Antigones Schwestern: Über die Matrix der Liebe 9783495994092, 9783495994085


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Table of contents :
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Einleitung
Über den Überfluss an Liebe
Erster Teil: Kosmologie und Theologie der Liebe
Antigone / Savitri
Der Antigone entgegen
Savitri
(Alkestis)
Metis / Schöne Vida
(Requiem für Lampedusa)
Introitus
Kyrie eleison
Dies irae et offertorium
Lacrimosa
Sanctus
Libera me
In paradisum
(Favour)
Die Unbekannte von Bethlehem / Maria
In utero
Anwesenheit des Dritten
Einer neuen matrixialen Theologie der Inkorporation entgegen
(Sophia)
Zweiter Teil: Philosophie und Ontologie der Liebe
Clara / Matrix
Annäherung an Schellings Clara
Schelling mit Böhme: das kosmologisch-ontologische Rätsel der Liebe
Rückkehr zu Clara
(Schwester Angelika)
Sein / Schwester
Auf dem Weg zur Ontologie der Liebe: Ludwig Binswanger
Über die Formen der reinen Liebe: Eltern und Kinder
Liebe als Schwester des Seins: über die Möglichkeit, über Heidegger hinauszudenken
Jenseits des Randes: Sein als Ebene der Liebe
(Orin)
Irigaray / Hauch
Vor der Geburt des Atems: auf der Suche nach neuer Liebe zu sich selbst
Wunde der Welt: Freiheit und Liebe des Atems
Überwindung unserer Endlichkeit: Teilen des göttlichen femininen Hauches unter den Menschen
(Chóra)
Abschließendes Kapitel
Antigone / Jesus
Hegels unglückliches Verständnis von Antigones Ethik
Von Hölderlins Antigone zur ethischen Konspiration von Jesus und Antigone
Literaturverzeichnis
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Antigones Schwestern: Über die Matrix der Liebe
 9783495994092, 9783495994085

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Lenart Škof

Antigones Schwestern Über die Matrix der Liebe

https://doi.org/10.5771/9783495994092 .

https://doi.org/10.5771/9783495994092 .

Alber Philosophie

https://doi.org/10.5771/9783495994092 .

Lenart Škof

Antigones Schwestern Über die Matrix der Liebe

Aus dem Slowenischen von Primož Debenjak

https://doi.org/10.5771/9783495994092 .

Onlineversion Nomos eLibrary

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99408-5 (Print) ISBN 978-3-495-99409-2 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495994092 .

Danksagungen

Ich möchte mich zuerst bei Professor Tine Hribar bedanken, der mich mit Vertrauen in meine Arbeit zur Veröffentlichung dieses Buchs im Rahmen der philosophischen Reihe des Verlags Slovenska matica eingeladen hat (das Werk ist in Ljubljana 2018 erschienen). Ich möchte auch dem Redakteur der Buchreihe SUNY Series in Theology and Continental Thought Doug Donkel danken, der mein Buch in seine Reihe aufgenommen und ihm damit eine erweiterte Ausgabe beim Verlag SUNY Press (2021) ermöglicht hat. Das vorliegende Buch wurde auch in russischer (Nestor-Istoria, Moskau und Sankt Petersburg, 2021) und bengalischer Sprache (Abhijan Publishers, Kolkata, 2023) herausgegeben. Ich war in der Entstehungszeit dieses Werks in Kontakt mit zahleichen Philosophen, Theologen und vielen anderen, die jeder auf seine Weise dazu beigetragen haben, dass das Werk seine jetzige Form bekam. Unter ihnen darf ich Luce Irigaray und Bracha Ettinger erwäh­ nen, ohne die dieses Buch sicherlich nicht so wäre, wie es geworden ist. Zugleich möchte ich auch meine philosophischen Begegnungen und Zusammenarbeiten mit zahlreichen Freundinnen und Freunden bei Konferenzen und sonstigen akademischen Begegnungen erwähnen. Ich bin ihnen für Anregungen, Verständnis für meine Ideen und freundschaftliche Unterstützung dankbar. Ich möchte auch der Slowenischen Forschungs- und Innovations­ agentur (ARIS) danken, die mit der Bewilligung der Mittel für die Finanzierung der Übersetzung die Veröffentlichung und Vorstellung dieses Werks ermöglicht hat. Außerdem möchte ich mich bei Barbara Bradaš Premrl bedanken für alle Bücher, mit denen sie mich versorgt hat, sowie Pier Francesco Corvino für seine Hilfe bei der technischen Bearbeitung des Manu­ skripts. Am Ende möchte ich meine Dankbarkeit Martin Hähnel und Lukas Trabert von Verlag Karl Alber / Nomos für ihre Unterstützung bei der Veröffentlichung dieses Buches zum Ausdruck bringen. Lenart Škof, Log pri Brezovici, im August 2023

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erster Teil: Kosmologie und Theologie der Liebe . . . .

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Antigone / Savitri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Metis / Schöne Vida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Die Unbekannte von Bethlehem / Maria . . . . . . . . .

71

Zweiter Teil: Philosophie und Ontologie der Liebe . . .

105

Clara / Matrix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107

Sein / Schwester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

Irigaray / Hauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

173

Abschließendes Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195

Antigone / Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Über den Überfluss an Liebe Dieses matrixiale Bewusstsein begleitet uns von Anbeginn des Lebens.1 Die Frauen, vor allem die Kinder erschwerten uns die Arbeit manchmal sehr, es versetzte einem jedes Mal einen Stich ins Herz. Die Männer beklagten sich unablässig, vor allem die älteren, die Familie hatten. Angesichts dieser wehrlosen Menschen, dieser Mütter, die zusehen mussten, wie ihre Kinder umgebracht wurden, ohne dass sie sie beschützen konnten, die nur mit ihnen sterben konnten, litten unsere Männer unter dem Gefühl extremer Ohnmacht, fühlten auch sie sich wehrlos. […] Ich selbst verlor den Boden unter den Füßen. Bei einer Exekution fiel mein Blick auf einen sterbenden kleinen Jungen in einem Graben: Der Schütze hatte wohl gezögert, jedenfalls hatte die Kugel ihn zu tief, in den Rücken, getroffen. Der Junge zuckte mit den Gliedern, die Augen offen, glasig […].2

Das Werk Antigones Schwestern: über die Matrix der Liebe ist eine Fortsetzung meines philosophischen Werks Ethik des Atems (Karl Alber 2017) und somit der zweite Teil der Trilogie über Ethik und eine neue Kosmologie, die mit einer mystisch-elementaren philo­ sophischen Theologie des Lebens zum Abschluss kommen soll. Während die Ethik des Atems ein Werk über die Genealogie des Raumes intersubjektiver Gesten und des Atems als einer der grund­ legenden Ausdrücke dessen ist, was ich in meinem Werk mit dem Begriff Mesokosmos thematisiert habe, sind Antigones Schwestern der Versuch einer Genealogie der Liebe, eine Überlegung über eine verpasste Gelegenheit der Theologie und Philosophie sowie über in sich gewaltsame mythologische, philosophische und theologische 1 Bracha L. Ettinger, The Matrixial Borderspace (Minneapolis/London: University of Minnesota Press, 2006), 69. 2 Jonathan Littel, Die Wohlgesinnten, übers. von Hainer Kober (Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag, 2011), 154 und 155.

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Einleitung

Modulationen, die viele Jahrhunderte lang im Vergessen von etwas, das zum Ursprünglichsten gehört, was wir haben, ausharrten – der Erinnerung an den Anfang, aus der Liebe und in der Liebe. Wenn heute der Philosophie noch eine Geste fehlt, so ist dies die Geste jener Konkretisierung ontologischen Denkens, das den Gedanken an ein Kind fassen kann. Wie – vielleicht wieder prophetisch (so wie ihr Speculum, Spiegel des anderen Geschlechts prophetisch war) – Luce Irigaray in ihrem Werk Geboren werden sagt, ist es eine Aufgabe der Philosophie, die Ankunft kindlicher Singularität in der Welt zu schüt­ zen, indem sie ihr eine ontologische Zugehörigkeit erteilt, und zwar so, dass sie dieser Singularität ihren/seinen Platz sicherstellt und gleichzeitig ihr/sein Selbsttranszendieren ermöglicht.3 Wir werden sehen, dass sich aus diesem Umfeld Liebe entwickeln kann, deshalb muss der Gedanke ans Kind die ursprüngliche Geste einer jeden Philosophie sein. Liebe erwächst aus der ursprünglichen Geste der Sehnsucht nach dem anderen, die im Ursprung zahlreicher Kosmolo­ gien zum Ausdruck kommt. Dieses Buch möchte ein Beitrag zur neuen philosophischen Theologie der Liebe sein. Ich habe lange nachgedacht und diesen Gedanken in mir getra­ gen – auf eine Weise, die mit einer matrixialen Geste verwandt sein könnte, deren Erinnern alle unsere Körper bewohnt. Manchmal genügte mir somit ein einziger Gedanke, den ich Tage und Wochen lang in meinem Inneren trug und nährte – manchmal in Form eines Gebets –, um ihm einen Raum vorzubereiten, einen vielleicht gast­ freundlichen, vielleicht immer noch beschränkenden, doch trotzdem voller Erwartung, dass in dieser Welt doch noch eine Hoffnung auf den Einzug einer ethischen Demut zu erkennen wäre. Dieser Gedanke ist viel zu oft unmöglich, in sich äußerst belastend, sogar destruktiv, denn er entblößt uns im ontologischen Kern unserer Person und unseres Wesens, und vielleicht hat mich in dem Sinne all die Jahre ebenjener Gedanke beeinflusst, von dem der oben zitierte Passus aus Littells Roman spricht, mit dem ich dieses Buch beginne und der auch seine zartfühligste und zugleich ethisch und theologisch gesehen die schwerste Botschaft trägt.4 3 S. Luce Irigaray, To Be Born: Genesis of a New Human Being (New York: Pal­ grave 2017). 4 Ein anderer Gedanke, der wegen der Würde der Opfer nicht in den Prolog dieses Buches aufgenommen werden kann, wird in dem Bericht über die Vergewaltigungen im Südsudan und im Kongo zu Beginn dieses Jahrtausends beschrieben. S. den

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Über den Überfluss an Liebe

In seinem Essay über die Imagination des Friedens weist uns der Theologe Clemens Sedmak auf das benachteiligte, ich werde es so bezeichnen – feminine (es ist aber sowohl für Frauen als auch für Män­ ner erreichbar) – Element in unseren Leben hin. Sedmak erzählt die Geschichte vom kleinen neugeborenen Mädchen Issa Grace, das mit einem schweren angeborenen genetischen Fehler (Trisomie 18) zur Welt kam, der es ihr unmöglich machte, jemals ein würdiges Leben ohne schlimmes Leiden zu leben. Die Ärzte sagten ihr höchstens einige Tage Leben voraus.5 Doch ihre Familie schaffte in ihrer Fürsorge für dieses winzige Mädchen das praktisch Unmögliche und verbrachte mit dem Kind neun Monate vom Juni 2013 bis März 2014. Auf dem Horizont der Einsicht in die äußerste Verwundbarkeit unserer Existenz hat sich, so Sedmak, in der Fürsorge für dieses Kind die Wahrheit über unsere eigene Verwundbarkeit gezeigt. Die Fürsorge, die viele, von der engsten Familie bis hin zum breiteren Freundeskreis, diesem Kind erwiesen, ist der Ausdruck von jenem Stärksten, was wir Menschen zur Verfügung haben: der geheimnisvolle Überfluss an Liebe. Und dieser geht aus etwas hervor, was äußerst verwundbar ist, was nichts fordert und uns doch das Wertvollste gibt – die

Artikel im Time (21. 3. 2016) mit dem Titel »The Secret War Crime« von Aryn Baker: »Nachdem die Soldaten ihren Mann und beide Söhne getötet hatten, hielten fünf von ihnen sie fest und zwangen sie zuzusehen, wie drei andere ihre 10-jährige Tochter vergewaltigten. Ihr Name war Nyalaat. Als die Männer fertig waren, sagt Mary: ›Ich konnte mein kleines Mädchen nicht einmal mehr sehen. Ich sah nur noch Blut.‹ Dann wechselten sich die Männer an Mary ab. Nyalaat starb ein paar Stunden später. ›Auch ich wollte sterben‹« (20; URL: http://time.com/war-and-r ape/). Diese Gewalt richtet sich in irgendeiner Weise gegen uns alle. Ein künftiger sozialer, kultureller und ethischer Wandel wird nicht möglich sein, ohne dass wir unseren eigenen Anteil an der Verantwortung für diese unmoralischen und tragischen Ereignisse übernehmen. In dieser Hinsicht ist die ideologisch bestärkte sexuelle Gewalt ein Symptom für den Nihilismus unserer gemeinsamen sog. »Zivilisation der Humanität«. Es ist aber auch ein Zeichen für einen langen Prozess in der Geschichte – von verdrängten und unterdrückten Ordnungen der Weiblichkeit (Ordnungen des Gebärens, des Lebens und des Wachstums) –, der seinen Ursprung in der antiken griechischen Religion (Niedergang der antiken chthonischen Göttinnen, Schicksal der Antigone), den semitischen Religionen (sexuelle Gewalt und Vergewaltigung im Alten Testament, einschließlich der Haltung gegenüber Frauen im Islam), in den asiatischen Religionen (Kastensystem und die Leugnung sexueller Unterschiede in der Religion) und in anderen Religionen und Kulturen der Welt hat. 5 Clemens Sedmak, »Peace, Vulnerability, and the Human Imagination«, in: The Poesis of Peace: Narratives, Cultures, and Philosophies, hrsg. von K.-G. Giesen, C. Kersten und L. Škof (New York/London: Routledge, 2017), 27−40.

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Einleitung

Verbundenheit in der Gemeinschaft. Die Fürsorge erstreckte sich so in die Allgemeinheit der Liebe, die um Issa errichtet wurde: damit die Eltern zumindest einige Stunden schlafen konnten, boten ihnen ihre Verwandten, Freunde, Bekannten und andere Hilfe an und kümmer­ ten sich liebevoll um ihr Kind. Diese Fürsorge ist somit das Paradigma der künftigen Gemeinschaft der Liebe und es ist kein Zufall, dass im Vordergrund dieses Geschehens eben die Beziehung zum Kind steht. Um die innere Logik dieses Geschehens zu erklären, führt Sedmak hier einen Terminus ein, den er auf luzide Weise und im Einklang sowie gleichzeitig im Kontrapunkt mit Rawls' berühmtem Grundsatz der Gerechtigkeit aus dessen politischer Philosophie (veil of ignorance) als »Wunde des Wissens« (wound of knowledge) bezeichnet. Die Wunde des Wissens gebietet uns, uns vorzustellen zu versuchen, wie es denn wäre, wenn jemand von uns schon von Anfang an wüsste, dass ihm im Leben etwas Ähnliches widerfahren würde, was die Familie von Issa Grace erfahren hat. Wie würden wir dann unser Leben durchleben?6 Wie würde es sich anfühlen, mit einem solchen latenten, doch potenziell anwesenden Wissen von unserer eigenen Verwundbarkeit zu leben? Würde ein solches Wissen uns berühren und uns verändern? Würde das letztlich bedeuten, dass wir dann auch selber imstande wären, zu akzeptieren, was ich am Anfang dieses Kapitels als ethische Demut bezeichnete, und damit zu leben? Sedmak spricht in diesem Rahmen von der Pädagogik der Schwäche, der man den Gedanken zur Pädagogik der Unterdrückten von Paul Freire zur Seite stellen kann.7 Die Nähe der Schwäche lehrt uns demü­ tiges Zuhören, Lernen aus Liebe und Nähe, Aufmerksamkeit und mitfühlende Zuneigung – doch all dies unter voller Berücksichtigung der Freiheit und vollen Autonomie der oder des Einzelnen. Wenn man die Frage in Richtung moderner kosmopolitischer Moralität wendet, würden wir aufgrund eigener Vertreibungserfahrung anders denken von all jenen, die aus verschiedenen Gründen – Kriege, Verfolgung, Vergewaltigungen, Folter und alle Arten von Gewalt – ihre Heimat verlassen mussten und in eine für sie ausweglose Situation geraten sind? Meine Überlegungen wollen später in diesem Buch auch diese Frage berühren. An den Gedanken von der Bedeutung des Bewusstseins der Schwäche und Verwundbarkeit für ein Leben der Vgl. ebenda, 32 ff. Siehe dazu Pädagogik der Unterdrückten: Bildung als Praxis der Freiheit (Stutt­ gart/Berlin: Kreuz, 1971). 6

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Über den Überfluss an Liebe

Gemeinschaft in Mitgefühl anknüpfend, bietet uns Sedmak letztlich folgende Worte zum Nachdenken: Eine Wunde des Wissens macht es uns leichter zu akzeptieren, dass ›wir hinter unseren Rollen und Masken, die wir oft tragen, alle verletz­ liche und kämpfende Menschen sind, deren Herzen bedürftiger sind, als wir manchmal zuzugeben wagen.‹8

Sedmak knüpft in seiner Überlegung dieses Gefühl der Verwundbar­ keit an die Frage der Imagination und des Friedens an: wir brauchen den Frieden eben deshalb, weil wir als Menschen schwach, fehlbar, verwundbar sind. Die Voraussetzung für die Akzeptanz des Gedan­ kens, dass die eigene Verwundbarkeit eine Brücke zum anderen sein kann, ist unsere Fähigkeit, uns in sie zu versetzen, uns ihrem Leid anzunähern, dem Leid anderer, sogar jenseits des Sichtbaren, Vor­ stellbaren, Gefühlten. Darin ist das Mysterium der Liebe verborgen, ihr Überfluss. Dieses Buch möchte auf einige Quellen dieses Überflusses hindeuten – in mythologischen, kosmologischen, theologischen, philosophischen, literarischen sowie filmischen Rahmen. Ich habe dieses Werk für Antigone und ihre philosophisch-kos­ mologisch-theologischen Schwestern geschrieben. So wie Jesus für das Christentum, ist Antigone im frühen europäischen griechischen Denken der Nullpunkt der Ethik: in ihr werden die alten ungeschrie­ benen Gesetze (agrapta nomima), ethische Urprinzipien (Bestattung der Toten) sowie das höchste Gesetz der Liebe vereint. Antigone zu interpretieren oder gar neu zu verstehen, ist auf dem von Hegel, Heidegger, Lacan, Butler und Irigaray sowie ihren Deutungen dieses griechischen Mythos bestimmten Horizont eine beinahe unmögliche Aufgabe. Deshalb distanziert sich meine Interpretation dieses griechi­ schen Mythos auf den ersten Blick vom unmittelbaren Umfeld und wird über die Plattform der so genannten Matrix der Liebe und der mit ihr verbundenen kosmologischen, theologischen und philosophi­ schen Genealogien gelenkt. Dabei habe ich in diesem Buch in den Dialog mit Antigone einige alte weibliche Gottheiten (wie Metis) und alte kosmologische Matrices (wie den altgriechischen Begriff chóra) sowie Figuren so genannter heroischer Frauen, wie Savitri aus dem indischen Epos Mahabharata, Alkestis aus dem gleichnamigen griechischen Drama von Euripides sowie die slowenische mythologi­ sche Schöne Vida herangezogen. Auf der anderen Seite widme ich 8

Sedmak, »Peace, Vulnerability, and the Human Imagination«, 33.

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Einleitung

mich in diesem Buch der Frage nach dem Verhältnis zwischen den Frauenfiguren (wie die Unbekannte von Bethlehem) und der ewig weiblichen Figur im Alten Testament (Weisheit oder Sophia aus dem Buch der Sprüche) sowie der Figur der Maria im neutestamentlichen Rahmen sowie dem Rahmen der modernen (feministischen und phi­ losophischen) Theologie. Es interessierten mich auch philosophische Interpretationen, wie man sie bei Schelling und seiner feinfühligen Figur der Clara, die in so mancherlei Hinsicht eines der besondersten Werke in der Geschichte der Philosophie und Literatur ist, sowie in Binswangers und Heideggers Überlegungen über den Überfluss an Liebe und das Sein, auch in Anknüpfung an die altgriechischen Rahmen kosmologischen Denkens bei Sappho und ihrer Aphrodite als Schwester des Seins findet. Am Ende widmete ich mich im Abschluss dieses Buchs der französischen Philosophin Luce Irigaray, deren Namen ich im Abschlusskapitel als Chiffre der neuen philosophischen Theologie und gleichzeitig Übergang zum neubesinnten Denken des kommenden Zeitalters des Atems oder Hauchs verstehe, alles unter dem Horizont der ankommenden und erwartenden Philosophie der Nähe, der Sensibilität und des Mitgefühls.   ***   Das vorliegende Werk entstand in der Zeit, als Europa mit der Migrantenkrise konfrontiert war und als wir Bürger Europas vor unseren Toren oft Kinder, schwangere Mütter, Brüder und Schwestern – unsere Mitmenschen – haben sterben lassen. Der Gedanke, dass wir im 21. Jahrhundert nicht imstande sind, Essen und Zuflucht für die Menschen zu sichern, die es brauchen, ist schwer. Und die vorliegende Übersetzung entsteht in der Zeit, in der unser Kontinent mit dem schrecklichen Krieg in der Ukraine konfrontiert ist, der – wie jeder Krieg – das Eindringen der gewaltsamkeitlichsten Modi in unsere Ordnungen des Daseins bedeutet. In den Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung berührt Heidegger beim Lesen des Gedichts Andenken Hölderlins unvollendete Hymne An die Madonna, in der man folgende, der Königin Maria gewidmete Verse findet: ─ ─ ─ und wenn in heiliger Nacht der Zukunft einer gedenkt und Sorge für die sorglosschlafenden trägt, die frischaufblühenden Kinder,

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Über den Überfluss an Liebe

kömmst lächelnd du, und fragst, was er, wo du die Königin seiest, befürchte.9

In diesen Versen entfaltet sich die Atmosphäre der Heiligkeit der Nacht als Beschützerin des ruhigen Schlafs sorgloser Kinder, die dasjenige ist, was in jedem Krieg als Erstes zerstört wird. Darin führt Hölderlin in diese Welt gleichzeitig poetisch den femininen Grundsatz ein, der hier die Königin Maria, Jesus' Mutter, die die Welt der Sterblichen vor dem Eindringen des Bösen schützt, das Angst, Leid und Zerstörung verursacht, bezeichnet. Durch das synchronistische poetische Prinzip wird in dieser Hymne Maria in den Kontext der Göttin Gaia als griechische Mutter Erde, der germanischen Mutter Natur (Hertha) und freilich auch der Antigone und der Diotima sowie verwandter femininer Matrices bei Hölderlin gestellt. All das entfaltet auf po-et(h)ische Weise die grundlegende die Frage dieses Buchs. Ich habe daher dieses Buch vor allem für jene Kinder, sowie Frauen und Männer geschrieben, die, ohne die Möglichkeit oder Macht zu haben, das Wort zu ergreifen und frei zu leben in Abwesen­ heit von Grausamkeit, in dieser so genannten globalen Welt leiden. Es entstand bei der Begegnung mit zahlreichen Mythen, literarischen Texten, philosophischen und theologischen Theorien sowie letztend­ lich mit konkreten historischen Ereignissen, die bis heute unsere Reaktion erfordern. Darin liegt der ganze Sinn der Ethik. Vielleicht kann auch heutzutage der Sinn des Gebets liegen – als geduldiger, doch unermüdlicher Gedanke daran, dass es einmal möglich sein wird, in einer Welt zu leben, in der kein Kind und kein menschliches (und in ferner Zukunft auch kein tierisches) Wesen Gegenstand von Gewalt, Krieg oder Sklaverei sein wird. Deshalb widme ich dieses Buch dem Leid unzähliger jesidischer Frauen und ihren starken Stimmen, die zeigen sollen, wie wir als Angehörige der Weltgemeinschaft auf radi­ kale Gewalt reagieren müssen, im Rahmen welcher sexuelle Gewalt über Frauen zu den grausamsten Mitteln der Zerstörung von Leben, Liebesbanden, Gemeinschaften, Frieden und Zukunft gehört.10 Oder wie man angesichts der unermesslichen Tragödie des Kriegs in der Ukraine und im Gedenken an alle kindlichen Opfer dichten könnte: 9 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Bd. 2, Gedichte nach 1800, hrsg. von Friedrich Beißner (Stuttgart: W. Kohlhammer / J. G. Cotta, 1953), 220−221. 10 Siehe dazu den Erfahrungsbericht von Nadia Murad (in Mitautorenschaft mit Jenna Krajeski) mit dem Titel Ich bin eure Stimme: Das Mädchen, das dem Islamischen Staat entkam und gegen Gewalt und Versklavung kämpft (München: Knaur, 2017).

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Einleitung

Als ihr euren Kinderschlaf atmen solltet in der Heiligkeit der Nachtruhe wurdet ihr vom Zorn der Welt geweckt. Von den Träumen und euren Kuscheltieren gerissen wurdet ihr in ein anderes Licht und andere Luft geboren. Wer wird euch schützen? Wer wird euch Träume weben? Kinder, Kinder, Kinder.

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Erster Teil: Kosmologie und Theologie der Liebe

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Antigone / Savitri

Der Antigone entgegen Es scheint, dass wir heutzutage die Verbindung zum Kosmos und seiner ethischen Ordnung verloren haben. Wir leben in einer Zivili­ sation, die uns einen Überfluss irdischer Güter bietet, einschließlich verschiedener ethischer und politischer Gesetze, sowie Gerechtigkeit in einer ihrer Formen. In dieser verfälschten Welt lassen wir alle (und wer sind wir?)11 (un)gewollt das Böse und die Gewalt in einer ihrer vie­ len Spielarten zu und sind somit nicht imstande, unbedingte ethische Forderungen gegen sie zu stellen. Da wir verschiedenen Formen der Macht unterworfen sind, finden wir keine innere Ruhe, keinen Ort, wo wir Frieden für konkrete Andere hegen und schützen würden. Ich möchte mit meinem Beitrag Sophokles' Antigone in einen neuen ethischen Rahmen setzen und einige Elemente für eine etwaige neue kosmisch-feministische Interpretation der Gerechtig­ keit hervorheben. Ich werde darin auf die Logik der agrapta nomima (ungeschriebene/göttliche Gesetze) und die Logik ethischer Gesten gegenüber Sterblichen (sowohl Toten als auch Lebenden) näher ein­ gehen. Ich werde zeigen, dass es Antigones heilige Pflicht war, das Gleichgewicht in der kosmischen Ordnung (mit ihren geschlechtsbe­ zogenen und generationsmäßigen Genealogien) aufrechtzuerhalten, sowie auch, wie in unserer Zeit dieses Gleichgewicht zerstört ist, beziehungsweise wie es verschiedenen Formen der Macht seit Kreons politischer Tat unterworfen war. Nach Meinung von Luce Irigaray – deren Lehren schon seit langen Jahren meine Inspiration sind – war das nur möglich mit der griechischen Ablösung des altehrwürdigen 11 In Bezug auf das »Wir« wäre es sinnvoll, von dem zu sprechen, was Jean-Luc Nancy in seinem Werk Singulär plurales Sein sagt, wenn er das Zusammenleben, die Kommu­ nikation, als den Kern des Seins betrachtet, der für Nancy letztlich materiell ist, d.h. als von einer Ontologie der Körper, die die ethische Lücke zwischen den Bereichen von Heidegger und Luce Irigaray einerseits und dem Denken von Levinas andererseits füllt. Es sei noch hinzugefügt, dass auch die Prozess- und Kommunikationsethik des amerikanischen Pragmatismus dieser Konstellation nahesteht (Mead und Dewey).

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Antigone / Savitri

Rechts und der kosmischen Gerechtigkeit durch die Einführung neuer politischer Gesetze, wie Kreon sie befürwortete, der die altehrwürdi­ gen, ungeschriebenen Gesetze als überholt betrachtete. Wir wissen, dass sogar Hegel, der diese Verschiebung vollständig anerkannte und Antigone für ihre Taten sehr lobte, noch immer nicht bereit war, Antigones Befolgung dieser alten Gesetze, die die heilige Ordnung der Weiblichkeit darstellen, zu unterstützen. Wir brauchen daher in der heutigen Zeit neue ethische Gesten und einen neuen Blick auf die Gerechtigkeit; Gesten, die dem menschlichen Körper näher sind, Toten (wie im Fall des Polyneikes), aber auch Gesten für lebende Tote (Agamben), für ein Kind, einen Mann oder eine Frau an der Grenze zwischen Leben und Tod, oder jeden anderen fühlenden Körper in Schmerzen. Generell kann also keine Pflicht und kein Recht wichtiger sein als unsere Verbundenheit mit den tiefsten kosmisch-ethischen Schichten sowohl unseres Glaubens als auch unseres Wissens, des in unseren körperlichen Empfindungen und unserem Inneren verwur­ zelten Bewusstseins. Sophokles’ Antigone forderte große Denker von Hegel bis Luce Irigaray heraus und stellte ihnen wesentliche ethische Fragen: vom göttlichen zum menschlichen Recht, von der Ethik zur Moral, vom kosmischen Bewusstsein zum modernen politischen Leben; in all die­ sen Kontexten suchten die Deuter wie Hegel, Lacan, Butler, Irigaray und Žižek nach dem richtigen Maß und grenzten den sensibelsten Raum von allen – den Raum der Nähe zwischen geschlechtlich bestimmten Subjekten, zwischen Mitgliedern der Verwandtschaft (sogar auf blutschänderische Beziehungen unter ihnen hindeutend) oder – in den mehr politisch engagierten Interpretationen – zwischen Mitgliedern der politischen Gemeinschaft ab. Die Sprachen der Psy­ choanalyse, der Ethik, der Theologie und des Rechts wurden verwen­ det und verschmolzen in zahlreichen, untereinander verschiedenen Deutungen dieses uralten Bühnenstücks. Doch ursprünglich ist Anti­ gone eine Tragödie über kosmische Gesetze und die Gastfreundschaft gegenüber anderen – gegenüber Mitgliedern der Verwandtschaft, aber auch gegenüber Anderen als Fremden. Nach Meinung von Luce Irigaray ist die Aufdeckung der Bedeu­ tung der Antigone in unserer Kultur keine leichte Aufgabe, denn sie erfordert von uns das Eintauchen in völlig andere Modi intersubjekti­ ven Denkens, als wir sie von unseren Vorfahren geerbt haben. Freilich ist das auch eine interkulturelle Aufgabe, denn der westliche Mensch findet nicht nur den Weg aus sich selbst, er muss vielmehr auch zu

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Der Antigone entgegen

anderen philosophischen und theologischen Überlieferungen zurück­ schauen. Das Erwachen von Luce Irigaray durch Yoga zeugt davon. Welche Liebe und Gerechtigkeit werden uns also in diesem Stück von Sophokles offenbar? Max Statkiewicz und Valerie Reed, Autoren einer hervorragenden Studie über Antigone, sagen, dass Antigone der »Wendepunkt im ethischen Denken unserer Zeit« und eine »Verkörperung des ethischen Werts der Gemeinschaft«12 im Sinne Der kommenden Gemeinschaft (La comunità che viene) von Agamben sei. Ist es denn nicht so, dass die Hegel'sche Behauptung vom Konflikt zwischen zwei gleichwertig begründeten Forderungen (die von Kreon gegen die der Antigone) in uns eine Ungewissheit bezüglich der Gerechtigkeit erweckt? Wie Hegel sagt: »[...] da kommt die Familienliebe, das Heilige, Innere, der Empfindung angehörige, weshalb es auch das Gesetz der unteren Götter heißt, mit dem Recht des Staats in Kollision«.13 Um die Gerechtigkeit nicht als ein einseitiges, sondern ganzheitliches ethisches Gesetz zu betrachten, muss man die innere Logik eines solchen Konflikts anerkennen. Dies ist aber nicht möglich. Antigones Glaube und ihre radikale ethische Fürsorge für den anderen, für den Bruder-als-Leiche, sind tiefer als jeglicher einseitige Standpunkt, wie ihn Hegel, Lacan, Butler, Žižek und viele andere vertreten. Antigones Ethik kann man am besten verstehen, wenn man sie mit den Ontologien von Heidegger und Irigaray auf der einen sowie Levinas' und Derridas Blick auf die Gerechtigkeit auf der anderen Seite vergleicht. Alle genannten sind Denker, denen die altgriechische und indische (vorsokratische – wie bei Heidegger und Irigaray mit ihrer Verbindung zu vorvedischen Kulten und Quellen sowie Yoga) oder göttliche (wie bei Levinas und Derrida) Gerechtigkeit nahe sind: das ist die Welt von göttlichem Recht und agrapta nomima.14 Nach Meinung von Rémi Brague kann man die Göttlichkeit der griechischen Gesetze erst mit Sophokles zu verstehen beginnen. Für Brague sind diese göttlichen Gesetze (und freilich und natürlich die damit einhergehende Gerechtigkeit) so alt, dass »sie wirklich Max Statkiewicz und Valerie Reed, »Antigone's (Re)Turn: The Ēthos of the Coming Community«, Analecta Husserliana LXXXV (2005), 788. 13 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil II (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986), 133. 14 Zur Geschichte von agrapta nomima s. The Cambridge Companion to Ancient Greek Law, hrsg. von M. Gagarin und D. Cohen (Cambridge: Cambridge University Press, 2005), Kap. 2 (R. Thomas, »Writing, Law, and Written Law«). 12

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Antigone / Savitri

nicht erschienen sind, da sie so offensichtlich sind, dass es keinen Anfang in ihnen gibt« (qu'elles n'ont pas de point d'émergence).15 Für eine doppelte Ansetzung der ethischen Archäologie und der ethischen Anatomie – beziehungsweise der Beziehung zwischen der Moralität (mit der Gerechtigkeit) und ethischen Gesten gegenüber dem anderen innerhalb ihres (Antigones) Körpers, Gesten gegenüber dem leidenden anderen, aber auch gegenüber Verstorbenen und toten Körpern – ist diese einfache, doch vielsagende Bemerkung von Brague wirklich von wesentlicher Bedeutung. Agrapta nomima können nur in unsere Herzen und Körper eingemeißelt sein. Wir alle sind Erben dieser heiligen Botschaft, die Antigones Tat erzeugte und die – wie wir später sehen werden – auch bedeutende interkulturelle Folgen hat. Die göttlichen Gesetze und die Logik des Opferkörpers – des Körpers als Tabernakel – führen Ebenen ein, auf denen Derrida und Levinas einander begegnen mit ihren Eingriffen in die Logik der Gerechtigkeit selbst. In dieser Tradition (der alte Nahe Osten und das Alte Testament) ist das Waschen des Körpers – des lebendigen Körpers – »die Vollbringung eines Akts, der die Buße zur Wiederher­ stellung der Heiligkeit des Tabernakels reproduziert«.16 Gleiches gilt für Antigones – nun altgriechische – Altvorderen-Sorge für Polynei­ kes' Leiche: es ist eine Handlung, die nötig war für die Neuerrichtung der zerstörten kosmischen Ordnung, für die Beseitigung oder Aus­ waschung der Unreinheit, die Kreons politische Handlung in diese Welt eingebracht hat. Eben deshalb gibt es bei Antigone zwischen diesen beiden verschiedenen ethischen Welten keinen Antagonismus (laut Hegel und seinen Anhängern, eine sittliche Macht gegen die andere): ihrer Tat liegt göttliches Recht und die göttliche Gerechtigkeit zugrunde; es ist eine Tat, in den weiblichen Körper gemeißelt und als solche anarchisch. Im Körper als Mikrokosmos ist ein ethisches Rémi Brague, La loi de Dieu: Histoire philosophique d’une alliance (Paris: Editions Gallimard, 2005), 43. »Mais c’est seulement Sophocle qui permet de comprendre ce que signifie le caractère divin d’une loi. Dans le célèbre passage de l’Antigone, l’héroïne dit des lois dont elle se réclame contre le décret de Créon que ‘personne ne sait d’où elles sont apparues.’ C’est qu’elles ne sont en fait jamais apparues du tout, elles sont si manifestes qu’elles n’ont pas de point d’émergence«. 16 Vgl. Mary Douglas, Leviticus as Literature (Oxford/New York: Oxford University Press, 2000), 67 ff. (sowie für das Zitat 188). Eine der Feststellungen von Douglas ist hier äußerst relevant, und zwar, dass »Levitikus seine metaphysischen Ressourcen auf genau diesen Punkt zwischen Leben und Tod konzentriert«, sowie, »dass es in der jüdischen Kultur immer eine starke Verbindung zwischen Körper und Tabernakel in Bezug auf die Fruchtbarkeit gegeben hat« (67 und 80). 15

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Der Antigone entgegen

»gemeinsames Vorwissen« gespeichert.17 Laut Levinas bestehen diese althergebrachten Rechte des anderen und ihre Gerechtigkeit a priori: sie haben eine unausweichliche Autorität und erfordern von uns eine unermüdliche Verantwortung, ähnlich der Forderung der Antigone.18 Phänomenologisch führen sie uns zur radikalen Nähe in der Inter­ subjektivität, zur Begegnung, zum Guten und weisen uns zur Ethik des Friedens. In der vorhomerischen griechischen Welt waren Hüterinnen dieser althergebrachten kosmischen Gesetze die Erinnyen (sowie mit ihnen Gaia, Hades, Demeter, Kora/Persephone usw.). In der vorvedi­ schen und später in der vedischen Welt sicherten sich diesen Platz die Gottheiten aus den sog. »Proto-Śakti«-Kulten auf der einen sowie später Adityas – Varuna, Mitra und Aryaman – auf der anderen Seite. Doch warten wir noch einen Moment mit interkulturellen Aspekten und denken wir zuerst über die Welt der vorhomerischen Götter und über die Interpretation der Tragödie nach, wie sie von Luce Irigaray gegeben wird. Walter F. Otto19 meint, dass die vorhomerischen und vorolympischen Götter der altehrwürdigen chthonischen Religion von der unmittelbaren Nähe zwischen der griechischen Frau bzw. dem Mann und den Naturelementen zeugen. Über diese – d.h. Luft/ Atem/Äther, Wasser, Erde, Feuer (in Indien auch Nahrung) – sowie die kosmisch-ethischen Konstellationen, die aus ihnen hervorgehen, schrieb ich in meinem vorangehenden Buch Ethik des Atems. Diese Elemente kommen im philosophischen Sinne in der Welt sowohl der vorsokratischen als auch der upanishadischen Philosophen vor, später findet man sie erneut nur bei Schelling, Feuerbach, Heidegger (über Hölderlin), Irigaray und Caputo. So plädiert etwa Caputo für eine größere Beachtung der Intuitionen, die auf althergebrachten mythischen Elementen, die in unseren Philosophien und Theologien völlig vergessen sind, sowie auf unserem Blick auf die Gerechtigkeit – sowohl die menschliche als auch die göttliche – basieren. Auf Luce Irigaray Bezug nehmend, erwähnt Caputo »Sonne und Auge, Luft und Atem, Wind und Geist, Meer und Leben, Fels und Gott«;20 wegen Ebenda, 190. Emmanuel Levinas, Outside the Subject (London: Continuum, 2008), 92 und 98. 19 Walter F. Otto, Die Götter Griechenlands. Siehe Kap. 2: Religion und Mythos der Vorzeit. 20 John D. Caputo, The Insistence of God: A Theology of Perhaps (Bloomington/Indi­ anapolis: Indiana University Press, 2013), 251. 17

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Antigone / Savitri

unserer Interpretation der Antigone könnte man noch die Erde und die Unterwelt hinzufügen.21 Wenn wir nun in die griechische Welt zurückkehren, hat es den Anschein, dass Antigone die Hüterin dieser heiligen kosmischen Ordnung sei, wie sie in dieser elementaren Welt dargestellt wird. Walter F. Otto erwähnt in dem Sinne die altherge­ brachten Gesetze bzw. die althergebrachte Gerechtigkeit als Störung in dieser Welt. Die Götter, die der Erde gehören, sagt Otto, gehören alle dem Prinzip der Weiblichkeit (vielleicht des Matriarchats)22 an und widersetzen sich den späteren männlichen Ordnungen der olympischen Götter. Diese althergebrachte irdische Ordnung ist der Ort, dem auch Antigones Handlung entspringt. Es handelt sich um eine magische Sicht auf die Welt: mit der Leiche des Polyneikes, die unbegraben auf dem Boden liegt, wie ein Köder für die Hunde, und mit jeder Leiche oder jedem lebenden Toten (Agamben) in unserer Welt, um den sich niemand sorgt oder der verlassen, verraten, vergessen ist ... Das heilige Gleichgewicht der kosmischen Ordnung ist somit zerstört. Die Einmischung der Ungerechtigkeit in die kosmische Ordnung bedeutet, dass die Geschlechts- und Generationsordnungen, sowie freilich die Naturordnungen der Fruchtbarkeit (Nahrung, Getreide), ungewiss und zerschlagen sind. Die allgemeinen Grundsätze jeglichen Lebens sind gefährdet, einschließlich des Todes, der sein Bestandteil ist. Zwillinge (wie die indischen Yama und Yami), Brüder und Schwes­ tern, die sich dieselbe Gebärmutter teilen, wie es bei Antigone und Polyneikes war; Mutter und Kind ... wie sie im Volkslied von der Schö­ nen Vida (Lepa Vida) geschildert sind, all dies ist von der erwähnten Gefährdung geprägt. Das ist nun noch nicht (oder aber nicht mehr) In dem Sinne ist Caputos kosmischer Jesus »ein Mensch aus Fleisch und Blut, mit tierischen Gefährten und mit tierischen Bedürfnissen […] ein jüdisch-heidnischer Prophet und Heiler, im Einklang mit den Tieren und den Elementen, in dessen Körper die Elemente ihren kosmischen Tanz tanzen, der eine Leitung liefert, durch die die Elemente fließen, und ich betrachte die Elemente als eine kosmische Gnade, die durch den Körper Jesu kanalisiert wird.« (Ebenda, 251 ff.). 22 Walter Burkert scheint dieser Ansicht kritischer oder zumindest zurückhaltender gegenüberzustehen in seinem Werk Griechische Religion der archaischen und klas­ sischen Epoche (Stuttgart: Kohlhammer, 2011). Burkert vergleicht die chthonische Religion hier mit der »Epiphanie der Gottheit von oben her im Tanz«, sie zeugt seiner Meinung nach von einem anderen Glaubensprinzip (70). Trotzdem erkennt er die Bedeutung der chthonischen Ordnung an, insbesondere in Bezug auf die Ernährung und den Lebenszyklus (306), aber man bekommt bei Burkert den allgemeinen Eindruck, dass er Gottheiten chthonischen (oder femininen) Ursprungs keine große Bedeutung beimessen wollte. 21

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Der Antigone entgegen

eine Welt der Moralität und auch keine Form von »Gerechtigkeit«; man könnte hinzufügen, dass ebendiese kosmische Ordnung das ist, was a priori im vorher erwähnten Sinne von Levinas gemeint ist, einschließlich der phänomenologischen Folgen. Für Luce Irigaray bedeutet Antigone einen Schlüsselpunkt in der Geschichte der Menschheit: als Frau und Schwester verkörpert sie in sich drei Ordnungen: die Ordnung des Lebens und der kosmi­ schen Verfasstheit, die Generationsordnung sowie die Ordnung der geschlechtlich festgelegten Unterscheidung. Luce Irigaray fasst diese Aufgabe wie folgt zusammen: Das Gesetz oder die Pflicht, die Antigone unter Einsatz ihres Lebens verteidigt, umfasst drei Aspekte, die miteinander verbunden sind: die Achtung vor der Ordnung des lebendigen Universums und der Lebewesen, die Achtung vor der Ordnung der Zeugung und nicht nur der Genealogie und die Achtung vor der Ordnung der geschlechtsbe­ zogenen Unterschiede. Es ist wichtig, das Wort ›geschlechtsbezogen‹ und nicht ›sexuell‹ zu betonen, denn die Pflicht der Antigone bezieht sich nicht auf die Sexualität als solche und auch nicht auf deren Zügelung, wie Hegel meinte. Wenn dies der Fall wäre, hätte sie ihren Verlobten Haimon bevorzugen müssen und nicht den Bruder. Antigone entscheidet sich für die Beerdigung ihres Bruders, weil er eine einzigartige konkrete geschlechtsbezogene Identität darstellt, die als solche respektiert werden muss: »als der Sohn ihrer Mutter«. Für Antigone ist die menschliche Identität noch nicht so einheitlich, neutral und universell geworden, wie es Kreons Anordnung vorsieht. Die Menschheit bilden immer noch zwei: Mann und Frau, und diese Dualität, die bereits in der natürlichen Ordnung vorhanden ist, muss als eine Art Rahmen respektiert werden, bevor die sexuelle Anziehung oder das Verlangen erfüllt werden kann.23

Die Lacan'schen oder Butlers wohlbekannten Behauptungen über blutschänderische Beziehungen zwischen Antigone und Polyneikes oder über Antigones vermeintliche Todessehnsucht können wir hier nicht breiter behandeln, doch eine solche Erörterung verfehlt in beiden erwähnten Aspekten den Wesenskern radikal. Antigones Ent­ scheidung (sie hat bekanntermaßen ihrem Bruder den Vorzug vor einem potenziellen Kind oder Ehemann gegeben) beweist ihre kos­ misch-ethische Intuition: sie kann mit einem potenziellen Anderen den konkreten lebenden anderen oder, noch radikaler, dessen Leiche 23

Luce Irigaray, In the Beginning, She Was (London: Bloomsbury, 2013), 118 ff.

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Antigone / Savitri

nicht ersetzen. Ebenso muss sie die Identität auch sich selbst und der Liebe zu sich selbst sichern. Sie muss ihren toten Bruder schützen, nicht nur vor der Verwesung, sondern in erster Linie, damit er nicht als Geist, der Erinnerung, der Vergangenheit und, paradoxerweise, der Zukunft beraubt, umherirren müsste.24 Für Luce Irigaray stellen Bruder und Schwester zwei horizontale Identitäten dar: »Sie muss ihrem Bruder die Erinnerung an eine gültige geschlechtsbezogene Identität sichern und nicht nur an eine anonyme und neutralisierte Körpersubstanz.«25 Sagen wir es noch einmal, so will Antigone das Leben und die kosmische Ordnung bewahren. Deshalb kann ich die Interpretation von Martha Nussbaum nicht nachvollziehen, die in ihrem Buch Zerbrechlichkeit des Guten beim Lesen der Antigone, und unter (zu) enger Anlehnung an Hegel und andere kritische Deuter von Antigones Geste, sagt, sowohl Kreons als auch Antigones Taten seien das Produkt »einer rücksichtslosen Vereinfachung der Welt der Werte, durch die widersprüchliche Verpflichtungen effektiv beseitigt werden.« Sehr nahe an dieser Interpretation ist auch Paul Ricœur.26 Nussbaum hat freilich recht, wenn sie Kreons Beharren 24 Vom absoluten Vorrang der feminin-matrixialen Geste, die uns von den unge­ schriebenen kosmischen Gesetzen abverlangt wird, vor allen Gesetzen, auch den Gesetzen Gottes, spricht folgendes Gedicht mit dem Titel »Die Toten«: »Ich zähle meine Toten. / Eins. / Zwei. / Drei. / Vier. / Du bist ungeduldig. / Aber zuerst muss ich mich um die kümmern, die gegangen sind. / Sie ausnehmen. / Die Rippen reini­ gen. / Die Knochen waschen. / Die Seelen / in den Alabastergefäßen der Ewigkeit aufbewahren.« (Suzana Škof, Deklica in veter [Das Mädchen und der Wind], Zyklus noch unveröffentlichter Gedichte). 25 Irigaray, In the Beginning, She Was, 119. 26 Martha C. Nussbaum, The Fragility of Goodness: Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 2001), 63. Paul Ricœur widmet in seinem Werk Das Selbst als ein Anderer, übers. von Jean Greisch in Zusammenarbeit mit Thomas Bedorf und Birgit Schaaff (München: W. Fink, 2005) ein kürzeres Kapitel eben Antigone (»Die Tragik des Handelns«). In dem Kapitel, das seinem tragisch verstorbenen Sohn Olivier gewidmet ist, hinterfragt Ricœur die Ethik der Antigone und stützt sich dabei auf Nussbaum und ihr bereits erwähntes Buch, denn er stellt Antigone eindeutig in den Kontext ihrer tragischen Dichotomie mit Kreon und der gegenseitigen "Enge" (296) ihres vermeintlich absoluten Engagements. Auf der anderen Seite ist Ricœur bereit, Antigone, die er nun im Sinne ihrer ›Schwes­ terlichkeit‹ (als Ausdruck absoluter Verpflichtung gegenüber der Familie) versteht, einen gewissen Vorrang oder einen besonderen Platz einzuräumen, der in alten und ungeschriebenen Gesetzen begründet ist. Am Ende seiner kurzen Interpretation definiert Ricœur ihr Handeln jedoch erneut als eine reduktive Geste, die (bloß) auf der Forderung beruht, ihren Bruder zu begraben: Für Ricœur ist Antigone »nicht weniger unmenschlich als Kreon.« (297) Damit ist für ihn die Grenze des Bereichs

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Der Antigone entgegen

an der Nichtbegrabung des Polyneikes seiner Sorge um den Staat zuschreibt: ein Verräter durfte nach den griechischen Gesetzen (diese ordnen die Schuld des Verrates höher als die Schuld des Feindes ein) nicht im Rahmen des breiteren Gebiets des Stadtstaates begraben werden, da ihm dieser damit eine Würde zuschriebe, die er sich mit seiner verwerflichen Tat nicht verdient hat. Doch war Kreon andererseits, obwohl er als Herrscher für das Wohl des Staates sorgen und somit gerecht handeln wollte, in keiner Weise zum Verbot der Bestattung als solcher verpflichtet – was eine Bestattung außerhalb der Stadtgrenzen verlangt und eine gleichzeitige Verpflichtung zur Bestattung bedeutet, die aus der Verwandtschaft des Opfers folgt (zu der natürlich auch er selbst gehört; darin liegt seine Tragik). Kreon ist zweifellos – obwohl in der Verteidigung der Polis – kühn und unerbittlich gegen die Götter aufgetreten. Nussbaum schreibt andererseits auch der Antigone wegen ihrer berühmten Worte – über den Vorrang der Sorge für den Bruder vor der Sorge für Ehemann oder Kind – »eine seltsam rücksichtslose Vereinfachung der Pflichten, die weniger einem bekannten religiösen Gesetz als vielmehr den Erfordernissen ihrer eigenen praktischen Vorstellung entsprach,« zu.27 Obwohl sich also Nussbaum nicht auf ungeschriebene Gesetze berufen will, laut welchen man wenigstens die ausgesetzte Leiche von Antigones Bruder hätte schützen müssen, schreibt sie doch bei der Deutung des Leidens der Danae und beim Lesen des Vierten Chorlieds folgende Worte, die ihre Interpretation der Antigone doch in Frage stellen: In einer Welt, in der Väter auf der Suche nach Sicherheit und Kontrolle ihre Töchter einsperren und versuchen, die Geburt ihrer Enkelkinder zu verhindern, wird die Rettung aus einer außermenschlichen Quelle kommen müssen.28

Luce Irigaray verstand die Antigone gerade mit der Verbindung von ungeschriebenen religiösen oder ethischen Gesetzen und Familien­ genealogien, zu denen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, aber auch zwischen Brüdern und Schwestern gehören. Antigone ist vielleicht auf den ersten Blick wirklich ins Dunkel und auf den Tod gerichtet und befindet sich, wie auch Ismene meint, näher an die des Menschlichen erreicht, und damit ist auch die Grenze von Antigones Handlung umschrieben. Für mehr über Ricœur siehe den Kapitel über Antigone und Jesus. 27 Nussbaum, The Fragility of Goodness, 64. 28 Ebenda, 77.

27 https://doi.org/10.5771/9783495994092 .

Antigone / Savitri

Verstorbenen als die Lebenden; doch Antigone trägt in sich etwas überaus Lebendiges, was sie sich um keinen Preis nehmen lassen (oder es der Welt überlassen) will – und nur darin kann ihre »Verir­ rung« und ihre gleichzeitige enge Nähe zu Jesus bestehen: Antigone befindet sich jenseits der Ontologie von Leben und/oder Tod, Licht und/oder Dunkelheit, Gut und/oder Böse, und ebenso kann nicht auf das Paar oder den Bereich von Familie und/oder Staat reduziert werden. Ihre grundlegende Botschaft ist die Botschaft des Überflusses der Forderung der Liebe, ihres Exzesses und ihrer Singularität, eben wegen dieses Unverständnisses. Ihre Forderung ist – trotz des Anscheins unbeugsamen Trotzes oder unvernünftigen Beharrens – eine Forderung der Ethik, die von der Tochter und Schwester gestellt wurde. Wir werden später sehen, dass man interessante Parallelen zwischen Antigone und der indischen göttlich-heldenhaften Figur Savitri finden kann. Die berühmten Worte der Antigone »Nein! Haß nicht, Liebe ist der Frau Natur«29 bedeuten den Höhepunkt der Tragödie. Nicht nur Hegel, auch Irigaray meint deshalb, dass die Berufung der Anti­ Antigone: Sophokles, Euripides, Racine, Hölderlin, Hasenclever, Cocteau, Anouilh, Brecht, hrsg. von Joachim Schondorff; mit einem Vorwort von Karl Kerényi (München und Wien: Langen Müller, 1966), 54. Von hier an zitiert als: Sophokles, Antigone. Vgl. hier die zutreffende Bemerkung von Tine Hribar zum Verhältnis zwischen Abraham und Antigone: Bei der Interpretation, dass das Handeln Abrahams in der Tradition der Philosophie unter dem Gesichtspunkt des Verzichts auf den Sohn zugunsten der totalen Liebe zu Gott verstanden werden kann, fügt Hribar doch hinzu: »Lässt sich die Geschichte Abrahams wirklich auf eine so ›alltägliche‹ Angelegenheit reduzieren? Sicherlich ist das, was Derrida bezeugt, mitgegenwärtig. Aber der entscheidende Punkt ist Abrahams Entscheidung, im Namen dessen, woran er selbst glaubt, einen anderen im Namen zu opfern (zu töten). Entscheidend ist, dass er im Namen der Liebe die Liebe verleugnen und sich dem Hass und dem Töten (wie schmerzhaft es auch sein mag) hingeben kann. Das unterscheidet ihn unendlich von Antigone und ihrer Liebe. Für Abraham ist das, was Antigone an die Heiligkeit des Lebens und die Heiligung der Toten bindet, noch unendlich weit entfernt.« (Fenomenologija II, Ljubljana: Slovenska matica, 1995, 646) Ich stimme mit diesen Worten fast vollständig überein. Ich frage mich nur, ob die Logik von Abrahams Geste wirklich einen Hinweis auf "Hass" enthält. Es handelt sich sicherlich um einen Verzicht, der auf einem psychologischen Mechanismus beruht, der nicht weit von der Ethik der Gewalt entfernt ist, aber ich bin nicht überzeugt, dass es sich in diesem Fall – trotz der ähnlichen Worte Jesu in Lukas 14,26 – um Hass handelt. Abraham ist meines Erachtens näher daran, jene äußerste Grenze des Wohnens zu markieren, auf die die umstrittenen oder gar skandalösen alttestamentlichen Stellen aus 1 Moses 19 und Ri 19–21 hinweisen, die ich im Kapitel über die Unbekannte von Bethlehem bespreche und auf die natürlich auch Derrida sehr aufmerksam einging. 29

28 https://doi.org/10.5771/9783495994092 .

Der Antigone entgegen

gone vielleicht sogar höher war als die von Christus. Wie gesagt, Antigones Problem bleibt am »Wendepunkt des ethischen Denkens unserer Zeit«,30 d.h. in nächster Nähe des Ortes der Gastfreund­ schaft, dem vielleicht sogar zentralen Thema der gesamten heutigen Ethik. Gastfreundschaft ist zweifellos Gerechtigkeit. Ich selbst werde in diesem Kapitel den Gedanken von der Gastfreundschaft freilich nicht entwickeln können, er ist jedoch trotzdem eng mit dem Prob­ lem der Antigone verbunden; in altgriechischen, alten nahöstlichen, vedischen usw. Kontexten spielte die Gastfreundschaft zweifellos eine bedeutende, vielleicht sogar wesentliche Rolle. Philosophisch gesehen bedeutet Gastfreundschaft zunächst, dass wir bereit sind, den anderen in seiner oder ihrer Autonomie anzuerkennen, ohne seine oder ihre Subjektivität unserem Ort, unserer Innerlichkeit anpassen zu wollen. Das ist das, was Derrida als bedingungslose Gastfreundschaft versteht. Wir wissen auch, dass schon für Levinas nur das Wesen der Sprache Gastfreundschaft ist, und Luce Irigaray, da sie stark von Buddhas Lehren und Yoga beeinflusst wurde, sagt, dass dieser Ort nur aus dem Schweigen sichergestellt werden kann.31 Für Derrida musste Antigone offenbar gegen geschriebene oder politische Gesetze verstoßen, »um ihren beiden Brüdern die Gastfreundschaft von Land und Begräbnis bieten zu können«.32 Dieses Geschenk der größten Gastfreundschaft wird noch von der Möglichkeit seiner Radikalisierung über das hinaus begleitet, was Anne Dufourmantelle in ihrem Kommentar zu Derridas Text Gastfreundschaft zum Tode 30 Statkiewicz und Reed, »Antigone's (Re)Turn: The Ēthos of the Coming Commu­ nity«, 788. 31 Für Luce Irigaray ist das Schweigen die Sprache der Schwelle. Schon für Heidegger liegt die Bedeutung der Schwelle in der Differenz, nämlich zwischen zwei Subjektivi­ täten und anderen Differenzen, die alle, so Luce Irigaray, durch die grundlegendste aller Differenzen – die sexuelle Differenz – eingeführt wurden. Wenn sie/er in meine Welt kommt, an der Schwelle, ist die Stille das, was »bewahrt werden muss, bevor man dem anderen begegnet«, es ist auch »eine Offenheit, die nichts besetzt oder beschäftigt – keine Sprache, keine Werte, keine vorher festgelegte Wahrheit« (Luce Irigaray, »Ethical gestures toward the other«, Poligrafi 15, Nr. 57 (2010), 10). Die Sicherung des Platzes für die Stille in uns selbst und in den Räumen des Zwischenuns setzt voraus, dass wir zwei bleiben, und verlangt von uns eine neue Art der Selb­ staffektion – eine, die mein Selbst und die Unterschiede respektieren und aufmerksam für die Bedürfnisse der anderen sein wird. 32 Jacques Derrida, Of Hospitality (Stanford: Stanford University Press, 2000), 85. In Bezug auf Gesetz und Gerechtigkeit siehe auch Derridas Acts of Religion, hrsg. von G. Anidjar (New York/London: Routledge, 2002), insbesondere die Kapitel »Force of Law: The ›Mystical Foundation of Authority‹« und »Hospitality«.

29 https://doi.org/10.5771/9783495994092 .

Antigone / Savitri

nannte: Das ist die einem Toten erwiesene Gastfreundschaft (im Sinne von Begräbnis oder Bestattung), eine Tat, die der Empfänger nicht vergelten kann. Damit durchbrach eine solche Tat nur die Logik der Ökonomie des Geschenks. Diese Tat – Gastfreundschaft bis zum Tode – zeugt davon, wie eng Antigone mit den Göttern der Unterwelt verbunden war. Dies ist auch der Kernpunkt von Patočkas Interpretation der Antigone.33 Kreon fürchtet sich nicht vor der Nacht und dem Tod, sondern vor allem vor Antigones Art des Schweigens,34

33 S. Dufourmantells Hinweis auf Jan Patočka und sein Denken in Derrida, Of Hos­ pitality: »[Antigone] ist eine von jenen, die lieben, nicht eine von jenen, die hassen,« schrieb Patočka, doch diese Liebe ist nicht christlich. Sie ist »der Menschlichkeit fremd, die dem Teil der Nacht entstammt, der der Teil der Götter ist.« (42). Der Unterschied zwischen Antigone und Christus scheint in ihrer Beziehung zur altertüm­ lichen Religion zu liegen. Während Christus (als Mann) die antike jüdische Religion radikal umgestaltete, war es Antigones heilige Pflicht, die aus ihrer geschlechtlichen Identität als kosmisch-ethischer Schlüsselimpuls hervorging und somit auch eng mit der kosmischen Innerlichkeit des göttlichen Gesetzes verbunden war. 34 Zur Bedeutung der Stille findet man eine interessante Parallele in einem slowe­ nischen Volksmärchen. Im Märchen mit dem Titel »Sechs Wölfe« begegnet uns die Geschichte einer Mutter, die eines Tages versehentlich ihre Söhne wegen ihres unstillbaren Hungers verflucht. Alle sechs Söhne werden dann in Wölfe verwandelt und alle sechs Kinder verlassen das Haus. Die Mutter und der Vater sind völlig verzweifelt, da sie nicht wissen, ob sie tot oder lebendig sind, doch nun wird eine Tochter geboren, die sie als Einzige wird retten können (vgl. die Geschichte von Savitri und auch die apokryphe Geschichte von Joachim und Anna, Mariens Eltern, aus dem Protoevangelium des Jakobus). Da ihre Mutter jedes Mal, wenn sie Brot schnitt, untröstlich um ihre Söhne weinte, beschließt die Tochter, ihre Brüder zu finden, egal was mit ihr geschehen könnte. Als sie sich auf die Suche nach ihnen macht, trifft sie sie, aber gleichzeitig erfährt sie von dem jüngsten der Wolfsbrüder, dass sie den Bann nur brechen kann, wenn sie sechs Jahre lang schweigen wird. Das Mädchen gelobt Schweigen und macht sich mit diesem Gelübde im Herzen auf den Weg nach Hause. Auf dem Heimweg verliebt sie sich in einen jungen Fischer. Sie hat sechs Kinder mit ihm, aber ihre grausame Schwiegermutter ertränkt eines nach dem anderen und gibt dem Mädchen – deren Mutter – die Schuld am Tod der Kinder. Doch obwohl sie fälschlicherweise des Verschwindens von sechs Kindern beschuldigt wird, schweigt das Mädchen und trauert um sie. Als sie für die Ermordung ihrer Kinder auf dem Scheiterhaufen hätte verbrannt werden sollen (selbst auf dem Scheiterhaufen schweigt sie noch) und sechs Jahre verstrichen sind, in denen sie schwieg, tauchen ihre Brüder aus dem Wald auf und retten sie, wobei jeder der Brüder ihre ertrunkenen Kinder auf dem Arm trägt, die von ihren Brüdern aus dem Wasser gerettet wurden. Die Geschichte verweist den Leser, wie ich glaube, in der Art eines Volksmärchens auf die alten Genealogien der Familie (Geschwister stehen hier im Vordergrund, da sie die grundlegende matrixiale Bindung herstellen und aufrechterhalten, wie Antigone betonte – sie wurden im selben Mutterleib genährt) und die Bedeutung ihres Schutzes.

30 https://doi.org/10.5771/9783495994092 .

Savitri

vor ihrer Sprache und ihren Werten, die er nicht verstehen und letzten Endes nicht ertragen kann.

Savitri Da nahete Savitri ihren Gatten: sie trat an ihn heran, legte sein Haupt auf ihren Schoß, und setzte sich nieder auf den Erdboden.35

Nun möchte ich in den Bereich der altindischen Ethik und Religiosität rücken sowie mir die Frage über den Sinn von Antigones Haltung durch den Blickwinkel der Legende von Savitri (Sāvitrī) aus dem Mahabharata stellen. Obwohl die Geschichte von Savitri bereits Teil der altindischen Epik ist, ist darin das Geschehen aus dem vedischen Zyklus beschrieben. Alle Götter und alle Opferungen darin sind also vedisch. Die Geschichte von Savitri ist folgende: Der König Aśvapati aus Madra (Teil des heutigen Punjab, das in Pakistan liegt) liebte Wahrheit und Frieden. Aśvapati ist ein König, der mit seinem Leben in Wahrheit und asketischem Eifer den idealen Herrscher darstellt, weil er in Gerechtigkeit und Liebe herrscht. Doch trotzdem ist Aśvapati kinderlos. Um einen Nachkommen zu bekommen, verehrt er mit heiligen Savitri-Versen die Göttin Savitri mehrere Jahre lang und bittet sie um einen Sohn. Savitri-Mantra (auch als Gayatri-Strophe bekannt) ist der heiligste Vers aus den Veden, der dem Sonnengott Savitar gewidmet ist und im dritten Buch der Rigveda (RV III, 62, 10) Auf diese Weise wird eine äußerst tiefgründige Botschaft vermittelt, die Irigarays Interpretation der Antigone und ihrer Entschlossenheit, alles für ihren Bruder zu tun – noch vor ihrer Pflicht gegenüber ihrem (potenziellen) Kind – auffallend nahekommt, was viele Kommentatoren verwirrt und sie, wie im Fall von Martha Nussbaum, in den Bereich der Schuldzuweisung nicht nur an Kreon, sondern auch an Antigone gedrängt hat. Das Schweigen in der Erzählung »Sechs Wölfe« verweist nun auf jenen Ort, den Gewalt und Grausamkeit nicht erreichen und kontrollieren können – das Feld der Liebe, das niemandem gehört und auch durch einen solch grausamen und gewalttätigen Akt nicht angeeignet werden kann. Das Schweigen des Mädchens (bzw. ihre ontologische Stille) ist somit ihr Zeichen, dass die Liebe stärker als der Tod ist und dass eines Tages Frieden in der Welt herrschen wird. S. Slovenske ljudske pravljice [Slowenische Volksmärchen], hrsg. von J. Unuk (Ljubljana; Nova revija, 2008), 219−226. 35 Savitri oder der Triumph ehelicher Treue, übers. von Hermann Camillo Kellner (Leipzig, Reclam 1885), 35. In diesem Buch habe ich den Akzent für griechische Begriffe nur für chóra und die diakritischen Zeichen für Sanskrit nur für einige der wichtigeren Begriffe und für Werke über indische Philosophie und Religion beibehal­ ten.

31 https://doi.org/10.5771/9783495994092 .

Antigone / Savitri

zu finden ist. Doch es wird ihm eine Tochter geboren, die ihm der Gott Brahma und seine Gefährtin, die Göttin Savitri, schenkten, nach der sie nun ihren (göttlichen) Namen bekommt. Als Savitri erwachsen wird, wird sie eine großartige Frau, die alle wichtigsten Tugenden verkörpert (Wissen, Hingabe zur Askese, Ehrlichkeit, Wahrheitsliebe …), doch ihr Vater vermag sie nicht zu verheiraten. Savitri bekommt vom Vater die Erlaubnis, sich selber einen Mann zu finden. Savitri macht sich auf den Weg und besucht die Asketen, die im Wald des benachbarten Königreichs lebten. In diesem Reich herrschte einst König Dyumatsena, der jedoch von zwei Unglücken heimgesucht wurde: er erblindete und verlor sein Reich. Doch er ahnt nicht sein drittes und größtes Unglück, denn seinem Sohn Satyavan (der Name bedeutet »Der die Wahrheit liebt« oder »Der Wahrheitstreue«) wird nur noch ein Jahr zu leben prophezeit. Savitri entscheidet sich bei der Begegnung mit Satyavan, dass er ihr Mann werden soll. Obwohl ihr der heilige Weise Narada prophezeit, dass ihr edler Mann innerhalb eines Jahres sterben wird, heiratet Savitri ihn. Savitri errechnet den Todestag genau laut der Prophezeiung und beginnt drei Tage vor dem Tod ein schweres dreitägiges asketisches bzw. Jogi-Fasten, verbunden mit Meditation, Wachen und ununterbrochenem Stehen auf den Füßen. Als sein Todestag anbricht, den außer dem Weisen Narada und seinem Vater nur sie kennt, begibt sie sich mit ihm in den Wald, in den Satyavan Früchte und Holz holen geht. Satyavan bekommt während des Sammelns und Holzhackens unerträgliche Kopfschmerzen und sackt wegen seiner schrecklichen Schmerzen in Savitris Schoß zusam­ men, die im Augenblick davor neben ihm erscheint. Dann kommt Yama, der Gott des Todes, der aus dem Mann mit seinen »Bindungen« (die ursprünglich mit den Ästen des Feigenbaums verbunden sind) den Atem zieht, und der Mann stirbt. Er bringt ihn ins Reich der Verstorbenen. Doch Savitri folgt ihm. Mit ihrer Beharrlichkeit – Yama verspricht ihr verschiedene Belohnungen: vom wiederhergestellten Augenlicht und Königreich sowie hundert Söhne für ihren Schwieger­ vater und letztlich hundert tapfere Söhne auch für sie – überzeugt sie ihn, ihr am Ende den Mann ins Leben zurückzugeben, denn ohne ihn kann sich das Dharma des Familienlebens nicht erfüllen.36 Ich beziehe mich hier auch auf Asko Parpola, »The religious background of the Savitri legend«, Harānandalaharī – Volume in Honour of Professor Minoru Hara on His Seventieth Birthday, hrsg. von R. Tsuchida und A. Weber (Reinbek: Dr. Inge Wezler – Verlag für orientalische Fachpublikationen, 2000), 193–216; siehe auch 36

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Savitri

Die Geschichte von Savitri ist im Anfangspunkt Teil des vedi­ schen Symbolzyklus. Doch zahlreiche Inhalte darin reichen auch in ältere Zeiten der alten indischen Zivilisation (Harappa, Mohenjo Daro) und deren Kontakte bis nach Mesopotamien zurück. Götter und Menschen sind hier noch Teil des Prozesses der Entstehung und Erhaltung des Lebens als breiteren kosmischen Prinzips der Gegenseitigkeit und Verbundenheit über die Opferung. Der Tod (und das mit ihm verbundene Wissen über die Unsterblichkeit) wird dann im Rahmen dieser spätvedischen Zeit (als die wesent­ lichen Upanishaden und auch schon das Mahabharata sowie die Schule Samhkya-Yoga entstanden) allmählich zum grundlegenden philosophischen und zugleich theologischen bzw. eschatologischen Problem. Allmählich bilden sich auch die ersten Elemente der späteren hinduistischen (mono)theistischen Religiosität heraus, die Götter wie Brahma, Vishnu und Śiva in den Vordergrund stellt. Doch die Geschichte von Savitri befindet sich noch an der Grenze zwischen diesen beiden Zeitaltern (dem vedischen poly- oder henotheistischen Brahmanismus und dem späteren theistischen Hinduismus), als erst­ mals in der Geschichte der indischen Philosophie und Religion auch der ethische Grundsatz des Karmas als Steuerung des Lebens nach dem Tod im Hinblick auf gute bzw. schlechte Auswirkungen von Taten aufkommt. Durch die komplexe Übergangszeit sind die Rollen der Götter in der Erzählung nicht völlig klar (der Hauptgott Brahma hat später im Rahmen der hinduistischen Religiosität die Göttin Savitri zur Frau bzw. Gefährtin, die in unserer Erzählung jedoch vermutlich noch als Tochter des Sonnengottes Savitar gemeint ist; trotzdem beruft sich die Göttin Savitri in der Erzählung auf das Erbarmen beziehungsweise gar die Gnade des Himmelsvaters). Deshalb ist die Legende trotz bestimmter späterer Elemente darin als Teil des früheren kosmologischen vedischen Zyklus zu verstehen. die erweiterte Fassung des Essays: »Savitri and Ressurection«. Changing Patterns of Family and Kinship in South Asia, hrsg. von A. Parpola und S. Tenhunen (Helsinki: Finnish Oriental Society, 1998), 267–312. S. noch R. Y. Deshpande, The Ancient Tale of Savitri (Pondicherry: Sri Aurobindo International Centre of Education, 1995). Die Geschichte von Savitri ist zwar in verschiedenen Quellen zu finden – nicht nur in den Veden (wo man ihre Uranfänge in Sāvitrī-mantra findet) und in Mahabharata (Āraṇyaka-parvan 3.277 – 83), sondern auch in einigen Puranas. Im Mahabharata ist die Geschichte im Kontext der Macht der Treue einer Ehefrau (pari-vrata) angesiedelt, und der Weise Markandeya, der die Geschichte erzählt, will Yudhishthira über den Verlust seiner geliebten Draupadi trösten, die entführt wurde, sodass der Ehemann ohne die Unterstützung seiner treuen Frau, die ihm Kraft gegeben hatte, zurückblieb.

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Antigone / Savitri

Der Schlüsselpassus der Geschichte von Savitri ist jedoch meiner Meinung nach an der Stelle zu finden, wo Satyavan nach dem Abgang ins Reich der Toten (wo er also tatsächlich stirbt) durch Vermittlung seiner Frau zu den Lebenden zurückkehrt. Savitri äußert dies mit folgenden Worten, die das klar zum Ausdruck bringen, was ich in diesem Buch als matrixiale Logik der Liebe verstehen will: Ja, recht lange hast du geschlaffen an meinem Busen, du bester Mann.

Satyavan, der sich des Geschehens dieses Abends nicht bewusst ist, erwidert: Um Früchte und Holz zu holen bin ich doch mit dir zum Wald gezogen, du schöne Schlanke. Darauf, wie ich das Holz spaltete, so bekam ich Kopfweh. Und der Kopfschmerz quälte mich gar sehr, und ich ermochte nicht lange zu stehen, und da bin ich eingeschlaffen auf deinen Schoße […]37

Die Ausdrücke, die die Geschichte von Savitri vor uns bringt, sind hier klar verbunden mit der femininen Logik des Schoßes, der Umarmung sowie der Sorge für den anderen, die die Logik des Heldentums somit aus dem Bereich der Kriege und der Gewalt in den Bereich von Liebe und Zärtlichkeit übertragen. Savitri, die in ihrem Dialog mit dem Todesgott Yama von Liebe, Barmherzigkeit, Vertrauen, Selbstlo­ sigkeit, Gerechtigkeit und Güte spricht, spricht mit all dem in der Sprache radikalen und übermenschlich-göttlichen ethischen Behar­ rens-für-den-anderen, und somit der höchsten Hoffnung. Der Gott Yama gibt so Savitri ihren Mann aus dem Bereich des Todes zurück, und dieser ist gemeinsam mit ihr gottgeworden, denn sie werden laut der Vorhersage von Yama beide vierhundert Jahre alt werden. Die Geschichte von Savitri sowie das Motiv der Auferstehung von den Toten (und also nicht nur das Motiv der Wiedergeburt-Reinkarnation oder Erlösung im Tod!) stellt somit eine eigenartige indische Version der Evangeliumsgeschichte von Lazarus dar, und ihre ethische Lehre über den Vorzug der Liebe vor der Rache und dem Hass steht gleichzeitig Seite an Seite mit den neutestamentarischen Lehren Jesu über die Übermacht der Liebe und Barmherzigkeit gegenüber der Sprache des Hasses und der Gewalt sowie der Rache.38 Der indische Interpret Deshpande sieht Savitri in seiner Lesart als Inkarnation Savitri, 47 f. In der Geschichte tauchen immer wieder ethische Lehren auf, die bis hin zur Gerechtigkeit für alle Geschöpfe der Welt reichen: »Es ist die ewige Pflicht der 37

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Savitri

der gleichnamigen Göttin, die auf die Welt kam, um das Dharma zu retten. Es handelt sich hier um die höchste indische ethische Lehre (in einer solchen Form finden wir sie nur noch im Buddhismus und dem Jainismus) vom Nichtschaden im Verhältnis zu jedem Lebewesen, Mitgefühl gegenüber Feinden und letztlich Agieren ohne Gedanken auf Entgeltung. Doch kommen wir zur Schlüsselfrage dieser Geschichte zurück. Warum musste Savitri ihren Mann ins Leben zurückholen? Warum konnte Satyavan in seinem Tode – das heißt im Tode eines gerechten Menschen, dem im Leben nach dem Tode keine karmische Strafe drohte, da er als Sterblicher unbefleckt war – nicht im Bereich der Toten gelassen werden? In seiner Deutung der Geschichte von Savitri geht der indische Interpret Subhash Anand vielleicht einen Schritt weiter als einige andere Interpreten. Für ihn ist Savitris Tat eine einfache, doch gleich­ zeitig äußerst subtile Tat der Liebe, die den Tod überwindet.39 Das ist jedenfalls ein starker Gedanke. Wie ist es möglich, dass im Kern der altindischen Religiosität selbst, in der doch (mit einigen lichten Ausnahmen wie etwa der Rolle der Gargi Vacaknavi – als weise Schiedsrichterin in den Brahmodyas – oder theologischen Diskussio­ nen in den Upanishaden) durchweg die brahmanische maskuline Logik dominiert, ein solcher Gedanke aufkeimt? Die Antwort ist in der verborgenen matrixialen Logik der Geschichte von Savitri versteckt. Meiner Meinung nach ist ihre Botschaft ihrer Zeit voraus und offenbart sich uns noch heute in einer völlig eigenartigen Version eines alten Mythos aus dem (vor)vedischen kosmischen Zyklus. Der Mythos, dem Savitri die Richtung gibt, ist eine einzigartige Tat eines Sterblichen-Unsterblichen (Savitri in ihren beiden Rollen: es scheint, wie auch zahlreiche Interpreten unterstreichen, dass Savitri gleichzei­ tig Sterbliche und Inkarnation der Göttin ist), die ein für allemal eine kosmische Ordnung herstellen will, die auf Gerechtigkeit, Liebe und Frieden basiert. Einzig Savitri kann als Frau diese kosmische Konstellation verstehen und sie mit ihrer außerordentlichen Einsicht und Empfindung in die verborgene Logik der Verbindung von Leben und Tod in der Liebe auch verwirklichen. Einzig die Liebe kann den Menschen Unsterblichkeit (amrita) bringen. Gerechten, den Geschöpfen keinen Schaden zuzufügen, weder in Worten noch in Taten oder Gedanken, sondern ihnen freundlich zu helfen.« (Ebenda, 31). 39 Subhash Anand, Story as Theology: An Interpretative Study of Five Episodes from the Mahābhārata (New Delhi: Intercultural Publications, 1996), 117 ff.

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Antigone / Savitri

Um diese besondere und einmalige Rolle von Savitri als Hel­ din und gleichzeitig Erlöserin zu verstehen, ist ihre Tat in einen etwas breiteren kosmisch-mythologischen Rahmen einzuordnen. Doch kehren wir zur Ausgangsfrage zurück! Warum musste Satyavan zurück ins Leben geholt werden? Satyavan und Savitri sind ein Paar, das ein Leben voller Hingabe, gegenseitigem Respekt und Gewo­ genheit, Dharma, lebt in der Beziehung zwischen Mann und Frau verwirklicht. Die Prophezeiung, die Satyavan, der Wahrheit ergeben, nur noch ein Jahr zu leben bemisst, ist ungerecht und Savitri kann sie nicht akzeptieren: wie Deshpande feststellt, »[d]ies kann nicht als ewige Tatsache der Existenz akzeptiert werden.«40 Es scheint, dass Savitri geboren (oder auf die Erde inkarniert) wurde, um das Leid und die Trauer zu überwinden und einen Weg der Hoffnung aufzuzeigen. Darin ist ihre Rolle der Rolle des Jesus (oder, wenn man so will, Joschua) ähnlich – als desjenigen, der imstande war, den Menschen die Vormacht der Liebe und Hoffnung über den Hass aufzuzeigen und gleichzeitig das Versprechen der Unsterblichkeit zu überbringen. In einer mehr symbolischen Interpretation, die unter indischen Interpre­ ten häufig ist, ist Savitri als der Genealogie der Sonne zugehörig (hier stehen die vedischen Götter Surya und Savitar im Vordergrund) jenes Licht des Geistes, das die Finsternis des Unwissens, der Unwahrheit und des damit verbundenen ewigen Leids, Unglücks, auch des Hasses zwischen Menschen besiegen kann. In diesem Element ist Savitri mit der Macht der Kenntnisse und dem damit zusammenhängenden Glauben verbunden, der als einziger zur Überwindung des Unwissens führen kann. Sri Aurobindo beschrieb ihre kosmische Genealogie und Botschaft in seinem berühmten Gedicht mit folgenden lobprei­ senden Worten, die sie nun auf einzigartige Weise in den Bereich des Göttlichen/Mütterlichen stellen. Aurobindos Bezeichnung von Savitri umfasst alle vorhin erwähnten Elemente und verbindet sie mit einem tiefen philosophischen, kosmologischen und theologischen Sinn, für den man selbst in der indischen Tradition schwer eine Entsprechung findet: Ruhig ward ihr Antlitz und Mut hielt sie stumm. Allein ihr äußeres Selbst litt und kämpfte; Selbst ihre Menschlichkeit war halb vergöttlicht: Ihr Geist ward offen für den Geist in allen, 40

Deshpande, The Ancient Tale of Savitri, vi.

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Savitri

Ihre Natur fühlte alle Naturen als die eigene. Abgesondert im Innern lebend, trug sie alle Leben in sich; Abseits von allem trug sie in sich die Welt: Ihre Furcht war eins mit der großen kosmischen Furcht, Ihre Stärke war gegründet auf den kosmischen Mächten; Die Liebe der universalen Mutter war die ihre. An des Lebens angegriffenen Wurzeln dem Übel begegnend, Ihr eigenes Unheil als persönliches Zeichen (…)41

Aurobindo wusste in diesem außerordentlichen Passus seines Gedichts ganz genau, dass Savitri – nun bereits in ihrer göttlichmenschlichen Gestalt – Trägerin der ältesten genealogischen Ord­ nung ist – das heißt der uralten oder archaischen Ontologie der Liebe, die aus dem Keim des ursprünglichen Seienden hervorgeht, das noch vor der Spaltung in Sein und Nichtsein war, in Gut und Böse, Leben und Tod, sogar in Göttliches und Menschliches. Savitri, die in sich die gesamte Natur spürt, wurde auf die Welt gesandt, um ein neues Geschlecht von Menschen zu begründen, die aus diesem Keim der ursprünglichen Liebe existieren, und eben das macht ihre Liebe aus, wie unser indischer Poet sagt, Liebe der universalen Mutter. Das ist ein origineller Gedanke, der hier nicht nur auf das vorvedische, vedische oder postvedische Zeitalter beschränkt werden kann (etwa SamhkyaYoga), sondern Savitri wird darin als Bringerin von Gerechtigkeit und Hoffnung in diese Welt verstanden und dargestellt. Bei der erwähnten Geschichte ist es jedoch wichtig, noch zwei Aspekte zu beachten. Erstens, dass das, was Luce Irigaray mit Geschlechtsunterschied und (göttlichen) Paaren bezeichnet, in der alten indischen Religiosität bereits in göttlichen Paaren dargestellt wird, wie unter anderen Brahma und Savitri (auch Yama und Yami sind eng verbunden mit dem, was im Vordergrund meiner Analysen der Antigone steht). Es scheint, dass die indische Religiosität des ältesten Zeitalters (d.h. einschließlich der vorvedischen Kulte und shaktistischen Traditionen, und zwar nicht bezüglich der gleichzeiti­ gen brahmanischen Ideologie und deren maskuliner Genealogie) eng 41 Sri Aurobindo, Savitri: Eine Legende und ein Symbol (Wiesbaden: 2010). S. Sri Aurobindo Digital Edition: https://auromaa.org/sri-aurobindo-ru/workings/sa/28 29/savitri_g.pdf.

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Antigone / Savitri

verbunden ist mit der Aufgabe der Erlangung einer geschlechtlich bestimmten Identität durch die Religion. Somit ist sie in unmittelba­ rer Nähe zum Ideal der Gerechtigkeit, das ich vorschlagen möchte. Zweitens ist auch zu beachten, dass als König Aśvapati sich ein Kind wünschte und die Göttin Savitri mit einem Lied über sie verehrte, er eine Tochter bekam. Luce Irigaray glaubt, dass Töchter in kosmischen und generationellen Ordnungen eine besondere Rolle spielen: es sind Frauen, aus Frauen geboren, und somit Trägerinnen einer anderen geschlechtlichen Genealogie in Vergleich mit Männern; einer, die Männern nicht zugänglich ist.42 Die Prinzessin-Göttin Savitri stellt zweifelsohne dieses genealogische Element dar. Dann bestehen hier noch andere Genealogien, die in den Verwandtschaftsregeln vorge­ stellt sind, denen Savitri unterlag (einige von ihnen wirkten analog zu Antigone und wurden als blutschänderische Beziehungen gebrand­ markt),43 und trotzdem verbindet die Autonomie ihrer Handlungen sie mit der Autonomie der Argumentation der wesentlichen upanis­ hadischen Frauen, wie etwa der schon erwähnten Gargi Vaçaknavi aus der upanishadischen theologischen Tradition. Nicht zuletzt jedoch – und das wird hier mein nächster Ausgangpunkt sein – ist die Legende von Savitri noch von ähnlichen kosmischen Beziehungen oder kosmischen Symbolen geprägt wie der religiöse Hintergrund der Antigone. Somit kann noch ein Schritt weiter gegangen werden. Nach Meinung von Asko Parpola ist Savitri als Göttin und Tochter der Sonne (Gott Savitar) »mit der ersten Morgenröte« verbunden. Sie nennt sich Prasavitri – nach ihrer Rolle der »Gebärerin, Mutter,

42 S. Luce Irigaray, To be Two (New York: Routledge, 2001), 34: »[…] a woman gives birth to a woman«. 43 S. Parpola, »The religious background of the Savitri legend«, 200. Eine mögliche Interpretation dieser Geschichte ist natürlich, dass in ihr die Praxis der Verbrennung von Witwen nach dem Tod ihrer Ehemänner nachhallt (sog. Ritual satī). Dieser Interpretation könnten die vielen lobenden Worte einer treuen und hingebungsvollen Ehefrau über ihren Mann gut dienen. Aber der Gesamtrahmen der Geschichte, der die besondere Rolle der Frau/Göttin im Prozess der Rückkehr Satyavans aus dem Reich der Toten in den Vordergrund stellt, und ihre gemeinsame Verortung im Rahmen der Logik der göttlichen Paare und des Zusammenwirkens des männlichen und weiblichen Prinzips nehmen dieser Interpretation den potentiell führenden Platz in der gesamten Geschichte und bewegen sich in ihrem kommunikativen Wesen sogar in die entgegengesetzte Richtung zu dem oben erwähnten Ritual, das mit den Forderungen verbunden ist, die aus dem späteren hinduistischen Milieu der exklusiven religiösen Vorherrschaft der Männer stammen.

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Savitri

die Nachkommenschaft schenkt«.44 In dieser Rolle besiedelt sie die Schwelle zwischen Nacht und Tag, zwischen dem Noch-nicht-Leben und dem Leben, zwischen Sterben und Erschaffung/Auferstehung, mit Weiblichkeit und Männlichkeit, vertreten in ihren verschiedenen Rollen, doch zweifellos mit einer starken Botschaft der Zusammen­ arbeit zwischen den Geschlechtern in diesem kosmischen Spiel des Entstehens und Erhaltens des Lebens.45 Ebenda, 197. In diesem Zusammenhang sollte man sich die Interpretation von Savitri des bereits erwähnten Asko Parpola, eines der größten lebenden Indologen, in Erinnerung rufen. In seiner oben erwähnten Interpretation von Savitri hat Parpola alle Quellen, in denen sie vorkommt, überprüft und den komplexen historischen und mythologischen Kon­ text dieser Legende untersucht. Parpola äußert sich ob der Geschichte von Savitri äußerst kritisch über die Rolle der Geschlechter im Rahmen der altindischen Religion. Nach der Darstellung der Legende, wie sie aus den zahlreichen Quellen, in denen sie vorkommt, verstanden werden kann (Mahabharata ist auch seiner Ansicht nach das älteste Zeugnis dafür), wendet sich Parpola der Frage nach ihrer möglichen Rolle und Bedeutung im religiösen und kulturellen Kontext der damaligen Zeit zu. Parpola ist nicht bereit, die Legende von Savitri über die Rolle des Rituals der Savitri-vrata hinaus zu verstehen, das noch heute eines der wichtigsten Rituale indischer Frauen ist, die durch dieses Ritual der Witwenschaft entgehen wollen (das Ritual ist natürlich Teil der brahmanischen Tradition, die Frauen in ideologisch-religiöser Weise als wesent­ lich – d.h. ontologisch – den Männern untergeordnet versteht). Parpola weist Savitri in seiner ansonsten außerordentlichen indologischen Studie keine Rolle zu, die sie als Hüterin der alten kosmischen Gesetze sähe. Obwohl er die alten und vorvedischen sog. Proto-Śakti-Traditionen erwähnt (etwa auf S. 216), berücksichtigt er diesen Aspekt in seiner Interpretation nicht ausreichend oder lässt ihn an entscheidenden Stellen vermissen. Dies ist besonders interessant, weil es klar ist, dass die Göttin Savitri laut Parpola eine Variante der Göttin Durgā aus dem Nordwesten Indiens ist (die Region Madra im heutigen Rajasthan sowie auch Kaschmir). Parpola geht noch weiter und vergleicht Durga aufgrund der bezeugten Kontakte zwischen dem dama­ ligen Gebiet von Pakistan (der indischen Zivilisation) mit der mesopotamischen (sumerisch-akkadischen) Göttin Inanna/Ischtar, die laut Parpola wahrscheinlich als Vorbild für Durga diente (das kanaanäische Äquivalent dieser Göttin war Astarte). Hier besteht also eine äußerst interessante Verbindung zwischen den altorientalischen Kulten weiblicher Gottheiten (zu denen in der modernen feministischen Theologie auch die Figur der Maria gehört) und der altindischen Zivilisation und ihrer arischen (vedischen) Nachfolge (vgl. Parpola, 224 ff). Parpola wendet sich schließlich der Inter­ pretation von Savitri als prototypische Sati (satī) zu, die ihrem Ehemann in den Tod folgt (sahagamana, was so viel bedeutet wie »gemeinsam (in den Tod) gehen« oder »mitsterben«). Hier stützt er sich auch auf Herman Lommel (siehe S. 272), der Savitri vor allem in dieser Rolle sieht: als treue Ehefrau, die bereit ist, sich für ihren Mann aufzuopfern. Sati wurde tatsächlich schon zur Zeit Alexanders bezeugt, als Historiker, die ihn begleiteten, von dem Brauch einiger indischer Stämme berichteten, dass ihre Frauen nach dem Tod ihrer Männer freiwillig auf den Scheiterhaufen gingen (eine 44

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Antigone / Savitri

In ihrer Rolle wird Savitri als Person nun auch mit dem vergleich­ bar sein, was Luce Irigaray als künftige Aufgabe der Philosophie vorhersagt – keine solche, wie sie sich in den Werken männlicher Philosophen darstellt (Luce Irigaray erwähnt Sartre, Merleau-Ponty und Levinas), bei denen die Frau auf einen gewissen Zustand der Passivität und der Mann (oder zumindest der Philosoph) auf Akti­ vität reduziert ist. In ihrer Rolle stellt Savitri die althergebrachte kosmische generationelle und geschlechtliche Ordnung dar, ähnlich jenen Elementen der Tätigkeit der Frau, wie sie Luce Irigaray in ihrer Deutung der Antigone, und insbesondere in ihrem Das Mysterium Marias vorschlägt.46 Irigarays Interpretation der Maria wird auch später im Vordergrund stehen, doch schon bei Savitri öffnen sich uns äußerst interessante Parallelen, besonders noch, wenn man bedenkt, dass sich Irigaray in ihren Werken oft unmittelbar eben auf die indische Spiritualität beruft, und in diesem Rahmen besonders auf die alten Traditionen des vorvedischen Protoshaktismus, die auch beim Verständnis von Savitri im Vordergrund stehen.47 Irigarays Maria ist eine völlig neue kosmisch-theologische Figur der (Mit-)Erlöserin. Wie wir insbesondere später in diesem Buch sehen werden – an dieser Stelle weise ich bloß auf sie hin im Rahmen frühere Variante vor 1900 v. Chr. im weiteren Bereich des heutigen Nordindiens und seiner Umgebung war das Erhängen an einem Feigenbaum; daher wurde der Feigen­ baum oder Banyan-Baum in der früheren Kultur der Harappa-Religion als Baum des Todes identifiziert; 274). Ähnliche Bräuche gab es auch bei anderen indoeuropäischen Völkern jener Zeit (z. B. bei den Griechen, Germanen, Slawen und Skythen, die mit der Angst vor weiblicher Schande, Vergewaltigung und Entführung als Folge von Feldzügen und Niederlagen verbunden waren). Ich bin jedoch der Meinung – auf der Grundlage meiner Interpretation des Textes und der indischen Kommentare –, dass es unangemessen wäre, Savitri ausschließlich in diese Genealogie einzuordnen und sie damit ihres eigenen ontologischen und sexuellen Dispositivs zu berauben, das meiner Meinung nach eindeutig ihr eigenes ist. Meine Interpretation weicht auch an dem Punkt von Parpola ab, an dem Savitri mit inzestuösen Familienbeziehungen in Verbindung gebracht wird (ähnlich wie Antigone in J. Butlers Antigone’s Claim). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass für Parpola die instrumentelle Rolle von Savitri seine ansonsten bemerkenswerte Studie dominiert (303). 46 Luce Irigaray, Das Mysterium Marias, übers. von Angelika Dickmann (Hamburg: Les Éditions du Crieur Public, 2011). 47 Diese Traditionen erwähnt Irigaray besonders in ihrem Between East and West: From Singularity to Community (Delhi: New Age Books, 2005, 9: »To go back and meditate starting from practices and texts of Eastern cultures, especially pre-Aryan aboriginal ones, can show us a way to carry on our History.«). Interessanterweise beginnt sie dieses Buch mit dem berühmten Satz über die Undurchschaubarkeit des Menschen aus dem Ersten Chorlied aus Antigone.

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Savitri

des Nachdenkens über Savitri –, kann sie breiter als die gültigen dogmatischen Deutungen verstanden werden, obwohl auch diese rei­ che Möglichkeiten für Interpretationen und Reinterpretationen ihres (verborgenen) ontologischen Dispositivs bieten. Irigaray beginnt ihre Interpretation mit folgenden Worten: Der Engel lenkt die Aufmerksamkeit Marias auf die Tatsache, dass sie kein göttliches Kind, respektive einen Sohn zeugen kann, ohne ihrer Virginität treu zu sein: Vorbehalt der Seele, imstande, den ande­ ren aufzunehmen, ohne deswegen ihrem eigenen spirituellen Leben gegenüber untreu zu werden.48

Maria ist bei Irigaray eng mit dem Atem verbunden: wie wir schon aus alttestamentarischen Texten wissen, Gott schöpft mit Atem. In der westlichen christlichen Tradition wurde dem Atem wegen des Vorrangs des geistigen-metaphysischen Prinzip vor der Körperlich­ keit (und damit der maskulinen Genealogien, die den Atem fest in stabile geistige Kategorien von Platon bis hin zu Hegel und Hus­ serl immobilisierten) verhältnismäßig wenig Raum bemessen. Eine Ausnahme, die eine Erwähnung an dieser Stelle verdient, sind die christlichen Hesychasten. Unter ihnen steht an erster Stelle Gregorios Palamas. Seine mystische Physiologie (vgl. die indischen Chakren) und die Theorie des Atmens (vgl. Yoga) sind ohne Zweifel ein Quell der Spiritualität, der in der Geschichte allzu oft hintangestellt bzw. vergessen war. Einer dieser Punkte befindet sich im Brustkorb, und dieser Punkt wurde auch von Irigaray bei ihrer Maria erwähnt – wie diese in der Gestalt mit auf der Brust verschränkten Händen (und geschlossenen Lippen, die Stille und Nachdenklichkeit sowie Kon­ zentration veranschaulichen) nach ihrer Interpretation ihren vitalen Atem nährt und zugleich schützt, womit sie ihre Autonomie bewahrt und auch schützt.49 Deshalb ist auf einigen Ikonen, wie Irigaray luzide fetstellt, Jesus als Kind eben an dieser Stelle abgebildet ist. Das Atmen Irigaray, Das Mysterium Marias, 17. Vgl. auch zur Verbindung zwischen Maria und indischen Göttinnen in der Tradition des Shaktismus, 35 f.: »Wenn man Maria ihrer rein mütterlichen Rolle enthebt, wenn man sie als Frau betrachtet, ließe sie sich einer der Partnerinnen des indischen Gottes Shiva annähern, des Gottes, der unserem Zeit­ alter entspricht«. 49 Irigaray sagt zu dieser körperlich-spirituellen Geste: »Die äußerst umfangreiche Ikonographie der Verkündigung zeigt die Szene bezogen auf den Körper Marias zen­ triert in Höhe des Brustbeins, das heißt des Knochens, wo sich einerseits die ersten sieben Rippen und andererseits die beiden Schlüsselbeine verbinden. (…) Und in Höhe dieser Stelle hält sie oft die Hände gekreuzt, als wolle sie dort einen Schatz 48

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Antigone / Savitri

ist bei Maria das, was sie mit dem gesamten Kosmos verbindet, ihr Atmen »verbindet ohne Unterbrechung das Subtilste des Kosmos und des Körpers mit dem Spirituellsten der Seele.«50 Das Anhalten des Atems kann somit auch im christlichen Rahmen die Möglichkeit bedeuten, diesen Atem, der sich im Körper in Liebe umwandelt, mit anderen zu teilen – und die Jungfräulichkeit der Maria (nun als geschützter Raum spiritueller Autonomie eines jungen Mädchens verstanden) ist für Irigaray der Stammcode dieses Prozesses. Bei Savitri, die ein asketisches Leben führte und vor ihrer Tat ein anspruchsvolles mediatives Jogi-Fasten mit Nachtwachen durch­ führte, das später unter dem Namen vata-savitri-vrata bekannt wurde, stand der meditative Atem im Vordergrund. Eben deshalb, weil sie in sich einen Vorrat an diesem vitalen Atem hielt, konnte sie bei Satyavans Tod (als der Todesgott Yama ihm mit seinen »Bindungen« buchstäblich den Atem aus dem Körper zog) seine Seele (den Atem) erlangen und ihm dadurch das Leben zurückgeben. Darin war ihre Bestimmung inbegriffen. Um abzuschließen und noch zum letzten Mal zu Savitri zurück­ zukommen: die Gerechtigkeit kann nur dort hergestellt werden, wo es Fürsorge und Mitleid in der Welt gibt. Das hat nichts mit dem Ritual sati (Witwenverbrennung) oder dem Heldentod tu tun, wie es später im Hinduismus durch die Tat des Abgangs in den Tod mit ihrem Mann verstanden wird (deshalb wird das Ritual auch »Sahagamana« genannt, d.h. wörtlich »gemeinsam (weg)gehen«). In diesem Ritual ist das althergebrachte kosmische Beachten des Geschlechterunterschieds bereits verloren. Deshpande sieht deshalb die Botschaft der Legende zu Recht im Sinne der Fleischwerdung der Göttin Savitri, die auf der Welt ist, um das Dharma zu retten. Für ihn ist Savitri das Symbol der Mutter Natur (prakriti), die nicht durch irgendeine philosophische Deutung zu verstehen ist (wie etwa durch die Ontologie der schon erwähnten Schule Samkhya-Yoga), sondern auf eine mehr primäre kosmisch-ethische Weise: als Sorge für das Leben, verschiedene Generationsordnungen, ihre Nachkom­ menschaft und üppiges Wachstum. Wie in jeder Tradition der Welt ist auch in der indischen diese Sensibilität für den weiblichen Aspekt in der ursprünglichen Kosmogonie (vergleiche etwa Metis und Demeter bewahren, Ort der Transformation ihres vitalen Atems in einen Liebesatem, der spi­ rituell geteilt werden kann.« (Ebenda, 13 f.). 50 Ebenda, 12.

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(Alkestis)

sowie Kora in der griechischen Mythologie oder ähnliche nahöstliche Geneaologien) später verlorengegangen beziehungsweise wurde von weitläufigen Ablagerungen brahmanistischer Ideologie und ihrer Version des Dharma, der die Unterwerfung und Unterdrückung der Frauen zugrunde liegt, überlagert. Savitri ist somit für uns eine kosmische-göttliche Figur des höchsten Vertrauens in die Liebe und ihre Kräfte, die sich über den Tod selbst erstreckt, (Mit-)Erlöserin und Hoffnungsbringerin in den Bereich jenseits des Paars Leben und Tod, oder, wie Deshpande sagt: »Sie hat dabei etwas Neues auf dieser Erde geschaffen.«51

(Alkestis) Schließlich möchte ich in diesem Kapitel an die griechische Heldin Alkestis anknüpfen, die in ihrer scheinbar paradoxen und schwer begreifbaren mythologischen und gesellschaftlichen Rolle das Ver­ bindungsglied im Verhältnis zwischen Antigone und Savitri sein kann. Während Antigone mit ihrem Selbstmord die ungeschriebenen Gesetze schützt und mit dieser Tat den Nullpunkt der Ethik herstellt, gibt auf der anderen Seite Savitri als Frau ihrem Mann das Leben zurück und sichert dadurch Nachkommenschaft. Antigone und Savitri befinden sich ganz an der Grenze zwischen Leben und Tod: Antigone übertritt diese Grenze, und Savitri kehrt von dessen Rand ins Leben zurück. Alkestis' Platz ist gleichzeitig neben Antigone und Savitri, denn sie stirbt in einer Art geheimnisvoller Selbstopferung und wird gleichzeitig wieder lebendig bzw. kommt ins Leben zurück (doch nicht gänzlich, wie wir sehen werden). Wir können sagen, dass neben Antigone gerade Alkestis ein Beispiel einer griechischen Heldin ist, die aus den höchsten kosmisch-ethischen Prinzipien heraus agiert und deren Tat (ihr Tod für ihren Mann und die damit verbundene Ontologie von Leben und Tod) durch das ansonsten idiosynkratische Drama von Euripides trotzdem eine tiefere Botschaft anspielt, als wir es uns auf den ersten Blick bereit sind zuzugeben. Alkestis war eine Tochter des berühmten Königs Pelias. Pelias ist mit der Geschichte vom goldenen Vlies verbunden, denn er war es, der Jason geschickt hat, diesen wertvollen Schatz zu holen. Nach Jasons 51

Deshpande, The Ancient Tale of Savitri, 44.

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Antigone / Savitri

Rückkehr trug Medea seinen Kindern auf, ihn mit einem magischen Verfahren zu töten, um ihm dadurch die Jugend zurückzugeben. Doch der Plan der Medea war eine List, denn die Kinder von Pelias kochten ihren Vater tatsächlich im Kessel, doch er bekam nicht seine Jugend zurück, sondern wurde getötet. Die Einzige, die dabei nicht mitmachte, war eben seine Tochter Alkestis. Es scheint, dass Alkestis bereits dadurch zeigte, dass sie selber diese Verletzung der Grundsätze der kosmischen Gerechtigkeit sowie der ihr unterworfenen Gesetze von Leben und Tod nicht hinnehmen würde. Alkestis gilt eben deshalb als die Mitfühlendste unter Pelias' Kindern. Einer der Argonauten war auch Admetos, der König von Pherai und Mann von Alkestis. Auch seine Geschichte ist mit den Gesetzen von Leben und Tod verbunden. Admetos hatte nämlich an seinem Hof den Gott Apollo zu Gast, der damals vom Olymp vertrieben wurde: Apollo tötete die Kyklopen – als Zeichen seiner Vergeltung dafür, dass Zeus Apollons Sohn, den Gott-Heiler Asklepios tötete, der die Toten zurück ins Leben bringen konnte und der eben von Zeus' für ihn von den Kyklopen geschmiedeten Blitzen getötet wurde. Da ihm Admetos eine Bleibe anbot, versprach ihm Apollon für seine Gastfreundschaft eine reiche Belohnung – vielleicht sogar Hilfe, um unsterblich werden zu können. Als Admetos Alkestis zur Frau bekam, beleidigte er Apollons Schwester Artemis (indem er bei der Hochzeit nicht die Opferung ihr zu Ehren darbrachte) und zog sich damit ihren göttlichen Zorn zu, weshalb sie als Vergeltung für die Kränkung Admetos’ Tod verlangte. Hier beginnt dann das Drama von Euripides. Die Moiren entschieden damals, dass Admetos sterben müsse. Da ihm jedoch Apollon einen Gefallen versprochen hatte, waren die Moiren bereit nachzugeben, doch anstatt Admetos forderten sie nun ein Ersatzopfer: »Dem Pheressohn, den ich den Moiren klug / Entwandte, und sie willigten darein, / Admetos könne seinem frühen Tod entfliehn, / Wenn sich ein anderer für ihn opferte.«52 Hier tritt Alkestis ins Spiel ein. Weil Admetos zuerst ohne Erfolg versucht, seine betagten Eltern zu überzeugen, dass entweder seine Mutter oder sein Vater in den Tod an seiner statt eintreten, bietet sich für den Tod seine Frau an. Alkestis entschließt sich, so ihren Mann zu retten. Doch Alkestis ist auch Mutter: sie hat einen Sohn und eine Tochter. Deshalb fordert sie vor ihrem Tod bzw. ihrer Opferung von ihrem Mann, unbedingt Euripides, Helena; Ion; Die Phönikerinnen; Alkestis: vier Tragödien (Zürich/Mün­ chen: Artemis, 1979), 321.

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(Alkestis)

für die Zukunft ihrer Kinder zu sorgen (königliche Ehre für den Sohn und eine geeignete Verheiratung der Tochter, sodass beide Herrscher werden). Sie fordert von ihm auch, nach ihrem Tod – wieder zum Schutz der Kinder – niemals eine andere Frau ins Haus aufzunehmen: »Du mußt von heute ihre Mutter sein«, sagt sie am Ende zu ihm und geht in den Tod.53 Das Drama endet so, dass der Held Herakles nach dem Tod von Alkestis den Wächter Hades und somit auch den Tod überwindet und Alkestis zurückbringt, doch schweigend und unkenntlich verschleiert. Alkestis kommt so aus dem Tod ins Leben zurück. Die Interpreten verstehen Alkestis' Taten unterschiedlich. Ich möchte Svetlana Slapšak hervorheben, die in ihren Taten und Worten den politischen Akt der Herstellung bzw. Selbstkonstituierung als Gemahlin und Bürgerin sieht. Wie sie sagt: Der unnatürliche Wunsch eines Bürgers, ein vom Schicksal bestimmtes Leben zu verlängern – und dieses Bestreben ist für einen Griechen eine Hybris, denn selbst Götter unterwerfen sich dem Schicksal –, wird von einer Frau korrigiert, die das Gleichgewicht herstellt. [...] Alkestis' Forderungen sind in Wahrheit die Aufstellung neuer Regeln und neuer Kriterien – die Rechte einer Ehefrau, die Rechte einer Mutter, die Rechte einer Frau auf volles Bürgerrecht.54

Admetos versuchte mit der Verlängerung seines Lebens das Schicksal zu überlisten, doch der Preis dafür ist schrecklich hoch: die Opferung und somit der Tod eines anderen Menschen, in dem Fall sogar der Mutter seiner Kinder. Neben der vorhin beschriebenen Forderung von Alkestis geht der meiner Meinung nach wesentliche Sinn dieses Dramas von Euripides (das von einigen in das Mischgenre von Komödie und Tragödie eingeordnet wird) aus dem folgenden Passus hervor – genauer gesagt aus dem Dialog zwischen Vater und Sohn, der den Vater gerade zum Ersatztod für ihn zu überzeugen versucht. Der Vater antwortet ihm wie folgt: Stirb nicht für mich, ich sterbe nicht für dich. Das Licht beglückt den Vater wie den Sohn. Die Nacht des Hades ist so lang, so lang, Das Leben kurz, doch voller Sonnenschein. 53 54

Ebenda, 340. Evripid, Alkestida (Ljubljana: SNG Drama, 2013), 21 (Geleitwort von S. Slapšak).

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Antigone / Savitri

Du selbst hast schamlos deinen Tod verjagt Und lebst noch über die bestimmte Frist Auf ihre Kosten! Schillst mich nicht als feig, Wo eine Frau den Feigling überwand, Für einen jungen Mann ihr Leben gab. Du hast dich schlau von jedem Tod geschützt: Du überredest jeweils deine Frau, für dich zu sterben, und beschimpfst die Deinen, wenn Sie dir verweigern was du selber scheust!55

Berücksichtigt man alle bekannten Elemente – Admetos' äußerst feige Listigkeit, die egoistische Berechnung, das Fehlen moralischer Scham und Frömmigkeitsgefühls oder die Beachtung der göttlichen Gesetze sowie freilich auch den Umstand, dass er alle an seine Frau gegebenen Gelübde bricht, steht noch ein Element vor uns, dass jedoch an Alkestis' Forderung und ihre Tat abknüpft. Eben deshalb kann sie als feministische Heldin gelten. Alkestis' Tat ist von kosmisch-ethischer Ordnung und dadurch mit dem von Anti­ gone und von Savitri vergleichbar: Admetos teilt nämlich mit seiner Geste viel mehr, wie sein scheinbar egoistischer Einfall zeigt, die in Wirklichkeit schon nur aus Angst geboren sein könnte – wenn sein Vater zu ihm sagt, dass er sich auf diese Weise die Unsterblichkeit ausbedingen könnte, trifft er damit in den Kern des Problems dieses außerordentlichen Dramas von Euripides. Alkestis schützt somit mit ihrer Tat nicht nur ihre Kinder, die ohne Vater bleiben würden, oder Admetos' Feigheit, sondern schreibt sich mit ihrer Tat – dem Tod für den anderen – in die Ordnung jener göttlichen und menschlichen Personen, Helden und Heldinnen ein, die damit nicht erlauben, dass irgendwas in diese Welt eindränge und die ungeschriebenen Gesetze von Leben und Tod, und damit Nähe und Treue, und in letzter Konsequenz von Liebe zerstörte. Deswegen konnte Platon im Symposion sagen, dass Alkestis ihr Leben aus der höchsten und absoluten Liebe zu ihrem Mann gab, doch ein solcher Gedanke wäre in seinem Fundament antiethisch und destruktiv für das Denken des Geschlechterunterschieds und für die damit verbundene Achtung der geschlechtlichen und verbundenen familiären Ordnungen oder 55

Euripides, Alkestis, 359.

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(Alkestis)

Genealogien.56 Alkestis hat – als Frau, Mutter und Bürgerin – in Wirklichkeit ihr Leben für die Liebe gegeben – ihre Forderung, die nun hinter dem Schleier des Aussehens (ihr Schleier) und der Sprache oder Stimme (Stille) verborgen ist, kommt eben aus dem Überfluss der Liebe. Doch sie, die alleredelste Gattin,57 ist nach ihrem Auferstehen aus dem Grab und der Rückkehr ins Leben nicht mehr der Person gleich, die wir im Drama kannten: sie hat den Tod berührt und als solche ermahnt sie nun Admetos, der nach der erneuten Begegnung mit ihrer Unheimlichkeit als Mensch verloren ist. Alkestis ist somit eine Mahnung, und für uns Normalsterbliche eine furchterregende (unheimliche) Erscheinung oder ein Liebesgespenst.58   ***   Nun kommen wir zum Abschluss des Eingangskapitels über Anti­ gone, Alkestis und Savitri.59 Wir sind Einwohner einer Welt, in der uns ein Überfluss von ungerechtem Leid, Unheil und Tod begegnet. Die Aufgabe von uns als Menschen, in unseren männlichen und weiblichen Identitäten, besteht darin, in unserem Inneren (über ethi­ sche Gesten wie Liebkosung und Mitgefühl) und in unseren intersub­ S. Platon, Symposion, 179b. Vgl. Euripides, Alkestis, 376. 58 Tine Hribar widmet in seinem Buch Nesmrtnost in neumrljivost I [Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit] (Ljubljana: Slovenska matica, 2016) gerade der Alkestis ein wichtiges Kapitel. Auch für ihn sind Alkestis und Antigone zweifelsohne Heldinnen und damit »Trägerinnen einer neuen Ethik« (138). Dennoch stellt Hribar Antigone in ethischer Hinsicht über Alkestis, da erstere ihre ungeborenen Kinder aufgibt, während Alkestis ihre Kinder zunächst durch Selbstaufopferung zurücklässt, posthum gewisse Gegenleistungen für sie von ihrem Ehemann fordert und schließlich auf die besondere Weise des ironischen Dramas von Euripides in diese Welt zurückkehrt. In Hribars Interpretation der Alkestis steht weniger das Thema der sexuellen Differenz als vielmehr die Frage der Ethisierung der antiken Religion in der Blütezeit der Sophistik, des Sokrates, Platons und der großen griechischen Tragödien dieser Zeit im Vordergrund. 59 In den vorliegenden Kontext und insbesondere in die späteren Ausführungen zum Thema sexuelle Gewalt im biblischen Kontext würde auch die altrömische Geschichte der Lucretia (traditionell 509 v. Chr. angesiedelt) passen, die sich nach ihrer Vergewaltigung durch Sextus Tarquinius (Sohn des tyrannischen etruskischen Königs Tarquinius Superbus) mit einem Messer direkt ins Herz stach und starb. Die Geschichte, die natürlich alle möglichen Interpretationen zulässt, weist jedoch auf eine genealogische Verwandtschaft mit der Legende der Schönen Vida hin, der wir im nächsten Kapitel begegnen werden. 56 57

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Antigone / Savitri

jektiven Beziehungen einen gastfreundlichen Ort für andere/Gäste/ Feinde, einschließlich der tierischen anderen in dieser Welt zu sichern. Nur durch eine solche Fürsorge kann die kosmische Gerechtigkeit in den Räumen zwischen uns erscheinen – und die heilige Schwelle zwischen Göttern und Sterblichen, Natur/Erde/Unterwelt/Welt und Himmel beleben und ethisch übertreten.60 Ich möchte deshalb dieses Kapitel mit einem wunderbaren Passus von Luce Irigaray abrunden, der eng an das anknüpft, was ich im Kontext der Gerechtigkeit für Mütter und Kinder, Brüderlein und Schwesterlein dieser Welt erwähnte, mit Blick auf die Gerechtigkeit, der in der heutigen Welt am auffälligsten fehlt oder verborgen ist: Es genügt schon, auf die ungeschriebenen Gesetze zu hören, die der Natur selbst eingeprägt sind: Respekt vor dem Leben, seiner Schöpfung, seinem Wachsen und Gedeihen und Respekt vor der geschlechtsspezifischen Transzendenz unter uns – zunächst unter den Kindern derselben Mutter, und allgemeiner unter allen Kindern unserer menschlichen Spezies, unserer Mutter Natur, deren Kinder wir am Rande oder jenseits aller mehr oder weniger opferungsbezogenen soziologischen Interpretationen sind, die uns aufspalten.61 Deshpande, The Ancient Tale of Savitri, 26 ff. Irigaray, In the Beginning, She Was, 137. Für die Frage der Opfergenealogien, des Verhältnisses zwischen Kindern und Eltern und der damit verbundenen Gewalt gibt es wohl kein radikaleres Beispiel als die Geschichte von der toten Ljudmila, die Lojze Kovačič aus den Motiven der slowenischen Bienenstockstirnbretter in Worte gefasst hat (Lojze Kovačič, Zgodbe s panjskih končnic, Ljubljana: Mladinska knjiga, 1993). In dieser Geschichte begibt sich Kovačič über alle Grenzen und überschreitet tatsächlich die Grenze zwischen Leben und Tod in beide Richtungen, indem er die Motive aller drei heiligen Frauen – Antigone, Savitri und Alkestis – miteinander verbindet. Die Geschichte handelt von der dunkelsten Stunde matrixialer oder mütterlicher Genealogien und dem Bruch oder der radikalen kosmi­ schen Disruption innerhalb dessen, was Irigaray in mehreren Werken als das heilige oder auserwählte Band zwischen Mutter und Tochter hervorhebt. Auf bemerkenswerte Weise gelingt es Kovačič, die innere, ja dämonische Logik des Bruchs dieses heiligen Bandes zu zeigen: Ljudmila war ein schönes Mädchen, das bei ihrer Mutter lebte. Sie wurde zu Hause von dieser wegen ihrer Liebe zu Jurij schwer misshandelt. Als Ljudmila mit Jurij – der jenseits von Gut und Böse lebte – schwanger wurde, ermordete ihre Mutter die Schwangere (!), indem sie sie in siedendes Wasser warf. Nach der Beerdigung des unglücklichen Mädchens grub Jurij die tote Ljudmila aus und erweckte sie durch einen sexuellen Akt zu einem neuen scheinbaren Leben. Sie lebte fast wie gewöhnliche Menschen, und in ihr wuchs ein Kind heran. Doch ihre grausame Mutter, die erfahren hatte, dass Ljudmila wieder am Leben war, schickte einen Priester nach ihr. Als Ljudmila bei seinem Besuch erkannte, dass sie erkannt, verraten und entlarvt worden war und dass ihre Mutter sie immer noch mehr als alles andere auf der Welt 60 61

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(Alkestis)

Es besteht also nur eine Transzendenz: die Transzendenz der kosmi­ schen Ordnung, die allen Kulturen und allen Einzelnen ihre Identität, ihren einzigartigen, geachteten und gastfreundlichen Ort im Kosmos sichert sowie Gerechtigkeit wahrt und gewährt.

tot sehen wollte, zog sie das Leichenhemd an und ging freiwillig zurück in den Tod. Sie legte sich in eine große Brottruhe, mit der der Priester zu ihr kam. Er nagelte ihren neuen Sarg zu und brachte sie zu ihrer Mutter, die in ihrem unerschöpflichen Hass anordnete, dass der Sarg dieses Mal gut mit Nägeln verschlossen werden sollte. Als die tote Ljudmila zu ihrem neuen Grab gebracht und zum letzten Mal in die Erde gelegt wurde, ertönte aus dem Sarg der freudige Schrei eines neugeborenen Babys. Hier endet Kovačičs bewegende, aber tiefgründige Geschichte ... Wie kann man diesen radikalen Mangel an Mitgefühl und diesen Hass auf das neue Leben, die Liebe, die Fruchtbarkeit und das Glück eines anderen Menschen erklären oder zumindest verstehen? Kovačič scheint gewusst zu haben, dass es keine Antwort gibt: Deshalb bewegt sich sein Denken in wenig besuchten Bereichen des Denkens, in denen man sich leicht verirren oder in Richtungen abschweifen kann, die noch gefährlicher sind als die Geschichte selbst. Aber das Wesentliche der dunklen Geschichte unseres literarischen Meisters liegt gerade im letzten Gedicht: Nichts, was zu dieser Welt gehört, kann den Wunsch nach einem Kind und der Liebe überwinden. Die Grausamkeit scheint zu triumphieren, aber sie triumphiert nur für diejenigen, die in einer Welt leben, die durch Dichotomien wie Gut und Böse, Leben und Tod, Liebe und Hass definiert ist. Doch Kovačičs Ljudmila (ihr Name: die Menschenmilde!) und ihr Auserwählter Jurij – (der Heilige?) Georg – sind nicht von dieser Welt, denn sie wohnen in einem Reich des Heiligen, das sich zwischen Sterblichen und Unsterblichen, Menschen und Göttern erstreckt. Ihre Wahrheit und ihre Verbundenheit ist stärker als Leben und Tod, ihre Liebe ist stärker als die Grausamkeit von Müttern, Vätern, Eltern und den Bewohnern der Welt.

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Metis / Schöne Vida (Requiem für Lampedusa)

Introitus Requiem aeternam dona eis, Domine. Et lux perpetua luceat eis.   Ein Jahr, nachdem 366 an der Küste von Lampedusa starben, haben die Geflüchteten immer noch keine andere Wahl, als auf der Suche nach Schutz ihre Leben zu riskieren.62   Leben ist Tod. Und Tod ist auch ein Leben.63   Eine Hommage an jenes Mitgefühl zu den Migranten, die sich aufzulösen und ohne inhärenten Bestand zu sein scheinen, wie der Mond im wogenden Wasser.64   Diese Symptomatologie ist ebenso geheimnisvoll wie Tränen. Auch wenn wir wüssten, warum wir weinen, in welcher Situation und was wir damit mitteilen (ich weine, weil ich einen Angehöri­ gen verlor, 62 Siehe: »One year after Lampedusa – NGOs call for EU action to prevent further deaths as sea«. URL: https://ecre.org/one-year-after-lampedusa-ngos-call-for-eu-a ction-to-prevent-further-deaths-at-sea/. 63 Hölderlins Schlussvers aus dem Gedicht »In lieblicher Bläue…« (Hölderlin, Gesammelte Werke, Bd. 2 [Gedichte nach 1800]; hrsg. von F. Beißner. Stuttgart: Cotta, 1953). 64 Guy Newland, Compassion: A Tibetan Analysis (London: Wisdom Publications, 1984), 57.

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Metis / Schöne Vida

das Kind weint, weil es verprügelt wurde oder weil man es nicht mag: es ist traurig, klagt, lässt sich bemitleiden – von einem anderen), so würde das noch nicht erklären, wieso die Tränendrüsen Wassertrop­ fen ausscheiden, die ins Auge fließen, und anderswo hin, etwa in den Mund oder in die Ohren.65 Aquamater /Nomen/ 1. erste Urfeuchtigkeit, die aus der Spaltung des kosmischen Eies in der altgriechischen Mythologie hervorgeht (dreiteilige Form von Phanes, Erikapaios und Metis), daher mütterliche Wassergottheit von Allem und Mutter von Athene, im Gegensatz zum populären Mythos, der Zeus als Herrscher, Vater und Mutter von Athene und der Welt bezeichnet.66

Kyrie eleison In einer Geschichte aus der slowenischen Volksüberlieferung, der originellen mythischen Ballade mit dem Titel Lepa Vida (Schöne Vida) sucht eine junge Frau und Mutter eine echte – oder absolute/bedin­ gungslose – Gastfreundschaft für ihr Kind (»komm, komm, ich helfe dir«) und ihre Familie; in Wirklichkeit jedoch wird sie, nur weil sie eine junge Frau ist, mit Gewalt in ein fremdes Land unter dem Vorwand der Gastfreundschaft gebracht. Die zentrale Botschaft dieses literarischen Motivs bezieht sich sowohl auf Einzelne als auch auf Kulturen, die Opfer von Drohungen oder Entführung (Kolonisierung) der Stärkeren werden und die persönlich, kulturell oder politisch unterlegen sind; im Grunde zeigt sie auf einen Mangel oder eine Lücke in der Struktur der Weltgemeinschaft sowie auf ihre gebrochenen Gesetze hinsichtlich Gerechtigkeit und Gastfreundschaft in irgendei­ nem Zeitalter bisher. Die Legende von der Schönen Vida, einer jungen Frau mit einem kranken Kind, stammt aus dem Mittelmeerraum und ist im frühen Mittelalter (zwischen dem 9. und dem 11. Jahrhundert) entstanden. Die Schöne Vida geht, aus reinem mütterlichem Wunsch, ihrem armen Kind zu helfen, an Bord des Schiffs eines ausländischen Kaufmanns, der ihr versprach, ihr eine Arznei für das Kind zu geben. Doch anstatt ihr die Arznei auszuhändigen, betrügt und entführt er 65 66

Derrida, The Gift of Death, 71 ff. Shé Hawke, Aquamorphia: Falling for Water (Carindale: Interactive Press, 2014), 1.

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Kyrie eleison

sie und bringt sie weit von zuhause weg. Als die Schöne Vida die schreckliche Wahrheit erkennt und ihr ihre fatalen Folgen bewusst werden (sie wird ihr Kind nie wieder sehen), wirft sie sich in einer der erhaltenen Versionen aus Verzweiflung über Bord und ertrinkt mitten im Mittelmeer. In Brezniks Ihan-Fassung, die 1898 niedergeschrieben wurde, lautet das Lied von der Schönen Vida an der Schlüsselstelle wie folgt: Was wirst du Kind tun, du wirst keine Mutter haben. […] Vida machte ein heiliges Kreuz, und sprang mitten ins Meer hinein.67

Die Geschichte von der Schönen Vida und ihrem heldenhaften Tod trägt jedoch viel mehr in sich, als wir vielleicht bereit sind zuzuge­ ben. Sie ist ein Ausdruck jenes mythologischen Denkens, das über die gängigen Erklärungen hinausgeht. Die Schöne Vida ist so ein Punkt besonderer mythologischer Bezeichnung, oder der Reaktion auf Unterbrechungen alter genealogischer Ordnungen (Mutter-Toch­ ter/Kind), die in der Geschichte von in ihrem Grunde gewaltsamen Weisen (Modi) des Wohnens zerstört wurden. Doch wie ist die Verbindung zwischen Weiblichkeit und Wasser? Diese Überlegung führt uns hier zuerst zur altgriechischen Göttin Metis. Metis war eine der ersten Okeaniden und laut einigen Überlie­ ferungen auch die erste der Liebschaften des Zeus. Doch Metis ist eine Göttin, die das frühe Schicksal mythologischer Auslöschung in der schlimmstmöglichen Form des göttlichen Kannibalismus (Theo­ phagie) ereilte. Als Folge dieser Geste kommt es zum Rückzug aus ihrer primären Mutterrolle ins Exil. Metis erlebt somit die ontologi­ sche und epistemologische Vertreibung. Zeus, die Gefahr für seine Zukunft ahnend, verschlingt sie schwanger – mit einer Tochter in der

Zur mythischen Geschichte von der Schönen Vida und ihren vielfältigen Motiven siehe die sehr umfangreiche Monographie von Irena Avsenik Nabergoj, Hrepenenje in skušnjava v svetu literature: motiv Lepe Vide (Ljubljana: Mladinska knjiga, 2010). Für die Ihan-Fassung, siehe 386 ff. Die Autorin definiert den Tod der schönen Vida als Heldentod einer entführten Frau (388 ff.) Vgl. auch Anmerkung 407 in Bezug auf den sog. »Jungfernsturz« (»Devin skok«), 390. 67

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Metis / Schöne Vida

Gebärmutter! – und gebiert selber Athena, ihre Tochter.68 Dadurch unterbricht Zeus in der frühesten Phase der griechischen Religion gewaltsam die grundlegende genealogisch-kosmologische Bindung der Mutter mit ihrem Kind bzw. ihrer Tochter (vgl. Demeter und Kora-Persephone) und begründet eine anti-matrixiale69 Logik im Kern des griechischen mythologischen Denkens selbst, sogar auf eindringliche Weise, indem er selber die Rolle der Mutter-Gebärerin übernimmt. Die neue Ordnung ist begründet und seitdem wissen wir von Metis fast nichts mehr. Ihr Schicksal ist dem der Erinnyen verwandt, die im Kontext der älteren mythologischen Zeit noch die Antigone begleiten konnten und später aus dem Bereich des Göttlichen völlig verschwunden sind. Ein Erbe dieses Geschehens ist freilich auch Kreon. Doch während Zeus zur fünften (olympischen) Generation der griechischen Götter gehört und nun allein herrscht in Begleitung der »nachträglich ausgedachten Töchter der ›olympischen‹ Götter«,70 so ist Metis eine Göttin, die noch unmittelbaren Kontakt mit der ersten Generation der Götter, mit dem ersten, uranfänglichen Zeitalter der Entstehung und des Aufkeimens der Welt hat. Metis ist somit das ursprüngliche feminine Göttliche, verbunden mit dem eigentlichen Beginn der Entstehung der Welt oder der Kosmogonie. In einem Teil der altgriechischen Mythologie ist Metis mit der uran­ fänglichen Feuchte verbunden, die von der Spaltung des kosmischen Eis herrührt, und zwar in der dreifachen Form Phanes, Erikapaios und Metis. Davon sprechen alte orphische Theologien, die in einer ihrer Fassungen aus Chronos den Äther und das Chaos (als Ur-Wasser) ableiten, in denen das kosmische Ei aufkeimt, die Urform des ersten triadischen Gottheitsprinzips.71 Wie Shé Hawke sagt, die über die Zu diesem antimatrixialen Motiv und dem begleitenden Gedanken siehe mein Kapitel über die Unbekannte aus Bethlehem. Hesiod dichtet wie folgt: »Zeus, der König der Götter, machte als erste die Metis zu seiner / Lagergenossin. (…) Aber als die glanzäugige Göttin Athene gebären / sollte, da täuschte er dann mit List ihren Sinn / mit schmeichelnden Worten und barg sie in seinem Bauch« (Hesiod, Theogonie, übers. von Karl Albert, Sankt Augustin: Academia Verlag, 1998, 117 f.). 69 Zu diesem Begriff siehe weiter unten. Der Ausdruck bezieht sich auf die Verdrän­ gung der Ur-Matrix durch eine neue, gewaltbasierte Genealogie. 70 Slapšak, Antična miturgija (Ljubljana: Beletrina, 2017), 438. 71 Zu dieser Genealogie und der Frage der Datierung antiker Quellen im Zusammen­ hang mit der orphischen Theologie siehe The Presocratic Philosophers, hrsg. von G. S. Kirk, J. E. Raven und M. Schofield (Cambridge: Cambridge University Press, 1999), 24. Dass das Chaos mit dem Wasser verbunden ist, lässt sich aus den Varianten dieser Kosmogonie ableiten, in denen das Wasser als Quelle aller Dinge erscheint, noch vor 68

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Kyrie eleison

Überlegung über die kommende Göttin ihre Rückkehr erwarten will, erblickt sich so Metis als mütterliche »Wassergottheit von Allem und Mutter von Athene, im Gegensatz zum populären Mythos, der Zeus als Herrscher, Vater und Mutter von Athene und der Welt bezeichnet.«72 Deshalb meint auch Walter F. Otto zu Recht in Die Götter Griechenlands, »in der vorgeschichtlichen Religion herrscht das weibliche Wesen.«73 Und Marcel Detienne sagt zu diesem Mythos: Die orphischen Götter sind sehr ungewöhnlich, beginnend mit dem Erstgeborenen, Urahn, gleichzeitig Mann und Frau, bekannt unter dem Namen Phanes-Metis oder Protogonos […] oder auch Erikapaios. Doch hier ist auch Zeus, in der fünften Ordnung, der […] nach Rat der Nux die Erstgeborene mit seinem Leib ersetzt, und macht dabei sich selbst zur Matrix, die Schale des Eis, das somit Alles umfasst.74

Metis ist somit die Frühform dessen, was Luce Irigaray in ihren Werken unter dem Begriff Matrizid verstand, eine Versetzung und Annahme des ursprünglichen Orts der Geschlechtsdifferenz durch eine hartherzige Patriarchie, und dadurch auch das Verschwinden der weiblichen genealogischen Ordnungen, die, wie wir gesehen haben, noch das frühere mythologische Zeitalter bestimmten.75 Wenn wir nun wieder zur Schönen Vida zurückkommen, stellen wir fest, dass ihr Tod also nicht natürlich ist. Er ist ein Selbstmord, der Entstehung des kosmischen Eis und des daraus geschaffenen Himmels und der Erde, vgl. auch Hesiod, Theogonie. 72 Hawke, Aquamorphia, 1. 73 Walter F. Otto, Die Götter Griechenlands (Frankfurt am Main: Klostermann, 1987), 38. Siehe auch: »Das verrät sich sehr deutlich in der Gesinnung. Und Frauen sind es auch, die den höchsten göttlichen Rang haben. […] Ein mütterlicher Zug geht durch diese urtümliche Götterwelt und ist ihr ebenso eigentümlich wie die Väterlichkeit und Männlichkeit der Homerischen. In den Urgeschichten von Uranos und Gaia, von Kro­ nos und Rheia, mit denen wir uns sogleich beschäftigen werden, stehen die Kinder ganz auf seiten der Mutter, und der Vater erscheint wie ein Fremder, mit dem sie nichts zu schaffen haben.« (Ebenda, ff.). 74 Marcel Detienne, Les Ruses de l'intelligence. La métis chez les Grecs, en collaboration avec Jean-Pierre Vernant, (Paris: Flammarion, 1989), 157. 75 Vgl. dazu E. Tzepelis und A. Athanasiou (Hsg.), Rewriting Difference: Irigaray and the Greeks, Albany, NY: SUNY Press, 2010 (siehe Kap. 6 von G. Schwab). Das Werk befasst sich zunächst mit der Orestie, dann mit Sophokles' Antigone und Elektra sowie mit dem Mythos von Demeter und Kore-Persephone. So ist für Luce Irigaray »Athene weder im Mutterleib gezeugt noch von einer Frau geboren, sie ist eine Gottheit, die im Kopf des Gottes der Götter gezeugt wurde […] Eine Phantasie des Göttervaters«. (87). Das Zitat bezieht sich auf ihr Buch Marine Lover of Friedrich Nietzsche, übers. von G. Gill (New York: Columbia University Press, 1991), 94−95.

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Metis / Schöne Vida

der irgendwie mit der Tat der Antigone verbunden ist. Er ist eine Verzweiflungstat, aber auch ein heldenhafter Tod, dessen Ziel es ist, – ein für alle Mal – ein gewaltsames Einbringen des Unrechts in diese Welt zu verhindern. Die Schöne Vida kann nicht erlauben, dass die grundlegenden kosmischen Gesetze (Leben als mütterliche Genealogie) auf so brutale Weise angegriffen oder verletzt werden (Kindesentzug, Unterbrechung der Mutter-Kind-Bindung…). Sie fordert mit ihrer Tat die Rückgabe eines ewigen Rechts, das ihrem Kind und der Familie – so wie zahlreichen Opfern im Mittelmeer und überall sonst – noch nicht sichergestellt werden kann, doch es bleibt die Hoffnung, dass es für andere in Zukunft gelten wird. Die frühen griechischen Göttinnen konnten noch Hüterinnen und Vertreterinnen ehrwürdiger Ordnungen sein, »durch die Eltern, Kinder und Geschwister mitein­ ander verbunden sind«.76 Diese Göttinnen konnten noch schwangere Mütter und ihre ungeborenen Kinder, Töchter und Söhne, Brüder und Schwestern in ihren ureigenen Geburts- und genealogischen Rechten schützen. In dieser Hinsicht ist die Tat der Schönen Vida ein Zeichen und trägt in sich einen Ausdruck, der sie mit dem Bereich des Göttli­ chen verbindet. Fassen wir daher für einen Augenblick das Leid und die zerronnenen Hoffnungen aller Mütter, Kinder und Männer, die im Mittelmeer, vor der Küste von Lampedusa ertrunken sind, in unsere Herzen und Gedanken; sie sind nur deshalb umgekommen, weil sie in das gelobte Land Europa kommen wollten. Doch Europa wollte ihnen keine Gastfreundschaft bieten. Doch ist denn nicht das Gegenteil wahr – dass das Recht imstande sein müsste, die Schwachen und Leidenden für immer zu schützen? Müsste denn die Gerechtigkeit nicht immer unsere bürgerlichen Gesetze übersteigen und den Menschen einen sicheren Weg zu ihrem Endziel ermöglichen?

Dies irae et offertorium Die urethischen Gedanken der althergebrachten Kosmologien (Ägyp­ tens und Mesopotamiens, anderer urtümlicher indoeuropäischer Kul­ turen sowie der übrigen Zivilisations- und Kulturgebiete, die durch die Weltgeschichte hindurch zu Unrecht in den Hintergrund gedrückt 76

Otto, Die Götter Griechenlands, 30.

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Dies irae et offertorium

wurden),77 haben wir vergessen, um neue Ontologien in der Ethik zu begründen und zu entwickeln. Diese Ontologien haben die Welt destabilisiert, die althergebrachten urreligiösen ethischen Maßstäbe unterdrückt und ins Vergessen geschoben sowie eine Welt gerechter Ungerechtigkeiten und ungerechter Gerechtigkeiten aufgestellt und eingeführt,78 die in kosmische, geschlechtliche, generationsmäßige und kulturelle Unterschiede nicht eingeweiht ist. In dieser Welt steu­ ert und führt das monosubjektive Ich sowohl die epistemologischen als auch die ontologischen Aufgaben. Unsere Götter bleiben entfernt und verborgen und wollen unsere Opfergaben – zahlreiche Formen von Mitgefühl und Gastfreundschaft, die wir ihnen anbieten – nicht mehr annehmen. Wir haben gesehen, dass in Sophokles' Antigone König Kreon gerade von den Erinnyen verfolgt und verflucht wird, deren Altar er mit seinen Taten geschändet hat: So sollst du also wissen, daß nicht viele Umdrehungen die Sonne wird vollenden, Bis du aus deinem eigenen Blut als Sühne Den Toten einen Toten hast geliefert, Dafür, daß du von droben warfst nach drunten Ein Leben schmählich in des Grabes Haus. Doch was den Göttern drunt ist, hältst du hier: Die grab- und grabesweihberaubte Leiche. Daran hast du nicht Anteil noch die obern Gottheiten. Das ist Vergewaltigung! Drum lauern dir der Unheilstifter Hades Siehe Enrique Dussel, Ethics of Liberation in the Age of Globalization and Exclusion (Durham/London: Duke University Press, 2013). In diesem Werk stellt Dussel die vier Stufen des »interregionalen Systems« chronologisch dar: das ägyptisch-meso­ potamische System, das indoeuropäische System (mit persischem, hellenistischem, indischem und mediterranem Zentren), das asiatisch-afrikanisch-mediterrane System (mit chinesischem, afrikanischem und russisch-byzantinischem Zentrum) und das moderne Weltsystem (mit einem Zentrum in Westeuropa und der »Peripherie« in Lateinamerika, Afrika, der islamischen Welt, Indien, Südwestasien und Osteuropa). 78 Ich beziehe mich hier auf Lewis R. Gordons Dichotomie zwischen »gerechter Ungerechtigkeit« und »ungerechter Gerechtigkeit« in Her Majesty's Other Children: Sketches of Racism from a Neocolonial Age (Lanham, MA; Rowman & Littlefield Publ., 1977), 166. 77

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Metis / Schöne Vida

Und die Erinyen auf, die göttlichen, Dich eben wegen dieser bösen Tat zu fassen.79

Das Verständnis dieser Welt prägt sein weiblicher kosmischer Cha­ rakter: alles, was die kosmischen Gesetze untergräbt, untergräbt nicht nur die heilige Ordnung von Leben und Tod, sondern verletzt auch die althergebrachte Ordnung der Gastfreundschaft – die Heiligkeit der heimischen Esstafel (vgl. Odyssee XXI, 28). Diese bezieht sich auf die Sorge für jene, die Obdach und Zuflucht in unserem Haus suchen, bei unserem heimischen Herd. In seiner Deutung der Antigone inter­ pretiert Heidegger den Herd als Sein: nicht unser Fremder, den wir nicht in unser Heim eingeladen und ihm Gastfreundschaft an unserer Tafel erwiesen haben, wir wurden vom Herd vertrieben (siehe das Kapitel 18 »Der Herd als das Sein«), um nun »außerhalb des Seins zu stehen«.80 Gerade unsere eigene Fremdheit, die Fremdheit unseres Seins, führt uns zur Nichtbeachtung des Lebens und des Seins des anderen, was ich nachfolgend näher erörtern werde. Die Erinnyen sind somit die höchsten althergebrachten Hüterinnen der kosmischen Genealogien – Genealogien von Leben und Tod, Gastfreundschaft und Generationsordnungen (Eltern und ihrer Kinder, Brüder und Schwestern).81 Wir haben diese Gesetze vergessen; wir haben auch die Verbindung mit natürlichen Kräften verloren, mit Erde und Wäs­ sern, mit Wind (Atem) und Feuer (Sonne) als Erzeuger und Hüter unserer Leben. Die heutige ungerechte Welt bräuchte einen neuen ethischen Maßstab. Schon seit den ersten Zeiten der Philosophiegeschichte suchen die westlichen Philosophen nach einer neuen Ethik. Durch eine Reihe von Versuchen führten die Bemühungen um die Begrün­ dung einer neuen Ethik zu einer Ethikgeschichte, die mit Kants Moral­ system ihren ersten Höhepunkt erreichte. Später zeigte das antioder postkantsche kritische Denken des 19. und 20. Jahrhunderts (Feuerbach, Marx und Nietzsche; interkulturelle Philosophie, Femi­ nismus, postkoloniale Philosophie, Befreiungsphilosophie, Dekon­ struktion und Phänomenologie) überzeugend auf die radikale Unzu­ Sophokles, Antigone, 67. Martin Heidegger, Hölderlins Hymne “Der Ister” (Frankfurt am Main: Klostermann 1993), 135. Mehr zu diesem Aspekt des Seins als Herd im Kapitel über die Triade und den Gott Mithras im Postludium in diesem Buch. 81 Zur Rolle der Erinnyen in der altgriechischen Religion siehe Otto, Die Götter Grie­ chenlands, 26 ff. 79

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Dies irae et offertorium

länglichkeit des westlichen ethischen hegemonistischen Modells mit Vernunft/Rationalität als seinem einzigen Maßstab. Deshalb betont Enrique Dussel (radikal, doch richtig), dass heutzutage weder in Europa noch in den USA »eine absolut postkonventionelle Moral möglich« sei.82 Dussel meint, dass die Möglichkeit dieser anderen oder neuen Moral auf den »Erfahrungen der großen Kritiker (Feu­ erbach, Schopenhauer, Nietzsche, Horkheimer, Adorno, Marcuse, vor allem aber Marx, Freud und Levinas) und Lateinamerikas«83 beruhe mit ihrer inhärenten Kritik der Modernität und jeder Art von Dominanz (in den Systemen der Ethik, Politik und Ökonomie sowie in den Beziehungen zwischen »Rassen«, zwischen leitenden und marginalisierten Kulturen, zwischen den Geschlechtern, in Alters­ hierarchien usw.). Wichtig ist aber, zu dieser Denkergruppe Schelling hinzuzufügen, der sich am Beginn dieser kritischen Linie des Denkens befand und dessen Einfluss, wie Dussel zeigt, unter den zahlreichen unmittelbaren Hörern seiner Berliner Vorlesungen verbreitete – wie Feuerbach und Kierkegaard oder Engels und Bakunin. In seinen Vor­ lesungen in den Jahren 1842–43 trat Schelling zur Philosophie vom »positiven« Blickpunkt heran und bezeichnete die alte (»negative«) Metaphysik folgendermaßen: »Die erste Quelle der Erkenntnis setzte also die alte Metaphysik in den reinen Verstand, den sie als die Quelle oder als das Vermögen aller jener Begriffe und Gesetze bestimmte, welche für uns mit dem Charakter der Allgemeinigheit und Notwen­ digkeit bekleidet sind.«84 Für Schelling ist dieser neue Ansatz, der nun unter dem Titel metaphysischer Empirismus zu suchen ist, in seinem Kern unmittelbar mit dem Inhalt des Lebens verbunden.85 Doch nicht nur des Lebens, denn Teil dieser Logik sei auch der Tod: So argumentierte Schelling in seiner Clara, wie wir später im Kapitel, das dieser einzigartigen Frau aus Schellings Opus gewidmet ist, sehen werden. Dies zeigt den Umstand auf, dass Schelling mitten im kritischen und positiven Zeitalter der Philosophie bereits intuitiv weiß, dass man, um den künftigen Generationen Frieden zu sichern, den Verstorbenen Frieden sichern müsse. Unsere Sorge ist für sie Dussel, Ethics of Liberation in the Age of Globalization and Exclusion, 1. Ebenda, 218. 84 F. W. J. von Schelling, Sämtliche Werke, II/3, hrsg. von K. F. A. Schelling (Stuttgart und Augsburg: J. G. Cotta'scher Verlag 1858), 36. Der Begriff der »negativen« Philosophie geht für Schelling aus Spinozas omnis determinatio est negatio hervor und ist somit an sich eine Determination (siehe ebenda, 24). 85 Ebenda, 169 und 198. 82

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Metis / Schöne Vida

bestimmt, und mit Gastfreundschaft erweisen wir Rücksicht auch gegenüber ihren Wohnungen.

Lacrimosa Für die Fortsetzung des Weges zu einem neuen ethischen Maßstab, den ich in diesem Kapitel vorzustellen und zu rechtfertigen gedenke, stelle ich hier folgende Hypothese in den Raum: Es gibt zwei Genea­ logien, die unsere ethischen Leben lenken – die erste ist die Ontologie des Denkens (sie ist transzendental), und die zweite ist die Ontologie der Liebe (sie ist empirisch). Das Thema Gastfreundschaft, das eine der Schlüsselfragen der heutigen Welt ist, kann Teil beider Ontologien sein, doch kommt sie »materiell« nur innerhalb der zweiten zum Ausdruck. Wir werden sehen, dass Gastfreundschaft auf Mitgefühl basiert; beides ist als Teil der materiellen-mütterlichen-elterlichen Ethik zu verstehen und zu empfinden. Laut Derrida – und darin steckt das eigentliche verborgene Wesen des Mitgefühls – gilt: »wir wissen nicht, warum wir zittern.«86 Die altgriechischen, semitischen und sanskritischen Wörter für Mitgefühl zeugen alle gleichwertig von dieser Ethik des Mitgefühls: sie erzählen uns alle von den intimsten körperlichen Erscheinungen des Zitterns für den anderen oder mit dem anderen wie etwa das griechische Verb splagchnizomai (»gerührt sein durch inneres Mitgefühl«), das hebräische Wort rahamim (»müt­ terliches/gebärmutterliches Mitgefühl«) oder die sanskritisch-vedi­ schen und buddhistischen Ausdrücke ridudara und anukampa (»ein weiches Inneres haben« und »mitfühlendes Mitzittern«). Alle diese alten und heiligen Wörter für Mildherzigkeit weisen auf das Innere als Ort mitfühlender Gefühle und auch den Ort der Gastfreundschaft hin. Wir verneigen uns vor unseren zivilen Gesetzen des Mitgefühls und unseren zivilen Gesetzen der Gastfreundschaft, doch das waren nicht ihre Gesetze. In Zukunft müssen wir unsere Gesetze des Mit­ gefühls und der Gastfreundschaft in diesen schweren – eigentlich unmöglichen – Gedanken richten. Ich werde das philosophische Genre, das davon spricht, von nun an Beweinen nennen – das Bewei­ nen tausender Tode. Mit Der Gabe des Todes, wie bereits erwähnt, führte Derrida eine philosophische Disziplin ein, die ich nun in die 86

Derrida, The Gift of Death, 71.

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Lacrimosa

nächste Nähe der neuen materiellen Ethik oder des Denkens über den Körper stelle: das ist die philosophische Symptomatologie. Wir müssen »zu dem Grund kommen, der unserem Körper am nächsten ist, der dazu führt, dass man zittert oder weint, anstatt etwas anderes zu tun«, wie er selber sagt.87 So gibt es eine ethische Anatomie des Körpers: wir zittern von außen (Haut) nach innen (Eingeweide, Gedärm) und umgekehrt; wir beweinen durch die Augen (Tränen) und im Herzen (kardia); und letztendlich, wir atmen mit einer Lunge voller Hauch der Anderheit (pneuma) im Einatmen, zu dem es erst kommen muss (Levinas). Inneres und Äußeres, außen und innen: unsere Tränen (und ihre verborgene Erinnerung an die urzeitlichen und allumfassen­ den kosmischen Wässer) sind imstande, diese unsichtbare Grenze zwischen Körper und Seele zu überschreiten, sie an der Schwelle selbst, d.h. im Schmerz, in ihrer elementarsten Form zu überwinden; Beweinen, Tränen und unsere Traurigkeit – unser langwierigstes Mitgefühl für den Schmerz der Mütter, Väter und ihrer Kinder an den Küsten von Lampedusa, für die Gastfreundschaft, die nicht erwiesen wurde, laut Derrida: »Gott ist die Ursache des mysterium tremendum und der Tod, der uns gegeben wird, ist immer das, was uns erzittern lässt, oder was uns auch zum Weinen bringt.«88 Hier möchte ich nun am Horizont dieser Frage aller Fragen noch ein letztes Mal zu der Schönen Vida und Metis sowie der mit ihnen verbundenen Regression der ethischen Ordnung zurückkehren. Wie Shé Hawke sagt: Die Zeit vergeht und die zerstörerischen Leidenschaften von Zeus' (der aus der fünften Generation stammt) Gier nach Wissen und Macht sind Alles geworden. Die Urwässer werden durch die intellektuelle Luft ersetzt, indem er die schwangere Metis verschluckt, die bereits die Urform des Wassers angenommen hat, um ihm zu entkommen. Metis wird nicht mehr erwähnt, und so kann Athena glauben: »Keine Mutter hat mich geboren«. Zeus verkündet, dass Athene, ihre ausgewachsene und weise Tochter, ohne Mütterlichkeit geboren wird; der göttliche mütterlich-flüssige Schoß, die chóra, wird vom phallogozentrischen Logos vereinnahmt.89

Metis und Lepa Vida teilen sich diese ethische Symptomatologie. Ihre Tränen sind das Paradigma des althergebrachten und archaischen Mit­ 87 88 89

Derrida, The Gift of Death, 72. Ebenda. Shé Hawke, »Aquamater: a genealogy of water«, Feminist Review 103 (2013), 123.

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Metis / Schöne Vida

gefühls, das vergessen, verdeckt, und schon früh in der Geschichte der Menschheit mit ontologischen und epistemologischen Ordnungen ersetzt wurde, gegründet auf Macht, Streit und Gewalt, oder mit den Worten der Dichterin, die über Metis nachdenkt: Dieser wassermütterlich milchproduzierende Schoß des Lebens lädt uns nach Hause zum heiligen Bund ein um uns an unsere feuchten Anfänge zu erinnern. das ursprüngliche feminine Göttliche präsent durch Erikapaeus', Phanes' und Metis' innere Numinosität fragmentierter wässriger trinitarischer Doxologie:   Mutter Tochter Heiliger Geist.90

Sanctus O Welt, Welt, Welt, O HERR über den Leidenden!91

90 Hawke, Aquamorphia, 7. Ich gebe das Gedicht in Einklang mit dem Original wieder, in dem alle dazwischenliegenden Satzzeichen weggelassen wurden. 91 Im Original: »O Herr der Heerscharen«: Jahwe Zebaoth als göttlicher Name geht etymologisch aus der semitischen Wurzen ŞB’ hervor, der im hebräischen Ausdruck şābā’ (»Armee, Herr«) zu finden ist (s. Dictionary of Deities and Demons in the Bible, hrsg. von K. van der Toorn, B. Becking und P. W. van der Horst, Leiden: Brill, 1999, 920). Jahwe Zebaoth, der Herr der himmlischen Heerscharen, führt die Idee des Schnittpunkts zwischen Himmel und Erde (d.h. seine Rolle im Tempel) ein: » Der Tempel ist der Punkt, an dem die Dimensionen des Raums überwunden werden« (923). – Vielleicht ist darin das größte Zeichen seiner Gastfreundschaft gegenüber den Menschen inbegriffen, sein Akt der Überwindung der Grenzen innerhalb des Kosmos.

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Libera me

Libera me Um zu dem neuen ethischen Kriterium zu gelangen, das wir in diesem Buch vorstellen und verteidigen wollen, stellen wir folgende Hypothese auf: Es gibt zwei ontologische Genealogien, die unser ethisches Leben leiten – die erste ist die Ontologie des Denkens (die transzendental ist) und die zweite ist die Ontologie der Liebe (die empirisch ist). Das Thema der Gastfreundschaft – das eine der Schlüs­ selfragen der heutigen Welt darstellt – kann Teil beider Ontologien sein, aber es drückt sich nur in der letzteren auf »materielle« Weise aus. Wir werden sehen, dass Gastfreundschaft auf Mitgefühl aufbaut; beides muss als Teil einer neuen materiell-maternellen-matrixialen Ethik verstanden und empfunden werden. Nach Derrida – und das ist in der Tat der geheime Kern des Mitgefühls – »weiß man nicht, warum man zittert«.92 Die altgriechischen, semitischen und sanskritischen Wörter für Mitgefühl zeugen alle gleichermaßen von dieser Ethik des Mitgefühls: Sie alle beziehen uns auf die intimsten körperlichen Phänomene des Zitterns für den/mit dem anderen, wie etwa das griechische Verb spagkhnízomai (»von tiefem Mitgefühl bewegt wer­ den«), das hebräische Wort rahamim (»matrixiales Mitgefühl«), oder die sanskritischen vedischen und buddhistischen Begriffe rdudara und anukampa (»innerlich mitfühlend« und »mitfühlendes Mitzittern«). All diese heiligen Worte bezeugen, dass das Innere ein Ort des Mitgefühls und auch ein Ort der Gastfreundschaft ist.93 Wir huldigen unseren bürgerlichen Gesetzen des Mitgefühls und unserer bürgerlichen Gesetze der Gastfreundschaft, aber das waren nicht ihre Gesetze. In Zukunft müssen wir unsere Gesetze des Mitgefühls und der Gastfreundschaft auf diesen schwierigen – ja, unmöglichen – Gedanken anwenden. Das philosophische Genre, das von diesem Eindringen zeugt, wollen wir im Folgenden als Klage bezeichnen – die Klage über die Tausenden von Toten. In der Gabe des Todes hat Derrida, wie bereits erwähnt, die philosophische Disziplin ins Leben gerufen, die nun der neuen materiellen Ethik oder dem Denken des Körpers am nächsten kommt: die philosophische Jacques Derrida, The Gift of Death, übers. von David Wills (Chicago/London: The University of Chicago Press, 1995), 55. 93 Eine Erläuterung dieser Form des Mitgefühls findet sich in meinem Text »Meta­ physical Ethics Reconsidered: Schopenhauer, Compassion and World Religions«, Schopenhauer Jahrbuch 87 (2006), 101–117. 92

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Metis / Schöne Vida

Symptomatologie. Wir müssen zu dem »Grund kommen, der unserem Körper am nächsten ist, der bedeutet, dass man eher zittert oder weint, als etwas anderes zu tun«, wie er es ausdrückt.94 Inneres und Äußeres, innen und außen: unsere Tränen (und ihre verborgene Erinnerung an die urzeitlichen und allumfassenden kosmischen Wasser) sind in der Lage, diese unsichtbare Grenze zwischen Körper und Seele zu überschreiten und sie an der Schwelle zu entgrenzen, die der Schmerz in seiner elementarsten Form ist; die Klage, die Tränen und unsere Traurigkeit – unser größtes Mitgefühl für den Schmerz der Mütter, Väter und Kinder an den Ufern dieser Welt, für die Gastfreundschaft, die nicht kam, mit Derrida: »Gott ist die Ursache des mysterium tremendum, und der Tod, der uns gegeben wird, ist immer das, was uns erzittern lässt oder auch zum Weinen bringt.«95 Machen wir nun mit den Fragen der Gastfreundschaft und des Mitgefühls weiter und besinnen wir uns dazu auf folgende Worte des großen tibetischen Philosophen Dzong-ka-ba zum Mitgefühl: Chandrakirtis Hommage an das Mitgefühl beim Betrachten von Phä­ nomenen ist: Hommage an das Mitgefühl, das die Wanderer als flüchtig oder sich augenblicklich auflösend betrachtet, wie ein Mond im Wasser, der von einer Brise bewegt wird. Seine Hommage an das Mitgefühl, das das Unbegreifliche betrachtet, lautet: Huldigung des Mitgefühls, das die Wanderer als leer von inhärenter Existenz betrach­ tet, obwohl sie inhärent zu existieren scheinen, wie die Spiegelung des Mondes im Wasser.96

Gemäß der buddhistischen Philosophie haben fühlende Wesen keine ständige Natur; sie bestehen aus unstetigen Haufen, die alle auf der buddhistischen mahayanischen Tradition über gegenseitiges Ent­ stehen und die Leere (śūnyatā) aller Existenz basieren. Das ist die buddhistische metaphysisch-materielle Sicht auf die menschliche Person und das Mitgefühl. Es kommt aber auch zu einer Störung in dieser Logik, die von uns eine andere Sicht auf die Gerechtigkeit, das Mitgefühl und vielleicht auf die Gastfreundschaft erfordert. Diese Störung versetzt jetzt die buddhistische Wanderer zu konkreten Migranten: wir alle waren entfernte Zeugen ihrer Tode, Zeugen von Kindern, Schwesterlein und Brüderlein, ihren Müttern und Vätern, die am Ertrinken waren, die von der Oberfläche verschwanden, für 94 95 96

Derrida, Gift of Death, 55. Ebenda. Newland, Compassion: A Tibetan Analysis, 57.

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Libera me

uns nur ein Widerschein wurden, sich auf schreckliche Weise spiegel­ ten; weil sie sich vor unseren Augen in nichts auflösten, sind sie die schlimmstmögliche Störung der kosmischen Ordnung, wie sie von der buddhistischen und anderen althergebrachten Kosmologien abgebildet wird (Metis und die Erinnyen; und auch andere ähnliche Genealogien in der altgriechischen, der alten nahöstlichen und alt­ vedischen Religion). Schon Sophokles’ Antigone spricht von einem derartigen gewaltsamen Tod: sogar gegenüber Leichen gewalttätig zu sein, die so keine Ruhe finden, nicht in Frieden ruhen können – eben das zerrüttet gefährlich die kosmische Ordnung. Deshalb wollen die Götter unsere Opfergaben nicht annehmen: unser Beweinen, Trauern, all das kommt zu spät. Das geschieht im Mittelmeer, auf Lampedusa. Für uns waren diese Körper und diese Seelen leere inhärente Existenzen, doch auf eine Weise, die die ontologische und ethische Ordnung verdreht. Zwi­ schen ihnen und uns war eine Bindung, die gerissen ist; zwischen uns und ihnen war eine Schwelle, doch nur als Ort ohne unseren Besuch: am Anfang bezeichnete er das Chaos oder die uranfängliche Kluft, den Unterschied, den Schmerz wie in der altgriechischen (Hesiod) oder altindischen (vedischen) Kosmogonie – als Schwelle, dieses Wohnen auf der Ebene des ersten ontologischen Unterschieds zwischen dem ersten Seienden und dem Nicht-Seienden, den man sicherstellen und sozusagen nur mit Liebe und Gastfreundschaft, mit unserem Willkommensgruß an den anderen ertragen kann. Niemand hat ihnen Mitgefühl oder Gastfreundschaft erwiesen, als sie sie brauchten, niemand war imstande, ihnen Zuflucht zu bieten in den Augenblicken, wo sie es am nötigsten gebraucht hätten. Wer vermag uns von dieser Heuchelei zu erlösen? Mit den Worten des Arztes und humanitären Helfers von Lampedusa Pietro Bartolo kann man sagen, dass unsere ethische Aufgabe »die Wahrung der Würde derjenigen, die bis zum letzten Atemzug für ein Leben gekämpft haben, das diesen Namen verdient«, sein muss.97 Pietro Bartolo und Lidia Tilotta, Tears of Salt: A Doctor’s Story of the Refugee Crisis (Toronto: W. W. Norton, 2019), 101. In seinem Bekenntnis spricht Bartolo auch eine einfache theologische Wahrheit aus, die vielen ›gläubigen‹ Menschen auf der ganzen Welt leider immer noch fremd ist: »Ich bin Christ und ich glaube, dass mein Gott sich nicht von dem Gott unterscheidet, an den andere glauben.« (107) Doktor Bartolo ist ausgebildeter Gynäkologe und Geburtshelfer, und sein ethisches Engagement für die Achtung allen Lebens (auch nach dem tragischen Tod von Babys, Kindern, schwangeren Frauen, Müttern, Vätern oder Familien, den er an der 97

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Metis / Schöne Vida

Laut Bracha Ettinger und ihrer Ethik der Weiblichkeit sind Mitge­ fühl und Gastfreundschaft mit der elterlichen gebärmütterlich-müt­ terlichen Sphäre verbunden: was unser Zuhause werden muss, eine Wohnstätte, und was gleichzeitig das Verletzlichste von allem ist, ist die »kreative Geste in copoiesis« – meiner gegenüber der Mutter/dem anderen, die als einzige Fürsorge in diese Welt bringt.98 Diese Für­ sorge, die dem Charakter nach weiblich oder mütterlich (rahamim) ist, stellt die elementare mitfühlende und körperliche Beziehung zwischen dem Kind und seiner Mutter als anderem dar. Unser Mit­ gefühl und unsere Gastfreundschaft sind als solche also primär und an-archisch; gemeinsam stellen sie das dar, was man Barmherzigkeit (misericordia) nennen könnte: mitfühlende Gastfreundschaft gegen­ über dem anderen. Barmherzigkeit ist Nähe und Zuhause: vor allem ist es das Zuhause auf der intimsten Ebene – auf der Ebene von unserem »Fleisch und Atem« – und bietet gleichzeitig unseren Raum dem anderen; hier stellt Irigaray auch zutreffend fest, dass das, was wir in unserer alltäglichen Gastfreundschaft bieten, leere Räume und leere Gesten sind, die dem anderen geben, was wir bereits und immer besitzen: wir bieten dem anderen »einen Bereich dieses geschlosse­ nen und gewissermaßen leeren Territoriums an«,99 unsere eigenen Traumata, unser Eigentum. In dem Sinne ist die Gastfreundschaft, die der Levit dem Fremden anbot »[...] am Morgen [...] die Hände auf der Schwelle«,100 auch eine falsche Gastfreundschaft. Mehr noch, wenn wir für einen Moment zu Chandrakirti zurückkehren, sind wir nämlich noch nicht imstande, aus unserem Mitgefühl all das zu entfernen, was wir nur für uns selbst hegen; erst dann wird das Teilen mit anderen das kostbarste Geschenk, das wir besitzen – das Geschenk des Ortes, den wir erst besiedeln müssen, unserer unbeschränkten Barmherzigkeit, jenseits der Trennlinie zwischen Innerem und Äußerem, jenseits unserer Zeit, jenseits unseres Raumes: Küste von Lampedusa erlebt hat, zu viele für einen einzigen Menschen) zeigt seine bedingungslose Achtung des matrixialen Wesens. 98 Bracha Ettinger, »From Proto-Ethical Compassion to Responsibility: Besideness and the Three Primal Mother-Phantasies of Not-enoughness, Devouring and Aban­ donment«, Athena 2 (2007), 114. Und auch: »Gastfreundschaft und Mitgefühl [...] sind nicht nur ein direkter Weg zur Verbindung von Opferung und Erlösung, sondern auch ein direkter Weg zur Verbindung von Gnade, Trost, Fürsorge und Barmherzig­ keit.« (Ebenda). 99 Luce Irigaray, Welt teilen, übers. von Angelika Dickmann (Freiburg/München: Karl Alber, 2010), 43. 100 Ri 19,27.

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In paradisum

Die Barmherzigkeit allein ist die Saat für die reiche Ernte eines Eroberers, Als Wasser für die Entwicklung, und als ein Reifen in einem Zustand langen Genusses; Darum preise ich zu Beginn das Erbarmen.101

In paradisum Absolute Gastfreundschaft, also. Wir huldigen unseren zivilen Geset­ zen des Mitgefühls und unseren zivilen Gesetzen der Gastfreund­ schaft, sagten wir, doch das waren nicht ihre Gesetze. Wir bieten ihnen Bereiche, doch das sind nicht ihre Bereiche; was wir ihnen statt der eigenen feinfühligen Uneigennützigkeit anbieten, ist unsere Unheimlichkeit (Chandrakirti), versammelt um den Herd des Seins (Heidegger), wo es/sie niemand besitzen dürfte. Laut Derrida – hier komme ich auf das Problem der Gerechtigkeit zurück – ist »Gerech­ tigkeit [...] eine Erfahrung des Unmöglichen«,102 und das Gesetz ist nicht Gerechtigkeit. Mit Levinas'scher Stimme spricht Derrida von dieser Gerechtigkeit, die nur möglich ist, wenn deren wesentlicher Teil oder Bestandteil die ethische Beziehung zum anderen ist, als Versprechung der sainteté, Versprechung, die paradox und anarchisch sämtlicher Philosophie und sämtlicher Theologie vorgeht.103 Diese Emanation der Heiligkeit von der ethischen Ebene der Barmherzigkeit als Gastfreundschaft und Mitgefühl ist das, was nun endlich nur die Materialität des menschlichen Wesens und seine Ethik bezeichnet, verstanden innerhalb des ethischen Strangs Mutterschaft – Gebär­ mutter – Material – Matrimonium.104 Die Würde und die Zu-Kunft (avenir) der Menschheit basieren auf diesem Gedanken. Frieden, Frieden, Frieden. 101 Newland, Compassion: A Tibetan Analysis 74. Die Passage ist aus Chandrakirtis Werk Madhyamakāvatārabhāṣya. 102 Jacques Derrida, Force of Law: The “Mystical Foundation of Authority”, in: Jacques Derrida: Acts of Religion, hrsg. von G. Anidjar (New York/London: Routledge, 2002), 244. 103 Dieser Gedanke stammt natürlich aus Levinas (s. Totalität und Unendlichkeit, übers. von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München: Karl Alber, 1993). 104 Zur Wurzel *mat- und ihrer ethischen Bedeutung s. Jean-Paul Martinon, After »Rwanda«: In Search of a New Ethics (Amsterdam: Rodopi, 2013), 36.

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Metis / Schöne Vida

(Favour) Es war ein nigerianisches Mädchen namens Favour. Sie war erst neun Monate alt und ihre Mutter starb auf der schwierigen Reise von Afrika nach Europa auf dem Weg zum Mittelmeer. Während sie im Sterben lag, übergab sie ihr verletzliches Kind einer Fremden – einer anderen Mutter –, um es in ihr neues Leben mitzunehmen. Dank dieser Geste reiner Gastfreundschaft, für die keine Gegenleis­ tung verlangt wird (welche die Gastfreundschaft gegenüber den Toten nicht erwarten kann), hat Favour überlebt, während so viele andere Kinder es nicht schafften, weil ihnen weder von ihren Heimatländern noch von ihren möglichen zukünftigen Gastgebern Gastfreundschaft angeboten wurde. Ihr Name steht für all diese abwesenden und gastfreundlichen Gesten von Fremden an Fremde. Wenn wir nach einem Genre innerhalb der philosophischen Theologie und ihrer Ethik suchen, das von einer Ethik der Nähe und des Mitgefühls durchdrungen ist und in der Lage ist, einen so schwierigen Gedanken über den matrixialen Kern der Ethik zu fassen, dann ist das eben schon erwähnte Buch Tränen aus Salz eines seiner Art.105 Pietro Bartolo ist Arzt. Aber er ist auch Initiator einer neuen Ethik, die voll und ganz auf die Logik seines medizinischen Berufes abgestimmt ist, und damit auf die Logik der Matrixialität und auf die ihr innewohnende Idee des Kindes – denn sowohl seine praktische Weisheit als auch sein agapeistisches Mitgefühl entspringen seiner überschwänglichen Liebe zu den Lebenden und zu den Verstorbenen gleichermaßen. Er will keine Gegenleistung. Er weiß, so wie Anti­ gone, dass es seine Pflicht ist, die Leichen der Kinder, Frauen und Männer an der Küste von Lampedusa zu begraben, so wie es in den ewigen ungeschriebenen Gesetzen und in unseren Herzen verankert ist. Denn es könnten auch unsere Kinder, Schwestern, Brüder oder Eltern sein. Man könnte sagen, dass Bartolo als Mann uns den weiblichen Kern der Ethik offenbart. Auf seine Weise erweckt Bartolo die Metis aus der Vergessenheit und bringt ihre heilige Präsenz zurück in diese Welt voller Leid. Diese ethische Kardiologie lag auch den Worten von Papst Franziskus zugrunde, als er Lampedusa besuchte und anmerkte: 105 Dieser Zusatz basiert auf Geschichten und Erzählungen aus Pietro Bartolo und Lidia Tilotta, Tears of Salt: A Doctor’s Story of the Refugee Crisis.

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(Favour)

Wer von uns hat darüber und über Geschehen wie diese geweint? Wer hat geweint über den Tod dieser Brüder und Schwestern? Wer hat geweint um diese Menschen, die im Boot waren? Um die jungen Mütter, die ihre Kinder mit sich trugen? Um diese Männer, die sich nach etwas sehnten, um ihre Familien unterhalten zu können? Wir sind eine Gesellschaft, die die Erfahrung des Weinens, des »Mit-Leidens« vergessen hat: Die Globalisierung der Gleichgültigkeit hat uns die Fähigkeit zu weinen genommen!106

Aber der Arzt aus Lampedusa wusste bereits, wie gefährlich jede Seereise sein kann: Er wäre mit sechzehn Jahren auf einem Fischkutter fast gestorben, als er im letzten Moment von seinem Vater aus dem nächtlichen Meer gerettet wurde. Wir alle sind gleichermaßen verwundbar. Bartolo bezeugt nun, was sonst in Vergessenheit geraten würde, und es gibt keine ethische Theorie oder ethische Zeitlichkeit, die dies vorschreiben könnte, denn diese ethischen Gesten entstam­ men einem eher archaisch verborgenen Kern der Ethik, der nicht für jeden zugänglich ist. Es gibt auch Dinge, die zu traurig sind, um sie zu beschreiben: Opfer von Kriegsvergewaltigungen mit ihren traurigen Schwangerschaften; Jungen und Männer, Mädchen und Frauen, die körperlich verstümmelt wurden und deren Lebensperspektiven für immer zerstört sind; Familien, die für immer getrennt sind; unmögli­ che Entscheidungen – ein Vater, der sich entscheiden muss, seinen neun Monate alten Sohn und seine Frau in den Armen zu halten und seinen anderen, drei Jahre alten Sohn ertrinken zu lassen, nur weil er nicht alle im rauen Meer retten kann ... Pietro Bartolo weiß, dass man sich nie daran gewöhnen kann, die Leichen von Neugeborenen zu sehen, oder von Frauen, die bei der Geburt auf See gestorben sind, mit ihren erstickten Sprösslingen, die noch mit der Nabelschnur an ihnen hängen. Requiem eternam dona eis, Domine. Es gibt ein neues ethisches Genre, das entwickelt werden muss, um in der Lage zu sein, diese Gedanken ethisch zu denken, zu meditieren und zu beten. Es wird ethische Anatomie des Körpers genannt: man zittert von außen (die Rolle der Haut und der Berüh­ rung: Feuerbach) nach innen (Eingeweide, Gedärme, Gebärmutter: Schopenhauer, Ettinger, Wu) und umgekehrt; man klagt mit den Augen (Tränen; Derrida) und mit dem Herzen (Öffnung des Herzens Predigt von Papst Franziskus am Lampedusa, 8. Juli 2013; https://www.vatican .va/content/francesco/de/homilies/2013/documents/papa-francesco_20130708_ omelia-lampedusa.html.

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Metis / Schöne Vida

für den anderen; kardia: Caputo); dann schließlich atmet man mit Lungen voller Wind der Anderheit in einer Inspiration, die noch kommen wird (pneuma: Levinas, Irigaray). Die wichtigsten Diszipli­ nen der ethischen Anatomie sind daher: ethische Neurologie (Empa­ thie, Mitgefühl und Neurowissenschaften107), ethische Kardiologie (agapeistisches Mitgefühl), ethische Pneumatologie (den Atem mit anderen teilen), ethische Dermatologie (Haptologie und die Logik der Nähe bei Spiegelberührungssynästhesie108 – in ihrer extremen Form die Stigmata des heiligen Franziskus) und die ethische Gynäko­ logie (mit der gebärenden Mütterlichkeit als Kern) – die mit dem verborgenen matrixialen Kern allen Lebens verbunden ist und die Schwachen schützt. Kognitionswissenschaft und Neuroethik liefern bereits Beweise für diese neue Ethik. Aber Philosophie und Theologie müssen an einer neuen materiellen/matrixialen Ontologie arbeiten und so die Grundlagen für diese Ethik selbst vorbereiten. Favour hat überlebt. Aber es ist unsere Pflicht, diese Gedanken in uns zu nähren und für alle Verstorbenen zu beten, sie nicht zu verges­ sen. Diese höchste Form des ethischen Denkens heißt Erinnerung – die zu einem eigenständigen ethischen Prinzip ausgebaut werden sollte. Und niemand sonst wird uns diese Verantwortung abnehmen.

Dazu siehe Emma Seppala, Emiliana Simon-Thomas, Stephanie L. Brown et al. (Hg.), The Oxford Handbook of Compassion Science (Oxford: Oxford University Press, 2017). 108 Vgl. Jamie Ward, Patricia Schnakenberg und Michael J. Banissy, »The rela­ tionship between mirror-touch synaesthesia and empathy: New evidence and a new screening tool,« Cognitive Neuropsychology 35, no. 5/6 (2018): 314–32; doi: 10.1080/02643294.2018.1457017. Die synästhetische Berührung kann als eine extreme Form des Mitgefühls angesehen werden und ist eine Form der Synästhesie, bei der Personen die gleichen Empfindungen wie eine andere Person spüren (etwa eine Berührung). 107

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Die Unbekannte von Bethlehem / Maria

Siehe, ich habe zwei Töchter, die haben noch keinen Mann erkannt, die will ich herausgeben unter euch, und tut mit ihnen, was euch gefällt. 1 Mose 19,8 Da […] stand er auf aus der Gemeinde und nahm einen Spieß in seine Hand und ging dem israelitischen Mann nach hinein in die Kammer und durchstach sie beide, den israelitischen Mann und das Weib, durch ihren Bauch. 4 Mose 25,7–8 Da lag […] seine Nebenfrau, zusammengebrochen am Eingang des Hauses, die Hände auf der Schwelle. Als er nach Hause gekommen war, nahm er ein Messer, ergriff seine Nebenfrau, zerschnitt sie in zwölf Stücke, Glied für Glied, und schickte sie in das ganze Gebiet Israels. Ri 19,27 und 29109 Eine Frau, die fähig ist, eine zeitliche Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu bilden, und eine räumliche Brücke zwischen allen Kulturen der Welt dank ihrer spirituellen Virginität – in der Bewahrung eines lebendigen und freien Atems, der auf wen oder was auch immer irreduzibel ist. Luce Irigaray110

Den Mädchen und Frauen – Opfern von Kriegsvergewaltigungen gewid­ met

In utero Wir leben in sehr traurigen Zeiten. Unsere Augen und Herzen beob­ achten jeden Tag und sind Zeuge der schrecklichsten Bilder von Leid und tragischem Tod zahlreicher Personen – Kinder, Mütter, Väter – in ihrer äußersten Verwundbarkeit und Fragilität ihrer Existenz. In den 109 110

Überall zitiert nach Die Bibel in der Einheitsübersetzung (in Arbeit) (uibk.ac.at). Irigaray, Das Mysterium Marias, 42.

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letzten Jahrzehnten sind wir auch mit grausamen Szenen sexueller Gewalt und Kriegsvergewaltigungen in verschiedenen Regionen der Welt konfrontiert, wo männliche Macht und Ideologie der Quasireli­ gionsordnung die Gewalt über die Gemeinschaften übernehmen und so noch die letzten Reste ethischen Lebens zerstören. Dies spüren wir alle als Mitglieder der globalen Gemeinschaft. Die Theologie muss uns helfen, diese tragischen Ereignisse bewusstzumachen und uns durch den anspruchsvollen Trauerprozess führen, und uns gleichzei­ tig ermöglichen, uns eine Vorstellung einer besseren und helleren Zukunft für unsere Nachwelt zu bilden. Unsere Zivilisation braucht eine neue Verkörperung des Gött­ lichen, eigentlich eine neue Inkarnationstheologie. Zu lange schon vergessen wir unser Verhältnis mit dem Göttlichen, wie es sich in geistigen, aber auch geschlechtlich bestimmten Schichten unse­ res Körpers und unserer Seele verwirklicht. Die übernatürlichen Neigungen haben sozusagen unsere Körper immobilisiert und wir haben vergessen, den intimsten Ebenen unseres In-der-Welt-Seins Gehör zu schenken. Nach Meinung von Luce Irigaray wird sich unser zukünftiges In-der-Welt-Sein mit unserem geistigen Werden verbinden müssen, also keine Aufgabe für nur ein einziges Geschlecht oder sogar für eine einzige Kultur oder Zivilisation sein kann. Es wird ein Dialog geistiger Traditionen sowohl innerhalb von uns selbst als auch zwischen verschiedenen Zivilisationskreisen nötig sein. Bei der Wahrnehmung dieser geistigen Aufgabe müssen uns die Über­ lieferungen der althergebrachten Kulturen der amerikanischen Urein­ wohner, die Kulturen Afrikas, die alten indoeuropäischen Kulturen (die griechische, slawische, indoiranische …) sowie die Kulturen des Nahen und Fernen Ostens leiten. Da ich mich am Anfang des Kapitels auf das Christentum und sein transkulturelles und transzivilisatori­ sches Umfeld konzentriere, sollen uns der alte Nahe Osten und das antike Griechenland als unser Ausgangspunkt dienen. In diesem Kapitel adressiere ich das Bedürfnis nach einer neuen geistig-ethischen Ontologie unserer globalen Zivilisation und gehe von der Befürwortung einer neuen matrixialen Theologie aus, die der ursprünglichen Herstellung des Raums der Gerechtigkeit aus Sophokles' Antigone sowie des göttlichen Figur Savitri aus dem Mahabharata folgt. Die weiblichen Figuren, die im vorigen Kapitel aufeinander folgten (Schöne Vida), und in diesem Kapitel die Unbe­ kannte von Bethlehem (später noch Schellings Clara und andere Figuren), verbindet trotz ihrer verschiedenen religiösen und kulturel­

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len Rahmen der Umstand, dass sie im Leben und/oder Tod sowie in ihren heroischen oder heiligen Taten eng mit den Verstorbenen und mit dem Tod verbunden waren – doch auch mit dem Leben in seiner Immanenz. Darin waren sie mit ihren heiligen Geschlechtsund Generationsgenealogien Hüterinnen der althergebrachten kos­ mischen Gesetze. Als Frauen haben sie in diese Welt die ethische Forderung nach der Ontologie des Lebens eingebracht. Trotz ihrer manchmal tragischen Schicksale waren und blieben sie heilige Hüte­ rinnen der grundlegenden kosmischen Gesetze, die sich auf Lebende und Tote, auf den Himmel, die Erde und die Unterwelt beziehen. In ihrer Nähe zu Elementen der althergebrachten kosmischen Ord­ nung und der kosmischen Gesetze handelten und sprachen sie aus der Angehörigkeit zum Sein, vernahmen im Sinne Heideggers den »Zuspruch des Seins«. Am Anfang dieses Kapitels erkannten wir, dass für Irigaray die Frau, dank ihrer geistigen Jungfräulichkeit und in der Sorge für den Atem und die belebende Inspiration, eine Zeitbrücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie eine Brücke im Raum zwischen allen Kulturen der Welt sein muss. Diese Geste ist durch den Übergang des jungen Mädchens Maria zur wichtigsten weiblichen Figur in der Religionsgeschichte des Christentums – zur Mutter Jesu – geprägt. Wir wissen, dass Frauen die gesamte Religionsgeschichte der Menschheit hindurch (mit wenigen Ausnahmen) ihrer eigenen geistigen Identität beraubt waren; das Konzept der Heiligen Dreiei­ nigkeit war nämlich ontologisch, sprachlich und der Physiognomie nach klar als Vorbild meistens für ein Geschlecht angelegt. Mono­ theismen entwickelten sich traditionell zu Geschichten der Totalität, des monarchischen und patriarchalen Einen, auf der Suche nach epistemologisch, ontologisch und sprachlich stabilen Ausführungen einer Wahrheit, wobei sie die mannigfaltigen Verkörperungen des Göttlichen vergaßen. Wenn Maria für die eigene Verkörperung bezie­ hungsweise, genauer gesagt, für ihr ontologisches Dispositiv benach­ teiligt war, müssen wir uns die Frage stellen, welche Rolle sie in Zukunft bei unserer Erlösung spielen wird, vor allem aber, welche ihre zukünftige Rolle bei der Erlösung der Mädchen und Frauen spielen könnte, die Herrschsucht und äußerster Gewalt (auch in ihrer Extremform, etwa Kriegsvergewaltigungen) unterworfen sind. Um dieses ontologisch-ethische Dispositiv zu entdecken, wandelte Elizabeth Johnston auf wunderbare Weise Irenäus' Gloria Dei vivens homo zu Gloria Dei vivens mulier um, das ihr nun bedeutet: »Die

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Herrlichkeit Gottes sind die Frauen, alle Frauen, jede Frau überall, voll und ganz lebendig«.111 Nur in dem Sinne – das heißt auf die Art der »vollen Entfaltung der weiblichen Körper, ebenso wie aller anderen Körper innerhalb der Schöpfung«112 – wird es möglich sein, von der Erlösung der Mädchen und Frauen, wie auch Jungen und Männer, und von jedem von uns, die in dieser Welt wohnen, zu denken. Schon bei der Frage von Antigones Wahrheit sahen wir, dass diese im Körper verborgen ist: als Frau, und noch davor als Schwester, teilte sie mit ihren Geschwistern (Polyneikes, Etheokles und Ismene) denselben mütterlichen Raum (die Gebärmutter) und trug die Erinne­ rung an diesen Raum in ihrem weiblichen Körper bis zum Ende. So wie Maria behielt auch sie die einzigartige symbolische Geschlechts­ identität und Autonomie einer Jungfrau. So ist es also kein Zufall, dass in ihrer, für die Welt erlösenden Rolle sowohl Hegel als auch Irigaray eine Bestimmung erkennen, die sogar höher als die von Christus sein könnte.113 In einer Welt, wo unsere unvollkommene Betrachtung und mangelhaftes Mitgefühl nicht der schmerzhaften Wahrheit über das unermessliche Leid vieler Mädchen und Frauen entkommen können, erscheint dieser Gedanke völlig legitim. Diese Gewalt114 ist gegen uns alle und gegen unsere mögliche Erlösung gerichtet; Antigones geistig-körperliche Wunde spiegelt sich auch in Maria als Vermittlerin zwischen Gott und uns als Jesus' geistige Urahnin und geistige Mutter – noch bevor sie seine natürliche Mutter wurde.115 Es gibt zwar eine noch ältere Geschichte aus der hebräischen Bibel, die ich erwähnen möchte: das ist die Geschichte von einer unbekannten Frau (Nebenfrau aus Bethlehem/Tochter/Ehefrau) aus dem Buch der Richter. Als Trägerin der Identität der Nebenfrau des Leviten von Efraim ist sie ein doppeltes Symbol – die Opfergabe für 111 Emily Pennington, Feminist Eschatology: Embodied futures (London/New York: Routledge, 2017), 12 ff. 112 Ebenda, 13. Pennington bietet in Kapitel 1 ihres Buches einen hervorragenden Überblick über die Werke zu Verkörperung und feministischen Eschatologien. Hier stellt sie verschiedene Probleme dar und analysiert sie, wie sie von feministischen Theologinnen skizziert wurden, wobei sie auch das Argument von Mary Daly auf­ greift, dass »wenn Gott männlich ist, das Männliche Gott ist« (36). 113 Siehe Irigaray, In the Beginning, She Was, 136. 114 Siehe den bereits in der Einleitung erwähnten Artikel über Kriegsvergewaltigun­ gen im Südsudan im Time (21. 3. 2016) mit dem Titel »The Secret War Crime« von Aryn Baker. 115 Siehe Luce Irigaray, »The Redemption of Women«, in: Luce Irigaray (Hg.), Key writings (London: Bloomsbury, 2004), 152.

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den Gastgeber und seine barmherzige Gastfreundschaft, aber auch das Ritualopfer für die Feinde und ihren Hass; als Frau/Tochter stellt sie die unmögliche Logik der Gastfreundschaft dar, ihren reinen Exzess und gleichzeitig Verkehrung zur schrecklichsten Tragödie; mit dem Beharren am Rand der Ethik bringt sie das Extrem zum Ausdruck, sogar die tödliche Verwundbarkeit und Fragilität ihrer Existenz. Aus dem Buch der Richter (Ri 19−21) ist die Geschichte von der Nebenfrau des Leviten bekannt, die massenweise vergewaltigt wird und gegen Morgen fast ohne Leben am Boden liegt – nur deshalb, weil sie eine Frau ist.116 Diese Frau ist freilich mehr als bloß das Opfer einer Menge Männer – sie steht für die alten geschlechtlichen Genealogien Israels und seine Opferungsreligion. Obwohl es zwei verschiedene Möglichkeiten der Antwort auf die Frage gibt, wer sie denn in die Menge von Männern schickt, um vergewaltigt zu werden – der Levit oder sein Gastgeber –, besteht immer noch kein Zweifel, dass die Frau nach draußen, außerhalb des Ortes der Gastfreundschaft, von einem Mann geschickt wird. Wir wissen, dass sie eben der Levit von Efraim nach diesem Ereignis zerstückt und ihren Körper an die zwölf Stämme Israels schickt (vgl. 1 Sam 11,7) – wie zur Mahnung, um die Dimension der Tat der Vergewaltigung unter Beweis zu stellen, die die Benjaminiter verübten. Ihr Körper war geschändet und, es stimmt: »Der Schoß Gottes blutet ständig« mit ihr.117 Wir wissen, dass es eine ähnliche Erzählung über Lot in der Genesis (1 Mose 19) gibt. In dieser wohlbekannten Geschichte lehnt eine Männermenge das Angebot des alten Lot ab, seine beiden jungfräulichen Töchter als Ersatz für den männlichen Gast anzubieten, sodass es nicht zur Vergewaltigung kommt. Doch kommen wir auf die erste Geschichte zurück: darin sind wir nach Meinung von Judith Still Zeuge eines dop­ pelten Tausches. Der Levit bietet dem Gastgeber seine Nebenfrau als Siehe dazu den Artikel von David Z. Moster mit dem Titel »The Levite of Judges 19–21«, JBL 134:4 (2015), 721–730 und Kapitel 2 mit dem Titel »Patriarchs and their women, some inaugural intertexts of hospitality: the Odyssey, Abraham, Lot and the Levite of Ephraim« im Buch über Gastfreundschaft von Judith Still (Derrida and Hospitality, Edinburgh: Edinburgh University Press, 2010, 51–92). Siehe auch den Artikel von Lauren A. S. Monroe zur Opferung von Kindern und Frauen in der hebräischen Bibel (»Disembodied Women: Sacrificial Language and the Deaths of Bat-Jephthah, Cozbi, and the Bethlehemite Concubine«, Catholic Biblical Quarterly 75 (2013), 32–52). 117 Ettinger, »From Proto-Ethical Compassion to Responsibility…«, 127). Ettinger erläutert hier den hebräischen Ausdruck »Gott voller Gnade« (El Maleh Rakhamim) mit dem Syntagma »Gott voller Gebärmütter«. 116

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Tausch für seine Tochter an, die davor dem Leviten als Tausch für seine Nebenfrau angeboten wurde.118 Dieser Doppeltausch bezeichnet die äußerste und auf eine Art unendliche Verwundbarkeit der Frauen (und man könnte hinzufügen, auch der Kinder) in der hebräischen Bibel: nach Meinung von Still bedeutete Gastfreundschaft schon bei Levinas immer die (weibliche) Verwundbarkeit. Die kollektive und brutale Reaktion der israelischen Stämme gegenüber dem Stamm der Benjaminiter, die die Täter darstellen, erweist »die kollektive (oder göttliche) Bestrafung für eine Tat, die das angreift, was als Kern der Zivilisation angesehen wird«119 – eben die einer Person in ihrer matrixialen/gebärmütterlichen/maternalen Identität zugefügte Wunde wird nun problematisch und tragisch vermehrt zu Wunden, die der gesamten Gemeinschaft zugefügt wurden: »Geht hin und erschlagt die Einwohner von Jabesch-Gilead mit scharfem Schwert, auch Frauen und Kinder!« (Ri 21,10–11) Phyllis Trible stützt sich in ihrer Darstellung dieser Geschichte auf die Frage der weiblichen Präsenz in dieser Erzählung sowie auf das Schweigen der »Frau, seiner Nebenfrau« (Ri 19,27; zwei der verwendeten Substantive in dieser Phrase weisen ebenso auf ihre untergeordnete Stellung hin). Die Geschichte der Unbekannten von Bethlehem ist somit also ein Paradigma »der Schrecken der männli­ chen Macht, der Brutalität und des Triumphalismus« auf der einen und »Hilflosigkeit, Missbrauch und Vernichtung von Frauen« auf der anderen Seite.120 Wenn aus diesen Gründen das Leiden dieser Frau (und zahlloser unbenannter Frauen) auf keine Weise erlösend ist (beziehungsweise, wie Trible warnt, kann man hier von keiner Ver­ bindung mit dem Leiden am Kreuz sprechen), welcher Gewaltmodus offenbart sich uns dann in diesem Geschehen? Hier möchte ich nun

118 Judith Still argumentiert, dass wir es eigentlich mit zwei sexuellen Tabus zu tun haben: Erstens darf der Anus überhaupt nicht penetriert werden, und in beiden Geschichten (von Lot und vom Leviten) haben wir es mit dem noch stärkeren Tabu des Wunsches nach Penetration des Anus des Priesters zu tun; zweitens darf »die durch das Hymen geschützte Vagina« nur auf väterliche Erlaubnis und Einladung hin penetriert werden, und dies markiert die oben erwähnte Ersetzung des einen sexuellen Tabus durch das andere (Still, Derrida and Hospitality, 74). 119 Ebenda, 77. 120 Phyllis Trible, Texts of Terror: Literary Feminist Readings of Biblical Narratives (Philadelphia: Fortress Press, 1984), Kap. 3 (»An Unnamed Woman: The Extravagance of Violence«). Für die die Zitate siehe S. 79 und 65.

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argumentieren, dass dies genau jene Wunde ist, die der Person in ihrer matrixialen Identität zugefügt wurde,121 oder mit ihren Worten: Die Frau als Objekt wird immer noch gefangen genommen, verraten, vergewaltigt, gefoltert, ermordet, zerstückelt und zerstreut. Sich diese uralte Geschichte zu Herzen zu nehmen, bedeutet also, ihre gegenwär­ tige Realität zu bekennen. Die Geschichte ist lebendig, und eben alles ist nicht gut.122

Die Nebenfrau von Bethlehem (ich werde sie bewusst so benennen, damit uns dieser Ausdruck als eine Art Mahnmal dienen möge) wird so in die Gruppe göttlicher Frauen erhoben und nimmt meiner Meinung nach eine der herausragendsten Stellen unter ihnen ein. Außer ihrer Erzählung findet man in der hebräischen Bibel noch zwei weitere Erzählungen von der Opferung von Frauen – die Opferung der jungfräulichen Tochter von Jiftach in Kapitel 11 des Buchs der Richter sowie die Tötung der Midianiterin, der ›Prostituierten‹ Kosbi, in Kapi­ tel 25 des Vierten Buchs Mose. Kosbi ist noch besonders interessant für unser Verständnis der Opferung von Frauen, denn sie wird von einem der Söhne Israels (Enkel des Priesters Aron) – mit einem Speer genau »durch den Bauch« durchbohrt.123 Diese Tat zeugt zweifellos davon, dass die Logik der Tat auf der Opferung und der Suche nach einem Sündenbock basiert, was die anti-matrixiale124 theologische Logik bezeichnet, die ich in der Folge vorstellen und zu widerlegen 121 Unter »matrixialer Identität« verstehe ich den ontologisch-ethischen Kern der weiblichen geschlechtlichen Identität, im Sinne ihrer geschlechtsbezogenen (»sexuate«; und nicht sexuellen / »sexual«) Differenzierung, wie von Irigaray vorge­ schlagen. In ihrem Buch In the Beginning, She Was, schreibt Irigaray: »Zwischen Schwester und Bruder wird die Genealogie zur Erzeugung von zwei verschiedenen horizontalen Identitäten. Es kommt zu einer Transzendenz der geschlechtlichen Identität in Bezug auf den Körper.« (133) In diesem Sinne liefert uns die matrixiale (d.h. körperliche) Identität die Möglichkeit eines anderen Verständnisses der trinita­ rischen Relationalität, wie es sich später in diesem Kapitel noch zeigen wird. Wenn bei Levinas der Andere notwendigerweise der Sohn ist, ist die Transzendenz des Anderen für Irigaray nur innerhalb von zwei verschiedenen horizontalen (und somit nichthierarchischen) Identitäten möglich, mit Schwester und Bruder als Paradigmen einer solchen Transzendenz in der Relationalität (vgl. ihre Lesart der Antigone im fünften Kapitel von In the Beginning, She Was). 122 Trible, Texts of Terror, 87. 123 Monroe, »Disembodied Women…«, 41. 124 Ich entlehnte das Wort »matrixial« bei Bracha Ettinger. In Bezug auf die etymologischen Möglichkeiten des Terminus ›matrix‹ vgl. Jean-Paul Martinon (After “Rwanda”, 36): »Mütterlichkeit – Gebärmutter – Matrice – Material – matri­ moniell – Materie. Die Wurzel ›mat-‹ hat zwei Ursprünge: die immaterielle lateinische

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versuchen werde. All diese Geschichten weisen uns auf den Krieg und die endlose Gewalt hin – wir tragen beides als unser trauriges Erbe in uns schon seit der Urzeit und beides hat uns immer schon getroffen. Deshalb sind wir alle dafür verantwortlich. Die diskretere Botschaft der biblischen Geschichte von der Nebenfrau des Leviten spricht – trotz ihrer narrativen Logik – meiner Meinung nach gegen die Rache und für die Versöhnung und Erlösung der Frauen, beides als Teil des schweren und geheimnisvollen Prozesses des Risses/der Störung im Kern der kosmischen Gerechtigkeit. Unsere Aufgabe besteht darin, dass wir dem im Namen der Gerechtigkeit Gehör schenken und in unseren Herzen die Erinnerung an dieses entfernte Ereignis erhalten. Speichern wir also nun die Geschichten aus der hebräischen Bibel in unserem ethischen Gedächtnis. Wir werden auf sie wieder nach unserer Exposition der Frage Mariä im Neuen Testament zurückkom­ men. Ludwig Feuerbach erleuchtet in seinem größten und wichtigsten Werk Das Wesen des Christentums unsere Herzen und Seelen mit einer äußerst sanften Beschreibung der Beziehung zwischen Jesus und Maria, zwischen Sohn und Mutter. So schreibt er im Kapitel »Das Mysterium der Trinität und Mutter Gottes«: Zwar weilt der Sohn nur neun Monde lang unter dem Obdach des weiblichen Herzens, aber die Eindrücke, die er hier empfängt, sind unauslöschlich. Die Mutter kommt dem Sohne nimmer aus dem Sinne und Herzen.125

Wie ich in einer meiner früheren Abhandlungen über Feuerbach gezeigt habe, war dieser deutsche Philosoph in der gesamten west­ lichen Überlieferung der erste und tatsächlich einzige Denker, vor Luce Irigaray, der sensibel für die Frage der Geschlechtsdifferenz und Sinnlichkeit war. Beides wird bei ihm ontologisch im Sinne zweier Eigenschaften unseres Seins verstanden. Für Feuerbach erhielt Jesus seine ersten Eindrücke (dies prägt seine außerordentliche Sensibilität, Liebe und Mitgefühl) schon im Mutterleib. Sein materieller Körper bildete sich im Körper seiner Mutter heraus und Feuerbach sagt uns mit erschütternder Genauigkeit auch, dass uns in Gott auch mater, etwas, woraus sich etwas entwickelt oder was sich formt, und das materielle sanskritische mât, manuel fertigen, zusammensetzen, bauen.« Martinon folgt in seiner Erläuterung Lyotard und seiner Ausstellung mit dem Titel Les Immateriaux im Centre George Pompidou 1985 (siehe R. Greenberg et al., Thinking about Exhibitions, London: Routledge, 1997, 159–73). 125 Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 84.

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»ein Mutterherz entgegenschlägt«.126 Vielleicht wird eines Tages in der Zukunft diese Aussage für uns eine weitreichende Bedeutung haben und wird wirklich eine neue trinitarische Ära im Prozess der Inkorporation von Gott/Göttinnen in der Welt öffnen. Doch um uns der elementaren matrixialen Konstellation anzunähern, die ich errei­ chen möchte, soll zuerst ein wunderbarer indischer Sprachausdruck erwähnt werden – der in dem Sinne voll auf Maria appliziert werden kann: Eine schwangere Frau wird im Sanskrit als zweiherzig (dvihri­ daya) bezeichnet. Das bedeutet wortwörtlich, dass sie während der Zeit, als sie ihr noch ungeborenes Kind trägt, in sich zwei Herzen hat. Mariens Gebärmutter (chóra?)127 könnte so als Heiligtum verstanden werden, das in sich bereits das reine und geweihte Wesen der Heiligen Dreieinigkeit umfasst, den ersten Keim alles Aufeinanderbeziehens, vor allem aber Mitgefühl als agape (oder Erbarmen als »Emotion des mütterlichen Schoßes«128). Nach Meinung der jüdischstämmigen Phi­ losophin Bracha Ettinger ist schon Isaak als Träger dieses femininen Mitgefühls zu erkennen, denn sein Erbarmen gegenüber seinem eige­ nen Vater ist von einer Note des ursprünglichen Mitgefühls geprägt, und sein Gefühl entstammt dem »Levinas'schen ›an-archischen‹ und femininen Kern der ethischen Sphäre«.129 Wir wissen, dass Isaak sozusagen unbefleckt gezeugt wurde, denn seine Geburt war für seine Eltern ein Wunder: sein feminines Mitgefühl gegenüber dem Vater, wie Levinas und Ettinger auswiesen, kann so als Gottes Geschenk an Sara, Abraham und ihr Volk verstanden werden, als an-archischer und unmöglicher Teil des Nachwuchses/Kindes in den althergebrach­ ten Generationsordnungen Israels: das größte Zeichen von Gottes Fürsorglichkeit und Erbarmen gegenüber dem Menschen. Doch leider auch als Opfer – und darin ist Isaak Teil derselben ontologischen Ordnung wie die Nebenfrau (unbekannte Frau) aus dem Buch der Richter und die Kinder (Söhne und Töchter), die als Gabe im Kontext der hebräischen Bibel (zum Beispiel in Kapitel 22 des Zweiten Buches Mose und Kapitel 3 aus dem Zweiten Buch der Könige130) geopfert werden. Wir wissen auch schon, dass es im Hebräischen ein Wort gibt, das dieses Erbarmen bezeichnet – und dieses Wort ist rahamim; also in utero – Sara und Isaak, Maria und Jesus; das sind Zeichen 126 127 128 129 130

Ebenda, 85. Siehe Platon, Tim 52a. Ettinger, »From Proto-Ethical Compassion to Responsibility…«, 101. Ebenda, 100. Dazu vgl. Monroe, »Disembodied Women…«, 32 ff.

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paradoxer Spannung zwischen der (kosmischen?) Gerechtigkeit und dem femininen Mitgefühl in Gott selbst. Doch wie ist diese Spannung zu lösen? An dieser Stelle möchte ich zu Maria zurückkommen und im Schlussteil dieses Kapitels eine Theologie der Inkorporation entwickeln, die vielleicht einmal in der Zukunft wird dieses Rätsel lösen können. Gemäß dem Korpus der mittelalterlichen mystischen Literatur (Hadewijch von Brabant, Angela von Foligno, Marguerite Porete) als auch der Schriften zahlreicher moderner feministischer Theologinnen geschieht die Inkorporation zuerst im weiblichen Körper, und Maria war ihrer eigenen Inkorporation beraubt.131 Um sich dieser Geste bewusst zu sein, erfordert dies nach Meinung von Luce Irigaray, dass Maria ein persönliches Band zum Göttlichen besitzt, das nicht durch den Mann vermittelt ist, und dass sie dieser Verbindung treu bleibt. Das Ereignis der Verkündigung etabliert oder zelebriert dieses Band zwischen Maria und Gott – unabhängig von ihrem Volk, von ihrer Genealogie, von dem Mann, mit dem sie verlobt ist, und sogar von ihrem zukünftigen Kind.132

Im zweiten Teil dieses Kapitels wird meine Aufgabe darin bestehen, uns dieser anspruchsvollen Frage zu widmen mit dem Betonen der inneren ontologischen Spannung im triadischen Konzept der ethischtheologischen Logik der subtilsten unter allen Beziehungen – der Relationalität zwischen spirituellen Austauschen innerhalb der gött­ lichen und menschlichen – kosmischen sowie trinitarischen – Kreise.

Anwesenheit des Dritten Nach Meinung von Luce Irigaray, die der katholischen Tradition angehört, benötigte das Christentum in Wirklichkeit zwei Frauen – Mutter und Tochter –, damit es überhaupt zur Inkorporation des

131 Emily A. Holmes, Flesh Made Word: Medieval Women Mystics, Writing, and the Incarnation (Waco, TX: Baylor University Press, 2013). Vgl. unter anderem auch das fundamentale Werk von Rosemary Radford Ruether Goddesses and the Divine Feminine: A Western Religious History (Berkeley/Los Angeles: University of California Press, 2005). 132 Irigaray, Das Mysterium Marias, 17.

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Anwesenheit des Dritten

Kindes Gottes – Jesus – kommen konnte: Maria und Anna.133 In dieser idiosynkratischen, doch wichtigen Einsicht der Philosophin können wir bereits die Gesamtheit der kosmischen, geschlechtlichen und generationellen Hierarchien erblicken, die wir in unseren theo­ logischen Überlegungen allzu oft außer Acht lassen. Um nun auf Feuerbach zurückzukommen und in unserer Abhandlung über die Inkorporation Gottes einen Schritt weiter zu machen, muss betont werden, dass Feuerbach in seinem Hauptwerk äußerte, dass uns in Gott »ein Mutterherz entgegenschlägt«.134 Seine weitreichenden Intuitionen haben ihn logisch zu folgenden Konsequenzen theologi­ scher Analysen geführt, wie er sie in einem weiteren Passus aus seinem zentralen philosophischen Werk zum Ausdruck gebracht hat: Und die uns jetzt so befremdliche Komposition der Mutter Gottes ist daher nicht mehr befremdlich oder paradox als der Sohn Gottes, wider­ spricht nicht mehr den allgemeinen, abstrakten Bestimmungen der Gottheit als die Vater- und Sohnschaft. Die Maria paßt vielmehr ganz in die Kategorie der Dreieinigkeitsverhältnisse, da sie ohne Mann den Sohn empfängt, welchen der Vater ohne Weib erzeugt, so daß also Maria einen notwendigen, von innen herausgeforderten Gegensatz zum Vater im Schöße der Dreieinigkeit bildet.135

Und wie sprechen uns diese trinitarischen Gedanken von Feuerbach heute an? Seine Behauptungen bezeichnen ähnliche (obwohl sie bei Feuerbach verborgen oder nur durch sein Schweigen darüber ›negativ‹ anwesend sind) Genealogien, wie wir sie vorhin bei Iriga­ ray gesehen haben. Nach Überzeugung der beiden Denker ist die Heilige Dreieinigkeit an sich schon Trägerin kosmischer, geschlecht­ licher und generationeller Elemente. Doch was ist die tatsächliche Dreieinigkeit oder Triade als Konzept und wie kann sie als Form verstanden werden, die als vollkommenstes Modell des göttlichen und menschlichen Wesens angesehen werden kann? Wie ist sie mit dem Nachdenken über die »Anwesenheit des Dritten« verbunden, Irigaray, Key writings, 162. Zur These eines feminisierten und mütterlichen Moses und der Tatsache, dass das Judentum in seinen Anfängen mehrere Frauen brauchte (Moses' Mutter, Hebammen, die Tochter des Pharaos, Leihmutter und biologische Mutter), um sich um ihn zu kümmern, siehe Lisa Guenthers ausgezeichnete Abhand­ lung »›Like a Maternal Body‹: Emmanuel Levinas and the Motherhood of Moses«. Hypatia 21, Nr. 1 (2006), 119−136. Moses wiederholt diese Rolle, indem er sein Volk später selbst – wie eine Hebamme – durch das Wasser ins Gelobte Land führt (125). 134 Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 85. 135 Ebenda, 148. 133

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der relationsbezogenen Bindung zwischen Einem und Zweien als ontologischen Urbereichen? Bevor ich meinen Versuch einer neuen matrixialen Theologie der Inkorporation Gottes zu entwickeln beginne, muss ich also das triadische Denken und die Triaden als Modell des Göttlichen näher erläutern. Aus den semiotischen Theorien wissen wir – insbesondere wenn wir auf Charles S. Peirce blicken –, dass sich die Bedeutung über den Unterschied und gleichzeitig über die Beziehungen zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem konstruiert, wo es letztlich zur grundlegenden triadischen Struktur kommt (Zeichen – Objekt – Bedeutung).136 In seiner berühmten Ansprache aus dem Jahre 1914 stellte Josiah Royce richtigerweise fest, dass Hass nur im Rahmen einer neuen triadischen Logik behoben und überwunden werden könne; nur so könne Frieden hergestellt werden.137 Wenn wir das nun auf die Ebene der Kultur übertragen, würde Homi Bhabha argumen­ tieren – indem er an den Begriff der kulturellen Hybridität anknüpfte –, dass sich »alle Formen der Kultur in einem ständigen Prozess der Hybridität« befinden und dass damit jeglicher Essenzialimus irgend­ einer vorgegebenen Kultur verneint wird. Als einer der Grundbegriffe

136 Die drei Kategorien bei Peirce sind: das Zeichen (erstens), das Objekt (zweitens) und der Interpretant (drittens). Siehe die frühe Arbeit von Peirce über Kategorien von 1867, dem der Essay »Nomenclature and Divisions of Triadic Relations as Far as They are Determined« aus dem Syllabus (1903) folgte, sowie letztens seinen Essay über drei Kategorien aus dem Werk »The Principles of Phenomenology« (zweiter Teil – »The Categories: Firstness, Secondness and Thirdness«), wo er sagt: »Meiner Ansicht nach gibt es drei Arten des Seienden« (Philosophical Writings of Peirce, hrsg. von J. Buchler, New York: Dover, 1955, 75–78). Zur triadischen Theorie von Peirce siehe Hermann Deuser, Religionsphilosophie (Berlin/New York: De Gruyter, 2008, § 10), vgl. insbe­ sondere Deusers originelle Tabelle zu semiotischen Triaden und Trichotomien auf S. 268. Der Leser wird hier freilich auch auf Platons Theorie der Dreiecke und die mit ihnen verbundenen kosmischen Trichotomien aus Timaios (53c ff.) hingewiesen. Auch bei Plotin gibt es gewiss drei Ursprungshypostasen. 137 Josiah Royce, War as Insurance: An Address (New York: Macmillan Company, 1914). Siehe Teil zwei dieses Aufsatzes mit dem Titel »The Neighbor: Love and Hate,« wo Royce – auf der Grundlage von Peirces Theorie der Semiotik – das Wesen der triadischen Logik wunderbar beschreibt: »[D]yadische, duale, bilaterale Beziehungen von Mensch zu Mensch, von jedem Menschen zu seinem Nächsten, sind Beziehungen, die mit sozialen Gefahren behaftet sind. Ein Menschenpaar ist das, was ich eine in ihrem Wesen gefährliche Beziehung nennen kann.« (30) Für Royce schließlich ist das dritte Element (eine Gemeinschaft oder, im politischen Sinne, ein internationales Versicherungssystem) erforderlich, um bei dyadisch etablierten Beziehungen zu intervenieren und somit zwischen feindlichen Parteien zu vermitteln.

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Anwesenheit des Dritten

dieser Nicht-Polarität oder des Nicht-Binarismus stellt sich bei ihm das Schema des »dritten Raumes« als Kategorie auf, die es tatsächlich möglich macht, dass sich »andere Positionen entwickeln«.138 Und um noch den dritten Schritt zu machen – von der semiotischen Theorie und der kulturellen Hybridität zur ternären Struktur in der Logik der Intersubjektivität –, eben diese Dynamisierung des dritten Raumes führt uns zur unabdingbaren Internalisierung des triadischen Prozesses. Diesen Prozess legt Jay Johnston in ihrer Analyse der so genannten dualen Subjektivität (dual subjectivity) schön dar. In ihrer Analyse von Irigarays Begriffen der Subjektivität stellt Johnston zutreffenderweise fest, dass wir jenseits der so genannten dualen Sub­ jektivität und der darin enthaltenen ontologisch-epistemologischen Trennlinie denken müssen (obwohl die ternäre Struktur auch im Denken von Irigaray enthalten ist; siehe mein Zwischenkapitel zur Logik des Intervalls). So bezeichnet Johnston dieses dritte Element in ihrem Denken mit dem Syntagma ternäre Struktur (ternary structure) und fügt hinzu: Irigarays To Be Two ist in Wirklichkeit ein To Be Three, wobei dem Dazwischen eine ontologische Handlungsfähigkeit zugeschrieben wird, die sowohl der dualen Subjektivität angehört als auch nicht. Es ist der gemeinsam geteilte Raum der subtil kreativen und dynami­ schen Beziehung.139

Dadurch wird die relationsbezogene Ontologie ein ternärer und trini­ tarischer Prozess. Genau dieses ontologisch-epistemologische Inter­ vall (bzw. dieser Ethikraum) wird alle intersubjektiven Beziehungen sowie spirituell-körperlichen Austausche ermöglichen, einschließlich jener, die einen kosmischen und theologischen Charakter haben. In ihrem aufschlussreichen Werk über Religion und Monotheis­ mus unterstreicht Laurel C. Schneider zutreffend, dass wir für das Begreifen der Dreieinigkeit in der heutigen Zeit unsere Überlegungen auf die »Göttlichkeit in der Vielheit« richten,140 was als erneuerte ontologische Geste zu verstehen sei, die ältere abstrakte oder nume­ 138 Siehe »The Third Space: Interview with Homi Bhabha«, in: Identity, Commu­ nity, Culture, Difference, hrsg. von J. Rutherford (London: Lawrence and Wishart, 1990), 211. 139 Jay Johnston, Angels of Desire: Esoteric Bodies, Aesthetics and Ethics (London/New York: Routledge, 2014), 51 (für »ternary structure«) und 92 (für das Zitat). 140 Laurel C. Schneider, Beyond Monotheism: A Theology of Multiplicity (London: Routledge, 2008), 4.

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rische (oder mathematisch-monarchische) Modalitäten und Postulate des Einen unmöglich macht und uns dadurch neue Möglichkeiten für die Inkorporation des Göttlichen eröffnet. Damit setzt sich Schneider für eine neue Theologie der Multiplizität, Theologie des Vielen ein, die jedoch wieder über die naiven und vereinfachten Überlegungen oder Dilemmata im Sinne »Gott oder die Götter« hinausgeht.141 Dies ist eine wahrlich bedeutende Feststellung, eine Art methodologisches Credo, denn in der gesamten Geschichte der Religion und Theologie waren Triaden das wahrscheinlich einflussreichste Modell zur Veran­ schaulichung der geistigen Austausche innerhalb des Bereichs des Göttlichen142 bzw. innerhalb der göttlich-menschlichen kosmischen und rituellen Sphären sowie der geistigen Austausche. Triaden stel­ len, wie wir sehen werden, Bemühungen für eine Einigkeit in der Verschiedenheit und somit für Frieden und Versöhnung dar, während das Denken von Einem und Zweien (Dyaden) von monolithischen, statischen Grundsätzen auf der einen oder a(nta)gonistischen (relati­ onsbezogenen, doch dialektischen, sogar bis zum Extrem – Gewalt und Krieg) Grundsätzen auf der anderen Seite geprägt ist.143 Ich möchte nun das Thema Inkarnation in Verbindung mit der Dreieinigkeit und der Multiplizität aus einem etwas anderen Blick­ winkel berühren. In den frühen Zeiten der israelischen Religion kann man mit der Zeit eine monotheistische Bewegung verfolgen, die ihren ersten Höhepunkt zwischen 640 und 609 v. u. Z. in der Regierungs­ zeit des Königs Joschija erreichte. Aus historischen Quellen weiß man auch, dass man von der Religion Israels spätestens in der Zeit des Zweiten Jesaja (540–520 v. u. Z.) sagen kann, dass sie stark mono­ theistisch in ihrer »intoleranten monolatrischen« Form wird.144 Wir wissen aber auch, dass die Bemühungen der ersten westlichen Philo­ Ebenda. Siehe die Einleitung zur englischen Ausgabe von Plotins Enneaden (The Enneads, übers. von S. MacKenna, London: Penguin, 1991, xxxv). Zu Dreiecken und ihrer kosmischen Rolle siehe die erwähnten Passagen aus Platons Timaios (53d). 143 Zu verschiedenen trinitarischen Theologien außerhalb der westlichen Welt siehe The Cambridge Companion to The Trinity (hrsg. von Peter C. Phan, Cambridge: Cambridge University Press, 2011), besonders die Kapitel 16–20, wo man die reiche Vielfalt triadischen Denkens im Konfuzianismus (Himmel, Erde und Menschheit) und Daoismus (sog. Dynamik und Relationalität innerhalb des Dao – als Einem, aus dem Zwei werden (Yin-Yang), die einen Nachkommen im Dritten haben) sowie freilich sowohl im Hinduismus als auch im Buddhismus (triguna, tridosha, trikaya ...) erkennen kann. 144 Schneider, Beyond Monotheism, 32. 141

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sophen (Thales, Pythagoras und Xenophanes, denen später Sokrates, Platon und Aristoteles folgten), die fast zeitgleich mit diesem Prozess im Rahmen des alten Israel waren, auf die Bildung stabiler Ontolo­ gien des Einen gerichtet waren. Diese unterschieden sich von den kosmologischen und polytheistischen Philosophien des antiken Grie­ chenlands, die noch aus früheren Zeitaltern stammen. Doch an dieser Stelle möchte ich nicht den wohlbekannten theologischen Entwick­ lungen von den frühen israelischen Formen der Monolatrie und des Monotheismus bis zur trinitarischen Theologie folgen, wie sie vom nizäischen Glaubensbekenntnis aus dem 4. Jahrhundert bestimmt wird. Ich möchte vielmehr ein Modell erörtern, das – vielleicht hier etwas unerwartet – in afrikanischen traditionellen Religionen zu finden ist. Es wird uns als Muster für eine eventuelle Umstellung unseres Nachdenkens über Triaden dienen und uns ermöglichen, das christliche Verständnis der Dreieinigkeit erneut zu begründen und sozusagen zu »materialisieren«, einschließlich der Rolle, die dabei kosmische, Geschlechts- und Generationsunterschiede spielen. Die erste Beschreibung der Multiplizität überhaupt, die der griechischen und jüdisch-christlichen Welt nahekäme, findet man in den alten ägyptischen und afrikanischen traditionellen Religionen. In seinem Werk Eine afrikanische Deutung der Dreieinigkeit (An African Interpretation of the Trinity) stellt der afrikanische Theologe A. Okechukwu Ogbonnaya eine äußerst interessante These von frühen afrikanischen Einflüssen auf die christliche Lehre von der Dreieinig­ keit (das heißt auf Tertullian) in den Raum. Ogbonnaya behauptet sogar, dass die afrikanische Kosmologie eigentlich die Grundlage für Tertullians Konzepte der heiligen Dreieinigkeit und der trinitarischen Gottheit war. Für Ogbonnaya ist gemäß dem gemeinschaftlichen Charakter der afrikanischen Religion die gegenseitige Beziehung weit mehr als eine dyadische Beziehung, in der sich zwei unkritisch ineinander verlieren. Die afrikanische Betonung der Nachkommenschaft stellt sicher, dass die dyadische Beziehung nicht zu Egoismus führt, weil es immer die Möglichkeit der »Präsenz eines Dritten« gibt.145

Der afrikanische Denker vertritt hier etwas sehr Wichtiges: erstens, dyadische Beziehungen (bekannt aus alten metaphysischen und theo­ 145 A. Okechukwu Ogbonnaya, An African Interpretation of the Trinity (New York: Paragon House, 1994), 8.

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logischen Modelle: Himmel und Erde, Gott und die Welt, Makrokos­ mos und Mikrokosmos, aber auch die Dichotomie Mythos–Logos) können nicht den Raum sicherstellen, in dem die ontologische und die göttliche Wirklichkeit in einer gegenseitig friedlichen Stimmung und ohne ontologischen Konflikt oder irgendeine andere Form der Aneignung höherer oder niedrigerer Sphären oder einer der beiden horizontalen Seiten bzw. Sphären der Dyade bestehen könnten. Die Anwesenheit eines Dritten ist somit für die Herstellung einer ganz­ heitlichen Relationsbezogenheit ohne jede Form von Aneignung von­ seiten irgendeines Gliedes der Triade notwendig. Zweitens, was noch wichtiger ist, ist die Anwesenheit des Dritten mit dem Kind verbunden und prägt damit die gemeinschaftliche Atmosphäre, wobei dies ihre kosmisch-ontologischen, geschlechtlichen und generationsmäßigen Aspekte einschließt, vor allem aber erhält. Beide Fragen (die Rela­ tionalität und die Idee von Nachwuchs) werden äußerst wichtig für meine Schlusskommentare zur matrixialen Theologie sein. Schon aus Platons Timaios wissen wir, dass die »dritte Gattung« (triton genos) bzw. das dritte »ewige Reich des Raumes,«146 geheimnisvoll als chóra bekannt, die Empfängerin allen Werdens ist, als eine Art Amme; es ist also eine ontologische Kategorie par excellence und – was vielleicht das wichtigste ist – chóra wohnt (schon bei Platon) immer dem weiblichen Element inne.147 Doch hier sei mir noch ein interkultureller Exkurs erlaubt: Es besteht eine unglaubliche Ähnlichkeit zwischen diesem Konzept und der daoistischen Philosophie, wie sie vom chinesischen Denker Kuang-ming Wu interpretiert wird. In seinem Werk über materielle Ethik und Religion stellt uns Wu eine idiosynkratische Denkweise vor, genannt »wombing forth« bzw. »wombing mother­ liness«, also »gebärende Mütterlichkeit« bzw. »aus der Gebärmutter Platon, Sämtliche Dialoge, Bd. VI: Timaios und Kritias (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1988), 73 und 78 (49a und 52a). 147 Nach Platons Timaios: »Damals nämlich unterschieden wir zwischen zwei Gat­ tungen, jetzt aber müssen wir noch eine weitere dritte Gattung zur Erörterung bringen. Denn für das früher Vorgetragene reichten jene beiden aus, die eine als urbildliche Gattung hingestellt, nur dem Denken erfaßbar und wandellos, die andere als ein Abbild des Urbildes, der Entstehung unterworfen und sichtbar. Eine dritte aber unterscheiden wir damals noch nicht, überzeugt, wir würden mit jenen beiden auskommen. Jetzt aber scheint der Gang der Untersuchung die Annahme einer schwer zu fassenden und dunkeln Gattung nötig zu machen, die es gilt durch die Darstellung ins Licht zu setzen. Welche Bedeutung also ist ihrem Wesen nach beizulegen? Etwa die folgende: sie ist als Empfängerin und gleichsam Amme alles Werdens anzusehen.« (Ebenda, 73; 48e). 146

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ausgehende Geste der Mütterlichkeit«. Die Vergebärmütterlichung basiert vor allem auf dem Konzept der »gebärmütterlichen Kraft« als femininer ontologischer Präsenz, die überall zu finden sei – »im Wasser, in den Wurzeln, in den Tälern«, und auch als ihre Präsenz in unserem Inneren, wodurch wir, als Menschen, fähig sind, demütig, mitfühlend und anderen ergeben zu sein. Die gebärmütterliche Kraft ist laut Wu der leere Raum zwischen Himmel und Erde […] ein mütterlicher Balg, leer, unerschöpflich, der unaufhörlich [Dinge] gebärt.

Mehr noch, setzt Wu fort: [j]ede menschliche Beziehung, die ihren Namen verdient, ist eine Bemutterung und »Gebärmutterung« – dein leeres Sein zieht mich hervor, lässt mich werden, wie ich bin. […] Die innere persönliche Berührung füllt die Leere in mir und in dir und macht uns eins. Und doch bleiben wir zwei, denn die Zweiheit ermöglicht die Berüh­ rung. Wir sind also zwei in einem und eins in zwei, dank unserer persönlichen Leere und der inneren Berührung. All dies beschreibt die gegenseitige Erfüllung. Die persönliche Leere erzeugt Liebe – innere Berührung –, die uns mütterlich dazu bringt, in uns selbst hineinzu­ wachsen.148

Hier ist also die dritte Art/das dritte Element, in einem anderen interkulturellen Kontext vorgestellt. Mehr noch, dieses Element ist apophatisch, denn es ist zwingend mit dem Selbst-Zunichtemachen meines Selbst verbunden, mit dem Raum der Leere in mir, mit meiner völligen Verausgabung für andere (Personen und Sachen) in ihrer gegenseitigen, doch wieder völligen Verausgabung für mich. Gebärmütterliche Kraft in ihrem essenziellen Vermögen – der verge­ bärmütterlichten Mütterlichkeit – ist der ontologische Raum unseres gegenseitigen Werdens, Möglichkeit der »inneren Berührung«149 zwischen zwei Wirklichkeiten, zuerst zwischen Mutter und Kind (Fetus) sowie letztlich zwischen Gott/Göttin und (jedem) Menschen. Vom Gesichtspunkt des Christentums findet man somit Christus in sich als Berührung im Inneren, eine subtile, doch starke geistige (Hei­

148 Kuang-ming Wu, On Chinese Body Thinking: A Cultural Hermeneutics (Leiden: Brill, 1997), 140–142 (Wu bezieht sich auf Dao de jing, Kap. 6). Meine Hervorhebung oben im Zitat. 149 Ebenda, 141.

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liger Geist; Atem oder Hauch der Nähe) Präsenz von Liebe, Demut und völligem Selbst-Zunichtemachen als Sichselbstüberwinden. Wenn wir auf Derrida zurückkommen, wissen wir, dass für ihn chóra äußerst wichtig war: auch sie (wie die daoistische gebärmüt­ terliche Kraft) war machtlos oder, besser gesagt, ohne jede Macht oder Gewalt und sie stellte doch die gebärmütterliche Kraft dar, ein ontologisches Rätsel, enigmatische und geheimnisvolle Präsenz alles Erschaffenen. Halten wir also diesen geheimnisvollen und weiblichen Charakter dieses gebärmütterlichen Raumes als Anwesenheit des Dritten oder als drittes Element des Werdens (das wie eine Art Amme in einer privilegierten Beziehung mit der Nachkommenschaft steht) fest. Somit werden wir in der Folge dieses Konzept mit der matrixialen Theologie verbinden können. Kommen wir nun zum afrikanischen gemeinschaftlichen und triadischen Kontext zurück: ubuntu ist der afrikanische BantuAusdruck für einen Komplex mit dynamischer ethischer Bedeu­ tung: Gerechtigkeit-Mitgefühl-Versöhnung-Freundschaft-Frieden. Die­ ses Wort bezeichnet nun den Topos aller ethischen Überlegungen im afrikanischen gemeinschaftlichen theologisch-religiösen Denken. Mit den berühmten Worten von John Mbiti gesagt, bedeutet Ubuntu innerhalb der breiteren afrikanischen Kontexte eine elementare und unumkehrbare ontologisch-ethische Geste, »Ich bin, weil wir sind; und weil wir sind, bin ich«.150 Das bedeutet Allverbundenheit in jed­ wedem Aspekt unseres gemeinschaftlichen Lebens – die gleichzeitig auch »den ganzen Kosmos einbezieht«151 und die bloß dyadischen Beziehungen innerhalb der kosmologischen oder gesellschaftlichen Kontexte übersteigt. Die größte Bedeutung dieses Gedankens liegt in der Interpretationsmöglichkeit, die Ogbonnaya angeboten hat und die besagt, dass in verschiedenen Analysen von Tertullians Gottheit die afrikanische Perspektive größtenteils übersehen wurde. Da Tertullian seiner Abstammung nach Karthager war und darüber hinaus unter starkem Einfluss sowohl der jüdischen als auch der griechischen Phi­ losophie stand, scheint es, dass er auch von seinem ›einheimischen‹ afrikanischen Denken beeinflusst wurde. Im Rahmen der Religiosität des alten Ägypten ist auch folgende Interpretation zu finden, die von folgenden Versen aus der altägyptischen Theologie bestätigt wird:

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John Mbiti, African Religion and Philosophy (New York: Praeger, 1969), 104. Ogbonnaya, An African Interpretation of the Trinity, 14.

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»Alle Götter sind drei / Amon, Ra und Pta ohne weitere.« In der Interpretation von Ogbonnaya: [F]ür die Ägypter war die Zahl drei ein Zeichen der Einheit in der Pluralität. [...] Die Zahl ist nicht wegen der Dreiheit von Bedeutung, sondern wegen ihrer symbolischen Wechselwirkung zwischen Einheit und Pluralität. [...] Zusätzlich zu den oben erwähnten Symbolen für die Drei gab es auch den Begriff psdt (›neun‹ oder ›eneada‹), der eine Neunergruppe bedeutet, die das Quadrat einer Dreiergruppe ist.152

Ähnliche nähere Erläuterungen der triadischen Struktur der Welt findet man weder in der alten jüdischen Theologie noch im christlichen und griechischen Schrifttum vor Tertullian und Plotin. Was kann man daraus schlussfolgern? Wir haben gesehen, dass im afrikanischen triadischen Denken die Idee der Nachkommenschaft wesentlich ist. In dem Sinne kann Jürgen Moltmann verstanden werden, der in seinem Werk Trinität und Reich Gottes schreibt, dass man im Lichte des Sohnes, der vom Vater hervorgeht, in der Tat vom »mütterlichen Vater« und der »väterlichen Mutter« sprechen könne.153 Dies bringt zweifellos ins Konzept des Dreieinigen Gottes eine erneuerte Dynamik des ontologisch verstandenen Geschlechtsunterschieds ein, wie ihn Luce Irigaray in mehreren ihrer philosophischen und auch ›theologischen‹ Werke darstellt. Doch die Frage des Geschlechtsunterschieds verband bereits Hans Urs von Balthasar mit der Dreieinigkeit: Kenose und die über-sexuelle Differenz überdecken sich in der Bezie­ hung zwischen Vater und Sohn in der Dreieinigkeit […]. Jesus ver­ bindet die zwischengöttliche Differenz mit der zwischenmenschlichen Differenz […]154

Der Geschlechtsunterschied wird so kosmisch – so wie in der wichti­ gen Feststellung von Mark Jordan, dass im modernen theologischen Denken »die Komplementarität von Mann und Frau nicht nur eine universelle moralische Regel wird, sondern eine kosmische Tatsa­

Ebenda, 45 ff.; beide Zitate. Jürgen Moltmann, Trinität und Reich Gottes (Gütersloh: Gütersloher Verlags­ haus), 1994, 164–65. 154 Linn Marie Tonstad, God and Difference: The Trinity, Sexuality, and the Transfor­ mation of Finitude (New York und London: Routledge, 2016), 30. 152

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che und der Schlüssel zum inneren Leben der Dreieinigkeit.«155 Somit können wir uns nun endlich erneut der Ausgangsfrage dieser Abhandlung annähern – wie ist die Inkorporation im Femininen überhaupt möglich?

Einer neuen matrixialen Theologie der Inkorporation entgegen Wir müssen noch einen Schritt machen, bevor wir eine neue matri­ xiale Theologie der Inkorporation entwerfen können. Deshalb möchte ich zu Maria zurückkommen. Nach Meinung von Irigaray ist für Maria das persönliche Band mit dem Göttlichen zwingend. Um jedoch ihre Meinung mit meinen vorherigen Analysen des Femininen und der Anwesenheit des Dritten zu verbinden, muss ich auf Feuerbach zurückkommen und seine Behauptung aus Das Wesen des Christen­ tums noch näher analysieren. Rufen wir uns in Erinnerung, dass für Feuerbach Maria »eine notwendige, innerlich herausgeforderte, ergänzende Antithese zum Vater im Schoße der Dreieinigkeit bil­

Ebenda, 76. Siehe zu diesem Thema auch die Lehren über die Mutter im Himmel von verschiedenen mormonischen Theologen und Denkern. Seit der Offenbarung von Schwester Eliza R. Snow von 1854 über die Anwesenheit der Mutter im Himmel in der Hymne »O My Father« hat sich dieses Thema zu einer (in)offiziellen Lehre der LDS (oder Mormonenkirche) entwickelt. Zu dieser und ähnlichen dogmatischen Kontroversen im Laufe der Jahrzehnte siehe David L. Paulsen und Martin Pulido, »›A Mother There‹: A Survey of Historical Teachings about Mother in Heaven«, BYU Studies 50, no. 1 (2011), 71–97; siehe auch die hervorragende Studie von Taylor G. Petrey, »Rethinking Mormonism’s Heavenly Mother«, Harvard Theological Review 109:3 (2016), 315–341. Petreys Aufsatz ist besonders wichtig für seinen Vergleich mit Irigarays Lehren über ihre göttlichen Frauen (»divine women«). In seinen abschlie­ ßenden Bemerkungen hebt Petrey die Fähigkeit des Mormonismus hervor, »die Vorteile eines pluralistischen Himmels, wie ihn der Mormonismus bieten kann,« zu betonen, was »Raum für eine Vielzahl von geschlechtsspezifischen Vorstellungen zu schaffen« einschließt, (340) – jenseits göttlicher oder menschlicher Dichotomien, die auf Heteronormativität beruhen. Interessanterweise ist es für ihn gerade das mormonische Denken, das in seiner gegenwärtigen Pluralität »die fließende und plurale Natur der sexuellen Differenz aufzeigen« sowie »für die Analyse von Rasse, Fähigkeiten und anderen morphologischen, sozialen und historischen Kategorien nützlich sein« kann. (341) Ich danke meinem geschätzten Kollegen, dem Mormonen John Durham Peters, dass er mich auf dieses Thema hingewiesen hat. 155

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det«.156 Doch wie sollen wir das verstehen? Auch im folgenden Passus zeigt es sich, dass Feuerbach sehr nahe bei Luce Irigaray ist; für ihn, und seiner trinitarischen Logik folgend, ist es sehr wichtig, dass auch Maria in den Himmel aufgenommen wurde: Ganz in der Ordnung war es daher auch, daß, um die göttliche Familie, den Liebesbund zwischen Vater und Sohn zu ergänzen, noch eine dritte und zwar weibliche Person in den Himmel aufgenommen wurde; […] aber es ist genug, daß das mütterliche Wesen neben Vater und Sohn hin gestellt wurde. Es ist in der Tat nicht abzusehen, warum die Mutter etwas Unheiliges, d.i. Gottes Unwürdiges sein soll, wenn einmal Gott Vater und Sohn ist.157

Das ist eine sehr tiefe Aussage: Nach Meinung von Feuerbach verdient Maria einen eigenen Zugang zum göttlichen Wesen und somit auch zu ihrem eigenen ontologischen Dispositiv. Doch wie? Laut Irigaray und ihren Analysen gibt es lediglich einige Beispiele, die uns Mariens vollkommene geistige Identität und Göttlichkeit offenlegen (Verkün­ digung, Aufnahme in den Himmel, Krönung): unter ihnen spielt die Aufnahme in den Himmel die wahrscheinlich herausragendste und vielleicht sogar entscheidende Rolle. Deshalb möchte ich von hier aus an Feuerbachs glänzende Intuitionen herantreten. Irigaray weist auf die Möglichkeit hin, dass Maria »ohne einen Tod oder eine Auferstehung wie bei ihrem Sohn« in den Himmel gekommen sei.158 Aus dem Dogma über Mariä Aufnahme in den Himmel aus dem Jahr 1950 geht hervor, dass die Frage, ob Maria tatsächlich gestorben sei, bevor sie diese Welt verließ, offen geblieben ist.159 Nach der Zeit des Schweigens über das Ende von Mariens Leben im Neuen Testament 156 »Die Maria paßt vielmehr ganz in die Kategorie der Dreieinigkeitsverhältnisse weil sie ohne männliche Befruchtung den Sohn gebar, wie Gott Vater ohne weiblichen Schoß den Sohn erzeugte, so daß also die Maria eine notwendige, innerlich heraus­ geforderte, ergänzende Antithese zum Vater im Schoße der Dreieinigkeit bildet.« (Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976, 83). Vgl. auch: »Die Maria paßt vielmehr ganz in die Kategorie der Dreieinig­ keitsverhältnisse, da sie ohne Mann den Sohn empfängt, welchen der Vater ohne Weib erzeugt, so daß also Maria einen notwendigen, von innen herausgeforderten Gegensatz zum Vater im Schöße der Dreieinigkeit bildet.« (148). 157 Ebenda, 147–148. 158 Irigaray, Key Writings, 163 (Essay »The Redemption of Women«). 159 Epiphanius von Salamis zum Beispiel meint sogar, dass das Kapitel 12 der Offenbarung bereits darauf hinweisen könnte (siehe Stephen J. Shoemaker, Hrsg., Ancient Traditions of the Virgin Mary’s Dormition and Assumption, Oxford: Oxford University Press, 2002, 12).

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und in den ersten Jahrhunderten der Kirche tauchten um das fünfte Jahrhundert herum verschiedene apokryphe Schriften auf, die die Aufnahme Mariä in den Himmel behandeln, nachdem sie entschlief, und sind nun überwiegend Teil der spätbyzantinischen Tradition sind. Diese Schriften erzählen von Mariens letzten Tagen auf dieser Welt. In einer von ihnen, einer Homilie des Johannes von Damaskus,160 findet man eine verblüffende Beschreibung des Augenblicks, wo Maria entschlief, worauf die Aufnahme in den Himmel folgte. Jesus steigt vom Himmel herunter zu ihr und der Passus darüber lautet wie folgt: Der Herr umarmte sie, nahm ihre heilige Seele und legte sie in die Hände Michaels und hüllte sie in unbeschreiblich prächtige Häute. Und wir Apostel sahen die Seele Mariens, wie sie in Michaels Hände gege­ ben wurde: Sie war vollkommen in jeder menschlichen Form, außer der männlichen oder weiblichen, und nichts war in ihr, außer einer Ähnlichkeit mit dem vollständigen Körper und siebenfachen Weiße.161

Jesus Christus, der Sohn Mariä, kommt mit einer Gruppe von Engeln und empfängt/nimmt ihre Seele, »die als weiß gekleidetes Kleinkind erscheint«:162 dieses unglaubliche Bekunden (»außer der männlichen oder weiblichen Form«) weist sowohl die affirmative als auch per negationem Zentralität der grundlegenden Generations- und Sexu­ algenealogien und Beziehungen im kosmisch-theologischen Sinne aus; es eröffnet die Möglichkeit der Interpretation der Aufnahme Mariä in den Himmel, nachdem sie entschlief, auf eine völlig neue ontologische Weise. Übersetzen wir das in die theologische Sprache der Gastfreundschaft, so folgt daraus: Wenn Maria während der Schwangerschaft und der früheren Kindheit Jesu seine Gastgeberin und Hüterin (»Elternteil«) war, ist nun der Sohn ihr Gastgeber sowie eine Art Hüter und Elternteil – auf ihrem Weg in den Himmel. Diese vollkommene gegenseitige Beziehung zwischen Maria und Jesus bezeichnet somit eine der wenigen, wenn nicht (vielleicht) die einzige vollkommene Anwesenheit der Beziehung/des Austausches Nach dem Werk von Antoine Wenger L'Assomption de la T. S. Vierge dans la tradition byzantine du VIe au Xe siècle und zwei anderen Ausgaben dieser ältesten griechischen Geschichte darüber, wie sie entschlief (vgl. ebenda, 351, Nr. 1). 161 Siehe Hl. Johannes von Damaskus, Homilie zur Entschlafung der Gottesmutter. URL: http://www.prodromos-verlag.de/JohannesDamaskus_EntschlafungTheotok os.pdf. Hier folgen wir die Übersetzung aus Traditions of the Virgin Mary’s Dormition and Assumption, 365. 162 Ebenda, 38. 160

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reiner Gastfreundschaft in ihrem unmöglichen Extrem am schieren Rand zwischen Leben und Tod sowie der Auferstehung … Ich darf nun, auf dieser Grundlage, endlich versuchen, das zu entwerfen, was ich mit dem Ausdruck neue matrixiale Theologie der Inkorporation benennen möchte. Wie wir gesehen haben, wurde schon bei Moltmann das Bedürfnis nach der Erweckung unseres Verständ­ nisses der Heiligen Dreieinigkeit geäußert. Laut Moltmann steckt die Schwierigkeit in der historischen patriarchalen Tradition der Theolo­ gie, innerhalb welcher sog. »patriarchale Hierarchien« den »Vater« in einer seiner zahlreichen Varianten (Gottvater – Kirchenvater – Lan­ desvater – Familienvater) einbeziehen.163 Doch für Moltmann ist die­ ser »Vater« an sich »zweigeschlechtlich bzw. transgeschlechtlich«164. Gott ist nun, wie bereits gesagt, gleichzeitig »mütterlicher Vater« und »väterliche Mutter«,165 was die völlig neue Frage der immanenten sexuellen Relationalität innerhalb der Heiligen Dreieinigkeit eröffnet. Wir wissen, dass wir nach dem elften Konzil von Toledo in 675 glauben können, dass der Sohn (mit der Zeugung und der Geburt) auf die Art de Patris utero hervorgegangen ist, was uns die Möglichkeit gibt, die Logik der Gebärmutter in die Dreieinigkeit einzubringen. Mehr noch, wir können behaupten, dass die bemerkenswerte Figur der Vierge ouvrante (zuerst um das Jahr 1400) eben den Gedan­ ken von Maria als kosmische Mutter zum Ausdruck bringt, »als die gesamte Trinität und den gesamten Kosmos enthaltend«.166 In Verbindung mit den Ideen, die bereits im apokryphen Bartholomäu­ sevangelium zu finden sind, stellt dieses Standbild die vollkommene, aber auch enigmatische kosmische trinitarische Konstellation dar, das Ziel, das ich in diesem Kapitel verfolge. Am Anfang dieser Abhandlung vertrat ich den Gedanken, dass wir ein Denken über eine neue Inkorporation des Göttlichen, eigentlich eine neue Theologie erdenken und verfolgen müssen, die imstande wäre, global und dialoghaft Antworten auf einige der aku­ testen gesellschaftlich-ethischen Fragen zu geben. Sodann stellte ich als ein Thema, das zuerst zu erforschen und zu dem ein theologischer 163 Moltmann, Trinität und Reich Gottes, 179. Der Absatz, auf den ich hinweise, trägt den Titel »Die immanente Trinität«. 164 Ebenda, 181. 165 Ebenda, 164–65. 166 Rosemary Radford Ruether, Goddesses and the Divine Feminine. A Western Religious History (Berkeley/Los Angeles: University of California Press, 2005), 155.

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Diskurs anzubieten wäre, die Ignoranz oder Nichtbeachtung des Begriffs des Geschlechtsunterschieds heraus, wie sie in verschiedenen anti-matrixalen Formen der Gewalt präsent ist. Irigaray meint, dass eine Aufgabe unserer Ära darin bestehe, »das Leben des anderen zu respektieren, in der Mutterschaft und in der Liebe selbst«,167 und dass Frauen zur Erfüllung der geistigen Aufgabe unseres Zeitalters berufen seien, da sie dank ihrer gebärmütterlichen Genealogie einen privilegierten Zugang zum Leben haben. Dies öffnet jedoch in glei­ chem Maße auch ethische Räume für Männer und ihre ›mütterlichen‹ Identitäten. Für Irigaray bringt dies das Eintreten des dritten Zeitalters zum Ausdruck (in ihren Werken heißt es Zeitalter des Atems oder Zeitalter des Geistes), in dem die Menschheit nicht mehr in einer männlichen Welt verschlossen sein wird (dies kritisiert auch Molt­ mann). Wir alle zusammen, als Männer und Frauen, auch im Sinne der Zusammenführung mit anderen Religionstraditionen, müssen stärker mit dem Leben des Universums, seiner Immanenz/Innerlich­ keit (Gebärmutter, chóra), seinem kosmisch-theologischen Pulsieren und geistigen Werden verbunden werden. Auf dieser Basis möchte ich für das Christentum folgendes triadisches Modell vorschlagen, das die (un)sichtbare Spur (S) oder chóra in den Schoß der Dreieinigkeit selbst einordnen würde: Gott-Vater   chóraS Gebärmutter-Matrix   Jesus-Sohn

der Heilige Geist

Dabei ist chóra als Spur in ihrer Femininität genau das, was Feuerbach in seiner trinitarischen Analyse vorschlagen wollte, sie nämlich als »einen notwendigen, von innen herausgeforderten Gegensatz zum Vater im Schöße der Dreieinigkeit« zu verstehen.168 Richard Kearney argumentiert in der außerordentlichen Passage zur Ikone der Heiligen Dreieinigkeit von Andrej Rubljow, die leere Annahmestelle im Kern 167 168

Irigaray, Key Writings, 175. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 148.

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des Kreises (d.h. der Dreieinigkeit) sei »nichts anderes als das Gebär­ mutter-Herz [womb-heart] der Maria selbst (chóra)«.169 Das ist ein außerordentlicher anatheistischer Gedanke, der unsere These von der Möglichkeit des ontologischen Dispositivs vollumfänglich stützt. Doch chóra ist machtlos, wie wir gesehen haben. Sie wirkt innerhalb keines bekannten Models oder Logik. Sie ist ein uranfäng­ liches und daher anarchisches Pulsieren des Lebens, ontologische Relationalität in ihrem kosmischen (d.h. geschlechtlichen und gene­ rationellen) Sinne. Doch wie ist sie mit der Anwesenheit einer drit­ ten Person, eines dritten Elements verbunden? Schon aus Platons Timaios wissen wir, dass die dritte Art (bzw. die dritte Form) als Raum, als Annahmestelle alles Werdens bestimmt ist. Doch es ist noch etwas mehr: Ich würde die Gebärmutter (in Hinblick darauf, dass sie ihre göttliche Inkarnation in Maria hat) als Anwesenheit des Dritten im Mittelpunkt der Heiligen Dreieinigkeit selbst, als ontologisches Dispositiv definieren, verbunden mit der immanenten Idee von der Nachkommenschaft/dem Kind und darüber mit dem mitfühlenden Dispositiv der uranfänglichen, aus der Gebärmutter hervorgehenden Mütterlichkeit, der Anwesenheit aller Schöpfung im Herz der Dreieinigkeit, der absoluten oder reinen Geste des Gebens – ein Zeichen reiner Gastfreundschaft oder Matrix der Liebe. Die Drei besitzt freilich bereits die strukturelle Vollkommenheit der dritten Person. Vater, Sohn und der Heilige Geist überdecken einander völlig und drücken die völlige Relationalität der drei göttlichen Personen aus. Aufgrund einer der möglichen Interpretationen der Offenbarung 12,1–6170 könnte chóra in ihrer Passivität und Zukunft (wegen der inhärenten Idee der Nachkommenschaft in Verbindung mit ihrer mütterlichen Rolle, aber auch damit, dass sie entschlief und in den Himmel aufgenommen wurde) der Beschreibung einer geheimnisvol­ 169 Richard Kearney, Anatheism: Returning to God after God (New York: Columbia University Press, 2010), 25. Vgl. auch seinen Gedanken, wo er die chóra als leeren Mittelpunkt versteht, um den in der Perichoresis-Bewegung verschiedene Personen der Trinität kreisen (56). 170 »[E]ine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt. Sie war schwanger und schrie vor Schmerz in ihren Geburtswehen.« (Offb 12,2) Zu Maria und ihrer Kindheit das Protoevangelium des Jakobus, in: Klaus Berger und Christiane Nord, Das Neue Testament und frühchrist­ liche Schriften (Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1999). Dieses Evangelium zeigt auf wunderbare Weise das genealogische Element, das Irigaray betont (und das auch in der Geschichte von Savitri zum Ausdruck kommt) – dass Anna und Joachim eine Tochter haben.

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len und »anonymen Maria, deren wahre Natur und Funktion noch nicht offenbart wurde«, entsprechen.171 Doch wir müssen noch die letzte Frage beantworten. Wie ist chóra als Matrix mit der Unbekannten von Bethlehem und Maria verbunden, mit ihrer besonderen femininen Anwesenheit? In ihrem außerordentlichen Werk God and the Rhetoric of Sexuality (Gott und die Rhetorik der Sexualität) argumentiert Phyllis Trible, dass »[I]n den hebräischen Schriften … die Gebärmütter der Frauen dem Gott [gehören].«172 Darüber hinaus wurde, was noch wichtiger ist, die Gebärmutter (hebr. rehem; wir wissen, dass die Bedeutung in der Plu­ ralform rahamim »Mitgefühl« lautet) aus dem alttestamentarischen Passus Ijob 31,13−15 nun von Phyllis Trible als »Ort der menschlichen Yvonne Sherwood und Kevin Hart (Hg.), Derrida and Religion: Other Testaments (New York: Routledge, 2005), 93. Vgl. zu Maria auch The Kristeva Reader, hrsg. von T. Moi (Oxford: Blackwell Publishing, 1996) – siehe ihren berühmten Essay »Stabat mater«. In dieser Schrift, die eine Dichotomie zwischen Maria, der Mutter Jesu, einerseits und ihrer eigenen Schwangerschaft und Mutterschaft (nämlich der von Kristeva) andererseits enthält, schreibt die Philosophin: »Jeder Gott, auch der Gott des Wortes, beruht auf der Muttergöttin.« (176) Dabei möchte ich die Leserinnen und Leser auf den außerordentlichen Essay von Emily A. Holmes »The Gift of Breath: Towards a Maternal Pneumatology« (in: Breathing with Luce Irigaray, hrsg. von L. Škof und E. A. Holmes, New York: Bloomsbury, 2013, 40 ff.) hinweisen, wo Holmes auf ein anderes Verständnis der Dynamik des Heiligen Geistes im frühesten Evangelienkontext hinweist. Bekanntermaßen ist im Hebräi­ schen das Wort ruah weiblich. Mehr noch, der Ausdruck weist nicht nur auf den Gött­ lichen Atem oder den Hauch des Lebens hin, sondern umfasst laut Shelly Rambo auch die Bedeutungen der Atemzüge der Frauen bei der Geburt (labouring breaths), wodurch sich ruah auch mit dem gebärmütterlich-maternellen Körper (maternal body) verbindet. Das ist das Atmen, das dem Kind Leben spendet. Jesus befindet sich laut Holmes in nächster Nähe dieses maternellen Atems. Obwohl die griechische Welt anstatt ruah den Ausdruck pneuma einführt, der nun männlich ist (was auch zur spä­ teren Maskulinisierung der Heiligen Dreieinigkeit führt), ist im Atmen von Jesus trotzdem die gesamte Bedeutung dieses archaischen maternellen Atems erhalten: »The Spirit descends upon Jesus in the form of a dove, guides his ministry, and is breathed out upon his disciples by the risen Christ. Rambo focuses much of her atten­ tion on Jesus' last exhalation, in which he ›hands over his Spirit‹ to his disciples at the foot of the cross. […] Jesus' gift of breath to his disciples also evokes the maternal body and the gift of breath at birth.« (Der Geist kommt in Form einer Taube auf Jesus herab, leitet sein Wirken und wird von dem auferstandenen Christus auf seine Jünger ausgehaucht. Rambo richtet einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit auf das letzte Aus­ atmen Jesu, bei dem er seinen Jüngern am Fuße des Kreuzes ›seinen Geist übergibt‹. […] Die Gabe des Atems, die Jesus seinen Jüngern schenkt, erinnert auch an den mütterlichen Leib und die Gabe des Atems bei der Geburt). (41) 172 Phyllis Trible, God and the Rhetoric of Sexuality (London: SCM Press, 1992), 34. 171

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(Sophia)

Gleichheit« beschrieben.173 Und das ist nun mein Abschlussgedanke: Das, was angegriffen, brutal vernichtet und sexuell missbraucht wurde, und dadurch radikal gefährdet in der Geschichte von der Unbekannten von Bethlehem hervortrat, ist genau dieser elementare ethisch-theologisch-ontologische Ort der Gleichheit (chóra); doch war – was nun gleichermaßen bedeutend ist – eben dieser Raum nun der Menschheit in Mariä Gebärmutter zurückgegeben, in der Jesus Christus als Versprechen neuen Lebens und Wiederherstellung der Gleichheit erscheint. Jesus' Mitgefühl hat somit einen matrixialmütterlichen Ursprung. Darin liegt letztendlich die volle spirituelle und theologische Bedeutung der Jungfräulichkeit Mariä, wie sie auch Luce Irigaray verstand174 – völlig im Gegensatz zu dem, was man aus den unzähligen patriarchalen Erklärungen ihrer Jungfräulichkeit als Unterwerfung, Unterordnung oder Abhängigkeit ableiten könnte. Die Jungfräulichkeit Mariä ist eine materielle Chiffre der Spur von chóra, die den Namen der Gerechtigkeit und Gleichheit trägt. Wir wissen nicht, ob im Herzen der Dreieinigkeit chóra ist oder wo diese weilt. Ihren ontologischen Status, ebenso wie ihre geschicht­ liche Identität, können wir weder bestätigen noch nachweisen. Es kann jedoch bestätigt werden, dass uns Maria, die Mutter Jesu, in ihrer radikalen und absoluten Gastfreundschaft zu einem möglichen Ort in der Zukunft (oder vielleicht zum Augenblick) führen kann, an dem wir den Fall der Inkorporation im Femininen in seiner stärksten, doch gleichzeitig absolut machtfreien Anwesenheit ewiger kosmischer Schwangerschaften und reicher/fruchtbarer Quellen ewigen Lebens erwarten und zelebrieren werden, die geachtet, voll geschützt und gepflegt werden müssen.

(Sophia) Im alttestamentarischen Buch der Sprichwörter trifft man auf die ebenso berühmte wie enigmatische Passage, die zahlreiche Denker und Mystiker sowie feministische Theologinnen inspirierte: Der Herr hat mich gehabt im Anfang seiner Wege; ehe er etwas schuf, war ich da. 173 174

Ebenda, 36. Irigaray, Das Mysterium Marias (Kap. “Die Virginität Marias“).

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Ich bin eingesetzt von Ewigkeit, von Anfang, vor der Erde. Da die Tiefen noch nicht waren, da war ich schon geboren, da die Brunnen noch nicht mit Wasser quollen. […] und spielte auf seinem Erdboden, und meine Lust ist bei den Menschenkindern. Spr 8, 22−24; 31

Wie sind nun diese Worte zur Urschöpfung der Weisheit und ihrem Verhältnis zur Idee des Kindes (ist die Weisheit selbst das Paradigma oder der Idee des Kindes, der Idee Gottes inhärent?) – insbesondere im Lichte der Überlegungen über die innere Dynamik des trinitari­ schen Geheimnisses und sein Verhältnis zum femininen Grundsatz? Unter den Denkern, denen wir hier unsere Aufmerksamkeit widmen müssen, sind es die russischen Denker Wladimir Solowjow, Sergej Bulgakow und Pawel Florenski auf der einen sowie Teilhard de Char­ din auf der anderen Seite, die jeder auf seine Art diese enigmatische Präsenz und gegenseitige Verbundenheit des weiblichen Prinzips der Liebe im eigentlichen Kern der Heiligen Dreieinigkeit erlebten und in Worte fassten. Teilhard de Chardin verfasste seine »Hymne an das Ewig Weibliche« (Eternel Féminin) zwischen 1916 und 1918.175 Die kosmische Maria bezeichnete er in seinem Buch Die Zukunft des Menschen mit folgenden rühmenden Beiwörtern, unter denen die abschließende Anknüpfung an die große griechische Fruchtbarkeits­ göttin, die Mutter der Persephone, besonders heraussticht: Maria ist für ihn »die Perle des Kosmos und die Verbindung mit dem inkarnierten persönlichen Absoluten – der seligen Jungfrau Maria, Königin und Mutter aller Dinge, die wahre Demeter.«176 Und so heißt es in Teilhard de Chardins hymnischem Gedicht: Seit Weltbeginn bin ich erschienen. Von den Ewen ging ich hervor aus Gottes Händen […] Ich bin das einigende Antlitz der Seienden […] Ich bin das wesenhaft Weibliche.177

175 Pierre Teilhard de Chardin, Hymne an das Ewig Weibliche, übers. von H. Urs von Balthasar (Einsiedeln: Johannes Verlag, 1968), 5. 176 Teilhard de Chardin, The Future of Man, übers. von N. Denny (New York/London: Image Books, 1964), 307. 177 Hymne an das Ewig Weibliche, 5.

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Bei ihm ist die Frage ihres Anfangs nicht im Vordergrund, die in dieser Hymne dem (maskulinen) Schöpfungsmoment unterworfen bleibt. Als vereinendes Prinzip ist die kosmische Maria jedoch bedeutend mit dem aufkeimenden Prinzip der Liebe verbunden, das aus dem Grund der ewigen Weiblichkeit kommt. Wie ist diese anscheinend unlösbare Doppelheit, dieses Enigma zu verstehen? Für einen Inter­ preten dieser Hymne, Henri de Lubac, ist hier ihre christologische Dimension wichtig: »Ihm ist das Weibliche kein neutrales Prinzip. Seine Vollkommenheit findet sich realisiert in einer Person: in der Jungfrau Maria.«178 Und de Lubac verbindet diesen Gedanken gerade mit der Idee der kosmischen Maria. Damit öffnet sich die Frage ihrer kosmisch-theologischen Bestimmung noch radikaler und es scheint, dass Teilhard de Chardin sie nicht zur Gänze beantworten konnte. Henri de Lubac schreibt in seinem Kommentar klar und vollkommen voraussehbar, dass man darin nach »keinerlei Analogie zu den sophio­ logischen Theorien eines Bulgakoff« suchen sollte. »Die Weisheit ist keine Hypostase, die in ihrem geschöpflichen Antlitz sich in der Jungfrau Maria verwirklichen würde.«179 Damit ist dem ewig Weibli­ chen erneut das ontologische Dispositiv genommen. Doch Henri de Lubac war nicht bereit, sich tiefer in die geheimnisvolle Natur der Weisheit im Rahmen der Sophiologie einzulassen. Und Teilhard hat uns einen Hinweis hinterlassen, die aufmerksameres Lesen verdient: der Hinweis knüpft an das Prinzip der Sehnsucht/Liebe sowie an die prozessuale Natur der Offenbarung Gottes selbst an. In diesem Rah­ men kann der Überfluss der Liebe erahnt werden, die in den Kern von Gottes Offenbarung selbst hineinreicht. Im zweiten Teil der Hymne treffen wir so auf folgende Worte, die das wesentliche Moment im Prozess der Offenbarung als Ent-zwei-ung (d.h. prozesshaftes Einssein und Ko-Integration von Offenbarung-Entfaltung-Geburt) Gottes und seines/ihres Austretens in die Schöpfung beschreiben: Die Liebe allein ist fähig, das Sein zu bewegen. Und so mußte Gott, um aus sich heraustreten zu können, vor sich her zuerst einen Pfad der Sehnsucht entwerfen, vor seiner Ankunft her einen Duft von Schönheit verbreiten.180

178 179 180

Ebenda, 28. Ebenda, 121. Ebenda, 13.

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Damit bekommen aber die einleitenden Worte aus dem Buch der Sprichwörter (ab initio creata sum) eine klare prozessuale Bedeutung und wir müssen versuchen, auf der Spur eben dieses Weges und der Spur des ontologischen Unterschieds (Quelle oder Matrix der Liebe) zu gehen, der in ihm, dem Weg ist, der sich nur wenigen offenbaren ließ, und unter ihnen sind sicherlich an auserwählter Stelle Wladimir Solowjow, Sergej Bulgakow und Pawel Florenski sowie ihre Sophiologie. Wladimir Solowjow (1853−1900) hatte von seiner frühen Jugend an (erstmals schon im Alter von neun Jahren in der Kapelle der Moskauer Universität) eine Serie mystischer Visionen, in denen sich ihm auf die Art der All-Einheit die göttliche oder ewige Sophia (russ. premudrost), das »Ewige Weibliche« offenbarte. Solowjow wusste freilich, das er diesen Gedanken, der in sich eine enigmatische Doppel­ heit (kosmisch-universell vs. christologisch-kirchlich) trägt, mit der schweren Frage seines Verhältnisses zur trinitarischen Lehre würde verbinden müssen, die in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts in der für viele häretischen Lehre Bulgakows über die Sophia als vermeintliche vierte Hypostase Gottes kulminierte.181 Solowjow steht freilich am Ende einer langen Geschichte der Verehrung der Weisheit im Rahmen der byzantinischen und später russischen orthodoxen Spiritualität, die man mit ihrem Beginn im frühen 4. Jahrhundert (Konstantins Hagia Sophia sowie das Konzil von Ephesos im Jahre 431 und die Erklärung der Maria zur Theotokos) eingrenzen kann. Nach der Zeit des langsamen Untergangs der frühen »Sophiologie« hat gerade Solowjow diese Ausrichtung wiederbelebt und ihr auch einen neuen theologisch-kosmischen und philosophischen Sinn gegeben. Für Solowjow ist die ewige oder göttliche Sophia (als die Weisheit in ihrem ewigen Aspekt) nun das innere Wesen Gottes selbst innerhalb des trinitarischen Geheimnisses.182 Solowjow sieht die Sophia als sich 181 Siehe dazu die vorzügliche Abhandlung von Karel Sládek »Sophiology as a Theo­ logical Discipline according to Solovyov, Bulgakov and Florensky«, Bogoslovni vestnik 77: 1 (2017), 109–116. Siehe speziell zu diesem Thema und zur Kontroverse über Bulgakow und seine Sophia-Lehre S. 111 und 112. 182 Siehe Brenda Meehan, »Wisdom/Sophia, Russian Identity, and Western Fem­ inist Theology«, CrossCurrents 46:2 (Summer 1996), 149–168. Meehan sagt Fol­ gendes: »Starting with the concept of ultimate reality, Solov'ev argues that the One must differentiate itself internally (and eternally) into three hypostases which are non­ etheless one Absolute, one God, in virtue of each having the same divine substance. Solov'ev speaks of that substance as Sophia, the essential wisdom of God.« (156)

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offenbarendes oder sich entfaltendes Wesen Gottes in der kosmischen Geschichte. Auf neoplatonistische Weise und jenseits einfacher Dua­ lismen des Männlichen oder Weiblichen denkt er über die Weisheit auf prozessuale Art nach, indem er sie als »latente Potentialität […] aller Dinge« und als Grundsatz aller Humanität sieht: die Weisheit ist »der ewige Leib Gottes und die ewige Seele der Welt.«183 Bulgakow, der auf seine Art der Lehre von Solowjow folgte, ging somit in seinen Werken von der (mindestens) doppelten Natur der Sophia aus, die man mit dem Unterschied zwischen dem göttlichen (kosmischen) und dem erschaffenen Aspekt bezeichnen kann. So spricht von Bulgakow und seiner Theologie Sládek – und diesen Passus möchte ich hier in vollem Umfang wiedergeben: Bulgakow musste sich aus theologischer Sicht mit dem Konzept der ewigen Weisheit Gottes auseinandersetzen. Vor allem war es notwendig, die Beziehung der göttlichen Sophia zu den drei Perso­ nen (Hypostase) der Heiligen Dreifaltigkeit klar zu definieren. Sollte Sophia ein lebendiges Wesen in Gott sein, wie alles Denkbare – dann muss man das Verhältnis zu den Hypostasen von Vater, Sohn und Hei­ ligem Geist herstellen – oder was ist Sophias Existenz in der Trinität? Bulgakow löste das Problem, indem er zwischen »Hypostase« einer­ seits und »Hypostasierung« andererseits unterschied. Für Bulgakow ist die göttliche Sophia also nicht »Hypostase, sondern Hypostasierung: Sie ist in das persönliche Leben der Hypostase einbezogen und dadurch selbst ein lebendiges Wesen. Die göttliche Sophia ist die Selbstmani­ festation der Göttlichkeit des Lebens der Heiligen Dreifaltigkeit und als solche ist sie sowohl vor-ewig als auch geschaffen; sie ist ein trinitarischer Akt der Selbstverwirklichung.184

Siehe dazu auch die beiden heute klassischen Werke der feministischen Theologie: Elizabeth A. Johnson, She Who Is: The Mystery of God in Feminist Theological Discourse (New York: Crossroad, 1993) sowie Rosemary Radford Ruether, Sexism and God-Talk. Toward a Feminist Theology (Boston: Beacon 1983). Beim Lesen der westlichen feministischen Theologie, die der Weisheit gewidmet ist, weist Meehan auf die Gemeinsamkeiten und auch auf einige der Grenzen der russischen Sophiologie hin. 183 Meehan, »Wisdom/Sophia, Russian Identity, and Western Feminist Theology«, 156 und 157. Das zweite Zitat stammt aus Solowjows Tschtenija o bogotschel­ owetschestwe. 184 Sládek, »Sophiology as a Theological Discipline according to Solovyov, Bulgakov and Florensky«, 113.

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Für Bulgakow ist die göttliche Sophia somit das Wesen oder ousia der Dreieinigkeit selbst: Diese Ousia, diese Substanz Gottes, ist kein abstraktes Prinzip, sondern ein lebendiges, Sophia. In der göttlichen Perichoresis oder Ko-Inhärenz sind die Personen der Dreifaltigkeit nicht nur durch ihr einzelnes Wesen vereint gesehen, sondern auch hypostatisch, jede in Beziehung zu jeder. Sophia ist die gegenseitige Liebe der Personen der Dreifaltigkeit zueinander, ihre gegenseitige Ko-Inhärenz ineinander, ihre Besonderheit in der Beziehung: »der tri-hypostatische Gott besitzt in der Tat nur eine Göttlichkeit, die Sophia […] Die Ousia-Sophia ist von den Hypostasen unterschieden, obwohl sie nicht getrennt von ihnen existieren kann, und ist ewig in ihnen hypostasiert. Sophia ist keine vierte Hypostase, oder ein zweiter Gott, sondern »das Wesen Gottes […] eine lebendige und daher liebende Substanz, Grund und ›Prinzip‹.«185

Auch in der Interpretation von Bulgakow durch John O'Donnell wird Sophia als tertium datur in einer wesentlich doppelheitlich ver­ standenen Relationalität innerhalb der Dreieinigkeit, aufgefasst als »die Offenbarung der Tiefe des göttlichen Wesens […] Die göttliche Weisheit ist sowohl ungeschaffen als auch ewig. Sie gehört zu Gottes eigenem Leben«.186 Auch der Zeitgenosse und Freund von Bulgakow, der große russische Denker Pawel Florenski thematisiert in seinem Werk Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit die noch immer unbeantwortete Frage der Vor-Ewigkeit der Sophia. Sophia »nimmt am inneren Leben der Trinität teil, aber nicht als Hypostase, sondern als ewiges Geschöpf«. Sophia ist also im theologischen Sinne keine vierte Hypostase, sondern das innere Wesen (Ousia-Sophia187) der drei Hypostasen oder drei Göttlichen Personen, das Leben Gottes selbst und der Liebe, der Quell ihres Überflusses, der sich in die Welt 185 Meehan, »Wisdom/Sophia, Russian Identity, and Western Feminist Theology«, 159−160. Die Anführung im Zitat stammt von Bulgakow (Sophia, The Wisdom of God; siehe ebenda, Anm. 39). 186 John O'Donnell, »The Trinitarian Panentheism of Sergej Bulgakov«, Gregorianum 76:1 (1995), 32 ff. Dies ist eine außerordentliche Beobachtung dieses Interpreten. 187 Meehan, »Wisdom/Sophia, Russian Identity, and Western Feminist Theology«, 160. In Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit befasst sich Pawel Florenski mit der noch immer unbeantworteten Frage nach der Vor-Ewigkeit der Sophia. Für ihn hat Sophia nun »Anteil am inneren Leben der Trinität, aber nicht als Hypostase, sondern als ewige Schöpfung« (114; zitiert nach Meehan). Für Florenskis Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit siehe: http://www.kontextverlag.de/florenskij.zehnter. html.

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der erschaffenen Sachen über das Leben Christi und das Wirken des Heiligen Geistes ergießt. Fassen wir nun letztlich diesen Gedanken in unserem abschließenden Modell der Liebe zusammen, aus dem matrixialen Urgrund hervorgehend, diesmal theologisch gedacht: Gott   Sophia-Liebe (Mariens) Matrix   Jesus

der Heilige Geist

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Zweiter Teil: Philosophie und Ontologie der Liebe

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Clara / Matrix

In seinem Werk über die Liebe Das Erotische stellt Jean-Luc Marion die Hypothese auf, dass die Liebe in der Geschichte der »Philosophie« dem Vergessen überlassen wurde. Deshalb will er die Erforschung der Liebe wieder hoffahig machen, eben um der (erotischen) Liebe den Stellenwert, der ihr zusteht, und die Aufmerksamkeit, die sie verdient, zu geben. Marion befasst sich als Phänomenologe insbesondere mit dem Phänomen des Erotischen und seinen verschiedenen philosophi­ schen Formen, wie etwa der erotischen Reduktion und den mit ihr verbundenen Erscheinungen, die ihre Verkörperungen in unseren Lebenswelten begleiten (zum Beispiel Liebhaber und Verlangen, der Körper als Fleisch, aber auch das Kind als »dritte Person«). Durch die gesamte Geschichte der Philosophie und Theologie hindurch findet man verschiedene Thematisierungen der Liebe, die sich meistens auf ihren erotischen bzw. agapistischen Charakter konzentrieren. Von Platon bis zu Maximus dem Bekenner auf der einen und, wenn man so will, von Kierkegaard zu Lacan auf der anderen Seite war die Liebe allzu oft Opfer philosophischer und theologischer Aneignung sowie sogar metaphysischen Missbrauchs. Die Liebe konnte nicht eine Weise der Entwicklung unseres Seins als Selbsttranszendenz werden, denn sie wurde allzu oft von vorbestimmten Ideen von Göttlichem/Gott – vom göttlichen Wesen als monarchischem Herrn gelenkt und angeeignet, meistens also männlichen Geschlechts, das für uns in einer seiner metaphysisch stabilen Formen besteht. In diesem Versuch möchte ich die ursprüngliche und immanente Natur der Liebe in ihrer ontologischen Zeitlichkeit analysieren. Diese Ent­ hüllung ist ein Mysterium und eine Geste, aus unserer Seele und für unsere Seele geboren, eine Geste, die sogar stärker als der Tod ist. Ich denke an die Weisheit der Liebe, wie sie von Luce Irigaray schön beschrieben wurde und die diese Erörterung einleiten soll: Philosophie und Theologie werden in dieser Weisheit der Liebe eine mögliche Versöhnung finden. Das Göttliche nimmt dort einen wichti­

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Clara / Matrix

gen Platz ein als das Werden des Menschen selbst, das durch die Liebe Körper und Geist transsubstanzialisiert.188

Mit dem Lesen von Schellings philosophischem Dialog werde ich in diesem Beitrag zeigen, dass derartige originelle Versuche der (Wieder-)Begründung einer neuen Ontologie der Liebe notwendig waren für das Füllen der Lücke im Kern der Geschichte unseres philo­ sophischen (und theologischen) Denkens. Diese Wiederbegründung ist die Bedeutung des Ausdrucks Versöhnung, wie er von Irigaray im obigen Passus aus ihrem The Way of Love verwendet wird. Es scheint allzu offenbar zu sein, dass die Liebe (meist zur Weisheit, manchmal zum Mitmenschen oder sogar zu nichtmenschlichen Tie­ ren) die philosophische Tätigkeit von der Urzeit her antrieb. In der Theologie war die Liebe – klarerweise – sogar eine der grundlegenden theologischen Tugenden. Doch eine andere Bemerkung von Irigaray, im Einklang mit Marions Anmerkung über das Vergessen der Liebe, stellt diese selbstverständliche Natur der Liebe in der Philosophie (und also auch in der Theologie) in Frage. Es geht um die Frage, wieso die »Philosophie« (ähnlich wie die Theologie – »Diskurs über Gott«) nicht zur Weisheit der Liebe werden konnte, sondern immer im umgekehrten Sinne als Liebe zur Weisheit verstanden wurde.189 Und vielleicht im analogen Sinne, wieso die Theologie nicht vornehmlich als Erzählung von der Liebe und ihren irdischen Inkorporationen – Liebe als Hauch der Nähe – aufgekommen ist, sondern allzu oft zu einer sterilen und farblosen scholastischen Disziplin wurde, die sich mit verschiedenen metaphysisch untermauerten Kategorien und »Beweisen« Gottes befasst. Diese Bemerkung kann wohl nicht entsprechend sprachlich oder semantisch begründet werden, doch zweifelsohne ist die Vorherrschaft der Weisheit über die Liebe immer noch eines der wichtigsten Merkmale der westlichen Philosophiege­ schichte.

188 189

Irigaray, The Way of Love, 11. Ebenda, 4.

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Annäherung an Schellings Clara

Annäherung an Schellings Clara Schellings Dialog Clara (verfasst 1810)190 ist zweifellos eines der seltensten und kostbarsten Ereignisse in der Geschichte der Philoso­ phie und Literaturgeschichte seit den Anfängen des philosophischen Denkens in der antiken griechischen Welt. Da hier mitten in der Zeit des deutschen Idealismus die Hauptperson des Dialogs Clara ist, und da Schelling es nur 18 Jahre nach der Verteidigung der Frauenrechte von Mary Wollstonecraft geschrieben hat, stellt dieses Werk eine Art philosophischer Prosa dar, die es wert ist, äußerst aufmerksam gelesen zu werden. Dieser weiblichen Geste von Schelling (d.h. der Themati­ sierung des besonderen Verhältnisses zwischen dem Ontologischen und dem Femininen) kommt nur Ludwig Feuerbach verhältnismäßig nahe, der sich in seiner Abhandlung »Über Spiritualismus und Mate­ rialismus« (aus dem Jahre 1858) auf den Geschlechtsunterschied als wesentliches ontologisches Merkmal unseres Seins berief.191 Clara 190 Zur Chronologie der Werke von Schelling aus der mittleren Periode vgl. Fiona Steinkamp, »Schelling's Clara – Editors' Obscurity«, Journal of English and Germanic Philology (2002), 478–496. Steinkamp schreibt in ihrer »Einleitung« zur Übersetzung von Clara: »Clara ist einzigartig in der philosophischen Literatur. Es handelt sich um eine Abhandlung in Form einer Erzählung, in der die Struktur selbst den Inhalt widerspiegelt und in der eine der Hauptfiguren eine Frau ist.« (F. W. J. Schelling, Clara, or, On Nature's Connection to the Spirit World, übers. von F. Steinkamp, Albany: SUNY Press, 2002, vii). 191 Ludwig Feuerbach, »Über Spiritualismus und Materialismus«, in: Kritiken und Abhandlungen III, 1844–1866 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1975), 394. Vgl. hier auch den einzigen Roman von Friedrich von Schlegel – den sog. unvollendeten früh­ romantischen Roman Lucinde aus dem Jahr 1799. Zu diesem, in jener Zeit umstritte­ nen Werk siehe die »Einleitung« zu Friedrich Schlegel's Lucinde and the Fragments, übers. von P. Firchow (Minneapolis: University of Minnessota Press, 1971). Interes­ santerweise war Schlegel, der in diesem Roman eine neue Liebesreligion begründete, indem er seine Beziehung zu Dorothea Veit auf eigenwillige und für die damalige Zeit sogar skandalöse Weise formulierte, gleichzeitig mit Schellings späterer Frau Caroline (»Clara«) bekannt, die zu dieser Zeit noch mit seinem Bruder August Wilhelm Schle­ gel verheiratet war (Caroline »tritt« aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Schlegels Roman auf; zu dieser Vermutung siehe S. 37). In der Beziehung zwischen den beiden Hauptfiguren des Romans – Julius auf der einen und Lucinde auf der anderen Seite (als Priesterin der neuen Religion und in der damit verbundenen Rolle von Julius' »Erlöserin«) – könnte man die Anfänge einer neuen Ordnung der sexuellen Differenzierung suchen, vor allem angesichts der tiefgründigen Fragen, die sich Julius nach dem Tod seiner geliebten Partnerin stellt, aber in Ermangelung einer positiven Logik der sexuellen Differenz (die Frau als Symbol der Passivität oder der Natur und der Unterschied in der Funktion der Liebe für Mann und für Frau, siehe dazu die »Einlei­

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Clara / Matrix

reiht sich in Schellings so genannte mittlere Periode ein, die meiner Meinung nach von den drei wichtigsten Werken seines philosophi­ schen Schaffens überhaupt geprägt ist: Über das Wesen der menschli­ chen Freiheit (1809), Clara (die von Schelling höchstwahrscheinlich 1810 verfasst wurde, und erstmals, und auch das nur ein Abschnitt, von seinem Sohn 1861 veröffentlicht wurde) und Weltalter (Entwurf von 1813 und seine späteren Fassungen). Diese Werke gehören zu einer sehr schweren Zeit, die auf die Krankheit und den Tod von Schellings geliebter Gattin Caroline im Jahre 1809 folgte. Jason Wirth hat recht, als er in seiner »Einleitung« zum Werk Schelling Now sagt, dass Schelling in Bezug auf seine Werke aus der mittleren Periode besser nicht als das bereits sublimierte objektive Gegenstück zu Fichte verstanden werden sollte, sondern eher als Vorläufer von Denkern wie Heidegger, Derrida, Bataille, Irigaray, Foucault, Deleuze, Levinas und vielen anderen.192 Wirth stellt auch schön die Themen dar und definiert den Ausnahmecharakter von Schelling für die Zeit, in der er tätig war: die ontologische Differenz, das Primat des Guten (bzw. die Liebe, wie wir in weiterer Folge sehen werden), den unteilbaren Rest in seinem philosophischen Denken, die Selbstüberwindung dialektischen Denkens, die Nichtdualität und noch weitere Merkmale seines Werks. Das zentrale Thema in Clara ist der Tod. Doch Clara ist vor allem ein Dialog über die Ontologie des Trauerns. Das Zwiegespräch beginnt am Allerheiligentag, als Clara, der Priester und der Arzt über den besonderen Schauplatz des Gedenktages der Toten mit seinem inhärenten Hauch des Übergangs vom Herbst in den Winter sprechen. Clara, die sich an ihren Gatten Albert erinnert und seinen Verlust betrauert (d.h. Schelling, der den Verlust von Caroline betrauert – einer ihrer Namen war nämlich Albertine), behauptet, dass zwischen der diesseitigen und der nächsten Welt – der geistigen Welt der Verstorbenen – eine Art Verbindung oder Kommunikation bestehen tung«, s. 25 ff.) werden wir an dieser Stelle nicht nach Parallelen zur Grundaussage von Clara und dem damit verbundenen Schellingʼschen Bekenntnis zu einer Ontolo­ gie der Liebe suchen. Vgl. zur Ausgabe des Romans: Friedrich von Schlegel, Lucinde: ein Roman (Stuttgart: Reclam, 1973). 192 Schelling Now: Contemporary Readings, hrsg. von J. M. Wirth (Bloomington: Indiana University Press, 2005), 6 ff. Wirth will damit sagen, dass der Ansatz von Schellings Philosophie seiner Zeit weit voraus war. Wirth zufolge wird man zwischen den Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810 und den Erlanger Vorlesungen von 1821 einen Schelling entdecken, »mit dem wir uns noch nicht wirklich auseinandergesetzt haben« (4).

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Annäherung an Schellings Clara

müsse. Diese ontologische Zeitlichkeit von Claras grundlegender Frage und Interesse geht aus ihrer Ergebenheit zu ihrem verstorbenen Mann und ihrer Liebe zu ihm hervor. Claras Frage führt uns zu einer sehr unkantischen Überlegung, dass nämlich die geistige Welt (der seligen anderen) auf eine uns noch nicht offenbarte Weise in uns lebt und uns also real zugänglich ist. Freilich, und das wollte Schelling mit dieser Abhandlung sagen, kann diese These nicht mit den philo­ sophischen oder theologischen Ausdrucksmitteln der Vergangenheit oder der Gegenwart dargelegt oder gar analysiert werden, sondern sie ist ein Ausdruck unserer inneren Welt, der Welt ethischer Anatomie und ihrer Materialität (siehe Lacrimosa im unseren Requiem für Lampedusa), wofür jedoch noch keine Sprache und keine ethischen Gesten erfunden wurden. Zum Beweis dieser Ausrichtung sollten wir uns die innere Logik von Schellings Schrift näher ansehen. Schon am Anfang des Textes findet man feinfühlige Worte über eine junge Mutter, die über den Verlust ihrer Kinder trauert: dort eine Mutter still am Grabe früh verlorener Kinder stehend, wo es des geweihten Wassers nicht, die Stelle der Thränen zu vertreten, brauchte, sondern sanft niederfließende, von süßer Wehmut geheiligte Zähren die Grabhügel erfrischten.193

Diese Worte sind nicht bloß eine literarische Ausschmückung; dieser kurze Absatz enthält Motive, die in materieller und ethischer Hinsicht bedeutsam sind: Urgewässer, Heiligkeit und Materialität der Tränen, weibliche Präsenz, Stille und Wehmut (oder Trauer). Tränen als aus unserem Körper aufkommend/sich materialisierend – wortwörtlich aus dem Nichts, übertreten die unsichtbare Grenze zwischen Körper und Seele/(Geist?) und stellen unsere vergessenen oder verborgenen Erinnerungen an die uranfänglichen kosmischen Wässer und die weibliche Göttlichkeit dar. Tränen sind in dieser stillen oder verhal­ tenen Trauer ein starkes Symbol der verborgenen kosmologisch-spi­ rituellen Verbindung, die wir noch nicht konzeptuell herausgebildet haben. Bereits in der Gabe des Todes sagte Derrida: Diese Symptomatologie ist so rätselhaft wie Tränen. […] Es wäre notwendig, in das Denken über den Körper neu einzudringen, ohne die Register des Diskurses (Denken, Philosophie, bio-genetisch-psycho­ 193 Ich zitiere Schellings Clara nach der Ausgabe Schellings Werke: Nach der Original­ ausgabe in neuer Anordnung, Red. Manfred Schröter (München: C. H. Beck, 1927–59 und 1962–71). Für die Passage siehe I, 9, 11.

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Clara / Matrix

analytische Wissenschaften, Phylo- und Ontogenese) zu dissoziieren, um eines Tages zu jener Ursache zu gelangen, die nicht die letzte Ursache ist, die Gott oder Tod genannt werden kann (Gott ist die Ursache des mysterium tremendum, und der Tod, der uns gegeben wird, ist immer das, was uns erzittern lässt, oder was uns auch zum Weinen bringt), sondern auf eine nähere Ursache zu kommen; nicht auf die unmittelbare Ursache, d.h. den Zufall der Umstände, sondern auf die unserem Körper am nächsten liegende Ursache, die dazu führt, dass man eher zittert oder weint als etwas anderes zu tun.194

Im Zuge der Beschreibung des Friedhofs am Allerheiligentag folgt Schellings diskreter eschatologischer Hinweis, und zwar: »die Brüder kamen wieder zu den Brüdern, Kinder zu den Eltern, und waren in diesem Augenblick wieder Eine Familie«, und danach die Frage, wie vielsagend und angebracht es sein könnte, »diese Blumen des Herbs­ tes den Todten zu weihen, die uns im Frühling jene fröhlichen Blumen aus den dunkeln Rammern heraufreichen zum ewigen Zeugniß des fortdauernden Lebens und der ewigen Auferstehung«.195 Clara ist ein Text über das beweinenswerte Leben, meiner Mei­ nung nach der erste philosophische Text in der Geschichte des westlichen Denkens, der zur Gänze der vergessenen Ontologie der Liebe gewidmet ist. Im Gegensatz zu unseren Erwartungen konnte jedoch die Ontologie der Liebe nicht im Rahmen der dialektisch-phä­ nomenologischen oder theologischen Diskurse und ihrer inhärenten intersubjektiven oder menschlich-göttlichen Logik erscheinen. Der ontologische Schauplatz, auf den Schelling hier hinweist, ist von einer anderen Art. Hören wir zuerst Claras Worte über das Leben, über den Sinn des Trauerns sowie über den Tod, um diesen ontologisch herbeigerufenen Beginn der Nähe in uns selbst zu begreifen: Tausend Verhältnisse mögen mit diesem Leben zerreißen; sie haben vielleicht unser Inneres nie anders berührt als feindselig oder doch stö­ rend, aber das Band einer wahrhaft göttlichen Liebe ist unauflöslich wie das Wesen der Seele, in dem es gegründet ist, ewig wie ein Ausspruch Gottes. Wären mir Kinder geschenkt und alle Kinder genommen, so könnte ich es nie für Zufall oder ein vorübergehendes Geschick halten, die Mutter dieser Seelen zu seyn; ich fühlte, ja ich wüßte, daß sie ewig zu mir gehören, ich zu ihnen, und daß sie mir, ich ihnen,

194 195

Derrida, The Gift of Death, 55. Schelling, Clara I, 9, 11.

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Annäherung an Schellings Clara

durch keine Gewalt der Erde, noch selbst des Himmels genommen werden können.196

Es ist völlig klar, dass diese Worte von der Erhabenheit der Liebe sprechen. Ein untrennbarer Teil davon ist die mütterlich-weibliche Genealogie, eingepflanzt in den Kern von Claras Überlegungen über die Seele als eine Art innere Lenkerin (d.h. Subjekt in ihrer Selbst­ affektion) und nicht als ein Objekt Gottes. Paradoxerweise sind wir nur mit einer solchen ontologischen Reduktion auf die Logik des weiblichen-mütterlichen-gebärmütterlichen Subjekts imstande, uns der Ebene der Immanenz (Deleuze) anzunähern, auf welcher es zu einer subtilen materiellen Kommunikation oder Verbindung mit unseren Liebsten kommen kann. Mit dieser Überlegung von Clara verzichten wir also auf die heteronome Logik oder die Aneignung der Liebe. Doch kommen wir nun zu unserem Text zurück! Nach Claras Darstellung der ewigen Natur unserer Bindungen in der Liebe und dem Einspruch des Arztes, dass in Wirklichkeit nur unser subjektives Gefühl unseren Beziehungen zu Sachen und zu Menschen Ewigkeit verleiht, erwidert Clara erneut: Glauben Sie vielleicht nicht, unterbrach ihn Clara, daß auch andere höhere Verhältnisse, Liebe und Freundschaft, göttlicher Art sind; daß eine stille, unbewußte, aber darum nur desto mächtigere Nothwendig­ keit Seele an Seele zieht?197

Was zieht also eine Seele zu der anderen? In Clara haben wir drei Wirklichkeiten: den Körper, die Seele und den Geist. Während der Arzt den körperlichen Aspekt repräsentiert und der Geistliche unser geistiges Leben, ist Clara mit der Seele und ihrer geheimnisvollen Rolle als Verbinderin zwischen körperlichen und geistigen Seiten des menschlichen Wesens verbunden. Die so verstandene Seele ist das Bindeglied zwischen den beiden Wirklichkeiten und nur in dem Sinne ist sie auch der »logische Grund von Selbstbewußtsein und Basis exis­ tentieller Individualität«. Darüber hinaus behauptet Clara, dass sogar »nach dem Tod […] ein Reich idealer, unverfälschter Kommunikation der Seelen verbleibt«.198 Wenn diese Verbindung nicht auf unserem gewöhnlichen körperlichen oder geistigen Bewusstsein basiert, was Schelling, Clara, I, 9, 19. Ebenda. 198 Alexander Grau, »Über Schellings gleichnamiges Fragment«, Zeitschrift fur philo­ sophische Forschung, 51:4 (1997), 590. 196 197

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verbindet dann die Lebenden mit den Verstorbenen? Was ist dann das Wesen der Seele? Alexander Grau stellt in seiner Interpretation von Clara den katholischen und spezifisch franziskanischen Kontext dieses Dialogs heraus. Seiner Meinung nach, und ich selber möchte mich einer solchen Argumentation anschließen, steckt die Antwort auf diese Frage zur Seele in »Schellings Bemühen um eine Neubestimmung des Verhältnisses des Menschen zur Natur«.199 In seinen Stuttgarter Privatvorlesungen aus dem Jahre 1810 (also gehören auch diese zu den Werken aus seiner mittleren Schaffensperiode) vertritt Schelling den Standpunkt, dass der Mensch die Verbindung zwischen Geist und Natur sei. Und dass es dem Menschen beschieden sei, die Natur auf eine höhere Ebene zu erheben. Doch war nicht gerade Jesus derjenige, der als Erster fähig war, die Natur näher zu ihrer (vor)letzten geistigen Ebene zu erheben beziehungsweise, um es noch stärker zu unterstrei­ chen, die Natur mit einem Atemzug aus seiner Seele zu beleben? An diese schwierigste der von Schelling postulierten Fragen möchte ich mit dem Lesen eines weiteren Passus aus Clara herantreten: Ja, ist es nicht glaublich, daß in dem Maße, als das Geistige in diesem äußeren Leben mehr durchgebrochen ist, auch die Macht der Unterwelt über die Todten mehr und mehr gebrochen ist; oder sollen wir auch jene Reden von dem Sieg über das uralte Reich des Todes, den Christus davongetragen, für völlig leere allgemeine Redensarten halten?200

In Die Beharrlichkeit Gottes befasst sich Caputo mit der Frage, wie wir Menschen dem Tod begegnen. Er schreibt, nicht ohne ein Quänt­ chen Ironie: »Wenn wir dem Tod ins Auge sehen, ist die Frage der Auferstehung immer wichtig.«201 Doch wenn wir diesen Satz ernst nehmen und die Möglichkeit des Unmöglichen aus Caputos Rahmen radikaler Auferstehungstheologie berücksichtigen, ist das Ereignis des Lebens inmitten des Todes das, was uns helfen könnte, den etwas düsteren Schauplatz von Schellings Clara zu verstehen. Caputo bringt drei Beispiele aus der Auferstehungstheologie (das erste von ihnen ist die Auferweckung des Lazarus, das zweite ist Deleuzes reine 199 Ebenda, 596. Neben der Ähnlichkeit des Namens Clara mit Clara von Assisi und Schellings Wiederbelebung der Naturphilosophie weist Grau auch darauf hin, dass eines von Schellings Pseudonymen Bonaventura war, und erwähnt seine Idee, dass von allen Mönchsorden nur der Kartäuserorden erhalten bleiben sollte (599). 200 Schelling, Clara, I, 9, 85. 201 Caputo, The Insistence of God, 231 ff.

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Immanenz des Lebens, und das dritte natürlich die Auferstehung des Leibs Jesu Christi). Für uns ist wichtig, welches Wort (es handelt sich um Liebe) Caputo im entscheidenden Teil seiner Abhandlung verwendet. Wenn wir nämlich dem Tod in die Augen blicken und nicht mehr auf das Leben hoffen, das wir mit unseren Lieben oder mit unseren Freunden verbringen könnten (wir wären schon dankbar, wenn wir mit jemandem, der uns lieb ist, noch wenigstens einen Augenblick oder einen Tag länger zusammen wären …), leben wir im Vertrauen, dass dieses Wunder wahr werden kann. Dieses Vertrauen ist für Caputo gerade der Glaube (belief) an das Leben als Liebe, wobei belief in seiner altenglischen/altdeutschen Bedeutung zu verstehen ist, die von der Wurzel -lief (lieben) kommt: Glauben (believe) heißt lieben (be-love), lieben, was wir glauben, glauben, was wir lieben, und was wir lieben, ist Leben, mehr Leben und eine Chance für ein neues Sein.202

Eben das wollten uns die Autoren des Neuen Testaments im 1. Jahr­ hundert mitteilen, als ihr Glaube auf dem Höhepunkt war. Deshalb entschieden sie, in das Johannesevangelium die ziemlich unglaubliche Geschichte vom Tod des Lazarus und seiner Erweckung von den Toten einzubeziehen (unglaublich sogar für den Kontext der Wunder im Neuen Testament). Doch ich denke, dass es bei dieser Geschichte um etwas mehr geht. Aus der Erzählung erfahren wir, dass Lazarus schon seit vier Tagen im Grab lag. Doch seine Schwestern, Marta und Maria, die an die Auferstehung am jüngsten Tag glauben, können den Tod ihres geliebten Bruders immer noch nicht hinnehmen. In ihrer Geschichte geht es um ihre Trauer und ihre Liebe zum verstorbenen Bruder. Als Jesus ins Dorf von Marta und Maria kommt, sagen die Schwestern zu ihm, dass ihr lieber Bruder nicht gestorben wäre, wenn Jesus früher zu ihnen gekommen wäre. Jesus tröstet sie und beginnt zu weinen. Caputo merkt in seinem radikalen hermeneuti­ schen Stil an, dass das natürlich Krokodilstränen waren, denn es ist offensichtlich, dass Jesus wusste, dass Lazarus im Sterben liegt, doch er entschied sich trotzdem, nicht nach Bethanien zu kommen, bis Lazarus auch in der Tat gestorben sein wird. Ich selber möchte die Geschichte von Lazarus in einem etwas weniger hermeneutischen und mehr kosmologischen Geiste interpretieren: Ich denke, dass diese Geschichte auf ihre idiosynkratische Art davon erzählt, was schon 202

Ebenda, 237.

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Irigaray in ihrer Interpretation der Antigone anführt. Ihrer Meinung nach wollte Antigone mit ihrer Tat das Achten der drei Ordnungen verteidigen – zuerst der Ordnung des Lebens (ungeschriebene oder heilige kosmische Gesetze), dann der Ordnung des Aufkommens und Werdens sowie letztlich der Ordnung der Unterscheidung zwischen geschlechtlich erklärten Subjekten – nachdem Kreon all die erwähn­ ten Ordnungen brutal angegriffen und zerstört hatte. An ihrer Stelle installierte dieser Herrscher neue, männliche Genealogien, basierend auf der Hierarchie von Macht und Gewalt. Antigone wollte die Einzigartigkeit ihres verstorbenen Bruders – in seiner einmaligen und unersetzlichen Generationsrolle (denn die Eltern waren beide schon gestorben) – mit einer anständigen Beerdigung bewahren. Jesus' Tat der Erweckung des Lazarus von den Toten trägt einen ähnlichen Charakter. Doch während Antigones Logik von kosmischer Natur ist, ist die von Jesus eschatologischer Natur. Sowohl die Tat von Antigone als die von Jesus gehören der höchsten ethischen Ordnung an. Beide Logiken wirken auf der höchsten Ebene der Ontologie der Liebe, der Liebe als Glaube an das Unmögliche im Leben, wobei die Liebe so stärker sogar als der Tod ist. Diese Überzeugung und diese Liebe bedeuten, wenn wir uns Judith Butler ins Gedächtnis rufen, dass es wert ist, für das Leben zu trauern. Sowohl für Marta als auch für Maria ist der Verlust des Bruders unersetzlich. Alle drei sind im Inneren derselben Mutter gewachsen und die Tränen beider Frauen sind ein Ausdruck der oben erwähnten mütterlich-weiblichen Genealogie. Deshalb weint Jesus, als er die beiden Frauen trauern sieht. Wie schon viele feministische Theologinnen betonten, gibt es viele Merkmale, die darauf hinweisen, dass Jesus derselben mütterlich-weiblichen Genealogie angehört. Und doch, warum musste Lazarus aus dem Reich der Toten auferweckt werden? Warum waren diese unmögliche Geschichte und diese unmögliche Tat für die ersten Christen und ihren Glauben notwendig? Die Antwort mag überraschend sein: Die Sphäre der Liebe und die damit verbundene Ontologie des Trauerns sind von einer höheren beziehungsweise, besser gesagt, uranfänglicheren Ordnung als das Leben und auch als der Tod. Christus hat sich so als Jeschua und – wie es zahlreiche Theologen nach Teilhard de Chardin beschreiben – gleichzeitig auch als kosmischer Jesus inkorporiert.203 Dies versuchte Schelling in seiner Clara zu beweisen (und noch mehr Vgl. Holmes, Flesh Made Word: Medieval Women Mystics, Writing, and the Incarnation, 6 und 12.

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in seinen größten Werken der mittleren Periode). Und dies deshalb, weil – wie Butler sagt – »es kein Leben und keinen Tod ohne eine Beziehung zu einem Rahmen gibt«.204 Dieser Rahmen wird von Caputo wunderbar beschrieben, der nun seine übliche hermeneuti­ sche Ironie völlig beiseitelässt und mit den Worten eines Theologen spricht. Als er im letzten Kapitel seines Werks über die Kosmopoetik noch einmal auf Lazarus zurückkommt, war Jeschua, wie er nun von Caputo genannt wird, gekommen, um zwischen den Schwestern und den Sternen zu vermit­ teln, um die kosmischen Gnaden der Erde und des Himmels, die kosmischen Gaben des Brotes und des Weines, des luftigen Lachens und der feuchten Tränen, zwischen seinem trauernden Fleisch und dem ihren hin- und hergehen zu lassen. […] Jeschua gab ihnen ihr Leben zurück. Er gab ihnen mehr Leben. Jeschua erfüllt die Verheißung der Welt. Wenn Menschen ihm begegnen, werden sie wiedergeboren.205

So ist nun unsere »Wahrheit« – doch noch immer nicht ohne kos­ mologisch-ontologische Unergründlichkeit bzw. Übermittlung eines bestimmten Unterschieds. Die Welt, in der wir leben, ist mehr als bloß eine Welt; ihre »Wahrheit« ist mit dem verbunden, was sich Clara fragt. Und damit möchte ich zu Schelling zurückkommen – in seiner letzten Überlegung über die Naturkräfte stellte er folgende Frage: »Woher kommt uns doch wohl jene tiefe Anhänglichkeit an die Erde?« Diese folgt unmittelbar auf Claras unglaubliche Feststellung: Sollten wir nicht überhaupt gegen die Abgeschiedenen noch weit mehr die Zartheit beobachten, die wir den Lebenden schuldig zu seyn glauben? Wer weiß, ob sie nicht innigeren Theil an uns nehmen, als wir denken; ob nicht der heftig gefühlte Schmerz, ob nicht das Uebermaß der ihnen geweinten Thränen im Stande ist, sie zu beunruhigen?206

Diese Bemerkung von Clara könnte auch das beleuchten, was man als geheimnisvolle Überreste bezeichnen könnte, die die Geschichte von Lazarus übrig lässt, und zwar: Woher stammt die Traurigkeit seiner Schwestern? Um eine Andeutung der Antwort auf diese Frage aller Fragen anbieten zu können, müssen wir zu den beiden wichtigsten Werken von Schelling zurückkommen; zu seiner Abhandlung über 204 Judith Butler, Frames of War: When is Life Grievable? (LondonNew York: Verso, 2010), 7. 205 Caputo, The Insistence of God, 254. 206 Schelling, Clara, I, 9, 106.

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die menschliche Freiheit und zu seinem unvollendeten Meisterwerk – Die Weltalter.

Schelling mit Böhme: das kosmologisch-ontologische Rätsel der Liebe Die sublime Anwesenheit der Liebe auf dieser Welt, unsere Trauer für die Toten und unsere geheimnisvolle Verbundenheit mit der Ungrundtiefe unseres Daseins – all das weist auf einen Überschuss hin, den wir noch überdenken und dem wir uns begrifflich annähern müssen. Dieses Geheimnis unseres Seins in der paradoxen und tragischen Zeitlichkeit der Liebe – zunächst als Verdunstung und Verschwinden von Minute zu Minute mit dem Ableben eines gelieb­ ten Menschen, und radikalisiert durch die allerletzten Gesten der Intersubjektivität in Richtung der Schließung im Tod –, aber dann auch wieder als geheimnisvoller und diskreter Rest oder Überschuss der Liebe, der uns auch mit dem Tod eines geliebten Menschen nicht genommen werden kann. All dies wird in dem Gemälde »Das kranke Kind« von Edvard Munch aus dem Jahr 1886 dargestellt. Munch malte darin seine geliebte Schwester Sophie, ein 16-jähriges Kind, das auf dem Sterbebett liegt (Edvard war damals 15 Jahre alt; er malte es, als er 23 war). Hans Herlof Grelland schreibt in seinem Essay über »Das kranke Kind« Folgendes: Das Gemälde zeigt Sophie Munch an ihrem Sterbebett, kurz vor dem Tod durch Tuberkulose. Am Bett sehen wir den Kopf von Tante Karen, der Schwester ihrer verstorbenen Mutter, die in der Familie Munch die Rolle der Mutter übernommen hatte. […] Ich stelle mir vor, was für eine schockierende Erfahrung dieser Vorfall für den jungen, sensiblen Jungen gewesen sein muss. Sophie ist nicht nur krank, sie ist wirklich krank, man kann es nicht wegträumen oder wegwischen, es ist real, intensiv und grausam real, sie ist es wirklich, und was er sieht, geschieht wirklich. Für Munch geht es beim Malen nicht um Träume oder Bilder, sondern um reale Erfahrungen, es ist eine Art der Auseinandersetzung mit dem, was da ist, was ist, was existiert.207 207 Wir verweisen auf den unveröffentlichten Konferenzbeitrag von Hans Herlof Grelland »A Case for Heideggerian Phenomenology: Edvard Munch’s ›The Sick Child‹« (präsentiert in Riga 2019; das Manuskript liegt beim Autor). Edvard Munch malte diese Szene erstmals 1886 und dann immer wieder im Laufe seines Lebens – die

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Schelling mit Böhme: das kosmologisch-ontologische Rätsel der Liebe

In Munchs Gemälde stellt die trauernde Tante, die an Sophies Bett sitzt, einen existentiell radikalisierten intersubjektiven Moment zweier Frauen dar – Edvards Schwester Sophie, die an Tuberkulose leidet, und die Schwester der an derselben Krankheit verstorbenen Mutter von Munch, Tante Karen. Im Rahmen unserer Matrixtheorie der Liebe stellt das Gemälde die sterbende Tochter und die verzweifelt traurige Mutter (die hier durch die Tante ersetzt wird) in einem unsäglich traurigen Moment dar, den der Maler selbst beobachtet: Die Mutter weiß, dass die Tochter stirbt. Edvard beobachtet diesen Moment mit dem Auge eines jüngeren Bruders und verklärt ihn zu dem extremen melancholischen Ausdruck des Gemäldes. Die Rauheit und Dunkelheit des Bettes, der Frauenkleider und der gesamten Umgebung stehen für das Schwinden des stärksten Bandes – der Liebe der Mutter zum Kind. Die mütterliche Fürsorge für das Kind zieht sich langsam, aber unwiederbringlich in Trauer und Wehmut zurück. Aber die Lichtung vor Sophies Blick – ein unbehaglicher Horizont aus blasser Helligkeit und rätselhaftem Licht, der sich ihr bietet – ist sie für ihre Augen da, um sie zu trösten, oder ist sie für uns da, die stummen Zuschauer dieses Dramas? Auf dieser Welt gibt es also einen Überfluss bzw. ein Geheim­ nis der Liebe: Liebe, die es in einer Form vielleicht sogar vermag, Verstorbene zu beunruhigen – und unsere Trauer um den Verlust des Lebens, unsere Tränen und Bitterkeit, herrührend von verborgenen Erinnerungen an … – was genau? Woher kommt eigentlich diese tiefe Traurigkeit? Jason Wirth erörtert in seiner Interpretation von Clara das Problem vom Gesichtspunkt des Grundes beziehungsweise, noch letzte Version von »Das kranke Kind« stammt aus dem Jahr 1925. Grellund schreibt folgende Worte über die Zeitlichkeit als unverzichtbaren Teil dieses Kunstwerks: »Wir sollten uns des Lichts im Bild bewusst sein, des Lichts um und vor Sophies Gesicht. Es ist schwierig, nicht an Heideggers Gedanken über die Lichtung zu denken. Im Deutschen wie im Norwegischen drückt das Wort den Aspekt einer Lichtung im Wald aus, dass sie ein Ort ist, an dem das Licht hereinkommt. In einem dunklen Wald wird die Lichtung also zunächst als Licht gesehen, als ein Ort des Lichts im Gegensatz zur Dunkelheit, die im Dunkeln der Bäume überwiegt. Die Lichtung hat also die doppelte Bedeutung von offenem Raum und einem Ort, an dem Dinge gesehen werden können. Das Licht im Gemälde ist wie eine Lichtung vor Sophie. Sie blickt nicht auf ihre trauernde Tante, sondern auf die Lichtung vor ihr, die Lichtung. Es ist, als ob sie ihr Bewusstsein auf die Zukunft richtet, die als Licht, als Lichtung dargestellt ist. So ist die Dimension der Zukunft in dem Gemälde als Licht in der Dunkelheit der Situation präsent, als Lichtung in der Verschlossenheit der Situation, in der sich Sophie befindet.«

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radikaler, vom Gesichtspunkt seines inhärenten (Selbst-)Eindringens in den Ab-grund oder Ungrund. Schelling denkt über diese geheimnis­ vollen Verhältnisse innerhalb des Abgrundes wie folgt nach: Das Wesen des Grundes, wie das des Existierenden, kann nur das vor allem Gründe Vorhergehende sein, also das schlechthin betrach­ tete Absolute, der Ungrund. […] Der Ungrund teilt sich aber in die zwei gleich ewigen Anfänge, nur damit die zwei, die in ihm, als Ungrund, nicht zugleich oder Eines sein konnten, durch Liebe eins werden […].208

Das Geheimnis der Liebe, wie wir später sehen werden, ist abgrund­ tief; und gerade Liebe ist das, was alle Wesen vereint – Wesen, die sonst getrennt wären und für sich selbst existierten. Und die Natur dieser Vereinigung oder kosmischen Verbindung ist das, was ich in meiner Lesart von Schellings Clara neben seinen Über das Wesen der menschlichen Freiheit und Weltalter behandeln möchte. Schelling erscheint es notwendig, auch in Gott selbst einen Quell der Traurigkeit zu haben – das ist »der Schleier der Schwermut, der über die ganze Natur ausgebreitet ist«.209 Deshalb ist für Schelling das Konzept eines Gottes notwendig, der im Leiden ein menschliches Wesen (Jesus Christus) ist und seine Trauer und Tränen mit uns, anderen menschlichen Wesen teilt. Die Natur Jesu ist es, ein Nexus zwischen zwei ontologischen Bereichen zu sein, wie wir sehen werden (d.h. zwischen der Gebärmutter und der Seele). Nach Schellings Meinung ist die Emanation der Dinge von Gott ein Zeichen der Selbstoffenbarung Gottes. In Christus, der die höchste Stufe der Selbstoffenbarung Gottes ist, werden sowohl unsere Vergangenheit als auch unsere Zukunft offenbar – Christus muss herrschen, bis alle Feinde besiegt sind – und, wie Schelling sagen würde, bis als letzter Feind auch der Tod selbst überwunden wird. Gerade folgender Satz über die Erhabenheit der Liebe ermöglicht das erneute Schließen des ontologischen Kreises innerhalb des Grundes alles Seienden: Wenn aber alles ihm untertan sein wird, alsdann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles untergetan hat, auf daß Gott sei Alles in Allem. Denn auch der Geist ist noch nicht das Höchste; er ist nur der Geist, oder der Hauch der Liebe. Die Liebe aber ist das Höchste. 208 F. W. J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit (Hamburg: Meiner, 1997), 79. 209 Ebenda, 71.

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Sie ist das, was da war, ehe denn der Grund und ehe das Existierende (als getrennte) waren, aber noch nicht war als Liebe, sondern – wie sollen wir es bezeichnen?210

Laut Schelling gibt es in der grundlosen Welt des ursprünglichen Seienden weder Gut noch Böse. Diese ontologische Sphäre ist über jeder Doppelheit. Doch Schelling bringt seine wichtigste Einsicht in jenem Moment zum Ausdruck, wo er Folgendes sagt (und nun lesen wir diesen seinen vielleicht wichtigsten Absatz in voller Länge): Der Ungrund teilt sich aber in die zwei gleich ewigen Anfänge, nur damit die zwei, die in ihm, als Ungrund, nicht zugleich oder Eines sein konnten, durch Liebe eins werden, d.h. er teilt sich nur, damit Leben und Lieben sei und persönliche Existenz. Denn Liebe ist weder in der Indifferenz noch wo Entgegengesetzte verbunden sind, die der Verbindung zum Sein bedürfen, sondern (um ein schon gesagtes Wort zu wiederholen) dies ist das Geheimnis der Liebe, daß sie solche verbindet, deren jedes für sich sein könnte und doch nicht ist, und nicht sein kann ohne das andere.211

Wir haben also zwei Anfänge, die im Ungrund vorausgesetzt sind und die sich nur mit der Liebe vereinen können (und nicht mit dem Geist oder dem »Geistigen/Spirituellen«); dieser Ungrund ist jenseits jeglicher Identität und Differenz. Doch wir können immer noch keine richtige Antwort darauf bieten, was dieses »Rätsel der Zeit« in Verbindung mit Liebe und Gott ist, ohne hier einen weiteren Passus aus Weltalter zu lesen: Und wie im Menschen der Wille, der nichts will, das Höchste ist; so ist eben dieser in Gott selbst das, was über Gott ist. Denn unter Gott können wir nur das höchste Gute denken; also einen schon bestimmten Willen; in dem Willen aber, der nichts will, ist weder dieß noch das, weder Gut noch Bös, weder Seyendes noch Seyn, weder Zuneigung noch Abneigung, weder Liebe noch Zorn, und doch die Kraft zu allem.212

Gibt es denn eine Liebe oder, besser gesagt, einen uranfänglichen ruhenden Willen (uranfängliche Liebe), die vor Gott und seiner Offenbarung ist. Dieser Wille ist der absolute Frieden, der jedoch nicht in dialektischem oder zeitlichem Sinne gedacht werden kann. Es ist 210 211 212

Ebenda, 77. Ebenda, 79 (meine Hervorhebung). F. W. J. Schelling, Die Weltalter: Fragmente (München: Beck, 1993), 134.

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die Liebe in Gott, denn sie entwickelt sich in der Zeit als archaisches und unmögliches Ereignis des Friedens, Versöhnung aller Wesen innerhalb der sich ewig entwickelnden Natur. Diese Natur umfasst freilich sowohl die geistige als auch die materielle Sphäre und fügt darüber hinaus auf noch immer unerklärbare Weisen beiden Sphären noch die Seele als ihren unbestimmbaren (vielleicht sogar »bodenlos« im grundlegendsten ontologischen Sinne) Nexus hinzu. Vielleicht überraschend, doch eine der möglichen Antworten auf die Frage der Liebe als Beziehung zwischen Lebenden und Toten – wie es schon in Clara postuliert wird – ist nun genau im Begriff der Materie zu finden. Für Schelling ist Materie an sich »geistig und unkörperlich«.213 Obwohl wir sein Kosmogonierätsel noch immer nicht beantworten können, liegt die Antwortmöglichkeit in der Dreifachdynamik der Potenzen oder Schellings Simultanitätsphänomen. Es geht um die Komposition dreier Potenzen des Willens – und zwar A1, A2 und A3 aus Weltalter. Das Leben hat immer existiert, in all seiner Ein­ maligkeit. Die Unergründlichkeit der Liebe ist also bodenlos (einer ihrer Namen könnte chóra sein als Bezeichnung für die uranfängliche kosmologisch-ontologische Gebärmutter), wie wir beim Lesen von Clara gesehen haben. Diese Herrschaft oder Macht der Liebe ist höher sowohl als das Leben selbst als auch als der Tod. Am Anfang (A1) war der bodenlose Wille – als uranfängliche (verborgene) Natur – sozusagen noch ungeteilt oder nicht aufgedeckt (A2 und A3 waren Zeichen seines geistigen und stofflichen Öffnens zur höheren Liebe oder vollkommenen Göttlichkeit), deshalb kann man nicht von ihrer Existenz oder Inexistenz sprechen.214 Diese elementare Potenz (A1) ist auch weder Gott selbst noch das menschliche Leben in seiner eigenen materiell-geistigen Dimension: »Und wie im Menschen der Wille, der nichts will, das Höchste ist; so ist eben dieser in Gott selbst das, was über Gott ist.«215 So haben wir schon die nächste Konstellation: die Aufdeckung der drei Potenzen ist zugleich Freude und Trauer, Zeichen Ebenda, 151. Vgl. Jason M. Wirth, The Conspiracy of Life: Meditations on Schelling and His Life (Albany, NY: SUNY Press. 2003), 187: »Die Liebe (A3) hält die Trägheit der Vergangenheit (A1) mit dem Geheimnis der Zukunft (A2) zusammen und umarmt sie. In diesem Sinne kann man von der Liebe als der Bejahung des Augenblicks, des gegenwärtigen Moments, als dem ›immerwährenden, sich selbst überwindenden‹ Trieb der determinierten Vergangenheit in das Geheimnis der Zukunft sprechen (WA, 85)«. 215 Schelling, Die Weltalter, 134. 213

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Schelling mit Böhme: das kosmologisch-ontologische Rätsel der Liebe

des Lebens, das sich in der Natur entwickelt, wie auch seines Verfalls mit dem Tod. Zeit und Ewigkeit also oder Leben und Tod – als sich entwickelnde Gottheit beziehungsweise, wie Schelling sagt: Also erkennen wir in dem Willen, der nichts will – das Aussprechende, das Ich der ewigen unanfänglichen Gottheit selber, das von sich sagen kann: Ich bin Alpha und Omega, der Anfang und das Ende.216

Die Bindung der Liebe oder ihr Geheimnis liegt gerade in diesem triadisch-prozessuellen Offenbaren Gottes als Liebe. Deshalb stellt gerade Jesus (auch er gehört der Ordnung der Triadizität an) tatsäch­ lich die endgültige Vereinigung der uranfänglichen Natur mit dem Geist dar. Als er in der Welt erschien, ist auch die geheimnisvolle oder geistige Materie selbst erschienen. Die Geschichte von Lazarus hat uns gezeigt, dass Jesus der einzige Mensch ist, der sowohl das Leben als auch den Tod zu überwinden vermag; sogar über »Gott« kann man nicht auf diese Weise denken. Darüber hinaus ist Jesus nach seinem Tod am Kreuz zuerst Maria Magdalena (als Frau) erschienen und erst danach seinen männlichen Schülern. Jesus ist »tot«, doch seine geistige Präsenz bleibt immer noch überzeugend in diese Welt eingespannt. Schon aus Clara wissen wird, dass die Begriffe Gespenster und (höhere) Geister bei der Diskussion über die Toten und bei der Suche nach einem Ort für sie außerordentlich wichtig sind. So wie Jesus ist auch Clara »eine Art lebendes Gespenst, das sich bereits von den alltäglichen Sorgen verabschiedet hat«,217 und als solche ist sie tatsächlich eine von Antigones genealogischen Schwestern (im radikalisierten Sinne, den ich an dieser Stelle noch nicht aussprechen werde, würde das auch für Jeschua gelten). Ihre Anwesenheit im Dialog, im Vergleich mit der des Priesters und der des Arztes, hat den Charakter eines ontologisch-eschatologischen Nexus, denn Clara, auch mit ihrer weiblichen Identität, stellt die Seele dar, die den Toten vielleicht sogar näher als den Lebenden ist. Die Seele Ebenda. Wirth, The Conspiracy of Life, 212. Bei der Interpretation von Clara durch die Per­ spektive von Hamlet fügt Wirth noch hinzu: » Die Toten sind irgendwie lebendig, verborgen in der Erde, und beanspruchen – gerade durch ihre Abwesenheit – die Lebenden, so als würde die Vergangenheit die Gegenwart heimsuchen« (193). Und noch, »Tiere hinterlassen Gespenster (ghosts), während Menschen Geister (spirits) hinterlassen […]. Die Geister rufen uns zu der Entscheidung zurück, die wir in unserer Neigung, uns selbst zu lieben, aufgegeben haben. […]. Die Geister rufen die Men­ schen auf, unter den Gespenstern zu leben.« (197 ff.).

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steht für Versprechen und Hoffnung, die sowohl in die entfernteste Vergangenheit als auch in die entfernteste Zukunft gerichtet ist. Die Liebe aber ist das Höchste. Frieden und Ruhe bedeutet immer auch schon, dass uns das Geheimnis der Vergangenheit verfolgt – d.h. der verborgene Überrest in uns selbst, der uns an die bodenlose Gebärmutter als ewige Saat von Sein und Dasein, sogar vor der Trennung in das Seiende und das Nichtseiende beziehungsweise vor der ontologischen Aufteilung aller Sachen, erinnert. Es ist kein Zufall, dass Schelling – genau an jener Stelle in Weltalter, wo er die Antwort auf das Rätsel der Schöpfung finden müsste – eben beim mystischen Konzept der abgrundtiefen weiblichen Göttlichkeit – der Sophia (Weisheit) – von Jakob Böhme Zuflucht sucht. Vielleicht ist es deshalb auch kein Zufall, dass Böhme sowohl auf Schelling als auch auf Feuerbach einen beherrschenden Einfluss hatte.218 In dem Absatz, den er in sein Werk mehr als offensichtlich unter dem Einfluss des Denkens von Jakob Böhme eingefügt hat, erklärt Schelling implizit die Beziehung zwischen der Weisheit und dem Begriff des Abgrundes: Wie frischer Morgenhauch aus heiliger Frühe der Welt weht uns jene Rede an, in der ein mit Recht göttlich geachtetes Buch die Weisheit redend einführt: Der Herr hat mich gehabt im Anfang seiner Wege; ehe er etwas schuf, war ich da. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit, von Anfang, vor der Erde. Da die Tiefen noch nicht waren, da war ich schon geboren, da die Brunnen noch nicht mit Wasser quollen. Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln war ich geboren. Da er die Himmel bereitete, war ich daselbst, da er die Tiefe mit seinem Ziel faßte, da er den Grund der Erde legte, da war ich der Werkmeister bei ihm und hatte meine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit.219

218 Für die Philosophie Böhmes verwende ich die deutsche Ausgabe seiner Werke, herausgegeben von Ernst Benz (Der Vollkommene Mensch nach Jacob Böhme, Stutt­ gart: Kohlhammer, 1937). Zusätzlich zu Böhmes bedeutendem (wenn auch etwas verstecktem) Einfluss auf Schelling wissen wir auch, dass er der einzige deutsche Den­ ker war, den Feuerbach in seine Geschichte der modernen Philosophie – Geschichte der neuern Philosophie (von Bacon bis Spinoza) – aus dem Jahr 1833 aufnahm. Dies zeigt, dass beide Männer diesen frühen deutschen Vorläufer der modernen feministischen Theologie und des Denkens über das weibliche Göttliche sehr schätzten. 219 Der Vollkommene Mensch nach Jacob Böhme, 304. Das sind Worte aus dem Buch der Sprichwörter (Spr 8,22), die Schelling in seinem Text etwas ungewöhnlich einfach ohne Anführungszeichen zitiert.

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Schelling mit Böhme: das kosmologisch-ontologische Rätsel der Liebe

Und dann wird noch expliziter folgende Unterscheidung erklärt: Die Weisheit wird in dieser Rede sehr bestimmt von dem Herrn unter­ schieden. Der Gott hatte sie, aber sie selbst war nicht der Herr. Sie war bei ihm vor dem Anfang, ehe er was machte. […] [S]o ist die Weisheit zusammt dem ersten Leiblichen, von dem sie bekleidet ist, wie eine stille gleichsam leidende Einheit, die nicht für sich selbst aus dem bloß keimlichen Zustand in den wirkenden sich erheben konnte.220

Was können wir daraus schließen? Erstens, dass Schellings Wahl von Clara als zentrale Figur seines Dialogs kein Zufall war. Zweitens, dass sich Schelling auf ontologischer Ebene, meiner Meinung nach, noch eines Rätsels am Anfang selbst beziehungsweise im entferntesten Weltalter zur Gänze bewusst ist: die Weisheit war mit Gott, sie war aber (noch) nicht Gott. Die Weisheit ist hier gewiss in einer gewissen Passivität dargestellt, doch diese Passivität ist von uranfänglichem kosmischem Charakter und weist auf den verborgenen urstofflichen (d.h. weder materiellen noch geistigen) Charakter der Sophia hin. Schelling ruft sowohl die Idee des Kindes als auch des Todes als Nichtseienden herbei. Doch um Schelling zu verstehen, müssen wir uns hier um Hilfe an die Gedanken von Jakob Böhme selbst wenden. Laut Böhme befindet sich eben in der verborgenen Bedeutung der Sophia der Ungrund221 bzw. Ort der Offenbarung und/oder Geburt der uranfänglichsten bodenlosen Kräfte (Wille, Wunsch, Macht) aus der uranfänglichen kosmischen Weiblichkeit. Sie ist nun die ewige kosmische Mutter aller Wesen, die laut Böhme alle Sachen aus ihrer Jungfräulichkeit hervorbringt (Luce Irigaray sagt, dass die Jungfräu­ lichkeit der Maria, Mutter von Jesus, im geistigen und nicht im

Schelling, Die Weltalter, 166. Das Zitat ist aus dem Kapitel Von der Menschwerdung Jesus Christi: in der Sophia »stellt sich der Ungrund dar«. Und noch: in der Sophia »ist das Principium aus dem ewigen Ungrund eröffnet.« (Ebenda, 22; dieses Zitat ist aus seinem Werk Von Sechs Theosophischen Punkten). Böhme entwickelte als »Prophet einer Umbruchszeit« und als »der größte der deutschen Gnostiker« (laut Berdjajew) diesen Gedanken zweifellos unter dem Einfluss der kabbalistischen Lehre von den Sephiroth, darunter insbeson­ dere bini und Schechinah bzw. der dritten und zehnten Sephira Gottes (s. dazu Theo­ logische Realenzyklopädie, Bd. VI, hrsg. von G. Krause und G. Müller (Berlin/New York: De Gruyter, 1908), 748–754; Zitate auf S. 751 und S. 749; siehe auch Wolfgang Huber, Die Kabbala als Quelle zum Gottesbegriff J. Böhmes, Salzburg 1954, Doktorar­ beit). 220 221

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Clara / Matrix

natürlichen Sinne zu verstehen sei222). Das wichtigste aller Konzepte von Böhme ist für uns sein Konzept der Gebärmutter bzw. Matrice. Wir haben im kosmischen Jesus die höchste Stufe der Selbstoffenbarung Gottes gesehen, auf der sich sowohl unsere Vergangenheit als auch unsere Zukunft aufdecken. Böhme radikalisiert dies noch, indem er auf den Leib der Sophia als Jungfrau Maria zeigt und ihn als eine himmliche Matrix bezeichnet.223 In noch radikalerem Sinne, und damit kommen wir zu Clara zurück, sagt Böhme nun: »Darum nahm Christus seine Sele vom Weibe / als von einer Jungfrauen / und ward aber ein Mann«.224 Diese weibliche Genealogie bzw. ihre Entstehung innerhalb der uranfänglichen Gebärmutter ist das erste kosmische Gewebe, das das ursprüngliche Seiende im ungrundtiefen Heiligtum, oder den uranfänglichen Rahmen, der vor allem Seienden und Nichtseienden ist, geheimnisvoll umhüllt. Somit ist die kosmi­ sche/göttliche Gebärmutter das Paradigma sämtlichen Lebens (und zugleich auch Vorgängerin des Todes): Das ist Marien Benedeyung unter allen Weibern / daß sie die erste von Adam her ist / in welcher ist die himlische Matrix wieder eröfnet wer­ den.225

Für Böhme zeugt diese göttliche Gebärmutter von der Erhabenheit der Liebe sowohl in der Sophia als auch in ihren beiden Inkorporationen 222 Siehe Irigaray, Das Mysterium Marias, Kap. »Die Virginität Marias«. Für Irigaray ist es unmöglich zu glauben, dass das Christentum auf einem so problematischen Ereignis/Mythos wie der Aneignung des Körpers Mariens durch eine männliche Ordnung/Herrschaft gegründet sein könnte. Für Irigaray ist es daher notwendig, dass Maria das grundlegendste Zeichen ihrer leiblich-geistigen Identität für sich behält und bewahrt – sie hat ihren intimsten Atem (d.h. ihre geistige Identität, auch verstanden als Inspiration für die Zukunft – das Kommen Jesu) ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Autonomie in und mit sich selbst bewahrt. Maria, so Irigaray, steht dem Herrn also nicht auf seinen Wunsch hin zur Verfügung. 223 Der Vollkommene Mensch nach Jacob Böhme, 106. 224 Ebenda, 110. 225 Ebenda, 109. Aber auch, wie einst Böhme schrieb: »Und eben in dieser heiligen Matrice, welche Gottes Wort und Kraft in dem süssen Namen Jesu / in dem Samen MARIAE im Ziel des Bundes wieder erweckte / ward der Schlangen-Gift in der Selen und Fleische zerbrochen.« (Ebenda). Auch Feuerbach sagt in einer wunderbaren Passage: »Zwar weilt der Sohn als natürlicher Mensch nur neun Monden lang unter dem Obdach des weiblichen Herzens, aber unauslöschlich sind die Eindrücke, die er hier empfängt; die Mutter kommt dem Sohne nimmer aus dem Sinne und Herzen.« (Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 149). Eben deshalb war es für Feuerbach auch notwendig zu sagen, dass uns in Gott »ein Mutterherz entgegenschlägt« (Ebenda).

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Schelling mit Böhme: das kosmologisch-ontologische Rätsel der Liebe

– der Jungfrau Maria, der Mutter Jesu, sowie in Jesus selbst. Eben das war der Grund, dass Jesus seine Seele von der Frau in ihrer vollkommenen geistigen Jungfräulichkeit nahm.226 Dies verbindet auch – in begrenztem und noch immer nicht völlig klarem Sinne (da sich diese Verbindung noch nicht offenbart hat und weil wir noch über keine entsprechende kosmologisch-ontologischen Genealogie für diese höchste Geste der Liebe verfügen) – Jesus mit Antigone.227 Dies ermöglicht uns nun Schellings etwas schwerer verständlichen Gedanken über das Geheimnis im bodenlosen oder ungrundtiefen Schoße alles Daseins, wo auch das Geheimnis der Liebe versteckt ist, zu verstehen und zu interpretieren. Und doch, woher geht dann diese Liebe hervor? Wir haben bereits gesehen, dass sich nur durch Christi kosmische Anwesenheit die Menschheit (geistig-eschatologisch) sowohl über das Leben als auch über den Tod erheben und sozusagen in den Zustand absoluter Ruhe oder Indifferenz des Urgrundes zurückkeh­ ren kann. Das Geheimnis der Liebe liegt darin, dass sie die Wesen untereinander verbindet, beziehungsweise, wie unser Denker bereits sagte: »Der Ungrund theilt sich aber in die zwei gleich ewigen Anfänge, nur damit die zwei, die in ihm, als Ungrund, nicht zugleich oder Eines seyn konnten, durch Liebe eins werden […]«.228 Rufen wir uns jetzt noch einmal diesen äußerst wichtigen Passus in Schellings Über das Wesen der menschlichen Freiheit ins Gedächtnis: Denn auch der Geist ist noch nicht das Höchste; er ist nur der Geist, oder der Hauch der Liebe. Die Liebe aber ist das Höchste. Sie ist das, was da war, ehe denn der Grund und ehe das Existierende (als getrennte) waren, aber noch nicht war als Liebe, sondern – wie sollen wir es bezeichnen?229

Erst mit Böhme können wir so eine Antwort auf dieses große kosmo­ logisch-ontologische Rätsel von Schelling bieten. Gerade mit dem Begriff der Gebärmutter als uranfänglicher Hülle des Seienden können wir also dem Geheimnis der Liebe und ihres kosmisch-ontologischen Überschwanges näherkommen. Ebenda, 110. Die Offenbarung des Wesens Christi im Mutterleib ist daher für uns von großer Bedeutung. Sie ist das Mittel, mit dem wir die Seele als Nexus verstehen können, wie Schelling schon in Clara feststellte. 228 Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 79. 229 Ebenda, 77. 226

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Rückkehr zu Clara Nach diesem Umweg können wir wieder zu Clara zurückkehren. Wir müssen noch die Frage beantworten, in welcher Beziehung der Begriff der Gebärmutter oder die urontologische Hülle des Seienden mit den zentralen Fragen in Clara steht: den Fragen des Todes, der Ontologie der Trauer und der damit verbundenen Überlegenheit der Liebe. Wie wir am Anfang dieses Kapitels sehen konnten, sagt Clara, das »Band einer wahrhaft göttlichen Liebe ist unauflöslich wie das Wesen der Seele, in dem es gegründet ist, ewig wie ein Ausspruch Gottes.«230 Ich betonte bereits, dass das Worte über radikale Nähe in der Einheit sind, stärker sogar als der Tod. Bei Clara ist das eng mit dem Wesen der Seele selbst und ihrer feminin-mütterlichen Genealogie auf der einen und der radikalen, sozusagen »mütterlichen Subjektivität« Christi auf der anderen Seite verbunden. Das Geheim­ nis der Liebe liegt im – für uns noch immer unergründlichen oder unbestimmbaren – Aufeinanderbeziehen der beiden zu der bodenlo­ sen bzw. ungrundtiefen (ur)kosmischen Gebärmutter. Die Bitterkeit, wie sie von Jesu Beweinen des Lazarus oder der Traurigkeit, die in Gott wohnt, veranschaulicht wird, verbindet die Lebenden mit den Toten. Und auch das stellen Claras Gefühle zu ihrem verstorbenen Mann dar. Was alles Seiende (sogar jenseits von Leben und Tod) verbindet, ist diese gebärmütterliche (matrixiale) Atmosphäre der Liebe bzw. das uranfängliche Ruhen der ersten Potenz [A1], die sogar Gott vorhergeht. Es ist das Entstehen und Offenbaren (Atmen?) Gottes als Erinnern in der Gebärmutter des Seienden – bis zum Tod selbst.231

Schelling, Clara, I, 9, 19. Vgl. Wirth, The Conspiracy of Life, 2: »In Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit von 1809, vielleicht Schellings kühnstes Werk und einer der Schätze der deutschen philosophischen Tradition des neunzehnten Jahrhunderts, sprach er von einer ›Einheit und Conspiration‹, über Konspiration (I/7, 391). Wenn etwas oder jemand aus der Konspiration ausbricht, werden sie zum verzehrenden Feuer entflammt, als ob sie »von innerer Glut entzündet« würden. (I/7, 391). Schelling verwendete das aus dem Lateinischen stammende Wort Konspiration, das von conspīro, ich atme oder blase mit, abgeleitet wurde. Spīro, ich atme, ist mit spīritus (dt. Geist) in der Bedeutung von Geist, aber auch Atem verbunden. Der Geist ist das Fortschreiten der Differenz, das Ausatmen aus dem dunklen Ungrund der Natur in Form und zugleich Einatmen dieses Grundes, der Rückzug der Dinge von sich selbst. Konspiration ist zugleich Ausatmen und Einatmen, und jedes Ding der Natur ist zugleich eingeatmet/inspiriert und ausgeatmet/vergehend. Das ist es, was ich die 230 231

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(Schwester Angelika)

Diese friedliche oder friedfertige Atmosphäre der Liebe, die über Leben und Tod selbst herrscht, ist das Fortschreiten zur idealen Kommunikation zwischen Sterblichen und gleichzeitig ein eschatolo­ gisches Zeichen göttlichen Überschwangs. Clara ist eine Abhandlung über Kommunikation – zunächst zwischen Sterblichen selbst, aber auch zwischen Lebenden (»Geistern«) und Verstorbenen. Es ist die Suche nach reinem Aufeinanderbeziehen jenseits jeglicher materiellspirituellen Trennlinien. Eine solche ideale und klare Kommunikation wäre – gemäß der Interpretation von Alexander Grau, und das ist keine gute Nachricht (euangelium) – nur im Bereich des Todes möglich; doch zugleich – und dieser Gedanke kann uns immer wieder in den Bereich der Lebenden zurückbringen – wissen wir, dass wir eine Seele besitzen, die uns als Nexus ein Verständnis schon der ersten klaren Fingerzeige dieser reinen Intersubjektivität ermöglicht.

(Schwester Angelika) Puccinis Oper Suor Angelica bringt eine äußerst feinfühlige Erzählung von einer jungen Mutter und ihrer unermesslichen Liebe zu ihrem Kind. Die Oper, die am 14. Dezember 1918 uraufgeführt wurde, spielt im 17. Jahrhundert in einem Kloster in Italien, in dem Schwester Angelika mit ihren Ordensschwestern lebt. Angelikas Klosterleben ist von einem Geheimnis durchdrungen, einer Sünde, von der die übrigen Nonnen nichts wissen und wegen welcher sie auch ins Kloster geschickt wurde. Angelika, die von allen Schwestern die geheimnis­ vollste ist, wird in ihrem Klosterleben nur von Blumen und Heilkräu­ tern umgeben, mit denen sie das Leid ihrer Mitschwestern lindert. Trotz des strengen Verbots jeglicher Wünsche und somit völliger Buße konnte Angelika in einer antiabrahamitischen und somit im Grunde matrixialen Geste nie zur Gänze auf diese Liebe zum Sohn verzichten. Darüber sprechen ihre feinfühligen Worte: Aber es gibt etwas, das ich nicht geben kann: An die süße Mutter aller Mütter Ich kann nicht versprechen, dass ich meinen Sohn vergesse! Mein Sohn! ... Mein Sohn! ... Mein lieber Sohn! Konspiration des Lebens nenne, das heißt, das Leben jenseits und innerhalb von Leben und Tod.

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Das Kind, das mir aus den Armen gerissen ward, mein Sohn, den ich nur einmal gesehen und geküsst habe! Mein Kind ... mein liebes Kind weit weg!232

Es stellt sich heraus, dass Angelika im Kloster sieben Jahre lang in äußerster Traurigkeit gelebt hat – denn sie bekam von ihren Verwandten keine Nachrichten von ihrem Kind, doch sie hegte still die ganze Zeit eine Hoffnung, es trotzdem wenigstens noch einmal zu sehen. Beim unangekündigten Besuch ihrer Tante erfährt sie, dass ihr Sohn schon vor zwei Jahren an einer plötzlichen Krankheit im Alter von nur fünf Jahren gestorben ist. Angelika zerbricht ob dieser Nachricht endgültig und bringt in dem Moment mit eigenen Worten die geheimnisvolle Gegenseitigkeit in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern, zwischen Mutter und Sohn zum Ausdruck: Ohne deine Mutter, Liebster, bist du gestorben! Deine süßen Lippen Ohne meine zärtlichen Küsse Wurden weiß und kalt wie Schnee! Und deine Augen hast du geschlossen, mein Liebling! Dann, unfähig mich zu streicheln, Deine kleinen Hände auf deiner Brust gekreuzt!

Angelika kann sich nicht damit abfinden, dass sie den Sohn nicht mehr sehen wird, und möchte nun nur noch sterben – um sich mit ihm im Himmel vereinen zu können. Sie entscheidet sich für den Freitod, und die Blumen, die ihre einzigen Freundinnen waren, sind nun auch ihre letzten Vertrauten: Angelika sammelt giftige Kräuter und trinkt das Gift. Doch während sie das Gift nimmt, wird ihr erst bewusst, dass sie mit dem Selbstmord eine Todsünde begeht, die ihr nun für immer verwehren wird, ihren Sohn zu sehen. In diesem Augenblick wendet sie sich an Maria, die sie wie ihre Mutter bittet, ihr zu helfen und sie zu erlösen. Maria, die auf gnadenvolle Weise zwischen Engeln erscheint, kommt auf herzerschütternde Weise – sie hat Angelikas Sohn, in Weiß gekleidet, vor sich. Die Mutter Gottes bringt der sterbenden 232 Giacomo Puccini, Suor Angelica, Autor des Libretto ist Gioacchino Forzano, übers. von E. Petri, abrufbar unter http://opera.stanford.edu/Puccini/SuorAngelica/libret to_ie.html.

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(Schwester Angelika)

Angelika ihren Sohn, der sich in drei Schritten seiner Mutter nähert. Angelika sieht ihn ein letztes Mal im Leben und stirbt. Schwester Angelika ist am Horizont der Geschichten von Anti­ gone, Savitri, der Unbekannten von Bethlehem, der schönen Vida und Clara eine Geschichte vom höchsten Überfluss der Liebe, den das Wunder veranschaulicht, das auf der Bühne dieser ergreifenden Oper geschieht. Die Geschichte von Angelika zeigt, dass die Liebe stärker als alles ist, denn sie – so wie wir es bei allen erwähnten Figuren gesehen haben – vermag die unsichtbare Grenze zwischen Leben und Tod zu überqueren.

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Sein / Schwester

Auf dem Weg zur Ontologie der Liebe: Ludwig Binswanger Im vorigen Kapitel über Schellings Clara berührten wir eine der schwierigsten Fragen der Philosophie und Ethik – die Frage des Ver­ hältnisses zwischen dem Leben und dem Tod sowie der Verbindung der Liebe und der Trauer. Beim Lesen von Schellings Clara sahen wir, dass auf eine Weise, die ich in diesem Kapitel noch näher analysieren möchte, die Liebe stärker als das Dasein und Sein selbst ist. Die Liebe befindet sich in einer geheimnisvollen Stille, die vielleicht nicht ein­ mal der Atem stört (siehe die »atemlose Stille« bei Binswanger).233 An dieser Stelle ist es freilich noch zu früh, über das Verhältnis zwischen der Liebe und dem Sein zu sprechen, ich möchte aber dennoch an das vorige Kapitel anknüpfen, in dem die elementaren bzw. materiellen Bezeichner des Wirkens der Liebe als ihre uranfänglichen Spuren angedeutet wurden – Urgewässer, die Heiligkeit und Materialität der Tränen, die weibliche Präsenz, Stille und Melancholie (oder Trauer) –, sowie damit auf die elementare oder materielle Phänomenologie hinweisen, die ich noch zu entwickeln gedenke. Bei der Analyse dieser geheimnisvollen und ungrundtiefen Natur der Liebe stellte ich bereits folgenden wichtigen Passus von Schelling heraus, der an dieser Stelle noch einmal zitiert werden muss: Wenn aber alles ihm untertan sein wird, alsdann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles untergetan hat, auf daß Gott sei Alles in Allem. Denn auch der Geist ist noch nicht das Höchste; er ist nur der Geist, oder der Hauch der Liebe. Die Liebe aber ist das Höchste. Sie ist das, was da war, ehe denn der Grund und ehe das Existierende (als getrennte) waren, aber noch nicht war als Liebe, sondern – wie sollen wir es bezeichnen?234

233 Ludwig Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (Heidel­ berg: Roland Asanger Verlag, 1993), 179. 234 Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 77 (meine Hervorhebung).

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Sein / Schwester

Ich habe diesen Passus schon an mehreren Stellen analysiert (siehe etwa das Kapitel über Schelling in meiner Ethik des Atems). Nun möchte ich mit einer methodologischen Geste, die vielleicht an die Ringkomposition (Mary Douglas235) erinnert, dieses zentrale Feld der Ontologie der Liebe erneut umkreisen und auf diese Weise erneut über den ursprünglichen Ort der Liebe nachdenken. Ich werde das zunächst mithilfe einer anthropologischen und ontischen Analyse tun, die in die Philosophie der Liebe von einem der meist übersehe­ nen Denker in ihrer Geschichte eingeführt wurde – das ist Ludwig Binswanger, Weggefährte und Kritiker von Martin Heidegger, dem ich den ersten Teil dieses Kapitels widmen werde. Binswanger stützt sich in seinen Werken auf das Erbe von Buber, Löwith, aber auch auf die Philosophie seines Namensvetters – Ludwig Feuerbach (siehe das Kapitel über Feuerbach in meiner Ethik des Atems), den ich neben den bereits behandelten Böhme und Schelling in der Konstitution der Ontologie der Liebe ebenso in diese Erörterung heranziehen werde. Auch Emmanuel Levinas sowie Jean-Luc Nancy sind Denker, die im Bereich der Grundansätze von Binswangers Denken agieren. Die Besonderheit von Binswangers Analyse der Liebe besteht darin, dass es sich darin auf den ersten Blick um eine anthropologische und ontische Korrektion von Heidegger handelt, die sich jedoch im Moment, in dem man all ihre Ansätze ernst nimmt, fast unmerkbar zu einer neuen Ontologie der Liebe wandelt. Wenn wir nun in das Feld der Liebe eintreten, ist meiner Mei­ nung nach eine der eher übersehenen Fragen der Ethik gerade die Frage der Ontologie, und damit der Genealogie der Liebe auf der einen und ihrer Verbindung zum Bereich ihrer ontischen Verwirklichung auf der anderen Seite, auch in Verbindung mit dem Gedanken an die Geschlechterunterschiede. Während Schelling sich in seinen Werken nur mit dem ontologischen (und somit dem philosophisch-kosmolo­ gischen) Aspekt der Liebe befasste, wies auf der anderen Seite die Phä­ nomenologie – wenn wir nur die beiden Schlüsselfiguren Heidegger und Levinas (und freilich auch Marion in Das Erotische) unter die Lupe nehmen – der Liebe bzw. sonstigen phänomenologischen Topiken des Mit-anderen-Seins auch ihren ontischen Platz zu. Doch wissen wir seit der bekannten Anmerkung von Levinas über die Ontizität des

235 Vgl. Mary Douglas, Leviticus as Literature (Oxford: Oxford University Press, 2000), 50.

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Auf dem Weg zur Ontologie der Liebe: Ludwig Binswanger

Daseins (wenn es scheint, dass das Dasein niemals hungrig ist236) auch, dass die Welt, in der Heidegger sein Dasein ansiedelte, so mancher aufrichtigen Geste zwischenmenschlicher Liebe beraubt ist. Ich bin der Frage der Ethik der Gesten sowie der damit verbundenen Ontologie bei Heidegger bereits ausführlicher in meiner Ethik des Atems nachgegangen. Darin habe ich auf ethisch radikalisierte Weise die Frage von Sein und Böse analysiert, auch oder vor allem in Anknüpfung an Heideggers gescheitertes Projekt der »politischen« Philosophie – wenn man damit sein (genauer gesagt: seinerseits) nie vollständig erklärtes Verhältnis zu der nationalsozialistischen Ideologie meint.237 Dort haben wir gesehen, dass Caputo in seinem Lesen von Heidegger durch den Modus der philosophischen Kardio­ logie gezwungen war, Heidegger gegen Heidegger selbst zu wenden, doch mehr noch, beim Lesen der Feldweg-Gespräche hat Tine Hribar endgültig den weltgeschichtlichen Schauplatz verlassen, an dem sich die Spaltung innerhalb des Seins selbst abspielt (Bösartigkeit als grundlegender oder innerer Wesenszug von Heideggers Sein).238 Ich selbst fasste in meinem Buch bei der Thematisierung der unlängst veröffentlichten sog. Schwarzen Hefte meine Schlussgedanken über Heidegger in der Feststellung zusammen, dass es sich bei dieser weltgeschichtlichen Konstellation um eine unmögliche Dichotomie, einen klaffenden Bruch inmitten von Heideggers Denken handelt.239 Ich möchte jedoch hier mit der Einführung von Binswanger einen Schritt zurück treten, um mithilfe dieses übersehenen Denkers noch einmal zum Dialog mit Heidegger und zur Frage der Möglichkeit einer Siehe dazu John D. Caputo, »The Absence of Monica: Heidegger, Derrida, and Augustine's Confessions«, in: N. J. Holland und P. Huntington, Hrsg., Feminist Interpretations of Heidegger (University Park, PA: The Pennsylvania State University Press, 2001), 151. Caputo merkt hier an, dass die Liste der Dinge, die das Dasein nicht fühlt, die bereits Hunger enthält, um das Weinen erweitert werden sollte, da dies etwas ist, das »das authentische Dasein in Sein und Zeit nicht tut.« (Ebenda). Freilich ist in diesem Kontext die Entschlossenheit und Glorifizierung des Todes zu verstehen, was ich auch schon ausführlich in der Ethik des Atems analysiert habe. Im Gegensatz dazu ist Derridas autobiografische Circumfession durchgängig von Tränen durchdrungen, von der sanften Nähe in der Beziehung zur sterbenden Mutter und Derridas äußerster Verzweiflung über den Verlust seines Namens im Zuge des Abschieds von ihr. 237 Siehe meine Ethik des Atems: Versuch über die Intersubjektivität (Freiburg/Mün­ chen: Karl Alber, 2017), drittes Kapitel. 238 Siehe ebenda, 164 ff. Vgl. hier: »Allerdings trägt das Sein/Seyn in sich einen Impuls, der in unserem Inneren (Herz) den heiligen Raum öffnet, in dem die Wunden des Heiligen verheilen können.« (177). 239 S. Ethik des Atems, 174−77. 236

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Sein / Schwester

Ontologie der Liebe im Herzen seines Denkens nach der so genannten Kehre (d.h. nach den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) von 1936–38) zurückzukehren. Ein weiteres Thema, das im Rahmen dieses Kapitels mit einer erneuten Überlegung über die Rolle der Liebe in Heideggers Philosophie zu verbinden sein wird, wird die Möglichkeit einer radikaleren feministischen (Re-)Interpretation von Heidegger sein, auf die schon der Titel dieses Kapitels anspielt, und wie sich diese gleichzeitig mit der Rehabilitierung der Liebe in seinem Denken manifestieren wird. Doch kommen wir nun zu Binswanger. Ludwig Binswanger (1881–1966) war ein deutscher Psychologe, Psychiater und Phänome­ nologe, der im Sanatorium Bellevue in der Schweiz tätig war.240 Im Jahre 1942 veröffentlichte er sein wichtigstes philosophisches Werk Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, in dem er sich auf idiosynkratische und in der Philosophie vor ihm kaum bekannte Weise, und zwar inmitten der Gräuel des Zweiten Weltkriegs, mit dem Schreiben über die Liebe dem Zeitgeist sowie zugleich auch einem der größten Werke der Philosophie überhaupt, nämlich Heideggers Sein und Zeit widersetzen wollte. In so mancher Hinsicht erinnert Binswanger an noch einen Alleingänger in der Geschichte der Philo­ sophie, nämlich Arthur Schopenhauer (insbesondere, wenn wir über seine empirischen bzw. praktischen Ableitungen der Ethik und die damit verbundene Metaphysik/Ontologie des Mitgefühls nachden­ ken). Heidegger spricht in Sein und Zeit bekanntermaßen einfach nicht von der Liebe oder materiellen Nähe des anderen, im gesamten Werk erwähnt er sie nämlich nur in einer Anmerkung (!), die sich auf Augustinus bezieht. Wie Schrijvers hervorhebt, besteht das Problem darin, dass das Phänomen der Liebe im Grunde mehr »die Faktizität des ›Alles mit allem‹, das Grundphänomen des Miteinanders, zeigt als das ›Alles gegen alles‹, das sich in Heideggers Analyse der Angst und der Jemeinigkeit des eigenen Todes« zeigt.241 Binswangers zentrales Werk über Liebe ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil versteht und behandelt der Autor die Liebe als die Nähe von zweien – also 240 Zu Binswanger und seiner Phänomenologie der Liebe siehe die hervorragende Abhandlung von Joeri Schrijvers »Ludwig Binswanger: The Transcendence of Love«, Bogoslovni vestnik 77 (2017): 489−502. Die bibliographischen Angaben werden hier nach Schrijvers zitiert. Es waren vor allem seine hervorragenden und subtilen Analysen von Binswanger, die meine Aufmerksamkeit auf das Werk dieses weiterhin übersehenen Phänomenologen gelenkt haben. 241 Schrijvers, »Ludwig Binswanger: The Transcendence of Love«, 491.

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Auf dem Weg zur Ontologie der Liebe: Ludwig Binswanger

als »Liebe«, und im zweiten Teil spricht er von der Liebe als »Freund­ schaft«.242 Ich werde mich in dieser Analyse auf den ersten Teil seiner Explikation der Liebe konzentrieren. Jegliche Annäherung an die Frage der Liebe kann freilich bei der naiven und völlig empirischen Evidenz über ihrer Allgegenwart im Leben männlicher und weiblicher »Daseine« beginnen. Daher ist es freilich seltsam, dass man bei Heidegger keine umfassendere phänomenologische Erklärung dieser »Erscheinung« findet. Darin besteht freilich der Kernpunkt von Bins­ wangers philosophischer Intervention. Ich möchte daher in der Folge eine Analyse von Binswangers Philosophie der Liebe liefern sowie damit Heideggers Philosophie von der anderen, weniger üblichen Seite ausleuchten. Für Binswanger besteht die grundlegende Geste der Einführung der Liebe in die Philosophie bzw. Phänomenologie eben in ihrem Ver­ hältnis zu den Gewaltsamkeitsmodi des Wohnens und der Ein-Räu­ mung. Dies wird auch wesentlich für meinen späteren Übergang zur Möglichkeit der Explikation der Liebe im Rahmen von Heideggers Die Geschichte des Seyns (freilich war diese Binswanger, so wie auch die anderen Werke von Heidegger nach der Kehre, noch nicht zugänglich; auch sonst knüpft Binswanger nur an Sein und Zeit an). Für ihn besteht die Grund- oder Begründungsgeste der Liebe in der (friedfertigen oder gewaltlosen) »Gebärde der Überlassung«, die zwischen zwei Subjekten geschieht und die grundsätzliche Zulassung des Seins des anderen neben dem meinen bedeutet. Es handelt sich um die Geste, von der Irigaray schön spricht, indem sie darauf aufmerksam macht, dass die Gastfreundschaft nicht im Geben dessen bestehe, was wir bereits haben oder besitzen (vulgär-ontisch könnte man sagen, dass wir nur darauf verzichten, was wir nicht mehr brauchen), sondern auf der Ebene des Verzichts und der Logik eines Überschusses oder Überflusses im Akt des Gebens selbst, die jeglicher intersubjektiven Ökonomie zugrundeliegt (darin schreibt sich diese Logik auch schön in die Logik der marxistischen Kritik der kapitalistischen Ökonomie ein). Das Gleiche kann für die Stimme bei Binswanger gelten – wenn ich beim Sprechen den Ton dämpfe und es dem anderen überlasse, in Kommunikation mit mir zu treten, oder wenn man mit dem Blick oder mit einer anderen körperlichen Geste subtil, doch wahrnehmbar Für den Übergang zur Behandlung der Liebe als Freundschaft siehe Abschnitt B des ersten Teils von Binswangers Buch, d.h. das Kapitel »Das freundschaftliche Mit­ einandersein« und folgende (197 ff.).

242

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Sein / Schwester

anzeigt, dass man bereit ist, dem anderen einen Teil der Raum-Zeit zu überlassen, der sonst noch weiter uns gehören würde. In diesem Überschuss, auf den wir zugunsten des anderen verzichten, ist für Binswanger die Begründungsgeste der Liebe verborgen, die auf die Weise funktioniert, dass ich gerade durch den Verzicht und das Geben des Eigenen an Liebe gewinne. Dieses Verhältnis bezeichnet Binswanger mit dem Ausdruck »das liebende Miteinandersein«.243 Es ist klar, dass Binswanger damit schon am Anfang radikal mit der Explikation der Authentizität und Jemeinigkeit von Heideggers »Dasein« bricht, denn bei ihm begründet sich das Subjekt gerade über diesen ontologisch-ethischen Verzicht (obwohl wir hier mit »Ontologie«s vorgreifen, deutet sich in dieser Passage bereits ihre Ankunft an). Gleichzeitig besorgt er sich damit einen hervorragenden Anfang für seine Theorie der Liebe als grundlegender intersubjektiver Modus des Miteinanders. Doch Binswanger geht noch weiter und darin liegt sein vielleicht größter Vorteil vor den Philosophen seiner Zeit. Er lehnt jedes auf dem Kampf um Anerkennung basierendes Agieren entschieden ab. In radikalisiertem Sinne ist für ihn nun »die eigentliche Gebärde der Liebe [...] die Umarmung«, die in ihrem Bruch mit der Logik des Besitzens, der Gewalt, des Beherrschens, des Wun­ sches nach Selbstverwirklichung (conatus essendi des neuzeitlichen Denkens) zum Grundmodus der Nähe wird, die er mit dem Syntagma »Wir der Liebe« bezeichnet.244 An dieser Stelle muss man einen Schritt zurück zu Feuerbach machen. Ich habe über Feuerbach ausführlich in der Ethik des Atems geschrieben, und hier möchte ich im Kontext der Theorie von Bins­ wanger (der freilich in so mancher Hinsicht bei Feuerbach schöpft) 243 Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, 17; siehe S. 65 zur Logik des Verzichts und des Gewinnens: »Je mehr ich dir gebe, je mehr habe ich, beides grenzlos.« 244 Ebenda, 18. Binswanger verwendet natürlich die Mehrzahl (aber auf Seite 69 erwähnt er die Unverzichtbarkeit der Zweizahl; Dualis). Doch die Konstellation der Liebe ist eingebettet in eine triadische Struktur, die auch die Zweiheit enthält: Ohne Ich und Du gibt es keine Atmosphäre der Gemeinschaft (dieses Dritte als »Wir (zwei)«), die unsere Beziehung oder Begegnung durchdringt (siehe 20 ff.). Die Bezie­ hung zwischen zwei Personen vollzieht sich also nie auf der Ebene der einfachen (oder gar antagonistischen) Beziehung zwischen dem Ich und dem Du, sondern ist immer schon in einer Atmosphäre der Gemeinschaft als Wir-Modus angesiedelt. Dies ist natürlich zunächst im Hinblick auf den Ort der Begegnung gemeint, den Binswanger mit der geometrisch-kosmischen Metapher der Ellipse veranschaulicht, deren zwei Brennpunkte das Du und das Ich sind. (21)

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Auf dem Weg zur Ontologie der Liebe: Ludwig Binswanger

an den Grundzug von Feuerbachs Philosophie erinnern – der eben in der Rehabilitierung der Sinnlichkeit und Sensibilität besteht. Feu­ erbach sagt in Das Wesen des Christentums klar: »Ich bin himmelweit unterschieden von den Philosophen, welche sich die Augen aus dem Kopfe reißen, um desto besser denken zu können; ich brauche zum Denken die Sinne, vor allem die Augen, gründe meine Gedanken auf Materialien, die wir uns stets nur vermittelst der Sinnentätig­ keit aneignen können.«245 Außer der Augen schrieb Feuerbach eine besondere Bedeutung auch der Haut zu, die freilich das Medium ist, im Rahmen dessen der Kontakt stattfindet, in ethischem Sinne vor allem als Empfinden, Berühren oder zugeneigtes oder sinnliches Umarmen. In seinem Werk aus dem Jahre 1841, Einige Bemerkungen über den Anfang der Philosophie, schreibt Feuerbach eben über die Haut folgende Worte: Durch den Leib ist Ich nicht Ich, sondern Objekt. Im-Leib-Sein heißt In-der-Welt-Sein. Soviel Sinne – soviel Poren […]. Der Leib ist nichts als das poröse ich.246

Damit sind wir im Feld materieller Intersubjektivität und der mit ihr verbundenen Epistemologie angelangt, die Feuerbach noch nicht auf die Art der Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dachte, er war jedoch auf jeden Fall ihr hauptsächlicher Vorgänger. Binswanger schreibt sich in diese Logik (er beruft sich mehrfach auf Feuerbach) mit einer klar Nancy'schen Intention über die grundle­ gende Pluralität unseres Seins ein.247 Wie soll man also zur Konstitu­ tion der Liebe in diesem Zwischenraum der Nähe gelangen? Die Liebe ist »›Erschlossenheit‹ oder Offensein des Daseins für sein Einssein, sein Ganzsein, wenn man will, in der Urform der Wirheit.«248 In Hinsicht auf die Räumlichkeit ist die Liebe Bringerin eines Wohnorts (als Ort, oder Heimat bei Binswanger, der sagt: »wo Du bist, ein Ort (für mich) »entsteht««), den wir noch näher analysieren werden in Anknüpfung an Heidegger. Der Eintritt der Zeitlichkeit in die Beziehung zwischen zwei Subjekten ist scheinbar überraschend: wenn Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 64. Ludwig Feuerbach, »Einige Bemerkungen über den Anfang der Philosophie von J. F. Reif«, in: Werke in sechs Bänden, Bd. 3 (Kritiken und Abhandlungen II, 1839–1843), Theorie Werkausgabe (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1975), 138. 247 Jean-Luc Nancy, Singulär plural sein, über. von Ulrich Müller-Schöll (Berlin: diaphanes, 2005). Siehe das Kapitel 6 „Singulär plural sein: “Singulär plurales sein heißt: Das Wesen des Seins ist, und ist nur, als Mit-Wesen [co-essence] (59). 248 Binswanger, Grundformen, 22. 245

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nämlich in der Sprache der Moment eintritt, wo ich dem anderen überlasse, mir etwas zu erzählen, oder ich ihm mit einer anderen Geste meinen Raum überlasse, ist eben in diesem Intervall bzw. in dieser Geste der Stille/des Innehaltens die Bedeutung und das Paradox ethischer oder intersubjektiver Zeit (vgl. Levinas) verborgen, die zwar Binswanger hier nicht so subtil einführt, doch die Bedeutung seines Denkens ist trotzdem klar: der adäquate sprachliche Ausdruck einer liebenden Begegnung wäre die Zweizahl nur dann, wenn ich und du darin gleichzeitig sprechen könnten, in einem unmöglichen Modus reiner Übereinstimmung der Zuneigung oder der Liebe, was jedoch wegen der Natur der Sprache und des Gesprächs selbst nicht möglich sei: Daher ist der eigentliche Ausdruck der Liebe überhaupt nicht die (Wort-)Sprache, sondern der »schweigende« Blick und Kuß, die »schweigende« Umarmung der Liebe.249

Diese Logik der Begegnung enthält die Grenzenlosigkeit oder Über­ schüssigkeit (ich werde sie als Überfluss oder Exzess bezeichnen; Binswanger verwendet den Ausdruck Überschwang) der Liebe, die etwas später vor uns sein wird. Obwohl es manchmal scheint, dass Binswanger mit der Umarmung das ontische Phänomen der Liebe im Sinn hat, ist darin eine Ontologie der Liebe verborgen, wie sie vor ihm noch von niemandem entwickelt wurde. Die Liebe befindet sich somit oder schwankt zwischen dem onto­ logischen und dem ontischen Bereich unseres Wohnens. Der Beweis für den Eintritt der ontologischen Problematik steckt in Binswangers Ausführungen, die der vorhin genannten Phänomenologie der Umar­ mung oder Nähe der Liebe folgen: Ihr Geheimnis (das Mysterium der Liebe) bestehe darin, dass, wie er sagt, eine Liebesbeziehung oder zugeneigt liebende Beziehung nicht möglich sei, wenn »das Dasein nicht schon in seinem Grunde liebende Begegnung war.«250 Diesen Wesenszug des Daseins knüpft Binswanger explizit an das phänomenologisch-ontologisches Gebiet an, und zwar – auf seine »empirische« und idiosynkratische Art – mit der Heranziehung eines längeren Thoreau'schen Passus bei Hugo von Hofmannsthal über die Logik der Begegnung überhaupt. Wie der Künstler sagt:

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Ebenda, 69. Ebenda, 72.

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»Aber es ist sicher«, sagt Hugo v. Hofmannstahl einmal, »daß das Gehen und das Suchen und das Begegnen irgendwie zu den Geheim­ nisen des Eros gehören. Es ist sicher, daß wir auf unsrem gewundenen Wege nicht bloß von unsren Taten nach vorwärts gestoßen werden, sondern immer gelockt von etwas, das scheinbar immer irgendwo auf uns wartet und immer verhüllt ist. Es ist etwas von Liebesbegier, von Neugierde der Liebe in unsrem Vorwärtsgehen, auch dann, wenn wir die Einsamkeit des Waldes suchen oder die Stille der hohen Berge oder einen leeren Strand, an dem wie eine silberne Franse das Meer leise rauschend zergeht.251

In dieser unmittelbaren und scheinbar begrifflich entleerten Umwelt geschieht nun etwas – und das ist die Begegnung. Sei es, dass man auf einen einsamen Baum oder ein Waldtier trifft, das für einen Moment innehält und uns mit einem Blick von hinter dem Gebüsch streift, oder wenn man den Gesang eines Vogels in der Ferne hört, der im Tal widerhallt – in diesen und ähnlichen Fällen, die Binswanger nach Hof­ mannsthal anführt, findet man sich in der Raum-Zeit der Begegnung wieder, die einem zu wissen gibt, dass man nicht allein auf der Welt ist. Binswanger radikalisiert mit diesen Beispielen, die unmittelbar aus der Natur schöpfen, Feuerbachs Denkansatz der Ethik der Intersub­ jektivität noch und legt den Menschen in den Bereich seines innersten Wohnens. Noch vor dem Geviert, oder nebenher (etwa wenn man an Heideggers Geviert aus seinem Essay »Bauen Wohnen Denken«, entstanden in 1951, denkt), legte also Binswanger den Menschen in den Mittelpunkt eines kosmologisch-ethischen Raumes, den wir noch näher thematisieren müssen. Für Binswanger fußt die Liebe in der Stille und dem ursprünglichen Frieden der Begegnung – im Grunde der »Ur-möglichkeit des liebenden Begegnens überhaupt«252 – die an sich Suche, Erwartung und Verheißung von Zweisamkeit ist. Hier offenbart sich Binswangers ethische Kardiologie (verwandt mit jener, von der beim Lesen von Heidegger Caputo sprach und sie bei dem großen Denker vermisste), die nun seine grundlegende Abweichung von Heidegger aufzeigt: Im liebenden Miteinandersein gibt sich auch das Dasein also zu verstehen, daß es – »ein Herz hat«, genauer ausgedrückt, entdeckt sich

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das Dasein als Herz, ist das Da des Daseins erschlossen als die Heimat des Herzens.253

Doch mehr noch: Nur deshalb, weil das Dasein auf diese Weise enthüllt ist, das heißt wie die Liebe, ist es nun überhaupt möglich, die christliche Religiosität sowie die christliche Religionsphilosophie zu verstehen, und mehr noch, wie hier Binswanger radikal hinzufügt, kann nur deshalb »Gott sich als Gott der Liebe dem Menschen ›in der Welt‹ offenbaren«.254 Hier hallt jedenfalls Feuerbachs philosophisches Denken in all seiner Tragweite und zugleich in seinem Unverständnis sowohl bei Zeitgenossen als auch bei späteren Lesern nach. Nur möchte ich am Horizont dieses Denkens zum zentralen Teil von Binswangers Erläuterung des Daseins als Liebe und ihr Über­ schwang übergehen, was völlig neue Möglichkeiten einer ontologi­ schen Erklärung dieses Grundphänomens des liebenden und zuge­ neigten Miteinanders öffnen wird, auch im Verhältnis zum Tod und Sterben. Hier stellt Binswanger der Fürsorge als Hauptexistenzial des Daseins nun gerade die Liebe gegenüber. Die Fürsorge befindet sich in einer Welt, in der aktive Modi unseres Agierens herrschen, begrün­ det auf verschiedenen immer endlichen und durch die historische Logik verstandenen Potenzen der Mächtigkeit; im Gegensatz dazu geht aber die Liebe aus der gegenläufigen Bewegung hervor, der die Modi der Gabe, der Schenkung und Gnade zugrundeliegen, die sich in den Bereichen des Grenzenlosen, Außergeschichtlichen, sogar Ewi­ gen (wie es bei der Thematisierung der Liebe, die sogar den Tod über­ windet, sichtbar werden wird) entfalten. Hier offenbart sich das, was Binswanger mit dem Ausdruck Überschwang der Liebe oder auch Überschwang des Daseins benennt. Überschwang zielt hier auf eine Transzendenz in der Liebe, die ihre sonst immer ontische Temporalität überwindet: die Begegnung ist somit etwas, was nicht im Bereich der Fürsorge in irgendeiner ihrer Formen geschieht. Darin ist Binswanger Luce Irigaray nahe, die die horizontale Transzendenz in der Beziehung mit dem anderen findet. Wenn sich bei Heidegger in Sein und Zeit die Existenz des Daseins aus einer Beklommenheit heraus entfaltet, die unser In-der-Welt-Sein zunächst einer unauthentischen, unheimli­ Ebenda, 96. Ebenda, 114. Dies ist meiner Meinung nach der einzige Fehler in Binswangers Theorie – wie im zweiten Teil dieses Kapitels deutlich wird, kann die christliche Liebe nicht ohne eine Reflexion über einen Mit-Ursprung der Liebe im Seyn selbst gedacht werden. 253

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chen Existenz aussetzt, indem man diese Beklommenheit durch Für­ sorge assimiliert, und es erlaubt, dass der Mensch das werden kann, was er sein kann in seiner Freiheit für seine eigensten Möglichkeiten (einschließlich des Todes als »eigenste Möglichkeit des Daseins«),255 ist es klar, dass es Binswanger nun im Grunde nicht mehr um die Sorge für das Dasein geht, das trotz seiner Eingespanntheit in verschiedene gemeinsam geteilte Modi des Mitseins oder Mit-anderen-Seins innerhalb seiner Welt bei Heidegger ontologisch wesentlich im Modus der Jemeinigkeit gefesselt bleibt – bis zu seinem mutigen oder gar heldenhaften Tod. Doch warum führt Binswanger in die Logik des Daseins und der intersubjektiven Begegnung hier das unphilosophi­ sche Thema der Gnade ein? Schon Schopenhauer verstand, wie wir schon im Interludium gesehen haben, auf seine (zwar im Grunde metaphysische) Art die Freiheit des Menschen als Gnade. Als der Wille sich vom Leben abwendet, weg von seiner unentwegten Bestä­ tigung und Behauptung der Echtheit seiner selbst, geschieht die so genannte katholische Veränderung, von der er in § 70 seines Grund­ werks sagt, dass das Wirken der Gnade entweder der Ausdruck der höchsten Freiheit des Menschen, ethisch erwacht für die Caritas, oder Mitgefühl ist.256 Binswanger versteht nun die Gnade als »Geschenk des Daseins an sich selbst«,257 als seine Bereitschaft zu einem liebe­ vollen, zärtlichen Miteinander, das in seinem Kern – auch wenn es barsch klingen mag (aber doch am Horizont von Heideggers Denken über Sterbliche und ihr Sein zum Tode präsent ist) – unhistorisch ist. Und hier öffnet sich das Thema des Todes, das uns erste die volle Bedeutung der Transzendenz der Liebe offenbaren wird. Der Mensch ist also in seinem ontologischen Grund ein relati­ onsbezogenes Wesen oder Wesen der Zweisamkeit. Die ontischen Formen der Liebe können somit nicht ihr Wesen ausschöpfen. Liebe wird erst vollständig, wenn man auf ihre Transzendenz hinweist, auf Liebe als Überfluss, das über Leben und Tod erhaben ist. Hier kommt nun Schellings Clara zu uns zurück und seine/ihre feinfühlige Ontologie der Liebe und der Trauer. Sehen wir uns hier ein wichtiges Zitat aus Binswangers Werk an, das eine ontologische Wende in unser Denken einführt: Martin Heidegger, Sein und Zeit (Tübingen: Niemayer, 1979), 263. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986). 257 Binswanger, Grundformen, 157. 255

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Wie wir von einer Liebesimmanenz des Todes im Leben sprechen, so müssen wir auch von einer Liebesimmanenz des Lebens im Tod sprechen. Einsamkeit lautet der Name der ersteren, der Name der letzteren ist Zweisamkeit.258

Binswanger unterscheidet an dieser Stelle die Liebe auf seine Art von der Fürsorge – die Liebe ist hier über die Fürsorge erhaben, jenseits von Leben und Tod gestellt. Doch wie? Welche Phänomenalität des Todes öffnet sich uns mit dieser Geste? Der Ort, den wir, ich und du, mit der Begegnung besiedelt haben und der zwischen uns ist, ist ein Ort, in dem auch unser Gedanke an den Tod wohnt. Wir werden sehen, dass die Trauer, von der Schelling in seiner Clara spricht, phänomenologisch gerade mit dieser Empfindung verbunden ist. So wie ich weiß, sagt Binswanger, dass ich bei jedem Abschied in dir lebe, so weiß ich, dass ich in dir, und auf eine Art auch mit dir, auch nach meinem Tod leben werde. Doch dieses Wissen verbindet Binswanger nicht mit einer These vom Leben nach dem Tod oder einem Wiedersehen im Jenseits, sondern will es phänomenologisch denken. Ihr grundlegender Charakter ist somit nicht »Hoffnung« oder »Glaube« (obwohl es freilich in sich immer auch das ist!), sondern – hier vielleicht etwas unerwartet, aber emphatisch – äußert sich diese Art des Seins-mit-dem-Tod durch das »Schweigen«: Jenes Wissen ist absolutes Schweigen. Daher ist Liebe nur da wahre Liebe, wo schon »im Leben« das »Schweigen des Todes« vernimmt.259

Am Horizont der Liebe vom Tod zu sprechen ist unmöglich: Wie das Herz über den Verstand gestellt ist, ist die Stille über die Sprache der Liebe gestellt. Darin besteht ihre Transzendenz. Liebe ist die Erfül­ lung des Daseins, doch hier als über alle ontischen Phänomene der Sprache hinausgehend (in ihren alltäglichen Ausdrücken, mehr oder weniger gelungen gewählten Worten, mehr oder weniger zugeneigten Sprachgesten usw.): Liebe ist Überfluss, heilige Ruhe und Stille um und in uns, »atemlose Stille«.260 Schon Schelling wusste, dass das Band der wahren oder unzerstörbaren Liebe zwischen zwei Personen mit dem Wesen der Seele verbunden ist, in der diese Liebe wurzelt. 258 Ebenda, 170. Die hier mit Zweisamkeit bezeichnete Einsamkeit eines Paares könnte man auch als selbzweit bezeichnen, in Anlehnung an den bekannten kunsthis­ torischen Begriff selbdritt (Anna Selbdritt). 259 Ebenda, 170 f. 260 Ebenda, 179.

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Mehr noch, wir haben gesehen, »daß in Freundschaft und Liebe etwas seiner Natur nach Ewiges liegt, und ein Band, das Gott geknüpft hat, weder Tod, ja Gott selbst nicht auflösen können«.261 Binswanger ist mit seiner Phänomenologie der Liebe bis zum Ende des Weges gekommen, ebenso wie Schelling: einen Schritt weiter zu machen, als beide gemacht haben (das heißt ins Feld des Ontologischen), bedeutet, dass wir uns in einem Bereich bewegen, den wir Philosophen noch nicht durchlaufen haben. Obwohl es scheint, dass sich Schelling im Feld des Spirituellen (»Geister« der Verstorbenen) und somit des Immateriellen bewegt, und Binswanger zur Immanenz des Lebens im Tod mit der Phänomenologie gelangen will, ist es in Wirklichkeit bei beiden genau umgekehrt. Schelling, wie wir gesehen haben, stützt sich in wesentlichen Teilen seiner Interpretation auf subtile materielle Bezeichner wie Tränen und Trauer, weibliche Anwesenheit sowie das Gefühl der Wehmut (gebrochenes Herz), während Binswanger, im Gegenteil, aus der materiellen Phänomenologie (Berührung, Umar­ mung, Sprache der Nähe, Gesten der Zuneigung) zur schweigenden Erfülltheit des Daseins im reinen Überfluss der Liebe übergeht.262 Wenn Binswanger von der Liebe spricht, ist es klar, dass man die Liebe bei ihm zuerst oder am leichtesten als erotisches Verhältnis versteht, doch ist diese Logik des Eros – was ich in der Folge auf­ zeigen und in dem Sinne über Binswanger hinaus gehen möchte – hier jenseits des bloß sexualisierten Modus dieses Verhältnisses; die Liebe ist somit im Sinne einer überschwänglichen Sehnsucht zu betrachten, die alle Arten von Liebesbeziehungen begründet (und nicht bloß freundschaftliche, die Binswanger zwar später mit der Vgl. Schelling, Clara, I, 9, 19. Hier nimmt Michael Theunissen eine kritische Haltung zu Binswanger ein in seinem Buch Der Andere: Studien zur Sozialontologie der Gegenwart (Berlin: De Gruyter, 1965, siehe das Kap. »Ludwig Binswangers Phänomenologie der erotischen Liebe«). Theunissen sagt zuerst, dass Binswanger von der Grundthese abhängig sei, die er sonst negiere. Er zweifelt auch, dass man die Phänomenologie der Liebe in Richtung der Überwindung innerweltlichen Wohnens ableiten und ihr zugleich auf diesem Weg auch Sprache und Logos (Erfüllung der Liebe als Stille bei Binswanger) wegnehmen könne. Der Überfluss an Liebe (als Überschwang) kann somit für Theu­ nissen nicht über die Grenzen der Intentionalität hinausgehen, was seiner Meinung nach Binswanger tut (siehe Theunissen, Der Andere, 448). Das Problem mit seiner Interpretation, dessen sich aber Theunissen freilich bewusst ist, besteht darin, dass er selbst in seiner Kritik stets auf dem weiten Feld der Phänomenologie bleibt, während sich Binswanger im ontologischen und auch theologischen Grenzbereich (Gnade) bewegt, den vor ihm mit Ausnahme von Feuerbach und Schelling noch niemand überquert hat. 261

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gleichen Ernsthaftigkeit behandelt) – das heißt zwischen Partnern und Liebhabern, doch gleichermaßen auch zwischen Brüdern und Schwestern (die Geschichte von Lazarus oder Antigones Liebe) und zwischen Eltern und Kindern, zwischen denen das engste Band der Liebe überhaupt herrscht – wie auch Clara in einer der feinfühligsten Passagen in Schellings Abhandlung bezeugt. Liebe ist bei Binswanger auf der Logik der »Begegnung« begründet. Somit ist ihr primärer Platz nicht in den vorhin erwähnten Familienbeziehungen. Doch wenn wir das unvergängliche Band reiner Partnerliebe auf der einen und das gleichermaßen unvergängliche Band der Mutter oder des Vaters gegenüber dem Sohn oder der Tochter auf der anderen Seite vor uns haben, sprechen wir denn nicht von ein und derselben Liebe, ein und derselben Sehnsucht, Begegnung, die zwar von einer anderen Art ist und doch derselben Ordnung der Nähe angehört? Unsere Erörterung der Liebe muss diese vielleicht schwierigste Frage berühren, die jenseits des Phänomenalen reicht und vielleicht sogar die Ur-Begegnung selbst begründet, die Binswanger (vielleicht zum Erstaunen des Lesers) trotzdem nicht thematisiert. Die Begegnung kann freilich am Horizont des Seins des Daseins gedacht werden, die Binswanger in den Bereich des Wohnens stellt, doch der Philosoph thematisiert ihre ontologische Herkunft nicht präzise genug. Darin sehe ich die Aufgabe des folgenden Kapitels und möchte dort das Terrain für die Rückkehr zum späten Heidegger ebnen und so die Ursprünge der Ontologie der Liebe andeuten.

Über die Formen der reinen Liebe: Eltern und Kinder Ich möchte mich nun am Horizont von Binswangers Phänomenologie der Frage der Liebe über eine allmähliche Rückkehr zu Heideggers Philosophie nähern. Ich möchte jenen Überrest erforschen, der sowohl Heidegger als auch Binswanger entgangen ist und auf den Irigarays spätes Werk (nach ihrem Der Weg der Liebe263) sowie schon davor Heideggers Philosophie nach der Kehre hindeuten, obwohl sie in der Form bei ihm nicht erschienen ist. Ich werde zuerst – als Einleitung in meine Gedanken – an ein weniger bekanntes Stück von Euripides, das jedoch vielleicht das feinfühligste griechische Werk 263 Irigarays The Way of Love ist 2002 erschienen und stellt den Übergang zum sog. (neo)kosmologischen Denken dieser Philosophin dar.

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überhaupt ist – Die bittflehenden Mütter – anknüpfen. Wir werden darin jenes Zeichen und jene Spur des Verhältnisses der Liebe und Zuneigung finden, das mit Platon unterbrochen wurde und in der Geschichte der Philosophie bis zu Augustinus verdeckt blieb; damit werden wir aber auch in den Bereich der Fragen zurückkehren, der zu Beginn dieses Kapitels die Wunde der Bösartigkeit des Seins selbst bei Heidegger erleuchtete und uns in eine neue Phänomenologie der Liebe einführte. Das Drama von Euripides ist in die unmittelbare Nähe von Sophokles' Antigone gestellt und ist deshalb für uns noch besonders interessant. Indem er die Ereignisse des so genannten thebanischen Zyklus vorstellt, stellt er uns mitten ins Herzstück der ethischen Ansätze, die ich in diesem Buch thematisieren will. Das Geschehen ist, genauso wie bei Sophokles, im Lichte von Kreons Verbot des Begräbnisses des Polyneikes vorgestellt, nur dass dieser in dem Fall einer der sieben Heerführer ist, denen der Herrscher von Theben die­ ses althergebrachte Recht abnimmt, das uns ungeschriebene Gesetze gewähren. Die Athener, mit Theseus an der Spitze, sind mit dem Dilemma konfrontiert, ob sie Kreon gewähren sollen, seinen politi­ schen Willen gegenüber den Gegnern und Verlierern durchzusetzen, oder aber mit einem Angriff zugunsten einer verbündeten Stadt (Athen und Argos) die toten Söhne, Väter und Männer nach Hause zu überfuhren und ihnen gemäß den althergebrachten Gesetzen eine Beerdigung zu ermöglichen. Die bittflehenden Mütter schockieren uns mit der Sprache, die ihre Personen sprechen – Mütter und Kinder der gefallenen Söhne und Väter. Der Text gehört zum Genre der Philoso­ phie des Betrauerns und ist darin mit den erwähnten Bekenntnissen des Augustinus sowie Derridas Meisterwerk Circumfession verwandt. Die bittflehenden Mütter sind ein Text über die reine Liebe, die über den Tod hinaus reicht, über die Immanenz des Lebens im Tod, ein Text über Sehnsucht und Trauer, die aus derselben Quelle wachsen; über das Sein, das Müttern Tränen schenkt, damit diese das Böse der Menschheit reinigen mögen.264 Das Werk ist ein Klagelied, das von Mitgefühl durchdrungen wird, und folgende Passage bringt das in der 264 Vgl. Tine Hribar, Dar biti (Ljubljana: Slovenska matica, 2003), 5: »Ohne die Mutter gäbe es niemanden von uns. So gesehen sind wir ihr Geschenk an uns selbst. Als ob die Gabe des Seins, die ich empfange, ihre eigene Gabe wäre. Aber das Sein war auch eine Gabe, das der Mutter zuteil wurde. Von wem? Von ihrer eigenen Mutter? Von den Urahnen der Menschheit? Von – wenn wir uns dem Anfang aller Anfänge zuwenden – Gott als Schöpfer der Welt? […] Das Sein ist eine Gabe des Seins selbst.«

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ganzen Heftigkeit zum Ausdruck (es handelt sich um die Bitten der Mütter der verstorbenen Kriegsherren von Argos an die Mutter des Theseus, die Athenerin Aithra): Herrin, auch du / Gebarst einen Sohn, / Liebendes Lager bereitend / Deinem Gatten. Spende uns du / Von deinem guten Rat, / Ja, spende gleiches Maß, / Wie wir selber beklagen / Die gefallenen Söhne! / Sag deinem Sohn, daß er gehe / Zum Isménos und lege / In unsere Hände die toten Glieder / Der Jugend, die kein Grab bedeckt!265

In dieser ethisch-kardiologischen Konstellation ist der Sinn der Onto­ logie der Liebe verborgen. Bei Binswanger haben wir gesehen, dass die Liebe auf der Begegnung (bzw. Ur-Begegnung) basiert, die zweien den Ort des Wohnens ihres liebenden Miteinanders verleiht. Dieses Miteinander, das nicht nach dem Tod endet, braucht für seine Erhal­ tung das Ritual der Bestattung und des Abschieds. Doch der Tod eines Kindes übersteigt jeglichen Tod: Er ist eine Unterbrechung und Umkehr der genealogischen Ordnung, das Eindringen des Übels unmittelbar in die Logik der Liebe und somit ist das Sein selbst in seinem Kern verletzt. Doch die Hauptfrage, die sich hier stellt, lautet, ob die Liebe zu Kindern, die Liebe, die die Trauer der Mütter aus Die bittflehenden Mütter erzeugt, von derselben ontologischen Ordnung wie die erotische Liebe ist. Die Antwort auf diese Frage ist zweischich­ tig. Einerseits knüpft sie an die Logik des Eros, andererseits an die Idee des Kindes an. Badiou – ich erwähne ihn deshalb, weil er die Liebe streng philosophisch (und gleichzeitig noch atheistisch) durchdenken will – hat in seinem Lob der Liebe die Frage des Kindes auf das Ziel der Liebe beschränkt, auf einen »Punkt« oder ein partikulares Ereignis der Liebesbeziehung.266 Im Gegensatz dazu befasst sich Luce Irigaray in ihrem Geboren werden gerade mit der Idee des Kindes. Ich meine, dass in ihren Gedanken über die Verbindung von Liebe und Sehnsucht (desire) der Schlüssel zum Rätsel aller Rätsel steckt: Wo kommt die Liebe her? Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, wie Schelling Clara folgende feinfühlige Worte in den Mund legt: […] dort eine Mutter still am Grabe früh verlorener Kinder stehend, wo es des geweihten Wassers nicht, die Stelle der Thränen zu vertreten, Euripides, Die bittflehenden Mütter, übers. von Ernst Buschor (Zürich/München: Artemis Verlag, 1979), 223. 266 Alain Badiou mit Nicolas Truong, Lob der Liebe, übers. von Richard Steurer-Bou­ lard (Wien: Passagen Verlag, 2015). Siehe Kap. IV „Wahrheit der Liebe“, 46 f. 265

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brauchte, sondern sanft niederfließende, von süßer Wehmuth gehei­ ligte Zähren die Grabhügel erfrischten. Wären mir Kinder geschenkt und alle Kinder genommen, so könnte ich es nie für Zufall oder ein vorübergehendes Geschick halten, die Mutter dieser Seelen zu seyn; ich fühlte, ja ich wüßte, daß sie ewig zu mir gehören, ich zu ihnen, und daß sie mir, ich ihnen, durch keine Gewalt der Erde, noch selbst des Himmels genommen werden können.267

Mit diesen beiden Passagen über die Immanenz des Lebens im Tod treten wir nun ins Herzstück unserer Frage über die Ontologie der Liebe ein. Irigarays Werk Geboren werden, das in dieses Kapitel einführt, ist meiner Meinung nach das einzige philosophische Werk im westlichen philosophischen Kanon, das voll und ganz der Idee des Kindes gewidmet und somit der Ethik der Intersubjektivität verbunden ist. Es wurde von einer weiblichen Philosophin und Phi­ losophin des Geschlechterunterschieds geschrieben, deshalb entfal­ tet sie Fragen, die Binswanger, der als Mann der Philosophie des Geschlechterunterschieds weniger zugeneigt war, noch nicht bewusst waren bzw. er sie nicht berührte. Für Irigaray ist die Grundfrage des gesamten Geboren werden die Frage des Ursprungs. Sie schreibt: »Das Geheimnis unseres Ursprungs zu lüften, ist wahrscheinlich das, was unsere Suche und unsere Pläne am meisten antreibt.«268 Die Frage des Ursprungs kann sich auf zwei mögliche Wege beziehen. Zunächst ist das die ontologische These vom Ursprung unseres Seins, und gleichzeitig, doch keineswegs weniger wichtig, ist das die Frage, die engstens mit der Idee des Kindes verbunden ist. Wir kommen in diese Welt aus der Mutter, als Gabe des Seins, hat, wie wir bereits gesehen haben, in seinem Werk Gabe des Seins Tine Hribar geschrieben – und unser Sein ist für ihn somit eine Gabe des Seins selbst. Dieser Gedanke trägt in sich die Frage, die uns als Denker der Liebe anspricht, doch in welchem Verhältnis steht dieses Sein zu der Liebe? Ist die Liebe Teil des Seins oder geht aber die Liebe dem Sein selbst als (Un-)Grund – wie Schelling in einer der wesentlichen Passagen seines gesamten Opus andeutet – auf eine geheimnisvolle und noch nicht vollkommen gedachte Weise vielleicht sogar voran? Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach.

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Schelling, Clara, I, 9, 11 und I, 9, 19. Irigaray, To Be Born, v.

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Irigaray führt ihre Explikation der Idee des Kindes auf idiosyn­ kratische und zunächst schwer verständliche Weise ein. Sie vertritt nämlich die These, dass wir ungeachtet der Art unserer Zeugung oder Schöpfung als Einzelne, die wir in diese Welt gekommen sind, geboren werden wollten – zum Zeitpunkt der Geburt war in uns der Lebenswille bereits vorhanden.269 Dies führt freilich zu einem Bruch mit dem gängigen Verständnis des Kindes als jenes Dritten im Verhältnis zu den Eltern, das geboren ist und somit in Wirklichkeit nicht geboren wird. Doch, wenn die ursprüngliche Idee des Kindes mit seiner expliziten Singularität verbunden ist (diese sichert dem Kind die Autonomie),270 ist die Geburt gleichzeitig auch der Übergang zu einer anderen Daseinswelt, die jedoch in sich die Erinnerung an das ursprüngliche Wohnen im anderen (der Mutter; vgl. unseren Begriff der Matrixialität aus den vorangegangenen Kapiteln sowie der damit verbundenen ursprünglichen materiellen Gastfreundschaft) bewahrt. So sprechen wir von zwei Ursprüngen des Wohnens, die jedoch freilich eng verbunden sind. Im Verständnis dieser Verbundenheit, scheint es, liegt nun das Geheimnis der Liebe. Irigaray ist sich der Falle dieses Einsatzes bewusst: die Familie, in der das Kind aufwächst, ist das primäre und gleichzeitig höchste Symbol der Fürsorge für es, doch sie gewährleistet zugleich in sich nicht zwangsläufig Autonomie und Freiheit. Um das zu erzielen, ist ein Übergang von der so genannten geistigen Transzendenz (diese stützt sich auf eine heteronome Auto­ ritätsquelle, wie Familie, Staat oder eine andere Gemeinschaft, wobei in allen erwähnten Rahmen der Modus der Macht erhalten wird) zur horizontalen Transzendenz der Liebe als Raum des Friedens, der einzig den anderen in seiner Anderheit und gleichzeitig Singularität erkennen kann. Das ist aber die Transzendenz der Liebe, die in der (ewigen, archaischen) Sehnsucht bzw. dem Wunsch nach dem anderen und der gegenseitigen Hingabe zweier Personen zum Aus­ druck kommt. Die horizontale Transzendenz ist von dynamischer und prozessualer Natur. Sehen wir uns hier die vielleicht wesentliche und auch äußerst komplexe Passage an, die die Liebe mit der Sehnsucht nach dem anderen verbindet: Vgl. ebenda, 1. »Durch seine autonome Atmung und seine Sexualisierung gebiert der kleine Mensch sich selbst, er bringt ein einzigartiges Lebewesen zur Welt, dessen Leben er kultivieren muss, ein Leben, das auf kein anderes reduziert werden kann, um es für sich selbst und für die Welt, in die er sich begibt, zu erreichen.« (Ebenda, 5). 269

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Über die Formen der reinen Liebe: Eltern und Kinder

Die Liebe bringt dem anderen Raum und Zeit außerhalb von uns, aber auch in uns, damit das, was dieser andere uns von seinem Wesen anvertraut, leben, wachsen, sich entfalten kann – was mit der Unmittel­ barkeit und Heftigkeit des Begehrens nicht geschehen kann. Die Liebe schenkt einen stillen Frieden, der es ermöglicht, dass das Blitzen, das das Begehren ankündigt, zu einem Zauber wird, der nicht mehr von außen anzieht, sondern dazu einlädt, in sich selbst zu verweilen, das Wahrgenommene, Empfangene zu kultivieren und es sich entwickeln zu lassen, auch dank des Wortes, das es hervorbringen wird. Die Liebe gibt dem, was das Begehren gezeichnet, geöffnet, geklärt, verursacht hat, die Sprache. Es ist die Liebe, die dem Verlangen die Macht geben kann, etwas zu sagen, sich mitzuteilen, und dabei eine Quelle des Wortes bewahrt, die selbst nie direkt zur Sprache kommt. Die Liebe wacht über das kaum Geborene, das beschützt und beim Wachsen und Blühen unterstützt werden muss, bis es erscheint, sich zu manifestieren wagt und so zum Zeichen wird.271

In dieser Passage sagte nun Irigaray all das, was Binswanger ange­ deutet hatte (Liebe als atemlose Stille) und was wir geahnt hatten, dass es bei ihm unausgesprochen geblieben ist, insbesondere noch im Hinblick auf die Idee des Kindes oder ungeborenen Wesens. In Anknüpfung an Heidegger (das Kapitel »Aus einem Gespräch von der Sprache« in seinem Unterwegs zur Sprache) ist es Irigaray gelungen, den Raum der Sprache der Liebe zu entfalten (d.h. der Liebe in einer ihrer Gesten), den sie hier als jene intimste »Zeit des Austauschs«, als »körperlichen Dialog« (oder auch »Dialog des Fleisches«) umreißt, mit dem sie nun auch die Idee des Kindes als »dritten Wesens« verbindet, doch nun als »die unsagbarste Quelle der Versammlung, die über die Entfaltung des Wortes herrscht«.272 Deshalb bezieht sich hier Irigaray auf zahlreiche religiöse Traditionen, die diesen Ursprung zu diesem Zweck oft mit einem göttlichen Paar in aller Heiligkeit dieser Beziehung veranschaulichten. Dennoch bleibt sie hier stehen und thematisiert die Liebe zu Kindern nicht über die Sprache der Sehnsucht und des Begehrens hinaus. Doch bei der Idee des göttlichen Paares ist in Religionen auch die theologische Idee der Elternschaft präsent – durch die späteren patriarchalen Ablage­ rungen zwar öfter im Verhältnis des Vaters zum Sohn (Vater und Sohn in der Heiligen Dreieinigkeit), doch in der alten griechischen Theologie oder Mythologie auch noch der Mutter zur Tochter (etwa 271 272

Ebenda, 76. Ebenda, 77.

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Sein / Schwester

im Verhältnis der Demeter und Kora/Persephone, die freilich gerade Irigaray in zahlreichen Werken genau thematisiert), oder aber auf philosophische Weise, wie bei Luce Irigaray, wo in ihrer Philosophie des Geschlechterunterschieds das intergenerationelle Verhältnis der Mutter zur Tochter als ontologischer und ethischer Ausdruck der Grundlage unserer Existenz verstanden wird; als solches stellt es sich vor das Verhältnis des Vaters zum Sohn (wie etwa bei Levinas). Doch was haben mit diesem Denken die Ideen von der Immanenz des Todes im Leben und des Lebens im Tod gemein? Wie kann man diese Gedanken zusammen mit Schelling und Binswanger lesen? Welche Rolle hat dabei die Liebe, insbesondere noch, wenn man sie sowohl im Sinne der reinen (erotischen) Liebe als auch der (ontologisch höheren oder ursprünglicheren?) Liebe zum Kind denkt? Auf der Suche nach Antworten muss man in das Denken des Seins in seinen drei ursprünglichsten – theologischen, mythologischen und philoso­ phischen – Sinndimensionen eintreten und auf phänomenologisch radikalisierte Weise dieses wichtigste Feld der Liebe öffnen. In einer der feinfühligsten Behandlungen der trinitarischen Theologie überhaupt offenbart sich bei Jürgen Moltmann das für uns vielleicht wesentliche Paradigma der Liebe. In Moltmanns Trinität und Reich Gottes findet man eine außerordentliche Studie der Beziehun­ gen innerhalb der Dreieinigkeit. Wie wir gesehen haben, sollten wir die Liebe – sofern wir sie in ihrem transzendentalen Sinn betrachten – als eine Art des Teilens, des Gebens, des Verlangens nach dem anderen als dem anderen, als ein Geschenk des Zusammenlebens denken: Liebe ist die Selbstmitteilung des Guten. Sie ist die Kraft des Guten, aus sich herauszugehen, sich in anderes Sein hineinzuversetzen, an anderem Sein teilzunehmen und sich für anderes Sein hinzugeben. […] Liebe will leben und Leben geben. […] Der liebende ist ganz in dem anderen, den er liebt, aber er ist in dem anderen ganz er selbst. Die Selbstlosigkeit der Liebe liegt in der Selbstmitteilung des Liebenden, nicht in seiner Selbstzerstörung. […] Die Theologie der Liebe ist eine Theologie der Schechinah, eine Theologie des Heiligen Geistes und darin nicht patriarchalisch, sondern eher feministisch zu nennen. Denn die Schechinah und der Heilige Geist sind das ›weibliche Prinzip der Gottheit‹.273

Schon aus der trinitarischen Theologie des Thomas von Aquin geht hervor, dass die Liebe in der Dreieinigkeit als amor unitivus auffasst 273

Moltmann, Trinität und Reich Gottes, Passage auf S. 72 und S. 73.

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Über die Formen der reinen Liebe: Eltern und Kinder

wird, das heißt gegenseitige Verbindung und Bezogenheit der drei göttlichen Personen. Ihre Beziehung beruht auf gegenseitiger Selbst­ hingabe: Gabe ist nicht nur ein persönlicher Name, sondern auch ein Eigenname des Heiligen Geistes. Eine Gabe im eigentlichen Sinne ist etwas, das unentgeltlich gegeben wird, ohne dass eine Gegenleistung erwartet wird. Der Grund für diese dankbare Gabe ist Liebe, wobei wir dem Empfänger alles Gute wünschen. Alle wahren Gaben sind nur durch die Liebe möglich, die daher die erste oder ursprüngliche Gabe als Bedingung für alles echte Geben darstellt.274

Diese Logik des unentgeltlichen Gebens ist die grundlegende Logik der Liebe als ursprüngliches Geschenk. In der Fortsetzung dieses Kapitels werden wir uns beim Lesen Heideggers nach der grammati­ schen Struktur dieses absoluten Genitivs befragen müssen: Liebe als Gabe des Seins – die schon in ihrem grammatikalischen Namen auf die Logik einer bestimmten Vermehrung der Gedanken verweist. Obwohl die Rollen innerhalb der Trinität auf die drei Personen entsprechend ihrer ursprünglichen Funktionen verteilt sind (der Vater ist zunächst nicht der Sohn, und der Sohn ist nicht der Vater), werden sie in ihrer Durchdringung (Perichoresis) in ihrem synchronen Sinn als höchste Form eines besonderen Energieaustausches gedeutet. Moltmann ver­ steht diese Konstellation nun wie folgt: In dem dreieinigen Gott findet ein ewiger Lebensprozeß durch den Austausch der Energien statt. Der Vater existiert im Sohn, der Sohn in dem Vater und beide im Geist, so wie der Geist in beiden existiert. Sie leben so einanander und wohnen so einanander ein kraft der ewigen Liebe, daß sei eins sind. Es ist ein Prozeß vollkommener und intensivster Empathie. […] In der Perichoresis wird gerade das, was sie unterscheidet, zu dem, was sie ewig verbindet.275

In diesem Prozess ist die Liebe der ursprüngliche Name und die Bewegung des weiblichen Heiligen Geistes, dessen anderer Name ebenfalls Gabe ist. Jede selbstlose Liebe der Eltern (Mutter, Vater, Betreuer) zu ihrem Kind ist von diesem trinitarischen Paradigma der Liebe umhüllt und geht jeder ihrer anderen Formen voraus (aga­ 274 Vgl. Anselm Kyongsuk Min, »God as the mystery of sharing and shared love: Thomas Aquinas on the Trinity«, in: The Cambridge Companion to The Trinity, hrsg. von Peter C. Phan (Cambridge: Cambridge University Press, 2011), 99. 275 Moltmann, Trinität und Reich Gottes, 191.

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peische, erotische, platonische oder romantische, freundschaftliche; sogar artenübergreifende Liebe zu anderen Geschöpfen oder zur Natur). Wenn ein Vater oder eine Mutter ihren Sohn oder ihre Tochter auf diese trinitarische Weise lieben, dann sind sie in ihrer Liebe voll und ganz für ihr Kind da, auch durch die verschiedenen Formen der Fürsorge für es. Aber diese Beziehung ist nicht hierarchisch, denn ihre vollkommene und bedingungslose Liebe speist sich gerade aus dem, was sie selbst und jeder für sich nie besessen haben oder gewesen sind, und aus dem, was sie in gleicher Vollkommenheit von ihrem Kind empfangen; darin besteht die vertikale Transzendenz der Beziehung und des Austauschs der Liebe – ein Prozess des gegenseitigen Gebens und damit des Geschenks der gegenseitigen Liebe unter ihnen allen (als etwas Drittes).276 Diese (Ur-)Form der Liebe könnte man auch als genealogische Liebe bezeichnen. Die trinitarische Bewegung der Liebe reicht auch in die Ontologie des Todes und damit in die Immanenz des Lebens im Tod. Das ultimative Symbol dieser Immanenz ist die Aufer­ stehung Jesu. In der Analyse von Schellings Clara haben wir gesehen, sowohl bei Antigone als natürlich auch bei Jesus, dass die Liebe den Tod besiegt: Dort haben wir darauf hingewiesen, dass die Liebe im Vergleich zum Leben oder zum Tod von höherer, ja ursprünglicherer Ordnung ist (schon bei Schelling haben wir gesagt, dass das Band der Liebe gerade in der triadisch-prozessualen Offenbarung Gottes als Liebe liegt). In Clara erkannten wir also eine der genealogischen Schwestern der Antigone. Aber wo in dieser Genealogie hat die Liebe als Geschenk des Seins (oder Seyns) ihren Platz? Um die umfassende ontologische Struktur dieser Frage zu verstehen und vielleicht eine

276 In ihrer Una nuova cultura dell'energia. Al di là di Oriente e Occidente (Torino: Bollati Boringhieri, 2013, 89) unterstreicht Irigaray in diesem Zusammenhang die Bedeutung der (sanften) Berührung oder des Streichelns in dieser Beziehung: »Das Streicheln sollte zum Beispiel das sein, was jedem seine Integrität, seine eigene Jungfräulichkeit (Unberührtheit) zurückgibt und so die Begegnung eines "Ich" mit einem "Du" ermöglicht, ohne dass der eine oder der andere mit den mehr oder weniger neutralen Elementen eines kollektiven "Wir" ("Uns") verbunden wird. Anstatt sie durch ihre Unterwerfung zu verlieren, sollte die Zärtlichkeit jedem seine eigene Identität zurückgeben. Die Geste der Zärtlichkeit berührt außerdem die Haut, eines der Organe des Körpers, das am engsten mit dem Gehirn verbunden ist und das durch seine Erweckung eine privilegierte Verbindung zwischen Körper und Seele, Materie und Geist herstellen kann. Zärtlichkeit ist das Wort zwischen uns, oder sollte es sein, das mehr als jedes andere dazu beiträgt, unsere Energie zu vergeistigen und miteinander zu teilen.«

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Antwort darauf zu geben, müssen wir schließlich auf die Philosophie Heideggers zurückkommen.

Liebe als Schwester des Seins: über die Möglichkeit, über Heidegger hinauszudenken Die Liebe soll eine unmittelbare Liebe sein, ja sie ist nur als unmittel­ bare, Liebe. […] Christus liebte die Menschen […] Christus ist das Bewußtsein unserer Einheit. Ludwig Feuerbach277

Tine Hribar stellt in seinem Buch Eins ist das Grausen bezogen auf Antigone Folgendes fest: Antigone handelt, wie sie handelt, aus Liebe, nicht aus gewöhnli­ cher Liebe, wie sexueller oder familiärer Liebe, nicht einmal aus der Liebe, die sich in anderen Beziehungen zwischen lebenden Menschen entwickeln kann, sondern aus der Liebe, die die Lebenden und die Toten verbindet. […] Die Liebe, die eine Gemeinschaft der Lebenden und der Toten herstellt, ist zwar keine aktive Liebe, aber sie ist die reinste Liebe-für-nichts. Antigone ist weder an den conatus essendi, das Verlangen nach dem Sein als Wille zum Sein aus Spinozas Ethik, noch an die Anerkennung, das Streben nach Anerkennung aus Hegels Phänomenologie des Geistes, gebunden; deshalb setzt sie sich über die Androhung der Todesstrafe hinweg und ist gleichgültig, ob andere ihr zustimmen oder nicht.278

Um zur Rückkehr zu Heidegger gelangen zu können, werde ich in diesem Teil des Buchs die Werke behandeln, die auf ureigenste Weise die Frage des Seins ansprechen, und sie in der Folge mit einigen feministischen Lesarten dieses Philosophen konfrontieren. Das sind vor allem seine Werke Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Besin­ nung, Geschichte des Seyns sowie weitere Vorlesungen und Vorträge aus dieser Periode (Bauen Wohnen Denken). Noch davor müssen wir uns hier den Kontext von Binswangers Phänomenologie der Liebe wiederherstellen, der es uns überhaupt möglich gemacht hat, die Liebe auf die Art ihres Überflusses hin zu überdenken. Für Binswanger wäre Liebe nicht möglich, wenn »das Dasein nicht schon in seinem 277 278

Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 330 ff. Hribar, Ena je groza (Ljubljana: Študentska založba, 2010), 347 ff.

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Grunde liebende Begegnung wäre«.279 So stellt sich heraus, dass das Dasein im Modus der gewaltlosen Hingabe oder Begegnung mit jenem archaischen (vielleicht in seiner Natur kosmologisch-onto­ logisch-theologischem) Phänomen verbunden ist, das Binswanger als Ur-Begegnung bezeichnet, als geheimnisvoll stillen Ort des dem anderen zugeneigten Wohnens des Daseins. Wie lässt sich nun diese Konstellation der Liebe mit Heideggers Ontologie verbinden? Der beste Ausgangspunkt dafür scheint mir gerade die Geschichte des Seyns (1938/40) zu sein. Heidegger spricht in diesem Werk nicht von Liebe, aber dennoch möchte ich hier zeigen, dass gerade Liebe als Milde als latente Möglichkeit einer anderen Seinsgeschichte präsent ist. Oder mit Heideggers Worten: Die Geschichte des Seyns ist, sobald sie sich selbst in die Wesens­ gründung bringt, die Drehungsstätte, auf deren Feld der Vorrang des Seienden und die Macht der Richtigkeit zerbrechen zugunsten der Milde des Seyns aus der Wesung der Lichtung des Austrags. (…) Das Denken ist »des« Seyns, und ersagt so gestimmt die Wahrheit des Seyns als Austrag in das Einfache des erschweigenden Wortes.280

Die Gunst der Milde des Seyns ist ein Ausdruck des gewaltlosen Ver­ weilens in der Stille und im Beginn des Seyns, das auch der Ort des göttlichen Verweilens (vgl. §§ 89 und 90 der Geschichte des Seyns) oder der Weg des Verweilens von Gott/Göttern ist, der/die ebenfalls des Seyns bedarf/bedürfen (vgl. §§ 89 und 90 der Geschichte des Seyns). Das Seyn ist also »das ab-gründige Inzwischen«,281 das in sei­ ner Art des Ereignisses der Aneignung und Milde alles, was wir besit­ zen und in dem wir wohnen, auf das Eigenste, Intimste und Leiseste zurückführt. In Bauen Wohnen Denken wurde diese Art des Seins als »Schonen« bezeichnet. Heidegger sagt: »Schonen heißt: das Geviert in seinem Wesen hüten.«282 Heidegger sieht also den wichtigsten Zug des Seyns zweifellos in seinem vollständigen und endgültigen Ver­ zicht auf die Machination als Verweilmöglichkeit der Subjektivität – auf ihren Willen zur Macht als Gewalt, Zwang usw. Wenn Heidegger das Seyn tatsächlich aus dem vollständigen und endgültigen Verzicht Binswanger, Grundformen, 72. Martin Heidegger, Die Geschichte des Seyns (Frankfurt am Main: Klostermann, 1998), 117. 281 Ebenda, 108. 282 Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze (Frankfurt am Main: Klosterman, 2000), 153. 279

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auf die Logik der Machenschaft und jeder Art von Gewalt heraus denkt, haben wir eine einzigartige ontologische Konstellation vor uns, die der Reflexion bedarf, insbesondere wenn wir folgenden Satz vor Augen haben: Erst wenn die Macht ins Nichts stößt, wenn sie nicht einmal mehr eine Gegnerschaft sich »machen« kann, bricht sie in sich und ihrem Wesen zusammen.283

Nach Heidegger braucht die Macht immer die Macht als ihr eigenes Mittel (vgl. § 58). Die Liebe hingegen braucht keine Macht: Wir haben bei Binswanger gesehen, dass die Liebe auf der Gebärde der Überlas­ sung (vgl. Heideggers »Schonen«) beruht, die sich zwischen zwei Subjekten ereignet und damit die Aufnahme des Seins des anderen in den Raum neben mir bedeutet. Wovon speist sich diese Begegnung also, wenn nicht von Macht? Aber an dieser Stelle denkt Binswanger, wie wir gesehen haben, nicht weiter über den Ursprung dieser Begeg­ nung nach. Er setzt sie an einen Ort der Wohnung, der sich durch tiefe Stille (atemlose Stille), Sprachlosigkeit auszeichnet. Und doch: Wie kann diese Geste im Wesen selbst, in seiner Stille, zustande kommen? In Besinnung fasste er das in Worte in Form der Frage, »ob das Seyn selbst (das Seyn des möglichen Seienden im Ganzen) zuvor in seine gegründete Wahrheit komme oder von der bloßen Wirklichkeit und Wirksamkeit des Seienden überschattet und übernachtet werde.«284 Doch kann das Seyn im Sinne dieses Verweilens in der Milde Liebe sein, ohne dass wir uns fragen, was in diesem Seyn die Urerinnerung oder die Immanenz des ›Wir‹ (Wirheit; vielleicht in Form der sexuellen Differenz) darstellt, die Urbegegnung außerhalb von Leben und Tod, in einem vielleicht noch zu denkenden Ort des Verweilens, wenn wir den Übergang in eine Sphäre riskieren, die wir noch erreichen müssen und (noch) nicht beschreiben können – auch ein »Rest von Erfahrung, der sich gegen eine ontologische Analyse sträubt?«285 Oder verweist das Seyn umgekehrt auf ein bestimmtes Wesen von cháris (im Sinne von Dankbarkeit und Gegenseitigkeit; Liebe) an sich, wie W. F. Otto Heidegger, Die Geschichte des Seyns, 70. Martin Heidegger, Besinnung (Frankfurt am Main: Klostermann, 1997), 46. 285 Siehe T. Chanter, »The Problematic Normative Assumptions of Heidegger's Ontology«, in: Feminist Interpretations of Martin Heidegger, hrsg. von Nancy J. Holland und Patricia Huntington (University Park, PA: The Pennsylvania State University Press, 2001), 98. Tina Chanter bezieht sich bei dieser Frage auf Platons chóra, wie diese in der Philosophie von Julia Kristeva vorkommt.

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zur Frage nach dem göttlichen Wesen der griechischen Aphrodite schreibt? Für ihn ist Aphrodite – in der Passage, die auch der Mission von Heideggers Geschichte des Seyns als Milde folgt – diejenige, die »die Menschenherzen füreinander schlagen läßt und in großen Welt­ perioden die vollkommene Harmonie und Einheit herstellt.«286 In ihrer göttlichen Typologie unterscheidet sich Aphrodite grundlegend von Eros, ihrem Sohn: Eros ist mit der Energie zur Fortpflanzung ver­ bunden (und unterliegt damit der primären Machart als Vermehrung dieser im Kern erotischen Kraft). »Aber Aphrodites Welt ist von ande­ rer Art und viel weiter und reicher« und geht nicht »vom Subjekt des Verlangenden aus, sondern von Geliebten«.287 Und dies ist die Sphäre der genealogischen Liebe. Wir wissen, dass für Derrida Heideggers archätypische Gleichgültigkeit sowohl gegenüber der sexuellen Dif­ ferenz als auch gegenüber dem ontologischen Dual im Dasein aus Sein und Zeit ein Hinweis auf seine äußerste Vorsicht ist, um nicht in eine Sexualisierung des Daseins abzugleiten. Schon Binswanger sah darin eine Herausforderung für sein eigenes Denken. Aber im Horizont der triadisch-prozessualen Entfaltung Gottes als Liebe,288 sowohl bei Schelling und Moltmann als auch letztlich im Rahmen der griechi­ schen Kultur, wie wir jetzt gesehen haben, beinhaltet dieser Prozess eine gewisse archaische (präontologische?) Geste des Weiblichen, die wir im Folgenden näher untersuchen und mit chóra in Verbindung bringen wollen, wie sie sich uns durch unsere Reflexionen von Gott, der Inkarnation des Weiblichen und Maria offenbart. Die ökofeministische Theologin Trish Glazenbrook meint, dass »eine alternative Konzeption der Natur und der Ökofeminismus in Heidegger eine gynozentrische Erkenntnistheorie erkennen kön­ nen«,289 eine Epistemologie also, die die phallogozentrische Logik innerhalb des Denkens selbst ersetzen und das Sein ihrem Namen denken kann – das heißt im Namen der Liebe. Moderne feministi­ sche Philosophinnen und Interpretinnen von Heidegger entdeckten gerade in der Logik des Gevierts und der gegenseitigen Zuneigung und Schonung zwischen Sterblichen und Göttern eine höhere oder Otto, Die Götter Griechenlands, 133. Ebenda, 131. 288 Jacques Derrida, »Geschlecht«, in: Feminist Interpretations of Martin Heidegger, 60. 289 Trish Glazenbrook, »Heidegger and Ecofeminism«, in: Feminist Interpretations of Martin Heidegger, 221. 286 287

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ursprünglichere Bewegung der Liebe, die Reziprozität der Liebe sowohl innerhalb des Gevierts (Mensch und Gottheit) als auch an seinem Rand, dem Raum, wo die Immanenz des Lebens im Tod und des Todes im Leben zusammenkommen. Carol Bigwood eröffnet in ihrer Vorstellung der Möglichkeiten des späten Heidegger und ihr (oder des Weiblichen), wie sie in der Einleitung sagt,290 die Frage nach dem Ursprung von Milde und Liebe im Dialog mit der göttlichen Gestalt der Aphrodite bzw. ihrer irdischen Stellvertreterin oder Herol­ din Sappho oder der so genannten Zehnten Muse, eine Frage, die für uns von entscheidender Bedeutung sein kann. Bigwood betont nachdrücklich, dass ihre Worte – an der Grenze zwischen Mythos und Logos – im Grunde immer Worte der Milde, der Gegenseitigkeit, der Liebe sind. Sie sagt es wie folgt: Ihre Beschreibung der Liebe ist jedoch nicht nur die Liebe zwischen Sterblichen, sondern drückt auch eine wechselseitige göttliche Liebe zwischen Sterblichen und Unsterblichen aus, da die Liebe bei Sappho immer mit Aphrodite in Verbindung gebracht wird. Ihre Poesie bie­ tet ein vormetaphysisches Verständnis der ontologischen Differenz. Irgendwie ist für Sappho Liebe Alles, wobei Liebe nicht einfach inter­ subjektive menschliche Liebe ist, sondern bereits in gewisser Weise Alles oder das »Sein« einschließt (ein Konzept, das zu ihrer Zeit noch nicht existierte).291

Ist also der Liebe die Aphrodite (als Frau) näher, oder Nietzsches Dionysos (als Mann)?, fragt sich im weiteren Bigwood. Aphrodite, die zart ist und Kinder liebt, die schützt und bewahrt … kann denn darin der Weg zur weiten Ebene des Seins der Liebe (oder des Seyns) angedeutet sein? Heidegger selbst ist den feministischen Epistemolo­ gien vielleicht am nächsten in seiner Lesart der Antigone. Antigone, wie es scheint, gehört nicht zur genealogischen Ordnung der Liebe, die die poetische Welt der Sappho füllt; auf den ersten Blick scheint es, dass sie ihr in ihrer »Entschlossenheit« und zugeschriebenen »Männlichkeit« sogar radikal zuwiderläuft. Doch ist dies nur »auf den ersten Blick«. Antigones Wohnstätte befindet sich trotzdem in der Nähe der alten vorolympischen und chthonischen Göttinnen, die den 290 Carol Bigwood, »Sappho«, in: Feminist Interpretations of Martin Heidegger, 165: »Heidegger und sie? Auf den ersten Blick scheinen sie ungepaart und unbeholfen wie zwei linke Schuhe zu sein. […] Die Frauen in Heideggers Werk sind enttäuschend trivial und stereotyp, sie werden als inkonsequente Beispiele angeboten, die man genauso gut weglassen könnte.« 291 Ebenda, 176.

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Bereich der Geburt, des Lebens und des Todes und insbesondere noch die matrixialen Ordnungen des Daseins behüten – besonders, wie es in der Sorge für Mädchen und Schwestern, Frauen und Mütter (Metis, Erdgöttin, Erinnyen, Demeter, Kora/Persephone; auch Aphrodite als Schwester der Erinnyen) zum Ausdruck kommt: So erkennen wir in den mütterlichen Erdgottheiten die Hüterinnen und Repräsentanten ehrwürdiger Ordnungen, durch die Eltern, Kinder und Geschwister miteinander verbunden sind. Auch die verschiedenen Geburtsrechte der Kinder sind in ihnen geheiligt.292

Dies ist aber Antigones Welt. Antigone ist laut Heidegger das Unheimlichste von allem Unheimlichen.293 Ihr Wesen verbirgt sich nicht in der Abgelegenheit, sondern im Gegenteil im Nächsten von allem Nächsten, das heißt in der schwesterlichen Liebe, die Tine Hribar, indem den berühmten Vers Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da von Antigone294 interpretiert, in folgenden Rahmen stellt: Welches Verhältnis besteht zwischen Antigones Liebe und dem unge­ schriebenen Gesetz über die Heiligkeit der Verstorbenen? Antigone ist autonom in ihrer Entscheidung. Sie ist sich selbst Gesetz, wenn sie aus Liebe (zum toten Bruder) beschließt, eine heilige Handlung zu vollziehen. Die Schwesternliebe ist nicht, wie Hegel dachte, der Ausgangspunkt, sondern der Höhepunkt einer Liebe, die kein Adjektiv braucht und ohne Grund ist. In den zitierten Gedanken der Antigone über die Liebe verwendet Sophokles das Wort sym-philio, was soviel bedeutet wie ›ich liebe mit einem anderen‹, ich liebe mit. So wie sym-patheo bedeutet, dass ich an den Gefühlen eines anderen teilhabe, dass ich mit ihm fühle. Aber die Sympathie entspringt der Symphilie. Aus der Liebe zu nichts, aber doch aus einer Liebe zu allem. Diese Liebe ist der Ausgangspunkt von Antigone. Zu lieben, das ist alles. Sich in der Liebe zu vereinen ist das, was die Menschen dazu bringt, in dieser Welt sein zu wollen. Ohne sie gäbe es keine 292 Otto, Die Götter Griechenlands, 30. Und ein paar Seiten zuvor: »Es ist ein mütterliches Reich von Gestalten, Spannungen und Ordnungen, deren Heiligkeit das ganze menschliche Dasein durchdringt. Im Mittelpunkt steht die Erde selbst, als Urgöttin, unter vielen Namen. Aus ihrem Schoße quillt alles Leben und alle Fülle; in ihn sinken sie wieder züruck. Geburt und Tod, beide gehören ihr und schließen in ihr den heiligen Ring.« (27). 293 Martin Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister« (Frankfurt am Main: Kloster­ mann, 1993), 129. 294 Sophokles, Antigone, 54 (hier als »Nein! Haß nicht, Liebe ist der Frau Natur« über­ setzt).

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Beziehungen, keine Mitmenschen, keine Nachbarn. Wenn wir unsere Nächsten nicht lieben würden, könnte uns der Schmerz der Erinnerung an ihr Ableben nicht berühren.295

Antigones schwesterliche Liebe ist die Liebe, die im Herzen des Seyns wohnt. Doch es scheint, dass einzig Luce Irigaray beim Lesen der Antigone die diskrete, doch wesentliche Anwesenheit der Aphrodite bemerkte. Im dritten Chorlied, das von Eros und seiner Macht spricht, erscheint am Ende diese Göttin der Liebe, die in die Nähe der heiligen oder ungeschriebenen Gesetze gestellt wird. So spricht Irigaray in einem etwas längeren Passus, der an die Szene anknüpft, in der sich Kreon entschließt, Antigone in eine Grube, in ihr Grab einzumauern: In dem Moment, in dem die griechische Kultur den Grundstein für die abendländische sozio-politische Ordnung legt, errichtet König Kreon in Sophokles' Tragödie Antigone eine tyrannische Macht auf Kosten des Familien- und Erbrechts, indem er Antigone verbietet, die Begräbnisriten für ihren Bruder Polyneikes zu vollziehen, der in einem Bruderkrieg bei dem Versuch, die Kontrolle über die Stadt zu übernehmen, ums Leben kam. Diese Riten sind notwendig, um die kosmologische Ordnung gemäß dem matriarchalischen Gesetz, das Kreon abschaffen will, zu erhalten. Ein Toter, der nicht begraben wird, ist nicht nur dazu verdammt, ewig umherzuwandern und nie seinen Frieden zu finden, sondern er besudelt und stört auch das gesamte Gleichgewicht des Universums: die Luft, die Sonne und die Welt der Lebewesen, insbesondere die Tierwelt. Kreon will solche Gesetze nicht mehr respektieren, weder die, die das gesamte Universum betreffen, noch die, die unter den Menschen selbst bestehen. Er setzt eine Autori­ tät ein, die sich über das kosmische Gleichgewicht hinwegsetzt und das Recht auf eine Liebe in Frage stellt, die die natürliche Zugehörigkeit der Menschen respektiert, sei es Antigones Respekt vor ihrer mütterlichen Genealogie oder ihre Liebe zu ihrem Verlobten Haemon, dem Sohn von König Kreon selbst. Trotz des Eingreifens von Aphrodite, der Göttin der Liebe – einer weiteren weiblichen Figur jener Zeit, in der die natürliche Ordnung die Beziehungen zwischen der Welt und den Menschen und zwischen den Menschen untereinander regelte –, verurteilt Kreon Antigone dazu, lebendig in einer Felshöhle begraben zu werden, ohne Luft, ohne Sonnenlicht und ohne die Möglichkeit, Liebe und Mutterschaft zu erfahren.296

295 296

Hribar, Tragična etika svetosti, 124 ff. Irigaray, Una nuova cultura dell' energia, 103.

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Das dritte Chorlied über Eros ist interpretativ zwar nicht leicht. Das Lied folgt dem kritischsten Moment im gesamten Drama, als nämlich Kreon ankündet, Antigone in ihr zu frühes Grab einzumauern. In seinem detaillierten Lesen des Dramas von Sophokles fragt Seth Bernardete nach der Natur dieser griechischen Gottheit sowie dem Verhältnis der Antigone zu ihm. Für Bernardete verbindet der Chor in diesem Lied die Antigone – und das ist nun wesentlich – nicht mit Eros.297 Eros wird in diesem Chorlied zwar als der mächtigste Gott bezeichnet, dem kein Himmelsbewohner und kein Sterblicher ent­ kommt; er ist der Gott, der die Menschen in Täuschung und Wahnsinn treibt; der Gott, der die Menschen dazu verleitet, Ungerechtigkeiten zu begehen und Streitigkeiten zu verursachen. Eros ist in dem Sinne auch der Grund des Streits zwischen den Brüdern, der Sophokles' Antigone zugrundeliegt. Diese Konstellation wird in einer wichtigen Passage von Bernardete wie folgt beschrieben: Aber der Chor versteht Eros in erster Linie als sexuell, und Antigones Verweigerung der Sexualität (sexual generation), die die olympischen Götter mit den Menschen teilen, stellt sie über Eros. Antigone scheint die Grenze zu überschreiten, die die Götter begrenzt.298

Und das ist jetzt wesentlich! Eros ist in der Beziehung zu Göttern und Sterblichen vielleicht der mächtigste der Götter. Ich erwähnte bereits, dass sich die Liebe, die wir mit Antigone verbinden können, am Rande des Gevierts befindet, in einem Bereich, wo sich die Liebe der Sterblichen und der Himmelsbewohner mit dem Bereich doppelter Immanenz des Lebens im Tod und des Todes im Leben trifft – jenseits einfacher Dichotomien des Seienden und des Nichtseienden, des Seins und Nichtseins; im Bereich, wo nun die mächtige Kraft des Eros, wenn ich hier Heideggers Worte entlehne, »ins Nichts stößt«; hier »bricht sie in sich und ihrem Wesen zusammen.«299 Es ist schwer zu sagen, wo genau in diesem Rahmen der Platz der Aphrodite ist, wie sie in das erwähnte Chorlied herbeigerufen wird. Zweifellos jedoch befindet sich Aphrodite auf erlesene Weise (und die Göttin wird im Abschluss dieses Liedes über Eros herbeigerufen) in unmittelbarer Nähe der ungeschriebenen Gesetze des Seyns – denn, wie das Lied in seinem Abschluss sagt – Seth Bernardete, Sacred Transgresssions: A Reading of Sophocles' Antigone (South Bend, IN: St. Augustine Press, 1999), 96 ff. 298 Ebenda, 98. 299 Heidegger, Die Geschichte des Seyns, 70.

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Hoch sitzt sie in der Macht allem Gesetz Bei, dem großen, und unbezwinglich Lockt uns die Liebesgöttin [Aphrodite]300

Ich werde zu dieser Göttin der Liebe, oder Schwester des Seyns im Abschluss dieses Kapitels noch zurückkehren. Das ist nun ein Bereich, in dem sich nur wenige bewegen können (vielleicht von allen nur Antigone, Savitri, Clara, sowie unter den Männern einzig Jesus). Wenn Eros jener Gott ist, der das Leben sicherstellt und mehrt, so liegt doch auch dieser Energie etwas Urtümlicheres zugrunde – nun sogar urtümlicher als das Leben selbst. Antigone geht nicht in den Tod, um in einem irren oder pathologischen Wunsch mit Schatten und Nacht bedeckt zu sein, und sucht auch nicht dieses Wohnen aus einer Art Todestrieb heraus. Antigones Geste ist das, was uns allen, Sterblichen und Göttern im Geviert, die feminine Matrix der Liebe als Schwester des Seyns erst offenbart und bringt. Antigone, die weder unter den Lebenden noch unter den Toten ein Zuhause hat (siehe v. 852), ermöglicht uns mit ihrem Überqueren des Randes des Gevierts erst, uns als Wohnende in der Zugehörigkeit dieser schwesterlichen Ontologie der Liebe, der ursprünglichen Matrice allen Wohnens zu erblicken. Antigones schwer nachvollziehbare Gedanken, dass sie die gleiche ethische Geste weder für Kinder noch für ihren Mann wagen würde (vv. 906–909) – wenn sie sie hätte –, ist daher nur auf dem Horizont der Logik dieser absoluten Matrix zu verstehen, das heißt einer ursprünglicheren Ontologie oder Proto-Genealogie, zu der alle nach­ folgenden genealogischen Ordnungen gehören, und dieser Gedanke ist der kosmischen Ordnung nach mit dem alttestamentarischen Dilemma von Abraham verwandt, ihm jedoch übergeordnet. Irigaray stellt hier richtigerweise fest, dass Antigone nur mit dieser Wendung göttlich werden könne, nämlich indem sie das Leben als solches schützt: primär kann man in diesem Rahmen eine Interruption und Anwesenheit der Immanenz des Todes im Leben sehen, sowohl bei den Un-Geborenen als auch bei den Nicht-Begrabenen – beide im Sinne einer gewaltsamen und in ihrem Wesen antimatrixialen Unterbrechung der Familiengenealogien. Für Antigone hat somit das Leben den höchsten Wert. Und, was gleich wichtig ist: Wenn sie 300

Sophokles, Antigone, 60.

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ihren toten Bruder bewahren will, tut sie dies weder aus sexuellen Beweggründen (Inzest) noch wegen »eines besonderen Interesses am Tod, wie oft gesagt wurde; sie will das Leben bewahren.«301 Darin besteht ihr Überfluss der Liebe und gleichzeitig ihre nächste Nähe zu Christus. Antigone ist Christi genealogische Schwester. Dazu ist nun vor uns noch eine wichtige Dimension, der ich letztlich besondere Aufmerksamkeit widmen möchte – Antigones Verhältnis zu den beschriebenen mütterlichen Genealogien. Iriga­ ray schreibt: Die mütterliche Genealogie bevorzugt die Werte des Lebens, der Gene­ ration und des Wachstums. Sie beruht auf ungeschriebenen Gesetzen, die die zivile Ordnung nicht klar von der religiösen Ordnung unter­ scheiden. Sie misst der Familie als solcher keine absolute Bedeutung bei, wie es das Patriarchat tut. Sie bevorzugt die Töchter und später den jüngsten Sohn als Erben.302

Die vorolympischen Genealogien achteten diese kosmische Ordnung. Wie Gail Schwab in ihrer Interpretation der griechischen Genealo­ gien bei Irigaray feststellt, enthält oder bewährt eben die vertikale und asexuelle Liebesbeziehung zwischen Mutter und Tochter – wie dies im Falle des Mythos über Demeter und Kora/Persephone zum Ausdruck kommt – jene primäre kosmologisch-ontologische Matrix der Beziehung, die vor allen anderen Beziehungen steht, sowohl zwischen Sterblichen als auch zwischen Göttern selbst: »Wenn die Verbindung zwischen Mutter und Tochter – die generationenüber­ greifende Verbindung zwischen Frauen – verloren geht, kann das Leben nicht gedeihen.«303 So wie Antigone wurde noch davor die Göttin Persephone in den Bereich des Todes gesandt oder gewaltsam vertrieben, was ihr matrixiales Band mit der Ordnungen des Seien­ den für immer kappen und ihren Körper der Ordnung der Gewalt und somit dem Tod übergeben soll. Deshalb konnte am Rande der

S. Irigaray, In the Beginning, She Was, 126 (das Kapitel über Antigone). Ebenda, 127. 303 Gail Schwab, »Mothers, Sisters and Daughters«, in: Tzelepis und Athnasiou, Rewriting difference: Luce Irigaray and the Greeks, 85. Wir können nun Marias Beziehung zu Jesus in einem ähnlichen Licht betrachten. Siehe dazu mein Kapitel über Maria als chóra. In dieser Interruption der primären Lebensordnung wurzelt nicht nur die göttliche Macht des Zeus und später die menschliche des Kreon, sondern alle patriarchalische (männliche oder weibliche) Macht, die sich auf ihre gewaltsame Art durchsetzen will. 301

302

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noch ursprünglicheren griechischen Genealogie (das heißt der ersten Generation der Götter/Göttinnen) Vrasidas Keralis kühn festhalten, dass eben ganz am Anfang der griechischen Genealogien – das heißt in Metis als erster Göttin dieser Proto-Genealogie – eine versteckte Kontinuität zwischen dem Ursprung von allem und dem Keim des ersten Seienden inbegriffen ist. Hier ist der mythologische Ort der ursprünglichen weiten Ebene der Liebe, die sich uns nun in diesem Rahmen durch die Genealogie offenbart wird, mit der wunderbaren Formulierung ausgedrückt: »Mutter / Tochter / Heiliger Hauch – die ursprüngliche trinitarische Doxologie«.304 Wo befindet sich diese Matrix der Liebe?

Jenseits des Randes: Sein als Ebene der Liebe Abschließend möchte ich versuchen, die Frage zu beantworten, in was für Dasein wir eingeladen sind, wenn wir die Liebe als Gabe des Seins (in doppelter Bedeutung, die bereits angedeutet wurde) in der eben beschriebenen ursprünglichen oder proto-matrixialen Genealogie verstehen. Schon Binswanger betonte, dass der Überfluss der Liebe im Frieden der Ur-Begegnung inbegriffen ist, im Schwei­ gen oder der Stille der Stimmlosigkeit (atemlose Stille), im Raum des Wohnens, den wir als Wohnende in dieser Stille des Seyns (Ereignis) uns selbst schenken.305 Doch woraus ereignet sich diese Schenkung? In diesem Schlussteil möchte ich noch zum letzten Mal auf Heidegger zurückkommen sowie mit erneuter Anknüpfung an die kosmologische/ontologische/ethische Genealogie der Liebe diese Frage zu beantworten versuchen. Hawke, Aquamorphia: falling for water, ix und x (Einleitung von V. Keralis). Siehe hierzu die zahlreichen mythologischen Beispiele für triadische Göttinnen aus dem reichen indoeuropäischen Erbe – vgl. insbesondere die sog. »Matronae« (im Sinne »von Müttern« oder »zu Müttern gehörend«) bei den Kelten, vor allem in den Darstellungen von Triaden von Göttinnen, die mit Fruchtbarkeit assoziiert werden (auch in Form von stillenden Müttern), vor allem ab dem 1. Jahrhundert; siehe dazu ein ausführliches Kapitel über Göttinnen in alten indoeuropäischen (vor allem germanischen) Kulturen – »Goddesses in Celtic Religion: The Matres and Matronae« von Noémie Beck, vollständig abrufbar unter: http://brewminate.com/goddesses-in -celtic-religion-the-matres-and-matronae/. 305 Vgl. Heidegger, Die Geschichte des Seyns, 214: »Wahrheit aber west in der Stille des Seyns. Diese Stille ist die Nähe des letzten Gottes.« 304

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Wir sahen bereits bei der vorangegangenen Behandlung Mariä, dass das Universum im Raum der Matrice der Innerlichkeit (oder ursprünglichen Gebärmutter) pulsiert, auf die Art archaischen Pulsie­ rens der Liebe im Kern des primären ontologischen Modells (in der Theologie kam das Modell für diese Bewegung durch das trinitarische Mitsein in der Perichorese zum Ausdruck). Was kann der ontologische Sinn dieser Matrix der Innerlichkeit sein? Schon aus Platons Timaios wissen wir, dass die sog. »dritte Gattung« (triton genos) bzw. dritte Form als »das ewige Reich des Raumes« verstanden306 und geheim­ nisvoll als chóra benannt wird, die Empfängnisstätte alles Werdens (vielleicht Wohnens?), wird sozusagen als seine Amme beschrieben. Sie ist eine ontologische Kategorie par excellence – und, was vielleicht noch wichtiger ist – chóra wohnt (schon bei Platon) immer im weib­ lichen Element.307 Doch es besteht eine Ähnlichkeit zwischen diesem Konzept und der daoistischen Philosophie, wie sie vom chinesischen Denker Kuang-ming Wu interpretiert wird. In seinem Werk über die kosmisch-materielle Ethik und Religion werden, wie wir in unseren früheren Abhandlungen gesehen haben, zwei Begriffe verwendet, nämlich »Gebären« und »Gebärende Mütterlichkeit«. Das Gebären (wombing forth) basiert auf dem Konzept der »Gebärmutter-Kraft« als einer weiblichen ontologischen Präsenz, die überall zu finden ist, »im Wasser, in den Wurzeln, in den Tälern«, sogar als eine Präsenz in uns selbst, die uns als Menschen befähigt, demütig, mitfühlend und hingebungsvoll zu anderen zu sein. Die Kraft des Schoßes kommt nach Wu zum Ausdruck als »der leere Raum zwischen Himmel und Erde […], ein mütterlicher Blasebalg, leer, unerschöpflich, der ständig [Dinge] hervorbringt.« Wu fährt mit den folgenden Worten

Platon, Timaios, 73 (49a; siehe auch 52a). Nach Platons Timaios: »Unser abermaliger Anfang über das Weltall muß sich nun auf eine umfassendere Unterscheidung gründen als der vorige. Damals nämlich unterschieden wir zwischen zwei Gattungen, jetzt aber müssen wir noch eine weitere dritte Gattung zur Erörterung bringen. Denn für das früher Vorgetragene reichten jene beiden aus, die eine als urbildliche Gattung hingestellt, nur dem Denken erfaßbar und wandellos, die andere als ein Abbild des Urbildes, der Entstehung unterworfen und sichtbar. Eine dritte aber unterschieden wie damals noch nicht, überzeugt, wir würden mit jenen beiden auskommen. Jetzt aber scheint der Gang der Untersuchung die Annahme einer schwer zu fassenden und dunkeln Gattung nötig zu machen, die es gilt durch die Darstellung ins Licht zu setzen. Welche Bedeutung also ist ihr ihrem Wesen nach beizulegen? Etwa der folgende: sie ist als Empfängerin und gleichsam Amme alles Werdens anzusehen.« (Sämtliche Dialoge, 73). 306

307

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fort – und ich möchte diese feinfühlige Passage hier noch einmal vollständig wiedergeben: [e]ine menschliche Beziehung, die ihren Namen verdient, ist eine Ver­ gebärmutterung und Gebärung – dein leeres Sein zieht mich hervor, lässt mich werden, wie ich bin. […] Die tiefere persönliche Berührung füllt die Leere in mir und in dir und macht uns eins. Und doch bleiben wir zwei, denn die Zweiheit ermöglicht die Berührung. Wir sind also zwei in einem und eins in zweien, dank unserer persönlichen Leere und der inneren Berührung. All dies beschreibt die gegenseitige Erfüllung. Persönliche Leere erzeugt Liebe – innere Berührung – die uns mütterlich erzieht und zu uns selbst hineinwachsen lässt.308

So finden wir die dritte Art/das dritte Element im daoistischen Kontext dargestellt. Mehr noch, dieses Element ist mit der ursprüng­ lichen ontologischen Leere in mir verbunden, mit meiner völligen Verausgabung zum Wohle anderer (Personen und Sachen) in ihrer gegenseitigen, doch wieder völligen Verausgabung zu meinen Guns­ ten. Das ist eine Ebene horizontaler Transzendenz, ein Balg der Nähe und des Unterschieds (différance) des Wohnens. Die Gebärmutterkraft in ihrer essentiellen Potenz – der gebärenden Mütterlichkeit – ist somit ein ontologischer Raum unseres gegenseitigen Werdens, der Möglichkeit einer »inneren Berührung«309 zwischen zwei Realitäten, zunächst zwischen der Mutter und dem Kind (Fötus) und schließlich zwischen Gott/Göttin und dem Menschen. Im Rahmen des Chris­ tentums würde man sagen, dass wir Christus als innere Berührung, eine subtile, doch starke spirituelle (Atem der Liebe) und mütterliche Anwesenheit der Liebe und Demut sowie Akzeptanz in uns finden. Das ist nun aber der Bereich des Seyns. Wir wissen, dass Heidegger seit seinen Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) eine Verschiebung in eine andere Seinsweise (Gelassenheit) andeutet und sucht, die – wie Caputo in seiner aufschlussreichen und gleichzeitig feministischen Lesart Heideggers feststellt – dem Philosophen »ein einladenderes und empfänglicheres, mehr betendes und weniger kriegerisches Ver­ hältnis zur Welt« eröffnen kann.310 Heidegger vermag nun dem Sein für die Zuneigung zu danken, ja sogar zu hoffen, dass ein zukünftiger 308 Wu, Chinese Body Thinking, alle Passagen auf S. 140−142. Die Hervorhebung im Text ist von mir. 309 Ebenda, 141. 310 Caputo, »The Absence of Monica: Heidegger, Derrida, and Augustine's Con­ fessions«, 160. Für Heideggers bahnbrechendes Werk von 1936–38 siehe Martin

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Gott uns retten wird, doch er vermag immer noch, wie Caputo richtig feststellt, keine Träne zu vergießen angesichts des unermesslichen Leids der Menschen in der Welt und bleibt somit kühl und distanziert sowie, wie es scheint, ohne ein Quäntchen Mitgefühl in seinem Herzen, oder noch direkter gesagt: Als ein prominenter Heideggerianer ein Buch mit dem Titel Stein schrieb, sagte er damit alles. Das Dasein hat Steine, kein Herz. […] Alles im späteren Denken der Verweltlichung der Welt hat mit dem Glanz des Seins zu tun, dem Glanz des Seins, der leuchtenden Schönheit des Seins. Alles nimmt Maß an der Vervierfachung des Gevierts, die keinen Raum lässt für das unermessliche Elend der breiten Massen, das Leiden der Unterdrückten, die unzähligen, unsäglichen Tränen derer, die weder denken noch dichten.311

Steht Heideggers Sein in diesem phänästhetischen Ereignis dann ganz im Gegensatz zu den Tränen, dem Mitleid mit dem Leid und schließlich dem Überschwang der Liebe? Sein Seyn allerdings kann vom Horizont einer matrixialen Wesensgleichheit, einer ontologi­ schen (Mit-)Schwesternschaft her auf neue und tiefe Weise Bedeu­ tung erlangen.

(Orin) Es gibt vielleicht kein ergreifenderes filmisches Bild des Todes der Mutter, und gleichzeitig auch keine ästhetisch vollendetere Darstel­ lung des Prozesses des Lebens-im-Tod als die des japanischen Films Die Ballade von Narayama (Narayamabushi-ko) aus dem Jahr 1958 in der Originalfassung des Regisseurs Keisuke Kinoshita. In dem Film, der auf dem gleichnamigen Roman von Shichiro Fukuzawa basiert, übernahm Kinoshita Elemente des klassischen japanischen Kabuki- und Bunraku-Theaters. Durch ihren eigenwilligen Gebrauch näherte er sich dem geheimnisvollen Mittelpunkt des Gevierts aus Heideggers Konstellation des Seyns sowie der rätselhaften äußeren Grenze von Binswangers Denken – dass der Überschwang der Liebe in der heiligen Ruhe der Urbegegnung enthalten ist, in der Stille Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Von Ereignis) (Frankfurt am Main: Kloster­ mann, 1994). 311 Vgl. ebenda, 161. Es handelt sich um das Werk von John Sallis, Stone (Blooming­ ton: Indiana University Press, 1994).

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(Orin)

der Stimmenlosigkeit, in einem Raum des Wohnens, den wir als Bewohner dieser Stille des Seyns (Aneignungsereignis) uns selbst – und auch einander – schenken. Die unmögliche und radikale Grenze dieses Begegnungsfriedens ist – und genau darin besteht die Tragik der Geschichte von Narayama und die Tragik des Lebens selbst – unerreichbar im Sinne eines bloß sterblichen Seins. Es erinnert uns an die Geschichte von Lazarus und an Caputos konzise Bemerkung dazu (auch ergänzt durch eine Notiz über Derridas tödliche Krankheit und den Wunsch seiner Freunde, er möge mit ihnen zumindest noch einen Tag bleiben, einen Tag mehr …), da vielleicht das Einzige, was wir uns im Leben wirklich wünschen, darin besteht, nur noch einen weiteren Augenblick der Liebe zu erleben – auf eine solche Nähe zu hoffen und ihre Zeit der Liebe zu bewahren, auf ihre Zukunft zu hoffen, das Immermehr … Deshalb ist Die Ballade von Narayama eine Artikulation und Inszenierung dieser radikalen Konstellation und gleichzeitig die Demonstration einer Geste, die diese Grenze in den Bereich von Tod und Sterben verschiebt. Die Ballade von Narayama basiert auf einer alten japanischen Legende über ein entlegenes Dörflein in der Präfektur Nagano, wo es unter den Bewohnern den Brauch gibt, dass Männer und Frauen, wenn sie siebzig Jahre alt werden, zum Berg Narayama gehen müssen, um dort den Tod zu finden. Sein anderer Name ist somit Ubasute, das bedeutet »der Berg der verlassenen alten Menschen«.312 Der Film, der die traditionellen Bräuche des Kabuki-Theaters nachahmt, führt den Zuschauer gleich in der ersten Szene in die Welt der Elemente, des Seins zwischen Himmel und Erde, der Bedeutung der natürlichen Zyklen, der Fruchtbarkeit, der Schwangerschaft, der Ernte und vor allem der Nahrung ein und schafft damit ein außergewöhnlich subtiles und zugleich außerordentlich verletzliches Umfeld der Welt der Menschen und Götter sowie der Natur, in die die Hauptfiguren der Geschichte hineingestellt werden. Die Geschichte des Films handelt von Tetsuhei, einem Mann in den mittleren Jahren, der drei Kinder hat. Er verlor seine Frau und lebt als Witwer mit seiner Mutter Orin, die auch Witwe ist. Die Kinder sind noch immer mit ihrer Mutter eng verbunden, was eine Szene auf dem Friedhof zeigt, die eine geheimnisvolle Anwesenheit der Mutter Ich stütze mich bei meiner Interpretation auf das fünfte Kapitel des Buches von Keiko I. McDonald, Japanese Classical Theater in Films (Rutherford: Fairleigh Dickin­ son University Press and London/Toronto: Associated University Presses, 1994), 114 ff. 312

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auf dieser Welt suggeriert. Die Familie lebt in großem Nahrungsman­ gel und in ihr macht sich Unruhe breit ob der entstehenden Krise, denn Tetsuhei lernt nun eine Frau kennen, die er heiraten will, und gleichzeitig erwartet einer seiner Söhne bereits ein Kind mit seiner schwangeren Auserwählten. Die Familie wird somit in kurzer Zeit um noch drei Mitglieder wachsen und es wird nicht mehr genug Essen für alle geben. Deshalb entscheidet sich Tetsuheis Mutter Orin, entgegen dem Brauch, dass sich Ältere mit siebzig Jahren auf den Berg Ubasute zurückziehen, in der Einöde und zum Wohle der Familie, diese Welt ein Jahr früher zu verlassen. Orin hat sich als Witwe ihre Gesundheit und schöne Zähne erhalten – die im Dorf als Zeichen des Überflusses wirken. Da sie deswegen verspottet wird (weil ihre Armut nicht echt sei), schlägt sie sich in einer schrecklichen Szene an einem Stein selber die Vorderzähne aus. Nun ist sie bereit, zum Berg Narayama aufzubrechen. Ab diesem Moment verschmilzt die Geschichte von der Armut und dem Leben der Familie mit der Legende. Da der Film im Einklang mit dem klassischen Bunraku-Theater geschaffen wurde, ist ein integraler Teil des Films der Erzähler, der dafür sorgt, dass der Zuschauer das Geschehen nicht mit Szenen aus dem realen Leben verwechselt. Somit ist es klar, dass es sich um inszeniertes Geschehen handelt, das die alte Legende vom Berg Narayama veranschaulicht, mit einem Erzähler, Theaterläuten, einer Szenerie, die an die Bühne von Leben und Tod erinnert. Wenn der Augenblick des Aufbruchs kommt, verkündet der Erzähler dies mit folgenden rituellen Worten: Lasst die Alten auf dem Berg Narayama zurück. Der Brauch im Dorf ist uralt. Sogar das Lied des Narayama-Festes erinnert dich an dein Alter, als ob es dich zur rechtzeitigen Abreise ermahnen würde. Der frühe Herbstwind ist heute Morgen unbarmherzig.313

Das Geschehen im Film ist eng mit dem Spiel der Elemente verflochten – Wind, Erde, Feuer, Wasser, und Nahrung.314 In der Szene, wo die Familie noch ein letztes Mal gemeinsam zu Mittag isst, wird die Verbindung zwischen Nahrung, Wasser (Regen) und Tränen

Ebenda, 119. Nahrung ist eines der Elemente zwar nur in der alten indischen Philosophie. Siehe meinen Artikel in »Food in Ancient Indian Philosophy«, in: P.B. Thompson, D.M. Kaplan, K. Millar, L. Heldke, R. Bawden (Hsg.), Encyclopedia of Food and Agricultural Ethics (Dordrecht: Springer, 2014). In der indischen Sprache findet man zwei Ausdrücke – anna (Nahrung) und attr (Esser). 313

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(Orin)

sichtbar, die somit Teil einer elementaren Konstellation sind, in die nun Trauer einzieht: Drinnen isst die Familie ein kärgliches Abendbrot. Draußen nieselt der Regen. Drinnen ist Tatsuheis Herz von Kummer durchtränkt, auch wenn die Nacht auf die Zeit der Träume zusteuert.315

In einer intimen Szene zwischen Tatsuheis Sohn und seiner schwan­ geren Geliebten Matsu steht wieder der Hunger im Vordergrund und damit das Essen – als Element des Wachstums, des pulsierenden neuen Lebens, der Hoffnung, der Liebe und, durch deren Fehlen, der Angst. Das Element Feuer, das in der Feuerstelle brennt, ist ein Symbol des Lebens. Als Orin den Entschluss fasst, zum heiligen Berg Ubasute aufzubrechen, erlischt die Flamme in der Feuerstelle plötz­ lich. Das eigentliche Ritual der Reise zum Berg ist der Schlüsselteil des Films: Der Sohn nimmt seine Mutter auf den Rücken und trägt sie den beschwerlichen Weg hinauf auf den Berg. Der Erzähler begleitet ihn dabei mit folgenden Worten: Viele Jahre sind vergangen und nun dieses eine, in dem der Sohn die Mutter auf dem Rücken tragen muss. Er leidet Höllenqualen, untrenn­ bar von seiner Mutter. Der Wind weht über den Berg Narayama.316

Deutlicher und tragischer kann man die genealogische und lebens­ geschichtliche Bindung zwischen dem Kind (Sohn) und dem Eltern­ teil (Mutter) kaum darstellen. Das uralte Ritual verbietet nun der Mutter das Sprechen. Ihr Schweigen ist Ausdruck der Annäherung an die Schwelle von Leben und Tod, des Übergangs in die Sphäre des Heiligen, wie es das Torii-Tor des Shintos ankündigt, durch das der Sohn mit seiner Mutter auf dem Rücken schreitet. Als sie den Gipfel erreichen, öffnet sich vor uns ein erschreckender Blick auf mumifizierte Körper und Knochen von Menschen, die auf dem Berg gestorben sind. Der Sohn senkt die Mutter auf den Boden, und sie wählt ihre letzte Ruhestätte. Tatsuhei legt dort die letzten Rationen seiner Mutter vor, die sie ablehnt. Er umarmt sie ein letztes Mal, weint und nimmt Abschied. Die Gabe des Essens wird so zur Gabe des Sohnes an den Gott des Berges, und die Mutter verlässt diese Welt in einer meditativen Haltung und rezitiert buddhistische Gebete. In ihrer Yogaposition erinnert sie an den Gott Shiva auf dem Gipfel des schneebedeckten Berges Kailash. Eine engere Verbindung zwischen 315 316

McDonald, Japanese Classical Theater in Films, 119. Ebenda, 121.

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Sein / Schwester

den Reichen der Sterblichen und der Unsterblichen, zwischen Himmel und Erde, als wir sie in dieser Szene sehen, ist wohl kaum vorstellbar. Die Ballade von Narayama ist also eine Geschichte über die Macht der Liebe und der Fürsorge in dieser Welt, über die Hoffnung, dass der Glaube an diese beiden uns nie verlassen wird. Obwohl die Geschichte tragisch inszeniert und erzählt wird und obwohl die Legende des Berges Ubasute und der gesamte Film auf den ersten Blick gnadenlos auf die Dominanz von Tod und Leid über das Leben hinweisen, verbirgt sich die Pointe dieser Erzählung gerade in der Liebe und der Sorge um das Leben, in der Nähe und der Familie als Ort unseres Wohnens, in den Gesten der Gegenseitigkeit, die wir in dieser Welt und an ihrem Rande zeigen.

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Irigaray / Hauch

Vor der Geburt des Atems: auf der Suche nach neuer Liebe zu sich selbst Die Frage der epistemologischen Grundlagen unseres religiologi­ schen und theologischen Denkens ist vielleicht eine der anspruchs­ vollsten Fragen in der Philosophie: sie betrifft sowohl die theoreti­ schen als auch die praktischen Schichten unseres In-der-Welt-Seins; darüber hinaus ist sie auch mit den intimsten Schichten unseres privaten und gesellschaftlichen Lebens verbunden (mit den Fragen, die Leben und Tod, Familie und Verwandtschaft, unsere Werte in gesellschaftlichen und politischen Umfeldern, unsere ethische Aus­ richtung betreffen). Mehr noch, in der Philosophie der Religion stellt sich heute die Frage, wie die eigene Selbsttranszendenz mit der Trans­ zendenz des irreduziblen Andersseins des anderen zu verbinden wäre, beziehungsweise wie man auf neue Weise unsere intimsten (auch sexuellen) ontologischen Schichten mit dem anderen und, letzten Endes, mit dem künftigen Gott/Göttin verbinden könnte. Doch es scheint, dass wir noch immer keine Dialektik besitzen, die eine solche Begegnung ermöglichte. Wir beten für dieses Ereignis (Caputo),317 das an einem noch unbekannten Ort und in einer noch unbekannten Zeit als unsere Sehnsucht, aber auch unser Vergessen wohnt. Die westliche Metaphysik hat den Philosophen (und nur selten auch die Philosophie) traditionell mit dem Wissen gerüstet, das er für die Begegnung mit dem Unbekannten und Gefährlichen brauchte, und ihm gleichzeitig erlaubt, den Platz zu bewahren, den er nur für sich selbst einnahm und den er nur für die Aufrechterhaltung und Perpetuierung dieser mächtigen Selbstaffinität fest im Griff hatte. Mit Feuerbachs Philosophie der Empfindsamkeit und mit Nietzsches Umwertung aller Werte wurden zum ersten Mal in der Geschichte des abendländischen Denkens die bestehenden Topologien dieser Art von 317

Siehe Caputo, The Insistence of God.

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Irigaray / Hauch

Selbstsein (Seele, Geist, Subjektivität) radikal untergraben – sowohl im theoretischen als auch im praktischen Sinne (Selbstaffektion als natürliche Zuneigung bei Feuerbach wie auch als künstlerische Praxis bei Nietzsche). Mit Feuerbach und Nietzsche wird der Mensch in einen völlig neuen relationsbezogenen Raum gestellt, den er noch nie besetzte: er befindet sich in der Nähe der ursprünglichen (makrokos­ mischen) Konstellation der natürlichen Elemente (Wasser, Luft, Erde und Feuer) und des Pulsierens des eigenen Körpers (Mikrokosmos), wie dies Nietzsche radikal betonte; er wird auch an sein Geschlecht erinnert (Feuerbach war der erste Philosoph, der sich mit dieser neuen Dialektik der Intersubjektivität auseinandersetzte318) und damit auf eine völlig neue Weise der sexuellen Differenz ausgesetzt; schließlich wurde der Philosoph sowohl bei Feuerbach als auch bei Nietzsche zum ersten Mal mit dem Tod des Gottes konfrontiert, den er seit Jahrhunderten kannte und verehrte. Darin stehen beide Denker (und, wie wir sehen werden, auch Irigaray) dem vorsokratischen Denken nahe. Leider ist Feuerbachs Philosophie bald in Vergessenheit geraten und erst ein gutes Jahrhundert später wurde sie vom philosophischen Projekt von Luce Irigaray wiederbelebt. Vielleicht war die Phänomenologie die erste, die diese Lektion in ihrer Gesamtheit gelernt hat: Husserl und Heidegger haben jeweils auf ihre Weise beschlossen, alle alten philosophischen Ablagerungen von unserem geistigen Erbe abzustreifen.319 Husserls phänomeno­ logische Reduktion in seinen Ideen und Heideggers Sein und Zeit gehören zweifellos zu den Schlüsselereignissen in der Geschichte des abendländischen Denkens. Seitdem ermöglicht die Phänomeno­ logie es den Philosophen, näher am Körper zu verweilen, näher an unseren Sinnen (der ethischen/körperlichen Nähe, dem Hören, der Liebkosung und der Berührung – wie bei Merleau-Ponty und Levinas, aber auch bei Nancy, Henry, Marion und insbesondere Chrétien;

Vgl. Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 166: »Fleisch und Blut ist Leben, und Leben allein die Wirklichkeit des Leibes. Aber Fleisch und Blut ist nichts ohne den Sauerstoff des Geschlechtsunterschieds«. 319 Ich werde in diesem Kapitel nicht die ähnliche Entwicklung im klassischen amerikanischen Pragmatismus erörtern (Peirce, James, Dewey, Mead). Mehr dazu in meinem Buch Pragmatist Variations on Ethical and Intercultural Life (Lanham, MD: Lexington Books, 2012). 318

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Vor der Geburt des Atems: auf der Suche nach neuer Liebe zu sich selbst

aber, mit einer Ausnahme320 – noch nicht Atem – als unseren ›ontologischen‹ Sinn), und später auch in einem interkulturellen Sinn unsere verschiedenen Lebenswelten nur als Teile einer pluriformen Weltkultur zu interpretieren, die hermeneutisch offen, evolutiv und niemals in den einen Interpretationsrahmen oder die eine Wahrheit eingeschlossen ist. Doch Irigaray zufolge erfordert die Kultivierung des eigenen Selbst eine andere Art von Subjektivität. Es handelt sich um die Logik der Beziehung zu sich selbst und durch sich zum anderen, bei ihr »Selbstaffektion« (self-affection, auch auto-affection) genannt. Diese zielt auf jene Art Beziehung, die »uns Westlern immer noch zu fehlen scheint«.321 Die Selbstaffektion, die bereits Teil der klassischen philosophischen Ausbildung von Parmenides bis Hegel war, die sich aber sogar bis zu Husserl und Heidegger erstreckte, kulti­ vierte nicht die Relationalität als Weg unseres individuellen Werdens, und dadurch wurde die Selbstaffektion gegenüber dem Anderen nicht in einer angemessenen dialektischen Weise definiert – in einer Weise, die sowohl meine Subjektivität als auch die Transzendenz des/der Anderen in seiner/ihrer Differenz und vollen Autonomie sichern würde. Natürlich war die Philosophie immer relationsbezogen im Sinne der Zeitlichkeit – von mir und dem anderen, dem Realen oder letztlich einem Gott –, doch nicht im Sinne einer »Ekstase der Begeg­ nung«322 – im ethisch radikalisierten Modus zwischen-zweien, der auf der Ontologie der Selbstaffektion, dem Geschlechtsunterschied und unserem wechselseitigen mesokosmischen Atmen beruht.323 Mit der Interaktion eröffnet und bewahrt zugleich ebendiese Begegnung die neue radikalisierte Ontologie (zunächst als Atheologie) der bei­ 320 Damit meine ich die Philosophie von Merleau-Ponty. Zu dieser wichtigen Verbin­ dung siehe das Kapitel von Petri Berndtson in Atmospheres of Breathing, hrsg. von L. Škof in P. Berndtson (Albany, NY: SUNY Press, 2018). 321 Irigaray, In the Beginning, She Was, 159. 322 Irigaray, Sharing the World, 78 ff. 323 In diesem Kapitel wird der Begriff Mesokosmos in dem Sinne verwendet, wie er in meinem Buch Ethik des Atems vorgeschlagen und befürwortet wurde. Der Ausdruck »Mesokosmos« stammt aus einem Buch über die Newar-Religion, das von Robert I. Levy und Kedar Raj Rajopadhyaya verfasst wurde und den Titel Mesocosm: Hinduism and the organization of a traditional Newar city of Nepal (Berkeley: University of Cali­ fornia Press, 1990) trägt. In seiner schönen Darstellung des vedischen Rituals plädiert Michael Witzel (Kaṭha Āraṇyaka, Harvard Mass.: Harvard University Press, 2004; vgl. Nr. 129 auf S. xl der Einleitung) für die Rekonstruktion dieses Begriffs innerhalb der vedischen magischen Weltdeutung. Vgl. auch Michael Witzel, »Macrocosm, Mesocosm, and Microcosm: The Persistent Nature of ›Hindu‹ Beliefs and Symbolic Forms,« Intern. Journal of Hindu Studies 1, Nr. 3 (1997), 501–539.

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Irigaray / Hauch

den, die in ihrem Wesen sowohl religiös (siehe Irigaray und ihre sensible Transzendentalität) als auch ethisch ist. Was ist also die Ontologie der Selbstaffektion? In ihren neueren Werken beschäftigt sich Luce Irigaray mit dem, was man die »sexuelle Ontologie der radikalen Subjektivität«324 nennen könnte. Ihre Überlegung beruht auf der Vorstellung von Autooder Selbstaffektion. Um auf die ontologische Ebene ihrer Lehren über das sinnliche Transzendentale und den Atem zu gelangen, ist es zunächst notwendig, diese Vorstellung von ihr zu verstehen, wie sie in einigen ihrer späteren Schriften vertreten wird. Wir finden es zum ersten Mal in Der Weg der Liebe, und zwar in der Einleitung: Eine Begegnung zwischen zwei verschiedenen Subjekten setzt voraus, dass jedes dafür sorgt, es selbst zu bleiben. Und das kann nicht auf eine einfache freiwillige Geste hinauslaufen, sondern hängt von unserer Fähigkeit zur »Autoaffektion« ab – ein weiteres Wort, das ich im Wörterbuch nicht gefunden habe. Ohne dies können wir den anderen nicht als anderen respektieren, und er oder sie kann uns nicht respektieren. Es geht freilich nicht um eine Extrapolation in irgendein Wesen – das meine oder das des anderen –, sondern um eine kritische Geste für eine Rückkehr zu sich selbst, die nicht in unveränderlichen Wahrheiten oder Essenzen in der Schwebe bleibt, sondern die eine Treue zu sich selbst im Werden ermöglicht.325

Eben das, was auch später bei ihr als Selbstaffektion bekannt wurde, ist meiner Meinung nach der Schlüssel zum Verständnis ihrer philoso­ phischen Lehre über die sexuelle Differenz und unser ethisches Wer­ den. Irigarays größte Erfindung in der Philosophie ist zweifellos die Einführung einer idiosynkratischen dialektischen Dyade in den Kern unserer Ontologie und Epistemologie. Diese Dyade besteht immer aus zwei Personen, die unterschiedlich sind (die sexuelle Differenz 324 Ich meine ihre Werke, die die so genannte »dritte Phase« ihres Denkens bilden, und darunter vor allem: The Way of Love (2002), Between East and West (2002), Sharing the World (2008; Welt teilen), In the Beginning, She Was (2013) und Una nuova cultura dell' energia (2013). 325 Irigaray, The Way of Love, xiv. Den Ausdruck »Selbstaffiziertheit« (als »selbst affiziertwerden«) findet man zwar schon in § 24 von Kants transzendentaler Deduk­ tion im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft (Immanuel Kant, Kritik der reinen Ver­ nunft 1, Werkausgabe, Bd. 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992, 152; auch 150). Ich werde hier jedoch den Begriff der Selbstaffektion in Anlehnung an das Denken von Luce Irigaray verwenden, was meines Erachtens die grundsätzliche Intention, sich von innen heraus dem Anderen zuzuwenden, besser kennzeichnet.

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Vor der Geburt des Atems: auf der Suche nach neuer Liebe zu sich selbst

soll hier als ontologisches Paradigma verstanden werden und nicht als Aufruf zur Heteronormativität) und »nicht durch Genealogie oder Hierarchie verbunden sind«.326 Die Selbstaffektion lehrt uns also, zwei zu werden, ohne den Anderen als Anderen zu vereinnahmen oder zu vernichten, oder ohne uns von unserem eigenen Werden in der Subjektivität zu entfremden. Das Werden der Subjektivität verweist auch auf eine idiosynkratische Logik der Differenz zwischen der männlichen und der weiblichen Welt, da Männer und Frauen einen unterschiedlichen Zugang zu maternellen Genealogien, zu den Rhythmen der Natur und zu sexuellem Werden und Zugehörigkeit durch gegenseitiges Begehren und Liebe haben. Wir atmen dieselbe Luft, doch wir atmen sie unterschiedlich. Wir alle wollen unsere Menschlichkeit erreichen, aber wir können sie nur dialektisch errei­ chen – indem wir unsere zwischengeschlechtlichen, intersubjektiven und interkulturellen Unterschiede respektieren. Irigaray schließt ihr In the Beginning, She Was mit den folgenden Gedanken ab: Selbstaffektion ist weder zweitrangig noch unnötig. Die Selbstaffektion – die wiederum nicht auf eine bloße Autoerotik hinausläuft – ist für das Menschsein so notwendig wie Brot. Selbstaffektion ist die Grundlage und die erste Bedingung der Menschenwürde. Es gibt keine Kultur, keine Demokratie ohne die Bewahrung der Selbstaffektion eines jeden Menschen. Die Selbstaffektion braucht heute eine Rückkehr zum eigenen Körper, zum eigenen Atem, zur Sorge um das Leben, um nicht der Technologie, dem Geld, der Macht, der Neutralisierung in einem universellen Jedermann, der Assimilation in eine anonyme Welt, der Einsamkeit des Individualismus unterworfen zu werden. Selbstaffektion braucht Treue zu sich selbst, Respekt für den anderen in seiner Einzigartigkeit, Gegenseitigkeit im Begehren und in der Liebe – allgemeiner gesagt, in der Menschlichkeit. Wir müssen die Selbstaffektion wiederentdecken und kultivieren, und zwar zu jeder Zeit und in jeder Situation, ausgehend von zwei, die sich in ihrer Unterschiedlichkeit respektieren, um das Überleben und das Werden der Menschheit zu bewahren, für jeden einzelnen und für uns alle.327

Doch was bringt uns die Selbstaffektion, was uns in der westlichen Philosophiegeschichte nicht zugänglich ist? Hier müssen wir auf

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Irigaray, In the Beginning, She Was, 160. Ebenda, 161 ff.

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Feuerbach und Nietzsche zurückkommen (und ihren Appell an den Körper und seine Praktiken der Selbstaffektion), und auch indische Lehren einführen (Yoga und Buddha: Stille als Modus unserer Selb­ staffektion und der damit verbundene Appell an die Praxis der Medi­ tation), die den fruchtbaren Boden für Irigarays Denken bilden.328 Mit Feuerbach erleben wir die erste philosophische Ausarbeitung der Intersubjektivität in der gesamten abendländischen Philosophie­ geschichte: Laut diesem deutschen Denker sind ein Mann und eine Frau zwei Wesen, die vollständig von der Natur abhängig sind (durch Nahrung, Wasser, Luft usw.), aber damit auch vollständig voneinan­ der abhängig. Sie leben in denselben endlichen Lebenswelten, in denen sie Atmung, Berührung und verschiedene Gesten (z. B. Spra­ che) austauschen, die eine dialektische Begegnung zwischen einem beliebigen Paar von zwei Subjektivitäten bilden. Doch in diesem rela­ tionsbezogenen Prozess stehen meine und deine Endlichkeit auch der Grenze gegenüber – einer unendlichen Transzendenz des anderen, die ontologisch unüberbrückbar ist. Für Feuerbach ist dies der wahre und hauptsächliche Sinn jeder Religion und Liebe. Nietzsche radikalisierte diese Konstellation deutlich mit seinem Rekurs auf den Körper und sein immanentes Leben und damit mit seiner absoluten Ablehnung jeder Art von Subjektivität, die Seele oder Geist als immaterielle Ursache hätte, selbst wenn sie als Gott hypostasiert ist. Es scheint, dass Irigaray beide Konzepte – Feuerbachs Empfindsamkeit und Nietzsches Willen – in ihren eigenwilligen Begriff der Selbstaffektion überträgt und weiterentwickelt. Es kann uns weder ein logisches Verfahren noch eine moralische Regel (oder eine religiöse Autorität) in dieser Dynamik und Dialektik der Selbstaffektion leiten. Und hier kommen die östlichen Lehren (Yoga, Meditation, die Lehren Buddhas) in den Kern von Irigarays Denken. Im Yoga und im Bud­ dhismus kommt die Vorherrschaft des vitalen und spirituellen Atems in ihren meditativen und praktischen Methoden klar zum Ausdruck, wo die Entleerung unserer gewöhnlichen Formen des Selbstseins ein Schlüssel zur Achtsamkeit (oder Wachheit) auf uns selbst ist. Um uns eine zukünftige Welt zu sichern, müssen wir uns neu orientieren und zuerst in unserer Innerlichkeit verweilen, geleitet von der Selb­ staffektion, um Stille und Zuhören zu ermöglichen und einzuleiten. Doch auf welche ontologische Ebene oder Realität wird sich dieses 328 Neben Schelling und Heidegger (und Levinas) – doch mehr zu diesen Beziehun­ gen im zweiten Teil meines Kapitels.

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Schweigen beziehen – und wem sollen wir zuerst zuhören? Dies ist noch ein Geheimnis. Wir müssen zuerst ein Heiligtum in uns selbst schaffen – einen Ort für das Aufkommen des reinen Atems, der das erste Zeichen des Mitgefühls und der Liebe sein wird. Wie es in Eine neue Energiekultur heißt, haben wir uns »dank einer Praxis der Selbstaffektion«329 in uns selbst eingerichtet und das Leben als solches geschützt – um es mit den anderen teilen zu können. Stille und Zuhören (zuerst uns selbst: Meditation, Yoga, andere spirituelle Praktiken) sind daher Zeichen unserer Liebe – zuerst zu uns selbst und dann zu den anderen (von der Natur und den Tieren bis zu den Menschen und den Göttern oder umgekehrt). Stille und Zuhören sind zwei Modi unserer Achtsamkeit, die zunächst eine ontologische und später, wenn sie sich intersubjektiv entwickelt, auch eine moralische Disposition von uns selbst ist, ein echter und ontologischer dyadischer Modus der Relationalität. Wie ich in einem meiner früheren Beiträge über Irigarays Begriff der Achtsamkeit dargelegt habe, ist die Achtsamkeit gegenüber den Bedürfnissen anderer kein einfacher Akt oder eine moralische Disposition, sondern etwas mehr: Sie ist das Ideal – aber als eine gewisse Passivität, eine Entleerung von uns selbst, eine Kennzeichnung unserer alltäglichen Ziele mit ›Nichtigkeit‹.330

In der theologischen Sprache käme all dies einem Zustand der Gnade sehr nahe. Irigaray hat einen großen Teil ihres späteren Werks der neuen Kultur der Nähe und der Intersubjektivität gewidmet, die sich auf die Elemente stützt, die uns meiner Meinung nach in die Lage versetzen können, in uns selbst neue ethische Räume für die Aufnahme des anderen zu bilden. Doch Achtsamkeit ist vor allem mit unserer Selbstaffektion verbunden. Die Achtsamkeit ist eine relationsbezogene Tugend, doch von vorreflexivem Charakter: sie zeigt uns, dass wir Menschen als Individuen die Sozialität (und Gott) bereits in uns haben. Die Achtsamkeit eröffnet somit einen ethischen Raum der Transzendenz des anderen – seiner oder ihrer irreduziblen Differenz zu mir oder meiner Subjektivität. Erst auf dieser Grund­ lage kann eine ethische Geste entstehen, die den anderen und die Bedürfnisse der anderen voll und ganz respektiert. Der intersubjektive Raum hat sich uns somit auf neue Weise offenbart und eröffnet. In diesem Sinne müssen wir zunächst uns selbst respektieren, indem wir Irigaray, Una nuova cultura dell' energia, 12. Škof, »Breath of hospitality: Silence, listening, care«, Nursing Ethics 23, Nr. 8 (2016), 904.

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auf unseren inneren Atem achten, der immer schon in uns pulsiert (auch wenn wir sein schwaches Schlagen nicht immer spüren und er durch verschiedene Hindernisse behindert wird) und der es uns ermöglicht, ihn mit den anderen zu teilen, und zwar auf respektvolle, nicht diskriminierende und nicht besitzergreifende Weise.

Wunde der Welt: Freiheit und Liebe des Atems STEHEN, im Schatten des Wundenmals in der Luft. Für-niemand-und-nichts-Stehn. Unerkannt, für dich allein. Mit allem, was darin Raum hat, auch ohne Sprache. Paul Celan331

Nun ist es Zeit, zur Ontologie des femininen Atems zu kommen. In Eine neue Energiekultur ist zu lesen: Wenn wir uns der Tatsache bewusst sind, dass unser Leben aufgrund unseres Atems existiert, ist es notwendig, dass wir zu autonomen Wesen werden. Deshalb können wir auch nicht auf der elementaren Ebene des Lebens eines Neugeborenen am Anfang seiner Existenz lebendig bleiben. Wir müssen die Verantwortung für unser Leben übernehmen und es in eine menschliche Existenz umwandeln. Deshalb müssen wir unsere Atmung bewahren und entwickeln, aber auch lernen, die Reserve des verfügbaren Atems [una riserva di soffio dispo­ nibile] zu schaffen: eine Seele, die uns erlaubt, dass unser Atem nicht nur von einigen Notwendigkeiten abhängig ist, denen wir gegenüber­ stehen. Dies ist in der Tat die erste Bedeutung des Wortes Seele.332

Irigaray zufolge ist der Atem sicherlich ein Weg unseres spirituellen Werdens. Wenn wir geboren werden, atmen wir zum ersten Mal 331 332

Paul Celan, Atemwende (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1967), 125. Irigaray, Una nuova cultura dell' energia, 11.

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autonom, aber unser Atem hängt immer noch von anderen ab, die uns Nahrung, Schutz und Liebe geben. Am Anfang unseres spirituellen Lebens ist der Atem nie ununterbrochen, nie rein, und wir besitzen noch nicht die Energie, um unseren Atem selbst in ein Gleichgewicht und in Frieden zu bringen. Wir werden mit dem Körper und mit der Seele (den Sinnen, der Sprache) geboren, aber spirituell sind wir zunächst von anderen abhängig und atmen daher noch nicht selbstständig. Die Reserve des Atems steht uns noch nicht zur Verfügung. In fast allen Religionen der Welt finden wir einen kosmologischen Mythos oder eine Erzählung, die sich auf die Atemenergie oder das Atmen bezieht und uns die spirituelle Führung und sozusagen die Reserve des Atems gibt, die wir zunächst brauchen, um uns selbst in unserer Selbstaffektion zu erhalten und zu pflegen, und dann, um in unserem Mitgefühl einen Anteil zu haben, um ihn unter den anderen zu verteilen. Diese Substanz in Form von »Wind«, »Luft«, »kosmischem Atem« oder »Geist« (lil, ruah, aer, pneuma, spiritus, anima, prana, qi, ki, mana …) ist das wesentliche Bindeglied zwischen mikrokosmischer und makrokosmischer Realität, zwischen Immanenz (unserem Körper) und Transzendenz (dem Anderen), das es den endlichen menschlichen Wesen ermöglicht, Zugang zu anderen spirituellen Wesen, zum Kosmos und seinen Göttern zu finden, um schließlich selbst spirituell zu werden und das Unendliche auszudrücken. Dies ist der Weg der Vergöttlichung. Und dies ist es, was ich unter Freiheit in einer wahrhaft ontologischen Weise verstehe. Doch Schelling (in seinem Über das Wesen der menschlichen Freiheit) ging mit seinen Ausarbeitungen über den ursprünglichen Hauch noch tiefer: Für ihn ist der Hauch der Liebe das eigentliche Fundament von Gott/Grund – der schon existierte, bevor es einen Grund gab. Er argumentierte, dass es am Anfang (ontologisch) eine ursprüngliche Geste des »Mitatmens« (Konspiration)333 gibt, die, sobald sie von innerer Glut erhitzt ist, zerbrochen und vom Bösen entzündet wird, 333 Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 63: »Denn weil Gott in seiner Existenz doch nicht gestört, noch weniger aufgehoben werden kann: so wird nach der notwendigen Korrespondenz, die zwischen Gott und seiner Basis stattfindet, eben jener in der Tiefe des Dunkels auch in jedem einzelnen Menschen leuchtende Lebensblick dem Sünder zum verzehrenden Feuer entflammt, so wie im lebendigen Organismus das einzelne Glied oder System, sobald es aus dem Ganzen gewichen ist, die Einheit und Konspiration selbst, der es sich entgegensetzt, als Feuer (= Fieber) empfindet und von innerer Glut entzündet wird.« Schelling verwendet hier das seltene lateinisch-deutsche Wort Konspiration, das von conspῑro kommt (»ich atme oder blase zusammen«; dieses Wort steht natürlich mit spīritus in Verbindung). Siehe dazu

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und der Kern unseres Seins ist verwundet. So manifestiert sich das Böse im Menschen. Der Mensch wird somit aus der Wunde der Welt geboren und ist in seinem Wesen und ontologisch verletzlich (im Christentum drückt sich dies dann in der Lehre von der Erbsünde aus, die dem Sündenfall folgt, in östlichen Lehren ist es das Karma). Eigenständig zu atmen, die Freiheit mit jeder Bewegung unserer Muskeln auszudrücken, eine Reserve des Atems (Freiheit) zu besitzen für jede Regung unserer Seele, das ist unser höchstes Ziel. Doch wie können wir diese geistige, oder besser gesagt spirituelle Umwand­ lung erreichen? Es handelt sich in der Tat um eine sehr tiefe Ebene der Ontologie (und Theologie), und meiner Meinung nach die vielleicht originellste Theorie oder Frage, die in der gesamten Geschichte der Philosophie auf den kosmologischen und theologischen Grundlagen des mensch­ lichen Seins gestellt wurde. Das Leben entsteht aus der ursprüngli­ chen inneren Sehnsucht von Gott, die Liebe, oder genauer gesagt, der Hauch der Liebe ist. In diesem Uratem gibt es eine Bewegung, sozusagen ein Ausatmen und Einatmen334 dieses Grundes, der der Archätypus alles Pulsierens und alles Lebens (aber auch unserer ontologischen Wunde sowie letztlich des Todes) ist. Im Christentum kommt diese Bewegung deutlich in der Lehre von der Dreieinigkeit zum Ausdruck, wo Gott sich selbst inkarniert und Wunden zu erleiden hat, um der Welt die Hoffnung auf Erlösung bringen zu können; und gerade mithilfe des Heiligen Geistes sendet der Vater seinen Sohn in die Welt.335 Die geheimnisvolle Logik der trinitarischen Ko-Relatio­ meine Interpretation in Škof, Ethik des Atems, Kap. 3, und insbesondere Jason Wirth, The Conspiracy of Life: Meditations on Schelling and His Time (Albany: SUNY Press, 2003), 2. 334 Vgl. ebenda, 2 ff. In einer der ältesten spekulativen vedischen Hymnen über die Schöpfung (Ṛgveda X.129, aus dem 10. Jahrhundert v. u. Z.) finden wir die präziseste Erklärung dieses kosmischen Atmens des Grundes des Seins/des Einen, im Sanskrit tad ekam genannt): »Das Eine atmete ohne Wind durch seinen unabhängigen Wil­ len. / Darüber hinaus gab es nichts anderes.« (Der Rigveda, 1608) Ich habe diesen vedischen Hymnus bei verschiedenen Gelegenheiten ausführlich analysiert und mit Schellings Ontologie verglichen, vgl. insbesondere meine Ethik des Atems, Kap. 3. Der Dichter-Philosoph dieser Hymne argumentiert, dass noch bevor es irgendwelche Zei­ chen des Seienden oder Nichtseienden, des Todes oder des Lebens an sich gab, dieses Erste Eine (tad ekam) atmete – von sich selbst und aus sich selbst. (Ebenda). 335 Vgl. Mt 1,18, Lk 1,35. Auch Schelling meint, »Gott muß Mensch werden, damit der Mensch wieder zu Gott komme«. (Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 52) Er weiß aber auch: »Der Mensch wird im Mutterleibe gebildet«. (33).

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nalität und Mit-Atmung (conspiratio) dreier göttlicher Personen zeigt sich gerade in diesem ursprünglichen und anarchischen Aus- und Einatmen des Grundes selbst, dem Pulsieren seines archätypischen Lebens bei Schelling. Gerade mit dem pneuma, das durch den Heiligen Geist repräsentiert wird, erhält jedes Lebewesen seinen Anteil am Lebensatem, als dessen Reserve, und das ist Seele. Für Roberto M. Unger, dessen experimentell-pragmatistisches Denken in vielerlei Hinsicht der Philosophie Irigarays sehr nahe steht, war Jesus Christus »eine konzentrierte Inkorporation göttlicher Energie […,] die Aktivi­ tät des Geistes, die wir in unserer Erfahrung der Transzendenz finden und die wir in der sich entwickelnden Natur wiederentdecken«.336 Wir können sagen, dass diese Bewegung ein Paradigma unseres eigenen Werdens ist – als ein Fortschreiten der Differenz vom Grund unseres Seins, der bereits verwundet und endlich ist, zur Möglichkeit unserer eigenen unendlichen Sehnsucht durch das Erwachen und die geheimnisvolle Gnade dieses ursprünglichen Atems. Aber auch von unserem Tod. Auf diese Weise überwinden wir uns selbst und werden spirituell, und unser endliches Ich wird wach und unendlich. Aber es muss noch ein weiterer Schritt getan werden: Es geht um die Frage nach der Rolle des Atems und der sexuellen Differenz in Bezug auf das sensible Transzendentale und das weibliche Göttliche. Für Irigaray ist es kein Zufall, dass Jesus als unser Erlöser in einer jungen Jungfrau inkarniert ist, da Frauen einen privilegierten Zugang zum Atem haben: Noch jungfräulicher Natur, bewahrt Maria die Fülle der dem Mädchen eigenen Identität der Frau. Sie ist bereits autonom ihrer Mutter gegen­ über, und ihr Fleisch wie ihr Atem haben sich noch nicht intim ver­

336 Roberto Mangabeira Unger, The Religion of the Future (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2014), 261. Vgl. auch mit seinem früheren Buch The Self Awakened: Pragmatism Unbound (Cambridge, MA/London: Harvard University Press, 2007). Zum kosmischen Jesus vgl. Caputos Werk The Insistence of God: »Ich betrachte Jesus als einen jüdisch-heidnischen Propheten und Heiler, der im Einklang mit den Tieren und den Kräften der Natur steht, in dessen Körper die Elemente ihren kosmischen Tanz tanzen und der eine Leitung liefert, durch die sie fließen, und ich betrachte die Elemente als eine kosmische Gnade, die durch den Körper Jesu kanalisiert wird.« (251 ff.) Dies ist in der Tat eine wunderschöne Darstellung von Jesus in seiner kos­ mologisch-theologischen Rolle. Unter den vier Elementen nimmt das pneuma natür­ lich die herausragendste Stellung ein, denn sogar der Körper Jesu ist vom kosmischen Wind oder der spirituellen Energie erfüllt: (»Jeschua war ein Mensch, dessen pneuma jeden Raum erfüllte, den er betrat.« (254).

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mischt mit denen eines anderen Menschen. Durch ihren Atem befindet sich Maria noch in Übereinstimmung mit sich und dem Universum.337

Irigaray zufolge markiert die Inkarnation Christi in einer jungen Frau den Beginn einer neuen Epoche (eines neuen Zeitalters) unseres spirituellen Werdens, wobei nun eine Mutter (eine Frau) und ihr männliches Kind (ein Mann) für diese offenbarende und erlösende Aufgabe auserwählt sind. An dieser Stelle können wir uns an eine andere junge Frau und eine Jungfrau erinnern – nämlich an Antigone aus der griechischen Tradition und an Kreon, der sich entschieden hat, den diabolischen338 Weg zu gehen, indem er Antigone – als Frau – buchstäblich den Atem und die Freiheit (und die Möglichkeit, ihr Leben und ihren geistigen Atem in Zukunft mit anderen zu teilen) nimmt. Antigone stirbt, aber ihr Tod (nachdem sie selbst dieser Welt ihren Atem entzogen hat)339 hat göttlichen und erlösenden Charakter. Wir wissen, dass sowohl Hegel als auch Irigaray der Meinung sind, dass ihre Mission sogar höher sein könnte als die von Christus. Durch ihren radikal unpolitischen und damit ethischen Akt, ihrem Bruder (einem Leichnam) ein symbolisches Begräbnis zu sichern, stellt sie für uns alle die verlorene kosmische Ordnung wieder her. Da Maria nun ihren Atem mit Jesus geteilt und damit ein neues Leben – nun eines Erlösers – ermöglicht hat, wird diese Geste von ihr eine neue Möglichkeit für eine zukünftige Epoche (das sogenannte Zeitalter des Geistes) eröffnen, in der wir alle, so Irigaray, in unserem Atmen autonom werden und wir, Männer und Frauen, selbst mit dem göttlichen Atem verbunden werden.340 Auf diese Weise wird das Wesen der Religion von Irigaray bestätigt, indem sie die besondere Irigaray, Das Mysterium Marias, 13. Kreon ist ein Paradigma für das Fortschreiten des Bösen (Politik der Macht, Tyrannei, Autorität) in die Welt des freien und lebendigen Atems: »Das Diabolische, das das Lebendige pantomimisch nachahmt, atmet nicht, oder nicht mehr. Es nimmt den anderen, der Welt, die Luft weg. Es erstickt mit seinen sterilen Wiederholungen, seinen anmaßenden Imitationen, mit seinen Wünschen, die der Achtung vor dem Leben beraubt sind.« (Irigaray, Key Writings, 166). 339 Antigones Gerechtigkeit und ihr Leben haben einen kosmischen Ursprung. Kreon hat durch sein Handeln die Welt mit dem Diabolischen, mit dem Bösen der kosmischen Ordnung kontaminiert. Vgl. Ijob 34,14–15: »Wenn er auf ihn den Sinn nur richtet, / seinen Geist und Atem zu sich holt, / muss alles Fleisch zusammen sterben, / der Mensch zum Staube wiederkehren.« Es ist eben der geistige Atem oder der Atem Gottes als Vorrat des Atems für die Menschheit, wie wir später sehen werden. 340 Irigaray, Key Writings, 168. Irigaray sagt noch: »Gott ist wir, wir sind göttlich, wenn wir Frau und Mann in vollkommener Weise sind.« (169). 337

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Rolle der Frau anerkennt, die in einer engeren Beziehung zum Hauch des Lebens steht. Doch Erleuchtung durch die Kraft der Selbstaffektion zu errei­ chen, ist ohne Gnade nicht möglich. Laut Caputo hat Jesus die Gnade in der ganzen Welt verbreitet, und wenn wir sein Gewand berühren könnten, schreibt Caputo, könnten wir diese Gnade spüren, die unter uns ist, nahe bei uns, als Energie, die in seinem Körper zirkuliert, als gefüllt mit pneuma, dem göttlichen Atem.341 Die »pneumatische« Gnade des Leibes Jesu ist verwandt mit dem ersten Atem, den er sowohl vom Heiligen Geist als auch von seiner Mutter empfängt, mit denen er geistlich durch einen »pneumatischen Bund« verbunden ist. Doch die erste Gnade, die wir alle empfangen, besteht in einer Geste der Teilhabe am Atem im Schoß unserer Mütter, wie Irigaray bereits sehr schön erklärt hat. Man könnte nun auch sagen, dass, ähnlich wie bei Jesus und seiner Geburt, Buddhas Erleuchtung und seine erlösende Rolle für die Welt, auf der anderen Seite, in einer ana­ logen Erzählung im Gaṇḍavyūha, einem Mahāyāna-Sūtra aus dem 4. Jahrhundert nach Christus, erklärt wird. Wir wissen, dass es in der indischen Mythologie von Anfang an eine sehr starke Anerkennung der sexuellen Differenz gab – sowohl bei den göttlichen Paaren in der gesamten hinduistischen (und auch vedischen) Kosmologie und im Universum als auch später im Yoga und insbesondere im hinduis­ tischen und buddhistischen Tantra. In diesem heiligen buddhistischen Text heißt Māyā, die Mutter des Śakyamuni Buddha, den Bodhisattva in ihrem Körper willkommen, der aus dem Tuṣita-Himmel in ihren Schoß steigt und als Buddha in diese Welt geboren wird. Doch Māyās Schoß ist in der Lage, noch viele andere Bodhisattvas aufzunehmen, und ihr Körper »umarmte dann die ganze Welt« und »wurde so weit wie der Äther«.342 Diese Geste der Mutter aller Buddhas, vergange­ ner, gegenwärtiger und zukünftiger, ist ein weiteres entscheidendes Zeichen für die pneumatische Verbindung zwischen einer jungen Frau und einem jungen Mann, die, wie Irigaray sagen würde, zunächst die Achtung vor dem Leben und der kosmischen Ordnung, dann die Achtung vor der Generationenordnung und schließlich die Achtung vor der sexuellen Differenzierung sichert.343 Sie alle repräsentieren und umfassen all das, was wir bewahren müssen, um das Leben Caputo, The Insistence of God, 252. Buddhist Scriptures, hrsg. von Donald S. Lopez, Jr. (London: Penguin, 2004), 132. 343 Irigaray, In the Beginning, She Was, 119–135. »Die mütterliche Genealogie begünstigt die Werte des Lebens, der Generation und des Wachstums.« (127)

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und seinen Atem in seiner Immanenz zu schützen – innerhalb des Kosmos, in uns selbst und in der Gemeinschaft.

Überwindung unserer Endlichkeit: Teilen des göttlichen femininen Hauches unter den Menschen Ich möchte dieses Kapitel mit einer Überlegung über eine Ethik des femininen Hauches abschließen. Doch zunächst müssen wir zu Nietzsche zurückkehren. Gaston Bachelard hat Nietzsche in seiner schönen und bahnbrechenden Reihe von Büchern über die vier Ele­ mente in seinem Buch über die Luft behandelt und ihn dort als Luftphilosophen dargestellt. Laut Bachelard ist die Luft untrennbar mit unserer Vorstellungskraft und Freiheit verbunden, mit der »Phi­ losophie des absoluten Werdens«, mit dem »Bewusstsein des freien Augenblicks«,344 mit dem, was sich uns in der Zukunft eröffnet. Für Bachelard ist die Luft tatsächlich der Kern unserer Freiheit. Im Prozess der Umwertung aller Werte stellen die Luft und das Atmen die wichtigsten Bestandteile dar. Für Bachelard, und das ist jetzt wirklich wichtig, betrifft Nietzsches Lehre das ganze Wesen und stellt die Transformation seiner Lebensenergie dar.345 Wir haben gesehen, dass für unser Wohnen im ontologischen Reich des reinen Atems eine neue Selbstaffektion erforderlich war, die in der Lage war, die Bewegungen des Heiligen Atems in Jesus oder einer anderen Art des kosmischen/vitalen Atems (prāṇa) in Buddha anzuerkennen und ihnen gleichsam zu folgen,346 die in der Lage war, in der Stille und im Lauschen und in engster Nähe zum reinen Atem zu verweilen. Wir müssen, wie ich bereits betont habe, einen Raum in unserem Inneren (Mikrokosmos, Körper, Psyche – wie das Atmen) pflegen, um alle Projektionen in uns selbst zu leeren oder zu vergessen, die die ethische Begegnung mit dem Anderen in seiner/ihrer Einzigartigkeit und Andersartigkeit behindern. 344 Gaston Bachelard, Air and Dreams: An Essay on the Imagination of Movement, übers. von E. R. Farrell und C. F. Farrell (Dallas: The Dallas Institute of Humanities and Culture, 2011), Kapitel 5, »Nietzsche and the ascensional psyche«, 136–137. 345 Ebenda, 127. 346 Zur Rolle von Buddha und Jesus für die Zukunft der Menschheit siehe Irigaray, Una nuova cultura dell' energia, 49. Für Irigaray stellen nämlich Buddha und Jesus ein Paradigma einer neuen globalen Gemeinschaft dar, die auf Herz, Atem, Zuhören, Wort und Gedanken basieren wird.

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Doch nun zur ethischen Welt: Hier ist die Stille der wichtigste Wert der Schwelle. Sie ermöglicht es uns, zunächst auf die Bewegun­ gen unseres inneren Atems zu hören, auf das Pulsieren (Ein- und Ausatmen) des Lebens in uns selbst (dies ist nun kein Weg der Ontologie mehr, sondern der Ethik),347 und in demselben Moment, in einer ethischen Zeitlichkeit und einem Austausch von Atmungs­ energien, die in diesem letzten Teil erläutert werden, auch auf das Pulsieren des Atems und des Lebens im anderen Wesen eingestimmt zu sein. So wird die erste Erinnerung an unsere ethische Verpflichtung geboren. Diese Bewegung und Verwandlung unserer Selbstaffektion und unseres gesamten Seins eröffnet tatsächlich eine neue philoso­ phische Disziplin – die ethische Pneumatologie – als Atmung in unserem Wesen in Verbindung mit dem anderen. Um die Ebene der Ethik zu betreten, sollten wir zunächst diese Worte von Irigaray wieder aufnehmen: Etwas ist geschehen – ein Ereignis oder eine Ankunft hat sich ereignet – eine Begegnung zwischen Menschen. Ein Atem oder eine Seele ist geboren, gezeugt von zwei anderen. Es gibt jetzt drei Lebewesen, für die uns die Modi der Annäherung, die Gesten und die Worte fehlen, um uns näher zu bringen, uns auszutauschen.348

Die Temporalität dieser ethischen Begegnung ist zweifellos eine der schwierigsten Fragen der Ethik. Es wurde auch Irigarays Konzept der Ekstase der Begegnung erwähnt, als radikalisierter intersubjek­ tiver Modus des Zwischen-zwei, der auf unserer Selbstaffektion, der sexuellen Differenz und dem gegenseitigen mesokosmischen Atmen beruht. In meiner Selbstaffektion (basierend auf Stille und Zuhören) bin ich zunächst von meiner grundlegenden ontologischen 347 Zur Ontologie des Atmens in Bachelards und insbesondere in Merleau-Pontys Denken siehe Petri Berndtson, »The Inspiration and Expiration of Being: The Immense Lung and the Cosmic Breathing as the Sources of Dreams, Poetry and Philosophy«, in: Thinking in Dialogue: Paths into the Phenomenology of Merleau-Ponty, hrsg. von K. Novotný, T. S. Hammer, A. Gléonec und P. Špecián (Bukarest: Zeta Books, 2010), 281–293. Merleau-Ponty sagt in seinem Essay Eye and Mind: »Wir sprechen von ›Inspiration‹ (Eingebung, Einatmen, Luftholen), und das Wort ist wörtlich zu nehmen. Es gibt wirklich eine Inspiration und eine Exspiration (Ausatmen) des Seins, eine Respiration (Atmen) im Sein, eine Aktion und eine Leidenschaft, die so schwer auseinanderzuhalten sind, dass es unmöglich wird, zu unterscheiden, wer sieht und wer gesehen wird, wer malt und was gemalt wird.« (zit. nach Berndtson, »The Inspiration and expiration of Being,« 282). 348 Irigaray, Welt teilen, 51.

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Achtsamkeit durchdrungen – gegenüber dem Atem als Ausatmung und Einatmung des Seins/Seienden, als Paradigma einer Progression der ersten Differenz (Pulsation, Leben; sexuelle Differenz); dabei bin ich jedoch immer schon von meiner Endlichkeit verwundet und meine ontologische Verbindung zum reinen Atem ist unterbrochen. Diese Wunde ist unsere Sehnsucht, mehr zu werden, als wir in diesem gegenwärtigen Moment sind, und in unserer Spiritualität zu erwachen (spiritus = Atem und Atmung), was aber nur mit Hilfe des anderen möglich ist, der meine endliche Welt transzendiert. Die ontologische Achtsamkeit und meine Selbstaffektion verwandeln sich so in eine ethische Achtsamkeit, für die es eine Reserve des Atems braucht, die ich nun mit dem anderen teilen kann. Unsere Aufgabe ist es, eine verkörperte Seele zu werden, in der es eine Imagination des zukünftigen Ereignisses, der Ankunft des Anderen gibt – wofür in der Tat eine Revolution unserer Gefühlskultur notwendig ist.349 Dies ist der Beginn jeder religiösen Geste, wenn Religion als horizontale und nicht als vertikale Verbindung zwischen zwei Subjekten und als neue und durch dieses Mit-Atmen entstehende horizontale Ordnung innerhalb von Gemeinschaften verstanden wird. Diese Abkehr von der Vertikalität bedeutet nicht, dass wir den Namen »Gott« in dieser Begegnung nicht mehr verwenden könnten. Gott ist nun der Name für die Reserve des Atems oder besser gesagt Übermaß an Atem, der uns als vitale Atem-Energie als Geschenk oder Gnade des Augenblicks unserer Begegnung mit dem anderen zur Verfügung steht. Wie wir gesehen haben, gibt es in der Trinität ein Ausatmen und Einatmen als geheimnisvolle Logik der trinitarischen Ko-Relatio­ nalität und Mit-Atmung (conspiratio) der drei göttlichen Personen: Vgl. hier meinen Essay »Breath of hospitality: Silence, listening, care«: »[U]ns fehlt eine echte Kultur des Mitgefühls und der Fürsorge; unserer "globalisierten" Kul­ tur mangelt es an Sensibilität für die persönlichen, sozio-politischen und ökologischen Bedürfnisse der anderen. Vielleicht bräuchten wir eine Art persönliche Revolution, die im intimsten Sinne – weil sie zuerst in uns selbst stattfindet – einen neuen Raum für die Akzeptanz des Anderen schaffen könnte. Bei dieser neuen Kultur der Gastfreund­ schaft, die wir uns wünschen, geht es nicht darum, irgendeinen politischen Konflikt zu lösen, und sie kann auch nicht einfach durch den Austausch von Worten innerhalb von Diskursen oder Kommunikationsmitteln erreicht werden, die wir bereits kennen und verwenden. Diese Kultur verlangt von uns, dass wir unsere Sinne neu auf den anderen ausrichten, und dafür brauchen wir eine neue Kultur der Intersubjektivität. Doch bevor wir imstande sind, den anderen in ihrer oder seiner Subjektivität zu akzeptieren, werden wir zunächst eine neue Kultur der Sensibilität brauchen, die auf unserer Selbstaffektion beruht.« (2 ff.). 349

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Überwindung unserer Endlichkeit

bei Schelling ist dies sichtbar im ursprünglichen und anarchischen Ausatmen und Einatmen des Grundes selbst, dem Pulsieren seines archetypischen Lebens. Versuchen wir nun, diese trinitarische Pneu­ matizität in einem radikalisierten ethisch-spirituellen Sinn zu disku­ tieren. Im Markusevangelium (Mk 15,37) lesen wir über den Tod von Jesus Christus: »Jesus aber schrie laut auf. Dann hauchte er den Geist aus (eksepneusen).« Ich werde hier die These wagen, dass von diesem Moment seines letzten Atems bis zum Moment der Auferstehung und der Übergabe seines Atems an die Jünger das Mitatmen in der Dreifal­ tigkeit in der Krise ist. Es gibt nämlich zwei Momente, die wir hier anerkennen müssen: Erstens, ab dem Moment seines letzten Hauchs, der in die Welt gehaucht wird, wenn Jesus für uns stirbt, nimmt auch die Menschheit an dieser trinitarischen Krise teil; sie ist ohne Atem­ reserve und wird Zeuge der kosmischen Krise oder des Eintretens einer kosmischen Nacht (Mk 15,33: »Als die sechste Stunde kam, brach über das ganze Land eine Finsternis herein. Sie dauerte bis zur neunten Stunde.«). Zweitens: Im Glauben einer Frau – nämlich Maria Magdalena – wird der auferstandene Jesus zunächst wieder erschei­ nen und erst später seinen Jüngern die Reserve des Atems wieder einhauchen (Joh 20,22 – »Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sprach zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist!«). Wir wissen, dass für Irigaray Maria die »geistige Vorfahrin und geistige Mutter Jesu« ist,350 und dass der auferstandene Jesus den Heiligen Geist und damit die geistige Autonomie zu Maria Magdalena, der mater familias oder dem ersten Apostel351, und dann über sie und irgendwie auch aus ihr zu der gesamten Menschheit bringt. Im Johannesevangelium erleben wir den Höhepunkt der trinitarischen Krise, wenn Jesus in der berühmten ›noli me tangere‹-Passage (me mou haptou) zu Maria Magdalena sagt, sie solle ihn nicht festhalten, »denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen« (Joh 20,17). Nach meiner Inter­ pretation dieser Passage bezieht sich das Verbot, seinen Körper zu

Irigaray, Key writings, 152 (»The Redemption of Women«). Siehe auch ihre auf­ schlussreichen Gedanken zur Himmelfahrt Mariens auf S. 163: »[…] deren Jungfräu­ lichkeit es ihr erlaubt, in den Himmel aufzusteigen, ohne dass es einen Tod oder eine Auferstehung wie bei ihrem Sohn gibt.« 351 Vgl. Elizabeth Schüssler-Fiorenza, In Memory of Her: Feminist Theological Recon­ struction of Christian Origins (Minneapolis: Fortress, 1983), 333. 350

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Irigaray / Hauch

berühren, nicht auf die Logik der Haptik,352 sondern vielmehr auf eine ursprüngliche und eigenwillige pneumatische Bedeutung. Hier sind wir Zeuge einer Berührung innerhalb eines ethisch-pneumatischen Intervalls zwischen zwei autonomen Körpern und Atemzügen, einer Begegnung göttlichen Charakters, die eine neue geistige Verbindung einleitet – das Kommen der Liebe in diese Welt, wenn Männer und Frauen zu geistigen Brüdern und Schwestern in Liebe werden, indem sie ihren spirituellen Atem in der zukünftigen Gemeinschaft mitfühlend teilen. Doch diese Berührung ohne Berührung bedeutet, dass wir zwei Subjektivitäten, zwei (auch durch sexuelle Differenz und die archaische Differenz in chóra gekennzeichnete) Selbstaffektionen haben – die eine bereits göttlich, die andere im Werden begriffen –, die nun zum ersten Mal in der Transzendenz voneinander wohnen; nur aus diesem Intervall des Atems zwischen ihnen können reine Liebe und Mitgefühl (agape, caritas) hervorgehen. Und genau dieses Ereignis markiert den Beginn des dritten Zeitalters der Menschheit – das Zeitalter des Geistes, in dem die Aufgabe der Menschheit selbst darin bestehen wird, »göttlicher Atem zu werden«.353 Das Kommen dieser Epoche des Atems beruht also zugleich auf der Selbstaffektivität und auf der Liebe, wie sie in dieser eigenwilligen Begegnung zwischen Jesus Christus und Maria Magda­ lena sichtbar wird. Die Reserve des Atems ist nun wiedergewonnen – jene Reserve, die als einzige die Wunde der Welt als Bruch im Innersten unseres Seins heilen kann. Unsere Aufgabe ist es, diese Reserve (Glaube, Gnade, unsere Seele) für uns selbst zu holen, spirituell zu werden in der Weise, dass wir den Hauch der Liebe einatmen (oder in uns hineinlassen) und dann mit anderen teilen, in einer Begegnung der spirituellen Energien – die nun an sich göttlich ist –, als Austausch des reinen Atems in seinem ursprünglichen Rhythmus von Ausatmen und Einatmen. Dies ist nun ein Mit-Atmen zweier autonomer Subjekte in einer Atmosphäre der Freiheit und der Gnade.

352 Zur Haptik in Verbindung mit dem Leichnam Christi im Grab vgl. Gregg Lam­ bert, »Untouchable,« und Derrida and Religion, hrsg. von Y. Sherwood and K. Hart (New York/London: Routledge, 2005), 363–374. 353 Irigaray, Key writings, 168 (»The Age of the Breath«).

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(Chóra)

(Chóra) Am Ende des Kapitels über die Nebenfrau des Leviten und Maria wurde bereits angedeutet, dass chóra im christlichen Kontext in der triadischen Struktur in der Art einer unsichtbaren Spur präsent ist, als Zeichen eines anarchischen Pulsierens des Lebens, als Eindruck seiner formlosen Präsenz im Herzen der Dreieinigkeit. Dieser unbestimmte Ort ist das, was im Laufe der Geschichte durch gewaltsame Formen des Wohnens angegriffen und bedroht wurde (gewaltsam gegenüber der gesamten Schöpfung) und was nur durch Marias matrixiale Essenz zurückkehren konnte. Agamben formuliert diesen Gedanken über chóra in seinem Werk Die kommende Gemeinschaft, wenn er Amalrich von Bena und seine »häretische« Lehre von Gott als chóra erwähnt: Dies und nichts anderes war der Inhalt der häratischen Lehre, für den die Schüler des Amalrich von Bena am 12. November 1210 auf den Scheiterhaufen gingen. Amalrich interpretierte den Satz des Apostels, der besagt, das »ein Gott« sei, »der da wirket alles in allen«, als eine radikale theologische Ausarbeitung der Platonischen Lehre von der chora. Gott ist in jedem Ding als der Platz, den es einnimmt, er ist mithin die Begrenzung und Örtlichkeit jedes Seinden. Folglich ist das Transzendente kein höchstes Wesen, das über den Dingen zu suchen wäre: Schlechthin transzendent ist vielmehr das Statt-Finden eines jeden Dinges – seine absolute immanenz.354

Die radikale und häretische theologische trinitarische Botschaft von Amalrich besteht darin, dass sich für ihn Gott in Abraham, der Sohn in Marias Schoß und der Heilige Geist in Amalrich und seinen Jüngern inkarniert hat. In dieser Hinsicht ist Amalrich ein direkter geistiger Vorgänger von Luce Irigaray, die in ihrem »Zeitalter des Atems« die gleiche Art von Genealogie der Entwicklung oder Evolution des Raums (oder chóra) Gottes vorstellte. Auf das erste Zeitalter, in dem Gottvater die Menschheit erschuf, die in Sünde fiel, folgte das zweite, in dem Jesus von Maria für die Menschheit geboren wurde (Maria und Jesus sind also die neue Eva und der neue Adam), und dieses Zeitalter brachte die Hoffnung auf Erlösung mit sich. Das dritte Zeitalter, das 354 Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft, übers. von M. Hardt (Minnea­ polis/London: University of Minnesota Press, 2009), 19. Es handelt sich um einen Passus aus Paulus’ Erstem Brief an die Korinther (1 Kor 15,28: »Wenn ihm dann alles unterworfen ist, wird auch er, der Sohn, sich dem unterwerfen, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott herrscht über alles und in allem«.

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Irigaray / Hauch

auch als »Zeitalter des Atems« oder »Zeitalter des Geistes« bezeichnet wird (Irigaray verwendet beide Bezeichnungen), ist das kommende Zeitalter, in dem die Menschheit aufgrund der Offenbarung Gottes und der Inkarnation Jesu sowie durch den geistig-ethischen Austausch des Atems zwischen Mann und Frau selbst zum göttlichen Atem wird. In völliger Übereinstimmung mit Amalrichs Lehre schreibt Irigaray, dass es im dritten Zeitalter »einen Moment geben wird, in dem das ganze Universum zu Gott zurückkehrt«. Damit steht ihr Gedanke in voller Übereinstimmung mit der Vorstellung von chóra als der primären Matrix Gottes (in Form des subjektiven und objektiven Genitivs). Dieser Gedanke ist für die heutige Zeit von entscheidender Bedeutung, da er es ermöglicht, die gesamte Schöpfung als einen Prozess des spirituellen Austauschs göttlicher Energien zu betrach­ ten, einschließlich der Natur und ihrer kostbaren Wesen, was der wesentliche Bestandteil sowohl von Amalrichs als auch von Irigarays Lehren ist.355 Wie bereits angedeutet, ist für Platon im Timaios die chóra mit der so genannten dritten Gattung verbunden ("Die dritte Gattung ist der Raum, der immer existiert"; 52a; chóra ist hier ein Ausdruck für Raum). Auf die Frage, was ihre Natur ist (bei Platon ist chóra immer im weiblichen Element angesiedelt), antwortet er wie folgt: Welche Bedeutung also ist ihr ihrem Wesen nach beizulegen? Etwa der folgende: sie ist als Empfängerin und gleichsam Amme alles Werdens anzusehen. (49a) [S]ie muß immer als dasselbe bezeichnet werden; denn sie wird überhaupt niemals ihrer eigenen Bestimmung untreu. (50b-c) [U]nd es hat wohl einen guten Sinn, wenn wir das Aufnehmende vergleichen mit der Mutter, das Urbildliche mit dem Vater, und das zwischen beiden Stehende mit dem Kinde. (50d)

Chóra ist also die Ernährerin und Amme des Weltalls (88d), die Urmatrix/der Urschoß des Wohnens, »das Aufnehmende« (53a) im Prozess des Übergangs zum Sein.356 Aber wie sollen wir nun die chóra am Horizont von Luce Irigaray und ihrer Interpretation der Atmosphäre der Freiheit und der Gnade Irigaray, Key Writings, »The Age of the Breath«, alle Zitate auf S. 168. Vgl. auch: »Gott ist wir, wir sind göttlich, wenn wir Frau und Mann in vollkommener Weise sind.« (169). 356 Platon, Timaios, 73 und 78 (49a und 52a). 355

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(Chóra)

Mariens denken? Unter denjenigen, die es philosophisch gedacht haben, stehen Jacques Derrida und Julia Kristeva im Vordergrund. Letztere versteht chóra zunächst im griechischen Sinne als das, in dem sich unser Diskurs bewegt und dem niemals eine axiomatische Form gegeben werden kann. Für Kristeva kommt chóra also vor dem Zeichen oder dem Signifikanten und steht in der Differenz zwischen dem Semiotischen und dem Symbolischen auf der Seite des Ersteren. Für Kristeva – und das ist für uns wichtig – ist sie semiotisch näher am Körper und den diskreten Mengen von Energiebewegungen in ihm.357 Chóra kann also situiert, doch keineswegs positioniert werden. Derrida geht noch einen Schritt weiter und stellt die chóra in den Mittelpunkt der Frage nach Gott und unserem Bekenntnis zu Ihm (hier verwende ich absichtlich die männliche Form der Anrede). Dass chóra in der Nähe des Weiblichen angesiedelt ist, ist schon bei Platon unmissverständlich klar (die Metaphern von Gefäß, Empfän­ gerin, Amme, Gebärende, Mutter), und auch bei Derrida wird chóra mit weiblichen Pronomina bezeichnet. Derrida spricht über chóra wie folgt: Sie gibt nicht Statt (donne lieu), so wie man etwas geben würde, sie erschafft nichts und bringt auch nichts hervor, nicht einmal ein Ereignis als eines, das Statt findet. Sie gibt keine Anonrdung und macht keine Verheißung. Sie ist radikal ahistorisch, denn nichts widerfahrt durch sie und nichts widerfahrt ihr. Platon insistiert auf ihrer notwendigen Indifferenz: um alles aufzunehmen und sich von dem, was sich in ihr einschreibt, markieren oder affizieren zu lassen, muß sie ohne Form und ohne eigene Bestimmung bleiben. Doch auch wenn sie gestaltlos (amorphon, 50 d) ist, so bedeutet das weder Mangel noch Privation. Nicht Negatives und auch nichts Positives. Khora ist unempfindsam (impassible), aber sie ist weder passiv noch aktiv.358

Somit steht chóra in nächster Nähe mit jenem Bereich, den ich schon mehrmals als Bereich des Formlosen (cháos als Archätypus des ursprünglichen Daseins), aber doch Kreativen bezeichnet habe, und damit von einer geheimnisvollen Abwesenheit, Verheißung und Hoffnung, kurz – von Wohnen in Frieden – zeugt.359 Als Metapher für The Kristeva Reader, 91 ff. Jacques Derrida, Wie nicht sprechen (Wien: Passagen Verlag, 2006), 69. 359 Vgl. hier Graham Ward, »Deconstructive Theology«, in: The Cambridge Com­ panion to Postmodern Theology, hrsg. von K. Vanhoozer (Cambridge: Cambridge University Press, 2003), 85. Doch Ward ist hier äußerst kritisch und vergleicht

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Irigaray / Hauch

den Raum und für die Ordnung des Wohnens einer substantivieren­ den (sexuellen) Differenz360 ist chóra schließlich als unsichtbare Spur (S) und (mit)ewiger Ursprung der Matrixialität präsent. Chóra ist die kosmische Gebärmutter, der Schutzraum des Werdens und Wohnens, unverwundbar gegen das Böse dieser Welt.361

diese Konstellation der Unentscheidbarkeit (undecidability) mit Hegels schlechter Unendlichkeit bzw. Nihilismus: »The future is endlessly coming; the hope is then never arrived at. It is always only arriving. […] Différance on such a reading is a form of what Hegel would call the bad infinite. If this third position is correct, then we are close again to a nihilism, for, while decisions can be made and acted upon, decisions as such are rendered local, pragmatic, and fundamentally, arbitrary.« Ward scheint hier in einer dekonstruktiven Schleife gefangen zu sein, denn er lässt sich nicht von der Atmosphäre oder Konspiration des Friedens berühren, die durch die chóra und ihre stille Abwesenheit ausgeübt wird (zur Bedeutung von »Konspiration« siehe meine Ethik des Atems, Kap. über Schelling). 360 Ich danke John Caputo für den Hinweis auf die Verbindung von chóra (wie ich sie im Kapitel über die Unbekannte von Bethlehem entwickelt habe) und der Differenz. 361 Eine interessante Parallele zu diesem Gedanken findet sich in Untie the Strong Woman by Clarissa Pinkola Estés (Boulder, CO: Sounds True, 2013). In diesem Buch, das ganz der Großen Muttergöttin und der Kraft ihrer mitfühlenden Zuneigung gewidmet ist (sowie verschiedenen volkstümlichen Varianten von Maria und ihrer Verehrung wie der Schwarzen Jungfrau), wird im Kapitel über den aztekischen Kaiser Moctezuma Xilonen (Chicomecoatl) als Göttin Mutter des Mais vorgestellt. Nach Ansicht der Autorin war diese Große Mutter der alten Aztekenvölker diejenige, die alle ihre Kinder liebte und ernährte, und in der Schlüsselpassage, die sich auf Moctezumas Hinrichtung der eigenen Seher (sog. Träumer), die seinem Reich ein schlechtes Ende prophezeiten, bezieht, schreibt Clarissa Pinkola Estés folgende Worte: »Sie waren sich dessen wenig bewusst, dass sie zwar Menschen töten konnten, nicht aber die Mutter, die in der einfachsten, gewöhnlichsten Nahrung der Indios steckte, dem Samen des Lebens, einem einfachen Maiskorn.« Und über noch schlimmere Massaker, die durch die Conquistadores folgten: »Das Land und die Menschen wurden besiegt, doch die Große Mutter kann nicht besiegt werden.« (72) Dies ist ein äußerst wichtiger Gedanke. Vgl. auch ihre feinfühligen und bedeutenden Worte zur Schwarzen Maria: »Die Schwarze Madonna ist in all ihren Beschreibungen dafür bekannt, dass sie Lähmungen, verwundete Frauen, verwundete Männer und verwundete und missbrauchte Kinder heilt.« (149; meine Hervorhebung). Es scheint, dass die Kraft für die Erneuerung der katholischen Kirche angesichts der allzu zahlreichen und unfassbar grausamen sexuellen Missbräuche an Kindern (den einzigen Geschöpfen dieser Welt, die der Güte der Menschen bedingungslos vertrauen und an sie glauben) gerade in der neuen Rolle Mariens in ihrer ebenfalls neuen theologisch-ontologischen Disposition gefunden werden muss, die auch Gegenstand meines Buches ist. Nur so ist es möglich, Kindern und ähnlich gefährdeten Personen einen bedingungslosen Schutz zu gewähren.

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Abschließendes Kapitel

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Antigone / Jesus

Hegels unglückliches Verständnis von Antigones Ethik Hegel spricht in der Ästhetik von der Antigone als »einem der aller­ erhabensten, in jeder Rücksicht vortrefflichsten Kunstwerke aller Zeiten«.362 Drüber hinaus verglich er sie mit Sokrates und Jesus, und zahlreiche Philosophen, die sie auf verschiedene Weise deuteten – durch die Sprache der Psychoanalyse, des Feminismus, der Philoso­ phie, der Politologie, des Rechts, der Theologie usw. –, erkannten in ihrer Geschichte ein Vorbild revolutionärer Berufung zur Gerechtig­ keit oder höchsten Liebe.363 Mit ihren archaischen, doch gleichzeitig allgemeinen mütterlichen Gesten der Fürsorge und Zärtlichkeit (Kris­ teva), mit entschlossenen und zugleich erhabenen Gesten des Mitge­ fühls gegenüber ihrem toten Bruder versündigt sich Antigone gegen vermeintliche Dichotomien zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, zwischen Liebe und Tod sowie auch zwischen der Ausgeglichenheit und dem Wahnsinn, der Subjektivität und der Gemeinschaft oder der Selbstbestimmung und der Ordnung des Gesetzes. Mit der Formel Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da364 ebnet Antigone den Weg der Logik der Evangelien und führt in die Welt von Unrecht, Leid und jeder Form von Tyrannei eine neue Ethik ein. Doch bevor wir uns erneut Antigone zuwenden, müssen wir Sophokles' tragisches Paradoxon umreißen, wie Hegel es in der Phänomenologie des Geistes verstanden hat. Hegel stellt Antigone in die geistliche Welt der heidnischen (griechischen, also noch nicht christlichen) Ethik, in der die Familie (repräsentiert von Antigone) 362 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik (1835–1838), https://www.textlog .de/hegel_aesthetik.html, Kap. »Die alten Götter im Unterschiede zu den neuen«. 363 Vgl. den Sammelband Feminist Readings of Antigone, hrsg. von Fanny Söderbäck (Albany, NY: SUNY Press, 2010), mit unter anderem wesentlichen Abhandlungen über Antigone der Autorinnen Tine Chanter, Luce Irigaray, Judith Butler, Bracha Ettinger und Julia Kristeva. 364 Sophokles, Antigone, v. 523: Οὔτοι συνέχθειν, ἀλλὰ συμφιλεῖν ἔφυν.

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Antigone / Jesus

und die polis (repäsentiert von Kreon) einander ausschließen: Die Partikularität des Familienlebens ist mit der Universalität der polis unvereinbar und das Drama von Sophokles beruht laut Hegel in dieser tragischen Dichotomie.365 Die griechischen Penaten stehen Hegels universalem Geist gegenüber. Der Geist muss sich in der politischen Gemeinschaft und ihren Bürgern (Männern – wie im Falle der grie­ chischen und auch modernen, doch noch immer vordemokratischen christlichen und westlichen Welt der Zeit von Hegel) inkorporieren. Somit ist bei Hegel der Konflikt zwischen göttlichen und menschli­ chen Gesetzen eigentlich ein Konflikt zwischen den Geschlechtern in ihren vorbestimmten Rollen. Während Männern beschieden ist, vollwertige Bürger zu werden, sind Frauen auf das Familienleben beschränkt – die Schwester soll nun als Ehefrau Leiterin des Haushalts werden. Die Beziehung zwischen Mann und Frau hat also Vorrang vor anderen familiären Beziehungen (wie Beziehungen zwischen Brüdern und Schwestern oder zwischen Eltern und Kindern). Mit der Entscheidung, dem berühmten Erlass Kreons zu trotzen, begibt sich Antigone auf verbotenes Terrain in der Ethik und Hegel wird sich mit diesem ihren (und Sophokles') Zug nie abfinden können. Um es mit seinen Worten zu veranschaulichen: Indem das Gemeinwesen sich nur durch die Störung der Familien­ glückseligkeit und die Auflösung des Selbstbewußtseins in das allge­ meine sein Bestehen gibt, erzeugt es sich an dem, was es unterdrückt und was ihm zugleich wesentlich ist, an der Weiblichkeit überhaupt seinen innern Feind. Diese [Weiblichkeit] – die ewige Ironie des Gemeinwesens – verändert durch die Intrige den allgemeinen Zweck der Regierung in einen Privatzweck, verwandelt ihre allgemeine Tätig­ keit in ein Werk dieses bestimmten Individuums, und verkehrt das allgemeine Eigentum des Staats zu einem Besitz und Putz der Fami­ lie.366

365 In unserer Lesart von Hegel stützen wir uns auf die hervorragende Kritik seines Verständnisses der Antigone, vorgestellt von Patricia J. Mills in ihrem Artikel »Hegel’s Antigone,« The Owl of Minerva 17, Nr. 2 (Frühjahr 1986), 131–52. Die Autorin argu­ mentiert, dass Hegels Interpretation »das Bühnenspiel nicht in seiner Gesamtheit berücksichtigt«; es sei »zu sehr vereinfacht, um seiner Auffassung vom tragischen Charakter des heidnischen Lebens als einem Konflikt zwischen gleichen und entge­ gengesetzten Werten zu entsprechen«. (137). 366 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993), 352–53.

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Hegels unglückliches Verständnis von Antigones Ethik

Doch Hegel meint, dass unter dem Firmament seines Konzepts der Sittlichkeit Antigone immerhin die göttlichen Gesetze manifestiert: Als Frau ist sie den göttlichen Gesetzen nahe – laut Hegel hat nämlich »[d]as Weibliche […] als Schwester die höchste Ahnung des sittlichen Wesens; zum Bewußtsein und der Wirklichkeit desselben kommt es nicht [...]«.367 Während ethisch das Leben der Frau in der Rolle der Ehefrau nicht rein sei, ändere sich das in ihrer Beziehung zum Bruder. Hegel versuchte, seinen ansonsten männlich angeeigneten Begriff des Geschlechtsunterschieds zu richten, indem er die Bezie­ hung zwischen Bruder und Schwester als ethisch reines Beispiel des Gleichgewichts zwischen den Geschlechtern darstellte, das auf ihrer gemeinsamen Blutesabstammung und der beidseitigen Abwe­ senheit sexuellen Verlangens basiert (später wird diese Abwesenheit physischer Leidenschaft zum Ideal in der geistigen Verbundenheit innerhalb der christlichen Ehe). Unter diesem Aspekt ist für Antigone der Verlust des Bruders unwiederbringlich, und doch ist auch diese Beziehung beschränkt – idealerweise müsste der Bruder aus dem Bereich der göttlichen Gesetze in den Bereich der menschlichen Gesetze, der polis übergehen. Antigone handelt vielleicht aus reiner ethischer Intuition heraus, verbunden mit ungeschriebenen göttli­ chen Gesetzen, und doch, so Hegel, kann sie nicht (oder darf sie nicht?) die eigenen Beschränkungen überwinden. Wir können uns also fragen – ist denn Antigone mit der Bestattung ihres toten Bruders nicht zweimal in die höheren geistigen Ordnungen eingedrungen? 367 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 336. P. Mills lehnt diese ethische Konstellation von Hegel natürlich ab und meint, dass Antigone in ihren Handlungen »einen mora­ lischen Mut besitzt, der es ihr erlaubt, eine Handlungsweise zu wählen, obwohl diese sie zum Tode verurteilt. Während Hegel behauptet, die Intuition der Schwester für das ethische Leben sei dem Tageslicht des Bewusstseins nicht zugänglich, ruft der Chor in Sophokles' Stück der Antigone zu: »Dein Tod ist das Werk deiner bewussten Hand.« (Mills, »Hegel’s Antigone,« 141). Und das endgültige Urteil von Mills über Hegels Fehlinterpretationen der Antigone lautet: »Mit der Begrenzung der Frau ist eine Begrenzung des Hegel’schen Systems verbunden. Hegels Universelles ist notwendi­ gerweise männlich, und das Männliche ist nicht universell. Die Menschheit ist sowohl männlich als auch weiblich, und der Anspruch, die Universalität der menschlichen Erfahrung zu erfassen, muss die Erfahrung und Teilhabe der Frau außerhalb der Sphäre der Familie berücksichtigen: Er muss eine umfassendere Darstellung der Antigone ermöglichen, als Hegel sie bietet.« (152). Seltsamerweise steht Kreon nach Bernard Henri Lévys Lesart des Sophokles-Stücks für die staatliche und kosmische Ordnung, während Antigone deren negativen, d.h. nihilistischen Aspekt repräsentiert. Bernard Henri Lévy, The Testament of God, übers. von George Holoch (New York: Harper & Row, 1980).

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Antigone / Jesus

Erstens, weil sie Kreons staatsmännische Befehle nicht befolgt hat, hat sie als Frau die ethische Ordnung der Hegel'schen Sittlichkeit verletzt; zweitens, weil sie (vermeintlich) in ihrem weiblich-intuitiven ethischen Trieb gefangen blieb, hat sie sozusagen ihren Bruder (bzw. seine Leiche) erlöst (und nicht nur für ihn gesorgt, was naturgemäß zu den göttlichen Pflichten einer Schwester gehört, wie es die göttlichen Gesetze bestimmen, die die Familie regeln und sie auch ins Univer­ selle einordnen) und eine neue überethische Ordnung eingeführt, die weder ihrer Schwester Ismene noch irgendeinem ihrer männlichen Verwandten noch, letzten Endes, Kreon zugänglich war.368 Antigone überschreitet die Grenzen sowohl des Lebens als des Todes. Doch dies durfte nicht zugelassen werden – weder in der griechischen polis noch in der hegelianischen(-christlichen) Welt. Wie Patricia Mills sagt, überschreitet Antigone klar und offen »die von Hegel aufgestellten Grenzen des Frauseins«.369 Wir werden nachfolgend diese höchsten erlösenden Eigenschaften von Antigones Taten behandeln, die also für Hegel nicht zugänglich waren. Wir können das Lesen von Hegel mit der Behauptung abschließen, dass Antigone in diese Welt ein unbekanntes Gesetz einbringt. Deshalb können wir in dem Sinne auch

Vgl. Sean Ireton, An Ontological Study of Death: From Hegel to Heidegger (Pittsburgh: Duquesne University Press, 2007), 55: »Die Tat der Antigone ist also dialektisch, denn sie bewahrt die annullierte Existenz ihrer Sippe und erhebt das singuläre Familienmitglied auf die Ebene des universellen Geistes.« 369 Mills, »Hegel’s Antigone,«, 143. Interessanterweise, und wie von Hannes Charen in seinem Artikel »Hegel Reading Antigone«, Monatshefte 103, Nr. 4 (2001): 504−516, und wie auch von Derrida in seinem Buch Glas (Totenglocke) aufgedeckt, überschritt Hegel selbst diese Dichotomie zwischen Familie und Staat: nach zehn Jah­ ren der Ungewissheit nahm er seinen unehelichen Sohn Ludwig in seine Familie auf. Hegels dritter (eigentlich sein erstgeborener, jedoch unehelicher) Sohn, Georg Ludwig Friedrich Fischer (1807−1831), war das Ergebnis einer Beziehung mit seiner Vermie­ terin Christiane Burkhardt (seine beiden ehelichen Söhne waren Karl Friedrich Wil­ helm, geb. 1813 und Immanuel Thomas Christian, geb. 1814). Ludwig wurde im Jahr der Veröffentlichung der Phänomenologie des Geistes geboren und erst 1817 von sei­ nem Vater anerkannt. Derrida bezieht sich nun auf Hegels Sohn Ludwig und spielt auf Antigone an, indem er feststellt: »Gibt es nicht immer ein vom System ausge­ schlossenes Element, das den Möglichkeitsraum des Systems sichert?« S. Jacques Derrida, Glas (New York: University of Nebraska, 1990), 162; zitiert nach Charen, »Hegel Reading Antigone,« 510. Hegel holt also seinen Sohn in die Familie zurück, obwohl dies streng gegen die menschlichen Gesetze verstößt, die außerehe­ liche Kinder verbieten. Deshalb markiert Antigone in Hegels System »das, was das System nicht ertragen kann, das Versagen der Position, das Versagen des Urteils. Antigone ist zu viel.« Charen, »Hegel Reading Antigone,« 514. 368

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Hegels unglückliches Verständnis von Antigones Ethik

nicht mit der Interpretation von Martha Nussbaum einverstanden sein, die im Werk Zerbrechlichkeit des Guten beim Lesen der Antigone und in (zu großer) Anlehnung an Hegel und andere kritische Deuter der Geste der Antigone behauptet, dass sowohl Kreons als auch Antigones Taten das Resultat »einer rücksichtslosen Vereinfachung der Welt der Werte, durch die widersprüchliche Verpflichtungen effektiv beseitigt werden«, seien.370 Diesem Bereich der Ethik sehr nahe ist auch die Interpretation von Paul Ricœur, der nämlich in einem seiner Schlüsselwerke ein kürzeres Kapitel gerade Antigone zudenkt.371 Im Kapitel, das er seinem tragisch verstorbenen Sohn widmet, denkt er über Antigones Ethik nach und stützt sich eben auf das vorgenannte Buch von Martha Nussbaum, die Antigone klar in den Kontext der tragischen Dichotomie mit Kreon und der gegenseitigen Enge ihres vermeint­ lich absoluten Handelns stellt. Andererseits ist Ricœur bereit, der Antigone, die er nun im Sinne ihrer Schwesterlichkeit (als Ausdruck grenzenloser Hingabe an ihre Familie) versteht, einen gewissen Vor­ teil oder besonderen Raum, der auf althergebrachten ungeschriebenen Gesetzen basiert, anzuerkennen. Doch bezeichnet er im Abschluss seiner kurzen Interpretation ihre Tat wieder als reduktive Geste, die (nur) auf der Forderung nach Bestattung ihres Bruders basiert: »Man muß Hegel darin zustimmen, daß die Weltsicht der Antigone nicht weniger verkürzt und inneren Widersprüchen unterworfen ist als die Kreons,« schreibt Ricœur.372 Damit ist seiner Meinung nach die äußere Grenze des Menschlichen erreicht, die auch Antigones Handlung eingrenzt. Martha Nussbaum hat natürlich recht, wenn sie Kreons Beharren beim Verbot der Bestattung des Polyneikes seiner Sorge für den Staat zuschreibt. Laut den griechischen Gesetzen, die die Schuld des Verräters über die Schuld des Feindes stellten, konnte ein Verräter nicht innerhalb der äußeren Grenzen des Stadtstaates bestattet wer­ den, da man ihm dadurch die Würde anerkannte, die er durch sein Vergehen nicht verdiente. Doch Kreon, obwohl er als Herrscher für das Wohl des Staates sorgen und damit gerecht sein wollte, war nicht verpflichtet, dieses Begräbnis als solches zu verbieten – was 370 Martha C. Nussbaum, The Fragility of Goodness: Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 2001), 63. 371 Vgl. Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, 293−302. 372 Ebenda, 296.

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Antigone / Jesus

eine Bestattung außerhalb der Stadtgrenzen und eine gleichzeitige Vereinbarung über eine von der Familie des Opfers (deren Teil er auch er selbst ist – darin besteht seine Tragödie) zu organisierende Bestattung bedeuten könnte. Kreon widersetzte sich ohne Zweifel entschlossen und unerbittlich den Göttern – obwohl zur Wehr der Polis. Andererseits schreibt aber Martha Nussbaum der Antigone – aufgrund ihrer berühmten Worte, mit denen sie die Liebe zu ihrem Bruder als wichtiger als die Liebe zum Mann oder Kind erklärt – »eine seltsam rücksichtslose Vereinfachung der Pflichten, die weniger einem bekannten religiösen Gesetz als vielmehr den Erfordernissen ihrer eigenen praktischen Vorstellung entsprach«,373 zu. Also auch wenn sie sich nicht auf die ungeschriebenen Gesetze berufen will, laut denen man zumindest den ausgesetzten Leichnam von Antigones Bruder hätte schützen müssen, stellt sie bei der Deutung des Leids der Danaë und beim Lesen des vierten Chorlieds trotzdem diese Behauptung auf, die ihre Interpretation der Antigone in Frage stellt: In einer Welt, in der Väter auf der Suche nach Sicherheit und Kontrolle ihre Töchter einsperren und versuchen, die Geburt ihrer Enkelkin­ der zu verhindern, müsste die Rettung aus einer außermenschlichen Quelle kommen.374

Luce Irigaray versteht die Antigone im Gegenteil gerade durch die Verbindung der ungeschriebenen religiösen oder ethischen Gesetze und der Familiengenealogien, die nicht nur die Beziehungen zwi­ schen Eltern und Kindern, sondern auch die Beziehungen zwischen Geschwistern umfassen. Auf den ersten Blick ist Antigone vielleicht in der Tat in Dunkel und Tod ausgerichtet, wie Ismene meint, den Toten näher as den Lebenden, doch sie trägt etwas sehr Lebendiges in sich, etwas, was sie sich um keinen Preis nehmen lässt (oder nicht bereit ist, es der Welt zu überlassen) – nur darin kann ihr »Irrsinn« und gleichzeitige enge Verbindung mit Jesus bestehen: Antigone steht jenseits der Ontologie von Leben und/oder Tod, Licht und/oder Dunkel, Gut und/oder Böse und kann nicht auf die Dichotomie oder Sphäre der Familie und/oder des Staates reduziert werden. Ihre Forderung nach Liebe – trotz des Eindrucks unnachgiebiger Sturheit oder unvernünftiger Beharrlichkeit – ist die höchste ethische Forderung als Tochter und Schwester. 373 374

Nussbaum, Fragility of Goodness, 64. Ebenda, 77.

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Von Hölderlins Antigone zur ethischen Konspiration von Jesus und Antigone

Antigone … die in Verbindung mit natürlichen Kräften lebte, gemeinsam mit pflanzlichen Wesen und Tieren Die Wasser und Erde berührte, den Armen Almosen gab … Antigone, die sich so gerne zärtlich mit ihrer kleinen Hündin unterhielt. Und die ihren toten Bruder mit einer Kinderschaufel begraben hat, die einst die seine war … Auf dieser Welt, die von zu vielen Kreons beherrscht wird, kann Antigone nicht mehr leben.375

Von Hölderlins Antigone zur ethischen Konspiration von Jesus und Antigone Mit Hölderlin kann man in Sophokles' Antigone die erhabenste Per­ sönlichkeitseigenschaft erkennen – eigentlich die höchste menschli­ che Erscheinung – bzw. die geheimnisvollen Tätigkeiten der Seele, die sich in ihrer Selbstzuneigung (oder so genannten Selbstaffektion376) in nächster Nähe zu Gott/den Göttern befindet und doch (Antigones/der Seele) eigener kühner Potentialität des Geistes treu bleibt.377 Darin liegt der tiefere Grund von Antigones Taten der Liebe. Antigone wohnt in der Nähe der urtümlichen vorolympischen und chthonischen Göttinnen, Hüterinnen der Bereiche der Fruchtbarkeit, der Geburt, des Lebens, der Liebe und der urtümlichen matrixialen Daseinsordnungen – Metis, Erdgöttinnen, Erinnyen, Demeter, Kora/ Persephone und Aphrodite … Wir haben auch gesehen, dass Antigone mit der Erlösung ihres toten Bruders (gegen alles und alle sowie mit dem Verstoß gegen sämtliche Sittenordnungen) in diese Welt Diese Worte sind meine Hommage an Jean Anouilhs Antigone. Zum Begriff der Selbstaffektion s. Lenart Škof, »Breath as a Way of Self-Affection: On New Topologies of Transcendence and Self-Transcendence,« Bogoslovni vestnik 77, Nr. 3/4 (2017), 577−87. 377 Friedrich Hölderlin: »Es ist ein großer Behelf der geheimarbeitenden Seele, daß sie auf dem höchsten Bewußtsein dem Bewußtsein ausweicht und, ehe sie wirklich der gegenwärtige Gott ergreift, mit kühnem, oft sogar blasphemischem Worte diesem begegnet und so die heilige lebende Möglichkeit des Geistes erhält.« Friedrich Höl­ derlin, »Anmerkungen zur Antigone,« in Friedrich Hölderlin, Werke in zwei Bänden, Bd. 2, hrsg. von Günter Mieth (München und Wien: Carl Hanser Verlag, 1982), 453. S. auch Kathrin H. Rosenfield, »Hölderlins’ Antigone und Sophokles’ tragisches Para­ dox,« Poetica 33, Nr. 3–4 (2001), 465–501. 375

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ein fremdes Gesetz bringt, das nicht einmal ihrer Schwester (als paradigmatischer Frau) und auch nicht Kreon (als paradigmatischem Mann) zugänglich war. Doch die Frage bleibt – und es geht um die Frage über den Ursprung und das Schicksal der Antigone und ihrer schwesterlichen Tat. Für diese Frage von wesentlicher Bedeutung sind drei Interpreta­ tionen der Antigone, und zwar, wie sie Luce Irigaray, Julia Kristeva und Bracha L. Ettinger verstehen.378 In ihrer wunderbaren und fein­ fühligen Interpretation der Antigone schrieb Kristeva (die so wie die beiden anderen Erwähnten eine Behüterin und keine Feindin der Antigone ist – im Gegensatz zu zahlreichen anderen Interpreten und Interpretinnen) in zwei wichtigen Passagen: Christus und Maria, unterschiedlich und gemeinsam, erkennen, kurz gesagt, die souveräne Klarheit der Antigone […] Und sie laden alle Frauen, die natürlichen Mütter der Gattung, ein, den Fluss des Gebä­ rens nicht zu stoppen, sondern sich mit ihnen (Jesus und Maria) an einer der möglichen Kreuzungen der griechischen und jüdischen Erinnerung zu verbinden. […] [D]ie Jungfrau Maria vollzieht diese Verdrängung spektakulär in einer ewigen Wiederkehr, die in der Pieta gipfelt, die sie mit Jesus verbindet (…).379

Kristeva stellt somit die Antigone in die nächste Nähe von Jesus und Maria. Doch bevor wir über die Ko-Relationalität zwischen diesen göttlichen Personen nachdenken, müssen wir uns immer dieselbe Frage stellen – wo kam dieses Mädchen her und wohin führt sein Weg in seiner widerspenstigen Haltung und unwiderruflichen Tat, die aus seiner starken, doch ruhigen Selbstaffektion hervorgeht. Zum Zeitpunkt der Rückkehr auf eine Art Bühne der Ethik der ungeschriebe­ nen Gesetze – für das zweite Ritual der Bestattung ihres verstorbenen Bruders –, als Antigone am nächsten Tag vor die Wache tritt, wird ihre Ankunft somit klar von kosmischen Signifikanten des Hauchs/der kosmischen Luft geprägt:

378 Vgl. Bracha L. Ettinger, »From Proto-Ethical Compassion to Responsibility: Bes­ ideness and the Three Primal Mother-Phantasies of Not-enoughness, Devouring and Abandonment,« Athena: Philosophical Studies 2 (2006), 100–135, und ihren Essay über Antigone: Bracha L. Ettinger, »Transgressing With-In-To the Feminine,« in: Feminist Readings of Antigone, hrsg. von Fanny Söderbäck (Albany, NY: SUNY Press, 2010), 195−214. 379 Julia Kristeva, »Antigone: Limit and Horizon,« in Feminist Readings of Antigone, hrsg. von Fanny Söderbäck (Albany, NY: SUNY Press, 2010), 225.

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Dann setzen wir uns hin auf einen Hügel, Wo uns der Wind den Leichenruch nicht zublies, Und spornten dort uns an zur Wachsamkeit Und schalten, wenn sich einer lässig wies. Dies währt´ solange, bis der Sonneball Die Strahlen glühend aus des Äthers Mitte Senkrecht herniederschoß. Da plötzlich steigt Ein Wirbelwind von Boden auf zum Himmel, Stürmt durch die Ebene, entlaubt die Bäume Und füllt mit Staubgewölk ringsam die Luft. So daß wir blinzelnd unsre Augen schlossen. Als endlich dan die Windsbraut sich gelegt, Sahn wir das Mädchen bei dem Toten stehn, Schrill schreiend wie ein Vogel, der in Not Leer sieht sein Nest und seine Brut geraubt.380

Als Antigone nun mit geschlossenen Augen vor diesen Männern erscheint, ist sie auf der Erde als kosmisches Geschöpf inkarniert, und mit einer weiteren kraftvollen Metapher wird sie nun auch als Vogelmutter dargestellt, die zu einem zerstörten Nest kommt und bitterlich über ihre verlorenen Kinder weint. Die Durchführung der Begräbnisriten für ihren Bruder wird – nun zum zweiten Mal – zu einem unausweichlichen Höhepunkt der Tragödie führen: Ohne Freunde, ohne Ehemann, ohne Tränen wird sie auf den verges­ senen Pfad fortgeführt, um in einem Loch in den Felsen lebendig eingeschlossen zu werden, des Lichtes der Sonne für immer beraubt. Allein in ihrer Gruft, in ihrer Höhle, in ihrem Bauch, wo ihr diejenigen, die die Macht haben, die zu ihrem Überleben gerade ausreichende Nahrung zugestehen werden, damit der Stadt die Schmach und der Makel ihrer Verwesung erspart bleiben.381

Sophokles, Antigone, 51. Luce Irigaray, Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, übers. von Xenia Rajew­ sky, Gabriele Ricke, Gerburg Treusch-Dieter und Regine Othmer (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980), 271.

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Dies zeigt nun wiederum die genealogische Nähe von Antigone und Jesus: In der Nähe der wichtigsten kosmischen Signifikanten – von Wind, Luft, Atem und Geist – ist es für beide, Antigone und Jesus, bestimmt, ihre ethischen Aufgaben mit ihren heiligsten Gesten zu erfüllen – sowohl allein als auch gemeinsam. Jesus ruft seinen Vater an (aber wen hätte die bereits vater- und mutterlose Antigone anrufen können, von wem hätte man erwarten können, dass er sie rettet?). Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mt 27,46) schreit er mit lauter Stimme und haucht sein Leben aus. Maria Magdalena und die andere Maria betreten das in Felsen gehauene Grab Jesu, dessen Steine bereits weggerollt sind, und dort sehen sie einen jungen Mann sitzen – einen Engel, der mit einem weißen Gewand bekleidet war (Mk 16:5). Jesus stirbt, aber er kehrt aus seinem Grab/Gebärmutter (das einen neuen zukünftigen matrixialen Raum öffnet und damit belebt) zu seinen Jüngern zurück und dann haucht er in sie den Heiligen Geist, das Zeichen neuen Lebens (Joh 20,22). Jesus kehrt nun zurück – zunächst, indem er den kosmischen Atem wiederbelebt als jenen, der von Antigone bereits im Verborgenen geschützt und für die Zukunft gesichert wurde, – indem er ihn wieder in diese Welt einführt und ausgießt und so die kosmische Dunkelheit von ihren Gräbern aus mit einem neuen Glanz des göttlichen Atems erhellt, der geteilt werden soll (Mitatmen): zunächst zwischen ihm und Maria Magdalena, dann aber auch, indem er ihn mit seinen Jüngern und dem Rest der Menschheit teilt. Antigone und Jesus – wie nahe seid ihr euch denn? Seine Jünger Josef und Nikodemus nahmen […] den Leichnam Jesu und umwickelten ihn mit Leinenbinden, zusammen mit den wohlriechenden Salben (Joh 19,40) – aber wer hätte sich um Antigone kümmern können, nachdem sie – indem sie ihren Körper opferte – all ihre Sorgfalt für die Bewahrung der ältesten ungeschriebenen Gesetze einsetzte? Antigone musste sich um die Vergangenheit kümmern, um sie für die zukünftigen ethischen Missionen Jesu zu bewahren. Aber wer hätte Antigone helfen können, die bereits in ihren heiligen Handlungen – zum Schutz der ungeschriebenen Gesetze und der alten und zukünftigen Götter/Göttinnen – ihre höchsten spirituellmütterlich-matrixialen Gesten (aus ihrer »mütterlichen Berufung der Zärtlichkeit und Fürsorge«382 hervorgehend) sichtbar und nachvoll­ ziehbar gemacht hat? Könnte es die Metis oder die Aphrodite gewesen 382

Kristeva, »Antigone: Limit and Horizon,« 222.

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sein? Antigone steht am Abgrund der alten ungeschriebenen Gesetze und trauert: O weh, der Spott! Eh ich noch tot bin, warum, sprich, Bei den Göttern der Väter spottest du mir ins Antlitz? Stadt, meine Stadt, und ihr Der Stadt mächtige Bürger! O weh, Dirkes Flut, weh, du Hain meiner Wagenberühmten Stadt! Alle ruf ich als Zeugen an, alle, Wie unbeweint von Freunden, bar jeden Rechts, Ins Felsverließ ich steige, dieses unerhörte Grab für mich. O weh! Ärmste ich! Ich bin Schatten noch nicht, nicht Mensch mehr, Bin nicht dem Tod, nicht zum Leben eigen.383

Aber es gibt einen Freund in dieser zukünftigen Vergangenheit, der bereits auf Antigone wartet – ja, er ist es. Jesus hat von Schwester Antigone geträumt und von ihrer höchsten kosmisch-ethischen Hin­ gabe. Sie kannten sich von Anfang an. Jesus hat für sie gebetet und geweint, und ihr gemeinsames Atmen belebt und vollendet nun das Schicksal beider – indem es die höchsten ethischen Gesetze von Antigone und Jesus in diese Welt zurückbringt. Ihr erhabenstes kosmisch-ethisches Mitatmen (kosmische Konspiration) ermöglicht es uns, ihre geheimnisvoll heilige und fremde Sprache zu verstehen. In einem spirituellen Sinne, wie er bei Franz von Baader zu finden ist, sind die beiden Wesen, die sich in ihrem geistigen Band umarmen, »wahrhaftig in einem Atem vereint, der ihnen beiden gemeinsam ist«.384 Baader zufolge stellt diese Vereinigung einen höheren geisti­

Sophokles, Antigone, 61 f. Siehe John Trinick, The Fire-Tried Stone: An Enquiry into the Development of a Symbol (London: Wordens of Cornwall Limited in association with Vincent Stuart and John M. Watkins, 1967), 102. Zu Antigone als Verkörperung von Christus (als Wesen, das zugleich menschlich und göttlich ist) siehe Manfred Függe, Verweigerung oder Neue Ordnung: Jean Anouilhs Antigone im politischen und ideologischen Kontext der Besatzungszeit 1940–1944 (Rheinfelden: Schäuble Verlag, 1982), 390. 383

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gen Kuss dar, der heute als ein heiliges Mitatmen zweier göttlicher Wesen angesehen wird:385 In ihrer geistigen Umarmung, bilden Christus und Antigone die ewige Matrix, ein ultimatives Zeichen des göttlich durchdrungenen Mitatmens in der Liebe.

In ihrer Lesart der Antigone argumentiert Bracha Ettinger, dass die matrixiale Liebe (jetzt als gegenseitige Liebe von Jesus und Antigone) »fürsorglich und mitfühlend, aber auch schmerzhaft«386 sei. In ihrem höchsten ethischen Mitatmen, das auf der Liebe und dem Schmerz beruht, die sie erfahren haben, haben sowohl Jesus als auch Antigone einen neuen matrixialen Bund für diese Welt

In der Dissertation des finnischen Atmungsphilosophen und meines Mitatmers Petri Berndtson finden wir folgende Anmerkung zum Phänomen des Atem-Kusses: »Es ist auch wichtig, hier in Bezug auf diesen christlichen Kontext der Konspiration zu erwähnen, dass ursprünglich der christliche Begriff der »conspiratio« seinen Anfang bereits im ersten Jahrhundert des Christentums hat, wie Ivan Illich schreibt: In der christlichen Liturgie des ersten Jahrhunderts erhielt das osculum [Kuss] eine neue Funktion. Er wurde zu einem der beiden Höhepunkte in der Eucharistiefeier. Die conspiratio, der Mund-zu-Mund-Kuss, wurde zur feierlichen liturgischen Geste, mit der die Teilnehmer an der kultischen Handlung ihren Atem oder Geist miteinander teilten. Sie wurde zum Zeichen ihrer Vereinigung im Heiligen Geist, der Gemein­ schaft, die im Atem Gottes Gestalt annimmt. Die ecclesia entstand durch eine öffentliche rituelle Handlung, die Liturgie, und die Seele dieser Liturgie war die conspira­ tio. Genauer gesagt, körperlich wurde die zentrale christliche Feier als ein Mitatmen, eine Konspiration, das Herstellen einer gemeinsamen Atmosphäre, eines göttlichen Milieus verstanden […] [In der frühchristlichen Eucharistiefeier] wurde [c]onspiratio zum stärksten, klarsten und eindeutigsten somatischen Ausdruck für die ganz und gar nicht hierarchische Schaffung eines brüderlichen Geistes in Vorbereitung auf das ver­ einigende Mahl.« Diese wunderbare Passage ist aus dem Werk von Ivan Illich »The Cultivation of Conspiracy,« inThe Challenges of Ivan Illich: A Collective Reflection, ed by. Lee Hoinacki und Carl Mitcham (Albany, NY: State University of New York Press, 2002), 240. In Bezug auf Berndtson s. Petri Berndtson, Phenomenological Ontology of Breathing: The Phenomenologico-Ontological Interpretation of the Barbaric Convic­ tion of We Breathe Air and a New Philosophical Principle of Silence of Breath, Abyss of Air, Doktorarbeit (Jyväskylä: University of Jyväskylä, 2018), 230, Anm. 890. 386 Ettinger, »Transgressing With-In-To the Feminine,« 205. 385

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offenbart und eingeweiht. Dieses gegenseitige Vergebärmutterung387 der kosmischen Gerechtigkeit durch Antigone und Jesus und ihre ethische Konspiration sind Zeichen des ewigen göttlichen Schutzes der ungeschriebenen ethischen Gesetze und Genealogien des Lebens.

387 Ich möchte hier ein weiteres Mal zitieren, was Kuang-ming Wu in seinem Buch On Chinese Body Thinking sagt: »Jede menschliche Beziehung, die ihren Namen verdient, ist eine Bemutterung und Vergebärmutterung – dein leeres Sein zieht mich hervor, lässt mich werden, wie ich bin. [...] Die innere persönliche Berührung füllt die Leere in mir und in dir und macht uns eins. Und doch bleiben wir zwei, denn die Zweiheit ermöglicht die Berührung. Wir sind also zwei in einem und eins in zwei, dank unserer persönlichen Leere und der inneren Berührung. All dies beschreibt die gegenseitige Erfüllung. Persönliche Leere erzeugt Liebe – innere Berührung – die uns in uns selbst hineinwachsen lässt.« (Wu, On Chinese Body Thinking, 140−42).

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