Anleitung in 60 Minuten Kunstkenner zu werden [2., vermehrte Auflage. [Otto von Leixner], Reprint 2021] 9783112425923, 9783112425916


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German Pages 47 [66] Year 1885

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Anleitung in 60 Minuten Kunstkenner zu werden [2., vermehrte Auflage. [Otto von Leixner], Reprint 2021]
 9783112425923, 9783112425916

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Vorrede zur ersten Auflage. Dieses

Buch

kommt

einem

dringenden

Bedürfniß entgegen.

Der Verfasser.

Vorrede zur zweiten Auflage. Dieses Buch kam einem dringenden Be­ dürfniß entgegen.

Der Verfasser.

Einleitung.*) wohin man heute immer blicken mag, es macht

sich überall das Bedürfniß geltend, zu urtheilen. Die Höhe, auf welche sich unser Geist allmählich

mit Hilfe von einigen tausenden Tages-, Wochen-,

Monats-, Vierteljahrsschriften und mit Unterstützung prachtvoll gebundener Lonversationslexika hinauf­

gearbeitet hat, verpflichtet den „Eulturmenschen" der Gegenwart in jedem Falle über alles mit vollster

Sicherheit ein bestimmtes Urtheil abzugeben, falls er überhaupt etwas gelten will.

Es soll einmal

Perioden gegeben haben, wo die Menschen einem

kindischen Enthusiasmus huldigten: da ließen sie sich

*) 3ft gegen die allgemeine Gewohnheit mit der Absicht geschrieben, von dem Leser mit der ganzen Vertiefung, welche unserem Publikum eigen ist, studirt zu werden. Der Autor bittet um Vergebung, daß er dadurch gegen die übliche Sitte verstößt.

von ernsten

großen Gedanken

der

Dichter, von

erhabenen Werken der bildenden Kunst erschüttern

bis in das tiefste Mark; da huldigten sie ohne jede

selbstsüchtige Absicht dem Genius; sie betrachteten die großen Künstler mit naivem Staunen als Priester der Menschheilsideale und hatten stets eine lächer­ liche 'Begeisterung für jene Unmöglichkeiten übrig,

welche sie mit den drei Kraftworten des „Guten",

„wahren" und „Schönen" bezeichneten; sie forderten

sogar, daß die Künstler sie durch ihre Gebilde zu „höheren Anschauungen" emporführen, den genießen­

den Geist vom „Drucke der Alltäglichkeit" befreien, in ihm das Bewußtsein stärken sollten, daß „hinter

der vielgestaltigen Körperwelt ein ewiges Princip wirke", sie glaubten — — doch wer vermag alle

diese thörichten Iumuthungen in Worte zu fassen! Nur auf einer tiefen Stufe der Bildung vermögen derartige Irrlichter des phosphorescirenden Gehirns als Wahrheiten zu gelten.

wir sind glücklich über diese Zustände hinaus­

gekommen; wir haben klar erkannt, daß alle so­ genannten „Ideale" vollständig bedeutungslos sind und daß man sie höchstens hie und da einem jungen

Mädchen verzeihen kann, welches neben gerundeten Körperformen auch eine hübsch abgerundete Mit­ gift besitzt,

wie schon bemerkt, ist es heute nöthig,

wenn man auf der Höhe der Zeitbildung steht, über alles sprechen und urtheilen zu können, das ist auch

Aber

das höchste Ziel der modernen Erziehung.

trotz allem giebt es noch eine sehr große Zahl von Menschen, leider sogar unter den Gebildeten, welche

nur über die Gegenstände sprechen, die ihnen, nach dem gangbaren Ausdruck „vertraut" find, welche vor einem Bilde von Böcklin nichts zu sagen wissen,

nach dem Anhören einer Beethoven'schen Symphonie

schweigen und sogar über den zweiten Theil von

„Faust" kein fertiges Urtheil zur Verfügung haben,

so daß ihnen darin jeder Backfisch aus der „Kelekta" einer höheren Mädchenschule überlegen ist, welcher die ganze „große und kleine Welt" bis auf

das I-Tüpfelchen spielend zu beurtheilen weiß.

Es

ist wirklich beklagenswerth, daß diese Urtheilsscheu

besonders in der älteren Generation nicht auszu­ rotten ist und daß dieselbe zum Theil unter der fortgeschrittenen jüngeren

noch so

häufig

gefun­

den wird. Ls ist für ein fühlendes Herz, wie der Ver­

fasser eines besitzt,

geradezu

mitleiderregend, zu

sehen, wie sich noch so viele Menschen in Aus­ stellungen oder in Gesellschaften benehmen.

Mit

scheuen Blicken stehen sie, nachdem der Katalog zu

Rathe gezogen worden ist, und leider keinen Hinweis

auf eine goldene Medaille*) zum Besten gegeben

hat, vor einem Bilde — in der Ecke steht ein noch

nie „dagewesener" Name, Bläffe und Purpur wech­ seln auf dem Antlitz, aber kein „Urtheil" wird darauf stchtbar.

Dieselbe Befangenheit kann man in unseren

Gesellschaften beobachten, wenn auf wissenschaftliche

oder poetische Werke das Gespräch kommt oder wenn jemand irgend eine geschichtliche Persönlichkeit er­ wähnt.

Zumeist stockt das Gespräch, denn zufällig

hat Niemand ein Urtheil bei sich. So betrübend ein derartiger Anblick ist, so sehr schwellt es die Brust des wahrhaft Gebildeten, wenn

er gediegene Renner findet, welche immer urtheilen, niemals um ein bedeutsames Wort, um eine ab­

gerundete Phrase verlegen

find,

wie benehmen

sich die in den Kunstausstellungen, in Gesellschaften? Man betrachte sie in den ersteren.

Schon wenn

sie ihre Eintrittskarte lösen und den Katalog kaufen, kann man in ihrem ganzen Wesen das harmonische Gleichgewicht

bemerken,

welches

so

wohlthuend

wirkt: sie sind eben ihrer Sache vollkommen sicher, *) Line goldene Medaille bedeutet immer Genie, eine silberne hervorragendes Talent, weil diese Auszeichnungen niemals aus Kameraderie verliehen werden, wie Drden be­ lohnen sie stets nur das wahre Verdienst.

sie wissen schon an der Pforte ganz genau, was sie sagen werden und daß nichts sie in Verlegenheit bringen kann.

Sie treten lächelnd ein und lassen

das Auge über die wände gleiten; plötzlich — nach­ dem sie sich überzeugt haben, daß das gewöhnliche Volk auf sie aufmerksam geworden ist, stürzen sie

auf ein Bild los, stellen sich ganz dicht davor und bleiben in dem Anblick einer dunklen Ecke ver­

sunken ; dann treten sie zurück, lassen den Kopf nach

rechts oder links sinken, kneifen ein Auge zu und

halten die Hand über dem andern;

alles ist an

ihnen in höchster Erregung, und — wieder plötzlich

erscheinen sie ganz ruhig und kehren ihr Antlitz dem versammelten Volke zü;

das Urtheil ist fix und

fertig, ja es steht bei manchen ganz in Frakturschrift auf dem Gesicht. Bei einem zweiten Bilde schütteln sie mißbilligend das Haupt und schlagen die Augen zum Fimmel auf, bei einem dritten nicken sie und

lassen ein zustimmendes „Mhm" hören, bei einem

vierten

lächeln

sie ein unbeschreibliches

Lächeln.

Noch tiefer wird der Eindruck auf den gewöhnlichen Menschen, wenn zwei solche Männer Zusammen­ treffen; beide bewußt ihres Werthes, beide Beur­ theilet ersten Ranges.

Einige im „Publikum" —

das Wort läßt sich hier als Schaupöbel übersetzen —

kennen die Herren und suchen schnell in ihre Nähe

zu kommen.

Das paar spricht und gestikulirt vor

einem Bilde, es betrachtet gemeinsam die dunkle Ecke, es schüttelt gemeinsam die Häupter — natür­ lich jeder sein eigenes es nickt, mhmt und lächelt gemeinsam das unbeschreibliche Lächeln. Im

Gespräche aber schwirren geheimnißvolle Worte hinundherüber: „Verkürzung", „Farbenperspek­ tive", „Augenpunkt", „Krapplack", „Intui­ tion", „Asphalt" u. s. w., hie und da hört man Namen, welche zumeist auf ccio, ggio, io oder o endigen in Verbindung mit einem Urtheil, wie „Ganz plumpe Copie nach ...ggio", oder „dem . ... io fein nachempfunden, aber pastoser."

Und die Umgebung ist einfach starr und steif und kann

fich nicht erklären, wie ein Mensch alle diese schönen Urtheile so aussprechen kann, ohne eine Falte auf der Stirn, ohne sichtbare Anstrengung. Da empfindet man die Lücke seiner Bildung. Bei gewissen Bildern

natürlich, da kann man leicht sagen „wunderschön", „herrlich", denn es steht in der Ecke mit großen Buchstaben „Paul Meyerheim" oder „Gustav Richter" oder gar „Menzel", „Makart" u. s. w.; da weiß Jeder, daß diese Bilder schön sein müssen, denn sie kosten furchtbar viel, aber bei andern, wo man

einen unbekannten „Meyer" oder „Müller" entziffert hat, was soll man dann sagen! Kurz, man fühlt

sich als Nichts und schämt sich in die tiefste Seele hinein.

Im Gesellschaftsleben wiederholt sich der Vor­ gang, aber natürlich noch demüthigender, denn hier werden verschiedene Gebiete

keines ftemd,

sie sprechen

berührt.

Jenen

ist

ebenso bestimmt über

Kunst wie über Politik; sie kennen jeden neuen

Roman, jedes Drama; sie verblüffen den Philologen

durch ihre

genaue Kenntniß der Temperatechnik;

sie setzen den Banquier in Erstaunen durch ihre Vertrautheit mit den classischen Autoren der Alten; sie erringen sich die Verehrung eines Technikers

durch ihre Urtheile über die Goetheforschung, so wie

sie dem Husarenlieutenant mit ihrem philosophischen wissen Schrecken einjagen.

In Verlegenheit bringt

sie nichts, denn sie verstehen es, durch einen Witz jeden Angriff unmöglich zu machen.

Man pflegt diese Glücklichen als Kenner zu bezeichnen: Special-Kenner, wenn ihnen ein

Gebiet, allgemeine, wenn ihnen alle fremd sind. Außerdem unterscheidet man noch sprechende und schreibende; die letzteren bilden einen Theil

der Kritiker, leider erst einen Theil, was im In­

teresse des geistigen Fortschritts zu beklagen ist.

Der harmlose Laie, welcher sie hört oder liest, denkt natürlich: „was müssen diese Menschen gelernt,

wie viel gesehen, wie viel mehr gedacht haben, wenn sie

dunkle Ecken

so

ansehen, so

unbeschreiblich

lächeln; wenn sie sich selbst so bewundern und den

Banquier, „über Aristoteles so aufklären können!"

Ein derartiges Selbstgespräch ist der Höhepunkt des Schmerzes über den verfehlten Beruf.

wie viele mögen sich darin

aufreiben,

wie

mancher fein Leben enden um diese