arbeitsplatz anbietet. Da die G-GmbH entgegen diesen Maßgaben unter Missachtung des Vorrangs der Änderungskündigung eine Beendigungskündigung gegenüber B aussprach, war die Kündigung nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt. b) Zwischenergebnis Die Kündigung des B ist daher nicht sozial gerechtfertigt i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG.

V. Ergebnis Die Kündigung gegenüber B ist wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Kündigungsschutz aus § 1 KSchG rechtsunwirksam. Allerdings muss B die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung innerhalb von drei Wochen, gerechnet ab dem Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung, gerichtlich geltend machen (§ 4 S. 1 KSchG). Erhebt B nicht fristgerecht Klage, gilt die Kündigung gemäß § 7 KSchG als von Anfang an rechtswirksam. K Zur Vertiefung: Zur betriebsbedingten Kündigung s. Junker Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 371–381; Preis/Temming Individualarbeitsrecht Rn. 2827–2923. Zum Zugang der Kündigungserklärung s. Junker Rn. 328–330; Preis/Temming Rn. 2552–2577. Zur Änderungskündigung s. Junker Rn. 416–424; Preis/Temming Rn. 3140–3206. Zur Sozialauswahl s. Junker Rn. 374–377; Preis/Temming Rn. 2865–2899.

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Fall 18 „Ausschlussfrist? Ich versteh nur Spanisch!“ A. Falldarstellung Das Unternehmen der G fertigt Präzisionsteile aus Metall und hat insgesamt 83 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Der 60-jährige, aus Spanien stammende, gelernte Schlosser N bewirbt sich im August 2018 bei G für eine Tätigkeit in der Gussabteilung ab dem 1.9.2018. Der Aufgabenbereich soll das Überwachen der automatischen Behälterfüllung und vor allem die Produktionskontrolle, jeweils nach weiteren Anweisungen, gehören. Fehler und Störungen an den Fertigungsmaschinen und den hergestellten Produkten sollen erkannt und schriftlich an die Abteilung Qualitätskontrolle gemeldet werden. G ist von den Qualifikationen des N und seiner praktischen Arbeitsprobe sehr angetan. N hat die letzten 35 Jahre seines Berufslebens im Werk einer spanischen Metallbaufirma in Deutschland gearbeitet und seit 2005 die deutsche Staatsbürgerschaft. Im Rahmen des Einstellungsgesprächs wurde dem N ein Personalfragebogen vorgelegt, in dem mehrere Fragen durch Ankreuzen zu beantworten waren. Unter anderem wurde die Frage gestellt: „Verfügen Sie über gute Deutschkenntnisse in Wort und Schrift, um detaillierte, in deutscher Schrift und Sprache erteilte Arbeitsanweisungen ausführen zu können?“. N kann sich mündlich auf Deutsch verständlich machen, hat aber ganz erhebliche Schwierigkeiten, Deutsch zu lesen, geschweige denn, dass er auf Deutsch etwas schreiben kann. Dennoch schließt er aus dem Zusammenhang des Fragebogens, dass es hier um seine Qualifikationen geht, unter anderem auch um die Frage nach seiner (Schrift-)Sprachkenntnis. Er kreuzt einfach die entsprechenden Fragen mit „ja“ an, da er befürchtet, die Stelle sonst nicht zu bekommen. Außer einer groben Ahnung, um was es geht, versteht der N eigentlich nichts von dem Fragebogen und auch nicht von dem Inhalt des ihm vorgelegten Formulararbeitsvertrags in deutscher Sprache, der üblicherweise im Unternehmen der G verwendet wird. Ausmachen kann er im Wesentlichen drei Dinge, nämlich sein Gehalt (2500 t brutto im Monat), seine Tätigkeit (Schlosser) und den Arbeitsort (Köln). Die sonstigen Regelungen erschließen sich ihm nicht, insbesondere auch nicht die folgende Regelung: „§ 12 Ausschlussfristen Alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis – mit Ausnahme von Ansprüchen, die aus der Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit sowie aus vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Pflichtverletzung des Arbeitgebers oder seines gesetzlichen Vertreters oder Erfüllungsgehilfen resultieren – verfallen, wenn sie nicht innerhalb von 3 Monaten nach der Fälligkeit gegenüber der anderen Vertragspartei in Textform erhoben werden.“ In den ersten sechs Monaten der Tätigkeit bei G wird N jederzeit begleitet von einer Ingenieurin, die im Anschluss in den Ruhestand gehen wird, und deren Nachfolge der N antreten soll. Der G fällt hier hinsichtlich der Arbeitsleistung des N nichts besonders auf. Ab April 2019 jedoch nimmt der N die Prüfungen der Produkte nur nach Augenschein und nicht systematisch und nach Maßgabe des im Unternehmen der G vorgegebenen detaillierten schriftlichen Prüfplans vor. Auch die Fertigungsmaschinen überwacht er nicht anhand der von den Herstellern vorgegebenen Wartungsplänen, sondern nach eigenen Vorstellungen. Die vorhandenen, sehr detaillierten und ausführlichen Fehler-Checklisten zur Kontrolle der Fertigungsmaschinen und Produkte füllt er unvollständig oder gar nicht aus. Dadurch 216

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„Ausschlussfrist? Ich versteh nur Spanisch!“ Fall 18

kommt es zu einer auffällig hohen Fehlerquote bei Produkten, die aus seinem Arbeitsbereich stammen. Dadurch verfehlt das Unternehmen der G die von den Auftraggebern der Spezialmetallteile vorgegebenen technischen Normen. G befürchtet deshalb zu Recht den Verlust von Aufträgen. Sie mahnt in einem persönlichen Gespräch mit N im Mai 2019 mehr Sorgfalt an. Nachdem N am 20.6.2019 schwere Metallteile in ein im Aufbau befindliches Regal mit der nicht zu übersehenden, groß geschriebenen Aufschrift „BELADEN VERBOTEN!“ lud und das Regal daraufhin unter der Last zusammenbrach, stellte sich heraus, dass N nicht in der Lage ist, auch nur einfache Arbeits- und Prüfanweisungen sachgerecht zu lesen und zu verstehen, da ihm die erforderlichen Kenntnisse der deutschen Sprache fehlen. G wird klar, dass der N offenbar den Personalfragebogen falsch ausgefüllt hat. Die dem N in der Folge mehrfach von der G angebotene Teilnahme an Sprachkursen mit Kostenübernahme durch die G lehnt er, auch nachdem die G ihm andernfalls eine Kündigung in Aussicht gestellt hat, entschieden ab, seine Leistung habe in den letzten 35 Jahren seiner Tätigkeit in Deutschland nie Grund zur Beanstandung gegeben. Am 28.6.2019 schließen die G und der N einen Aufhebungsvertrag zum 31.7.2019. Das jeweils zum Monatsende fällige Gehalt für Juni überweist die G nicht, weil der N irrtümlich zu diesem Zeitpunkt schon aus der Angestelltenkartei gelöscht ist. Das Juligehalt wird dem N aber nebst einer Sonderzahlung an alle Mitarbeiter der G ausgezahlt, deshalb fällt die Nichtzahlung bei N zunächst nicht auf. Eine bei der G am 4.10.2019 eingegangene, von der Ehefrau des N stellvertretend für den N verfasste Aufforderung, das Gehalt für Juni auszuzahlen, wird im Betrieb der G aus ungeklärten Umständen nicht bearbeitet. Am 16.10.2019 erhebt N, vertreten durch einen Gewerkschaftssekretär, Klage gegen die G auf Zahlung des Arbeitsentgelts für Juni 2019. Die G meint, der Anspruch sei jetzt nach § 12 des Arbeitsvertrags verfallen. Nachdem ihm die Klausel übersetzt worden ist mein N, ihm als Sprachunkundigem hätte man die Vertragsunterlagen in seiner Muttersprache geben oder sie ihm zumindest auf Spanisch vorlesen müssen. Von dieser Klausel hätte er vorher nichts gewusst. Außerdem könne er sich nicht vorstellen, dass in Deutschland so kurze Fristen für den Verfall von Ansprüchen zulässig sind und er deswegen nicht einmal den ihm gesetzlich zustehenden Mindestlohn für Juni 2019, in dem er ja schließlich gearbeitet habe, erhalten könne.1 Frage 1: Ist die zulässige Klage des N begründet? Abwandlung: N ist am 28.6.2019 nicht bereit, einen Aufhebungsvertrag zu schließen. Man könnte ihm nicht kündigen, weil darin sonst eine unzulässige Diskriminierung liege. Seit dem 1.7.2019 ist N arbeitsunfähig erkrankt. G fragt am 5.7.2019 ihre Rechtsanwältin, ob jetzt eine Anfechtung oder eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses des N Erfolg verspricht, und wenn beides möglich wäre, was sinnvoller wäre und was jeweils zu beachten wäre. Für jemanden, der nicht ausreichend Deutsch lesen und schreiben könne, gebe es, was zutrifft, bei der G keine Beschäftigungsmöglichkeit.2 Frage 2: Was wird die Rechtsanwältin der G raten? Bearbeitervermerk: Ausgangsfall und Abwandlung zählen bei der Bewertung gleichwertig. 1 Dieser Teil ist inspiriert von BAG 19.3.2014 NZA 2014, 1076 und BAG 18.9.2018 NZA 2018, 1619. 2 Dieser Teil ist inspiriert von BAG 28.1.2010 NZA 2010, 625; BAG 22.6.2011 NZA 2011, 1226 und BAG 23.11.2017 NZA-RR 2018, 287.

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Fall 18 „Ausschlussfrist? Ich versteh nur Spanisch!“ Kalender 2019

Juni M D M D F S 1 3 4 5 6 7 8 10 11 12 13 14 15 17 18 19 20 21 22 24 25 26 27 28 29

S 2 9 16 23 30

September M D M D F S S 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

M 1 8 15 22 29

D 2 9 16 23 30

M D 1 7 8 14 15 21 22 28 29

M 3 10 17 24 31

Juli D F 4 5 11 12 18 19 25 26

S 6 13 20 27

S 7 14 21 28

Oktober M D F S 2 3 4 5 9 10 11 12 16 17 18 19 23 24 25 26 30 31

S 6 13 20 27

Schwierigkeitsgrad: Überdurchschnittlich schwierige und überdurchschnittlich umfangreiche Examensklausur Rechtsfragen: Arbeitsvertragsschluss in deutscher Sprache mit nicht sprachkundigem Arbeitnehmer, Zugang einer Willenserklärung unter Anwesenden, AGB-Kontrolle von Ausschlussfristen, Nichtausnahme des Mindestlohnanspruchs aus der Ausschlussfrist, Anfechtung eines in Vollzug gesetzten Arbeitsverhältnisses, Diskriminierung durch Sprachanforderungen im Arbeitsverhältnis, Diskriminierende Kündigung

B. Lösungsskizze Ausgangsfall – Klage des N auf Gehaltszahlung I. Anspruch entstanden 1. Angebot der G (+) 2. Wirksamwerden des Angebots durch Zugang bei N analog § 130 BGB: Willenserklärungen unter Anwesenden (+) 3. Annahme des Angebots: trotz ungelesenem Vertragstext (+) 4. Zwischenergebnis: Arbeitsvertrag (+) II. Anspruch untergegangen 1. Unwirksamkeit wegen Verstoß gegen § 3 S. 1 MiLoG: Nur „insoweit“ der Mindestlohn betroffen ist, i.Ü. wirksam 2. Unwirksamkeit nach den §§ 305 ff. BGB a) Anwendbarkeit der §§ 305 ff. BGB (+) b) Vorliegen von AGB (+) 218

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c) Einbeziehung der Klausel in den Vertrag aa) Willenseinigung (+) bb) Keine überraschende Klausel (+) cc) Zwischenergebnis: § 12 Arbeitsvertrag ist Vertragsbestandteil d) Inhaltskontrolle aa) Eröffnung der Inhaltskontrolle: Abweichung von §§ 195, 199 BGB (+) bb) Verstoß gegen Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit (–) cc) Verstoß gegen Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit (–) dd) Verstoß gegen die Generalklausel des § 307 Abs. 1 S. 1 und das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB (1) Ausgangspunkt der ganz herrschenden Meinung: Keine unangemessene Benachteiligung hM: Ausschlussfristen sind grundsätzlich zulässig; a.A. gut vertretbar (2) Besonderheiten wegen der Sprachunkundigkeit des N: Sprachunkundigkeit des Arbeitnehmers führt ohne hinzukommen weiterer Umstände nicht zur Intransparenz (3) Intransparenz wegen Nichtausnahme des Mindestlohnanspruchs Verfall des Mindestlohnanspruchs durch § 12 des Arbeitsvertrags, obwohl gemäß § 3 S. 1 MiLoG nicht möglich. § 12 damit nicht hinreichend klar und verständlich, § 307 Abs. 1 S. 2 BGB. (4) Ausnahmsweise Teilunwirksamkeit? (–) Grundsatz: Klauseln insgesamt unwirksam Eine Ansicht: geltungserhaltende Reduktion, Unwirksamkeit nur in Bezug auf Mindestlohnanspruch, Arg.: § 3 S. 1 MiLoG; Zutreffend BAG/hM: keine geltungserhaltende Reduktion oder Teilunwirksamkeit e) Zwischenergebnis: § 12 des Arbeitsvertrags ist unangemessen benachteiligend und nach § 307 Abs. 1 S. 1, 2 BGB unwirksam III. Ergebnis: Klage begründet, Anspruch auf Lohn für Juni (+) Abwandlung – Beratung der Rechtsanwältin I. Ordentliche Kündigung des N 1. Anwendbarkeit des KSchG (+) 2. Vorliegen eines Kündigungsgrunds a) Grund in der Person (+)

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b) Keine verbotene Diskriminierung Diskriminierungsverbote des AGG trotz § 2 Abs. 4 AGG anwendbar aa) Anwendbarkeit (+) bb) Benachteiligungsgrund: Anknüpfung an § 1 AGG „ethnische Herkunft“ cc) Benachteiligungsform: mittelbare Benachteiligung (+) dd) Rechtfertigung der Benachteiligung (+) ee) Zwischenergebnis: Kündigung nicht nach § 7 Abs. 1 AGG unwirksam c) Negativprognose (+) d) Erforderlichkeit (+) e) Interessenabwägung: insbesondere wegen grundlosem Ablehnens von Sprachkursen (+) 3. Zwischenergebnis: ordentliche Kündigung sozial gerechtfertigt. II. Außerordentliche Kündigung des N (–) 1. Kündigungserklärungsfrist, § 626 Abs. 2 BGB: 2-Wochen-Frist beginnend mit Zusammenbruch des Regals (20.6.2019) am 4.7.2019 abgelaufen 2. Zwischenergebnis: außerordentliche Kündigung am Tag der Beratung (5.7.2019) verfristet III. Anfechtung des Arbeitsvertrags 1. Bestehen eines Anfechtungsrecht a) Anfechtung wegen arglistiger Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB: insbesondere kein Recht zur Lüge, Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB (+) b) Anfechtung wegen Eigenschaftsirrtums nach § 119 Abs. 2 BGB (+) 2. Möglichkeit fristgemäßer Ausübung Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB in Frist nach § 626 Abs. 2 BGB analog: Frist (–) Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB in Frist nach § 124 Abs. 1 BGB: Frist (+) 3. Zwischenergebnis: Personenbedingte Kündigung oder Anfechtung IV. Zweckmäßigkeit 1. Zweckmäßigkeitserwägungen ordentliche Kündigung: Betriebsratsanhörung, Kündigungsfrist, Schriftform 2. Zweckmäßigkeitserwägungen Anfechtung wegen arglistiger Täuschung: Nur formlose Erklärung notwendig V. Ergebnis: Rechtsanwältin wird zu Anfechtung raten

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„Ausschlussfrist? Ich versteh nur Spanisch!“ Fall 18

C. Lösungsvorschlag Ausgangsfall – Klage des N auf Gehaltszahlung Die zulässige Klage des N wäre begründet, wenn N gegen G einen Anspruch auf Zahlung des Arbeitsentgelts für den Monat Juni 2019 hätte. Der Anspruch des N gegen G könnte sich ergeben aus § 611a Abs. 2 BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag.

I. Anspruch entstanden Der Anspruch müsste zunächst entstanden sein. Dafür müssten die Parteien zunächst einen wirksamen Arbeitsvertrag geschlossen haben. Voraussetzung hierfür sind zwei übereinstimmende, in Bezug aufeinander abgegebene Willenserklärungen, nämlich Angebot und Annahme, §§ 145, 147 BGB. 1. Angebot der G Die G hat dem N im Rahmen des Einstellungsgesprächs den üblicherweise von ihr verwendeten Arbeitsvertrag zur Unterschrift vorgelegt und damit ein Angebot im Sinn des § 145 BGB abgegeben. 2. Wirksamwerden des Angebots durch Zugang bei N analog § 130 BGB Das Angebot müsste auch wirksam geworden sein, wirksam werden empfangsbedürftige Willenserklärungen wie das Vertragsangebot (§ 145 BGB) durch Zugang beim Empfänger. § 130 Abs. 1 S. 1 BGB regelt, dass eine Willenserklärung, die einem anderen gegenüber abzugeben ist, wenn sie in dessen Abwesenheit abgegeben wird, wirksam wird, sobald sie zugeht. Der Formularvertrag wurde dem N aber in dessen Anwesenheit abgegeben. Eine gesetzliche Regelung zum Zugang einer unter Anwesenden abgegebenen verkörperten Willenserklärung fehlt. Diese Nichtregelung ist auch planwidrig, weil sonst offensichtlich unsinnig gegenüber Anwesenden keine verkörperte Willenserklärung abgegeben werden könnte. Zur Schließung dieser Regelungslücke ist es interessengerecht, die unter Anwesenden abgegebene verkörperte Willenserklärung ebenfalls wie bei § 130 Abs. 1 S. 1 BGB wirksam werden zu lassen, wenn sie dem Empfänger zugeht, also derart in seinen Herrschaftsbereich gelangt ist, dass er unter Zugrundelegung gewöhnlicher Umstände in der Lage ist, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen.3 Körperlich in den Herrschaftsbereich des N gelangt ist der Vertrag mit dessen Aushändigung. Möglicherweise steht es aber der Möglichkeit, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen entgegen, dass der Vertragstext in deutscher Sprache abgefasst ist, die N nicht zuverlässig lesen kann. Dagegen spricht, dass § 130 BGB der Gedanke des Verkehrsschutzes mit der sogenannten Empfangstheorie, und gerade nicht die sogenannte Vernehmungstheorie zugrunde liegt.4 Eine Willenserklärung wird bereits mit dem Zugang und nicht erst mit der tatsächlichen Wahrnehmung durch den Empfänger wirksam. Würden die individuellen Sprachkenntnisse des Empfängers beim Zugang einer Willenserklärung berücksichtigt, käme es entgegen der gesetzgeberischen Konzeption auf die tatsächliche Wahrnehmung der Erklärung an. Entsprechend ist in der allgemein verwendeten Zugangsdefinition auch die Rede von der Kenntnisnahmemöglichkeit des Empfängers „unter gewöhnlichen Umständen“. Da3 Allg. Auff., BGH 4.11.2004 NJW 2005, 1533; MüKo BGB/Einsele, § 130 BGB Rn. 1 f., 27. 4 Zu den Theorien MüKo BGB/Einsele, § 130 BGB Rn. 29 ff.

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her kommt es auf die gewöhnlichen Verhältnisse und Gepflogenheiten des Verkehrs, nicht aber auf die individuellen Verhältnisse gerade des konkreten Empfängers an. Das ist auch nicht korrekturbedürftig, selbst beim Gebrauch etwas von Fremdwörtern, denn der Empfänger wird regelmäßig wissen, wie weit seine Sprachkenntnisse gehen. Er trägt insoweit also das Verständigungsrisiko, wenn er sich auf eine für ihn fremde Sprache als Vertragssprache einlässt.5 Ein modifiziertes Zugangsverständnis bei Sprachschwierigkeiten ist daher nicht geboten. Das Vertragsangebot ist dem N daher mit Übergabe am 1.9.2018 zugegangen. [Im Ergebnis sind hier einige andere Auffassungen und Lösungswege vertretbar. Die fehlenden Deutschkenntnisse könnten etwa nicht als Zugangsproblem eingeordnet werden.6 Dann würde man die Frage als Auslegungs- und Verständnisproblem bei §§ 133, 157 BGB einordnen. Man könnte die fehlenden Deutschkenntnisse auch nur im Rahmen der AGB-Prüfung ansprechen, da dem N jedenfalls die wesentlichen Vertragsbestandteile bei Durchsicht des Vertrags klar geworden sind, jedenfalls wäre ein ohnehin nicht formbedürftige Arbeitsvertrag mit der Arbeitsaufnahme zustande gekommen. Beim Zugang könnte man mit entsprechender Begründung annehmen, dass etwa das Vorliegen einer Übersetzung oder die Hinzuziehung eines Dolmetschers maßgeblich sei7 oder der Zugang um die Zeit hinausgeschoben wird, die der Empfänger unter normalen Umständen billigerweise für eine Übersetzung benötigt8.] 3. Annahme des Angebots N müsste das Angebot der G auch angenommen haben. Die Annahmeerklärung, § 147 BGB, wäre nach §§ 133, 157 BGB üblicherweise in der Unterzeichnung des Vertrags zu sehen. Nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte kann der Arbeitgeber die Unterzeichnung eines schriftlichen Arbeitsvertragsangebots regelmäßig als Annahmeerklärung des Arbeitnehmers verstehen. Möglicherweise bestehen hier aber Besonderheiten, weil der N mangelhafte Kenntnisse der Vertragssprache hatte. Gegen das Vorliegen von Besonderheiten spricht, dass aufgrund der Vertragsfreiheit niemand verpflichtet ist, ein Arbeitsvertrag in einer Sprache zu schließen, die er nur mangelhaft versteht. Der Bewerber kann sich Bedenkzeit erbitten, eine Übersetzung des Vertrags veranlassen oder eine Vertrauensperson hinzuziehen, bevor er über die Annahme des Angebots entscheidet. Unterschreibt er stattdessen freiwillig einen Arbeitsvertrag in einer Sprache, in der er sprachunkundig ist, spricht dieses Verhalten nach Treu und Glauben dafür, dass der Arbeitnehmer trotz seiner Sprachunkundigkeit genau die Erklärung abgeben wollte, die den aus der Vertragsurkunde ersichtlichen Inhalt hat. Hier besteht eine Parallele zu der Behandlung desjenigen, der eine ihm vorgelegte Urkunde gänzlich ungelesen unterschreibt. Auch dieser erklärt sich nach dem objektiven Empfängerhorizont nach §§ 133, 157 BGB in der Bewertung der h.M. mit dem Inhalt des Vertrags einverstanden.9 Sowohl derjenige, der keine Kenntnis vom Inhalt des Vertrags hat, weil er eine Urkunde ungelesen unterschreibt, als auch derjenige, der den Inhalt wegen fehlender Sprachkenntnis nicht versteht, wird durch die Bindung an den Vertrag auch nicht in einer ungemessenen Art und Weise benachteiligt, denn in beiden Situationen besteht die Möglichkeit, sich durch Anfech5 6 7 8 9

Zum vorangegangenen Absatz BAG 19.3.2014 NZA 2014, 1076, 1079. MüKo BGB/Einsele, § 130 BGB Rn. 31. LAG Berlin 7.12.1972 AuR 1973, 283. LAG Hamm 4.1.1979 NJW 1979, 2488. BGH 27.10.1994 NJW 1995, 190.

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tung gemäß §§ 119 ff. BGB, dann allerdings gegen Ersatz des Vertrauensschadens, vom Vertrag zu lösen.10 Schließlich kann auch am Rechtsbindungswillen des N nicht gezweifelt werden. Auch derjenige, der den Inhalt eines ihm vorgelegten Vertragsformulars nicht versteht, weiß, dass er durch Unterzeichnung eine rechtserhebliche Erklärung abgibt. Daher liegt im unterzeichnen des Vertrags die Annahmeerklärung des N, Besonderheiten aufgrund seiner Sprachunkundigkeit bestehen nicht. Von einem Zugang der Annahmeerklärung des N durch Rückübergabe an G ist auszugehen. 4. Zwischenergebnis Zwischen G und N ist daher ein wirksamer Arbeitsvertrag geschlossen worden, der Anspruch auf Zahlung von Arbeitslohn des N ergibt sich daher grundsätzlich aus § 611a Abs. 2 BGB. [Sollte eine Anfechtung problematisiert werden: Es fehlt es jedenfalls an einer Anfechtungserklärung, im Übrigen ist das für den Anfechtungsgrund des § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB erforderliche unbewusste Auseinanderfallen von Wille und Erklärung nicht erkennbar. Denn daran fehlt es, wenn, wie hier, ein Vertragspartner eine Erklärung in dem Bewusstsein abgibt, ihren Inhalt nicht zu kennen.11]

II. Anspruch untergegangen Der Anspruch könnte nach § 12 S. 1 des Arbeitsvertrags untergegangen sein. Danach verfallen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis, wenn sie nicht innerhalb von 3 Monaten nach der Fälligkeit gegenüber der anderen Vertragspartei in Textform erhoben werden. Fälligkeit ist jedenfalls gemäß § 614 BGB nach Leistung der Dienste im Juni 2019 am 30.6.2019 eingetreten. Die in § 12 ausgenommenen Ansprüche erfassen nicht den Arbeitslohn. Nach § 188 Abs. 2 BGB lief die Dreimonatsfrist bis zum 30.9.2019. Die Geltendmachung des Gehaltsanspruchs für Juni erfolgte aber erst am 4.10.2019 und damit außerhalb der Frist. Der Anspruch ist dann nicht ausgeschlossen, wenn § 12 des Arbeitsvertrags unwirksam ist. Die Unwirksamkeit könnte aus einem Gesetzesverstoß oder aus einer Unwirksamkeit der Klausel nach der AGB-Kontrolle der §§ 305 ff. BGB folgen. 1. Unwirksamkeit wegen Verstoß gegen § 3 S. 1 MiLoG § 12 des Arbeitsvertrags könnte wegen Verstoßes gegen die zwingende Vorschrift des § 3 S. 1 MiLoG unwirksam sein. Danach sind Vereinbarungen insoweit unwirksam, als sie den Anspruch auf Mindestlohn unterschreiten oder seine Geltendmachung beschränken oder ausschließen. § 12 des Arbeitsvertrags bringt bei nicht fristgemäßer Geltendmachung „alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis“, also auch den Mindestlohnanspruch, der insoweit nicht bei den ausgenommenen Ansprüchen genannt ist, zum Verfall. Die Klausel verstößt damit gegen § 3 S. 1 MiLoG.

10 Zu diesem Absatz m.w.N. BAG 19.3.2014 NZA 2014, 1076, 1080. 11 BAG 27.8.1970 NJW 1971, 639, 640.

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Die Klausel ist damit aber nicht insgesamt unwirksam, sondern nur „insoweit“, wie § 3 S. 1 MiLoG anordnet, wie der Mindestlohnanspruch in Höhe von 9,19 Euro pro Arbeitsstunde, § 1 Abs. 1, 2 S. 1 MiLoG, betroffen ist. Im Übrigen bleibt die Klausel wegen der in § 3 S. 1 MiLoG schon nach dem Wortlaut „insoweit“ angeordneten geltungserhaltenden Reduktion bei Gesetzesverstoß wirksam. Dafür spricht auch der systematische Zusammenhang des § 3 MiLoG mit dem Mindestlohnanspruch des § 1 MiLoG und der Sinn und Zweck der Vorschrift, der eben nur dahin geht, dem Arbeitnehmer seinen Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn zu erhalten und über die übrigen Gehaltsbestandteile keine Aussage trifft. 2. Unwirksamkeit nach den §§ 305 ff. BGB a) Anwendbarkeit der §§ 305 ff. BGB Die AGB-Kontrolle nach den §§ 305 ff. BGB findet auf Arbeitsverträge Anwendung, dabei sind die im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten angemessen zu berücksichtigen, §§ 310 Abs. 4 S. 2 BGB. b) Vorliegen von AGB Grundsätzlich kontrollfähige AGB sind nach § 305 Abs. 1 S. 1, 3 BGB alle für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierten Vertragsbedingungen, die eine Vertragspartei der anderen Partei bei Abschluss des Vertrags stellt und die nicht im Einzelnen ausgehandelt sind. Hier wurde dem N von der G ein vorformulierte und üblicherweise verwendeter Formulararbeitsvertrag vorgelegt und der Vertragsinhalt nicht zur Disposition gestellt, sodass die Klausel in § 12 des Arbeitsvertrags eine grundsätzlich kontrollfähige AGB in diesem Sinn darstellt. Die §§ 305 ff. BGB sind damit anwendbar. c) Einbeziehung der Klausel in den Vertrag aa) Willenseinigung Nach § 310 Abs. 4 S. 2 BGB findet § 305 Abs. 2 BGB bei der Kontrolle vorformulierte Vertragsbedingungen im Arbeitsrecht keine Anwendung. Die Einbeziehung vollzieht sich somit nach den allgemeinen Regeln. N und G haben sich durch Unterzeichnung des Vertrags über die Einbeziehung der AGB geeinigt. bb) Keine überraschende Klausel Möglicherweise ist die Ausschlussfrist in § 12 des Arbeitsvertrags eine überraschende Klausel nach § 305c Abs. 1 BGB und daher nicht Vertragsbestandteil geworden. Nach § 305c Abs. 1 BGB werden Bestimmungen in AGB, die nach den Umständen, insbesondere nach dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrags, so ungewöhnlich sind, dass der Vertragspartner des Verwenders mit ihnen nicht zu rechnen braucht, nicht Vertragsbestandteil. Das setzt objektiv eine ungewöhnliche Klausel voraus, mit der der Arbeitnehmer subjektiv nicht zu rechnen brauchte.12 Dabei kann sich das Überraschungsmoment sowohl aus der formalen Vertragsgestaltung als auch aus einer materiellen Überraschung ergeben.

12 BAG 13.3.2013 NZA 2013, 680, 685.

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Die Vertragsgestaltung hier ist jedenfalls nicht formell überraschend. Die Ausschlussfrist ist nicht etwa formal versteckt,13 sondern in einem eigenen Abschnitt mit einer aussagekräftigen Überschrift versehen. Dafür, dass N aus sonstigen Gründen nicht mit einer derartigen Klausel rechnen musste, sind keine Anhaltspunkte ersichtlich. Die Ausschlussfrist dürfte aber auch nicht materiell überraschend sein. Das wird von der ganz herrschenden Meinung bei Ausschlussfristen nicht angenommen mit Blick auf die flächendeckende, weit verbreitete Verwendung von Ausschlussfristen in nahezu jedem Arbeitsvertrag.14 [a.A. mit entsprechender Begründung noch vertretbar, wird aber in Rspr. und Literatur soweit ersichtlich nirgends vertreten] Grundsätzlich könnte sich ein Überrumpelungseffekt auch aus einer fremden Vertragssprache ergeben. Der Umstand, dass die Klausel hier in deutscher Sprache verfasst ist, war N bei der Unterzeichnung aber ohne weiteres ersichtlich. Auch bei sprachunkundigen Arbeitnehmern greift § 305c Abs. 1 BGB nur bei einem inhaltlichen Widerspruch zwischen den Erwartungen des Vertragspartners und dem Inhalt der Klausel.15 N hatte hier gar keine Erwartungen an den Inhalt des Vertrags. § 12 des Arbeitsvertrags ist daher keine überraschende Klausel im Sinn von § 305c Abs. 1 BGB. cc) Zwischenergebnis Die Klausel in § 12 des Arbeitsvertrags ist damit Vertragsbestandteil geworden. d) Inhaltskontrolle § 12 des Arbeitsvertrags könnte nach §§ 307 bis 309 BGB unwirksam sein. aa) Eröffnung der Inhaltskontrolle Nach § 307 Abs. 3 BGB sind nur Bestimmungen in AGB, durch die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen vereinbart werden, kontrollfähig. Nach der Ausschlussfrist in § 12 des Arbeitsvertrags verfallen die beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsvertrag, wenn sie nicht innerhalb von 3 Monaten nach Fälligkeit in Textform geltend gemacht werden. Darin liegt eine Abweichung von den Regelungen über die 3-jährige Regelungsverjährung der §§ 195, 199 BGB, einerseits mit Blick auf den Beginn der Frist nicht mit Kenntnis sondern mit Fälligkeit, andererseits mit Blick auf die kurze Dauer der Frist. Außerdem liegt eine Abweichung von § 214 Abs. 1 BGB vor, wonach die Einrede der Verjährung zu erheben ist, während die Ausschlussfrist zum automatischen Verfall der Ansprüche führen soll. Es handelt sich daher um eine kontrollfähige Regelung.16 bb) Verstoß gegen Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit § 12 des Arbeitsvertrags verstößt nicht gegen ein Klauselverbot ohne Wertungsmöglichkeit. Die von § 309 Nr. 7 BGB erfassten Ansprüchen nimmt die Klausel ausdrücklich aus. Auch

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So angenommen in BAG 31.8.2005 NZA 2006, 324 Rn. 24 f. BAG 25.5.2005 NZA 2005, 1111, 1113 m.w.N. BAG 19.3.2014 NZA 2014, 1076, 1080. BAG 25.5.2005 NZA 2005, 1111, 1112.

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ein Verstoß gegen § 309 Nr. 13 BGB liegt nicht vor, weil keine strengere Form als die Textform verlangt ist. cc) Verstoß gegen Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit Auch ein Verstoß gegen § 308 Nr. 4 BGB liegt nicht vor. Denn Ausschlussfristen bezwecken schlicht das Erlöschen von Rechten. Ein Recht des Verwenders, die Leistung zu verändern oder von ihr abzuweichen, ist damit nicht verbunden. dd) Verstoß gegen die Generalklausel des § 307 Abs. 1 S. 1 und das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB Nach der Generalklausel des § 307 Abs. 1 BGB sind Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine unangemessene Benachteiligung kann sich dabei auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist. Nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB ist eine unangemessene Benachteiligung im Zweifel anzunehmen, wenn die Bestimmung mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist. (1) Ausgangspunkt der ganz herrschenden Meinung: Keine unangemessene Benachteiligung Nach ganz herrschender Meinung17 sind 3-monatige Ausschlussfristen, die an die Fälligkeit des Anspruchs anknüpfen, zulässig. Aus § 202 Abs. 1 BGB ergebe sich, dass eine Abkürzung von Verjährungsfristen, abgesehen von Vorausvereinbarungen hinsichtlich der Haftung wegen Vorsatzes, grundsätzlich zulässig ist. Das gelte entsprechend für die Vereinbarung von Ausschlussfristen, die die gesetzlichen Verjährungsfristen unterschreiten. Die vereinbarte Ausschlussfrist müsse dem Gläubiger aber eine faire Chance lassen, seine Ansprüche durchzusetzen. Bei der Bestimmung der angemessenen Länge der Frist sei zu berücksichtigen, dass in arbeitsrechtlichen Gesetzen verhältnismäßig kurze Fristen zur Geltendmachung vorgesehen würden. Eine Kündigungsschutzklage sei gemäß § 4 KSchG innerhalb von 3 Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung zu erheben. Die gleiche Frist gelte für Befristungskontrollklagen nach § 17 S. 1 TzBfG. Nach § 61b Abs. 1 ArbGG, § 15 Abs. 4 S. 1 AGG muss die Klage wegen Benachteiligung innerhalb von 3 Monaten nach der schriftlichen Geltendmachung des Anspruchs erhoben werden. Auch Tarifverträge enthielten vielfach gegenüber den gesetzlichen Verjährungsfristen noch deutlich kürzere Ausschlussfristen von wenigen Wochen bis hin zu mehreren Monaten. Solche Fristen wirkten sich auf die in der Praxis des Arbeitslebens erwartete Dauer eine Ausschlussfrist aus. Sie seien in ihrer Gesamtheit als im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten gemäß § 310 Abs. 4 S. 2 BGB angemessen zu berücksichtigen. Das Leitbild des gesetzlichen Verjährungsrechts und die Berücksichtigung der üblichen tariflichen Ausschlussfristen lasse daher eine Frist von 3 Monaten als angemessen erscheinen. Unproblematisch sei auch der Fristbeginn mit Fälligkeit. Zwar beginne die regelmäßige Verjährungsfrist nach § 199 Abs. 1 BGB erst mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und 17 Stellv., auch für die folgenden Argumente vor allem die std. Rspr. seit BAG 25.5.2005 NZA 2005, 1111, 1113 f. Vgl. daneben BAG 16.3.2016 NZA 2016, 154 Rn. 37.

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der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen. Denn § 310 Abs. 4 S. 2 BGB verlange eine angemessene Berücksichtigung der im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten. Üblicherweise würden tarifliche Ausschlussfristen ebenfalls die Geltendmachung nach Fälligkeit verlangen. Das entspreche auch dem Zweck von Ausschlussfristen, rasch Rechtsklarheit zu schaffen. Die hier verwendete, 3-monatige Ausschlussfrist verstößt danach nicht gegen § 307 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB. [A.A. sehr gut vertretbar.18 Argumentiert werden kann auf mehreren Ebenen, u.a. mit Folgendem: (1) Nach § 305c Abs. 2 BGB beginnt die Ausschlussfrist mit Fälligkeit – also unabhängig von der Kenntnis vom Anspruch – zu laufen. Nach dem verbindlichen Leitbild der gesetzlichen Verjährungsregeln (§ 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB) sind aber kenntnisunabhängig laufende Fristen sehr lang, und nur kenntnisabhängig laufende Fristen kürzer. (2) Für die Abweichung vom Leitbild der Verjährung, die nach der gesetzgeberischen Konzeption dem Beschleunigungsinteresse des Schuldners hinreichend Rechnung trägt, ist nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB ein sachlicher Grund erforderlich, ein Grund, warum es gerade im Arbeitsverhältnis ein besonderes Beschleunigungsinteresse geben sollte, ist nicht ersichtlich – es wäre dem Betriebsfrieden wohl eher dienlich, wenn sich die Parteien nur ein einziges mal, ggf. bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses streiten müssten, als im Extremfall monatlich, um den Lauf der Ausschlussfristen zu hemmen. Wird dem Arbeitnehmer kenntnisunabhängig sein wohlerworbener Anspruch nach kurzer Zeit aus der Hand geschlagen, ist wohl eher Unfrieden die Folge. (3) Von Ausschlussfristen profitieren gerade nicht die Arbeitgeber, die in ein leistungsfähiges Controlling investiert haben oder die tarifgebunden sind (in den meisten Tarifverträgen sind Ausschlussfristen vorgesehen), sondern deren Konkurrenz, die davon abgesehen hat. (4) Besonderheiten des Arbeitsrechts (§ 310 Abs. 4 S. 2 BGB) im Sinn eines Rechtsgrundsatzes „Im Arbeitsrecht muss es immer schnell gehen“ gibt es nicht, es handelt sich bei kurzen Fristen wie § 626 Abs. 2 BGB (der im Übrigen auch für die allgemeinzivilrechtlichen Dienstverträge gilt) und bei § 4 KSchG um punktuelle Regelungen, die auch noch immer anders als die üblichen Ausschlussfristen an ein Moment der Kenntnisnahmemöglichkeit anknüpfen. (5) Die üblichen Klauseln nehmen verschiedene zwingende Ansprüche, auf die der Arbeitnehmer nicht verzichten kann (TVG, BetrVG, BUrlG, EFZG u.v.m.), nicht ausdrücklich von ihrem Anwendungsbereich aus und sind daher mindestens intransparent. (6) Aus einer tatsächlichen Üblichkeit von kurzen Ausschlussfristen in Tarifverträgen ergibt sich noch keine Besonderheit des „Rechts“ im Arbeitsrecht, dessen Besonderheiten angemessen zu berücksichtigen sind, im Übrigen kommt den Tarifverträgen im Gegensatz zu Individualverträgen auch eine Angemessenheitsvermutung zu; schließlich stehen im Geltungsbereich von Tarifverträgen üblicherweise auch gewerkschaftliche Organisationen bereit, die bei der Rechtsdurchsetzung helfen können. (2) Besonderheiten wegen der Sprachunkundigkeit des N Möglicherweise könnte die Sprachunkundigkeit des N zur Intransparenz der Klausel nach § 307 Abs. 1 S. 2 BGB und damit zur Unwirksamkeit führen. Denn nach § 310 Abs. 3 Nr. 3 BGB finden bei Verbraucherverträgen in der Beurteilung der unangemessenen Benachteiligung auch die vertragsschlussbegleitenden Umstände Berücksichtigung. Der Arbeitnehmer ist nach ganz herrschender Auffassung Verbraucher, weil er sich vom Wortlaut her unter die Vorschrift des § 13 BGB, der gerade keinen konsumtiven Zweck voraussetzt, subsumieren lässt, weil systematisch § 491 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 BGB den Arbeitnehmer als Verbraucher ein-

18 Eingehend Seiwerth, ZFA 2019 Heft 11.

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ordnet und weil teleologisch nicht einzusehen ist, warum gerade der Arbeitnehmer weniger Schutz genießen soll als jemand, der einen kleinen Kaufvertrag oder sonstigen Verbrauchervertrag mit kleinem Volumen abschließt. Der Begriff der begleitenden Vertragsumstände in § 310 Abs. 3 Nr. 3 BGB wird weit verstanden und umfasst insbesondere persönliche Eigenschaften des individuellen Vertragspartners, die sich auf die Verhandlung stärker auswirken, ferner Besonderheiten der konkreten Vertragsabschluss Situation (etwa Überrumpelung, Belehrung oder untypische Sonderinteressen des Vertragspartners).19 Auch die Sprachunkundigkeit des Arbeitnehmers als persönliche Eigenschaft zählt grundsätzlich zu derartigen Begleitumständen, sie kann allerdings nicht allein zu einer Unwirksamkeit von Vertragsbestimmungen führen, die einer Inhaltskontrolle nach abstrakt-generellen Kriterien standhalten, da sonst die Wirksamkeit jeder AGB – unabhängig von ihrem Inhalt – unter dem Vorbehalt stünde, dass der Klauselinhalt von dem konkreten Vertragspartner intellektuell verstanden werden konnte. Dies widerspräche offensichtlich dem abstrakt-generellen Prüfungsmaßstab des § 307 Abs. 1 BGB, der durch § 310 Abs. 3 Nr. 3 BGB lediglich ergänzt, aber nicht vollständig verdrängt wird. Zur Sprachunkundigkeit des Arbeitnehmers müssen deshalb weitere Umstände hinzukommen, wie etwa das Drängen des Arbeitgebers, den Arbeitsvertrag ohne vorherige Übersetzung zu unterschreiben, oder die Versicherung, der Arbeitsvertrag enthalte keine Regelungsgegenstände, die nicht im Vorfeld erörtert worden seien.20 So liegt die Lage hier nicht. Allein die Sprachunkundigkeit des N begründet daher keine Intransparenz der Ausschlussfrist. (3) Intransparenz wegen Nichtausnahme des Mindestlohnanspruchs Allerdings könnte § 12 des Arbeitsvertrags gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB verstoßen und damit den N als Klauselgegner entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen und folglich gemäß § 307 Abs. 1 S. 1 BGB unwirksam sein.21 Das Transparenzgebot verpflichtet den Verwender von Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die Rechte und Pflichten seines Vertragspartners klar und verständlich darzustellen. Wegen der weitreichenden Folgen von Ausschlussfristen muss aus der Verfallklausel, wenn diese dem Transparenzgebot genügen soll, ersichtlich sein, welche Rechtsfolgen der Vertragspartner des Verwenders zu gegenwärtigen hat und was er zu tun hat, um deren Eintritt zu verhindern. Eine Klausel, die die Rechtslage unzutreffend oder missverständlich darstellt und auf diese Weise dem Verwender ermöglicht, begründete Ansprüche unter Hinweis auf die in der Klausel getroffene Regelung abzuwehren, und die geeignet ist, dessen Vertragspartner von der Durchsetzung bestehender Rechte abzuhalten, benachteiligt den Vertragspartner entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen. Nach dem weit gefassten Wortlaut von § 12 des Arbeitsvertrags ist, trotz der Ausschlüsse, auch der Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn gemäß § 1 Abs. 1, Abs. 2 MiLoG von der Ausschlussfrist umfasst. Auch eine an Sinn und Zweck orientierte Auslegung ergibt, dass der Anspruch auf Zahlung des Mindestlohns von der Ausschlussklausel mit umfasst sein soll. Der Anspruch auf Entgelt für geleistete Arbeit betrifft nicht nur ein selten auftretenden, von den Vertragsparteien nicht für regelungsbedürftig gehaltenen Sonderfall, sondern ist der

19 BAG 31.8.2005 NZA 2006, 324, 328. 20 BAG 19.3.2014 NZA 2014, 1076, 1081. 21 Die nachfolgenden Ausführungen zur Intransparenz sind im Wesentlichen BAG 18.9.2018 NZA 2018, 1619 Rn. 35 ff. entnommen.

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Hauptanwendungsbereich von Ausschlussfristen, den die Parteien eines Arbeitsvertrags bei der Vereinbarung einer Ausschlussfrist vor allem im Blick haben. Eine solche Ausschlussfristenregelung suggeriert – ausgehend von dem bei der Auslegung allgemeiner Geschäftsbedingungen im Sinn von § 307 Abs. 1 S. 1 BGB anzuwendenden abstrakt-generellen Prüfungsmaßstab dem verständigen Arbeitnehmer, er müsse auch den Anspruch auf die nach § 1 Abs. 1, 2 MiLoG ab dem 1.1.2015 zu zahlenden gesetzlichen Mindestlohn innerhalb der vorgesehenen Ausschlussfristen geltend machen. Damit besteht die Gefahr, dass der Arbeitnehmer nach dem Verstreichen der vertraglichen Ausschlussfrist den gesetzlichen Mindestlohnanspruch in der Annahme, er sei verfallen, nicht mehr durchsetzt, obwohl sein Verfall nach § 3 S. 1 MiLoG ausgeschlossen ist. Vor diesem Hintergrund stellt § 12 des Arbeitsvertrags die Rechtslage unzutreffend dar, weil nach § 3 S. 1 MiLoG gilt, dass Vereinbarungen insoweit unwirksam sind, als sie den Anspruch auf Mindestlohn unterschreiten oder seine Geltendmachung beschränken oder ausschließen. Das Erfordernis der expliziten Ausnahme des Anspruchs auf Mindestlohn von der Ausschlussfrist würde für den Klauselverwender auch keine unzumutbaren Anforderungen stellen. [Auch für eine gelungene Bearbeitung wird eine Argumentation in dieser Tiefe oder die Rechtsprechung nicht erwartet. Erwartet werden kann aber wegen des Hinweises im Sachverhalt, dass sich die Bearbeiter mit dem Verhältnis der uneingeschränkten Ausschlussfrist und dem Mindestlohnanspruch befassen. Zu erwarten ist, dass einige Bearbeiter anders als das BAG das Problem nicht unter dem Aspekt der Transparenz, sondern der inhaltlich unangemessenen Benachteiligung bearbeiten. Das ist dann nicht zutreffend, wenn geprüft wird, ob der Verfall des Anspruchs auf den gesetzlichen Mindestlohn unangemessen benachteiligend ist, denn dieser kann nach § 3 S. 1 MiLoG nicht verfallen.] Insgesamt ist § 12 des Arbeitsvertrags entgegen § 307 Abs. 1 S. 2 BGB nicht hinreichend klar und verständlich, weil der Anspruch des Arbeitnehmers auf Zahlung des Mindestlohns umfasst und damit die Rechtslage unzutreffend dargestellt wird. (4) Ausnahmsweise Teilunwirksamkeit? Rechtsfolge einer intransparenten und damit unangemessenen benachteiligenden Klausel ist grundsätzlich deren Unwirksamkeit, an die Stelle der unwirksamen Klausel tritt das dispositive Recht, hier nach §§ 195, 199 BGB die kenntnisabhängige dreijährige Regelverjährung, § 306 Abs. 2 BGB. Eine geltungserhaltende Reduktion auf ein nach den §§ 307–309 BGB gerade noch zulässiges Maß ist nach Sinn und Zweck der AGB Kontrolle unzulässig. Nur so lässt sich verhindern, dass der Verwender eine für ihn äußerst günstige Regelung trifft und diese bei Beanstandungen nur auf das gerade noch zulässige Maß zurückgeführt wird.22 Eine ergänzende Vertragsauslegung kommt nur in Betracht, wenn eine Regelung in den dispositiven Vorschriften zur Ausfüllung der Regelungslücke fehlt.23 Das ist hier nicht der Fall, denn mit den Vorschriften der gesetzlichen Verjährung existieren entsprechende Regelungen. Teile des Schrifttums24 nehmen an, dass § 3 S. 1 MiLoG die speziellere Regelung gegenüber §§ 305 ff. BGB sei. Der Verstoß des Arbeitgebers gegen § 3 S. 1 MiLoG durch eine uneingeschränkte Ausschlussfristenregelung führe insoweit nur zu einer Teilunwirksamkeit der vom

22 Std. Rspr., BAG 4.3.2004 NZA 2004, 727, 734. 23 BAG 27.1.2016 NZA 2016, 679 Rn. 31. 24 Stellv. Riechert/Nimmerjahn, MiLoG, 2. Aufl., § 3 Rn. 28.

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Fall 18 „Ausschlussfrist? Ich versteh nur Spanisch!“

Arbeitgeber gestellten Ausschlussfrist, die aber im Übrigen wirksam bleibe. Argumentiert wird vor allem mit dem Wortlaut von § 3 S. 1 MiLoG „insoweit unwirksam“. Nach Auffassung des BAG liegt dagegen keine Spezialität vor.25 Spezialität verlange, dass die Verdrängung der Rechtsnorm sämtliche Merkmale der allgemeinen Norm enthält diese noch ein besonderes Merkmal zur Bildung ihres Tatbestandsbegriffs hinzufügt. Eine solche Spezialität scheidet hier aus, weil sich § 3 S. 1 MiLoG zu der Transparenz von Ausschlussfristen und den Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen das Transparenzgebot nicht verhält. Denkbar wäre noch eine Subsidiarität der §§ 305 ff. BGB gegenüber § 3 S. 1 MiLoG. Dabei geht es um das Zurücktreten einer Norm aufgrund eines ausdrücklichen oder stillschweigenden Gesetzesbefehls, dessen Vorliegen durch Auslegung der an sich gleichrangigen Normen zu ermitteln ist. Der Wortlaut von § 3 S. 1 MiLoG schränkt den Anwendungsbereich von § 307 Abs. 1 S. 2 und § 306 BGB nicht ein. § 3 S. 1 MiLoG untersagt die Vereinbarung von Ausschlussfristen für den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn. Aus der Formulierung „insoweit unwirksam“ lässt sich nicht ableiten, die Bestimmung ordne – im Umkehrschluss – zugleich die Wirksamkeit transparenter Ausschlussfristen oder deren geltungserhaltende Reduktion auf ein rechtlich nicht zu beanstanden Kern an. Andernfalls hätte es nicht „insoweit unwirksam“, sondern „nur insoweit unwirksam“ heißen müssen. Für eine lediglich klarstellende Bedeutung des Wortes „insoweit“ in § 3 S. 1 MiLoG spricht auch die Systematik des Mindestlohngesetzes. Der Mindestlohn für das gesetzliche Anspruch eigenständig neben den arbeitsvertraglichen Entgeltanspruch. § 3 S. 1 MiLoG führt bei Unterschreiten des Mindestlohnanspruchs zu einem Differenzanspruch, nicht aber zur Nichtigkeit der Entgeltabrede. Das Mindestlohngesetz geht damit von einer Anspruchskonkurrenz des Mindestlohnanspruchs zu den aufgrund sonstiger Vereinbarung bestehenden Vergütungsansprüchen des Arbeitnehmers aus. Ausgehend von diesem gesetzlichen Regelungskonzept hätte es für die Annahme, § 3 S. 1 MiLoG stelle mit der Formulierung „insoweit unwirksam“ zugleich die Wirksamkeit von Ausschlussfristen im Übrigen fest, deutliche Anhaltspunkte im Gesetz bedurft. Daran fehlt es. Mit dem Normzweck von § 3 S. 1 MiLoG, den Mindestlohnanspruchs des Arbeitnehmers zu sichern und seine Umgehung durch missbräuchliche Konstruktionen zu verhindern wäre die Annahme nicht in Einklang zu bringen, § 3 S. 1 MiLoG erhalte im Wege einer gesetzlich vorgegebenen Teilbarkeit oder geltungserhaltenden Reduktion Ausschlussfristen aufrecht, die aufgrund ihres irreführenden Inhalts die Gefahr in sich bergen, der Arbeitnehmer werde den gesetzlichen Mindestlohnanspruch nach Verstreichen der gesetzten Ausschlussfrist im Glauben, er sei verfallen, nicht mehr geltend machen. Ein Verständnis in diesem Sinn hätte die paradoxe Folge, dass der Schutz, den § 3 S. 1 MiLoG dem Arbeitnehmer vermitteln will, indem er den Mindestlohnanspruch Ausschlussfristen entzieht, zugleich durch eine Beschränkung der Kontrolle überschießender Ausschlussfristen nach Maßgabe der dem Schutz des Arbeitnehmers als Vertragspartner des Verwenders dienenden §§ 305 ff. BGB unterlaufen würde. [Auch hier wird eine Kenntnis des Streitstands nicht erwartet. Entsprechendes Problembewusstsein anknüpfend an das „insoweit unwirksam“ in § 3 S. 1 MiLoG ist zu honorieren.] Die §§ 305 ff. BGB sind daher neben § 3 S. 1 MiLoG uneingeschränkt anwendbar. Eine geltungserhaltende Reduktion oder sonstige Teilunwirksamkeit scheidet somit aus.

25 Die Ausführungen zur Teilunwirksamkeit hier geben im Wesentlichen BAG 18.9.2018 NZA 2018, 1619 Rn. 66 ff. wieder.

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e) Zwischenergebnis Die Regelung in § 12 des Arbeitsvertrags ist wegen Nichtausnahme des Anspruchs auf den gesetzlichen Mindestlohn intransparent und daher unangemessen benachteiligend und damit nach § 307 Abs. 1 S. 1, 2 BGB unwirksam. An die Stelle dieser Regelung tritt die gesetzliche Verjährung nach §§ 195, 199 BGB.

III. Ergebnis Die zulässige Klage des N ist begründet, weil N gegen G einen Anspruch auf Zahlung des Arbeitsentgelts für den Monat Juni 2019 hat. Der Anspruch ist nicht nach der Ausschlussfrist in § 12 des Arbeitsvertrags verfallen, die Klausel ist insoweit unangemessen benachteiligend und unwirksam.

D. Lösungsvorschlag Abwandlung – Beratung der Rechtsanwältin Was die Rechtsanwältin der G hinsichtlich der Beendigung des Arbeitsverhältnisses der G mit N raten wird, hängt davon ab, welche Gestaltungsmittel rechtlich erfolgversprechend und tatsächlich am zweckmäßigsten sind. In Betracht kommen hier außerordentliche Kündigung, ordentliche Kündigung und Anfechtung. [Die Reihenfolge, in der die Gestaltungsrechte geprüft werden, ist hier nicht ausschlaggebend. Nach Bejahung eines der Rechte kann aber nicht die Prüfung beendet werden, weil sonst keine Zweckmäßigkeitserwägungen, also die Beantwortung der Frage, welches Vorgehen für die G günstiger ist, getroffen werden können.]

I. Ordentliche Kündigung des N [Da hier aus Beratersicht nach Gestaltungsmöglichkeiten gefragt ist, muss das übliche Schema der Kündigungsschutzklage angepasst werden. Wie üblich zuerst zu fragen, ob eine Kündigungserklärung vorliegt, dann, ob die Kündigungsfrist eingehalten ist und dann, ob materielle Präklusion eingetreten ist, wäre nach dieser Aufgabenstellung fehlplatziert.] Die Erklärung einer ordentlichen Kündigung gegenüber N kommt in Betracht, wenn der Kündigung keine Unwirksamkeitsgründe entgegenstünden. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe sind nicht ersichtlich. Die Kündigung dürfte aber nicht sozial ungerechtfertigt nach § 1 Abs. 1, 2 KSchG sein. 1. Anwendbarkeit des KSchG Das KSchG müsste zunächst anwendbar sein. Der Betrieb der B hat mehr als 10, nämlich 83 Arbeitnehmer. Die Anforderungen an die Betriebsgröße des § 23 Abs. 1 S. 2, 3 BetrVG sind damit erfüllt. N ist Arbeitnehmer, der schon länger als sechs Monate bei der G beschäftigt ist, § 1 Abs. 1 KSchG. Das Kündigungsschutzgesetz ist daher anwendbar.

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2. Vorliegen eines Kündigungsgrunds Die Kündigung des N könnte als personenbedingte Kündigung sozial gerechtfertigt sein. Eine personenbedingte Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt, wenn ein in der Person des Arbeitnehmers liegender Grund zu einer erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher oder vertraglicher Interessen des Arbeitgebers führt, sich diese Beeinträchtigung aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft fortsetzen wird (Negativprognose) und sie weder durch eine Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz noch sonstige mildere Mittel abgewendet werden kann (Ultima-Ratio-Prinzip) und das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt seines Arbeitsplatzes überwiegt (Interessenabwägung). a) Grund in der Person G erhält (weitere) Aufträge nur, wenn sie die von ihren Auftraggebern vorgegebenen Normen mit den entsprechenden Fehlerhöchstquoten einhält. Dafür ist es bei der Organisation des Betriebs der G erforderlich, dass die Arbeitnehmer sich an die vorgegebenen detaillierten Fehlerchecklisten, Handbücher, Wartungsvorgaben und ähnliches halten und Auffälligkeiten entsprechend detailliert und nachvollziehbar schriftlich rückmelden. Daher bildet die ausreichende Kenntnis der deutschen Schriftsprache eine wesentliche Anforderung an die persönliche Eignung der Arbeitnehmer bei G. N ist nicht in der Lage, in deutscher Sprache abgefasste Anweisungen zu lesen, zu verfassen und zu verstehen. Ihm fehlt daher die persönliche Eignung, um seine Vertragspflichten zu erfüllen. Es besteht daher grundsätzlich ein Kündigungsgrund in der Person des N. [Denkbar wäre es hier auch gewesen, einen verhaltensbedingten Kündigungsgrund, anknüpfend an die Weigerung des N, Sprachkurse zu besuchen, anzunehmen. Dann müsste man allerdings annehmen, dass es sich bei der Belegung von Sprachkursen auch allgemein um eine arbeitsvertragliche Pflicht handelt, die N schuldhaft durch seine Weigerung verletzt. Das ist eher fernliegend.] b) Keine verbotene Diskriminierung Wäre die Kündigung des N eine verbotene Diskriminierung nach § 7 AGG, könnte der entsprechende Grund in der Person des Arbeitnehmers die Kündigung jedoch nicht rechtfertigen. § 2 Abs. 4 AGG bestimmt zwar, dass für Kündigungen ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz gelten. Daraus folgt aber nicht, dass das AGG für Kündigungen unbeachtlich wäre und diskriminierende Kündigungen zulässig sind. Das wäre auch ein richtlinienwidriges Ergebnis. Dem Gesetzgeber ging es durch die missverständliche Formulierung darum, den Konflikt zwischen zwei Schutzsystemen, nämlich dem Kündigungsschutz und dem Diskriminierungsschutz, aufzulösen. Im Anwendungsbereich des allgemeinen Kündigungsschutzes nach dem KSchG bedeutet die Bereichsausnahme somit, dass sich die Wirksamkeit der Kündigung nach § 1 Abs. 1 KSchG beurteilt und nicht zusätzlich nach § 7 Abs. 1 AGG i.V.m. § 134 BGB. Die Prüfung, ob der geltend gemachte Kündigungsgrund gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG verstößt, ist im Rahmen der Wertungen des KSchG zu prüfen.

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K Kontext: Es ist schlechthin unverständlich, dass der Gesetzgeber das AGG auf Kündigungen für nicht anwendbar erklärt hat, sondern nur auf den allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz verweist, § 2 Abs. 4 AGG. Die Herausnahme des Kündigungsrechts verstößt formal gegen die Richtlinienvorgaben der EU (Art. 3 Abs. 1 lit. c RL 2000/43/EG, RL 2000/78/EG). Die Rechtsprechung ist hier den Weg gegangen, die vorhandenen Normen richtlinienkonform auszulegen. Nach dem BAG26 sind für den Bereich des Kündigungsschutzes nach dem KSchG die Diskriminierungsverbote des AGG im Rahmen des KSchG zu beachten. Zwar ordne § 2 Abs. 4 AGG an, dass für Kündigungen ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz gelten sollen, jedoch sei darin kein vollständiger Ausschluss der Anwendung des AGG auf Kündigungen zu sehen. Später hat das BAG diese Linie für Kündigungen außerhalb des Bereichs des KSchG erweitert und hält entsprechende diskriminierende Kündigungen gem. § 134 BGB i.V.m. §§ 7, 1, 3 AGG für unwirksam.27 Das BAG vollzieht hier eine teleologische Reduktion der Norm, weil der Gesetzgeber erkennbar lediglich den Konflikt zwischen zwei Schutzsystemen ausschließen wollte. Es sollte vermieden werden, dass bei diskriminierenden Kündigungen neben der Kündigungsschutzklage nach dem KSchG noch eine „Diskriminierungsklage“ nach dem AGG erhoben werden kann. Die Unwirksamkeit der Kündigung sollte einheitlich für alle Fälle im dafür vorgesehenen Kündigungsschutzverfahren geklärt werden.28 Für den Aufbau im Gutachten bedeutet das, dass die diskriminierende Kündigung bei anwendbarem KSchG im Rahmen des (personen-, betriebs- oder verhaltensbedingten) Kündigungsgrunds anzusprechen ist, bei Kündigungen außerhalb des KSchG bei den allgemeinen Unwirksamkeitsgründen. aa) Anwendbarkeit N ist Arbeitnehmer und damit Beschäftigter gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1 AGG, weiterhin geht es bei der Kündigung um seine „Entlassungsbedingungen“, § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG. Der Anwendungsbereich des AGG ist damit eröffnet. bb) Benachteiligungsgrund Ein nach § 1 AGG verbotenes Differenzierungsmerkmal könnte die ethnische Herkunft des N sein. Die aus Spanien stammende Bevölkerung bildet eine ethnische Gruppierung, die durch gemeinsame Herkunft, Geschichte, Kultur und Zusammengehörigkeitsgefühl verbunden ist. G gehört durch seine Kindheit, Jugend und frühe Erwachsenenzeit in Spanien zu dieser Gruppe und fühlt sich ihr, wie sich in der Weigerung, die deutsche Schriftsprache zu erlernen zeigt, noch immer verbunden. cc) Benachteiligungsform Das AGG verbietet vor allem die unmittelbare und die mittelbare Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grunds, § 3 Abs. 1, 2 AGG. Eine unmittelbare Benachteiligung des N läge vor, wenn er wegen seiner ethnischen Herkunft eine weniger günstige Behandlung erführe als eine andere Person in einer vergleich26 BAG 6.11.2008 NZA 2009, 361. 27 BAG 19.12.2013 NZA 2014, 372 Rn. 14; BAG 23.7.2015 NZA 2015, 1380 Rn. 23. 28 BAG 6.11.2008 NZA 2009, 361 Rn 40.

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baren Situation, § 3 Abs. 1 AGG. Die Anforderung, die deutsche Schriftsprache angemessen zu beherrschen, knüpft aber nicht unmittelbar an die ethnische Herkunft des Arbeitnehmers an, denn diese kann unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Ethnie beherrscht oder nicht beherrscht werden.29 Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn ein dem Anschein nach neutrales Kriterium den N wegen seiner ethnischen Herkunft gegenüber anderen Beschäftigten in besonderer Weise benachteiligen kann, § 3 Abs. 2 AGG. Die Anforderung deutscher Schriftsprachkenntnisse kann einen Arbeitnehmer einer anderen Ethnie als der deutschen im Vergleich zu deutschen Arbeitnehmern in besonderer Weise benachteiligen, denn diese Kenntnisse haben typischerweise tendenziell diejenigen Arbeitnehmer, die nicht deutsche Ethnie und damit in der Regel nicht deutsche Muttersprachler sind, nicht oder weniger stark ausgeprägt.30 [a.A. vertretbar, abschwächend auch eine jüngere Entscheidung des BAG, allein die Anforderung sehr guter Deutschkenntnisse reiche nicht aus, um damit eine Bevorzugung einer Ethnie wegen dieses Grundes zu bewirken. Es müssten vielmehr andere Indizien hinzukommen, die auf eine Benachteiligung „wegen“ der ethnischen Herkunft schließen lassen.31] dd) Rechtfertigung der Benachteiligung Bei der mittelbaren Benachteiligung ist die fehlende Rechtfertigung Tatbestandsmerkmal, § 3 Abs. 2 Hs. 2 AGG. Die bestimmte Ethnien benachteiligende Anforderung der Beherrschung der deutschen Schriftsprache könnte durch ein rechtmäßiges Ziel, wobei die Mittel zur Erreichung dieses Ziels erforderlich und angemessen sein müssten, sachlich gerechtfertigt sein. Rechtmäßige Ziele können alle nicht ihrerseits diskriminierenden und auch sonst erlaubten Ziele sein. Daher fallen darunter auch betriebliche Anforderungen an die Qualifikation und Eignung von Arbeitnehmern. Konkret hier ist das verfolgte Ziel der Anforderung an Schriftsprachkenntnisse, die vorgegebenen Normen und Fehlerquoten anhand u.a. der detaillierten Checklisten und Handbücher zu erfüllen. Ohne deren Erfüllung müsste die G mangels Aufträgen ihr Unternehmen aufgeben. Dieses Ziel ist rechtmäßig. Die Forderung ausreichender Schriftsprachkenntnisse müsste zur Erreichung dieses Ziels auch erforderlich sein. Ein geeignetes milderes Mittel zur Fehlervermeidung in diesem Fertigungsbereich als die Arbeit mit Handbüchern, Checklisten und auch schriftlichen Rückmeldungen ist nicht ersichtlich. N bringt hier vor, seine Arbeitsleistung habe in den letzten 35 Jahren trotz fehlender Schriftsprachkenntnisse keinen Anlass zur Beanstandung gegeben. Aus der störungsfreien Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber folgt aber nicht unmittelbar etwas für die Erforderlichkeit von Anforderungen bei einem anderen Arbeitnehmer. Auch die störungsfreien ersten sechs Monate der Tätigkeit des N bei G sind wohl eher auf die Anleitung der Vorgängerin zurückzuführen. Das Mittel der Forderung von Schriftsprachkenntnissen ist auch angemessen. Theoretisch in Betracht kommende Alternativen wie die Übersetzung der Unterlagen auf Spanisch und Rückübersetzung der Rückmeldungen an die Qualitätskontrollabteilung oder eine dauerhafte Begleitung durch einen anderen Arbeitnehmer, wie während der ersten sechs Monate der Beschäftigung geschehen, sind nicht zumutbar. 29 BAG 28.1.2010 NZA 2010, 625 Rn. 16. 30 BAG 28.1.2010 NZA 2010, 625 Rn. 17. 31 BAG 23.11.2017 NZA-RR 2018, 287 Rn. 49.

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ee) Zwischenergebnis Die mittelbare Benachteiligung des N ist daher gerechtfertigt. Der Kündigungsgrund der fehlenden Schriftsprachkenntnisse ist daher sachlich gerechtfertigt und die Kündigung ist nicht wegen eines Verstoßes gegen § 7 Abs. 1 AGG unwirksam. c) Negativprognose Der N hat sich beharrlich geweigert, Sprachkurse zu besuchen. Es ist daher nicht ersichtlich, dass der personenbedingte Kündigungsgrund der fehlenden Sprachkenntnisse in der Zukunft entfallen wird. d) Erforderlichkeit Auch soweit man mit einer teilweise in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung eine Abmahnung bei der personenbedingten Kündigung verlangt, wenn der Arbeitnehmer den Kündigungsgrund durch ein steuerbares Verhalten beseitigen könnte,32 ist diese Abmahnung erfolgt, ein milderes Mittel ist insoweit nicht ersichtlich. Insbesondere eine Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz (§ 1 Abs. 2 S. 2 KSchG) ist nicht möglich. Die Kündigung ist daher auch erforderlich. e) Interessenabwägung Bei der abschließenden Interessenabwägung ist das vergleichsweise hohe Lebensalter des N zu dessen Gunsten zu berücksichtigen. Andererseits war die Beschäftigung bei der G bisher nur kurzer Dauer und auch geprägt von der Begleitung des N in seiner täglichen Arbeit durch seine Vorgängerin auf der Stelle. Die G hat dem N überdies die Teilnahme an Sprachkursen angeboten, was der N ohne ersichtlichen Grund abgelehnt hat. Insgesamt überwiegen daher die Beendigungsinteressen der G. 3. Zwischenergebnis Die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses des N wäre daher nicht sozial ungerechtfertigt hat daher gute Aussichten, auch bei arbeitsgerichtlicher Kontrolle für wirksam befunden zu werden.

II. Außerordentliche Kündigung des N Das Recht zur außerordentlichen Kündigung nach § 616 BGB setzt zunächst einen „an sich“ wichtigen Grund und die Wahrung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB voraus. Als „an sich“ wichtiger Grund käme hier sowohl, wie bei der Anfechtung, die Täuschung bei Abschluss des Arbeitsvertrags durch Falschausfüllen des Personalfragebogens als auch, wie bei der ordentlichen Kündigung, die plötzlich erkannte Ungeeignetheit des N für eine Tätigkeit bei G in Betracht.

32 BAG 4.6.1997 NJW 1998, 554, 556; krit. Preis/Temming Rn. 2934.

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[Anders als bei der Anfechtung kann die Frist hier gut als erstes geprüft werden, weil bei der Anfechtung die Länge der Frist von der Art der Anfechtung abhängt (Irrtum, § 121 BGB, oder Täuschung, § 124 BGB), was hier aber nicht der Fall ist.] 1. Kündigungserklärungsfrist, § 626 Abs. 2 BGB Nach § 626 Abs. 2 BGB kann die Kündigung nur innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte, hier die G, von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen, hier also der Täuschung oder der Ungeeignetheit, Kenntnis erlangt hat. Verlangt ist positive Kenntnis, selbst grob fahrlässige Unkenntnis schadet nicht. Positive Kenntnis von den fehlenden Sprachkenntnissen des N und der Täuschung im Personalfragebogen hat die G im Rahmen der Vorfälle des 20.6.2019 und dem Zusammenbruch des Regals erlangt. Nach § 188 Abs. 2 BGB endet die Zwei-Wochen-Frist daher am 4.7.2019. Zum Zeitpunkt der anwaltlichen Beratung (5.7.2019) ist diese Frist daher schon verstrichen. 2. Zwischenergebnis Die Erklärung einer außerordentlichen Kündigung kommt wegen der Nichteinhaltbarkeit der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht in Betracht.

III. Anfechtung des Arbeitsvertrags Die Erklärung der Anfechtung des Arbeitsvertrags gegenüber N kommt in Betracht, wenn ein Anfechtungsrecht besteht und dieses noch fristgemäß ausgeübt werden kann. 1. Bestehen eines Anfechtungsrechts Es müsste zunächst ein Anfechtungsgrund bestehen. a) Anfechtung wegen arglistiger Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB Ein Anfechtungsgrund im Sinn von § 123 Abs. 1 BGB ist zu bejahen, wenn N durch die falsche Beantwortung der Frage im Personalfragebogen die G durch eine arglistige Täuschung zum Abschluss des Arbeitsvertrags bestimmt hat. Indem N die Frage nach seinen Deutschkenntnissen falsch beantwortete, wollte er darüber hinwegtäuschen, dass er nur über unzureichende Kenntnisse der deutschen Schriftsprache verfügt. N ging davon aus, dass er bei der Offenbarung seiner unzureichenden schriftlichen Deutschkenntnisse von G nicht eingestellt werden würde. N hat damit jedenfalls bedingt vorsätzlich und damit arglistig gehandelt. N müsste darüber hinaus widerrechtlich gehandelt haben. Zwar ist nach dem Wortlaut des § 123 Abs. 1 BGB die Widerrechtlichkeit nur im unmittelbaren Zusammenhang mit der Drohung genannt, jedoch enthält die Arglist bereits eine Rechtswidrigkeitskomponente, sodass die Widerrechtlichkeit in der Regel indiziert ist. Die Widerrechtlichkeit ist zu verneinen, wenn die arglistige Täuschung gerechtfertigt ist. Ein solches Recht zur Lüge ist zu bejahen, wenn der Arbeitgeber dem Bewerber eine unzulässige Frage gestellt hat. Eine Frage ist 236

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in diesem Sinn unzulässig, wenn der Arbeitgeber kein berechtigtes, billigens- und schützenswertes Interesse an der wahrheitsgemäßen Beantwortung in Bezug auf das angestrebte Arbeitsverhältnis hat. Hier muss der Interessenwiderstreit unter Berücksichtigung der zugrunde liegenden grundrechtlichen Wertungen, Art. 12 Abs. 1 GG auf Seiten des Arbeitgebers, und das Interesse des Arbeitnehmers an der Wahrung seiner Menschenwürde sowie einem Schutz seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, verhältnismäßig aufgelöst werden. Insbesondere sind Fragen unzulässig, denen die gesetzliche Wertung des § 7 AGG entgegensteht, wonach eine Benachteiligung aus einem in § 1 AGG genannten Grund grundsätzlich unzulässig ist. Ein Verstoß gegen § 7 AGG liegt aber hier, wie gezeigt, nicht vor. Andere Rechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich. [Siehe ausführlich Fall 4] [Es steht dem Bearbeiter frei, zuerst die Anfechtung zu prüfen und dann im Rahmen der Prüfung der Kündigung auf die Rechtfertigung der möglichen mittelbaren Benachteiligung einzugehen] Da G den N bei Kenntnis von dessen fehlenden Kenntnissen der deutschen Schriftsprache nicht eingestellt hätte, ist auch die Kausalität zwischen Täuschung und abgegebene Erklärung zu bejahen. Ein Grund zur Anfechtung des Arbeitsvertrags nach § 123 Abs. 1 BGB liegt damit vor. b) Anfechtung wegen Eigenschaftsirrtums nach § 119 Abs. 2 BGB Als Anfechtungsgrund kommt noch ein Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft einer Person in Betracht, § 119 Abs. 2 BGB. Zu den Eigenschaften einer Person zählen neben in der natürlichen Beschaffenheit der Person ruhenden Merkmale auch die tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse und Beziehungen zur Umwelt, soweit sie nach der Verkehrsauffassung von Bedeutung sind und der Person selbst ihren Grund haben, von ihr ausgehen oder sie unmittelbar kennzeichnen. Hierzu können auch Sprachkenntnisse zählen, da diese in der Person selbst ihren Grund haben und nach der Verkehrsauffassung von Bedeutung sind. Verkehrswesentlich ist die Eigenschaft dann, wenn sie nach der Verkehrsanschauung für die Wertschätzung und die zu leistende Arbeit von Bedeutung und nicht nur vorübergehender Natur ist. Sie muss sich auf die Eignung der Person auswirken. Dies ist nur dann der Fall, wenn diese Umstände die Ausführung der konkreten Tätigkeit vereiteln und damit der Arbeitnehmer für die Tätigkeit aufgrund der fehlenden Kenntnisse nicht geeignet ist. N ist nicht in der Lage, die Arbeiten der Stelle, die er besetzt, auszuführen. Denn diese umfasst das Arbeiten mit Checklisten, Handbüchern und schriftlichen Rückmeldungen in deutscher Sprache. Er ist dafür für die Tätigkeit ungeeignet, dies aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse. Diese sind daher verkehrswesentlich. Etwas anderes könnte sich möglicherweise daraus ergeben, dass die Anforderungen an die Person diskriminierend im Sinn von § 7 AGG sind. Eine solche Diskriminierung liegt hier aber, wie gezeigt, nicht vor. Daher besteht auch der Anfechtungsgrund des § 119 Abs. 2 BGB. 2. Möglichkeit fristgemäßer Ausübung Für die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung gilt die Jahresfrist nach § 124 Abs. 1 BGB, die zum Beratungszeitpunkt offensichtlich noch nicht abgelaufen ist. Die Anfechtung gemäß 237

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§ 119 Abs. 2 BGB hätte gemäß § 121 BGB unverzüglich nach Kenntnis der zur Anfechtung berechtigenden Umstände erfolgen müssen. Das BAG wendet zur Ausfüllung des Begriffs der Unverzüglichkeit die Frist des § 626 Abs. 2 BGB an, weil für die Anfechtungsrechte beide Gestaltungsrechte regelmäßig nebeneinander gegeben sind und insoweit ein Wahlrecht besteht, was auch gebiete, die Fristen zu synchronisieren. Die Frist ist, wie gezeigt, bereits verstrichen. Auf die Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB ist die Frist des § 626 Abs. 2 BGB nicht anzuwenden, weil hier wegen § 124 Abs. 1 BGB kein ausfüllungsbedürftiger unbestimmter Rechtsbegriff vorliegt. [Siehe ausführlich Fall 4] 3. Zwischenergebnis Für die G stehen die Gestaltungsmittel der ordentlichen personenbedingten Kündigung und die Anfechtung des Arbeitsvertrags wegen arglistiger Täuschung zur Verfügung.

IV. Zweckmäßigkeit Erfolg versprechen die Gestaltungsmittel der ordentlichen personenbedingten Kündigung und der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung. 1. Zweckmäßigkeitserwägungen ordentliche Kündigung Die ordentliche personenbedingte Kündigung müsste nach Anhörung eines eventuell vorhandenen Betriebsrats (§ 102 BetrVG) schriftlich (§ 623 BGB) erklärt werden. Nach § 622 Abs. 1 BGB wäre, weil das Arbeitsverhältnis des N bei G noch nicht zwei Jahre gedauert hat (§ 622 Abs. 2 BGB) eine Kündigung mit einer Frist von vier Wochen zum Fünfzehnten oder zum Ende eines Kalendermonats gekündigt werden. Würde noch am Tag der Beratung das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG eingeleitet, wäre dieses spätestens am 12.7.2019 abgeschlossen, da der Betriebsrat eine Wochenfrist zu wahren hat, § 102 Abs. 2 S. 1 BetrVG. Der nächstmögliche Kündigungstermin wäre dann der 15.8.2019. Bis dahin müsste dem N auch weiterhin Entgelt gezahlt werden, § 611a Abs. 2 BGB. 2. Zweckmäßigkeitserwägungen Anfechtung wegen arglistiger Täuschung Die Anfechtung des Arbeitsvertrags wegen arglistiger Täuschung bedarf nicht der Schriftform, sondern muss nur gegenüber N erklärt werden, wenngleich sich aus Beweissicherungsgründen Schriftlichkeit und bezeugter Zugang des Schriftstücks anbietet. Eine Anhörung des Betriebsrats ist nicht erforderlich, wie sich schon aus dem Wortlaut von § 102 BetrVG ergibt. Durch die Anfechtung des Arbeitsvertrags entfällt die Vertragserklärung der G, sodass keine übereinstimmenden Willenserklärungen mehr vorliegen und der Vertrag von Anfang an gemäß § 142 Abs. 1 BGB als nichtig anzusehen ist. Das führt grundsätzlich zu einer gänzlichen bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung des Arbeitsverhältnisses. Die ganz herrschende Meinung und ständige Rechtsprechung nimmt aber an, dass es dabei zu unüberwindlichen Rückabwicklungsschwierigkeiten käme und nimmt an, dass bei in Vollzug gesetzten Arbeitsverhältnissen die Anfechtungswirkung nur ex nun ab Zugang der Anfechtungserklärung wirkt und das Arbeitsverhältnis für die Vergangenheit als wirksam behandelt wird. 238

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[Das ist in der Sache sehr zweifelhaft, siehe ausführlich Fall 4. Da die Rechtsfrage hier aber in einer anwaltlichen Empfehlung münden soll, wäre es nicht richtig, hier entsprechende Zweifel entgegen der ganz herrschenden Meinung und ständigen Rechtsprechung in das anwaltliche Beratungsergebnis durchschlagen zu lassen.] Eine Ausnahme von dieser Fiktion wiederum wird nach allgemeiner Auffassung für Zeiten gemacht, in denen insbesondere aufgrund von Krankheit nicht gearbeitet wurde, also auch keine Leistungen ausgetauscht wurden und es daher auch keine Rückabwicklungsschwierigkeiten gibt. Für diese Zeiten wirkt die Anfechtung ex tunc. N ist hier seit dem 1.7.2019 arbeitsunfähig erkrankt und hätte einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 611a BGB i.V.m. § 3 EFZG. Dieser entfällt bei Anfechtung des Arbeitsvertrags wegen arglistiger Täuschung. 3. Zwischenergebnis Die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung ist wegen der fehlenden Notwendigkeit, die Schriftform einzuhalten und den Betriebsrat anzuhören, leichter umzusetzen. Wirtschaftlich ist die Anfechtung für die G insoweit günstiger, als sie nicht das Gehalt des N bis zum nächstmöglichen Kündigungstermin am 15.8.2019 weiterzahlen muss und sogar das Entgelt für den Zeitraum vom Eintritt der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit des N am 1.7.2019 bis zum Zugang der Anfechtungserklärung nicht zahlen muss, soweit die Arbeitsunfähigkeit nicht vorher beendet wurde. Der Zugang der Anfechtungserklärung ist daher möglichst bald herbeizuführen.

V. Ergebnis Die Anwältin wird der G raten, das Arbeitsverhältnis mit N möglichst bald wegen arglistiger Täuschung anzufechten. K Zur Vertiefung: Zu Ausschlussfristen und deren Wirksamkeit s. Junker Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 244–245; Preis/Temming Individualarbeitsrecht Rn. 1306–1313. Zum fehlerhaften (faktischen) Arbeitsverhältnis s. Junker Rn. 188–199; Preis/Temming Rn. 962–968. Zum AGG und zu Diskriminierungen im Arbeitsrecht s. Junker Rn. 155– 167; Preis/Temming Rn. 1494–1683. Zu diskriminierenden Kündigungen s. Junker Rn. 339; Preis/Temming Rn. 2618–2625.

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Fall 19 „Hochstapler und Schichtwechsel in der Schönheitsklinik“ A. Falldarstellung G, eine renommierte Schönheitschirurgin, betreibt in Köln eine große private Schönheitsklinik mit insgesamt 52 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. A hat 18 Semester Medizin studiert und alle praktischen Prüfungen mit Bravour gemeistert. Wegen großer Verständnisprobleme in zwei theoretischen Fächern musste er sein Studium jedoch ohne Abschluss abbrechen. Da A aber davon überzeugt ist, dass seine Berufung in der Schönheitschirurgie liegt, bewirbt er sich bei G. Den Bewerbungsunterlagen fügt er gefälschte Examenszeugnisse sowie eine gefälschte Approbationsurkunde bei. G ist von der Bewerbung des A begeistert und stellt ihn im März 2017 als Facharzt in der Chirurgie ein. A bezieht eine Wohnung direkt gegenüber der Klinik und arbeitet im Folgenden ohne weitere Auffälligkeiten bei der G. Im Oktober 2019 wird der ehemalige Kommilitone K des A in der Klinik eingestellt. Da dieser weiß, dass A kein abgeschlossenes Medizinstudium und keine Approbation hat, fliegt der Schwindel auf. G stellt den A noch am gleichen Tag, an dem K sie über die Laufbahn des A aufgeklärt hat, zur Rede. Dieser merkt, dass Abstreiten zwecklos ist und gibt alles zu. G erklärt ihm noch in demselben Gespräch, dass sie A nicht mehr in ihrer Klinik sehen möchte. Es sei ihr zu gefährlich, einen nicht ausgebildeten Arzt, der keine Approbation habe, zu beschäftigen; schließlich könne sie damit eine Ordnungswidrigkeit begehen oder sich vielleicht sogar strafbar machen. Ferner verlangt sie von A die Rückzahlung von 60.000 Euro. Dabei handelt es sich nur um einen Teil des an A gezahlten Entgelts, da G meint, dass A nicht völlig umsonst gearbeitet haben soll. A weigert sich, den Betrag an G zurückzuzahlen. Er hält die Reaktion der G für übertrieben, schließlich habe er immer seine Arbeit ordnungsgemäß erbracht. Daraufhin erhebt G am 11.10.2019 gegen A ordnungsgemäß Klage vor dem Arbeitsgericht Köln auf Rückzahlung der 60.000 Euro. G beruft sich darauf, zwischen ihr und A liege kein wirksamer Arbeitsvertrag vor. Nach einem gescheiterten Gütetermin wird A ordnungsgemäß zur Verhandlung zum Arbeitsgericht Köln am 9.12.2019 um 10.00 Uhr geladen. Weder A noch sein prozessbevollmächtigter Rechtsanwalt T, der ebenfalls geladen worden war, sind bis 10:10 Uhr im Sitzungssaal erschienen. Daher beantragt der prozessbevollmächtigte Rechtsanwalt der G den Erlass eines Versäumnisurteils gegen A, das antragsgemäß ergeht. Rechtsanwalt T trifft erst um 10.17 Uhr im Sitzungssaal ein, weil er keinen Parkplatz gefunden hat. Über seinen Kollegen ärgert er sich sehr, schließlich sei er doch letztendlich erschienen. Außerdem sei es bekanntlich ein Gebot des Anstands, zumindest 15–20 Minuten auf seinen Kollegen zu warten, bevor man einen Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils stelle. Der Rechtsanwalt der G wusste bei Antragstellung, dass A anwaltlich vertreten wird.1 Frage 1: Ist das Versäumnisurteil gegen A rechtmäßig ergangen? Bearbeitervermerk: Wer den Antrag für unzulässig erachtet, hat zur Begründetheit in einem Hilfsgutachten Stellung zu nehmen. Es ist auf sämtliche im Sachverhalt aufgeworfenen Rechtsfragen einzugehen, ggf. in einem Hilfsgutachten. Deliktische Ansprüche sind nicht zu 1 Dieser Teil ist inspiriert von BAG 3.11.2004 NZA 2005, 1409.

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„Hochstapler und Schichtwechsel in der Schönheitsklinik“ Fall 19

prüfen. Auf § 46 ArbGG wird hingewiesen, ebenso auf die unten beigefügten Vorschriften des HeilprG und der BÄO. B ist seit dem 29.1.2012 in der Klinik der G als OP-Helfer im Einschichtbetrieb von 6.00 Uhr bis 14.45 Uhr beschäftigt. Er hat eine vierjährige Tochter, die sein Mann, der in einem anderen Unternehmen von 13.00 bis 21.00 Uhr beschäftigt ist, mittags in einen Ganztagskindergarten bringt, wo sie bis spätestens 18.00 Uhr abgeholt werden muss. G erwartet wegen der Insolvenz einer großen Schönheitsklinik in Düsseldorf ein weitaus höheres Patientenaufkommen. Deshalb beabsichtigt sie, in der Klinik mit Wirkung zum 1.7.2019 eine zweite Schicht an Operationen einzuführen, die als Wechselschicht mit der Frühschicht durchgeführt werden soll. Nachdem ein Gespräch zwischen G und B ergebnislos verlaufen war, übergab G dem B nach vorheriger Anhörung des Betriebsrats am 23.4.2019 folgendes Schreiben: „Sehr geehrter Herr B, auf Grund des ab Juli 2019 wegen der Stilllegung unserer Konkurrenzklinik Z zu erwartenden Mehraufkommens an Patienten hat sich die Unternehmensleitung entschlossen, das bisherige Einschichtsystem aufzugeben und für die Durchführung von Operationen eine zweite Schicht einzuführen, die als Spätschicht von 14.00 Uhr bis 22.45 Uhr neben die bisherige Arbeitszeit tritt, die als Frühschicht bestehen bleibt. Um die Belastungen, die sich durch die späte Arbeitszeit ergeben, auf alle Mitarbeiter gleichmäßig zu verteilen, werden wir eine Wechselschicht in der Weise einführen, dass die Arbeit abwechselnd von Woche zu Woche in Früh- und Spätschicht zu verrichten ist. Mit dieser Verfahrensweise wird überdies sichergestellt, dass alle Mitarbeiter weiterhin stets mit den ihnen bekannten Kollegen und vorgesetzten Ärzten zusammenarbeiten, was nach unserem Personalkonzept unerlässlich ist. Da Sie sich nicht zum Abschluss eines entsprechenden Änderungsvertrags entschließen konnten, kündigen wir hiermit Ihr Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 30.6.2019. Zugleich bieten wir Ihnen an, Sie ab 1.7.2019 in der beschriebenen Weise in Wechselschicht bei im Übrigen unveränderten Arbeitsbedingungen weiterzubeschäftigen. Mit freundlichen Grüßen, G.“ B nimmt das Änderungsangebot gegenüber G unter dem Vorbehalt, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen nicht sozial ungerechtfertigt ist, an und erhebt alsbald Klage vor dem zuständigen Arbeitsgericht. Er trägt vor, G habe die Notwendigkeit eines Wechselschichtbetriebs nicht hinreichend dargetan. Es wäre ohne weiteres möglich gewesen, die neu einzustellenden Mitarbeiter ausschließlich in der Spätschicht zu beschäftigen und für die bisherige Stammbelegschaft alles beim Alten zu lassen. Im Übrigen könne G ihr Führungskonzept auch dadurch verwirklichen, dass sie bei grundsätzlich bestehender Wechselschicht einzelne Arbeitnehmer nur in der Früh- oder Spätschicht einsetze. Organisatorisch sei dies machbar, weil G – unstreitig – mindestens vier Mitarbeiterinnen ausschließlich in der Frühbzw. Spätschicht einsetze. G macht dagegen geltend, es sei ihr nicht möglich, Arbeitnehmer zu finden, die bereit wären, ausschließlich in der Spätschicht zu arbeiten. B hingegen verweist darauf, dass die neu eingestellte Arbeitnehmerin Y durchaus bereit wäre, ausschließlich in der Spätschicht beschäftigt zu werden. Frage 2: Ist die zulässige Klage des B begründet?

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Fall 19 „Hochstapler und Schichtwechsel in der Schönheitsklinik“

§ 1 HeilprG (1) Wer die Heilkunde, ohne als Arzt bestellt zu sein, ausüben will, bedarf dazu der Erlaubnis. § 5 HeilprG Wer, ohne zur Ausübung des ärztlichen Berufs berechtigt zu sein und ohne eine Erlaubnis nach § 1 zu besitzen, die Heilkunde ausübt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. § 1 BÄO (1) Der Arzt dient der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes. § 2 BÄO (1) Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes den ärztlichen Beruf ausüben will, bedarf der Approbation als Arzt. (2) Eine vorübergehende oder eine auf bestimmte Tätigkeiten beschränkte Ausübung des ärztlichen Berufs im Geltungsbereich dieses Gesetzes ist aufgrund einer Erlaubnis zulässig. (5) Ausübung des ärztlichen Berufs ist die Ausübung der Heilkunde unter der Berufsbezeichnung „Arzt“ oder „Ärztin“. § 10 BÄO (1) Die Erlaubnis zur vorübergehenden Ausübung des ärztlichen Berufs kann auf Antrag Personen erteilt werden, die eine abgeschlossene Ausbildung für den ärztlichen Beruf nachweisen. (2) Die Erlaubnis kann auf bestimmte Tätigkeiten und Beschäftigungsstellen beschränkt werden. Sie darf nur widerruflich und nur bis zu einer Gesamtdauer der ärztlichen Tätigkeit von höchstens vier Jahren im Geltungsbereich dieses Gesetzes erteilt oder verlängert werden. (…) Schwierigkeitsgrad: Durchschnittlich schwierige und durchschnittlich umfangreiche Examensklausur Rechtsfragen: Voraussetzungen des Erlasses eines Versäumnisurteils, Nichtigkeit nach § 134 BGB, fehlerhaftes Arbeitsverhältnis, Ausschluss der Saldierung nach § 817 S. 2 BGB, Anfechtbarkeit eines nichtigen Rechtsgeschäfts, Voraussetzungen einer Änderungskündigung.

B. Lösungsskizze Frage 1 – Versäumnisurteil gegen A I. Zulässigkeit der Klage der G (+) 1. Wirksame und ordnungsgemäße Klageerhebung (+) 2. Partei- und Prozessfähigkeit (+) 242

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„Hochstapler und Schichtwechsel in der Schönheitsklinik“ Fall 19

3. Zuständigkeit des Gerichts: Weite Auslegung des § 2 Abs. 1 Nr. 3a ArbGG, auch bei fehlerhaftem Arbeitsverhältnis; örtlich AG Köln II. Formelle Voraussetzungen eines Versäumnisurteils 1. Säumnis einer Partei (+) 2. Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils (+) – keine Unwirksamkeit wegen Standesrecht 3. Kein Versagungsgrund gemäß §§ 335, 337 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG (+) III. Schlüssigkeit des Klägervorbringens gemäß § 331 Abs. 2 ZPO Schlüssigkeit (+), wenn der geltend gemachte Anspruch nach dem Tatsachenvortrag des Klägers besteht. 1. Anspruch auf Rückzahlung des Arbeitsentgeltes i.H.v. 60.000 Euro gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB wegen Nichtigkeit des Arbeitsvertrags nach § 134 BGB a) Etwas erlangt: 60.000 Euro (+) b) Durch Leistung (+) c) Ohne Rechtsgrund: Arbeitsvertrag von Anfang an nichtig? aa) Gesetzesverstoß: § 134 BGB i.V.m. §§ 2, 10 BÄO (+) bb) Keine nachträgliche Heilung wegen faktischer Durchführung des Arbeitsvertrags: zwar Grundsatz fehlerhaftes Arbeitsverhältnis aber Ausnahme bei besonders schwerwiegendem Mangel, hier (+) d) Rechtsfolge: Rückabwicklung des Rechtsgeschäfts aa) Ausschluss der Saldierung nach § 817 S. 2 BGB (+) bb) Keine Einschränkung des § 817 S. 2 BGB nach § 242 BGB (+) e) Ergebnis: Rückzahlungsanspruch i.H.v. 60.000 Euro aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB (+), Klage damit schlüssig. 2. Anspruch auf Rückzahlung des Arbeitsentgelts in Höhe von 60.000 Euro gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB wegen Nichtigkeit des Arbeitsvertrags nach §§ 142 Abs. 1, 123 Abs. 1 BGB a) Anwendbarkeit des Anfechtungsrechts bei Nichtigkeit nach § 134 BGB: nach h.M. (+) b) Anfechtungserklärung (–), a.A. vertretbar c) Ergebnis: Mangels Anfechtungserklärung kein Anspruch IV. Gesamtergebnis: Klage zulässig, formelle Voraussetzungen eines Versäumnisurteils gegeben und Vorbringen schlüssig, Versäumnisurteil damit rechtmäßig. Frage 2 – Klage des B I. Wirksame Kündigungserklärung (+) II. Einhaltung der Klagefrist (+) III. Vorbehaltsfrist (+) 243

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Fall 19 „Hochstapler und Schichtwechsel in der Schönheitsklinik“

IV. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe: nicht ersichtlich V. Anhörung des Betriebsrats (+) VI. Kündigungsschutz aus §§ 2, 1 KSchG 1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes: Arbeitsverhältnis, Wartezeit, kein Kleinbetrieb (+) 2. Soziale Rechtfertigung der Kündigung: betriebsbedingten Änderungskündigung a) Dringendes betriebliches Erfordernis i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG aa) Unternehmerische Entscheidung: (+) Veränderung der innerbetrieblichen Organisation als gestaltende Unternehmerentscheidung, nicht offensichtlich unsachlich oder willkürlich bb) Kausaler, dauerhafter Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit (+) cc) Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses (Erforderlichkeit) (–) Unternehmerisches Konzept durch andere technische, organisatorische oder wirtschaftliche Maßnahmen umsetzbar als durch Änderungskündigung? Unternehmerisches Konzept nicht ausnahmslos durchgesetzt: bereits bestehende Ausnahmen vom Wechselschichtsystem; nicht ersichtlich, dass ein Arbeitnehmer mehr einen Unterschied machen würde, Bereitschaft der Y sowie vernünftiger Grund für Wunsch des B b) Zwischenergebnis: Kündigung nicht erforderlich VII. Ergebnis: Änderungskündigung sozial ungerechtfertigt

C. Lösungsvorschlag Frage 1 – Versäumnisurteil gegen A Zu prüfen ist, ob das Versäumnisurteil gegen A rechtmäßig ergangen ist. Auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren kann ein Versäumnisurteil erlassen werden. Nach § 46 Abs. 2 ArbGG gelten für das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren des ersten Rechtszugs die Vorschriften der ZPO entsprechend, soweit das ArbGG nichts anderes bestimmt. Die Voraussetzungen des Versäumnisurteils richten sich somit nach den §§ 330 ff. ZPO. Das Versäumnisurteil ist rechtmäßig ergangen, wenn die Klage zulässig ist, die formellen Voraussetzungen eines Versäumnisurteils vorliegen und die Klage schlüssig ist.

I. Zulässigkeit der Klage der G 1. Wirksame und ordnungsgemäße Klageerhebung gemäß § 253 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG Aufgrund des Verweises nach § 46 Abs. 2 ArbGG ist § 253 ZPO für das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren des ersten Rechtszugs anwendbar. Nach dem Sachverhalt liegt eine wirksame und ordnungsgemäße Klageerhebung im Sinne des § 253 ZPO jedoch vor.

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„Hochstapler und Schichtwechsel in der Schönheitsklinik“ Fall 19

2. Parteifähigkeit gemäß § 50 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG; Prozessfähigkeit gemäß § 52 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG Über den Verweis des § 46 Abs. 2 ArbGG kommt auch § 50 ZPO zur Anwendung. Gemäß § 50 Abs. 1 ZPO ist jede rechtsfähige Person parteifähig und kann somit klagen und verklagt werden. Bei A und G handelt es sich um natürliche Personen. Bedenken gegen ihre Parteifähigkeit bestehen demnach nicht. Gemäß §§ 51 Abs. 1, 52 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG ist eine Partei prozessfähig und damit fähig, Prozesshandlungen wirksam vorzunehmen, wenn sie sich durch Vertrag selbst verpflichten kann. Auch hier sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, die Bedenken auslösen. A und G sind prozessfähig. 3. Zuständigkeit des Gerichts Der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten könnte gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3a ArbGG eröffnet sein. Dann müsste es sich bei der teilweisen Rückforderung des gezahlten Entgelts um eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber aus dem Arbeitsverhältnis handeln. Dies könnte hier problematisch sein, weil die Klägerin die Rückforderung gerade darauf stützt, dass der Arbeitsvertrag von Anfang an nicht wirksam gewesen ist und auch kein faktisches Arbeitsverhältnis besteht. Allerdings wird § 2 Abs. 1 Nr. 3a ArbGG sehr weit ausgelegt. Es ist unerheblich, ob es sich um eine Streitigkeit handelt, die aus einem vergangenen, gegenwärtigen oder erst noch zu begründenden Arbeitsverhältnis herrührt. Ebenso reicht ein verbotswidrig zustande gekommenes Arbeitsverhältnis aus.2 Somit ist unerheblich, ob das Arbeitsverhältnis im vorliegenden Fall überhaupt wirksam begründet wurde oder zumindest ein faktisches Arbeitsverhältnis besteht. Es reicht aus, dass die Parteien zunächst davon ausgingen, dass ein Arbeitsverhältnis besteht und in diesem Rahmen Leistungen erbracht haben. Aus diesem vermeintlichen Arbeitsverhältnis ist eine Rechtsstreitigkeit, hier über die Teilrückzahlung des gezahlten Arbeitsentgeltes, entstanden. Folglich ist gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3a ArbGG der Rechtsweg zum Arbeitsgericht eröffnet. § 2 Abs. 1 Nr. 3b ArbGG ist hier nicht anwendbar. Zwar ist das Bestehen des Arbeitsverhältnisses eine zentrale Frage für die Prüfung des Anspruchs auf Rückzahlung. Es wird jedoch nicht die Feststellung beantragt, ob das Arbeitsverhältnis besteht oder nicht. Nur in diesem Fall ist § 2 Abs. 1 Nr. 3b ArbGG einschlägig. [Eine Verwechslung des Anwendungsbereichs der beiden Vorschriften wäre jedoch nicht als gravierend anzusehen, da beide zu demselben Ergebnis führen und die Abgrenzung auch nicht ganz klar aus dem Gesetz hervorgeht.] Das Arbeitsgericht Köln müsste auch örtlich zuständig sein. Die örtliche Zuständigkeit ist im ArbGG mit Ausnahme des besonderen Gerichtsstands nach § 48 Abs. 1a ArbGG des Arbeitsorts, hier Köln, nicht ausdrücklich geregelt. Im Übrigen gelten über den Verweis des § 46 Abs. 2 ArbGG die Regeln der ZPO. Laut § 12 ZPO ist das Gericht örtlich zuständig, bei dem der Beklagte seinen allgemeinen Gerichtsstand hat. Der allgemeine Gerichtsstand natürlicher Personen richtet sich gemäß § 13 ZPO nach deren Wohnsitz. Wohnsitz des Beklagten A ist Köln. Somit ist das Arbeitsgericht Köln auch örtlich zuständig.

2 ErfK/Koch § 2 ArbGG Rn. 12.

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Fall 19 „Hochstapler und Schichtwechsel in der Schönheitsklinik“

4. Ergebnis Die Klage der G ist zulässig.

II. Formelle Voraussetzungen eines Versäumnisurteils 1. Säumnis einer Partei Voraussetzung für den Erlass eines Versäumnisurteils nach § 331 ZPO ist zunächst die Säumnis des Beklagten A. Säumnis liegt vor, wenn eine ordnungsgemäß geladene Partei zur mündlichen Verhandlung trotz ordnungsgemäßen Aufrufs zur Sache unentschuldigt nicht erscheint bzw. kein Vertreter für sie erscheint, sie bei notwendiger Vertretung nicht durch einen zugelassenen Rechtsanwalt vertreten ist oder nicht zur Sache verhandelt.3 Im Arbeitsgerichtsverfahren ist zudem zu beachten, dass der mündlichen Verhandlung gemäß § 54 Abs. 1 ArbGG eine Güteverhandlung vorgeschaltet ist. Dies hindert jedoch nicht den Erlass eines Versäumnisurteils. Aus dem Sachverhalt ergibt sich, dass eine Güteverhandlung stattgefunden hat, die erfolglos blieb. Zu prüfen ist, ob die Voraussetzungen einer Säumnis erfüllt sind. A und sein prozessbevollmächtigter Anwalt T sind ordnungsgemäß zur Verhandlung am 9.12.2019 um 10.00 Uhr geladen worden. Hinweise, die gegen einen ordnungsgemäßen Aufruf zur Sache sprechen, sind nicht ersichtlich. Weitere Voraussetzung ist, dass eine Partei unentschuldigt nicht erschienen ist. Dabei ist zu beachten, dass sich A ein etwaiges Verschulden seines Anwalts T gemäß § 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss. Fraglich ist, ob T schuldlos am rechtzeitigen Erscheinen verhindert war. Grund für die Säumnis des Anwalts ist, dass er keinen Parkplatz gefunden hat. Einen Parkplatz zu finden, ist ein allgemein bekanntes Problem. Es obliegt dem Anwalt, die Zeit für die Parkplatzsuche mit einzuplanen und rechtzeitig loszufahren. Folglich sind Schwierigkeiten bei der Parkplatzsuche keine ausreichende Entschuldigung für eine Verspätung. Fraglich ist, ob die Tatsache, dass der Anwalt des A schließlich doch noch zur Verhandlung erscheint, eine Säumnis zumindest nachträglich entfallen lässt. Dies sieht das Gesetz jedoch nicht vor. Der Beklagte bleibt deswegen auch nicht schutzlos; ihm verbleibt gemäß § 338 ZPO noch die Möglichkeit des Einspruchs, welcher gemäß § 342 ZPO die Wirkung hat, dass das Verfahren in den vorigen Stand zurückversetzt wird. Demnach ist die Säumnis des A aufgrund der unentschuldigten Verspätung seines Anwalts T gegeben. 2. Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils Die erschienene Partei muss gemäß § 331 Abs. 1 S. 1 ZPO einen Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils stellen. Der Anwalt der G hat einen solchen Antrag gestellt, nachdem weder A noch sein Anwalt T um 10.10 Uhr erschienen waren. Fraglich ist, ob der Antrag zulässig ist oder ob damit länger hätte gewartet werden müssen als 10 Minuten. Für eine Wartefrist von ca. 15 Minuten kann das frühere Standesrecht der Rechtsanwälte angeführt werden. Dessen Unbeachtlichkeit kann jedoch damit begründet werden, dass der Anwalt aus § 670 BGB eine Vertragspflicht zur umfassenden Interessenwahrnehmung für den Mandanten hat, 3 Thomas/Putzo/Reichold vor § 330 ZPO Rn. 5.

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welche als vorrangig gegenüber einer kollegialen Wartepflicht anzusehen ist.4 Zudem würde das Gebot, vor der Antragstellung eine bestimmte Zeit zu warten, das Recht auf freie Berufsausübung aus Art. 12 Abs. 1 GG ohne hinreichenden Rechtfertigungsgrund zu sehr einschränken. Gegen eine Wartepflicht aus Kollegialität spricht auch, dass die frühere Regelung des § 13 BORA, wonach der Rechtsanwalt ein Versäumnisurteil nur nach vorheriger Ankündigung gegenüber dem Gegenanwalt erwirken durfte, vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt worden war.5 Daraus lässt sich entnehmen, dass die Vertragspflichten gegenüber dem Mandanten auch im Hinblick auf eine Wartepflicht Vorrang haben. Diese Ausformung von Kollegialität kann insbesondere nicht mehr damit gerechtfertigt werden, dass sie zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege unerlässlich sei.6 [Im Hinblick auf diese Problematik sind keine vertieften Kenntnisse der Bearbeiter zu erwarten. Es ist zudem auch vertretbar, diese Ausführungen im Rahmen des Prüfungspunktes „1. Säumnis der Partei“ zu machen.] Somit hat der Anwalt der G den Antrag auch nicht zu früh gestellt, da für ihn nicht die Pflicht bestand, eine gewisse Zeit zu warten. Der Antrag des Anwalts der G auf Erlass eines Versäumnisurteils ist zulässig. 3. Kein Versagungsgrund gemäß §§ 335, 337 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG Versagungsgründe nach §§ 335, 337 ZPO sind hier nicht ersichtlich. Insbesondere enthält der Sachverhalt keine Angaben über die Ladungsfrist des A.

III. Schlüssigkeit des Klägervorbringens gemäß § 331 Abs. 2 ZPO Gemäß § 331 Abs. 1 S. 1 ZPO ist das tatsächliche mündliche Vorbringen des Klägers als zugestanden anzunehmen, wenn die formellen Voraussetzungen für den Erlass des Versäumnisurteils gegen den Beklagten vorliegen. Das Versäumnisurteil ergeht dann gegen den Beklagten, wenn der Klageantrag gemäß § 331 Abs. 2 ZPO schlüssig ist. Schlüssigkeit liegt vor, wenn der geltend gemachte Anspruch nach dem als wahr unterstellten Tatsachenvortrag des Klägers besteht.7 1. Anspruch auf Rückzahlung des Arbeitsentgeltes in Höhe von 60.000 Euro gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB wegen Nichtigkeit des Arbeitsvertrages nach § 134 BGB G könnte gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB gegen A einen Anspruch auf Rückzahlung der 60.000 Euro haben. Dann müsste A durch die Leistung der G rechtsgrundlos etwas erlangt haben. a) Etwas erlangt Erlangtes Etwas ist jeder vermögenswerte Vorteil. In das Vermögen des A sind im Zuge der Erfüllung des Arbeitsvertrages 60.000 Euro (teilweises) Arbeitsentgelt übergegangen; diesen 4 5 6 7

Thomas/Putzo/Reichold § 337 ZPO Rn. 3. BVerfG 14.12.1999 BVerfGE 101, 312, 325. BVerfG 2.11.1992 NJW 1993, 121, 122. Thomas/Putzo/Reichold § 331 ZPO Rn. 5.

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Betrag hat A in Form eines Auszahlungsanspruchs gegen seine Bank erlangt, da bei lebensnaher Betrachtung von einer Überweisung des Geldes auf das Bankkonto des A auszugehen ist. b) Durch Leistung Leistung ist die bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens. Durch Zahlung des Arbeitsentgeltes an A hat G dessen Vermögen bewusst und zweckgerichtet vermehrt. c) Ohne Rechtsgrund Die Zahlung des Arbeitsentgeltes müsste rechtsgrundlos erfolgt sein. Als Rechtsgrund für die Zahlung des Arbeitsentgeltes kommt der im März 2017 zwischen A und G geschlossene Arbeitsvertrag in Betracht. Der Rechtsgrund könnte jedoch von Anfang an gefehlt haben, wenn der Arbeitsvertrag wegen Verstoßes gegen ein Verbotsgesetz nach § 134 BGB nichtig ist. aa) Gesetzesverstoß Voraussetzung ist, dass der Arbeitsvertrag gegen ein Verbotsgesetz verstößt. Ein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB kann aus einem Gesetz im formellen Sinn, einer Rechtsverordnung oder aus Gewohnheitsrecht folgen. Das Verbot braucht im Gesetz nicht ausdrücklich ausgesprochen zu sein, es kann sich auch aus dem Zusammenhang ergeben. Dabei muss das Gesetz für das Eintreten der Nichtigkeitsfolge dahingehend auszulegen sein, dass Zweck des Verbotes ist, das Rechtsgeschäft als solches zu untersagen und sich nicht bloß gegen die Umstände seines Zustandekommens zu richten.8 Als Verbotsgesetz kommen hier §§ 2, 10 BÄO sowie §§ 1, 5 HeilPrG in Betracht. Nach §§ 2, 10 BÄO ist für die Ausübung eines ärztlichen Berufs eine Approbation als Arzt erforderlich. Auch die Heilkunde, die durchgeführt wird, ohne eine Zulassung als Arzt zu haben, bedarf gemäß § 1 HeilPrG einer Erlaubnis. Bei Fehlen einer solchen Erlaubnis wird die Ausübung gemäß § 5 HeilPrG mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe bestraft. Hieraus folgt, dass die Ausübung des Arztberufs ohne Approbation verboten ist und selbst die Ausübung eines Heilberufs, ohne Arzt zu sein, einer Erlaubnis bedarf. Der Schutzzweck ergibt sich aus § 1 BÄO, nach dem der Arzt der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes dient. Dies bedeutet, dass durch die Vorschriften der BÄO besonders hochrangige Rechtsgüter geschützt werden sollen. Die Beschäftigung des A als Arzt, ohne dass er über eine Approbation verfügt, verstößt gegen §§ 2, 10 BÄO. Es war dem A auch nicht einmal möglich, nachträglich eine Approbation erfolgreich zu beantragen, da gemäß § 10 Abs. 1 BÄO hierfür eine abgeschlossene Ausbildung für den ärztlichen Beruf erforderlich ist, A aber sein Studium abgebrochen hat. Demnach verstößt der Arbeitsvertrag, der die Beschäftigung des A als Arzt zum Inhalt hat, gegen ein Verbotsgesetz. Fraglich ist, ob damit auch die Nichtigkeitsfolge des § 134 BGB eintritt oder ob die Tatsache, dass G keine Kenntnis von der fehlenden Approbation hatte, gegen die Nichtigkeitsfolge spricht. Sinn und Zweck des Verbotes der Ausübung des Arztberufs ohne Approbation ist ebenso wie im HeilPrG der Schutz der Gesundheit des einzelnen Patienten sowie die Volksgesundheit. Der Schutzzweck geht somit über den Kreis der Vertragspartner hinaus und 8 MüKo BGB/Armbrüster § 134 Rn. 42.

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umfasst ein besonders hoch eingestuftes Schutzgut. Dieser Zweck hat Vorrang gegenüber den Interessen der Vertragsparteien und kann nur dann durchgesetzt werden, wenn die beiderseitigen Erfüllungsansprüche für nichtig erklärt werden. Es ist daher unerheblich, ob G Kenntnis von dem Nichtigkeitsgrund hatte. Somit führt der Verstoß gegen §§ 2, 10 BÄO zur Nichtigkeit des Arbeitsvertrags.9 bb) Keine nachträgliche Heilung wegen faktischer Durchführung des Arbeitsvertrags Einem Anspruch auf Rückzahlung könnte jedoch entgegenstehen, dass der Arbeitsvertrag bereits vollzogen wurde. Grundsätzlich ist nach den Grundsätzen des fehlerhaften Arbeitsverhältnisses eine Rückabwicklung nach Bereicherungsrecht bei Vollzug des Arbeitsvertrages ausgeschlossen; dies bedeutet, dass das Arbeitsverhältnis für die Dauer der tatsächlichen Beschäftigung wie ein fehlerfrei zustande gekommenes zu behandeln ist. Für die bereits erbrachten Leistungen besteht dann ein Rechtsgrund. Die ex-nunc-Nichtigkeit in Vollzug gesetzter Arbeitsverhältnisse wird mit der schwierigen Rückabwicklung von im Rahmen von Dauerschuldverhältnissen bereits erbrachten Leistungen begründet. [Das entspricht der ganz h.M., ist aber zweifelhaft, siehe Fall 4.] Allerdings wird hierzu dann eine Ausnahme gemacht, wenn ein besonders schwerer Mangel vorliegt. Ein solcher liegt in dem einseitigen bewussten Verstoß des Arbeitnehmers gegen ein gesetzliches Verbot, das dem Schutz von Leben und Gesundheit dient.10 A hat einseitig bewusst gegen §§ 2, 10 BÄO verstoßen, die dem Schutz von Leben und Gesundheit dienen. Eine Heilung durch die faktische Durchführung des Arbeitsvertrags ist hier demnach ausgeschlossen. Somit bleibt der Arbeitsvertrag trotz Vollzugs nichtig, weshalb die Zahlung des Entgelts gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB ohne Rechtsgrund erfolgte. Der Arbeitsvertrag ist nach den Regeln des Bereicherungsrechts rückabzuwickeln. d) Rechtsfolge: Rückabwicklung des Rechtsgeschäfts Gemäß § 818 Abs. 2 BGB besteht die Pflicht, das erlangte Geld bzw. dessen Wert herauszugeben. Dabei erfolgt die Berechnung des herauszugebenden Geldes bzw. des Wertes bei gegenseitigen Verträgen nach der Saldotheorie im Wege einer Saldierung der beiderseitigen Leistungen.11 Dann müsste im vorliegenden Fall der Wert der von A erbrachten Arbeitsleistung mit dem gezahlten Entgelt saldiert werden können. aa) Ausschluss der Saldierung nach § 817 S. 2 BGB Eine Berücksichtigung der von A bereits erbrachten Arbeitsleistung könnte gemäß § 817 S. 2 BGB ausgeschlossen sein. Nach dieser Vorschrift ist die Rückforderung einer Leistung ausgeschlossen, die gegen ein gesetzliches Verbot verstößt. Dabei muss der Verstoß gerade in der Erbringung der Leistung liegen, der Leistende muss sich des Verstoßes bewusst gewesen sein und ihn trotzdem gewollt haben. Fraglich ist zunächst, ob der Ausschlussgrund des § 817 S. 2 BGB Anwendung findet. Von seiner Stellung im Gesetz bezieht sich § 817 S. 2 BGB lediglich auf die Leistungskondiktion gem. § 817 S. 1 BGB. Allerdings spricht für eine Anwendung des § 817 S. 2 BGB auf alle Leistungskondiktionen, dass § 817 S. 2 BGB bei verbots- und sittenwidrigen Leistungen we9 S. hierzu auch BAG 3.11.2004 NZA 2005, 1409. 10 BAG 3.11.2004 NZA 2005, 1409. 11 Dazu Palandt/Sprau § 818 BGB Rn. 47.

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Fall 19 „Hochstapler und Schichtwechsel in der Schönheitsklinik“

gen der Umgehung über die Kondiktion gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB obsolet wäre, in Anwendung etwa auf die Leistungskondiktion nach § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB zu einer sinnvollen Gesamtregelung führt. § 817 S. 2 BGB findet daher auch im vorliegenden Fall Anwendung. Im vorliegenden Fall liegt gerade in der Ausübung des Arztberufs ohne Approbation ein Verstoß gegen §§ 2, 10 BÄO. A hat seinen Bewerbungsunterlagen eine gefälschte Approbationsurkunde beigefügt, er wusste somit, dass er eine Approbation benötigte und ohne diese gegen die BÄO verstieß. Dies tat er auch willentlich, um von G als Chirurg eingestellt zu werden. Ein Rückforderungsausschluss nach § 817 S. 2 BGB in Bezug auf die Zahlung des Entgelts durch G kommt hingegen nicht in Betracht. Denn zum einen liegt der Gesetzesverstoß gerade nicht in der Zahlung des Entgelts, und zum anderen hatte G zum Zeitpunkt der Entgeltzahlung keine Kenntnis von der fehlenden Approbation des A. Demnach ist die Saldierung des Wertes der von A erbrachten Arbeitsleistung gemäß § 817 S. 2 BGB ausgeschlossen. bb) Keine Einschränkung des § 817 S. 2 BGB nach § 242 BGB Fraglich ist, ob eine Einschränkung des § 817 S. 2 BGB unter Berücksichtigung von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB erforderlich ist, sodass dem Nichtarzt eine Vergütung im Wert seiner Leistungen zu belassen ist. Bereicherungsansprüche gehören dem Billigkeitsrecht an, sodass die Grundsätze von Treu und Glauben besonders zu berücksichtigen sind. Allerdings ist hier zu beachten, dass der Gesetzesverstoß durch A eine Gefährdung für die Gesundheit der Patienten darstellt, die ein besonders schützenswertes Rechtsgut ist. Das Unterbleiben dieser verbotenen Leistung und damit der Schutz des Rechtsguts kann am besten dadurch erreicht werden, dass dem Leistenden der Bereicherungsanspruch überhaupt versagt wird.12 Zwar erspart G auf diese Weise Arbeitsvergütungen in erheblichem Ausmaß, obwohl sie sogar mit der Arbeit des A zufrieden war. Dies kann aber noch keinen Verstoß gegen Treu und Glauben begründen. Denn die objektive Gefährdungslage entfällt nicht aus dem Grund, dass tatsächlich keine Gesundheitsverletzung eingetreten ist. Zudem ist zu berücksichtigen, dass G nicht das gesamte Entgelt zurückfordert, sondern zugunsten des A lediglich einen Teilbetrag. [a.A. vertretbar.] Somit entfällt die Anwendung des § 817 S. 2 BGB auch nicht aufgrund einer Berücksichtigung der Grundsätze von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB. e) Ergebnis G hat gegen A unter Zugrundelegung ihres Tatsachenvortrags gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB einen Rückzahlungsanspruch in Höhe von 60.000 Euro. Die Klage ist demnach schlüssig. 2. Anspruch auf Rückzahlung des Arbeitsentgeltes in Höhe von 60.000 Euro gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB wegen Nichtigkeit des Arbeitsvertrags nach §§ 142 Abs. 1, 123 Abs. 1 BGB [Wenn die Nichtigkeit des Arbeitsvertrags gemäß § 134 BGB bejaht worden ist, wirkt es sich auf die Bewertung nicht negativ aus, wenn auf die Nichtigkeit wegen Anfechtung nicht eingegangen 12 BAG 3.11.2004 NZA 2005, 1409.

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wird. Diejenigen Bearbeiterinnen und Bearbeiter, die die Nichtigkeit des Arbeitsvertrags gemäß § 134 BGB ablehnen, müssen die Frage der wirksamen Anfechtung des Arbeitsvertrags gemäß §§ 142 Abs. 1, 123 Abs. 1 BGB jedoch prüfen.] A hat durch Leistung der G einen Auszahlungsanspruch gegen seine Bank i.H.v. 60.000 Euro erlangt. Dies könnte ferner aus dem Grund rechtsgrundlos erfolgt sein, dass der Arbeitsvertrag auch aufgrund einer wirksamen Anfechtung wegen arglistiger Täuschung gemäß §§ 123 Abs. 1, 142 Abs. 1 BGB nichtig ist. a) Anwendbarkeit des Anfechtungsrechts bei Nichtigkeit nach § 134 BGB Fraglich ist jedoch, ob ein nichtiges Rechtsgeschäft angefochten werden kann. [Dies war nur zu erörtern, wenn die Nichtigkeit des Arbeitsvertrages gemäß § 134 BGB bejaht wurde.] Gegen die Zulässigkeit der Anfechtung nichtiger Rechtsgeschäfte spricht schon der Wortsinn, wonach bei Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts nichts mehr übrig bleibt, was noch durch eine Anfechtung vernichtet werden kann. Andererseits besteht ein Bedürfnis für die Anfechtbarkeit eines nichtigen Rechtsgeschäfts, weil ein Nebeneinander beider Nichtigkeitsgründe wegen der unterschiedlichen Interessenlage und des unterschiedlichen Schutzzwecks erforderlich sein kann. Dafür spricht auch, dass ein Rechtsgeschäft auch sonst aus mehreren Gründen nichtig sein kann. Zudem muss eine Anfechtung insbesondere dann zulässig sein, wenn der Anfechtungsgrund stärker wirkt als der Nichtigkeitsgrund oder der Anfechtungsgrund leicht, der Nichtigkeitsgrund aber nur schwer zu beweisen ist.13 Dies ermöglicht eine genauere Berücksichtigung der konkreten Fallsituation. Andererseits liegt hier eine solche Konstellation verschieden starker Wirkung oder Beweisbarkeit gerade nicht vor, sodass zumindest im konkreten Fall kein Bedürfnis für die Anfechtung des nichtigen Vertrags besteht. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass insbesondere aufgrund der Schutzwürdigkeit des nach § 123 Abs. 1 BGB zur Anfechtung Berechtigten eine generelle Entscheidung für die Anfechtbarkeit des nichtigen Rechtsgeschäfts geboten ist. Demnach ist das Anfechtungsrecht vorliegend anwendbar, sodass der nach § 134 BGB nichtige Arbeitsvertrag noch von G angefochten werden kann. [Hier sind beide Auffassungen gut vertretbar. Die Bearbeiter, die sich für die Anwendbarkeit des Anfechtungsrechts entscheiden, müssen sodann die weiteren Voraussetzungen einer Anfechtung durch G prüfen.] b) Anfechtungserklärung G müsste weiterhin eine wirksame Anfechtungserklärung i.S.v. § 143 BGB abgegeben haben. Die Erklärung muss erkennen lassen, dass die anfechtende Vertragspartei das Rechtsgeschäft gerade wegen eines Willensmangels nicht gegen sich gelten lassen will. Es ist nicht erforderlich, dass das Wort „anfechten“ verwendet wird. Auch in der Rückforderung des Geleisteten kann eine Anfechtungserklärung zu sehen sein. Allerdings ist hier fraglich, ob G einen Willensmangel als Grund angibt und den Arbeitsvertrag gerade wegen der Täuschung des A nicht gegen sich gelten lassen will. G erklärt nach Aufdeckung des Schwindels durch K, dass sie A nicht mehr in ihrer Klinik sehen möchte. Dies begründet sie mit der Furcht vor Sank13 Zum Ganzen Palandt/Ellenberger Überbl. v. § 104 BGB Rn. 35; MüKo BGB/Busche § 142 BGB Rn. 12.

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Fall 19 „Hochstapler und Schichtwechsel in der Schönheitsklinik“

tionen, weil sie einen nicht approbierten Arzt als Chirurgen beschäftigt, der zudem kein abgeschlossenes Medizinstudium hat. Gegen die Annahme eines Willens der G zur Rückgängigmachung des Arbeitsvertrags gerade aufgrund des Willensmangels spricht auch, dass G nicht die gesamte von A erbrachte Leistung zurückfordert, sondern nur einen Teil. Eine wirksame Anfechtungserklärung liegt somit nicht vor. [a.A. ggf. vertretbar. Diejenigen Bearbeiter, die von dem Vorliegen einer wirksamen Anfechtungserklärung ausgehen, müssen die Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB weiterprüfen. Eine vorsätzliche arglistige Täuschung durch A kann problemlos bejaht werden. Die Täuschung war für die Willenserklärung der G, gerichtet auf den Abschluss des Arbeitsvertrages, ursächlich und erfolgte auch widerrechtlich. Ein Anfechtungsgrund liegt damit vor. Weiterhin muss G die Anfechtung innerhalb der Jahresfrist des § 124 Abs. 1 BGB erklärt haben. Dies ist der Fall, da G den Arbeitsvertrag noch am Tag der Aufdeckung der Täuschung anficht, vgl. § 124 Abs. 2 BGB. Somit ist der Arbeitsvertrag gemäß §§ 142 Abs. 1, 123 Abs. 1 BGB nichtig. Insbesondere sind auch hier die Grundsätze des faktischen Arbeitsverhältnisses nicht anwendbar, sodass keine Ausnahme zur ex-tunc-Wirkung der Nichtigkeitsfolge gemacht werden kann. Die Leistung des Arbeitsentgelts erfolgte damit rechtsgrundlos gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB.] Im Rahmen der Rechtsfolge sind wieder dieselben Erwägungen anzustellen wie oben, sodass auf die Ausführungen dazu verwiesen werden kann. Im Ergebnis besteht somit ein Anspruch des G aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB auf Rückzahlung eines Teils des Entgelts in Höhe von 60.000 Euro. c) Ergebnis G hat mangels Anfechtungserklärung keinen Anspruch gegen A auf Rückzahlung des teilweisen Arbeitsentgeltes in Höhe von 60.000 Euro aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB wegen Nichtigkeit des Arbeitsvertrags nach §§ 142 Abs. 1, 123 Abs. 1 BGB.

IV. Gesamtergebnis Die Klage der G ist zulässig, die formellen Voraussetzungen eines Versäumnisurteils liegen vor und das Vorbringen der G ist schlüssig. Das Versäumnisurteil ist damit rechtmäßig ergangen.

D. Lösungsvorschlag Frage 2 – Klage des B Die Klage des B ist begründet, wenn die angegriffene Kündigung nicht den zwingenden Rechtsvorschriften über die Wirksamkeit und ggf. die soziale Rechtfertigung einer Änderungskündigung entspricht.

I. Wirksame Kündigungserklärung Die Wirksamkeit einer Kündigung setzt zunächst voraus, dass die Kündigungserklärung wirksam ist. Da es sich bei der Kündigung um eine einseitige, rechtsgestaltende Willenserklärung handelt, ist ihre Wirksamkeit anhand der allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen (§§ 104 ff. BGB) zu beurteilen. 252

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Zweifel an der Wirksamkeit der Willenserklärung bestehen im vorliegenden Fall nicht. Nach § 623 BGB bedarf die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform (§§ 125, 126 BGB). § 623 BGB betrifft nur Kündigungen, die auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses angelegt sind. Die Änderungskündigung als Beendigungskündigung verbunden mit einem Angebot auf Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu geänderten Bedingungen wird mithin auch von § 623 BGB erfasst, da sie bei Nichtannahme des Angebots durch den Arbeitnehmer zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führt (§ 2 KSchG). Bei der Änderungskündigung ist zu beachten, dass es sich um ein einheitliches Rechtsgeschäft handelt, das aus zwei Willenserklärungen, nämlich Kündigungserklärung und Änderungsangebot, zusammengesetzt ist. Daher ist neben der Kündigung auch das Änderungsangebot formbedürftig. Die Annahme des Arbeitnehmers (ggf. unter Vorbehalt nach § 2 KSchG) ist dagegen formfrei, da sie zum einen nicht mehr Bestandteil der Kündigung ist und zum anderen ein Änderungsvertrag nicht formbedürftig ist. In der vorbehaltlosen Weiterarbeit kann somit beispielsweise eine konkludente Annahme des Änderungsangebots liegen. In dem Schreiben der G vom 23.4.2019 wird B neben der Erklärung der Kündigung zum 30.6.2019 zugleich die Weiterbeschäftigung in Wechselschicht ab dem 1.7.2019 angeboten, sodass § 623 BGB gewahrt wurde. Der Inhalt des Schreibens der G war auch hinreichend bestimmt. Will ein Arbeitgeber eine Änderungskündigung aussprechen, so muss für den Arbeitnehmer zum einen der Wille des Arbeitgebers erkennbar sein, das Vertragsverhältnis mit den bislang geltenden Vertragsbedingungen mit Wirkung für die Zukunft zu beenden. Zum anderen muss mit der Kündigung ein Änderungsangebot verbunden sein, das den allgemeinen zivilrechtlichen Anforderungen an die Bestimmtheit genügt, wobei die Bestimmbarkeit des Angebots ausreicht. Beide Voraussetzungen erfüllt die Kündigungserklärung des P vom 23.4.2019. Die Kündigung ist dem B auch zugegangen i.S.d. § 130 BGB.

II. Einhaltung der Klagefrist Gemäß § 4 S. 1 KSchG muss eine Kündigungsschutzklage binnen drei Wochen nach Zugang der Kündigung erhoben werden. Dies gilt nach § 4 S. 2 KSchG auch für eine Klage, mit der der Arbeitnehmer die Feststellung begehrt, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen sozial ungerechtfertigt oder aus anderen Gründen rechtsunwirksam ist. Nach Ablauf dieser Frist gilt die Kündigung gemäß § 7 KSchG als von Anfang an wirksam und ein vom Arbeitnehmer nach § 2 KSchG erklärter Vorbehalt erlischt. Mangels anderweitiger Angaben im Sachverhalt ist davon auszugehen, dass B seine Klage innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 4 S. 1 KSchG erhoben hat.

III. Vorbehaltsfrist Der B müsste die Erklärung, dass er die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu den geänderten Arbeitsbedingungen unter dem Vorbehalt annehme, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen nicht sozial ungerechtfertigt sei (§ 1 Abs. 1 S. 1–3, Abs. 3 S. 1, 2 KSchG), seiner Arbeitgeberin G gegenüber innerhalb der Kündigungsfrist, spätestens jedoch innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung abgegeben haben, § 2 S. 2 KSchG. Aus dem Sachverhalt ist erkennbar, dass der B den Vorbehalt vor Erhebung der Klage vor dem zuständigen Arbeitsgericht gegenüber G erklärt hat. Mangels anderweitiger Sachverhaltsangaben ist auch hierbei davon auszugehen, dass B die Frist des § 2 S. 2 KSchG eingehalten hat.

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Fall 19 „Hochstapler und Schichtwechsel in der Schönheitsklinik“

IV. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe Es sind keine allgemeinen Unwirksamkeitsgründe oder Kündigungsverbote aus dem Sachverhalt ersichtlich.

V. Anhörung des Betriebsrats Gemäß § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG ist der Arbeitgeber vor Ausspruch jeder Kündigung verpflichtet, dem Betriebsrat die Gründe für die beabsichtigte Kündigung mitzuteilen und ihm Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Das Anhörungserfordernis gilt auch für eine Änderungskündigung, da es sich dabei um eine „echte“ Kündigung handelt. G hat den Betriebsrat im vorliegenden Fall ordnungsgemäß angehört, sodass die Kündigung des B nicht wegen Verstoßes gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG unwirksam ist.

VI. Kündigungsschutz aus §§ 2, 1 KSchG Die Änderungskündigung gegenüber B könnte gemäß §§ 2, 1 Abs. 2, Abs. 3 KSchG unwirksam sein, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. 1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes B ist Arbeitnehmer und mehr als sechs Monate bei der G beschäftigt. Die Klinik hat mehr als 10 Arbeitnehmer. Der Anwendungsbereich des KSchG ist nach den §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 S. 2, 3 KSchG damit eröffnet. 2. Soziale Rechtfertigung der Kündigung Hat ein Arbeitnehmer das in der Änderungskündigung enthaltene Angebot unter dem Vorbehalt des § 2 S. 1 KSchG angenommen, ist gerichtlich zu überprüfen, ob die Änderungskündigung gemäß §§ 2, 1 Abs. 2, Abs. 3 KSchG sozial gerechtfertigt ist. Das setzt voraus, dass die Vertragsänderung durch Gründe, die in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb zu den bisherigen Vertragsbedingungen entgegenstehen, bedingt ist und die vorgeschlagene Änderung der Vertragsbedingungen dem Arbeitnehmer zumutbar ist. Im vorliegenden Fall begründet G die Kündigung mit der Einführung einer zweiten Schicht, die als Wechselschicht zu der bereits bestehenden Frühschicht abgeleistet werden soll. Da es sich hierbei um eine Änderung der Betriebsorganisation handelt, ist das Institut der betriebsbedingten Änderungskündigung einschlägig. Die soziale Rechtfertigung einer betriebsbedingten Änderungskündigung setzt gemäß §§ 2, 1 Abs. 2 und 3 KSchG voraus, dass der Arbeitgeber eine unternehmerische Entscheidung trifft, durch welche die Beschäftigungsmöglichkeit eines Arbeitnehmers zu den bisherigen Vertragsbedingungen dauerhaft wegfällt (betriebliches Erfordernis), der Arbeitnehmer weder ohne Vertragsänderung auf einem anderen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden kann noch sonstige mildere Mittel statt der Kündigung möglich sind (Dringlichkeit), die vorgeschlagene Vertragsänderung dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entspricht und der Arbeitgeber eine fehlerfreie Sozialauswahl durchführt.

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a) Dringendes betriebliches Erfordernis i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG aa) Unternehmerische Entscheidung Unter einer unternehmerischen Entscheidung ist die Bestimmung der Unternehmenspolitik zu verstehen, die der Geschäftsführung zugrunde liegt. Sie ist regelmäßig darauf gerichtet, einen oder mehrere innerbetriebliche Aufgabenbereiche in ihrer Qualität oder Quantität zu verändern. Die unternehmerische Entscheidung der G liegt zunächst in dem Entschluss, die Kapazitäten auszuweiten, da G aufgrund der Stilllegung einer Konkurrenzklinik mit mehr Patienten rechnet. Dafür hat sich G entschlossen, zusätzlich zu der bereits bestehenden Frühschicht eine Spätschicht einzuführen. Da G mithin Veränderungen in der innerbetrieblichen Organisation vornimmt, liegt eine gestaltende Unternehmerentscheidung vor. Dafür, dass die beiden Schichten im Wechselschichtbetrieb durchgeführt werden sollen, sind nach Darstellung der G zwei Überlegungen maßgeblich: Zum einen soll die personelle Zusammensetzung der Operationsgruppen gewahrt bleiben, damit die Arbeitnehmer jeweils mit den ihnen vertrauten Arbeitskollegen zusammenarbeiten und stets dieselben Vorgesetzten als Ansprechpartner haben. Zudem soll die Belastung, die insbesondere mit der Arbeit in der Spätschicht verbunden ist, gleichmäßig auf die Beschäftigten verteilt werden. Dieses Personalführungskonzept ist Bestandteil der unternehmerischen Entscheidung der G. Angesichts der Berufs- und Eigentumsfreiheit des Arbeitgebers, die durch Art. 12, 14 GG geschützt ist, unterliegen unternehmerische Entscheidungen des Arbeitgebers nur einer begrenzten gerichtlichen Kontrolle. So ist im Hinblick auf eine gestaltende Unternehmerentscheidung gerichtlich nachprüfbar, ob die vom Arbeitgeber als Kündigungsgrund angeführte Unternehmerentscheidung tatsächlich vorliegt und die angegriffene Kündigung erforderlich macht. Vom Vorliegen einer unternehmerischen Entscheidung ist dann auszugehen, wenn die entsprechenden Pläne des Arbeitgebers feststehen und hinsichtlich des Zeitpunkts und der Art ihrer Durchführung bereits konkrete Formen angenommen haben. In Bezug auf ihren Inhalt ist die Arbeitgeberentscheidung nicht auf ihre sachliche Rechtfertigung oder ihrer betriebswirtschaftliche Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen, sondern nur darauf, ob sie offenbar unvernünftig oder willkürlich ist. Der Entschluss der G, die Operationskapazitäten auszuweiten und zu diesem Zweck eine zweite Schicht einzuführen, ist definitiv und für seine Umsetzung besteht, wie sich aus dem 30.6.2019 als Kündigungstermin für B ergibt, ein konkreter Zeitplan. Hinweise darauf, dass dieser Entschluss offenbar unsachlich oder willkürlich ist, sind nicht ersichtlich. Vielmehr erscheint die Erwartung der G, die Stilllegung der Konkurrenzklinik werde für sie zu einem Auftragszuwachs führen, ebenso nachvollziehbar wie die Absicht, dem erwarteten Patientenzuwachs durch eine umfangreichere zeitliche Auslastung der vorhandenen sachlichen Mittel zu begegnen. Auch im Hinblick auf das Personalführungskonzept, das G zur Umsetzung der Kapazitätserweiterung aufgestellt hat, hat G tatsächlich eine unternehmerische Entscheidung getroffen. So ist zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung der Betrieb bereits auf Wechselschicht umgestellt worden. Allerdings sind dabei nicht, wie von G ursprünglich angestrebt, alle Arbeitnehmer nach wie vor in festen Operationsgruppen mit einem feststehenden Ansprechpartner tätig, sondern einzelne Mitarbeiter sind von dem Wechselschichtsystem ausgenommen und werden ausschließlich in der Früh- bzw. Spätschicht eingesetzt. Damit hat die von G getroffene Unternehmerentscheidung nicht den von ihr behaupteten Inhalt, alle Arbeitnehmer in das Wechselschichtsystem einzubeziehen. Es liegt lediglich eine unternehmerische Entscheidung des Inhalts vor, die große Mehrzahl der Arbeitnehmer im Wechselschicht-

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betrieb einzusetzen. Diese Entscheidung der G ist weder unsachlich noch willkürlich, da sie dem Zweck dient, Produktivität und Effizienz der Arbeitsleistung zu fördern und die mit der Spätschicht verbundene Belastung gleichmäßig auf die Beschäftigten zu verteilten. Mithin liegt der Kündigung des B eine den Anforderungen der §§ 2, 1 Abs. 2 KSchG entsprechende unternehmerische Entscheidung zugrunde. bb) Kausaler, dauerhafter Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit Weitere Voraussetzung für die soziale Rechtfertigung der betriebsbedingten Änderungskündigung ist, dass die Unternehmerentscheidung kausal zum dauerhaften Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten zu den gegenwärtigen Vertragsbedingungen führt. Diese Voraussetzung ist nicht nur dann erfüllt, wenn die veränderten betrieblichen Verhältnisse den Wegfall des konkreten Arbeitsplatzes des gekündigten Arbeitnehmers in seiner bisherigen Ausgestaltung bedingen. Es genügt vielmehr, dass ein rechnerischer Überhang an Arbeitskräften entstanden ist. Entscheidend ist also die Verringerung des Personalbedarfs, die sich prozentual auf eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern niederschlägt, zu der auch der gekündigte Arbeitnehmer gehört. Die unternehmerische Entscheidung muss mithin zu der Konsequenz führen, dass der Arbeitgeber nicht mehr alle zu dieser Gruppe gehörenden Arbeitnehmer vertragsgemäß beschäftigen kann. Die unternehmerische Entscheidung der G, zu einem Zwei-Schicht-Wechselbetrieb mit im Wesentlichen fester Arbeitsgruppenzusammensetzung überzugehen, hat zur Folge, dass sich die Beschäftigungsmöglichkeit für Arbeitnehmer, die allein in der Frühschicht tätig sind, verringert. Damit bedingt die Unternehmerentscheidung der G einen rechnerischen Überhang an Arbeitskräften, die, wie auch B, aufgrund ihres Arbeitsvertrages nur zur Arbeit in der Frühschicht herangezogen werden können. cc) Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses (Erforderlichkeit) Ein „dringendes“ betriebliches „Erfordernis“ liegt nur vor, wenn nach dem Zweck der betriebsbedingten Kündigung dem Kündigungsinteresse nicht durch andere mildere Maßnahmen Rechnung getragen werden kann. Insoweit ist insbesondere zu prüfen, ob das unternehmerische Konzept nicht auch durch andere Maßnahmen auf technischem, organisatorischem oder wirtschaftlichem Gebiet ebenso gut verwirklicht werden könnte wie durch den Ausspruch der Änderungskündigung. K Kontext: Das Ultima-Ratio-Prinzip steht einer betriebsbedingten Änderungskündigung auch dann entgegen, wenn der Arbeitgeber die angestrebte Änderung der Arbeitsbedingungen bereits durch Ausübung seines Direktionsrechts hätte herbeiführen können. Sofern eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit zu vertraglich unveränderten Arbeitsbedingungen besteht, ist die Änderung der Arbeitsbedingungen durch Direktionsrecht nämlich milderes Mittel gegenüber dem Ausspruch einer Kündigung. Darüber hinaus spielt die Möglichkeit zur Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz gemäß § 1 Abs. 2 S. 2 KSchG im Rahmen der Prüfung der Dringlichkeit einer betriebsbedingten Änderungskündigung keine Rolle. Denn die Frage, ob eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit zu geänderten, den Arbeitnehmer weniger belastenden Arbeitsbedingungen zur Verfügung steht, ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit des Änderungsangebots und ebendort zu untersuchen.

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B führt hinsichtlich des unternehmerischen Konzepts aus, G habe insgesamt die Notwendigkeit eines Wechselschichtbetriebes nicht hinreichend dargetan, denn es wäre ohne weiteres möglich gewesen, die neu einzustellenden Mitarbeiter ausschließlich in der Spätschicht zu beschäftigen und für die bisherige Stammbelegschaft alles beim Alten zu lassen. Dieser Einwand des B greift jedoch nicht durch. So wäre mit einem Zweischichtbetrieb ohne wöchentlichen Wechsel zwischen Früh- und Spätschicht zwar das unternehmerische Ziel der G, die Arbeitnehmer möglichst in festen Gruppen zu beschäftigen, erreicht worden. Die weiterhin von G angestrebte gleichmäßige Verteilung der Belastungen, die mit der Spätschichtarbeit verbunden sind, wäre damit jedoch nicht realisiert worden. Ähnlich wie die Entscheidung, ob ein Arbeitgeber das in seinem Betrieb anfallende Arbeitsvolumen mit Voll- oder mit Teilzeitkräften bewältigen will, handelt es sich bei der Einführung von Wechselschichtbetrieb oder nicht wechselndem Schichtbetrieb um eine legitime Unternehmerentscheidung. Diese kann nicht unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit einer Inhaltskontrolle unterworfen werden, die angesichts der Art. 12, 14 GG ausgeschlossen ist. Bedenken gegen die Erforderlichkeit der Änderungskündigung gegenüber B bestehen allerdings insoweit, als auch vier andere Arbeitnehmer ausschließlich in der Früh- bzw. Spätschicht eingesetzt werden und G für diese eine Ausnahme von der grundsätzlich gleichbleibenden Zusammensetzung der Arbeitsgruppen zulässt. An diesem Verhalten muss sich G auch im Hinblick auf die Erforderlichkeit der Änderungskündigung messen lassen, die sie gegenüber B ausgesprochen hat. Durch ihr eigenes Verhalten hat G zweifelsfrei zu erkennen gegeben, dass ihre unternehmerischen Zielvorstellungen auch dann verwirklicht werden können, wenn nicht alle Arbeitnehmer in den Wechselschichtbetrieb einbezogen werden. Zwar träte eine Gefährdung des unternehmerischen Konzepts ein, wenn ein wesentlicher Teil der Arbeitnehmer aus dem Wechselschichtbetrieb ausgenommen würde. Es sind jedoch keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass eine Ausnahme von sechs Arbeitnehmern anders zu beurteilen wäre als eine Ausnahme von vier Arbeitnehmern. Außerdem ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass der Wunsch des B, in der Frühschicht zu verbleiben, nicht auf persönlicher Bequemlichkeit beruht, sondern wegen des Kindergartenbesuchs seines Kindes und der Berufstätigkeit seines Mannes für B die einzige Möglichkeit zur Fortsetzung seiner Tätigkeit darstellt. Da die Arbeitnehmerin Y bereit wäre, ausschließlich in der Spätschicht zu arbeiten, könnte G den B in der Frühschicht belassen, ohne dass sie dadurch einseitig in die vertraglichen Rechte anderer Arbeitnehmer eingreifen müsste, was regelmäßig unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit nicht verlangt werden kann. Da eine Weiterbeschäftigung des B in der Frühschicht mithin möglich wäre, ohne dass das unternehmerische Konzept der G gefährdet würde, war die gegenüber B ausgesprochene Änderungskündigung nicht erforderlich. b) Zwischenergebnis Die von G gegenüber B ausgesprochene Änderungskündigung ist wegen Verstoßes gegen das Ultima-Ratio-Prinzip sozial ungerechtfertigt i.S.d. §§ 2, 1 Abs. 2 KSchG.

VII. Ergebnis Die Kündigung gegenüber B ist wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Kündigungsschutz aus §§ 2, 1 KSchG sozial ungerechtfertigt und damit rechtsunwirksam. Die Klage des B ist daher begründet. 257

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K Zur Vertiefung: Zur Nichtigkeit des Arbeitsvertrags s. Junker Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 189; Preis/Temming Individualarbeitsrecht Rn. 917–927. Zur Änderungskündigung s. Junker Rn. 416–424; Preis/Temming Rn. 3140–3206.

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Fall 20 „Leere Versprechungen“ A. Falldarstellung Der 54-jährige N ist als Sekretär bei einer Spedition beschäftigt, bei der er monatlich 1.700 Euro verdient. Als er eines Tages den Umzug der G-GmbH (G) in die Stadt T zu organisieren hat, lernt er u.a. den Leiter der dortigen Personalabteilung, den Prokuristen P, kennen. Dieser ist von der Umsicht und Sorgfalt von N angetan und bietet ihm, da er selbst gerade einen Sekretär sucht, eine entsprechende Stellung an. N, der schon seit über zehn Jahren bei der Spedition beschäftigt und Mitglied des dortigen Betriebsrats ist, ist jedoch zunächst nicht dazu zu bewegen, die Stelle zu wechseln. Erst als ihm P zusagt, dass er 300 Euro mehr verdienen werde als bislang und es sich bei dem Job um eine „Lebensstellung“ handele, kündigt er bei der Spedition und tritt am 1.9. seine neue Arbeit bei der G an. N erledigt die ihm übertragenen Aufgaben zur allgemeinen Zufriedenheit. Weil P jedoch alsbald feststellt, dass er lieber einen jüngeren Sekretär hätte, kündigt ihm die G mit Schreiben vom 22.12., das ihm am 24.12. zugeht, ordentlich zum 31.1. des Folgejahres. Allerdings wird in dem Kündigungsschreiben kein Grund angegeben, schon gar nicht das Alter des N. Am 21.12. fand eine Sitzung des Betriebsrats statt, auf deren Tagesordnung unter anderem „Anhörung nach § 102 BetrVG“ stand. Während der Sitzung trug der Betriebsratsvorsitzende B zwar die Fälle der Mitarbeiter X, Y und Z vor, die aus betriebsbedingten Gründen zur Kündigung anstanden, den Fall N vergaß er jedoch. Sein Versäumnis bemerkte er erst am nächsten Tag, wollte den Fehler jedoch P gegenüber nicht eingestehen und teilte ihm am gleichen Tage schriftlich mit, dass „der Betriebsrat in seiner Sitzung vom 21.12. beschlossen hat, gegen die Kündigung der Mitarbeiter N, X, Y und Z Widerspruch nicht zu erheben“. Der von der Kündigung völlig überraschte N erhebt am 5.1. Klage vor dem zuständigen Arbeitsgericht in T mit dem Antrag, die Unwirksamkeit der Kündigung festzustellen. Nach seinem Ausscheiden bei der G hat N trotz seiner hervorragenden Qualifikation auf Grund seines Alters erhebliche Schwierigkeiten, eine neue Anstellung zu finden. Erst nach zweimonatiger Arbeitslosigkeit findet er zum 1.4. eine neue Beschäftigung bei der W-AG (W). Aus Sorge, im Kündigungsrechtsstreit zu unterliegen, erweitert er seine Klage um den Hilfsantrag, die Beklagte zur Zahlung von 4.000 Euro Schadensersatz für den Lohnausfall in den Monaten Februar und März zu verurteilen. Zur Begründung trägt er u.a. vor, er hätte angesichts der Umstände bei der Vertragsanbahnung darauf vertrauen dürfen, dass ihm nicht so einfach gekündigt werde. Dieses Vertrauen sei – falls die Kündigung wirksam sei – in einer zum Schadensersatz verpflichtenden Weise enttäuscht worden. Frage 1: Wie wird das Arbeitsgericht entscheiden? Abwandlung: N verzichtet auf die Erhebung der Kündigungsschutzklage, weil er kein Interesse mehr an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit der G hat. Er bemüht sich in der Folgezeit um einen anderen Arbeitsplatz. In den ersten Wochen bleibt er erfolglos, er wird nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Im März entdeckt er eine Stellenanzeige der W-AG (W) und wird dort vorstellig. Nach dem Einstellungsgespräch am 25.3. teilt ihm der Personalchef mit, dass angesichts seiner hervorragenden Zeugnisse – N hatte von der G ein Zeugnis erhalten, in dem er als außerordentlich begabter, verlässlicher und beliebter Mitarbeiter bezeichnet wird – „nur noch einige Formalitäten“ erledigt werden 259

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Fall 20 „Leere Versprechungen“

müssten, bevor man ihm den unterschriftsreifen Arbeitsvertrag in einigen Tagen übersenden werde, damit er gleich zum 1.4. anfangen könne. In dem Gespräch einigten sich der Personalchef und N bereits auf ein monatliches Gehalt in Höhe von 2.000 Euro. Nachdem N das Büro verlassen hat, ruft der Personalchef der W den P an und befragt diesen über die Leistungen und Führungen von N während seiner Tätigkeit bei der G. P antwortet, bei N handele es sich um eine „alte Sau, die nicht einmal vernünftig Kaffee kochen könne“. Daraufhin teilt die W dem N mit, dass der in Aussicht gestellte Arbeitsvertrag doch nicht geschlossen werden könne, man habe sich für einen anderen Bewerber entschieden. N bleibt einen weiteren Monat bis zum 1.5. arbeitslos. Anfang Mai wird er dann von einem kleinen Reinigungsunternehmen als Sekretär angestellt, jedoch nur zu einem Monatslohn von 1.500 Euro. Daraufhin erhebt N im Juli vor dem Arbeitsgericht in T gegen die G Klage auf Schadensersatz in Höhe des Lohnausfalls für die Monate Februar bis April (6.000 Euro) und der Entgeltdifferenz für die Monate Mai und Juni (1.000 Euro), insgesamt also 7.000 Euro. Frage 2: Wie wird das Arbeitsgericht über die mit zulässiger Klage geltend gemachten Ansprüche entscheiden? Schwierigkeitsgrad: Durchschnittlich schwierige und überdurchschnittlich umfangreiche Examensklausur Rechtsfragen: Erhebung der Kündigungsschutzklage und Anwendbarkeit von § 4 KSchG, Ausschluss des Kündigungsrechts, Unwirksamkeit der Kündigung wegen AGG, Beweislast des § 22 AGG, Zugang der Kündigung am 24.12. und § 242 BGB, § 628 Abs. 2 BGB, Schadensersatz bei vorvertraglicher Pflichtverletzung; Verdienstausfall, Negatives und positives Interesse bei der Schadensberechnung

B. Lösungsskizze Frage 1 – Kündigungsschutzklage des N I. Hauptantrag 1. Zulässigkeit (+) Prüfungspunkte insb.: Zuständigkeiten, Prozess-, Partei- und Postulationsfähigkeit, Klageart, Feststellungsinteresse sowie ordnungsgemäße Klageerhebung 2. Begründetheit a) Vertraglicher Ausschluss des Kündigungsrechts? (–) aa) Arbeitsverhältnis für die Lebenszeit i.S.d. § 15 Abs. 4 TzBfG (–) bb) Einzelvertraglicher Ausschluss des ordentlichen Kündigungsrechts (–) b) Wirksame Kündigungserklärung (+) c) Einhalten der materiellen Präklusionsfrist (§§ 4, 7 KSchG) (+) d) Verstoß gegen allgemeine Unwirksamkeitsgründe

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aa) Verstoß gegen Treu und Glauben gem. § 242 BGB (1) Unwirksamkeit wegen „Ungehörigkeit“ (–) – Kündigung am „heiligen Abend“ (2) Unwirksamkeit der Kündigung unter dem Gesichtspunkt des „venire contra factum prorium“ (–) – Lebensstellung bb) Verstoß gegen AGG (–), nicht beweisbar e) Anhörung des Betriebsrats, § 102 BetrVG (+) – Fehlerhaft wegen ausgebliebener Information des Betriebsrats durch den Vorsitzenden? – Fehlerverantwortlichkeit in der Zuständigkeitssphäre des Betriebsrats führt nicht zur Unwirksamkeit des Anhörungsverfahrens f) Kündigungsschutz nach dem KSchG: Wartezeit nicht erfüllt, daher (–) 3. Ergebnis: Kündigung wirksam, Klage unbegründet. II. Hilfsantrag 1. Zulässigkeit (+) Prüfungspunkte insb.: Zuständigkeiten, statthafte Klageart sowie ordnungsgemäße Klageerhebung (Form, Bedingungsfeindlichkeit) 2. Verbindungsvoraussetzungen für die beiden Klagen, § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, §§ 495, 260 ZPO (+) 3. Begründetheit a) Schadenersatz aus §§ 15 Abs. 1, 7 Abs. 1, 1 AGG (–) b) Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 i.V.m. 241 Abs. 2 BGB aa) Schuldverhältnis: vorvertraglich durch Aufnahme von Vertragsverhandlungen bb) Schuldhafte Pflichtverletzung: Täuschung über Ernsthaftigkeit des Angebots einer Lebensstellung und dadurch Enttäuschung des berechtigten Vertrauens des N aufgrund der Aussage cc) Kausalität (+) dd) Rechtsfolge: Schadenersatz, §§ 249 ff. BGB Zu ersetzen: negatives Interesse, nach Differenzhypothese 3.400 Euro 4. Ergebnis: Klage i.H.v. 3.400 Euro begründet Frage 2 – Ersatzansprüche I. Anspruch auf Schadenersatz für die Monate Februar und März: siehe Grundfall, i.H.v. 3.400 Euro (+) II. Anspruch auf Schadenersatz für die Monate April bis Juni 1. Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB

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a) Verletzung einer nachvertraglichen Nebenpflicht Durch Erteilung von Auskünften über den Arbeitnehmer gegenüber Dritten insb. neuen Arbeitgebern? Grds. zulässig bei wahrheitsgemäßem Inhalt und berechtigtes Interesse (BAG); aber jedenfalls Verletzung bei abfälligem, persönlichkeitsverletzendem und wahrheitswidrigem Inhalt b) Vertretenmüssen (+) c) Zwischenergebnis: Anspruch (+) 2. Schadenersatz aus § 831 BGB (+) a) Verrichtungsgehilfe (+) b) Schadensverursachung in Ausführung der Verrichtung (+) c) Widerrechtliche Schadenszufügung durch P aa) § 823 Abs. 1 BGB (+) bb) § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 185 StGB (+) cc) § 826 BGB (+) dd) § 824 BGB (–) d) Exkulpation (–) e) Zwischenergebnis: Anspruch aus § 831 BGB (+) 3. Rechtsfolge: Schadenersatz gemäß §§ 249 ff. BGB a) Ersatzfähiger Schaden: Positives Interesse, Erfüllungsschaden b) Schadensermittlung: 3.000 Euro (+) III. Ergebnis: Klage in Höhe von 6.400 Euro begründet (zweimal 1.700 Euro für die Monate Februar und März, einmal 2.000 Euro für den Monat April, zweimal 500 Euro für die Monate Mai und Juni). Im Übrigen unbegründet.

C. Lösungsvorschlag Frage 1 – Kündigungsschutzklage des N Die Klagen des N haben Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet sind.

I. Hauptantrag 1. Zulässigkeit Die Klage von N ist zulässig, wenn die folgenden Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen: a) Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit Die Zulässigkeit der Klage setzt zunächst voraus, dass der Rechtsstreit in die Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit fällt. Der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten ist hier gemäß § 2 262

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Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG eröffnet, da eine Streitigkeit zwischen einem Arbeitnehmer und einem Arbeitgeber über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses vorliegt. b) Instanzielle Zuständigkeit N hat die Klage beim Arbeitsgericht erhoben. Gemäß § 8 Abs. 1 ArbGG sind die Arbeitsgerichte für Verfahren im ersten Rechtszug zuständig, sodass die instanzielle Zuständigkeit des angerufenen Gerichts gegeben ist. c) Örtliche Zuständigkeit Gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG gelten für die örtliche Zuständigkeit neben dem besonderen Gerichtsstand des § 48 Abs. 1a ArbGG die Bestimmungen der ZPO hinsichtlich des Gerichtsstandes. Gemäß § 17 Abs. 1 ZPO wird der allgemeine Gerichtsstand einer Gesellschaft durch ihren Sitz bestimmt. Für eine gegen die G gerichtete Klage ist daher das für die Stadt T zuständige Arbeitsgericht anzurufen. Da N die Klage beim Arbeitsgericht in T erhoben hat, ist die Klage beim örtlich zuständigen Gericht erhoben. d) Parteifähigkeit Gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 50 Abs. 1 ZPO ist parteifähig, wer rechtsfähig ist. Sowohl N als natürliche Person als auch die G (vgl. § 13 Abs. 1 GmbHG) sind rechtsfähig und damit parteifähig. e) Prozessfähigkeit Gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 52 ZPO richtet sich die Prozessfähigkeit natürlicher Personen nach ihrer Geschäftsfähigkeit. Diese steht bei N außer Zweifel. Gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 51 Abs. 1 ZPO, § 35 Abs. 1 GmbHG muss die G im Prozess durch ihren Geschäftsführer vertreten werden. f) Postulationsfähigkeit Gemäß § 11 Abs. 1 S. 1 ArbGG besteht in einem erstinstanzlichen Verfahren kein Anwaltszwang. g) Klageart Die Frage, welche Klageart die richtige ist, richtet sich nach dem Begehren des Klägers. Wendet sich der Kläger gegen eine Kündigung, verdrängt § 4 S. 1 KSchG als speziellere Vorschrift die allgemeine Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO. Demnach ist die richtige Klageart die Kündigungsschutzklage gemäß § 4 S. 1 KSchG. h) Feststellungsinteresse Die Darlegung eines besonderen Feststellungsinteresses ist im Gegensatz zur allgemeinen Feststellungsklage für die Kündigungsschutzklage nicht erforderlich. Das Feststellungsinteresse ergibt sich bereits aus der Regelung des § 7 KSchG, nach dem die Kündigung von An263

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fang an als wirksam gilt, wenn die Unwirksamkeit der Kündigung nicht rechtzeitig geltend gemacht wird. i) Ordnungsgemäße Klageerhebung Die Form, insbesondere der notwendige Inhalt der beim Arbeitsgericht zur Klageerhebung einzureichenden Klageschrift, ergibt sich aus § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 253 ZPO. Es ist davon auszugehen, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind. j) Zwischenergebnis Die Kündigungsschutzklage ist damit zulässig. 2. Begründetheit Die Klage ist begründet, wenn die Kündigung unwirksam ist. Das ist der Fall, wenn die G ihr Kündigungsrecht ausgeschlossen hat oder die Kündigung gegen die allgemeinen Voraussetzungen für die Wirksamkeit einer Kündigungserklärung verstößt. a) Vertraglicher Ausschluss des Kündigungsrechts? aa) Arbeitsverhältnis für die Lebenszeit i.S.d. § 15 Abs. 4 TzBfG Fraglich ist, ob N mit der G ein Arbeitsverhältnis für die Lebenszeit i.S.v. § 15 Abs. 4 TzBfG geschlossen hat, da P ihm eine „Lebensstellung“ anbot. Bei einer Lebenszeitvereinbarung endet das Arbeitsverhältnis erst mit dem Tod, das arbeitgeberseitige Recht zur ordentlichen Kündigung wird ausgeschlossen, während das Arbeitsverhältnis vom Arbeitnehmer nach Ablauf von fünf Jahren mit sechsmonatiger Kündigungsfrist gekündigt werden kann. An die Anstellung auf Lebenszeit sind jedoch wegen ihrer weitgreifenden Folgen strenge Anforderungen zu stellen. Es entspricht in der Regel nicht dem Parteiwillen, insbesondere bei der Neubegründung des Arbeitsverhältnisses, sich auf Lebenszeit vollständig und unter Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung zu binden. Im vorliegenden Fall kann deshalb nicht allein aus der einmaligen Äußerung von P, es handele sich um eine „Lebensstellung“, auf einen Vertragsschluss auf Lebenszeit i.S.v. § 15 Abs. 4 TzBfG geschlossen werden. bb) Einzelvertraglicher Ausschluss des ordentlichen Kündigungsrechts Weiter ist zu überlegen, ob in der Zusage einer „Lebensstellung“ der Ausschluss der ordentlichen Kündigung für eine bestimmte Zeit zu sehen ist. Dagegen spricht jedoch, dass ein Arbeitsverhältnis im Normalfall ohnehin auf Dauer angelegt ist. Das Angebot von P erreicht deshalb nicht die Qualität einer vertraglichen Kündigungsbeschränkung, sondern erschöpft sich in einer bloßen Anpreisung des Arbeitsplatzes. [a.A. vertretbar.] b) Wirksame Kündigungserklärung Die Wirksamkeit der Kündigung setzt zunächst voraus, dass die Kündigungserklärung wirksam ist. Da es sich bei der Kündigung um eine einseitige, rechtsgestaltende Willenserklärung

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handelt, ist ihre Wirksamkeit anhand der allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen (§§ 104 ff. BGB) zu beurteilen. Für eine derartige Unwirksamkeit gibt der Sachverhalt keine Anhaltspunkte. Die Kündigung ist N auch zugegangen, § 130 BGB. Nach § 623 BGB bedarf die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses zu ihrer Wirksamkeit darüber hinaus der Schriftform. Die G hat mit ihrem Kündigungsschreiben dieses Formerfordernis gewahrt. c) Einhalten der materiellen Präklusionsfrist (§§ 4, 7 KSchG) Gemäß § 4 S. 1 KSchG muss die Kündigungsschutzklage innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung erhoben werden. Andernfalls kann die Kündigung gemäß § 7 KSchG unter Umständen trotz Eingreifens etwaiger Unwirksamkeitsgründe als von Anfang an rechtswirksam gelten. N hat jedoch die Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG ohnehin eingehalten, indem er bereits am 5.1. die Klage beim zuständigen Arbeitsgericht nach Zugang der Kündigung am 24.12. erhoben hat. d) Verstoß gegen allgemeine Unwirksamkeitsgründe aa) Verstoß gegen Treu und Glauben gemäß § 242 BGB Die Kündigung könnte jedoch wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben unwirksam sein. (1) Unwirksamkeit wegen „Ungehörigkeit“ Fraglich ist, ob die Kündigung wegen ihres Zugangs am 24.12. „ungehörig“ und deshalb wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben unwirksam ist, § 242 BGB. Der Grundsatz von Treu und Glauben bildet eine allen Rechten, Rechtslagen und Rechtsnormen immanente inhaltliche Begrenzung. Problematisch ist, ob sich aus § 242 BGB die Unwirksamkeit einer nach ihren Begleitumständen, insbesondere ihres Zugangszeitpunkts, ungehörigen Kündigung herleiten lässt. Selbst wenn man eine derartige Unwirksamkeitsmöglichkeit unterstellt, kann dafür jedoch nicht allein der Zugangszeitpunkt entscheidend sein. Hinzukommen muss eine Beeinträchtigung berechtigter Interessen des Erklärungsempfängers, insbesondere der Achtung seiner Persönlichkeit. Dies kann der Fall sein, wenn der Erklärende absichtlich oder aufgrund einer auf Missachtung der persönlichen Belange des Empfängers beruhenden Gedankenlosigkeit einen Zugangszeitpunkt wählt, der den Empfänger besonders beeinträchtigt. An diesen Voraussetzungen fehlt es hier. Eine Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange des N ist allein in einem Zugang der Kündigung am 24.12. („Heiliger Abend“) nicht zu sehen. Hinzu kommt, dass der 24.12. im Sinne des staatlichen Feiertagsrechts, des Arbeitsrechts und des Gewerberechts ein Werktag ist, an dem ein großer Teil der Arbeitnehmer arbeitet. Die Kündigung ist deshalb nicht wegen ihres Zugangszeitpunktes am 24.12. unwirksam. (2) Unwirksamkeit der Kündigung unter dem Gesichtspunkt des „venire contra factum proprium“ Das Verbot des „venire contra factum proprium“ ist ein klassischer Anwendungsbereich des Vertrauensschutzes im Privatrecht. Dieses als Fallgruppe des § 242 BGB verstandene Verbot 265

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ist nicht durch § 1 KSchG konkretisiert und daher bei allen Kündigungen zu berücksichtigen. Kündigungen erscheinen danach als unzulässige Rechtsausübung, wenn der Kündigende durch entsprechende Zusagen einen Vertrauenstatbestand beim Gekündigten geschaffen hat, in nächster Zeit oder wegen bestimmter Umstände nicht gekündigt zu werden. Indem P den N grundlos kündigt, nachdem er ihn mit dem Angebot einer „Lebensstellung“ bei seinem früheren Arbeitgeber abgeworben hatte, könnte er gegen dieses Verbot widersprüchlichen Verhaltens verstoßen haben. Dagegen spricht jedoch, dass mit dem Neuantritt einer Stelle immer das Risiko einer Kündigung verbunden ist, weil sich das Arbeitsverhältnis anders gestalten kann als erwartet. Dieses Risiko wird nicht allein durch das Versprechen des Arbeitgebers, es handele sich um eine Lebensstellung, beseitigt. Ein prägnanter objektiver Vertrauenstatbestand, bei dem sich N darauf verlassen durfte, ihm werde nicht gekündigt, wurde nicht geschaffen. Die Kündigung ist deshalb nicht wegen eines Verstoßes gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens unwirksam. bb) Verstoß gegen AGG Die Kündigung könnte wegen Verstoßes gegen § 134 BGB i.V.m. §§ 7, 1, 3 AGG unwirksam sein. § 2 Abs. 4 AGG bestimmt zwar, dass für Kündigungen „ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz“ gelten. Damit ist – jedenfalls in richtlinienkonformer Auslegung – aber nicht die Erlaubnis zu diskriminierenden Kündigungen verbunden. Der Gesetzgeber wollte vielmehr den Konflikt zwischen zwei Schutzsystemen, nämlich Kündigungsschutz und Diskriminierungsschutz, ausschließen. Dies kann dadurch erreicht werden, dass die Verbote des AGG bei Kündigungen, die unter das KSchG fallen, im Rahmen des Kündigungsgrunds, sonst im Rahmen der allgemeinen Unwirksamkeitsgründe in Verbindung mit § 134 BGB berücksichtigt werden. [Zum Hintergrund der Prüfung der diskriminierenden Kündigung vgl. Fall 18.] § 7 Abs. 1 AGG verbietet die Benachteiligung von Beschäftigten wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, wozu auch das Alter zählt. Ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG kann aber nur dann angenommen werden, wenn die benachteiligte Partei Indizien für die Benachteiligung wegen eines Grundes aus § 1 AGG beweist, § 22 AGG. Die G hat allerdings keinerlei Gründe in dem Kündigungsschreiben angegeben, schon gar nicht, dass ihr N zu alt ist. Es gibt also keinerlei Möglichkeit für ihn, auch nur Indizien für eine Altersbenachteiligung nachzuweisen. Darum ist die Kündigung hier nicht wegen Verstoßes gegen das AGG unwirksam. e) Anhörung des Betriebsrats, § 102 BetrVG Nach § 102 Abs. 1 S. 1, 2 BetrVG ist der Arbeitgeber vor Ausspruch jeder Kündigung verpflichtet, dem Betriebsrat die Gründe für die beabsichtigte Kündigung mitzuteilen und ihm Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Ob im vorliegenden Fall eine ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung erfolgt ist, ist zweifelhaft, denn der Betriebsratsvorsitzende B hat den Betriebsrat nicht über die geplante Kündigung des N informiert. Es hat keinen Betriebsratsbeschluss gegeben, weil B die Erörterung in der Betriebsratssitzung vergessen hat. Fraglich ist, ob dieser Mangel im Anhörungsverfahren dem Arbeitgeber insofern zugerechnet werden kann, dass die Kündigung nach § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG unwirksam ist.

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Für die Unwirksamkeit der Kündigungserklärung nach § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG spricht, dass nach § 102 „der Betriebsrat“ anzuhören ist. Der Betriebsratsvorsitzende vertritt den Betriebsrat lediglich „im Rahmen der von ihm gefassten Beschlüsse“ (§ 26 Abs. 2 S. 1 BetrVG). Bei einer wortlautbezogenen Gesetzesinterpretation könnte daher die Unwirksamkeit der Kündigung die Folge sein, weil der Betriebsrat überhaupt nicht angehört worden ist. Bedenken gegen eine solche Interpretation bestehen jedoch deshalb, weil Fehler im Anhörungsverfahren innerhalb der Willensbildung des Betriebsrates generell zu Lasten des Arbeitgebers gehen würden. Im Extremfall könnte der Arbeitgeber wirksam überhaupt gar keine Kündigungen aussprechen, wenn der Betriebsrat bewusst Anhörungsmängel herbeiführt. Eine andere Auffassung ist nur dann gerechtfertigt, wenn erkennbar nur eine persönliche Stellungnahme des Betriebsratsvorsitzenden erfolgt wäre und gar keine Stellungnahme des Betriebsrats vorläge oder wenn der Arbeitgeber selbst den Fehler durch unsachgemäßes Verhalten veranlasst hätte. Auch dieser Sonderfall liegt hier nicht vor. G musste von einem ordnungsgemäßen Anhörungsverfahren ausgehen, da sie von der Sitzung des Betriebsrates am 21.12.2019 wusste oder wissen musste und der Betriebsrat zur Kündigung mehrerer Mitarbeiter Stellung genommen hat. Der Fehler, dass B die Kündigung des N nicht zum Gegenstand der Betriebsratssitzung gemacht hat, ist daher allein eine Fehlerverantwortlichkeit, die in der Zuständigkeitssphäre des Betriebsrats liegt. Der Fehler kann somit nicht zur Unwirksamkeit des Anhörungsverfahrens führen. Eine ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung nach § 102 Abs. 1 BetrVG liegt vor. f) Kündigungsschutz nach dem KSchG? Das KSchG findet im vorliegenden Fall keine Anwendung, da N der G noch keine sechs Monate entsprechend § 1 Abs. 1 KSchG angehört hat und die sofortige Anwendung des KSchG auf das Arbeitsverhältnis nicht vereinbart wurde. 3. Ergebnis Die Kündigung ist wirksam, der Hauptantrag der Klage daher unbegründet.

II. Hilfsantrag Die Schadensersatzklage ist im Wege des echten Hilfsantrags erhoben, nämlich nur für den Fall der Erfolglosigkeit des Hauptantrags. Dies bewirkt die aufschiebend bedingte Entscheidungsbefugnis des Gerichts über den Hilfsantrag: Es darf erst über den Hilfsantrag entscheiden, wenn die Bedingung eintritt, sich der Hauptantrag also als erfolglos erweist. Da die Klage mit dem Hauptantrag unbegründet ist, ist die aufschiebende Bedingung für den Hilfsantrag eingetreten. 1. Zulässigkeit a) Zuständigkeit der Arbeitsgerichte Die Zulässigkeit der Eventualklage setzt voraus, dass auch der mit der Eventualklage geltend gemachte Anspruch in die Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit fällt. Der Rechtsweg zu 267

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den Arbeitsgerichten ist hier gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. c ArbGG eröffnet, da es sich um eine Streitigkeit aus Verhandlungen über die Eingehung eines Arbeitsverhältnisses und dessen Nachwirkungen handelt. b) Klageart Die Frage, welche Klageart die richtige ist, richtet sich nach dem Begehren des Klägers. Da N Schadensersatz verlangt, ist die richtige Klageart die Leistungsklage. c) Ordnungsmäßigkeit der Klageerhebung aa) Form Die Form der einzureichenden Klageschrift ergibt sich aus § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 253 ZPO. Es ist davon auszugehen, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind. bb) Bedingungsfeindlichkeit Prozesshandlungen sind grundsätzlich bedingungsfeindlich. Dies gilt jedoch nicht für so genannte innerprozessuale Bedingungen, da sie keine Unsicherheit in den Prozess hineintragen. Bei der Anknüpfung an die Unbegründetheit des Hauptantrags handelt es sich um eine solche unschädliche innerprozessuale Bedingung, sodass die Stellung eines echten Eventualklageantrags unter diesem Gesichtspunkt unbedenklich ist. d) Zwischenergebnis Die Klage ist zulässig. Für die instanzielle Zuständigkeit, Partei-, Prozess- und Postulationsfähigkeit gilt das zum Hauptantrag ausgeführte. 2. Verbindungsvoraussetzungen für die beiden Klagen, § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, §§ 495, 260 ZPO Die aufgrund der Verweisung des § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. § 495 ZPO anzuwendende Klageverbindungsvoraussetzungen des § 260 ZPO, Parteienidentität, gleiches Prozessgericht, gleiche Prozessart und kein Verbindungsverbot liegen vor. 3. Begründetheit Die Klage ist begründet, wenn N ein Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 4.000 Euro zusteht. a) Schadensersatz aus §§ 15 Abs. 1, 7 Abs. 1, 1 AGG N kann einen Schadensersatzanspruch gegen die G in Höhe von 4.000 Euro haben, wenn ihm aus einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot ein Schaden entstanden ist, es sei denn, der Arbeitgeber hat die Pflichtverletzung nicht zu vertreten. Als Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot kommt die Benachteiligung wegen seines Alters in Betracht. Doch auch hier gilt, dass die Benachteiligung von N in den Prozess eingebracht werden muss. § 15 Abs. 1 S. 2 AGG enthält zwar durch die Formulierung „Dies gilt nicht, wenn […]“ eine Ver-

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mutung, allerdings nur für das Verschulden. Die Benachteiligung selbst muss dargelegt werden, wobei jedoch die Beweislastregel des § 22 AGG gilt. N müsste danach wenigstens Indizien für eine Benachteiligung beweisen können, was ihm aber mangels eines Verdachtes überhaupt benachteiligt worden zu sein, nicht gelingen wird. Darum hat er keinen Schadensersatzanspruch aus §§ 15 Abs. 1, 7 Abs. 1, 1 AGG. b) Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 i.V.m. 241 Abs. 2 BGB N könnte aufgrund der im Rahmen der Arbeitsvertragsverhandlungen getätigten Aussage des P, es handele sich beim Job um eine „Lebensstellung“, ein Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 4.000 Euro gemäß §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB zustehen. Dann müsste die G eine Pflicht aus einem durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen entstandenen Schuldverhältnis schuldhaft verletzt und hierdurch den geltend gemachten Schaden bei N verursacht haben. aa) Schuldverhältnis Voraussetzung ist nach § 280 Abs. 1 BGB zunächst das Bestehen eines Schuldverhältnisses. Dieses kann jedoch nicht mit dem später geschlossenen Arbeitsvertrag zwischen N und der G begründet werden, da dieser zum Zeitpunkt der fraglichen Aussage noch nicht geschlossen worden war. Durch die vorherige Aufnahme von Vertragsverhandlungen ist zwischen N und der G jedoch ein Schuldverhältnis nach §§ 311 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. 241 Abs. 2 BGB entstanden. bb) Schuldhafte Pflichtverletzung Grundsätzlich besteht bei Vertragsverhandlungen die Pflicht, den anderen auf besondere Umstände hinzuweisen, die für das Zustandekommen und die Durchführung des Vertrages von maßgebender Bedeutung sind. Fraglich ist, ob die G, die sich das Verhalten des P, der als Prokurist auch Erfüllungsgehilfe ist, nach § 278 BGB zurechnen lassen muss, diese Pflicht verletzt hat. P hat N bei der Vertragsanbahnung eine „Lebensstellung“ mit erheblich höherem Gehalt angeboten. Hierdurch hat er den Eindruck erweckt, dass er sehr an einer dauerhaften Beschäftigung von N interessiert ist. Das Angebot einer „Lebensstellung“ hat er jedoch nur „ins Blaue hinein“ gemacht, mit der Absicht, N zu einer Kündigung zu motivieren: P war klar, dass N seine langjährige, sichere Stellung nicht aufgegeben hätte, wenn er ihm keine entsprechende Sicherheit geboten hätte. Letztendlich war er jedoch nicht bereit, dieses Versprechen tatsächlich einzuhalten. P hat damit N über die Ernsthaftigkeit seines Angebots einer Lebensstellung getäuscht und das berechtigte Vertrauen, das N aufgrund der Aussage der G entgegenbrachte, enttäuscht. Dadurch hat er seine im Vertragsanbahnungsverhältnis bestehenden Pflichten verletzt. P handelte auch schuldhaft i.S.v. §§ 276, 280 Abs. 1 S. 2 BGB, da er vorsätzlich gegen diese vorvertragliche Pflicht verstoßen hat. Diese Feststellung steht auch nicht im Widerspruch zu dem unter A erarbeiteten Ergebnis, dass die G berechtigt war, N zu kündigen: Der Ausschluss des arbeitgeberseitigen ordentlichen Kündigungsrechts aufgrund des Angebots einer Lebensstellung steht auf der einen Seite. Er ginge sehr weit und führte im Ergebnis dazu, einen Vertrag – ohne außerordentlichen Kündigungsgrund – dauerhaft durchführen zu müssen. Auf der anderen Seite steht die Haftung für ein Fehlverhalten, nämlich das Schaffen eines Vertrauenstatbestandes, der dann

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Fall 20 „Leere Versprechungen“

durch die zulässige Kündigung enttäuscht wird. Die Pflichtverletzung liegt dann auch nicht in der erlaubten Kündigung, sondern in dem nicht ernsthaft abgegebenen Versprechen einer Lebensstellung bei der Vertragsanbahnung. [Vertretbar wäre es auch, nicht an eine vorvertragliche Pflichtverletzung anzuknüpfen, sondern daran, dass das Arbeitsverhältnis mit einem entsprechenden Vertrauen entstanden ist.] cc) Kausalität Der entstandene und geltend gemachte Schaden ist dem Grunde nach durch die Verletzung der vorvertraglichen Pflicht adäquat kausal verursacht. dd) Zwischenergebnis Der Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB ist dem Grunde nach gegeben. ee) Rechtsfolge: Schadensersatz, §§ 249 ff. BGB Fraglich ist, ob N seinen Lohnausfall in Höhe von 4.000 Euro geltend machen kann. (1) Positives oder negatives Interesse Wer eine Verhaltenspflicht aus einem Schuldverhältnis verletzt, hat dem anderen den Schaden zu ersetzen, den dieser durch die Pflichtverletzung erlitten hat, § 280 Abs. 1 i.V.m. § 249 BGB. Er hat den in seinem Vertrauen Enttäuschten daher so zu stellen, wie dieser stehen würde, wenn er seiner Sorgfaltspflicht genügt hätte. Welcher Schaden genau zu ersetzen ist, hängt von der Art der Pflichtverletzung ab. Wenn der eine Partner dem anderen schuldhaft unrichtige Angaben macht, die diesen dazu veranlassen, sich auf den letztlich nachteiligen Vertrag einzulassen, so ist der Vertrauensschaden (= negatives Interesse), nicht aber der Erfüllungsschaden (= positives Interesse) zu ersetzen. In der Regel wird bei Pflichtverletzungen, die im Rahmen Vertragsanbahnung (früher culpa in contrahendo) begangen werden, nur der Vertrauensschaden (negatives Interesse) ersetzt. Das positive Interesse (= Erfüllungsschaden) ist in diesen Fällen nur ausnahmsweise dann zu ersetzen, wenn das Verhalten des Ersatzpflichtigen gegen Treu und Glauben verhindert hat, dass die Verbindlichkeit, über die verhandelt wird, überhaupt zustande kommt. Dieser Fall liegt hier jedoch nicht vor, denn die G und N haben einen Arbeitsvertrag geschlossen. P hat N allerdings mit der Aussage, es handele sich dabei um eine „Lebensstellung“, eine falsche Auskunft gegeben. Somit ist hier der Vertrauensschaden, nicht aber der Erfüllungsschaden ersatzfähig. N ist deshalb nach § 249 S. 1 BGB so zu stellen, als hätte er den Vertrag mit der G nicht geschlossen. (2) Differenzhypothese Die Schadensermittlung erfolgt nach der Differenzhypothese. Es wird das Vermögen in seinem Zustand nach dem schädigenden Ereignis mit der (hypothetischen) Vermögenslage verglichen, wie sie bestanden hätte, wenn das die Schadensersatzpflicht begründende Ereignis nicht eingetreten wäre. Die Differenz zwischen diesen beiden Vermögenslagen ergibt den zu ersetzenden Schaden. Da hier der Vertrauensschaden (= negatives Interesse) zu ersetzen ist, muss der Geschädigte N so gestellt werden, als wäre das Vertrauen nicht geweckt worden, sodass er sich auf den Vertrag nicht eingelassen hätte.

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„Leere Versprechungen“ Fall 20

Hätte P dem N die Stelle bei der G nicht als „Lebensstellung“ angepriesen, ohne zur Einhaltung dieses Versprechens bereit zu sein, dann hätte N nicht seinen alten Arbeitsplatz aufgegeben und hätte weiterhin monatlich 1.700 Euro verdient (hypothetische Lage). [In diese Überlegungen ist somit nicht mit einzubeziehen, dass N bei der G ein Gehalt von 2.000 Euro erhalten hat, da nur der Vertrauensschaden ersatzfähig ist; Bedeutung würde das Gehalt bei der G nur bei dem Ersatz des Erfüllungsschadens (= positives Interesse) erlangen. Tatsächlich war N in den Monaten Februar/März ohne Beschäftigung und Bezüge (reale Lage). Der Schaden von N beträgt also 3.400 Euro (zweimal 1.700 Euro).] 4. Ergebnis In Höhe von 3.400 Euro ist die Klage mit dem Hilfsantrag daher begründet, im Übrigen ist sie unbegründet.

D. Lösungsvorschlag Frage 2 – Ersatzansprüche Die zulässige Klage hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie begründet ist. Die Klage ist begründet, wenn N ein Schadensersatzanspruch in Höhe von 7.000 Euro zusteht.

I. Anspruch auf Schadensersatz für die Monate Februar und März Soweit N Schadensersatz wegen des Verdienstausfalls in den Monaten Februar und März geltend macht, ist die Klage gemäß §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB begründet. N hat aufgrund der im Rahmen der Arbeitsvertragsverhandlungen unzutreffenden Aussage des P, es handele sich bei dem Job um eine „Lebensstellung“, einen Anspruch auf Zahlung von 3.400 Euro, s.o. Zum Grundfall bestehen hier keine Besonderheiten, da das Vorstellungsgespräch bei der W erst Ende März stattfand und die Verhandlungen ein Arbeitsverhältnis betrafen, das im April beginnen sollte.

II. Anspruch auf Schadensersatz für die Monate April bis Juni 1. Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB N könnte zudem einen Anspruch auf Schadensersatz aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB wegen Verletzung einer nachvertraglichen Fürsorgepflicht haben. Dann müsste die G schuldhaft eine nachvertragliche Nebenpflicht aus einem Schuldverhältnis mit N verletzt haben, die bei N den geltend gemachten Schaden verursacht hat. a) Verletzung einer nachvertraglichen Nebenpflicht Mit der rechtswirksamen Beendigung des Arbeitsverhältnisses entfallen die gegenseitigen Hauptleistungspflichten. Den Arbeitgeber wie den Arbeitnehmer treffen jedoch unter dem Gesichtspunkt der nachvertraglichen Fürsorge- bzw. Treuepflicht verschiedene Nebenpflichten. In Betracht kommt hier die Verletzung dieser nachvertraglichen Fürsorgepflicht durch die Auskunftserteilung gegenüber dem Personalchef der W, N sei eine „alte Sau, die nicht mal richtig Kaffee kochen“ könne. 271

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Fall 20 „Leere Versprechungen“

Fraglich ist, ob und inwieweit der Arbeitgeber berechtigt ist, ohne oder gegen den Willen des Arbeitnehmers Dritten gegenüber Auskünfte zu erteilen. Das BAG hat angenommen, die Arbeitgeber seien aus dem Gesichtspunkt der Sozialpartnerschaft berechtigt, andere Arbeitgeber bei der Wahrung ihrer Belange zu unterstützen, und hat daraus hergeleitet, dass Auskünfte nicht nur ohne Zustimmung, sondern auch gegen den ausdrücklichen Willen des Arbeitnehmers zulässig sind. Die Auskünfte müssen jedoch wahr sein und dürfen nur solchen Personen gegenüber abgegeben werden, die ein berechtigtes Interesse an ihnen haben. Umstritten ist allerdings, ob die Auskünfte gegenüber dem Zeugnisinhalt nur ergänzenden Charakter haben dürfen, oder ob sie dem Zeugnisinhalt widersprechen können. Letztlich kann man diese Fragen offen lassen. Unabhängig von dem Recht, Auskünfte ohne oder gegen den Willen des Arbeitnehmers und auch über das Zeugnis hinaus geben zu dürfen, hat ein Arbeitgeber die nachvertragliche Pflicht, solche Äußerungen zu unterlassen, die einen abfälligen, persönlichkeitsverletzenden und wahrheitswidrigen Inhalt haben. b) Vertretenmüssen Diese Pflicht hat P vorsätzlich i.S.d. § 276 BGB verletzt, indem er N auf Nachfrage des Personalchefs der W als „alte Sau, die nicht mal Kaffee kochen“ könne, bezeichnet hat. Das Handeln des P muss sich die G nach § 278 BGB zurechnen lassen. c) Zwischenergebnis Der Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB besteht. 2. Schadensersatz aus § 831 BGB N könnte ebenfalls ein Anspruch aus § 831 BGB zustehen. Dann müsste ein Verrichtungsgehilfe der G dem N den geltend gemachten Schaden widerrechtlich in Ausführung seiner Verrichtung zugefügt haben. a) Verrichtungsgehilfe Verrichtungsgehilfe ist derjenige, dem vom Geschäftsherrn eine nach dessen Weisungen auszuführende Tätigkeit übertragen worden ist. Die Tätigkeit muss dem Einfluss des Geschäftsherrn in der Weise unterliegen, dass dieser die Tätigkeit des Gehilfen jederzeit beschränken, untersagen oder nach Zeit und Umfang bestimmen kann. P ist auch als Prokurist der G entsprechend weisungsabhängig und deshalb Verrichtungsgehilfe. b) Schadensverursachung in Ausführung der Verrichtung Fraglich ist, ob P die inkriminierenden Äußerungen „in Ausführung der Verrichtung“ oder lediglich bei deren Gelegenheit begangen hat. Grundsätzlich sind vorsätzliche unerlaubte Handlungen des Gehilfen dem Geschäftsherrn nicht zuzurechnen. Etwas anderes gilt aber dann, wenn der Geschäftsherr gerade dazu verpflichtet ist, den Geschädigten vor widerrechtlichem Verhalten eines von ihm eingeschalteten Dritten zu bewahren. Da P Personal-

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„Leere Versprechungen“ Fall 20

chef und Prokurist ist, sind seine Äußerungen über ehemalige Mitarbeiter als zu der Verrichtung, zu der er durch die G bestellt ist, gehörig zu betrachten. c) Widerrechtliche Schadenszufügung durch P Nach § 831 Abs. 1 S. 1 BGB ist ein Schaden zu ersetzen, den der Verrichtungsgehilfe einem Dritten widerrechtlich zugefügt hat. aa) § 823 Abs. 1 BGB (1) Verletzung eines in § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechtsguts Die Rechtsprechung hat aus Art. 1 und 2 GG ein allgemeines Persönlichkeitsrecht abgeleitet und ihm den Schutz der absoluten Rechte zuerkannt. Gegenstand ist das Recht des Einzelnen auf Achtung seiner individuellen Persönlichkeit gegenüber dem Staat und im privaten Rechtsverkehr. Mit seiner Äußerung über N hat P dieses Rechtsgut verletzt. (2) Rechtswidrigkeit Die Widerrechtlichkeit ist grundsätzlich durch die Tatbestandsmäßigkeit indiziert. Das gilt jedoch nicht für die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, das nur ein „Rahmenrecht“ darstellt. Ob der Eingriff widerrechtlich ist, muss durch eine umfassende Güter- und Interessenabwägung ermittelt werden. Bei der Abwägung sind auf Seiten des Verletzten die Art und Schwere des Eingriffs und seine Folgen, das Vorverhalten des Verletzten und in welche Sphäre eingegriffen wurde, zu berücksichtigen. Für den Verletzenden sind Zweck und Motiv sowie Art und Weise des Eingriffs zu beachten. Danach ist jedenfalls der Eingriff widerrechtlich, da P eine bewusst wahrheitswidrige Behauptung aufgestellt hat, die N in keiner Weise provoziert hat. (3) Zwischenergebnis Damit hat P widerrechtlich den objektiven Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB verwirklicht. bb) § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 185 StGB Eine Beleidigung i.S.d. § 185 StGB ist die Kundgabe von Missachtung durch Meinungsäußerungen oder Werturteile, die geeignet sind, den Betroffenen in seiner Persönlichkeit herabzuwürdigen. Gleichgültig ist, ob die Äußerung unmittelbar dem Verletzten oder Dritten gegenüber geäußert wird. Die Bezeichnung von N als „alte Sau“ erfüllt diesen Tatbestand. Damit hat P widerrechtlich den Tatbestand von § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 185 StGB verwirklicht. cc) § 826 BGB Indem P den N vor der W als „alte Sau“ bezeichnet hat, hat er gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstoßen, da diese Auskunft jeder sachlichen Grundlage entbehrt und geeignet ist, einen Arbeitgeber von einer Anstellung abzuhalten. dd) § 824 BGB Indem P den N vor der W als „alte Sau“ bezeichnet hat, könnte er darüber hinaus den Tatbestand des § 824 BGB erfüllt haben. Dann müsste P eine Tatsache behauptet und kein

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Fall 20 „Leere Versprechungen“

Werturteil über N abgegeben haben. Tatsachenbehauptungen sind durch objektive Beziehungen zwischen Äußerung und Wirklichkeit charakterisiert, Werturteile durch subjektive Beziehungen des sich Äußernden zum Inhalt seiner Aussage. Eine Tatsachenbehauptung kann wahr oder unwahr sein und ist dem Beweis zugänglich. Ein Werturteil kann je nach dem Standpunkt entweder als falsch abgelehnt oder als richtig akzeptiert werden. Ist in der beeinträchtigenden Äußerung Tatsachenbehauptung und Meinungsäußerung vermengt, so ist im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu entscheiden, welcher Anteil überwiegt. Bei der Bezeichnung als „alte Sau“ überwiegt wohl die wertende, dem Beweis nicht zugängliche Meinungsäußerung. P hat § 824 BGB nicht verwirklicht. d) Exkulpation Für eine Exkulpation gemäß § 831 Abs. 1 S. 2 BGB hat die insoweit darlegungs- und beweispflichtige G nichts vorgetragen. e) Zwischenergebnis Der Anspruch aus § 831 BGB besteht somit ebenfalls. 3. Rechtsfolge: Schadensersatz gemäß §§ 249 ff. BGB a) Ersatzfähiger Schaden N hat gegen die G sowohl wegen einer Nebenpflichtverletzung aus § 280 Abs. 1 BGB als auch aus deliktischer Haftung nach § 831 BGB einen Anspruch auf Schadensersatz. Fraglich ist, in welcher Höhe der Anspruch besteht. Maßgeblich für die Ermittlung des Umfangs des Schadensersatzanspruchs sind die §§ 249 ff. BGB. Daher ist auch hier wieder gesondert zu prüfen, ob der Vertrauensschaden oder der Erfüllungsschaden zu ersetzen ist. Dabei ist zu beachten, dass es sich nun um den Schadensersatz für die Monate April bis Juni handelt. Aufgrund der wahrheitswidrigen Auskunft des P ist der Arbeitsvertrag zwischen N und der W nicht zum 1.4. abgeschlossen worden. Die Rechtsprechung sieht für den Fall der Vereitelung des Vertragsschlusses wegen einer wahrheitswidrigen Auskunft des vorherigen Arbeitgebers den Ersatz des Schadens vor, der sich aus der unterbliebenen Einstellung bei dem neuen Arbeitgeber ergibt. Zu ersetzen ist somit das positive Interesse (Erfüllungsschaden). b) Schadensermittlung Für die Ermittlung des Erfüllungsschadens ist nach der Differenzhypothese zunächst die hypothetische Lage zu betrachten, die bestanden hätte, wenn P nicht die Äußerung über N gegenüber dem Personalchef der W gemacht hätte. In diesem Fall wäre es zum Abschluss eines Arbeitsvertrags zum 1.4. gekommen, der ein monatliches Entgelt in Höhe von 2.000 Euro vorgesehen hätte. N hätte dann von April bis Juni 6.000 Euro verdient. Dem steht die reale Lage gegenüber, dass N im Monat April arbeitslos war und in den Monaten Mai und Juni jeweils 1.500 Euro verdient hat, in dem Zeitraum von April bis Juni also insgesamt 3.000 Euro. Somit besteht im Vergleich zur hypothetischen Lage eine Differenz in Höhe von 3.000 Euro. Fraglich ist jedoch, ob der haftungsausfüllende Kausalzusammenhang unterbrochen wurde, als N einen neuen Arbeitsvertrag mit der Reinigungsfirma abgeschlossen hat, sodass ein 274

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„Leere Versprechungen“ Fall 20

Schadensersatzanspruch für die Monate Mai und Juni ausgeschlossen ist. N hat durch den Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags zwar zunächst die Ursache für einen geringeren Verdienst selbst gesetzt. Allerdings wäre dies gar nicht erforderlich gewesen, wenn der Arbeitsvertrag mit der W zustande gekommen wäre. Vielmehr ist der Abschluss des Arbeitsvertrags mit der Reinigungsfirma eine vor dem Hintergrund von § 254 BGB angemessene Reaktion auf die von P geschaffene pflichtwidrige Situation. N hat dadurch sogar das Ausmaß der Schadenshöhe begrenzt, denn in den Monaten Mai und Juni hat er zumindest ein Einkommen in Höhe von 1.500 Euro erhalten, sodass der Schaden in diesen Monaten statt jeweils 2.000 Euro nur noch 500,– Euro beträgt. Der haftungsausfüllende Kausalzusammenhang ist somit auch nicht durch den Abschluss des Arbeitsvertrags mit der Firma unterbrochen worden. Auf die Frage einer „Endloshaftung“ des Arbeitgebers für eine dauerhafte geringeren Verdienst kam es hier nicht an, da N lediglich den Verdienstausfall für die Monate Mai und Juni geltend macht. Somit ist für die Monate April bis Juni ein Schaden in Höhe von 3.000 Euro entstanden.

III. Ergebnis Die Klage ist in Höhe von 6.400 Euro begründet (zweimal 1.700 Euro für die Monate Februar und März, einmal 2.000 Euro für den Monat April, zweimal 500 Euro für die Monate Mai und Juni). Im Übrigen ist die Klage unbegründet. K Zur Vertiefung: Zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Klage vor dem Arbeitsgericht s. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 868–878. Zur materiell-rechtlichen Ausschlussfrist s. Junker Rn. 331–334; Preis/Temming Rn. 2578–2596. Zu diskriminierenden Kündigungen s. Junker Rn. 339; Preis/Temming Rn. 2618–2625. Zum Zugang der Kündigungserklärung s. Junker Rn. 328–330; Preis/Temming Rn. 2552–2577.

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Fall 21 „Befristungen ohne Ende?“ A. Falldarstellung K Hinweis vorab: Arbeitsrechtliche Klausuren im 1. Staatsexamen bieten sich auch an, um Problembewusstsein und Problemlösungsfähigkeiten von Kandidaten bei fast gänzlicher Unkenntnis von Gesetz, Literatur und Rechtsprechung zu prüfen. In solchen Fällen werden in der Regel die zu bearbeitenden Probleme von den Parteien als Argumente im Sachverhalt vorgetragen. Ein Beispiel für diese Art von Prüfung ist diese letzte Klausur zum Befristungsrecht. Die hier angelegten Probleme werden Kandidaten kaum oder gar nicht kennen, sie lassen sich aber durch Arbeit mit dem Gesetz und mit allgemeinen Rechtsinstituten lösen. A arbeitete auf der Grundlage eines schriftlich geschlossenen und bis zum 31.12.2017 befristeten Arbeitsvertrags seit dem 1.1.2016 als Kundenbetreuerin bei der E-GmbH (E). Kurz vor Ablauf der Befristung, am 5.12.2017, vereinbarte sie schriftlich erneut einen befristeten Arbeitsvertrag, der vom 1.1.2018 bis einschließlich 31.12.2018 laufen sollte. Das Angebot zum Abschluss des neuen Arbeitsvertrags wurde der A jedoch nicht durch die E, sondern durch die vor fünf Jahren gegründete F-GmbH (F) unterbreitet, deren Unternehmensgegenstand konzerninterne und -externe Arbeitnehmerüberlassung ist. Die F verfügt seit ihrer Gründung über eine Erlaubnis zur wirtschaftlichen Arbeitnehmerüberlassung nach dem AÜG. Sowohl die E als auch die F sind 100%ige Tochtergesellschaften der D-AG (D). Dieser ausdrücklich sachgrundlos befristete Arbeitsvertrag der A sah vor, dass sie zu unveränderten Arbeitsbedingungen für den bisherigen Stundenlohn in Höhe von 10 Euro weiterhin als Kundenbetreuerin beschäftigt werde, ihre Arbeitsleistung nunmehr jedoch im Rahmen von Arbeitnehmerüberlassung zu erbringen habe. Infolgedessen wurde A aufgrund einer Vereinbarung zwischen F und ihrem vorherigen Arbeitgeber E zunächst bis zum 31.12.2018 zur Arbeitsleistung überlassen. Am 12.11.2018 schlossen A und F einen weiteren, vom 1.1.2019 bis zum 31.12.2019 sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrag, sowie F und E die entsprechende Überlassungsvereinbarung. Da die F mit der Arbeit von A zufrieden war, erhöhte sie in diesem Vertrag allerdings den Stundenlohn von 10 Euro auf 10,50 Euro. A wurde während der gesamten vierjährigen Dauer ihrer Arbeitsverhältnisse mit Unternehmen der D durchgängig auf ihrem früheren Arbeitsplatz bei der E und in unveränderter Funktion als Kundenbetreuerin eingesetzt. Am 13.1.2020 geht beim zuständigen Arbeitsgericht eine Klage der A ein, in der sie die Feststellung begehrt, dass das Arbeitsverhältnis mit der F nicht aufgrund Befristung zum 31.12.2019 beendet wurde. A vertritt die Auffassung, dass die sachgrundlosen Befristungen vom 5.12.2017 und 12.11.2018 wegen Verstoßes gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG unwirksam seien. Bei der E und der F handele es sich nämlich nur formal um zwei verschiedene Arbeitgeber. Immerhin seien beide Gesellschaften 100%ige Tochtergesellschaften der D. Jedenfalls sei aber die Konzernstruktur dazu missbraucht worden, um die sachgrundlose Befristung des ursprünglichen Arbeitsverhältnisses mit der E unter Umgehung von § 14 Abs. 2 TzBfG über zwei Jahre hinaus zu verlängern. Schließlich habe sie seit dem 1.1.2016 durchgängig auf demselben Arbeitsplatz bei der E gearbeitet. Selbst wenn das vorherige Arbeitsverhältnis

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„Befristungen ohne Ende?“ Fall 21

mit der E als unschädlich für die mit der F geschlossenen Befristungsvereinbarungen angesehen würde, sei das Arbeitsverhältnis mit der F nicht aufgrund der Befristung zum 31.12.2019 beendet worden. Denn die Befristungsvereinbarung vom 12.11.2018 könne keinesfalls als Vertragsverlängerung im Sinne von § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG angesehen werden, da durch die Änderung der Vertragsbedingungen der Vertrag vom 5.12.2017 nicht verlängert, sondern neu abgeschlossen worden sei. Demgegenüber macht die F geltend, dass die vorherige Beschäftigung der A bei E keinesfalls zu einem Verstoß der Befristung gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG führen könne, da die F und E rechtlich als voneinander völlig unabhängig zu betrachten seien. Deswegen könne von einer rechtsmissbräuchlichen Nutzung der durch die Konzernstruktur eröffneten Befristungsmöglichkeiten keine Rede sein. Eine „Rückleihe“ an den alten Arbeitgeber sei insofern eine vom Gesetz geduldete und damit zulässige Gestaltungsmöglichkeit. Darüber hinaus könne der Befristungsvereinbarung vom 12.11.2018 doch nicht deswegen der Charakter einer Verlängerung im Sinne von § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG abgesprochen werden, weil man A mit der Erhöhung der Vergütung etwas Gutes habe tun wollen.1 Frage 1: Wie wird das Arbeitsgericht entscheiden? Auch die B streitet mit ihrer Arbeitgeberin, der G-GmbH (G), darüber, ob ihr Arbeitsverhältnis aufgrund Befristung zum 31.12.2019 beendet wurde. G betreibt eine Fabrik für Spezialwerkzeuge, die in der Luft- und Weltraumtechnik verwendet werden. B war als Ingenieurin bei der G im Zeitraum vom 1.1.2018 bis zum 31.12.2019 aufgrund zweier befristeter Arbeitsverträge (ursprünglicher Vertrag vom 1.12.2017, Verlängerung vom 3.12.2018) beschäftigt. Die B hatte bei der G schon während ihres Studiums der Luft- und Raumfahrttechnologie ein in ihrem Studienverlauf vorgesehenes Praktikum in der vorlesungsfreien Zeit vom 1.8.2010 bis zum 31.8.2010 absolviert, ohne eine Vergütung dafür zu erhalten. Weil die B dabei ganz herausragende Leistungen gezeigt hat, vereinbarten B und G, dass die B auch für den Rest der vorlesungsfreien Zeit, vom 1.9.2010 bis zum 30.9.2010, bei G zum Stundenlohn von 15 Euro als Assistentin mit den gleichen Aufgaben wie die fest angestellten Assistentinnen und Assistenten mit 10 Stunden pro Woche arbeiten solle. G, durch schlechte Produktpolitik des Geschäftsführers in wirtschaftliche Schwierigkeiten gekommen, weigert sich, die B über den 31.12.2019 hinaus zu beschäftigen und beruft sich auf die Befristung. G wendet insbesondere ein, dass sie, was zutrifft, sowohl beim Vertragsschluss am 1.12.2017 als auch bei der Verlängerung am 3.12.2018 darauf hingewiesen habe, dass sie aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Entwicklung nicht über das nächste Jahr hinaus wisse, ob sie der Arbeitsleistung der B bedürfe. B macht die Unwirksamkeit der Befristung gerichtlich geltend.2 Frage 2: Wie wird das Arbeitsgericht über die zulässige und fristgerecht eingereichte Klage entscheiden? Auch der X-GmbH (X) bereitet die Befristung eines Arbeitsverhältnisses Probleme. Mit C hatte sie sich am 16.12.2019 mündlich über dessen Einstellung als Kassierer im Supermarkt und die Details des Arbeitsvertrags geeinigt. Insbesondere vereinbarten beide eine Befristung des Vertrags vom 1.1.2020 bis zum 30.10.2020, „zur Erprobung“, wie X sagt. C nahm seine Arbeit am 4.1.2020 bei der X auf. Ein schriftlicher Arbeitsvertrag wurde von C allerdings erst am 7.1.2020 unterzeichnet. Dieser sah als Ende des befristeten Arbeitsverhältnisses nunmehr allerdings den 31.12.2020 vor. 1 Dieser Teil ist inspiriert von BAG 9.3.2011 NZA 2011, 1147. 2 Dieser Teil ist inspiriert von BAG 23.1.2019 NZA 2019, 700.

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Fall 21 „Befristungen ohne Ende?“

Eine Woche nach Dienstantritt äußert C gegenüber der X nunmehr Zweifel bezüglich der Wirksamkeit der vereinbarten Befristung bis zum 31.12.2020. Zum einen sei die Befristung nicht durch einen Sachgrund gerechtfertigt. Zum anderen habe die mündliche Abrede vom 16.12.2019 das Schriftformerfordernis des § 14 Abs. 4 TzBfG nicht gewahrt. Daran könne auch die Unterzeichnung des Arbeitsvertrags am 7.1.2020 nichts ändern. Dieser Mangel habe auch Auswirkungen auf den später unterzeichneten Vertrag. Die X hält die Einwände des C für unerheblich. Schon die mündliche Vereinbarung vom 16.12.2019 stelle eine wirksame Befristung dar. Denn die Unterzeichnung des Arbeitsvertrags am 7.1.2020 habe als Bestätigung des mündlich vereinbarten Arbeitsvertrags im Sinne des § 141 BGB den ursprünglichen Formmangel nachträglich geheilt. Jedenfalls aber könne in der Unterzeichnung des Arbeitsvertrags am 7.1.2020 ein Neuabschluss eines befristeten Arbeitsvertrags gesehen werden. Dies zeige bereits die Tatsache, dass eine Änderung der Befristungsdauer vorgenommen wurde. Die Befristung des Arbeitsvertrags sei darüber hinaus auch durch einen Sachgrund gerechtfertigt.3 Frage 3: Ist das Arbeitsverhältnis des C wirksam durch den Arbeitsvertrag vom 16.12.2019 oder den schriftlichen Arbeitsvertrag vom 7.1.2020 befristet worden? Schwierigkeitsgrad: Überdurchschnittlich schwierige und überdurchschnittlich umfangreiche Examensklausur Rechtsfragen: Entfristungsklage, Streitgegenstand der Entfristungsklage, sachgrundlose Befristung, Änderung von Vertragsbedingungen und sachgrundlose Befristung, vorübergehender Bedarf an Arbeitsleistung, Anschlussverbot des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG, Abgrenzung Praktikum – Arbeitsvertrag, „Nachholung der Schriftform“ des § 14 Abs. 4 TzBfG

B. Lösungsskizze Frage 1 – Klage der A I. Zulässigkeit der Klage (+) Prüfungspunkte insb.: Rechtsweg und Zuständigkeiten, statthafte Klageart (Entfristungsklage nach § 17 S. 1 TzBfG), Feststellungsinteresse, Klagefrist sowie Partei- und Prozessfähigkeit II. Begründetheit der Klage 1. Wirksame Begründung eines Arbeitsverhältnisses: Wirksames (Leih-)Arbeitsverhältnis zwischen A und F (+) 2. Wirksamkeit der Befristung des Arbeitsvertrags a) Streitgegenstand: Befristung des letzten Arbeitsvertrags Nur die Befristung des letzten Arbeitsvertrags ist bei mehreren aufeinander folgenden, befristeten Arbeitsverträgen auf sachliche Rechtfertigung zu prüfen (st. Rspr.) 3 Dieser Teil ist inspiriert von BAG 1.12.2004 NZA 2005, 575; BAG 25.10.2017 NZA-RR 2018, 180.

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„Befristungen ohne Ende?“ Fall 21

b) Keine Präklusion nach § 17 S. 2 TzBfG, § 7 KSchG durch Wahrung der Klagefrist des § 17 S. 1 TzBfG (+) c) Schriftformerfordernis, § 14 Abs. 4 TzBfG (+) d) Materielle Wirksamkeitsvoraussetzungen gemäß § 14 Abs. 1, Abs. 2 TzBfG Befristung nach § 14 Abs. 1 TzBfG (–); Befristung aber möglich nach § 14 Abs. 2 TzBfG aa) Verstoß gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG aufgrund der vorherigen Beschäftigung bei der E (1) „Derselbe Arbeitgeber“ (–) E und F als eigenständige juristische Personen unterschiedliche Arbeitgeber (a.A. vertretbar) (2) Rechtsmissbräuchliche Umgehung (–) Nicht genügend Anhaltspunkte für Rechtsmissbrauch (a.A. vertretbar) (3) Zwischenergebnis: Keine Unwirksamkeit der vereinbarten Befristung wegen Verstoß gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG oder wegen rechtsmissbräuchlicher Umgehung bb) Verstoß gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG aufgrund der vorherigen Befristungsvereinbarung vom 5.12.2017 Zulässige Verlängerung des Arbeitsverhältnisses trotz erhöhtem Stundenlohn? (1) Auffassung des BAG: höherer Stundenlohn bedeutet Neuabschluss eines Arbeitsvertrags, nicht nur bloße Verlängerung (2) Kritik: Veränderungen der Arbeitsbedingungen und Verlängerung schließen sich nicht aus cc) Zwischenergebnis: Befristung bis zum 31.12.2019 ist materiellrechtlich rechtswirksam (a.A. vertrebar) III. Ergebnis: Befristungsvereinbarung wirksam, Klage unbegründet. Lösungsvorschlag Frage 2 – Klage der B I. Sachgrundbefristung nach § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG (–) II. Sachgrundlose Befristung nach § 14Abs. 2 S. 1 Halbs. 1 TzBfG 1. Vorbeschäftigung durch Tätigkeit als Praktikantin im August 2010 (–) 2. Vorbeschäftigung durch Job in den Semesterferien im September 2010 (–) BAG: keine Zuvor-Beschäftigung, wenn vor mehr als 3 Jahre BVerfG 2018: starre Zeitenregelungen ist unzulässige Rechtsfortbildung; „Vorbeschäftigungsverbot“ kann aber unzumutbar sein, dann verfassungskonforme Auslegung von § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG nötig

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Fall 21 „Befristungen ohne Ende?“

III. Ergebnis: Befristung der B nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 1 TzBfG wirksam, Klage daher abzuweisen. Frage 3 – Befristung der C I. Wirksame Befristung durch Arbeitsvertrag vom 16.12.2019 (–) 1. Schriftformerfordernis, § 14 Abs. 4 TzBfG Formverstoß wegen bloßer mündlicher Vereinbarung; Folge: Nichtigkeit nach § 125 BGB 2. Heilung durch Bestätigung gemäß § 141 BGB (–) a.A. vertretbar 3. Ergebnis: Befristungsabrede vom 16.12.2019 wegen Verstoßes gegen § 14 Abs. 4 TzBfG unwirksam II. Wirksame Befristung durch Arbeitsvertrag vom 7.1.2020 (–) 1. Auf Befristung des Arbeitsverhältnisses gerichtete beiderseitige Willenserklärungen (+) 2. Schriftformerfordernis, § 14 Abs. 4 TzBfG (+) 3. Materielle Wirksamkeitsvoraussetzungen gemäß § 14 Abs. 1, Abs. 2 TzBfG (–) a) Sachgrundlose Befristung gemäß § 14 Abs. 2 TzBfG (–) b) Bestehen eines sachlichen Grundes für die Befristung gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 5 TzBfG (–) 4. Ergebnis: Unzulässigkeit der sachgrundlosen Befristung; kein Sachgrund für Befristung gegeben; Befristungsvereinbarung vom 7.1.2020 unwirksam; Folge: Begründung des Arbeitsverhältnisses nach § 16 S. 1 TzBfG auf unbestimmte Zeit. III. Gesamtergebnis: Keine wirksame Befristung, Entfristungsklage von C innerhalb von drei Wochen zu erheben, § 17 S. 1 TzBfG

C. Lösungsvorschlag Frage 1 – Klage der A Das Arbeitsgericht wird der Klage der A stattgeben, wenn sie zulässig und begründet ist.

I. Zulässigkeit der Klage 1. Rechtsweg und Zuständigkeit A wendet sich mit ihrer Klage vor dem laut Sachverhalt zuständigen Arbeitsgericht gegen die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der F aufgrund Befristung zum 31.12.2019. Somit ist der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG eröffnet, weil die Parteien über das Bestehen oder Nichtbestehen eines (befristeten) Arbeitsverhältnisses streiten.

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„Befristungen ohne Ende?“ Fall 21

2. Statthafte Klageart Da A die Feststellung begehrt, dass ihr Arbeitsverhältnis mit der F nicht aufgrund Befristung zum 31.12.2019 beendet wurde, entspricht ihr Begehren einer sog. Entfristungsklage nach § 17 S. 1 TzBfG. Es handelt sich bei der Entfristungsklage nach § 17 TzBfG ebenso wie bei der Kündigungsschutzklage nach § 4 KSchG um eine Klage mit punktuellem Streitgegenstand. Streitgegenstand ist allein die Wirksamkeit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund einer Befristungsabrede. Will der Kläger hingegen geltend machen, dass auch aus anderen Gründen ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht, z.B. aufgrund der Fiktion des § 15 Abs. 5 TzBfG, so muss er – wie im Verhältnis von Kündigungsschutzklage und allgemeiner Feststellungsklage (dazu Fall 8) – neben der Entfristungsklage eine allgemeine Feststellungsklage erheben, gerichtet auf die Feststellung, dass zwischen den Parteien ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht. 3. Feststellungsinteresse Als besondere Art einer Feststellungsklage bedarf auch die Entfristungsklage grundsätzlich eines besonderen Feststellungsinteresses gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. §§ 495, Abs. 1, 256 Abs. 1 ZPO. Dieses ergibt sich bereits aus der Gefahr der Präklusion, welche für die Entfristungsklage aus § 17 S. 1, 2 TzBfG i.V.m. § 7 KSchG resultiert. 4. Klagefrist Darüber hinaus unterliegt die Entfristungsklage keiner prozessrechtlichen Klagefrist. Die Drei-Wochen-Frist des § 17 S. 1 TzBfG stellt insofern keine Zulässigkeitsvoraussetzung für die Klage dar. K Kontext: Auf Grund der Verweisung in § 17 S. 2 TzBfG auf § 7 KSchG ergibt sich, dass die Befristung „als von Anfang an rechtswirksam gilt“, wenn nicht innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 17 S. 1 TzBfG Klage erhoben wird. Mit der Rechtsfolge des § 7 KSchG wird damit gerade nicht die Verweigerung einer Sachentscheidung bezweckt, sondern lediglich die Einflussnahme der Drei-Wochen-Frist auf das Ergebnis der Sachentscheidung normiert. Die Klagefrist des § 17 S. 1 TzBfG stellt deshalb keine prozessuale Frist, sondern – wie die Parallelvorschrift des § 4 KSchG – eine materiell-rechtliche Präklusionsfrist dar, deren etwaige Versäumung nicht zur Unzulässigkeit, sondern zur Unbegründetheit der Klage führt.4 Anders als bei der Kündigungsschutzklage ist die Klagefrist im Rahmen der Entfristungsklage bei allen Unwirksamkeitsgründen einzuhalten, also auch dann, wenn die Unwirksamkeit der Befristung wegen fehlender Schriftform (§§ 14 Abs. 4, 16 TzBfG) geltend gemacht wird.5

4 ErfK/Müller-Glöge § 17 TzBfG Rn. 11. 5 BAG 4.5.2011 NZA 2011, 1178 Rn. 16 ff.

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Fall 21 „Befristungen ohne Ende?“

5. Partei- und Prozessfähigkeit Sowohl A als natürliche Person als auch die F-GmbH als juristische Person (vgl. § 13 Abs. 1 GmbHG) sind rechtsfähig und damit gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 50 Abs. 1 ZPO parteifähig. Gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 51 Abs. 1 ZPO, § 35 Abs. 1 GmbHG muss sich die F im Prozess durch ihren Geschäftsführer vertreten lassen, während an der Geschäftsund damit auch der Prozessfähigkeit der A keine Zweifel bestehen. 6. Zwischenergebnis Anhaltspunkte dafür, dass die weiteren Sachentscheidungsvoraussetzungen für die Klage der A (etwa ordnungsgemäße Klageerhebung, keine anderweitige Rechtshängigkeit oder keine entgegenstehende Rechtskraft) nicht gegeben sein könnten, liegen nicht vor, sodass die Entfristungsklage der A zulässig ist.

II. Begründetheit der Klage Die Klage der A ist begründet, wenn die Befristung des Arbeitsvertrags unwirksam ist. 1. Wirksame Begründung eines Arbeitsverhältnisses A und F haben ein rechtswirksames (Leih-)Arbeitsverhältnis gemäß § 611a BGB begründet, nach welchem die A ihre Arbeitsleistung im Rahmen von Arbeitnehmerüberlassung zu erbringen hat. Eine etwaige Unwirksamkeit der Befristung berührt gemäß § 16 S. 1 Halbs. 1 TzBfG nicht die wirksame Begründung dieses Arbeitsverhältnisses. Von Arbeitnehmerüberlassung spricht man, wenn ein Arbeitgeber (Verleiher) einem Dritten (Entleiher) seine Arbeitnehmer (Leiharbeitnehmer) vorübergehend zur Arbeitsleistung überlässt, vgl. § 1 Abs. 1 S. 1 AÜG. Eine arbeitsvertragliche Beziehung zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer wird dabei allerdings nicht begründet. Ein Vertragsverhältnis besteht vielmehr nur zwischen dem Verleiher und dem Leiharbeitnehmer in Form eines Arbeitsvertrags sowie zwischen dem Entleiher und dem Verleiher (sog. Arbeitnehmerüberlassungsvertrag, der einen Vertragstyp sui generis als Unterfall eines Dienstverschaffungsvertrags darstellt). Wie das Verhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer genau zu qualifizieren ist, ist umstritten, für den vorliegenden Fall aber nicht weiter bedeutsam. 2. Wirksamkeit der Befristung des Arbeitsvertrags Die Befristung des Arbeitsverhältnisses wäre wirksam, wenn A die Befristung nicht innerhalb der Frist des § 17 S. 1 TzBfG angegriffen hätte, die Schriftform des § 14 Abs. 4 TzBfG gewahrt worden wäre und der Befristung entweder ein Sachgrund nach § 14 Abs. 1 TzBfG bzw. die Voraussetzungen einer sachgrundlosen Befristung nach § 14 Abs. 2 TzBfG zugrunde gelegen hätten. Hat die Entfristungsklage nach § 17 TzBfG Erfolg, ist Rechtsfolge einer unwirksamen Befristung die Entstehung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses nach § 16 S. 1 TzBfG. Die Klagefrist beträgt grundsätzlich 3 Wochen nach vereinbartem Ende der Befristung gem. § 17 S. 1 TzBfG; bei Verspätung ist eine nachträgliche Zulassung nach §§ 17 S. 2 TzBfG, 5–7 KSchG möglich. § 17 S. 3 TzBfG gilt nur im Fall des § 15 Abs. 2 TzBfG. 282

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„Befristungen ohne Ende?“ Fall 21

a) Streitgegenstand: Befristung des letzten Arbeitsvertrags Da vorliegend mehrere Befristungsabreden getroffen wurden und die A sich darüber hinaus in der Klagebegründung auf die Unwirksamkeit sowohl der Befristung vom 5.12.2017 als auch vom 12.11.2018 beruft, ist für die nachfolgende Prüfung zunächst entscheidend, auf welche Befristungsabreden sich die Kontrolle durch die Entfristungsklage bezieht. Für sog. Kettenbefristungen stellt sich insofern die Frage, ob die Wirksamkeit aller in einer ununterbrochenen Reihe geschlossenen Verträge zu überprüfen ist, oder ob es genügt, dass der letzte Vertrag die sachliche Rechtfertigung in sich trägt. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG ist bei mehreren aufeinander folgenden, befristeten Arbeitsverträgen grundsätzlich nur die Befristung des letzten Arbeitsvertrags im Rahmen der arbeitsgerichtlichen Befristungskontrolle auf ihre sachliche Rechtfertigung hin zu prüfen.6 Durch den Abschluss eines weiteren befristeten Arbeitsvertrags stellten die Parteien ihr Arbeitsverhältnis auf eine neue Rechtsgrundlage, die künftig für ihre Rechtsbeziehung allein maßgebend sein soll. Damit werde aber zugleich ein eventuell bestehendes unbefristetes Arbeitsverhältnis aufgehoben. Denn der Abschluss eines neuen, befristeten Vertrags zeige, dass die Beteiligten selbst nicht davon ausgingen, dass bereits ein wirksames, unbefristetes Arbeitsverhältnis zwischen ihnen besteht. Davon abgesehen wäre dem A wegen Ablaufs der Klagefrist des § 17 S. 1 TzBfG die Berufung auf die Unwirksamkeit der früheren Befristung vom 5.12.2017 gemäß § 17 S. 2 TzBfG, § 7 KSchG ohnehin verwehrt, was auch für die Kontrolle nur des zuletzt befristeten Arbeitsvertrags spricht. b) Keine Präklusion nach § 17 S. 2 TzBfG, § 7 KSchG durch Wahrung der Klagefrist des § 17 S. 1 TzBfG Damit A die Unwirksamkeit der Befristung vom 12.11.2018 zum 31.12.2019 geltend machen kann, müsste sie die auf Feststellung des trotz Befristung nicht beendeten Arbeitsverhältnisses gerichtete Klage nach § 17 S. 1 TzBfG innerhalb von drei Wochen nach dem vereinbarten Ende des befristeten Arbeitsvertrags erhoben haben. Vorliegend hat A ihre Klage am 13.1.2020 und damit innerhalb von drei Wochen nach dem vereinbarten Vertragsende zum 31.12.2019 erhoben (§§ 253, 261 ZPO). Folglich ist A hinsichtlich des Vortrags etwaiger Unwirksamkeitsgründe nicht materiell gemäß § 17 S. 2 TzBfG, § 7 KSchG präkludiert. c) Schriftformerfordernis, § 14 Abs. 4 TzBfG Laut Sachverhalt wurde die nach § 14 Abs. 4 TzBfG für die Befristungsvereinbarung erforderliche Schriftform im Sinne des § 126 Abs. 1, Abs. 2 BGB gewahrt. d) Materielle Wirksamkeitsvoraussetzungen gemäß § 14 Abs. 1, Abs. 2 TzBfG Nach § 14 Abs. 1 TzBfG wäre die Befristungsvereinbarung vom 12.11.2018 grundsätzlich nur wirksam, wenn sie durch einen ausreichenden sachlichen Grund gerechtfertigt ist. Liegt kein solcher Sachgrund für die Befristung vor, könnte die Befristung allerdings auch ohne sachlichen Grund unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 TzBfG zulässig sein.

6 BAG 4.6.2003 NZA-RR 2003, 621, 623; BAG 16.11.2005 NZA 2006, 785; BAG 18.6.2008 NZA 2009, 35.

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Fall 21 „Befristungen ohne Ende?“

Eine Befristung nach § 14 Abs. 1 TzBfG kommt vorliegend nicht in Betracht. Nach dem Wortlaut des § 14 Abs. 1 TzBfG, der den Begriff des sachlichen Grundes zwar nicht näher definiert, im Katalog des § 14 Abs. 1 S. 2 TzBfG jedoch nicht abschließend („insbesondere“) Beispiele solcher Sachgründe aufzählt, ist das Bestehen des Sachgrunds eine Wirksamkeitsvoraussetzung der Befristung. Hieraus resultiert, dass derjenige die Darlegungs- und Beweislast trägt, der sich auf die Wirksamkeit der Befristung beruft. Da die F sich nicht auf das Vorliegen eines Sachgrunds im Sinne des § 14 Abs. 1 TzBfG beruft, ist sie dieser Darlegungsund Beweislast nicht nachgekommen, sodass eine Befristung nach § 14 Abs. 1 TzBfG bereits aus diesem Grund ausscheidet. [Damit war auf die vielfältigen Probleme der Befristung von Leiharbeitsverhältnissen aus sachlichen Gründen7, deren Kenntnis von Kandidaten des Ersten Staatsexamens nicht erwartet wird, nicht einzugehen.] Da es sich vorliegend um eine kalendermäßige Befristung handelt, könnte die Befristungsvereinbarung vom 12.11.2018 jedoch auch ohne sachlichen Grund nach Maßgabe des § 14 Abs. 2, Abs. 2a, Abs. 3 TzBfG wirksam gewesen sein. K Kontext: Die sachgrundlose Befristung ist nach § 14 Abs. 2 TzBfG bis zu einer Gesamtdauer von 2 Jahren mit maximal drei Verlängerungen (dazu sogleich) möglich, ein Tarifvertrag kann – kumulativ8 – Abweichungen von beidem vorsehen. Dabei darf der Arbeitnehmer nicht „bereits zuvor“ bei dem Arbeitgeber beschäftigt gewesen sein (dazu sogleich). § 14 Abs. 2a, Abs. 3 TzBfG und §§ 2 ff. WissZeitVG enthalten Sondertatbestände. Allerdings kommt vorliegend weder eine Anwendung des § 14 Abs. 2a TzBfG in Betracht (die F ist bereits vor fünf Jahren gegründet worden), noch des § 14 Abs. 3 TzBfG (Angaben zum Alter der A sind nicht vorgegeben), sodass lediglich § 14 Abs. 2 TzBfG eingreifen könnte. Nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 1 TzBfG ist die sachgrundlose Befristung eines Arbeitsvertrags ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig. Bis zu dieser Gesamtdauer ist die höchstens dreimalige Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsvertrags nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG möglich. Eine Befristung nach § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG wäre jedoch bereits dann unzulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat, § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG. aa) Verstoß gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG aufgrund der vorherigen Beschäftigung bei der E Eine solche unzulässige Vorbeschäftigung könnte darin zu sehen sein, dass A bei der E aufgrund des schriftlich geschlossenen und bis zum 31.12.2017 befristeten Arbeitsvertrags vom 1.1.2016 an als Kundenbetreuerin beschäftigt war. § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG setzt allerdings voraus, dass die Beschäftigung auch bei „demselben Arbeitgeber“ erfolgt ist. Die A macht insofern geltend, dass es sich bei ihrem vorherigen Arbeitgeber E und der F nur formal um zwei verschiedene Arbeitgeber handelt.

7 Näher Düwell/Dahl NZA 2007, 889 ff. 8 BAG 15.8.2012 NZA 2013, 45.

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„Befristungen ohne Ende?“ Fall 21

(1) „Derselbe Arbeitgeber“ Der Wortlaut der Vorschrift ist aber insoweit deutlich, als sie allein auf den Vertragsarbeitgeber, also diejenige natürliche oder juristische Person hinweist, die mit dem Arbeitnehmer den befristeten Arbeitsvertrag geschlossen hat. Da sowohl die E als auch die F gemäß § 13 Abs. 1 GmbHG als eigenständige juristische Personen anzusehen sind und Arbeitgeber des Leiharbeitnehmers einzig der Verleiher ist, stellt die Beschäftigung der A bei der E daher keine der Befristungsvereinbarung vom 12.11.2018 entgegenstehende Vorbeschäftigung im Sinne des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG bei „demselben Arbeitgeber“ dar.9 Daran ändert auch nichts, dass E und F 100%ige Tochtergesellschaften der D-AG sind. Konzerne sind gemäß § 18 Abs. 1 Abs. 2 AktG lediglich Zusammenfassungen mehrerer rechtlich selbstständiger Unternehmen unter einer einheitlichen Leitung. Weder verlieren die einzelnen Gesellschaften ihre Eigenschaft als juristische Person noch ist der Konzern selbst Rechtsträger. [a.A. mit entsprechender Begründung vertretbar.] (2) Rechtsmissbräuchliche Umgehung Allerdings fragt sich, ob die zwischen der E, F und A gewählte Vertragsgestaltung als rechtsmissbräuchliche Umgehung des Anschlussverbots gemäß § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG (und damit zugleich der in § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG enthaltenen Höchstbefristungsdauer) anzusehen ist. Zweifel resultieren vorliegend daraus, dass A während der gesamten vierjährigen Dauer ihrer Arbeitsverhältnisse mit Unternehmen der D durchgängig auf ihrem früheren Arbeitsplatz bei der E und in unveränderter Funktion als Kundenbetreuerin eingesetzt wurde, wobei ihre Beschäftigung auf dem Arbeitsplatz bei der E lediglich zwei Jahre lang aufgrund von Arbeitnehmerüberlassung erfolgte. Die gewählte Gestaltung könnte insoweit gegen § 242 BGB verstoßen und deshalb rechtsmissbräuchlich sein. Der Grundsatz von Treu und Glauben bildet als Gebot der Redlichkeit und als allgemeine Schranke der Rechtsausübung eine allen Rechten, Rechtslagen und Rechtsnormen immanente Inhaltsbegrenzung. Eine gegen § 242 BGB verstoßende Rechtsausübung oder Ausnutzung einer Rechtslage ist dabei allgemein immer dann als missbräuchliche Rechtsüberschreitung anzusehen, wenn sie zu einem mit Treu und Glauben unvereinbaren, schlechthin untragbaren Ergebnis führt.10 Dies ist unter anderem der Fall, wenn ein Vertragspartner auf eine für sich genommen rechtlich zulässige Gestaltung in einer mit Treu und Glauben unvereinbaren Weise zu dem alleinigen Zweck zurückgreift, sich zum Nachteil des Vertragspartners Vorteile zu verschaffen, die nach dem Normzweck nicht vorgesehen sind. Fraglich ist, ob der Abschluss eines sachgrundlos befristeten Vertrags als rechtsmissbräuchlich anzusehen ist, wenn der ehemalige Arbeitnehmer eines Entleihers als Leiharbeitnehmer unter Beibehaltung seines Arbeitsplatzes zum Verleiher wechselt, wie es vorliegend geschehen ist. Nach Ansicht des BAG kommt es auch in diesen Fällen auf die Umgehungsabsicht der Parteien an. Die Tatsache, dass der Vertrag mit dem Verleihunternehmen nur zu dem Zweck geschlossen wurde, den Arbeitgeber mittels Arbeitnehmerüberlassung wieder auf demselben Arbeitsplatz wie bisher einzusetzen, genügt noch nicht, ein solches kollusives Zusammenwirken anzunehmen. Hinzukommen müsste vielmehr, dass es den Parteien gerade darauf ankam, die Bestimmungen des § 14 Abs. 2 TzBfG zu umgehen. Ein Indiz hierfür kann z.B. sein, dass die Arbeitnehmerüberlassung nach Erreichen der Höchstbefristungsdau9 BAG 10.11.2004 NZA 2005, 514, 515 f.; BAG 18.10.2006 NZA 2007, 443, 444 f. 10 Palandt/Grüneberg § 242 BGB Rn. 40.

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Fall 21 „Befristungen ohne Ende?“

er vereinbart wurde. Hier hätte der vom 1.1.2016 bis 31.12.2017 dauernde Vertrag zwischen A und E nicht erneut sachgrundlos befristet werden können. Insbesondere die Umstände, dass für den Arbeitnehmer erkennbar ist, dass ein Wechsel des Vertragsarbeitgebers vollzogen wird und das neue Beschäftigungsverhältnis im Rahmen von Arbeitnehmerüberlassung erfolgt, sollen aber einem Missbrauch entgegenstehen. Hinzu kommt, dass die von den beteiligten Arbeitgebern gewählte Verfahrensweise der „Rücküberlassung“ für sich genommen weder gegen die für die Arbeitnehmerüberlassung geltenden Vorschriften des AÜG noch gegen § 14 Abs. 2 TzBfG verstößt.11 Das BAG erkennt in diesem Zusammenhang zwar an, dass die Beschäftigung eines Arbeitnehmers bei einem Arbeitgeber im Rahmen von zwei sachgrundlos befristeten Arbeitsverträgen über einen Zeitraum von insgesamt vier Jahren nicht der vom Gesetzgeber mit § 14 Abs. 2 TzBfG verfolgten beschäftigungspolitischen Zielsetzung entspricht.12 Dennoch könne eine Unwirksamkeit der Befristung wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben nicht angenommen werden. Aus der Entstehungsgeschichte des § 14 Abs. 2 TzBfG sei nämlich kein gesetzgeberischer Wille dahingehend erkennbar, die sachgrundlose Befristung mit einem erlaubt tätigen Verleiher bei einem vorherigen Einsatz des Arbeitnehmers im bisherigen Einsatzbetrieb beschränken zu wollen. Auch aus einer Beschäftigungsdauer von vier Jahren auf demselben Arbeitsplatz lasse sich letztlich nichts anderes herleiten, denn der Gesetzgeber habe in anderen Fällen – das BAG verweist insofern auf die Regelung des § 14 Abs. 2a TzBfG – einen solchen zeitlichen Rahmen für eine sachgrundlose Befristung zugelassen. Dieser Zeitraum ist hier noch nicht überschritten. Insgesamt spricht daher in Ermangelung weiterer Anhaltspunkte mehr gegen die Annahme eines Rechtsmissbrauchs. [a.A. vertretbar, etwa unter Rückgriff auf die u.a. beschäftigungspolitische Zwecksetzung des Gesetzes, das durch befristete Beschäftigung eine „Brücke in die Dauerbeschäftigung“ schaffen will. Deswegen will die Regelung in § 14 Abs. 2 S. 1 und S. 2 TzBfG den Arbeitgeber dazu veranlassen, den Arbeitnehmer nach Ausschöpfung der Möglichkeit zur sachgrundlosen Befristung entweder unbefristet bzw. im Rahmen einer Sachgrundbefristung weiter zu beschäftigen oder bei weiter bestehendem vorübergehenden Arbeitskräftebedarf einen anderen Arbeitnehmer befristet einzustellen. Systematisch kann in diesem Zusammenhang darauf verwiesen werden, dass weitere sachgrundlose Befristungsmöglichkeiten nur unter den Voraussetzungen von § 14 Abs. 2a bzw. Abs. 3 TzBfG sowie § 14 Abs. 2 S. 3 TzBfG ermöglicht werden sollten. Die letzte Befristung wäre dann unwirksam und es bestünde nach § 16 S. 1 Hs. 1 TzBfG ein unbefristetes Arbeitsverhältnis mit dem letzten Vertragsarbeitgeber. Hier wäre mit Blick darauf, dass es sich um eine Konstellation des Rechtsmissbrauchs handelt, auch gut vertretbar anzunehmen, dass, weil sich der Arbeitgeber eines Dritten bedient, um das Verbot der Vorbeschäftigung zu umgehen, obwohl bei ihm weiterer Beschäftigungsbedarf besteht, als Rechtsfolge des § 242 BGB auch ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber angenommen werden könnte, bei dem der Arbeitnehmer tatsächlich beschäftigt wird.13] [Freilich konnte und wurde vom Bearbeiter die Kenntnis des bestehenden Streitstands und eine derart vertiefte Argumentation nicht erwartet. Es wurde jedoch verlangt, dass das Problem des Verstoßes gegen § 242 BGB angesichts der deutlichen Sachverhaltsangaben angesprochen und mit einer vertretbaren, eigenständigen Argumentation gelöst wurde.]

11 BAG 9.3.2011 NZA 2011, 1147, 1150. 12 BAG 18.10.2006 NZA 2007, 443, 445. 13 Vgl. Brose, Db 2008, 1378, 1380 ff.; zu den Rechtsfolgen Boemke, AP TzBfG § 14 Verlängerung Nr. 4.

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„Befristungen ohne Ende?“ Fall 21

(3) Zwischenergebnis Die Beschäftigung der A bei der E im Zeitraum vom 1.1.2016 bis zum 31.12.2017 führt also nicht zu einem Verstoß der zwischen A und F vereinbarten Befristung vom 12.11.2018 gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG bzw. einer nach § 242 BGB rechtsmissbräuchlichen Umgehung des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG. bb) Verstoß gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG aufgrund der vorherigen Befristungsvereinbarung vom 5.12.2017 Möglicherweise liegt mit der sachgrundlosen Befristung vom 12.11.2018 ein Verstoß gegen das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG vor, weil A bereits aufgrund der Befristungsvereinbarung vom 5.12.2017 im Zeitraum vom 1.1.2018 bis zum 31.12.2018 bei der F beschäftigt war. Insofern bestand zum Zeitpunkt der Befristung vom 12.11.2018 ein befristetes Arbeitsverhältnis zu demselben Arbeitgeber im Sinne des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG. Die Befristung vom 12.11.2018 könnte jedoch lediglich als Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsvertrags anzusehen sein, die nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG sachgrundlos bis zur Gesamtdauer von zwei Jahren vereinbart werden kann. Da es vorliegend zwischen der A und der F um zwei befristete Arbeitsverträge im Zeitraum vom 1.1.2018 bis zum 31.12.2019 geht, ist sowohl die Anzahl möglicher Verlängerungen, als auch die in jedem Fall zu beachtende Höchstüberlassung von zwei Jahren nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG nicht überschritten worden. Fraglich bleibt folglich einzig, ob die Befristungsvereinbarung vom 12.11.2018 tatsächlich eine Verlängerung darstellt. Eine Verlängerung im Sinne von § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG ist insofern vom Neuabschluss, der wegen eines vorangegangenen befristeten Arbeitsverhältnisses mit demselben Arbeitgeber nach § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG unzulässig wäre, abzugrenzen. Unstreitig liegt eine Verlängerung im Sinne des § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG dann vor, wenn das Arbeitsverhältnis einvernehmlich ohne zeitliche Unterbrechung und zu gleichen Bedingungen über den zunächst vereinbarten Endtermin hinaus fortgesetzt wird. Die Vereinbarung wurde zwischen A und F am 12.11.2018 und damit noch vor Ablauf der ursprünglichen Befristung bis zum 31.12.2018 geschlossen, wobei das Arbeitsverhältnis darüber hinaus auch ohne zeitliche Unterbrechung ab dem 1.1.2019 fortgeführt wurde. Der zeitliche Rahmen des § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG wurde mithin eingehalten. Fraglich ist aber, wie sich die Erhöhung des Stundenlohns der A um 0,50 Euro auf das Vorliegen einer Verlängerung auswirkt. (1) Auffassung des BAG Das BAG14 geht nämlich darüber hinaus davon aus, dass sich eine Verlängerung lediglich auf die Vertragslaufzeit beziehen darf und mit diesem Begriff deshalb eine inhaltliche Änderung der Vertragsbedingungen grundsätzlich nicht vereinbar ist. Der Begriff der „Verlängerung“ beziehe sich grammatikalisch nur auf die Laufzeit des Vertragsverhältnisses. Auch zeige die Gesetzessystematik, dass die durch § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG geschaffene Möglichkeit zur Verlängerung eines sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrags einen Ausnahmetatbestand darstelle, der es gebiete, die Voraussetzungen, unter denen eine Verlängerung zulässig ist, auf die Verschiebung des Beendigungszeitpunkts streng zu begrenzen. Diese auf die Änderung der Vertragslaufzeit limitierte Abgrenzung der Verlängerung zum Neuab14 BAG 18.1.2006 NZA 2006, 605, 606 f.; BAG 23.8.2006 NZA 2007, 204, 205; BAG 20.2.2008 NZA 2008, 883.

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Fall 21 „Befristungen ohne Ende?“

schluss resultiere letztlich auch aus dem Gesetzeszweck. Der Gesetzgeber habe den Arbeitnehmer bei der Entscheidung über die Verlängerung des nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 1 TzBfG befristeten Arbeitsverhältnisses davor schützen wollen, dass der Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses davon abhängig macht, dass der Arbeitnehmer geänderte Arbeitsbedingungen akzeptiert oder dass Letzterer durch das Angebot anderer Arbeitsbedingungen zum Abschluss eines weiteren sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrags veranlasst wird. Lediglich ausnahmsweise steht nach Auffassung des BAG eine Änderung der Vertragsbedingungen in der Befristungsvereinbarung der Annahme einer Verlängerung nicht entgegen. Dies ist nach der Rechtsprechung des BAG zum einen der Fall, wenn bereits zuvor erfolgte Änderungen der Vertragsbedingungen lediglich in den Text der Verlängerungsvereinbarung aufgenommen werden. Eine Änderung der Vertragsbedingungen soll zum anderen dann unschädlich sein, wenn im Verlängerungsvertrag Arbeitsbedingungen vereinbart werden, auf die der befristet beschäftigte Arbeitnehmer einen Anspruch hat. Da in der Befristungsvereinbarung vom 12.11.2018 nicht nur ein neuer Beendigungszeitpunkt, sondern auch ein 50 Cent höherer Stundenlohn vereinbart wurde, läge nach dieser Sichtweise keine zulässige Verlängerung im Sinne des § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG, sondern ein gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG verstoßender Neuabschluss eines befristeten Arbeitsvertrags vor. Insofern ist die inhaltliche Änderung der bisherigen Arbeitsbedingungen von keiner der vom BAG entwickelten Ausnahmen gedeckt. Dass die Vereinbarung aus der Sicht der A durch die Gehaltsverbesserung letztlich verbesserte Arbeitsbedingungen enthält, ist nach Ansicht des BAG dabei unbeachtlich. (2) Kritik Die Sichtweise des BAG ist abzulehnen.15 Es überzeugt nicht, dass eine Veränderung der Arbeitsbedingungen, insbesondere Änderungen zugunsten des Arbeitnehmers, zwar im Zeitpunkt der Verlängerung unzulässig sein und zur Unzulässigkeit der weiteren sachgrundlosen Befristung führen soll, Änderungen vor und nach der Verlängerung im Wege der Vereinbarung aber unproblematisch möglich sind. Es ist außerdem fraglich, ob es tatsächlich die Funktion des Merkmals „Verlängerung“ widerspiegelt, eine Bestandssicherung der ursprünglich vereinbarten Vertragsbedingungen zu gewährleisten, wie es die Auslegung des BAG nahelegt. Insofern scheint es entgegen der Interpretation des BAG weder durch den Gesetzeswortlaut noch durch den Zweck des § 14 Abs. 2 TzBfG gerechtfertigt werden zu können, dass im Zuge einer „Verlängerung“ keine „Veränderung“ der Arbeitsbedingungen möglich sein soll. Schon das vorgebrachte Wortlautargument kann als Zirkelschluss bezeichnet werden, weil gerade zu begründen wäre, ob es sich um eine „bloße“ Verlängerung handeln muss. Entscheidend ist jedoch, dass das BAG zweckwidrig das Wort „unveränderte“ in § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG hineininterpretiert. Diese Hürde lässt sich auch durch den Gesetzeszweck des § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG nicht plausibel erklären. Das teleologische Argument, dass § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG den Arbeitnehmer davor schützen wolle, dass der Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses davon abhängig macht, dass der Arbeitnehmer geänderte Arbeitsbedingungen akzeptiert, versagt jedenfalls im Falle der Veränderung von Arbeitsbedingungen zugunsten des Arbeitnehmers schon im Ansatz. Denn eine Beeinträchtigung der Entschlussfreiheit des Arbeitnehmers kann bei für ihn günstigeren Vereinbarungen nicht angenommen werden. Folglich ist trotz der veränderten Vergütungs-

15 APS/Backhaus § 14 TzBfG Rn. 374 ff.; Preis, NZA 2005, 714, 716.

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„Befristungen ohne Ende?“ Fall 21

vereinbarung davon auszugehen, dass die Befristungsvereinbarung vom 12.11.2018 eine Verlängerung im Sinne von § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG darstellt. cc) Zwischenergebnis Mithin verstößt die Befristung des Arbeitsverhältnisses vom 12.11.2018 nicht gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG, sondern erfüllt die Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG. Damit handelte es sich bei der Befristung bis zum 31.12.2019 um eine materiellrechtlich rechtswirksame sachgrundlose Befristung. [a.A. gut vertretbar. Der Bearbeiter hätte dann zum Ergebnis kommen müssen, dass die streitgegenständliche Befristungsvereinbarung nicht über § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG gerechtfertigt ist, sondern gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG verstößt. Da die Befristung zum 31.12.2019 rechtsunwirksam und gemäß § 16 S. 1 Halbs. 1 TzBfG ein Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit mit der F zustande gekommen wäre, wäre die Klage der A begründet.] [auch hier wird auch von gelungenen Arbeiten nur Problembewusstsein für das Vorliegen einer Verlängerung, wenn gleichzeitig eine inhaltliche Vertragsänderung vorgenommen wird mit einer nachvollziehbaren Problemlösung anhand der Auslegungsmittel, nicht eine Kenntnis des Streitstands, erwartet.]

III. Ergebnis Da die Befristungsvereinbarung vom 12.11.2018 wirksam zustande gekommen ist, ist die Klage der A unbegründet. Das Arbeitsgericht wird die zulässige Klage somit abweisen.

D. Lösungsvorschlag Frage 2 – Klage der B Das Arbeitsgericht wird der zulässigen Klage der B stattgeben, wenn sie begründet ist. Die Klage der B ist begründet, wenn die Befristung des Arbeitsvertrags unwirksam ist. Die Wirksamkeit der Befristung regelt § 14 TzBfG. Die nach § 14 Abs. 4 TzBfG erforderliche Schriftform, § 126 BGB, für eine Befristung ist eingehalten.

I. Sachgrundbefristung nach § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG Für die Befristung eines Arbeitsverhältnisses ist grundsätzlich ein sachlicher Grund erforderlich. G meint hier, sie habe jeweils nicht über das nächste Jahr hinaus abschätzen können, ob sie Bedarf für die Arbeit der B habe. In Betracht kommt daher § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG, der eine Befristung zulässt, wenn der betriebliche Bedarf an der Arbeitsleistung nur vorübergehend besteht. Vom Wortlaut her lassen sich unter diesen Oberbegriff sowohl der vorübergehend erhöhte Arbeitskräftebedarf als auch der in Zukunft wegfallende Arbeitskräftebedarf fassen. Er indiziert dabei schon, dass eine Prognose im Zeitpunkt des Vertragsschlusses ergeben muss, dass aufgrund greifbarer Tatsachen mit einiger Sicherheit der Wegfall des Mehrbedarfs mit dem Auslaufen des befristeten Arbeitsverhältnisses zu erwarten ist. Das mag hier bei erster Betrachtung der Fall sein. Den systematischen Hintergrund für das Verständnis des Merkmals bilden die Regelungen des Kündigungsschutzes und allgemein die Zuordnung des Betriebs289

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Fall 21 „Befristungen ohne Ende?“

risikos zum Arbeitgeber (z.B. § 615 Abs. 3 BGB). Damit nicht vereinbar wäre es, wenn da Arbeitgeber unter Berufung auf § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 TzBfG die gewöhnlichen, durch allgemeine Markt- und Bedarfsschwankungen begründeten Unsicherheiten über den zukünftigen Bedarf an Arbeitskräften als typischen Bestandteil des unternehmerischen Risikos auf den befristet beschäftigten Arbeitnehmer abwälzen dürfte. Insoweit kann gemeint sein nur ein etwa projektbedingter, vorübergehender personeller Mehrbedarf.16 Für einen solchen vorübergehenden tatsächlichen Mehrbedarf, etwa aufgrund eines Projekts oder einer besonderen Lage, nicht nur eine normale Schwankung der Auftragslage, ist hier nichts ersichtlich. G kann nur die weitere wirtschaftliche Entwicklung nicht absehen, dieses Risiko ist aber gerade der wirtschaftlichen Tätigkeit als Unternehmer und Arbeitgeber immanent. Der Sachgrund des § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG liegt damit nicht vor.

II. Sachgrundlose Befristung nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 1 TzBfG K Kontext: Die Anwendbarkeit des § 14 Abs. 2 TzBfG setzt keine Vereinbarung der Parteien voraus, die Befristung auf diesen Rechtfertigungstatbestand stützen zu wollen. Die Vorschrift enthält insofern kein Zitiergebot. Es genügt vielmehr, dass der Rechtfertigungsgrund für die Befristung bei Vertragsschluss objektiv vorlag. Ebenso wie sich der Arbeitgeber bei einer Sachgrundbefristung zu deren Rechtfertigung auch auf einen anderen als den im Arbeitsvertrag genannten Sachgrund berufen oder er sich auf einen Sachgrund stützen kann, wenn im Arbeitsvertrag § 14 Abs. 2 TzBfG als Rechtfertigungsgrund für die Befristung genannt ist, kann er die Befristung mit § 14 Abs. 2 TzBfG begründen, wenn im Arbeitsvertrag ein Sachgrund für die Befristung angegeben ist. Für die Bearbeitung von Fällen heißt das, dass immer alle in Betracht kommenden Sachgründe zu prüfen sind und (nicht notwendig in dieser Reihenfolge) die sachgrundlose Befristung. Nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 1 TzBfG ist die sachgrundlose Befristung eines Arbeitsvertrags ohne Vorliegen eines sachlichen Grunds bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig. Gemäß § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG ist bis zu dieser Gesamtdauer die höchstens dreimalige Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsvertrags möglich. Dieser zeitliche Rahmen ist hier eingehalten. Eine Befristung nach § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG wäre jedoch unzulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber „bereits zuvor“ ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hätte, § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG. Die B hat bei G im Jahr 2010 bereits gearbeitet. Fraglich ist, ob darin eine „bereits-zuvor“ Beschäftigung begründet ist. 1. Vorbeschäftigung durch Tätigkeit als Praktikantin im August 2010 Unzulässig ist die Befristung nach § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat. Im August 2010 hat die B bei G ein studienbegleitendes Praktikum absolviert. Entscheidend ist insofern, ob es sich hierbei um ein Arbeitsverhältnis gehandelt hat. Für die Abgrenzung zwischen einem Arbeitsvertrag und einem echten Praktikantenvertrag kommt es auf den vorherrschenden Zweck des Vertragsverhältnisses sowie die erbrachte Tä16 APS/Backhaus § 14 TzBfG Rn. 139.

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tigkeit an. Leitlinie sind dabei die Definitionen in § 26 BBiG und § 22 Abs. 1 S. 3 MiLoG. Ein Praktikum und kein Arbeitsvertrag liegt somit vor, wenn es der überwiegende Zweck des Vertragsverhältnisses nach seiner konkreten Ausgestaltung und Durchführung ist, dem Beschäftigten berufliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen zu vermitteln. K Kontext: Der Praktikantenvertrag ist gesetzlich nicht definiert. Für die Abgrenzung zu einem Arbeitsverhältnis kommt es auf die konkrete Ausgestaltung und Durchführung der Tätigkeit an. Leitlinien bilden dabei die Definitionen in § 26 BBiG und § 22 Abs. 1 S. 3 MiLoG. Ein Praktikum liegt vor, wenn es der überwiegende Zweck des Vertragsverhältnisses nach seiner konkreten Ausgestaltung und Durchführung ist, dem Beschäftigten berufliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen zu vermitteln. In diesem Fall ist ein möglicher wirtschaftlicher Nutzen des Praktikumsgebers lediglich eine Nebenfolge der Ausbildung. Für ein unechtes Praktikantenverhältnis und ein Arbeitsverhältnis sprechen folgende Kriterien: Verantwortung für das Arbeitsergebnis, Ableistung von Mehrarbeit, Entscheidungsbefugnis, Vertretungstätigkeiten, Weisungsrechte gegenüber anderen Praktikanten. Bei einer Gesamtbetrachtung spricht hier insgesamt mehr für das Vorliegen eines Praktikums der B bei der G im August 2010. Es handelt sich um ein Pflichtpraktikum aufgrund einer Ausbildungsordnung (§ 22 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 MiLoG) und war insgesamt eher kurzer Dauer. Anhaltspunkte, die daran zweifeln lassen, dass vor allem berufliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen vermittelt werden sollten, liegen nicht vor. Ein Arbeitsverhältnis mit G wurde in dieser Zeit damit nicht begründet. Die Praktikumstätigkeit im August 2010 ist daher nicht schädlich für die Wirksamkeit der Befristung. 2. Vorbeschäftigung durch Job in den Semesterferien im September 2010 Eine unzulässige Vorbeschäftigung könnte vorliegend darin zu sehen sein, dass B vom 1.9.2010 bis zum 30.9.2010 bei der G, und damit demselben Arbeitgeber im Sinne von § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG, im Anschluss an ihr Praktikum als Arbeitnehmerin beschäftigt war. Die Parteien haben hier ihr Verhältnis nicht als Praktikum bezeichnet, vielmehr eine mit den fest angestellten Assistenten der G vergleichbare Tätigkeit zu einem Stundenlohn von 15 Euro mit 10 Wochenstunden vereinbart. Hier ist daher ein Arbeitsverhältnis anzunehmen. Fraglich ist, ob die einige Jahre zurückliegende, einmonatige Beschäftigung der G im Sinn von § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG eine „bereits-zuvor“-Beschäftigung ist. Unter Aufgabe der vorherigen Rechtsprechung17 ging das BAG zwischenzeitlich davon aus, dass eine „Zuvor-Beschäftigung“ nicht gegeben ist, wenn das frühere Arbeitsverhältnis mehr als drei Jahre zurückliegt.18 Das BAG leitete die Drei-Jahres-Frist rechtsfortbildend in Anlehnung an die regelmäßige Verjährungsfrist des § 195 BGB ab. Für diese Sichtweise verwies das BAG auf eine teleologische Auslegung des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG. Die in § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG eröffnete Möglichkeit zur sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen solle zum einen dem Arbeitgeber ermöglichen, auf eine unsichere und schwankende Auftragslage und wechselnde Marktbedingungen durch Neueinstellungen flexibel zu reagieren. Zum anderen 17 BAG 29.7.2009 – 7 AZN 368/09, ZTR 2009, 544 f. 18 BAG 6.4.2011 NZA 2011, 905; bestätigt durch BAG 21.9.2011 NZA 2012, 255.

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Fall 21 „Befristungen ohne Ende?“

solle die befristete Beschäftigung für den Arbeitnehmer eine Alternative zur Arbeitslosigkeit und eine Brücke zur Dauerbeschäftigung darstellen. Damit wolle § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG aber nicht per se den Abschluss sachgrundlos befristeter Arbeitsverträge verhindern, sondern nur den Missbrauch der Möglichkeit zur sachgrundlosen Befristung durch sog. „Kettenbefristungen“. Entsprechend dieser Zielsetzung rechtfertige der mit § 14 Abs. 2 TzBfG verfolgte Normzweck kein lebenslanges Verbot der Vorbeschäftigung. Die Anwendung des Anschlussverbots sei daher nur insoweit gerechtfertigt, als dies zur Verhinderung von Befristungsketten erforderlich sei. Das sei bei lange Zeit zurückliegenden Beschäftigungen jedoch typischerweise nicht der Fall. Danach stünde § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG der wirksamen Befristung der Beschäftigung der G in den Jahren 2018 und 2019 nicht entgegen, weil die Beschäftigung im August 2010 schon mehr als drei Jahre zurückliegt. Diese rechtsfortbildende Dreijahresgrenze hat das BVerfG wegen Verstoßes gegen das Rechtsstaatsprinzip für verfassungswidrig erklärt.19 Diese Erweiterung durch das BAG verstoße gegen die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung und damit gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz und das Rechtsstaatsprinzip. Das BAG durfte nicht den Wortlaut der Norm übergehen und die Dreijahresgrenze einführen. Dies entferne sich von Willen des Gesetzgebers, denn im Gesetzgebungsverfahren war darüber debattiert worden, dass eine Karenzzeit von etwa drei Jahren ausreichend wäre, um die Gefahr von Kettenbefristungen zu verhindern. Dennoch habe sich der Gesetzgeber gegen die Einführung einer solchen Grenze entschieden. Bliebe es dabei, hätte die B nicht noch einmal in den Jahren 2018 und 2019 befristet bei G beschäftigt werden dürfen, die sachgrundlose Befristung wäre nach § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG unwirksam. Damit gölte nach § 16 S. 1 TzBfG der Arbeitsvertrag als auf unbestimmte Zeit geschlossen. Gleichzeitig gebieten aber die Grundrechte nach dem BVerfG auch die Einschränkung von § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG durch eine verfassungskonforme Auslegung.20 Denn durch ein „Vorbeschäftigungsverbot“ könnte das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG auf Arbeitnehmerund Arbeitgeberseite unzumutbar beeinträchtigt sein – der Arbeitnehmer könnte Nachteile bei der Einstellung gegenüber solchen Arbeitnehmern haben, die noch nie bei dem Arbeitgeber gearbeitet haben, der Arbeitgeber wird beschränkt, weil er seinen Wunscharbeitnehmer nicht befristet einstellen kann. Das Verbot der sachgrundlosen Befristung bei nochmaliger Einstellung bei demselben Arbeitgeber könne unzumutbar sein, wenn eine Gefahr der Kettenbefristung in Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten nicht bestehe und das Verbot der sachgrundlosen Befristung nicht erforderlich ist, um das unbefristete Arbeitsverhältnis als Regelbeschäftigungsform zu erhalten. Eine Unzumutbarkeit ergebe sich insbesondere, wenn eine Vorbeschäftigung sehr lange zurückliegt, ganz andersgeartet war oder nur von sehr kurzer Dauer gewesen ist. So liege es etwa bei geringfügigen Nebenbeschäftigungen während der Schul-, der Studien- oder der Familienzeit, bei Werkstudierenden und studentischen Mitarbeitern im Rahmen ihrer Berufsqualifizierung. B hat im Jahr 2010 für einen Monat bei G in einem Arbeitsverhältnis gearbeitet. Die Beschäftigung ist bei Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses schon mehr als sieben Jahre vergangen. Die Beschäftigung damals fand auch nur neben dem Studium in einem geringen Umfang, nämlich für insgesamt 30 Tage mit 10 Stunden pro Woche statt. Die Tätigkeit als 19 BVerfG 6.6.2018 NZA 2018, 774, 775. 20 BVerfG 6.6.2018 NZA 2018, 774, 779; dem folgend BAG 23.1.2019 NZA 2019, 700.

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„Befristungen ohne Ende?“ Fall 21

Ingenieurin, die B in den Jahren 2018 und 2019 ausübte, dürfte auch bedeutend anderer Natur gewesen sein als die Tätigkeit als „Assistentin“ im Jahr 2010. Damit unterliegt die frühere Beschäftigung der B der verfassungskonformen Auslegung des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG mit der Folge, dass ihre Tätigkeit im August 2010 nicht der Beschäftigung „bereits zuvor“ unterfällt. [Wie die Grenzen einer sehr lange zurückliegenden, anders gearteten oder kurz andauernden Beschäftigung aussehen, wird in den nächsten Jahren die Arbeitsgerichte beschäftigen,21 eine a.A. ist hier daher ohne weiteres vertretbar – insbesondere soll nach BAG 23.1.2019 NZA 2019, 700 nicht (allein) ausreichen, dass seit Ende der Vorbeschäftigung acht Jahre vergangen sind. Im Ergebnis kommt man über die verfassungskonforme Auslegung voraussichtlich teilweise zu ähnlichen oder noch weitergehenden Ergebnissen wie das BAG mit seiner Dreijahresgrenze, die das BVerfG in seiner Generalität als unzulässige Rechtsfortbildung beanstandet hatte.] [Auch hier wäre selbst für eine gelungene Bearbeitung die Kenntnis der Rechtsprechung im Pflichtfach nicht erforderlich, ein Problembewusstsein für Auslegung und Anwendung der Vorschrift zur Zuvor-Beschäftigung aber schon.]

III. Ergebnis Die Befristung der B vom 1.1.2018 bis zum 31.12.2019 war daher nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 1 TzBfG wirksam, insbesondere steht dem nicht die vorherige Beschäftigung bei G im August 2010 entgegen, § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG ist hier insoweit verfassungskonform auszulegen. Das Arbeitsgericht wird die Klage daher abweisen.

E. Lösungsvorschlag Frage 3 – Befristung der C Fraglich ist, ob das Arbeitsverhältnis des C durch den Arbeitsvertrag vom 16.12.2019 oder den schriftlichen Arbeitsvertrag vom 7.1.2020 wirksam befristet wurde.

I. Wirksame Befristung durch Arbeitsvertrag vom 16.12.2019 C und X haben sich am 16.12.2019 mündlich über die Einstellung des C, die Details sowie die Befristung des Arbeitsvertrags vom 1.1.2020 bis zum 30.10.2020 geeinigt. Das hierdurch unzweifelhaft bestehende Arbeitsverhältnis des C mit der X wäre wirksam durch diesen Arbeitsvertrag vom 16.12.2019 befristet worden, wenn die Schriftform des § 14 Abs. 4 TzBfG gewahrt wurde und der Befristung entweder ein Sachgrund nach § 14 Abs. 1 TzBfG oder die Voraussetzungen einer sachgrundlosen Befristung nach § 14 Abs. 2 TzBfG zugrunde gelegen hätten. 1. Schriftformerfordernis, § 14 Abs. 4 TzBfG Die Unwirksamkeit der Befristung könnte sich jedoch bereits aus § 14 Abs. 4 TzBfG wegen Verstoßes gegen die Schriftform des § 126 BGB ergeben. § 126 BGB verlangt die eigenhändige Unterschrift von Arbeitgeber und Arbeitnehmer, welche durch die nur mündlich verein21 Zum Stand der Rspr. und den vielen anhängigen Verfahren Backhaus, jM 2019, 192 ff.

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Fall 21 „Befristungen ohne Ende?“

barte Befristung am 16.12.2019 nicht erfolgt ist. Somit liegt ein Verstoß gegen das Schriftformerfordernis des § 14 Abs. 4 TzBfG vor, der gemäß § 125 S. 1 BGB die Nichtigkeit der Befristung nach sich zieht. 2. Heilung durch Bestätigung gemäß § 141 BGB? Fraglich ist, ob die formnichtige mündliche Befristungsabrede durch die Unterzeichnung des schriftlichen Arbeitsvertrags vom 7.1.2020 gemäß § 141 BGB rückwirkend wirksam geworden ist. Nach § 141 Abs. 1 BGB ist die Bestätigung eines nichtigen Rechtsgeschäfts durch denjenigen, der es vorgenommen hat, als erneute Vornahme zu beurteilen. Die Bestätigung hat somit keine rückwirkende Kraft. Vielmehr entsteht durch die in ihr liegende Neuvornahme ein wirksames Geschäft.22 Bei nichtigen Verträgen besteht jedoch nach § 141 Abs. 2 BGB die Besonderheit, dass die Parteien, die einen solchen bestätigen, im Zweifel verpflichtet sind, einander zu gewähren, was sie haben würden, wenn der Vertrag von Anfang an gültig gewesen wäre. § 141 Abs. 2 BGB enthält mithin eine schuldrechtliche Rückwirkung im Verhältnis der Vertragsparteien zueinander. Denn insofern entspricht es regelmäßig den Interessen der Vertragsparteien, den zunächst nichtigen, später aber wirksam gewordenen Vertrag auch in der Zeit zwischen dem Vertragsschluss und der Bestätigung zu erfüllen. Nach Ansicht des BAG23 ist § 141 Abs. 2 BGB auf die nach Vertragsbeginn erfolgte schriftliche Niederlegung einer mündlich und damit formnichtig getroffenen Befristungsabrede indes nicht anwendbar. Eine unmittelbare Anwendung scheitere schon an den gesetzlichen Voraussetzungen des § 141 Abs. 2 BGB. Der mündlich geschlossene Arbeitsvertrag sei nämlich – abgesehen von der Befristung – von Anfang an wirksam und bilde die rechtliche Grundlage für die daraus resultierenden Rechte und Pflichten der Parteien. Aus der Befristung als solcher ergäben sich überhaupt keine Ansprüche, die schon für die Zeit vor der Bestätigung im Sinne des § 141 Abs. 2 BGB erfüllt werden könnten. Bei einer zunächst formnichtigen, später schriftlich festgehaltenen Befristung habe § 141 Abs. 2 BGB daher keinen Anwendungsbereich. Die Vorschrift kann nach Auffassung des BAG auf die nachgeholte Befristungsabrede darüber hinaus auch nicht analog angewandt werden. Selbst wenn angenommen würde, das Gesetz zur Schriftform sei lückenhaft, weil der Gesetzgeber den Fall der Nachholung nicht geregelt habe, stünden der analogen Anwendung im Wege teleologischer Auslegung Sinn und Zweck des Schriftformerfordernisses in § 14 Abs. 4 TzBfG entgegen. Das Schriftformerfordernis bezwecke im Hinblick auf die besondere Bedeutung der Befristung, die zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne weitere rechtsgeschäftliche Erklärung führe, die Gewährleistung größtmöglicher Rechtssicherheit. Der Arbeitnehmer solle bei Vertragsbeginn durch das Lesen der Vereinbarungen erkennen, dass er keinen Dauerarbeitsplatz erhalte, um gegebenenfalls den Vertragsschluss zu Gunsten anderer Angebote ablehnen zu können. Außerdem diene das Schriftformerfordernis der Beweiserleichterung. Dadurch solle unnötiger Streit der Parteien über das Vorliegen und den Inhalt einer Befristung vermieden werden. Mit dieser Zwecksetzung wäre es nicht vereinbar, wenn die analoge Anwendung des § 141 Abs. 2 BGB der Geltendmachung der Formnichtigkeit einer zunächst nur mündlich vereinbarten Befristung entgegenstünde. Denn dies eröffne die Möglichkeit, darüber zu streiten, ob überhaupt mündlich eine Befristung vereinbart wurde, die im Nachhinein bestätigt wer-

22 BAG 1.12.2004 NZA 2005, 575, 576 f. m.w.N.; Palandt/Ellenberger § 141 BGB Rn. 8. 23 BAG 1.12.2004 NZA 2005, 575, 576 f.; BAG 16.3.2005 NZA 2005, 923, 924 f.

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„Befristungen ohne Ende?“ Fall 21

den konnte. Einen derartigen Streit wolle das Schriftformerfordernis des § 14 Abs. 4 TzBfG jedoch gerade verhindern. [A.A. gut vertretbar, die Frage ist im Schrifttum umstritten.24 Man könnte argumentieren, dass die (vom Arbeitsvertrag isoliert zu betrachtende) Befristungsabrede selbst das formbedürftige Rechtsgeschäft, also der „nichtige Vertrag“ im Sinne des § 141 Abs. 2 BGB sei, der sodann bestätigt würde.] Die formnichtige mündliche Befristungsabrede vom 16.12.2019 wurde durch die Unterzeichnung des schriftlichen Arbeitsvertrags vom 7.1.2020 nach hier vertretener Ansicht mithin nicht gemäß § 141 BGB rückwirkend geheilt. 3. Ergebnis Die Befristungsabrede vom 16.12.2019 ist bereits wegen Verstoßes gegen § 14 Abs. 4 TzBfG unwirksam. Die Missachtung des Schriftformerfordernisses des § 14 Abs. 4 TzBfG führt jedoch nicht zur Nichtigkeit des gesamten Arbeitsvertrags. Gemäß § 16 S. 1 Halbs. 1 TzBfG gilt der rechtsunwirksam befristete Arbeitsvertrag vielmehr als auf unbestimmte Zeit geschlossen. An die Stelle des unwirksam befristeten Arbeitsvertrags tritt ein unbefristeter Arbeitsvertrag.

II. Wirksame Befristung durch Arbeitsvertrag vom 7.1.2020 Das Arbeitsverhältnis des C mit der X könnte jedoch durch den schriftlichen Arbeitsvertrag vom 7.1.2020 befristet worden sein. Denn ein wie hier bereits bestehender, unbefristeter Arbeitsvertrag kann nach allgemeinen Grundsätzen der Vertragsfreiheit auch noch nachträglich befristet werden. 1. Auf Befristung des Arbeitsverhältnisses gerichtete beiderseitige Willenserklärungen Voraussetzung für eine (nachträgliche) Befristung ist, dass die Parteien übereinstimmende, auf diese Rechtsfolge gerichtete Willenserklärungen abgeben haben. Daran fehlt es nach der Rechtsprechung des BAG25 in der Regel, wenn die Parteien nach Vertragsbeginn lediglich eine bereits zuvor mündlich vereinbarte Befristung in einem schriftlichen Arbeitsvertrag niederlegen. Dadurch wollten sie im Allgemeinen nur das zuvor Vereinbarte schriftlich festhalten und keine eigenständige, rechtsgestaltende Regelung treffen. Anders verhält es sich nach jüngerer Rechtsprechung des BAG26 jedoch, wenn die Parteien vor Vertragsbeginn und vor Unterzeichnung des schriftlichen Arbeitsvertrags mündlich keine Befristung vereinbart haben oder wenn sie eine mündliche Befristungsabrede getroffen haben, die inhaltlich mit der in dem später unterzeichneten, schriftlichen Arbeitsvertrag enthaltenen Befristung nicht übereinstimmt. In diesem Fall werde im schriftlichen Arbeitsvertrag nicht lediglich eine zuvor vereinbarte mündliche Befristung schriftlich niedergelegt, sondern eine davon abweichende und damit eigenständige Befristungsabrede getroffen, durch die das zunächst bei 24 Vgl. Bauer, BB 2001, 2526, 2528; Greiner, RdA 2009, 82, 89 f.; Straub, NZA 2001, 919, 927. 25 BAG 1.12.2004 NZA 2005, 575, 577; BAG 13.6.2007 NZA 2008, 108, 109; BAG 16.4.2008 NZA 2008, 1184, 1185. 26 BAG 13.6.2007 NZA 2008, 108, 109; BAG 16.4.2008 NZA 2008, 1184, 1185.

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Fall 21 „Befristungen ohne Ende?“

Vertragsbeginn unbefristet entstandene Arbeitsverhältnis nachträglich befristet werde, sofern die weiteren Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Befristung vorlägen. Entsprechend diesen Grundsätzen ist davon auszugehen, dass im schriftlichen Arbeitsvertrag vom 7.1.2020 eine eigenständige Befristungsvereinbarung geschlossen wurde. Die schriftliche Vertragsfassung wich vorliegend von der vorangegangenen mündlichen Absprache inhaltlich ab, da in ihr eine längere Befristungsdauer vereinbart wurde, als die mündliche Vereinbarung vom 16.12.2019 vorsah. 2. Schriftformerfordernis, § 14 Abs. 4 TzBfG Durch die Unterzeichnung des schriftlichen Arbeitsvertrags vom 7.1.2020 wurde die für Befristungsvereinbarungen erforderliche Schriftform des § 14 Abs. 4 TzBfG im Sinne des § 126 Abs. 1, Abs. 2 BGB gewahrt. 3. Materielle Wirksamkeitsvoraussetzungen gemäß § 14 Abs. 1, Abs. 2 TzBfG Allerdings wäre der Arbeitsvertrag vom 7.1.2020 als Befristungsvereinbarung unwirksam, wenn die Befristung nicht durch einen ausreichenden Grund gerechtfertigt und auch kein Fall einer sachgrundlosen Befristung gemäß § 14 Abs. 2, Abs. 2a, Abs. 3 TzBfG gegeben wäre. Zur sachgrundlosen Rechtfertigung der kalendermäßigen Befristung (vgl. die Definition des § 3 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 TzBfG) des Arbeitsvertrags vom 7.1.2020 kommt jedoch mangels dahingehender Sachverhaltsangaben vorliegend weder eine Anwendung des § 14 Abs. 2a TzBfG noch des § 14 Abs. 3 TzBfG in Betracht. Fraglich ist, ob die Befristungsvereinbarung durch § 14 Abs. 2 TzBfG gerechtfertigt ist. a) Sachgrundlose Befristung gemäß § 14 Abs. 2 TzBfG Nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 1 TzBfG ist die sachgrundlose Befristung eines Arbeitsvertrags ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig. Gemäß § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG ist bis zu dieser Gesamtdauer auch die höchstens dreimalige Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsvertrags möglich. Eine Befristung nach § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG wäre indes unzulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hätte, § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG. Eine solche Vorbeschäftigung mit demselben Arbeitgeber resultiert vorliegend daraus, dass C und X bereits am 16.12.2019 mittels der formnichtigen Befristungsvereinbarung einen unbefristeten Arbeitsvertrag geschlossen haben. Mit der tatsächlichen Arbeitsaufnahme am 4.1.2020 kam sodann ein Arbeitsverhältnis im Sinne des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG zustande. Einer sachgrundlosen Befristung des Arbeitsvertrags vom 7.1.2020 nach § 14 Abs. 2 TzBfG steht mithin das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG entgegen. b) Bestehen eines sachlichen Grundes für die Befristung gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 5 TzBfG Die Befristungsvereinbarung vom 7.1.2020 wäre mithin nur dann wirksam, wenn ein sachlicher Grund im Sinne des § 14 Abs. 1 S. 1 TzBfG vorgelegen hätte. Als sachlicher Grund kommt vorliegend lediglich in Betracht, dass, wie X angibt, die Befristung „zur Erprobung“ erfolgt gemäß § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 TzBfG. Zweifel daran können bestehen, weil C hier „zur Erprobung“ für ein ganzes Jahr befristet beschäftigt werden soll. 296

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„Befristungen ohne Ende?“ Fall 21

Das Gesetz nennt in § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 TzBfG zwar keine Höchstfrist. Allerdings kann der vereinbarten Vertragslaufzeit Bedeutung im Rahmen der Prüfung des Befristungsgrunds zukommen. Sie muss sich am Sachgrund der Befristung orientieren und so mit ihm im Einklang stehen, dass sie nicht gegen das Vorliegen des Sachgrunds spricht. Aus der vereinbarten Vertragsdauer darf sich nicht ergeben, dass der Sachgrund tatsächlich nicht besteht oder nur vorgeschoben ist. Steht die vereinbarte Dauer der Erprobungszeit in keinem angemessenen Verhältnis zu der in Aussicht genommenen Tätigkeit, trägt der Sachgrund der Erprobung nicht.27 Systematisch kann geschlossen werden, dass nach dem Vorbild des § 1 KSchG und der Kündigungsfristenregelung für Kündigungen während der Probezeit (§ 622 Abs. 3 BGB) sechs Monate als Erprobungszeit ausreichen werden. Die hier vereinbarte Befristungsdauer verdoppelt die zu Erprobungszwecken vorgesehene Privilegierungen von sechs Monaten, die das Gesetz üblicherweise als ausreichend ansieht. Das ist eine erhebliche Abweichung. Dafür, dass hier Besonderheiten in der Person von C oder des Arbeitsplatzes bestehen, sind keine Anhaltspunkte ersichtlich. Gerade die Arbeit als Kassierer bedarf keiner einjährigen Einarbeitungs- und Erprobungsdauer. Die Dauer der Befristung steht daher in einem unangemessenen Verhältnis zu der in Aussicht genommenen Tätigkeit. Die Befristung ist daher nicht durch den Sachgrund der Erprobung nach § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 TzBfG gerechtfertigt. Die Befristung des Arbeitsverhältnisses ist somit auch nicht nach § 14 Abs. 1 TzBfG wirksam. 4. Ergebnis Da weder die sachgrundlose Befristung des Arbeitsverhältnisses gemäß § 14 Abs. 2 TzBfG zulässig, noch ein Sachgrund für die Befristung des Arbeitsverhältnisses im Sinne des § 14 Abs. 1 TzBfG gegeben war, ist die Befristungsvereinbarung vom 7.1.2020 unwirksam. Das Arbeitsverhältnis vom 7.1.2020 gilt daher nach § 16 S. 1 TzBfG als auf unbestimmte Zeit begründet.

III. Gesamtergebnis Weder der Arbeitsvertrag vom 16.12.2019 noch der schriftliche Arbeitsvertrag vom 7.1.2020 wurde wirksam befristet. Will C gerichtlich geltend machen, dass die Befristung des Arbeitsvertrags rechtsunwirksam ist, so muss er nach § 17 S. 1 TzBfG innerhalb von drei Wochen nach dem vereinbarten Ende des befristeten Arbeitsvertrags Klage beim Arbeitsgericht auf Feststellung erheben, dass das Arbeitsverhältnis nicht aufgrund Befristung beendet wurde. Streitgegenstand der Klage wäre dann nach den bereits dargestellten Rechtsprechungsgrundsätzen ausschließlich die Befristung des zwischen dem C und der X abgeschlossenen letzten Arbeitsvertrags vom 7.1.2020, während der vorhergehende mündliche Arbeitsvertrag nicht der Befristungskontrolle unterläge. K Zur Vertiefung: Zur Befristung von Arbeitsverträgen s. Junker Grundkurs Arbeitsrecht Rn. 432–438; Preis/Temming Individualarbeitsrecht Rn. 3220–3331.

27 BAG 25.10.2017 NZA-RR 2018, 180 Rn. 12.

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Anhang Prüfungsschemata und Übersichten

K Vorbemerkung: Wer diese Schemata und Übersichten durchblättert, wird schnell sehen, dass sie viel zu umfangreich sind, um auswendig gelernt zu werden. Das soll aber auch gar nicht geschehen. In Prüfung und Praxis ist ein gelerntes Schema weder notwendig noch ansatzweise hinreichend für ein gelungenes Ergebnis. Die Übersichten sollen beim Lernen einen Eindruck davon vermitteln, an welcher Stelle ein im Sachverhalt angesprochenes Problem relevant wird und was die Vorfragen und die davon abhängigen Fragen sind.

I. Prüfungsschema Arbeitsvertrag (§ 611a BGB) I. Privatrechtlicher Vertrag – Abgrenzung zu anderen Rechtsverhältnissen Öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse (Beamte, Richter, Soldaten) Sonderstatusverhältnisse (z.B. Strafgefangene) Familienrechtliche Dienstpflichten (§§ 1360, 1619 BGB) Vereinsrechtliche, kirchliche oder karitative Dienstpflichten II. Privatrechtlicher Vertrag – Abgrenzung zu anderen Vertragstypen 1. Auftrag (§§ 662 ff. BGB) 2. Gesellschaftsverträge 3. Werkvertrag (§§ 631 ff. BGB) 4. Arbeitnehmerähnliche Person (§ 12a TVG) 5. Unabhängiger Dienstvertrag (§ 611 BGB) 6. Arbeitnehmerüberlassung (§ 1 Abs. 1 AÜG) III. Weisungsgebundene, fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit 1. Weisungsbindung a) Zeitliche Lage: Wer nicht im Wesentlichen frei seine Arbeitszeit bestimmen kann, ist Arbeitnehmer. b) Durchführung der Arbeit: Wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit bestimmen kann, ist Arbeitnehmer. c) Inhalt: Arbeitsbegleitende Weisungen bezogen auf einzelne Tätigkeit sind entscheidend. d) Ort: Wer für einen Auftraggeber an verschiedenen Orten arbeiten muss, die er nicht selbst bestimmen kann, ist Arbeitnehmer. e) Ordnung und Verhalten im Betrieb (§ 106 GewO) 299

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Anhang „Prüfungsschemata und Übersichten“

2. Fremdbestimmte Arbeit: Eingliederung in fremde Arbeitsorganisation; Angewiesenheit auf Organisation des Arbeitgebers 3. Grad der persönlichen Abhängigkeit: Eigenart des jeweiligen Vertragsverhältnis beachten 4. Gesamtbetrachtung erforderlich – Kriterien der persönlichen Abhängigkeit müssen überwiegen/das Vertragsverhältnis prägen. – Bezeichnung des Vertragstyps ist unerheblich. – Tatsächliche Durchführung ist entscheidend.

II. Übersicht: Rangfolge arbeitsrechtlicher Rechtsquellen I. Zwingendes Gesetzesrecht 1. Supranationales Recht (z.B.: EUV/AEUV) 2. Verfassungsrecht 3. Einfaches Gesetz 4. Rechtsverordnung II. Zwingende Kollektivvereinbarungen 1. Tarifvertrag 2. Betriebsvereinbarung III. (Arbeits-)Vertragliche Regelungen 1. Arbeitsvertrag 2. Einheitsregelung 3. Gesamtzusage 4. Betriebsübung 5. Direktionsrecht IV. Abdingbare Kollektivvereinbarung 1. Tarifvertrag 2. Betriebsvereinbarung V. Abdingbares Gesetzesrecht

III. Übersicht: Gleichbehandlungsgebote und Diskriminierungsverbote I. Gleichbehandlung nach europäischem Recht 1. Primärrechtliche Diskriminierungsverbote (z.B. Art. 45 AEUV) 2. Art. 157 AEUV: Entgeltgleichheit für Frauen und Männer 300

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„Prüfungsschemata und Übersichten“ Anhang

3. Richtlinien zur Gleichbehandlung von Frauen und Männern 4. Richtlinien zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung II. Gleichbehandlung nach dem Grundgesetz 1. Art. 33 Abs. 2 GG: Gleichbehandlung beim Zugang zu öffentlichen Ämtern 2. Art. 3 Abs. 3 GG: Spezielles Benachteiligungsverbot 3. Art. 3 Abs. 2 GG: Geschlechtergleichbehandlungsgebot 4. Art. 3 Abs. 1 GG: Willkürverbot III. (Wichtige) einfachgesetzliche Gleichbehandlungsgebote 1. AGG: Diskriminierungsverbot wegen Rasse, ethnischer Herkunft, Religion, politischer Weltanschauung, sexueller Identität, Geschlecht, Alter, Behinderung 2. Diskriminierungsverbot Teilzeitbeschäftigter § 4 Abs. 1 TzBfG 3. Diskriminierungsverbot befristet Beschäftigter § 4 Abs. 2 TzBfG 4. Diskriminierungsverbot schwerbehinderter Beschäftigter § 164 Abs. 2 SGB IX i.V.m. AGG 5. Gleichbehandlung im Betrieb §§ 75 Abs. 1, 78 BetrVG, § 67 Abs. 1 S. 1 BPersVG 6. Allgemeines Maßregelungsverbot § 612a BGB IV. Allgemeiner arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz

IV. Prüfungsschema: Anspruch aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz I. Vorliegen einer Ungleichbehandlung 1. Bestehendes Arbeitsverhältnis 2. kollektive Maßnahme des Arbeitgebers 3. schlechtere Behandlung als andere, vergleichbare Arbeitnehmer. II. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung Die Ungleichbehandlung darf nicht auf sachfremden oder willkürlichen Kriterien beruhen.

V. Prüfungsschema/Übersicht zum AGG: I. Anwendungsbereich 1. Sachlich (§ 2 bzw. § 19 AGG) 2. Persönlich (§ 6 AGG) 3. Zeitlich (§ 33 AGG) 301

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Anhang „Prüfungsschemata und Übersichten“

II. Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot (§ 7 AGG) 1. Benachteiligungsgrund (§ 1 AGG) 2. Art der Benachteiligung (§ 3 AGG) a) Unmittelbar (Abs. 1) b) Mittelbar (Abs. 2) c) Belästigung oder sexuelle Belästigung (Abs. 3 und 4) d) Anweisung zur Benachteiligung (Abs. 5) 3. Kausalität der Benachteiligung (§ 7 AGG: „wegen“) III. Rechtfertigung der Benachteiligung (§§ 8–10 AGG) 1. In den Fällen nach II 2 c nicht möglich 2. In den Fällen nach II 2 a, b und d gemäß §§ 8–10 bzw. 20, § 5 AGG 3. In Fall II 2 b ist die Rechtfertigung schon im Tatbestand zu prüfen (vgl. § 3 Abs. 2 AGG) IV. Rechtsmissbrauchseinwand, § 242 BGB V. Rechtsfolgen 1. Rechtsunwirksamkeit benachteiligender Rechtsgeschäfte (str. bei Kündigungen) und Kollektivverträge (§ 7 Abs. 1 AGG i.V.m § 134 BGB/§ 7 Abs. 2 AGG) 2. Schadensersatz bei zu vertretender unzulässiger Benachteiligung insbesondere für materielle Schäden (§ 15 Abs. 1 AGG) 3. Entschädigung in Geld bei unzulässiger Benachteiligung für immaterielle Schäden, § 15 Abs. 2 und 3 AGG 4. Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche des unzulässig benachteiligten Beschäftigten, §§ 1004, 823 Abs. 1 BGB 5. Gleiches Entgelt für gleiche oder gleichwertige Arbeit (Rechtsgedanke aus § 8 Abs. 2 AGG) 6. Gleiche Behandlung unzulässig Benachteiligter mit den Bevorzugten 7. Beschwerderecht bei „gefühlter“ Benachteiligung, § 13 Abs. 1 S. 1 AGG 8. Leistungsverweigerungsrecht, § 14 S. 1 AGG VI. Fristen zur Geltendmachung 1. Ausschlussfrist nach § 15 Abs. 4 AGG und § 21 Abs. 5 AGG 2. Klagefrist nach § 61b ArbGG

VI. Übersicht: Ansprüche und Rechte aus dem Anbahnungsverhältnis I. Schuldrechtliche Ansprüche 1. Ersatz von Vorstellungskosten, §§ 662, 670 BGB

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„Prüfungsschemata und Übersichten“ Anhang

2. Verletzung vorvertraglicher Pflichten, §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 BGB 3. Verstoß gegen Diskriminierungsverbote, z.B. § 15 AGG II. Deliktische Ansprüche 1. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 9 Abs. 3 GG 2. § 823 Abs. 1 BGB (Persönlichkeitsrechtsverletzung) a) Stellen unzulässiger Fragen b) Untersuchungen und Tests ohne Einwilligung des Bewerbers c) Verstoß gegen Diskriminierungsverbote 3. § 826 BGB Verstoß gegen Diskriminierungsverbote III. Recht zur Anfechtung 1. Falschbeantwortung zulässiger Fragen 2. Verschweigen offenbarungspflichtiger Tatsachen

VII. Übersicht/Prüfungsschema: Anfechtung des Arbeitsvertrags: I. Nichtigkeitsgrund Anfechtung: § 142 BGB 1. Irrtumsanfechtung, § 119 BGB a) Anfechtungserklärung (§ 143 BGB) b) Irrtum bei Abgabe der Willenserklärung, insbesondere: § 119 Abs. 2 BGB c) Kausalität d) Anfechtungsfrist (analog § 626 Abs. 2 BGB) 2. Täuschungsanfechtung, § 123 Abs. 1 Fall 1 BGB a) Anfechtungserklärung (§ 143 BGB) b) Rechtswidrige Täuschung, insbesondere: falsche Beantwortung einer zulässigen Frage oder unterlassene Offenbarung einer offenbarungspflichtigen Tatsache c) Arglist, mindestens bedingter Vorsatz d) Kausalität e) Anfechtungsfrist (§ 124 Abs. 1 BGB) 3. Keine Verwirkung (§ 242 BGB) 4. Anhörung des Betriebsrats nicht erforderlich 5. Kündigungsschutz greift nicht

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Anhang „Prüfungsschemata und Übersichten“

II. Rechtsfolgen der Anfechtung 1. Im noch nicht vollzogenen und außer Vollzug gesetzten Arbeitsverhältnis: gemäß § 142 BGB ex-tunc-Wirkung 2. Im bereits vollzogenen Arbeitsverhältnis: entgegen § 142 BGB ex-nunc-Wirkung

VIII. Übersicht: Schranken der Inhaltsfreiheit 1. Verbotsgesetze a) Einseitig und zweiseitig zwingendes Gesetzesrecht b) Tarifdispositives Gesetzesrecht c) Vorrang des Kollektivvertrags (Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen) 2. Verbot der Gesetzesumgehung 3. Verbot der Sittenwidrigkeit 4. Inhaltskontrolle 5. Billigkeitskontrolle

IX. Prüfungsschema zur arbeitsrechtlichen AGB-Kontrolle: I. Anwendung der §§ 305 ff. BGB im Arbeitsrecht, § 310 Abs. 4 BGB II. Vorliegen kontrollfähiger Vertragsbedingungen, § 305 Abs. 1 BGB 1. Für eine Vielzahl von Verträgen vorformuliert (beachte: § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB) 2. Vom Verwender gestellt (beachte: § 310 Abs. 3 Nr. 1 BGB) 3. Nicht im Einzelnen ausgehandelt III. Einbeziehungskontrolle, § 310 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 BG 1. Vorrang der Individualabrede, § 305b BGB 2. Überraschende Klauseln, § 305c Abs. 1 BGB IV. Auslegung 1. Objektiv-typisierender Maßstab 2. Bei mehrdeutigen Klauseln: Unklarheitenregel, § 305c Abs. 2 BGB V. Inhaltskontrolle 1. Schranken, §§ 307 Abs. 3 S. 1 i.V.m. S. 2 BGB 2. Unangemessene Benachteiligung a) Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit, § 309 BGB b) Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit, § 308 BGB 304

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„Prüfungsschemata und Übersichten“ Anhang

c) Grundtatbestand, §§ 307 Abs. 1, 2 BGB (beachte: § 310 Abs. 3 Nr. 3 BGB) aa) Regelbeispiele, §§ 307 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Abs. 2 Nrn. 1 und 2 BGB bb) Generalklausel, § 307 Abs. 1 S. 1 BGB cc) Transparenzgebot, §§ 307 Abs. 1 S. 1 i.V.m. S. 2 BGB VI. Rechtsfolgen 1. Unwirksamkeit des unangemessenen Klauselinhalts, § 307 Abs. 1 S. 1 BGB 2. Fortgeltung des übrigen Arbeitsvertrages, § 306 Abs. 1 BGB 3. Lückenfüllung, § 306 Abs. 2 BGB (Verbot der geltungserhaltenden Reduktion) a) Grundsatz: durch dispositives Sachrecht b) Ausnahme: durch ergänzende Vertragsauslegung, §§ 133, 157 BGB

X. Prüfungsschema/Übersicht: Anspruch auf Entgelt I. Anspruchsgrundlage § 611 BGB i.V.m. Spezialnorm 1. Tarifvertrag: Anwendung aufgrund a) beiderseitiger Tarifgebundenheit, §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 S. 1 TVG b) Allgemeinverbindlichkeitserklärung, § 5 TVG; Rechtverordnung nach § 7 AEntG c) einzelvertraglicher Vereinbarung, den TV anzuwenden (Bezugnahmeklausel, Gleichstellungsabrede) d) des Gleichbehandlungsgrundsatzes bei Anwendung des TV auf einen Teil der nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer e) betrieblicher Übung (konkludente Vertragsänderung) 2. Betriebsvereinbarung Wegen des Tarifvorrangs (§§ 77 Abs. 3, 87 Abs. 1 BetrVG) kaum praktische Bedeutung. Nur für AT-Angestellte und Sonderleistungen wie Gratifikationen und betriebliche Altersversorgung. 3. Arbeitsvertrag a) Individuelle Entgeltregelung b) Gleichbehandlungsgrundsatz aa) Diskriminierungsverbote nach dem AGG bb) allgemein: bei Differenzierung zwischen vergleichbaren Arbeitnehmern ohne sachlichen Grund c) Betriebliche Übung; konkludente Vertragsabrede 4. Gesetz a) § 612 Abs. 2 BGB („übliche Vergütung“) 305

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Anhang „Prüfungsschemata und Übersichten“

aa) bei fehlender Lohnabrede bb) bei unwirksamer Lohnabrede wegen § 138 Abs. 2 BGB („Lohnwucher“) oder aus anderen Gründen b) § 17 Abs. 1 BBiG (Auszubildende) c) Festsetzung gemäß § 19 HAG d) Mindestlohngesetz II. Fälligkeit (§ 614 BGB; § 64 HGB) III. Kein Verzicht, keine Verwirkung (§ 242 BGB) IV. Kein Ablauf einer tariflichen oder vertraglichen Ausschlussfrist (beachte § 4 Abs. 4 TVG, § 77 Abs. 4 S. 3 BetrVG) V. Keine Verjährung (drei Jahre, § 195 i.V.m. § 199 Abs. 1 BGB)

XI. Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nach § 1 Abs. 1, Abs. 2 MiLoG I. Anspruch entstanden 1. Anwendungsbereich des MiLoG a) Persönlicher Anwendungsbereich b) Zeitlicher Anwendungsbereich c) Räumlicher Anwendungsbereich 2. Fälligkeit des Anspruchs II. Anspruch erloschen durch Erfüllung Problem: Erfüllung durch Anrechnung von sonstigen Lohnbestandteilen III. Anspruch durchsetzbar IV. Rechtsfolge

XII. Prüfungsschema/Übersicht: Anspruch aus § 611a BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag auf Lohnzahlung bei Nichtleistung I. Entstehen des Anspruchs 1. Abschluss eines Arbeitsvertrags 2. Keine Beendigung des Arbeitsverhältnisses (insbesondere durch Kündigung) II. Erlöschen des Anspruchs nach § 326 Abs. 1 BGB 1. Unmöglichkeit der Arbeitsleistung, § 275 BGB 2. Vertretenmüssen des Arbeitnehmers oder Vertretenmüssen AG noch AN 3. Keine gesetzliche Sonderregelung 306

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„Prüfungsschemata und Übersichten“ Anhang

III. Aufrechterhaltung des Anspruchs nach § 326 Abs. 2 S. 1 BGB 1. Unmöglichkeit der Arbeitsleistung, § 275 BGB 2. Vertretenmüssen des Arbeitgebers oder gesetzliche Sonderregelung IV. Aufrechterhaltung des Anspruchs bei Annahmeverzug nach § 615 S. 1 BGB 1. Erfüllbares Arbeitsverhältnis 2. Annahmeverzug des Arbeitgebers, §§ 293 ff. BGB a) Angebot der Arbeitsleistung durch den Arbeitnehmer aa) tatsächliches Angebot, § 294 BGB (im ungekündigten Arbeitsverhältnis) bb) wörtliches Angebot, § 295 BGB (z.B. Kündigungsschutzklage) cc) Entbehrlichkeit des Angebots, § 296 BGB b) Kein Unvermögen des Arbeitnehmers, § 297 BGB c) Nichtannahme der Arbeitsleistung, § 293 BGB 3. Ggf. Ende des Annahmeverzugs 4. Kausalität des Annahmeverzugs für die Nichtleistung V. Aufrechterhaltung des Anspruchs wegen § 616 1. Persönliches Arbeitshindernis 2. Kausalität zwischen Hindernis und Nichtleistung der Arbeit 3. Kein Verschulden des Dienstverpflichteten 4. Verhinderungsdauer: Verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit VI. Aufrechterhaltung des Anspruchs nach § 3 Abs. 1 EFZG 1. Anspruchsvoraussetzungen a) Bestehen eines Arbeitsvertrags b) Erfüllung der Wartezeit nach § 3 Abs. 3 EFZG c) Krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit d) Monokausalität krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit – Nichtleistung der Arbeit 2. Anspruchshindernisse a) Verschulden des Arbeitnehmers b) Leistungsverweigerungsrechte des Arbeitgebers 3. Rechtsfolge a) Dauer der Entgeltfortzahlung b) Höhe der Entgeltfortzahlung

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Anhang „Prüfungsschemata und Übersichten“

XIII. Prüfungsschema: Haftung des Arbeitnehmers wegen Verletzung von Rechtsgütern des Arbeitgebers I. Begründung der Haftung: Schadensersatzanspruch nach den allgemeinen Regeln § 280 Abs. 1 BGB (Pflichtverletzung, Vertretenmüssen, Schaden, Kausalität) § 823 Abs. 1 BGB (Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld) II. Beschränkung der Haftung 1. Bei „echtem“ Mitverschulden des Arbeitgebers gemäß § 254 BGB 2. Bei Zurechnung der Betriebsgefahr analog § 254 BGB oder aus § 276 BGB: a) Voraussetzung: Schadensverursachung durch AN bei betrieblicher Tätigkeit. b) Umfang der Haftung – bei Vorsatz: volle Haftung – bei grober Fahrlässigkeit: i.d.R. volle Haftung – bei mittlerer Fahrlässigkeit: quotale Verteilung – bei leichter Fahrlässigkeit: keine Haftung

XIV. Prüfungsschema: Haftung des Arbeitnehmers wegen Verletzung von Rechtsgütern Dritter (betriebsfremder Personen und Arbeitskollegen) I. Begründung der Haftung: Schadensersatzanspruch nach den allgemeinen Regeln II. Ausschluss der Haftung: gem. § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII für Personenschäden unter Arbeitskollegen III. Beschränkung der Haftung Bei „echtem“ Mitverschulden des geschädigten Dritten gemäß § 254 BGB Zurechnung der Betriebsgefahr zum Arbeitgeber analog § 254 BGB oder aus § 276 BGB wirkt nicht gegenüber Dritten IV. Freistellungsanspruch des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber V. Hypothetische Prüfung: Käme dem Arbeitnehmer eine Haftungserleichterung zugute, wenn nicht der Dritte, sondern der Arbeitgeber Inhaber des geschädigten Rechtsguts wäre? 1. Voraussetzung: Schaden ist durch den Arbeitnehmer bei betrieblicher Tätigkeit verursacht worden. 2. Umfang des Freistellungsanspruchs – bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit: kein Freistellungsanspruch – bei mittlerer Fahrlässigkeit: quotale Verteilung – bei leichter Fahrlässigkeit: Freistellungsanspruch in voller Schadenshöhe 308

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XV. Prüfungsschema: Wirksamkeit der Kündigungserklärung 1. Bestimmtheit der Kündigungserklärung §§ 133, 157 BGB anwendbar, kein Begründungserfordernis 2. Form a) Konstitutives Schriftformerfordernis (§ 623 BGB) b) Ggf. strengere konstitutive Formerfordernisse in Tarifverträgen, Betriebsvereinbarungen oder Arbeitsverträgen 3. Kündigungsberechtigter a) Vertragspartner b) Vertretungsberechtigte Organe bei juristischen Personen c) Wirksame Bevollmächtigung (§§ 164, 167, 174 BGB) d) Gesetzliche Vertretung (§§ 107–109, 111–113 BGB) 4. Zugang der Kündigungserklärung a) Gegenüber Anwesenden b) Gegenüber Abwesenden c) Nachweis des Zugangs; Zugangsvereitelung

XVI. Prüfungsschema einer Kündigungsschutzklage I. Zulässigkeit der Kündigungsschutzklage des Arbeitnehmers 1. Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG) 2. Örtliche und Sachliche Zuständigkeit [örtl.: § 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. §§ 12 ff. ZPO (i.d.R. § 48 Abs. 1a ArbGG); sachl.: § 8 Abs. 1 ArbGG] 3. Partei-, Prozess-, Postulationsfähigkeit 4. Klageart: Kündigungsschutzklage oder allgemeine Feststellungsklage? a) Kündigungsschutzklage (§ 4 S. 1 KSchG) gegen schriftliche Arbeitgeberkündigung – unabhängig von der Erfüllung der Wartezeit (§ 1 Abs. 1 KSchG) und – unabhängig von der Betriebsgröße (§ 23 Abs. 1 S. 1 KSchG) b) Allgemeine Feststellungsklage (§ 256 Abs. 1 ZPO) im Übrigen – Formverstoß (§ 623 BGB) – Problem: Fehlende Kündigungsberechtigung 5. Feststellungsinteresse 6. Ordnungsgemäße Klageerhebung: Form, § 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 253 ZPO

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Anhang „Prüfungsschemata und Übersichten“

II. Begründetheit der Kündigungsschutzklage gegen ordentliche Kündigung 1. Wirksamkeit der Kündigungserklärung (siehe Schema XV) 2. Einhaltung der Kündigungsfristen 3. Materielle Präklusionsfrist (Klagefrist) (§§ 4, 5, 7 KSchG) a) Anwendbarkeit der §§ 4 bis 7 KSchG: § 23 Abs. 1 S. 1 KSchG, ausnahmsweise (–) bei – Geltendmachung von Formverstoß (§ 623 BGB) – alleiniger Rüge einer falsch berechneten Kündigungsfrist (str.) oder – fehlender Kündigungsberechtigung (str.) b) Grundsatz:§ 4 S. 1 KSchG: 3 Wochen ab Zugang der Kündigung c) Ausnahmen – § 4 S. 4 KSchG: 3 Wochen ab Bekanntgabe der erforderlichen behördlichen Zustimmung, wenn bei Zugang der Kündigung noch nicht erfolgt § 168 SGB IX, § 9 Abs. 3 MuSchG, § 18 Abs. 1 S. 2 BEEG) – § 5 KSchG: Nachträgliche Klagezulassung bei unverschuldeter Fristversäumnis d) Rechtsfolge der Versäumnis e) Umfassende Wirksamkeitsfiktion (§ 7 KSchG) 4. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe und besondere Kündigungsverbote (Schema XVII) 5. Besondere Unwirksamkeitsgründe, insb: KSchG (Übersicht XVIII)

XVII. Prüfungsschema: Allgemeine Unwirksamkeitsgründe und besondere Kündigungsverbote (Einordnung in Schema XVI) I. Allgemeine gesetzliche Unwirksamkeitsgründe 1. Verbot der sittenwidrigen Kündigung, § 138 BGB 2. Maßregelungsverbot, § 612a BGB 3. Verbot der treuwidrigen Kündigung, § 242 BGB 4. Zurückweisung der Kündigungserklärung, § 174 S. 1 BGB II. Gesetzliche Kündigungs- und Benachteiligungsverbote 1. Personenbezogen a) diskriminierende Kündigungen, §§ 7, 1 AGG b) schwerbehinderte Menschen, § 164 Abs. 2 SGB IX c) Teilzeitbeschäftigte, § 4 Abs. 1 TzBfG d) Abgeordnete (ordentliche Kündigung), § 2 Abs. 3 AbgG

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e) Auszubildende (ordentliche Kündigung), § 22 Abs. 2 BBiG f) Ehrenamtliche Richter: § 26 ArbGG, § 20 SGG g) Arbeitnehmer-Vertreter im Aufsichtsrat: § 78 BetrVG, § 9 S. 2 DrittelbG, § 26 S. 2 MitbestG h) Mitglieder des Sprecherausschusses: § 2 Abs. 3 SprAuG i) Immissionsschutz-, Störfall-, Sicherheits- und Datenschutzbeauftragte: §§ 58, 58d BImSchG, § 22 Abs. 3 SGB VII, § 4f Abs. 3 S. 3 BDSG 2. Umstandsbezogen a) Betriebsübergang, § 613a Abs. 4 BGB (Rn. 2614) b) Anzeige von Arbeitssicherheitsmängeln: § 17 Abs. 2 S. 2 ArbSchG c) Beschwerde/Leistungsverweigerung wegen sexueller Belästigung: §§ 13, 14 AGG d) bevorstehende Betriebsratswahl, § 20 BetrVG e) Ausscheiden des Jobsharing-Partners, § 13 Abs. 2 TzBfG f) Inanspruchnahme von Altersteilzeit oder Bezug einer Altersrente, § 8 Abs. 1 AltTZG, § 41 S. 1 SGB VI (jeweils im Rahmen der Prüfung des KSchG) III. Präventive gesetzliche Kündigungsbeschränkungen 1. Zustimmungserfordernisse a) Betriebsverfassungsrechtliche Funktionsträger, § 15 KSchG i.V.m. § 103 BetrVG, § 179 Abs. 3 SGB IX, § 29a HAG (Rn. 2627) b) schwerbehinderte Menschen, § 168 bzw. §§ 174 Abs. 1 i.V.m. 168 SGB IX c) Schwangere; Elternzeit, Pflegezeit, § 9 MuSchG, § 18 BEEG, § 5 PflegeZG 2. Anhörungserfordernisse a) Alle Kündigungen: § 102 Abs. 1 BetrVG, §§ 79, 108 Abs. 2 BPersVG, LPVG b) § 178 Abs. 2 S. 3 SGB I G Wirksamkeitserfordernis) c) Anzeigeerfordernis bei Massenentlassungen, § 17 KSchG IV. Grundrechtliche Kündigungsschranken 1. Art. 9 Abs. 3 GG 2. Weitere Freiheitsrechte 3. Gleichbehandlungsgrundsatz V. Kollektiv- und individualvertragliche Kündigungsverbote VI. Anfechtung der Kündigungserklärung, §§ 119, 123 BGB

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Anhang „Prüfungsschemata und Übersichten“

XVIII. Übersicht: Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung nach dem KSchG (Einordnung in Schema XVI) I. Geltungsbereich des KSchG 1. Arbeitnehmer 2. Sechsmonatige ununterbrochene Beschäftigung 3. Betriebsgröße II. Einhaltung der Klagefrist von drei Wochen (§§ 4, 5, 7 KSchG) III. Vorliegen eines Kündigungsgrundes (Konkretisierung in den Schemata 19, 20, 21 – die nachfolgenden Aspekte sind die übergeordneten Strukturen) 1. Abgrenzung der Kündigungsgründe a) Betriebsbedingte Kündigung b) Verhaltensbedingte Kündigung c) Personenbedingte Kündigung 2. Beurteilungszeitpunkt; Prognoseprinzip 3. Ultima-Ratio-Prinzip (Erforderlichkeit der Kündigung) a) Keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auf anderem freien Arbeitsplatz (§ 1 Abs. 2 S. 2 KSchG) b) Ggf. Weiterbeschäftigung nach Änderung der Arbeitsbedingungen (Vorrang der Änderungskündigung, § 1 Abs. 2 S. 3 KSchG) c) Ggf. Weiterbeschäftigung nach zumutbaren Umschulungs- oder Fortbildungsmaßn. (§ 1 Abs. 2 S. 3 KSchG) d) Fehlen sonstiger milderer Mittel 4. Interessenabwägung

XIX. Prüfungsschema: Betriebsbedingte Kündigung (Konkretisierung von Übersicht XVIII) I. Abgrenzung zur personen- und verhaltensbedingten Kündigung II. Vorliegen dringender betrieblicher Erfordernisse (§ 1 Abs. 2 S. 1 KSchG): Kündigungsbegründende Unternehmerentscheidung: 1. Außer- oder innerbetriebliche Ursachen der Unternehmerentscheidung? 2. Gestaltende oder selbstbindende Unternehmerentscheidung? 3. Kausaler dauerhafter Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten mit Ablauf der Kündigungsfrist (Prognoseprinzip)

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„Prüfungsschemata und Übersichten“ Anhang

III. Fehlen milderer Mittel (Ultima-Ratio-Prinzip) 1. Fehlende Weiterbeschäftigungsmöglichkeit (§ 1 Abs. 2 S. 2 und 3 KSchG) 2. Fehlen sonstiger milderer Mittel IV. Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses V. Sozialauswahl (§ 1 Abs. 3 und 4 KSchG) 1. Bestimmung des auswahlrelevanten Personenkreises (1. Stufe) 2. Ausreichende Berücksichtigung der sozialen Gesichtspunkte (2. Stufe) 3. Ausnahmen von der Sozialauswahl im berechtigten betrieblichen Interesse (3. Stufe) 4. Auswahlrichtlinien (§ 1 Abs. 4 KSchG) VI. Betriebsbedingte Kündigungen bei Betriebsänderungen (§ 1 Abs. 5 KSchG)

XX. Prüfungsschema: Personenbedingte Kündigung (Konkretisierung von Übersicht XVIII) 1. Abgrenzung insbesondere zur verhaltensbedingten Kündigung 2. Erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher oder vertraglicher Interessen 3. Negativprognose 4. Ultima-Ratio-Prinzip (Fehlen milderer Mittel) 5. Interessenabwägung

XXI. Prüfungsschema: Verhaltensbedingte Kündigung (Konkretisierung von Übersicht XVIII) 1. Schuldhafte Vertragspflichtverletzung a) Hauptpflichtverletzung b) Nebenpflichtverletzung 2. Ausreichende Negativprognose 3. Abmahnung a) Prinzipiell vorrangiges milderes Mittel b) Ausnahmsweise: Entbehrlichkeit 4. Sonstige vorrangige mildere Mittel (Ultima-Ratio-Prinzip) 5. Interessenabwägung

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Anhang „Prüfungsschemata und Übersichten“

XXII. Übersicht: Außerordentliche Kündigung des Arbeitgebers 1. Wirksame Kündigungserklärung 2. Einhaltung der Klagefrist (§ 13 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 4 KSchG) 3. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe und besondere Kündigungsverbote 4. Vorliegen eines wichtigen Grundes a) Einhaltung der Ausschlussfrist (§ 626 Abs. 2 BGB) b) „Wichtiger Grund“ (§ 626 Abs. 1 BGB) aa) „An sich“ geeigneter Kündigungsgrund? bb) Negativprognose cc) Vorrangige mildere Mittel (Ultima-Ratio-Prinzip) dd) Interessenabwägung – sofortige Unzumutbarkeit? 5. Notwendigkeit der Einhaltung einer sozialen Auslauffrist

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