Angewandte Filmtheorie 3658410884, 9783658410889, 9783658410896

Welche Filmtheorie ist hilfreich, um eine Erkenntnisfrage zu klären? Wie wirkt sich die theoretische Perspektive auf die

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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Theorien und Methoden der (Film)Wissenschaft
1 Theorienpluralismus und Multiperspektivität
2 Theorien in der Filmwissenschaft
Literatur
Kontext und Rezeption des Films Blow Up
1 Der Kontext des Films
2 Reaktionen und Nachwirkungen
Literatur
Theorien der Gestaltungsanalyse: Narration, Bild und Ton
1 Theorien des filmischen Erzählens
1.1 Handlungsstruktur
1.2 Temporale Struktur
1.3 Perspektivische Struktur
1.4 Schluss: Das narrative Selbst
2 Bildtheorie
2.1 Zur Phänomenologie des bildlichen Erlebens
2.2 Ikonographie
2.3 Bildanalyse und Stiltheorie
2.4 Zur Wahrheit der Bildlichkeit in Blow Up
3 Theorie der Filmmusik
3.1 Jazzmusik und Film
3.2 Die Jazzmusik in Blow Up
4 Theorien der Gestaltungsanalyse im Vergleich
Literatur
Stil- und Genretheorien
1 Stiltheorie und Autorenpolitik
1.1 Theoretische Grundlagen
1.2 Antonionis Œuvre im Spiegel der Stiltheorie und Autorenpolitik
2 Genretheorie
2.1 Theoretische Grundlagen
2.2 Stationen der Genretheorie
2.3 Genretheoretische Perspektiven auf Blow Up
3 Stil- und Genretheorien im Vergleich
Literatur
Theorien der neoformalistisch-kognitivistischen und der quantitativen Analyse
1 Neoformalismus/Kognitive Filmtheorie
1.1 Die kognitive Aktivität des Filmzuschauenden
1.2 Kognitivistische Emotionsforschung
1.3 Methoden und ihre Anwendung
2 Empirische, quantitative Analyse
2.1 Einführung in die Measurement-Theorie und in Barry Salts wissenschaftlichen Realismus
2.2 Cinemetrics – Werkzeug zur manuellen Erfassung filmischer Abläufe
2.3 Cinemetrics und seine Anwendung
2.4 Eine quantitativ orientierte Analyse der Werke Michelangelo Antonionis
2.5 Datenbasierte Interpretation der stilistischen Entwicklung Antonionis
3 Theorien der neoformalistisch-kognitivistischen und der quantitativen Analyse im Vergleich
Literatur
Theorien der diskursiven Analyse
1 Psychoanalyse
1.1 Sigmund Freuds topographisches Modell der Psyche
1.2 Jacques Lacans strukturalistische Psychoanalyse
1.3 Psychoanalytische Deutung von Blow Up
2 Gender Studies
2.1 Symbolische Konstruktionen des Geschlechts: das Männliche und das Weibliche
2.2 Gender Studies und Filmtheorie
2.3 Versuch einer Interpretation: Michelangelo Antonionis Blow Up
3 Theorien der diskursiven Analyse im Vergleich
Literatur
Theorien der Repräsentation
1 Realismus-Theorien
1.1 Fotografischer und filmischer Realismus
1.2 Der Realismus von und in Blow Up
2 Poststrukturalismus
2.1 Strukturalismus
2.2 Poststrukturalismus: Deleuze, Derrida, Foucault
2.3 Postmoderne
2.4 Abschluss: Poststrukturalismus und Filmanalyse
3 Theorien der Repräsentation im Vergleich
Literatur
Theorien der Intermedialität und Medienkultur
1 Intermedialität und Intertextualität
1.1 1996 – Das Jahr, in dem die Dekade explodierte
1.2 Intermedialität als Explosion
1.3 Die Literaturvorlage: Julio Cortázars Teufelsgeifer
1.4 Antonionis Werk und die Moderne
1.5 Thomas/Fotograf
1.6 To blow up
2 Medienkultur- und Poptheorie
2.1 Kritische Theorie und Cultural Studies
2.2 Popanalyse und Medienontologie
3 Theorien der Intermedialität und Medienkultur im Vergleich
Literatur
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Film, Fernsehen, Neue Medien

Oksana Bulgakowa Roman Mauer Hrsg.

Angewandte Filmtheorie

Film, Fernsehen, Neue Medien Reihe herausgegeben von Oksana Bulgakowa, ehemals Filmwissenschaft am Institut für Film-, Theater-, Medienund Kulturwissenschaft, Gutenberg-Universität Mainz, Berlin, Deutschland Roman Mauer, Filmwissenschaft / Mediendramaturgie am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft, Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland

Während früher Film als Medium für die Verbreitung und Konservierung tradierter Künste eingesetzt wurde und dann als Synthese, ja die höchste Stufe der Kunstentwicklung galt, erleben wir heute eine Destabilisierung der Medienhierarchie. Längst hat der Film als selbständige Kunst einen festen Platz in allen kulturellen Institutionen – Kinos, Museen, Archive und Opernhäuser – eingenommen. Er bewog Theater, Ballett oder Performance zu multimedialen Formen und beeinflusste die Entwicklung der bildenden Künste und Ausstellungspraxis. Nun wandert er aus den Kinosälen und besetzt öffentliche und virtuelle Räume: Internetplattformen, U-Bahnzüge, Wartesäle, Ausbildungscamps und therapeutische Einrichtungen. Künstliche Bilderwelten auf den Trainingsmodulatoren und transmediale Fantasien in Onlinespielen zehren von Filmvorlagen. Die praktische und pragmatische Nutzung der Filmbilder geht weit über die früheren Funktionen der Aufzeichnung und Objektivierung hinaus. Der Film besetzt die Imagination mit fertigen Vorgaben – Gesten, Reaktionen, Repliken, Träumen. Das opulente Archiv der Filmbilder, der Erzählstrategien und akustischen Symbole wird von Mode, Werbung und politischen Aktionen weiterverwertet. Der Präsenz und dem alltäglichen Gebrauch der bewegten Bilder steht allerdings ein Mangel an Übung und Fertigkeiten gegenüber, diese zu analysieren und zu deuten. Die Film- und Medienwissenschaft bietet dafür ein differenziertes Instrumentarium. Die Lehrbuchreihe „Film, Fernsehen, Neue Medien“ führt in die Grundkenntnisse ein, demonstriert die praktische Anwendung der Begriffe, verbindet die analytischen Modelle mit theoretischer Reflexion, verfolgt die historische Entwicklung der filmischen Prinzipien und ihre Transformation in Computerspielen, in der akustischen oder der grafischen Kunst von heute. Konzipiert für die Bachelorstudiengänge, richtet sie sich an alle kunst-, medienund kulturwissenschaftlich Interessierten. Oksana Bulgakowa ist Professor emeritus der Filmwissenschaft am Institut für Film-, Theater-, Kultur- und Medienwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, aktuell Visiting Professor an der School of Design der Shanghai University. Sie hat mehrere Bücher über das russische und deutsche Kino geschrieben, bei Filmen Regie geführt, Ausstellungen kuratiert und multimediale Projekte entwickelt. Roman Mauer ist Akademischer Rat für Filmwissenschaft / Mediendramaturgie am Institut für Film-, Theater-, Kultur- und Medienwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er hat mehrere Sammelbände zur Filmgeschichte herausgegeben, Hörspiele produziert, Dokumentationen und Lehrfilme realisiert.

Oksana Bulgakowa · Roman Mauer (Hrsg.)

Angewandte Filmtheorie

Hrsg. Oksana Bulgakowa ehemals Filmwissenschaft am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft, Johannes GutenbergUniversität Mainz Berlin, Deutschland

Roman Mauer   Filmwissenschaft / Mediendramaturgie am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft, Johannes GutenbergUniversität Mainz Mainz, Deutschland

ISSN 2524-3063 ISSN 2524-3071  (electronic) Film, Fernsehen, Neue Medien ISBN 978-3-658-41088-9 ISBN 978-3-658-41089-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-41089-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: © Daniela Maisenbacher Planung/Lektorat: Barbara Emig-Roller Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Roman Mauer Theorien und Methoden der (Film)Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Roman Mauer 1 Theorienpluralismus und Multiperspektivität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2 Theorien in der Filmwissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Kontext und Rezeption des Films Blow Up. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Ann-Christin Eikenbusch 1 Der Kontext des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2 Reaktionen und Nachwirkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Theorien der Gestaltungsanalyse: Narration, Bild und Ton. . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Roman Mauer, Thomas Meder und Larson Powell 1 Theorien des filmischen Erzählens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 1.1 Handlungsstruktur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 1.2 Temporale Struktur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1.3 Perspektivische Struktur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 1.4 Schluss: Das narrative Selbst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2 Bildtheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2.1 Zur Phänomenologie des bildlichen Erlebens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2.2 Ikonographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2.3 Bildanalyse und Stiltheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2.4 Zur Wahrheit der Bildlichkeit in Blow Up. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

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Inhaltsverzeichnis

3 Theorie der Filmmusik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.1 Jazzmusik und Film. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3.2 Die Jazzmusik in Blow Up . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4 Theorien der Gestaltungsanalyse im Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Stil- und Genretheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Claudia Anton und Sebastian Lauritz 1 Stiltheorie und Autorenpolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1.1 Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1.2 Antonionis Œuvre im Spiegel der Stiltheorie und Autorenpolitik . . . . . . . 151 2 Genretheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 2.1 Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2.2 Stationen der Genretheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 2.3 Genretheoretische Perspektiven auf Blow Up. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3 Stil- und Genretheorien im Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Theorien der neoformalistisch-kognitivistischen und der quantitativen Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Michael Brodski und Julian Sittel 1 Neoformalismus/Kognitive Filmtheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 1.1 Die kognitive Aktivität des Filmzuschauenden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 1.2 Kognitivistische Emotionsforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 1.3 Methoden und ihre Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 2 Empirische, quantitative Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 2.1 Einführung in die Measurement-Theorie und in Barry Salts wissenschaftlichen Realismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 2.2 Cinemetrics – Werkzeug zur manuellen Erfassung filmischer Abläufe. . . . . . . 230 2.3 Cinemetrics und seine Anwendung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 2.4 Eine quantitativ orientierte Analyse der Werke Michelangelo Antonionis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 2.5 Datenbasierte Interpretation der stilistischen Entwicklung Antonionis . . . . . . 244 3 Theorien der neoformalistisch-kognitivistischen und der quantitativen Analyse im Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Theorien der diskursiven Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Gregory Mohr und Oksana Bulgakowa 1 Psychoanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 1.1 Sigmund Freuds topographisches Modell der Psyche. . . . . . . . . . . . . . . . . 262 1.2 Jacques Lacans strukturalistische Psychoanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 1.3 Psychoanalytische Deutung von Blow Up. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 2 Gender Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

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2.1 Symbolische Konstruktionen des Geschlechts: das Männliche und das Weibliche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 2.2 Gender Studies und Filmtheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 2.3 Versuch einer Interpretation: Michelangelo Antonionis Blow Up. . . . . . . . 291 3 Theorien der diskursiven Analyse im Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Theorien der Repräsentation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Christoph Hesse, Oliver Fahle und Roman Mauer 1 Realismus-Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 1.1 Fotografischer und filmischer Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 1.2 Der Realismus von und in Blow Up . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 2 Poststrukturalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 2.1 Strukturalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 2.2 Poststrukturalismus: Deleuze, Derrida, Foucault . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 2.3 Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 2.4 Abschluss: Poststrukturalismus und Filmanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 3 Theorien der Repräsentation im Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Theorien der Intermedialität und Medienkultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Bernd Kiefer, Lucas Curstädt und Ivo Ritzer 1 Intermedialität und Intertextualität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 1.1 1996 – Das Jahr, in dem die Dekade explodierte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 1.2 Intermedialität als Explosion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 1.3 Die Literaturvorlage: Julio Cortázars Teufelsgeifer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 1.4 Antonionis Werk und die Moderne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 1.5 Thomas/Fotograf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 1.6 To blow up. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 2 Medienkultur- und Poptheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 2.1 Kritische Theorie und Cultural Studies. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 2.2 Popanalyse und Medienontologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 3 Theorien der Intermedialität und Medienkultur im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . 403 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405

Einleitung Roman Mauer

Die wachsende Präsenz audiovisueller Medien in unserer Gesellschaft fordert zur Reflexion heraus. Dabei hilft der Werkzeugkasten filmanalytischer Begriffe, den uns die Filmwissenschaft bereitstellt. Doch kommen wir damit nicht weit. Es sei denn, wir verbinden die Filmanalyse mit einer theoretischen Perspektive. Erst die Theorien ermöglichen uns, ein so komplexes und flüchtiges Phänomen wie den Film mit einem Erkenntnisziel zu untersuchen – ein Phänomen, dessen sinnlicher, emotionaler und immersiver Charakter die nüchterne Beschreibung nicht gerade erleichtert, dessen Zusammenspiel von Künsten und Gestaltungsmitteln eine Differenzierung erfordert, dessen soziokulturelle Kontexte, intermediale und intertextuelle Verflechtungen einen breiten Fächer diskursiver Ansätze ansprechen. Die Theorie hilft, von einem Film zu abstrahieren. Sie sollte dabei aber nicht den Blick auf den Film verstellen. Im besten Fall schärft die Theorie die Sicht auf den Film, und der Film wiederum justiert reziprok die Genauigkeit der Theorie. Dabei sind Auswahl und Anwendung von Filmtheorien keine einfache Aufgabe. Wer hat bei der Konzeption einer Studie nicht schon erfahren müssen, dass sich der zu behandelnde Film und das Erkenntnisziel leichter klären ließen als die Frage: Welche Theorie unterstützt am besten in der Durchführung der Arbeit? Hier soll dieses Studienbuch helfen. Der Band stellt nicht nur eine Auswahl von Theorien vor, sondern wendet sie zugleich an. Es wird also nicht von Theorie zu Theorie ein anderer Film zur ­Veranschaulichung herangezogen

R. Mauer  Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Bulgakowa und R. Mauer (Hrsg.), Angewandte Filmtheorie, Film, Fernsehen, Neue Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41089-6_1

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R. Mauer

– ein jeweils passender Film, der sich besonders für das theoretische Modell eignet, sodass einerseits leichtes Spiel herrscht, andererseits aber keine Vergleichbarkeit entsteht –, sondern dieses Buch geht davon aus, dass sich die Besonderheit eines theoretischen Zugriffs erst offenbart, wenn alle Perspektiven auf denselben Film ausgerichtet werden. Nur dann lässt sich genauer zeigen: Wie wirkt sich die Wahl einer Theorie auf die Untersuchung eines audiovisuellen Gegenstandes aus? Welche spezifischen Erkenntnisse werden durch jede Theorie generiert? Welche Konturen dieses Films kommen im Schlaglicht einer Theorie zum Vorschein? Welche werden durch sie verborgen? Wie können sich zwei Theorien ergänzen? Wo schließen sie einander aus? Wo produzieren sie gar widersprüchliche Aussagen? Indem dieses Lehrbuch nur einen einzigen Film in die Arena der Interpretationen stellt, lässt es die Modelle miteinander in Konkurrenz treten. Ausgewählt wurde der Spielfilm Blow Up (GB/I/USA 1966) des italienischen Filmregisseurs Michelangelo Antonioni: aufgrund seiner filmhistorischen Bedeutung und seiner Reflexion künstlerischer, gesellschaftlicher und philosophischer Themen wie Popkultur, Mode, Fotografie, Bildende Kunst, Geschlechterrollen, Ontologie, Indexikalität, Semiologie und Intermedialität des Bildes – um nur einen Bruchteil der Herausforderungen dieses Films zu nennen. In seiner Selbstreflexivität thematisiert Blow Up die Differenzen zwischen Wort, Standbild und Bewegtbild und wirft Fragen nach der (medialen) Wahrheitsfindung auf. Zugleich ist er als Zeitbild der 1960er Jahre Symptom eines kulturellen Umbruchs und innovatives Beispiel für die (filmischen) Modernisierungsbewegungen dieser Epoche. Der Kontext der Entstehung von Blow Up sowie die Rezeption und Auswirkungen dieses Films werden zu Beginn in Ann-Christin Eikenbuschs Beitrag beschrieben. So ist dieses Lehrwerk nicht nur eine Einführung in Filmtheorien, sondern gleichermaßen ein Buch über diesen besonderen Film, der über die multiperspektivische Methodik umfangreich zur Anschauung und Erkenntnis geführt werden soll. Im Unterschied zu anderen Studienbüchern kann es also nicht das Ziel sein, eine möglichst breite Übersicht über alle relevanten Filmtheorien zu geben. Ausgewählt wurden vor allem Filmtheorien, die in Blow Up einen Resonanzboden finden. So ist die postkoloniale Filmtheorie trotz ihrer Bedeutung nicht Teil dieses Lehrbuchs, da Antonionis Film die koloniale Vergangenheit des British Empires und ihre Auswirkungen auf das London der 1960er Jahre kaum thematisiert. Das soll nicht bedeuten, dass es nicht lohnend sein könnte, diesen Film einer postkolonialen Kritik zu unterziehen. Doch haben wir uns angesichts der notwendigen Beschränkungen auf jene Filmtheorien konzentriert, deren Anwendung auf diesen Filmtext eine reichere Ausbeute versprechen. Einen Spielfilm auszuwählen, bedeutet auch, dass andere Gattungen wie der Dokumentar-, Animations-, Experimental-, Essay- oder Kurzfilm in diesem Buch leider keine Theoretisierung erfahren. Dennoch bilden die Kapitel zentrale Felder der Filmtheorie ab. Sie setzen bei Gestaltungsverfahren des Films an (Narration, Bild und Ton) und klären darüber die Beziehung zu den damit verknüpften Künsten (Literatur, Malerei und Musik), bevor das Verhältnis zu anderen Filmen der Filmgeschichte erörtert wird (Stil- und Genretheorie). Sie widmen sich dem Verhältnis der Zuschauenden zum Film und der Frage nach einer quantitativen Erfassung, Erhebung und Rezeption (Kognition,

Einleitung

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Neoformalismus, Empirie), der außerfilmischen Wirklichkeit und ihrer Repräsentation (Realismus und Poststrukturalismus), der Gesellschaft und ihren Diskursen (Psychoanalyse und Gender Studies) sowie der Vernetzung des Films mit der Medienkultur (Intertextualität, Intermedialität und Poptheorie). Das Lehrbuch versteht sich in seiner Konzeption auch als Experiment, ganz im Sinne der forschenden Lehre. Der Aufbau konfrontiert pro Kapitel zwei (oder drei) Theorien miteinander und wertet am Kapitelende in einem Vergleich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede aus. Die Beiträge sollen mit einschlägigen Positionen, Modellen, Begriffen, Vertreter*innen und historischen Entwicklungen zentraler Theorien vertraut machen und bieten am Ende jeweils zur Vertiefung weiterführende Literaturhinweise sowie eine thematisch ausgerichtete Liste exemplarischer Filme. Die Lesenden erhalten die Möglichkeit, die filmanalytische Anwendung theoretischer Konzepte nachzuvollziehen. Welchen Nutzen und welche Schwierigkeiten die Anwendung bestimmter Modelle mit sich bringen und welche sich für die Fragestellung einer Studienarbeit am besten eignen, soll verständlich werden. Kurz: Das Lehrbuch demonstriert, wie die Wahl einer bestimmten Theorie eine jeweils eigene Interpretation des Films hervorruft. Parallel zu diesem Buch sind zu sechs der Beiträge auch einstündige Lehrfilme entstanden. Sie vermitteln im Rahmen eines Onlinekurses auf der Lernplattform OLAT Inhalte auf audiovisuelle Weise: mit Filmausschnitten, Computer-Animationen oder Diagrammen. Ergänzt werden die Lehrfilme zur Intermedialität (Bernd Kiefer), Narratologie (Roman Mauer), Bildtheorie (Thomas Meder), Psychoanalyse (Gregory Mohr), zu den Gender Studies (Oksana Bulgakowa) und zum Neoformalismus (Michael Brodski) durch Literatur- und Filmempfehlungen, Primärtexte, Links, Selbsttests und Lernaufgaben. Entstanden ist der Onlinekurs in Kooperation mit Thomas Meder und der Fachrichtung Zeitbasierte Medien der Hochschule Mainz, gefördert von dem Gutenberg Lehrkolleg und Medienzentrum/ZAP der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Für die Freischaltung wird ein Zugangscode benötigt, der bei Roman Mauer (romauer@uni-mainz. de) erhältlich ist. Unser herzlicher Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die sich so engagiert auf das Experiment eingelassen haben und von den didaktischen Vorgaben, die ein Lehrbuch mit sich bringt, angeregt fühlten. Ausdrücklich bedanken möchten wir uns bei allen, die uns unermüdlich, präzise und ideenreich bei der Umsetzung – dem Lektorat, der Auswahl und dem Kommentieren von Abbildungen, dem Zusammenstellen der Film- und Buchempfehlungen – unterstützt haben:  Manuel Föhl, Kevin Gremmel, Lara Hanuscheck, Oliver Heberling, Nils Mooney, Vasco V. Ochoa und ganz besonders Roman Paul Widera. Nicht zuletzt schulden wir der Designerin Daniela Maisenbacher Dank, die mit Liebe zum Detail das Buchcover und nahezu alle Infographiken in den Beiträgen gestaltet hat. Mainz, im Januar 2023

Roman Mauer

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Das Spiel Wissenschaft hat grundsätzlich kein Ende: wer eines Tages beschließt, die wissenschaftlichen Sätze nicht weiter zu überprüfen, sondern sie etwa als endgültig verifiziert zu betrachten, der tritt aus dem Spiel aus. (Popper 1935/2005, S. 30)

Es zählt zum Anspruch von Einführungs- und Lehrwerken, dass sie mit ihrer Gliederung eine fachwissenschaftlich etablierte Ordnung abbilden wollen. Doch mit Blick auf die Filmtheorie wäre der Eindruck einer geschlossenen Systematik trügerisch. Daher sollen die folgenden Ausführungen nicht nur einen Einstieg in Grundsatzfragen von Theorie und Methodik im Allgemeinen und der Filmtheorie im Besonderen bieten, sondern auch die offene Struktur theoretischer Annäherungen, also den Theorienpluralismus und die Multiperspektivität dieses Buchs herleiten. Was unter einer Theorie verstanden wird, kann je nach Fachwissenschaft verschieden sein und ist in den Formal- oder Naturwissenschaften strenger definiert als in den Geisteswissenschaften. Generell befassen sich metawissenschaftliche Disziplinen mit diesen Fragen: Dabei problematisiert die Wissenschaftstheorie bzw. -philosophie die Bedingungen, Methoden und Ziele der Erkenntnisgewinnung durch Theorien (vgl. Stegmüller 1985; Bartels und Stöckler 2007; Balzer 2009), während die Wissenschaftsgeschichte den historischen Wandel dieser Vorstellungen beschreibt (vgl. Kuhn 2001; Biagioli 1999; Hagner 2001; Serres 2002; Klasen und Seidel 2019), die Wissenschaftssoziologie den Einfluss gesellschaftlicher Faktoren (vgl. Fleck  2008; Luhmann 1990; Latour 2001; Maasen et al. 2012) und die Wissenschaftssprachforschung die konstitutive

R. Mauer (*)  Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Bulgakowa und R. Mauer (Hrsg.), Angewandte Filmtheorie, Film, Fernsehen, Neue Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41089-6_2

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Auswirkung von Sprache auf die Theoriebildung untersucht (vgl. Hoffmann und Wiegand 1998; Roelcke 2020). Der Begriff  „Theorie“  stammt aus dem Griechischen (θεωρία, theoría) und bedeutet „Anschauung“, „Betrachtung“ oder „Einsicht“, womit in der Antike die sinnliche als auch die geistige Schau gemeint sein konnte (vgl. König 1998, S. 1127). Bei Aristoteles dient der Begriff auch dazu, verschiedene wissenschaftliche Disziplinen voneinander zu unterscheiden, wie die Mathematik, Naturwissenschaft (Physik) und Theologie, die als „theoretische Wissenschaften“ für Aristoteles „die Erkenntnis der Wirklichkeit von ihren Erklärungsgründen her“ zum Ziel haben (ebd.). Eine Theorie ist eine gedankliche Konstruktion, mit der Sachverhalte in der Realität erfasst, Ursachen eines Ereignisses verstanden und gar Folgen vorhergesagt werden sollen. Theorien haben zum Ziel, systematisch Erkenntnisse zu generieren über Phänomene der Wirklichkeit – und somit auch der medialen Wirklichkeit der Filme. Indem sie Wirklichkeit auf allgemeine Weise repräsentieren, sind sie, so wie alle Darstellungen, „Symbole, Zeichensysteme“ schrieb Karl Popper erstmals 1935 (2005, S. 36). Als Konzepte beruhen Theorien auf Grundbegriffen (Definitionen) und Grundsätzen (Axiome, Gesetze oder Thesen), werden durch logische Kausalbeziehungen begründet und vermögen auf diese Weise, einen Zusammenhang zu erklären (vgl. Schurz 2009). Somit ist Theoriebildung eine elementare Voraussetzung für wissenschaftliche Arbeit: „Pures Sammeln von Daten ist keine Wissenschaft: Um irgendeine wissenschaftliche Relevanz zu haben, werden Daten meist theoriegeleitet erzeugt […]“ (Kretzenbacher 1998, S. 135; vgl. auch Kuhn 2001, S. 30–31). Neben der Bestimmung des Untersuchungsgegenstands und der Festlegung des theoretischen Ansatzes ergibt sich die Fruchtbarkeit einer Studie aus der Wahl der Methode. Es ist die Methode, die über den Weg der Erkenntnis entscheidet, der von der Theorie zum Gegenstand oder vom Gegenstand zur Theorie führt. Die Lehre von der Methode – als Methodologie ein Teilgebiet der Wissenschaftstheorie – fragt nach der angemessenen und geregelten Anwendbarkeit wissenschaftlicher Verfahren, die den Geltungsanspruch der gewonnenen Aussagen garantieren (vgl. Kambartel und Welter 1998, S. 1326). Der Begriff ‚Methode‘ (von μέθοδος „Nachgehen“, „Verfolgen“) meint das planmäßige und zielgerichtete Vorgehen bei der Lösung eines Problems. Doch da Forschung ein Prozess mit offenem Ausgang ist, stellt sich erst am Ende heraus, ob die gewählte Methode sinnvoll war und zu schlüssigen und reichhaltigen Erkenntnissen geführt hat. Dennoch bleibt den Forschenden nichts anderes übrig, als zu Beginn eine solche Vorgehensweise festzulegen. Oftmals ergeben sich aus der Systematik und Terminologie einer Theorie auch Formen der Anwendung. So werden in der Narratologie (der Theorie des Erzählens) bekanntlich zwei Zeitebenen unterschieden: Story (Fabel), also die basale chronologische Geschichte, und Plot (Sujet), das Arrangement ihrer selektierten Bestandteile im Erzählvorgang. Daraus ergibt sich die Vorgehensweise, in der Filmanalyse Story und Plot in Relation zueinander zu setzen, um Aufschluss über die Zeitgestaltung der filmischen Erzählung zu erhalten. Bei einer vertauschten, multiplen oder mehrfach wiederholenden Erzählfolge lassen sich somit Bedeutungskonstruktionen ermitteln.

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1 Theorienpluralismus und Multiperspektivität Damit Theorien wissenschaftlich relevant sein können und sich von Mythen, Meinungen und Spekulationen unterscheiden, damit Theorien also die Fähigkeit zur Lösung wissenschaftlicher Probleme aufweisen und produktive Erkenntnisse generieren (vgl. Pähler 1986, S. 1 f.), müssen sie in den Augen der Wissenschaftstheorie Qualitätskriterien erfüllen. Im Folgenden seien wesentliche Merkmale zusammengefasst. 1) Rationalität, Kausalität und Logik: Die Sätze einer Theorie sollten in sich konsistent – klar, rational und widerspruchsfrei – aufgebaut sein, also nach logischen Regeln den Zusammenhang von Ursache und angenommener Wirkung bestimmen (vgl. Popper 2005, S. 36–39; S. 60 ff.; Essler 1982, S. 29–48; Kuhn 2010, S. 422) 2) Allgemeingültigkeit, Tatsachengerechtigkeit und Überprüfbarkeit: Theorien sollten eine allgemeine Gültigkeit dahingehend auszeichnen, dass sie nicht nur für den Einzelfall zutreffen und unabhängig von subjektiven Interpretationen bestehen, dass sie außerdem mit den Ergebnissen im Anwendungsgebiet übereinstimmen, sich überprüfen und mit wissenschaftlichen Methoden reproduzieren lassen. (vgl. Popper 2005, S. 39 ff.; 54 ff.; Pähler 1986, S. 60 f.; Kuhn 2010, S. 422) 3) Einfachheit: Eine Theorie sollte „keine überflüssigen Bestandteile enthalten“ (Popper 2005, S. 48), also im Sinne des Ockhamschen Sparsamkeitsprinzip auf das Notwendigste reduziert sein und somit „Erscheinungen ordnen, die ohne sie je isoliert und zusammengenommen verworren wären“ (Kuhn 2010, S. 422). 4) Konsistenzbedingung (und Antiregel): Neue Theorien sollten vereinbar sein mit bereits anerkannten Theorien, die sich auf den gleichen Untersuchungsgegenstand beziehen (vgl. Kuhn 2010, S. 422). Diese, seit Isaac Newton favorisierte ‚Konsistenzbedingung‘ wurde von Paul Feyerabend als innovationshemmend abgelehnt, dessen ‚Anti-Regel‘ dafür plädiert, „daß man Hypothesen einführen sollte, die wohletablierten Theorien widersprechen“ (1999, S. 39, Herv. i. O.), denn: „Theorienvielfalt ist für die Wissenschaft fruchtbar. Einförmigkeit dagegen lähmt ihre kritische Kraft“ (ebd.) 5) Reichweite und Fruchtbarkeit: Die Auswirkungen der Theorie müssten „über die Beobachtungen, Gesetze oder Teiltheorien hinausgehen, die sie ursprünglich erklären sollte“ und „neue Forschungsergebnisse hervorbringen: sie sollte neue Erscheinungen oder bisher unbekannte Beziehungen zwischen bekannten Erscheinungen aufdecken“ (Kuhn 2010, S. 422 f.). Obgleich diese Gütekriterien möglichst allgemein formuliert sind, so wird doch deutlich, dass nicht alle Kriterien für jede Disziplin eine Rolle spielen. Manche Kriterien zielen beispielsweise implizit auf den Zusammenhang von Theorie und Experiment ab, der in den Geisteswissenschaften eine geringere Rolle spielt. Die zu Beginn formulierte Feststellung, dass sich das Theorie- und Methodenverständnis in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften unterscheidet, sei daher nochmal aufgegriffen. Eine Ursache für die Differenzen lässt sich am Forschungsgegenstand festmachen. So wenden sich Naturwissenschaften tendenziell Phänomenen zu, die, wie Tschacher ausführt, „nicht etwas bedeuten oder etwas repräsentieren wollen“, also keinen „intentionalen und semantischen Gehalt“ aufweisen, und deren Eigenschaften oder Verhalten sich

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somit in Experimenten replizieren lassen – unabhängig von der jeweiligen Identität der Beobachterperson („was für ein Elektron gilt, gilt für alle“) (2019, S. 184). Die Geistes- und Sozialwissenschaften hingegen widmen sich tendenziell 1) historischen Phänomenen, die sich nicht eins zu eins im Experiment wiederholen oder über das Experiment verdeutlichen lassen, und/oder 2) intentionalen Phänomenen, welche nicht allein über ihre physischen, intersubjektiven Merkmale erklärbar werden. Die Interpretation durch den Forscher ist daher ein zentraler Bestandteil der geisteswissenschaftlichen Forschung zu Sachverhalten, die nach Popper der Welt 2 zugehören, also der Welt mentaler Zustände, beziehungsweise einer Welt 3 der kulturellen Artefakte. Die geisteswissenschaftliche Kultur fordert also nicht die Neutralität des Forschers, sondern im Gegenteil die Fähigkeit des Experten, mit dem Forschungsgegenstand mitschwingen zu können und sich in ihn hineinversetzen zu können. Der Gegenstand der Forschung besteht im Aufdecken der Intentionalität des Objekts, also dem Verstehen dessen, worauf sich das Objekt bezieht, seine „aboutness“. Sinn und Bedeutung sind damit der eigentliche Gegenstand des Forschungsprozesses, weswegen auch der Einzelfall die Regel ist und statistische Methoden nur in Sonderfällen sinnvoll eingesetzt werden können. (Tschacher 2019, S.185)

Es kennzeichnet die Geschichte und Gegenwart der Wissenschaft, dass sie diese Grenzziehung wiederholt aufgekündigt hat. Dass Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft streng voneinander zu trennen seien, wie Dilthey 1894 bemerkte (vgl. 1992) und wegen ihrer unterschiedlichen Forschungsgegenstände und daraus resultierenden Methoden gar zwei gänzlich verschiedene Kulturen darstellen (Snow 1969, S. 7), habe leider „dazu geführt, gleichermaßen künstliche Schranken zwischen den beiden Methoden aufzurichten“ (Bourdieu 1991, S. 8) und sei das „Ergebnis von Fehlentwicklungen“ (Lauth 2009, S. 32). Es ist ein ebenso oft behaupteter wie offensichtlicher Irrtum, dass die Naturwissenschaften die Objekte ihres Forschens zu erklären, hingegen die Geisteswissenschaften (genauer: die Kultur- und die Sozialwissenschaften) sie zu verstehen suchen; auch die Geisteswissenschaften bemühen sich um Erklärungen, und auch in den Naturwissenschaften spielt das Verstehen von Phänomenen und von Theorien eine bedeutende Rolle, und zwar vor allem bei der Modellbildung, und hier insbesondere bei der Systematisierung von Theorien und bei der Reduzierung von Theorien auf andere.  (Essler 1971, S. 49–50)

Heute blicken wir in der Wissenschaftslandschaft seltener auf zwei völlig getrennte Lager, sondern eher auf ein Spektrum an Disziplinen, die in ihrer Ausrichtung und Methodik graduelle Übergänge und auch Kooperationen oder integrative Bestrebungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften bilden können – wie beispielsweise das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik. Gerade die „Randunschärfen“ der Fächer sind dabei produktiv (Welsch 1997, S. 321). Paul Hoyningen-Huene veranschaulicht diese Landschaft aus graduellen Übergangen prägnant mit einer Aufzählung, die so höchst unterschiedliche Forschungsrichtungen wie die Kosmologie und die Mentalitätsgeschichte über eine Linie aus benachbarten Subdisziplinen miteinander in Verbindung bringt: „Kosmologie – Planetologie – historische Geologie – Paläontologie – biologische

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Anthropologie – Urgeschichte – Frühgeschichte – Alte Geschichte – Sozialgeschichte – Mentalitätsgeschichte“ (2019, S. 34). Auch Filme lassen sich in ihren formalen und strukturellen Eigenschaften auf Basis von Fachbegriffen quantitativ erfassen, vergleichend klassifizieren und diagrammatisch visualisieren. Diese Methoden, die in diesem Band u. a. in den narratologischen, neoformalistischen und/oder quantitativen Zugängen vorkommen, teilen durchaus Gemeinsamkeiten mit empirischen Verfahren und werden aktuell im Zuge der Digital Humanities befördert (vgl. Putsu-Iren et al. 2020). Die erhobenen Daten bieten für die filmwissenschaftliche Forschung allerdings in der Regel den Ausgangspunkt und Beleg für Interpretationen des – im Sinne von Taschers Formulierung – intentionalen, semantischen und repräsentativen Gehalts des kommunikativen Artefakts Film, das heißt: Die quantitative Erhebung bildet das Basismaterial für qualitative Formen des entdeckenden und verstehenden Forschens. Dies außer Acht zu lassen, hieße schließlich, die Poesis (im Sinne Janichs 2006, S. 149 ff.) des Films zu unterschlagen. Wie sich im Folgenden zeigen wird, hat sich die Wissenschaftstheorie auch mit Blick auf die Naturwissenschaften von der Gewissheit verabschiedet, absolute, stabile und fortschrittsoptimierende Theorien zu bilden und kämpft seitdem mit den Herausforderungen von Historizität, Relativierung, Differenz und Pluralismus. Theorie vs. Praxis, Erkenntnis vs. Erfahrung Diese Herausforderungen resultieren aus dem Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis bzw. Erkenntnis und Erfahrung. Die Frage, welcher Seite Vorrang gebühre, hat in der Philosophie eine lange Diskurs-Tradition. Während der kontinentale Rationalismus (René Descartes, Gottfried W. von Leibniz, u. a.) das reine, vernünftige Denken über die Erfahrungswelt stellte, verlangte der Empirismus (Francis Bacon, John Locke, Isaac Newton, David Hume u. a.), dass der Prozess der Erkenntnisbildung stufenförmig von der sinnlichen Erfahrung ausgehen sollte. Theorie kann sich somit im Sinne der Empiristen aus der Praxis ergeben, also induktiv aus Daten, Experimenten oder Beobachtungen hergeleitet sein (induktiv heißt: vom Besonderen auf das Allgemeine zu schließen), oder Theorie kann im Sinne der Rationalisten rein geistig, auf der Basis von Intuition und formaler Logik, also deduktiv entwickelt werden und bei der Erprobung in der Praxis entweder verifiziert oder falsifiziert werden (deduktiv heißt: vom Allgemeinen auf das Besondere zu schließen). Dass es trotz der beeindruckenden Erfolge der empirischen Forschung in der Wissenschaftstheorie zu einer Relativierung der Gültigkeit und einer Infragestellung der Stabilität von Theorien kam, hängt im Wesentlichen mit Karl Popper und Thomas S. Kuhn zusammen. Poppers Kritischer Rationalismus, der in seinem folgenreichen Buch Logik der Forschung im Jahr 1935 seinen Anfang nahm, schloss an David Hume an und erklärte, dass es eine Illusion der Empiristen (und des Wiener Kreises) sei, durch induktive Schlussfolgerungen absolute Aussagen erzielen zu können. Selbst wenn sich eine Aussage lange Zeit als nützlich erweist (sich eine Theorie also bewährt), bleibt sie eine potenziell fehlbare Annahme in dem sprachlich mehrdeutigen und unendlichen Möglichkeitsraum einer sich wandelnden Welt (vgl. 2005, S. 8 ff.; Schurz

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2013, S. 26 ff.). Somit lehnt Popper das Prinzip der Verifikation von Rudolf Carnap als Methode zur Erkenntnissicherung ab und akzeptiert nur die Falsifizierbarkeit. Erkenntnistheorie ist im Sinne Poppers eine Methodologie, die durch kritische Überprüfung und den sukzessiven Ausschluss von Fehlern (nach der Trial-and-ErrorMethode) eine Annäherung an Wahrheit und somit Fortschritt erreichen kann. Eine Theorie vermag nur besser zu sein als eine andere Theorie, aber sie kann nie letztgültig wahr sein (vgl. ebd. 2005, S. 19). „Die Theorie ist das Netz, das wir auswerfen, um ‚die Welt‘ einzufangen, – sie zu rationalisieren, zu erklären und zu beherrschen. Wir arbeiten daran, die Maschen des Netzes immer enger zu machen.“ (ebd. 2005, S. 36) Poppers Hinweis, dass Theorien keine für alle Zeiten stabilen Systeme sind, sich wandeln und in neuen Zusammenhängen aufgehen, bringt bereits eine historische Perspektive ein – allerdings eine, die von einem kontinuierlichen Fortschritt ausgeht. Dem widerspricht Thomas S. Kuhn. Für ihn lässt sich historisch keine Akkumulation von gesichertem Wissen, kurzum keine lineare „wissenschaftliche Entwicklung als Wachstumsprozess“ ableiten (2001, S. 17; vgl. ebd. S. 150). Wenn sich theoretische Systeme grundsätzlich ändern, hat dies rückwirkend Auswirkungen auf jene Aussagen und Begriffe, die durch die Brille der alten Theorien gewonnen wurden, weil sie in ein Spannungsverhältnis zu allen Beobachtungen geraten, die auf Grundlage der neuen Theorien gemacht werden (vgl. ebd., S. 22). Mehr noch: Eine neue Entdeckung kann eine gängige Theorie derart in die Krise stürzen, dass sich Grundannahmen auflösen und schließlich ein Wechsel im theoretischen Paradigma erzwungen wird, welches die Forschung in einem Fach oder einer wissenschaftlichen Gemeinschaft lange Zeit als Leitvorstellung bestimmt und zu festgefügten Traditionen geführt hat (vgl. ebd., S. 25). Der traditionszerstörende Paradigmenwechsel führt somit zu einem qualitativen Umbruch, bei dem neue Erkenntnisse inkommensurabel zum alten Wissen werden, was Kuhn als wissenschaftliche Revolution bezeichnet (ebd., S. 104), wofür die kopernikanische Wende ein anschauliches Beispiel ist (vgl. ebd., S. 111 ff.). Die Feststellung der Inkommensurabilität bildet nicht nur die Grundlage für den Theorienpluralismus, sondern löste auch die Vorstellung einer Einheit der Wissenschaften auf: „Inkommensurabilität betrifft sowohl das ‚vertikale‘ (oder ‚synchrone‘) Verhältnis von Wissenschaften […], als auch das ‚horizontale‘ (oder ‚diachrone‘) Verhältnis von historisch aufeinander folgenden Theorien auf ein und demselben Niveau, also in der gleichen Wissenschaft.“ (Hoyningen-Huene 2019, S. 26) Selbst Kuhns Annahme, dass in einer Wissenschaft über einen gewissen Zeitraum nur ein Paradigma stabil und vorherrschend sei (vgl. 2001, S. 27), wird seit Ende der 1990er Jahre infrage gestellt. Insbesondere in Fachgebieten, die nicht der Naturwissenschaft angehören (aber selbst dort), lassen sich zur gleichen Zeit mehrere miteinander rivalisierende Paradigmen ausmachen, die in ihrer Koexistenz widersprechende Erklärungen für einen Gegenstandsbereich anbieten und sich nicht gegenseitig verdrängen (was als Paradigmenpluralismus diskutiert wird, siehe Kornmesser und Schurz 2014, S. 49 ff.). Es war also Kuhns bahnbrechende Kritik an dem Fortschrittsglauben in Poppers Kritischem Rationalismus, die eine bis heute andauernde Phase der Theoriendynamik

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ausgelöst hat. Der radikalste Schluss daraus wird in der bereits erwähnten Provokation Feyerabends in Against Method von 1975 gezogen (vgl. 1999). Seine Forderung, die Koexistenz des Disparaten im Theorienpluralismus nicht nur anzuerkennen, sondern auch zu praktizieren, sieht Helmut F. Spinner nicht von ungefähr von den simultanistischen Darstellungsformen – also „Collage, Montage, Assemblage“ – der modernen Kunst, Literatur und insbesondere des Films inspiriert (1980, S. 52). Der Theorienpluralismus, so Spinner, hat auch lebenspraktische und gesellschaftliche Auswirkungen: Theoretischer Monismus und theoretischer Pluralismus (...) sind mögliche Lebensformen mit weitreichenden ethischen und politischen Konsequenzen. Während der Monismus – vor allem in seiner zum Dogmatismus degenerierten Form – eine autoritäre Einstellung begünstigt, enthält das fallibilistisch-pluralistische Erkenntnis- und Handlungsmodell den Keim einer humanitären Ethik sowie einer Philosophie der Demokratie. (Spinner 1974, S. 105)

Heutzutage, wo wissenschaftliche Disziplinen ethnozentrische und postkoloniale Denktraditionen aufzuarbeiten suchen, rückt der Theorienpluralismus in eine globale Perspektive. Die Wahrnehmung kultureller Pluralität ist für die Geisteswissenschaften von besonderer Relevanz (vgl. Welsch 1997, S. 333–338), die sich dafür prädestinieren, im Sinne von Homi K. Bhabhas Denkfigur des „Dritten Raums“ eine Sphäre des Dazwischen zu schaffen, wo Konzepte und Bedeutungen neu verhandelt sowie inkommensurable Differenzen anerkannt werden, ohne sie hierarchisch, dichotomisch oder diachronisch zu verfestigten (vgl. 2011, S. 326). Denn dass Disziplinen und ihre Theorien im globalen Kontext kulturelle Differenzen aufweisen können, zugleich aber transkulturelle Wege nehmen und zu hybriden Verbindungen führen, sind dynamische Prozesse, die mit Bhabha in den Blick kommen. Die „Zirkulation des Wissens und Mobilität der Disziplinen“ befreien aus institutionellen Rahmungen, zugleich entledigen sie uns nicht von der Frage nach ihrer Bodenhaftung: „[W]ho speaks, from where and under what conditions of authorization? These are questions of power – political, pedagogical, discursive – as well as trials of legitimation.“ (2018, S. 11) Bhabhas Engagement zielt ab auf eine globale Ausrichtung der Geisteswissenschaften: Angesichts der zunehmenden Internationalisierung im Hochschulbereich und der wachsenden Mobilität von Studierenden und Lehrenden und deren Bedeutung für die Verbreitung globalen Wissens, fordert Bhabha die Konstruktion eines neuen Curriculums für die Geistes- und Kulturwissenschaften, das sich zum Ziel setzt, Studierende zu Weltbürgern und -bürgerinnen zu bilden und auszubilden, die an der Erzeugung öffentlicher Meinungen und der Definition öffentlichen Interesses mitwirken […]. (Kehm 2021, S. 10)

In Nichtnaturwissenschaften muss Theorie auch nicht zwingend ein komplexes System (sogenannte Theorienetze) aus zahlreichen miteinander verknüpften und langlebigen Gesetzen darstellen, wie sie insbesondere in der Physik vorkommen. Es wird der Begriff auch für einzelne Ansätze, Gesetze oder Modelle, also Miniaturtheorien, ver-

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wendet (vgl. Bourdieu 1991, S. 64; Balzer 2009, S. 46 f.). Zu der Dynamik, Vielfalt und Relativität von Theorien in den Geisteswissenschaften kommt noch hinzu, dass mitunter veraltete Theorien weiterhin nachwirken und ihr Echo nicht ganz verklingt. Der Filmwissenschaftler Robert Stam hat das wie folgt zusammengefasst: Theories do not supersede one another in a linear progression. Indeed, there are Darwinian overtones in the view that theories can be „retired“, that they can „fall by the wayside“, or be „eliminated“ in competition. Theories do not fall into disuse like old automobiles, relegated to a conceptual junkyard. They do not die; they transform themselves, leaving traces and reminiscences. There are shifts in emphasis, of course, but many of the major themes – mimesis, authorship, spectatorship – have been there from the beginning. Theory, like all writing, is palimpsestic; it forms a mosaic of traces of earlier theories and the impact of neighboring discourses. (2000, S. XVIII)

Die beschriebenen vielschichtigen Relativierungen haben zum einen den Widerspruch wissenschaftlicher Realisten herausgefordert, die auf den sukzessiven Erkenntnisfortschritt verweisen, der sich in den Erfolgen von Wissenschaft und Technik zeige (vgl. Carrier 2004), auf der anderen Seite Wissenschaftstheoretiker und -theoretikerinnen zu der Frage zurückgeführt, was denn letztlich noch Wissenschaft als Einheit definieren und von Alltagswissen abgrenzen kann. Mit der Systematizitätstheorie schlägt HoyningenHuene vor, den höheren Grad an Systematisierung als gemeinsamen Nenner wissenschaftlicher Erkenntnis zu postulieren. Systematischer verfährt Wissenschaft dabei in neun Dimensionen: in der Beschreibung, Erklärung und Prognose, in der Verteidigung von Erkenntnissen, ihrer kritischen Diskussion und Vernetzung, im Anspruch auf Vollständigkeit, in der Ausweitung und in der Darstellung von Wissen  (vgl. HoyningenHuene 2019, S. 31). Nicht zuletzt geriet die Geisteswissenschaft durch ihre Offenheit für den Theorienpluralismus unter Legitimitätsdruck, musste sich gegen den Vorwurf des Anything Goes und einer daraus resultierenden Beliebigkeit der Ergebnisse rechtfertigen. Sie reagierte darauf u. a. im ethical turn mit der Herausarbeitung der ethischen Dimensionen ihrer Forschung, die in einer „multipolaren Welt“ von besonderer, weil orientierender Relevanz sei (vgl. Bidmon et al. 2009, S. 13; Osterhammel 2012, S. 13). Theorienpluralismus bedeutet noch nicht, dass die Koexistenz auch zu einer gemeinsamen, womöglich interdisziplinären Anstrengung genutzt wird in dem Versuch, synergetische Effekte zu erzielen. An diesem Punkt hilft der Perspektivismus (vgl. Landenne und Asmuth 2018) bzw. der Begriff der Multiperspektivität. Denn diese optische Metapher für das Erkennen betont genau diesen Umstand: Dass die Begrenzung eines Blickwinkels (durch seinen Standort und Horizont) in der Kombination mehrerer Betrachtungsweisen bereichert wird und im Idealfall zu einer umfassenderen Vorstellung des Sachverhalts führen kann. Garantiert ist das nicht. Wechselseitige Sichtweisen müssen einander nicht zwingend zum kohärenten Gesamtbild ergänzen (kumulative Perspektivenvielfalt), sondern können auch Widersprüche und Dissonanzen hervorrufen (inkompatible Perspektivenvielfalt, Sass 2019, S. 26) und somit den Wahrheitsanspruch einzelner Sichtweise relativieren. Abseits eines konvergenten oder divergenten Ergeb-

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nisses führt Multiperspektivität in jedem Fall zum Austausch verschiedener Standpunkte und bildet somit die Vielfalt möglicher Diskurse ab: „Der Perspektivismus endet dort, wo eine Perspektive exklusiv wird und Alternativen ausschließt.“ (Sass 2019, S. 17)  Indem das vorliegende Lehrbuch also die Anwendung der verschiedenen Theorien auf den einen filmischen Gegenstand Blow Up (GB/I/USA 1966) vorführt, begreift es den Methodenpluralismus der Geisteswissenschaften nicht als Mangel, den es durch Vereinheitlichung auszumerzen gilt, sondern würdigt ihn als Potential. Schließlich, so Wolfgang Welsch, sei es „die spezifische Aufgabe der Geisteswissenschaften, diese Pluralität nicht zu leugnen und zu unterbinden, sondern zu begreifen und ihr Rechnung zu tragen“ (1997, S. 321). Durch die pluralistische Anwendung sollen jeweils andere Facetten des Gegenstandes aufgedeckt werden. Zugleich aber – und das richtet sich gegen den Relativismus und die Beliebigkeit des Anything Goes – wird das jeweilige Bezugssystem einer theoretischen Perspektive kenntlich gemacht und eingehalten. In den wechselseitigen Ergänzungen erhoffen wir uns eine nicht erschöpfende und auch nicht zwingend kongruente, aber doch umfangreichere Darstellung dieser spezifischen Wirklichkeit im Film.

2 Theorien in der Filmwissenschaft Filmtheorie will den Bereich Film in seinen verschiedenen Dimensionen systematisch erklären und eindringlich verstehen. Damit sind die Filmwerke selbst gemeint, aber auch die Kontexte der Produktion, Distribution und Rezeption sowie der institutionellen und organisatorischen Formen, nicht zuletzt soziokulturelle, weltanschauliche und politische Zusammenhänge. Auch wenn sich filmtheoretische Fragen an spezifischen Filmen entzünden mögen, so zielt Filmtheorie letztlich darauf ab, intersubjektiv gültige, in sich widerspruchsfreie und nachprüfbare Aussagen zum Phänomen Film zu treffen, also Aussagen, die nicht an ein einzelnes Werk, eine Gruppe von Werken oder eine individuelle Perspektive gebunden sind (vgl. Andrew 1976, S. 5). Dieser Anspruch setzt die Filmtheorie in eine spannungsvolle Wechselwirkung zu den anderen Sektionen filmwissenschaftlicher Forschung wie der Filmanalyse und der Filmgeschichte. Filmanalyse untersucht Einzelwerk oder Werkgruppe und kann – wenn sie sich nicht mit der Beschreibung begnügt – darüber induktiv zu Begriffen, Aussagen und Systematiken kommen, von denen die Filmtheorie profitieren kann. Umgekehrt basiert jede Filmanalyse auf logischer Differenzierung und Fachbegriffen, ist also angewiesen auf Filmtheorie (vgl. Bonnemann 2019, S. 3; Carrier 2006, S. 55 ff.). Wiederum beschreibt Filmgeschichte den historischen Wandel der Formen und Inhalte, der Techniken, Institutionen, Dispositive und gesellschaftlichen Zusammenhänge des Films. Der historische Wandel und die Zeitlichkeit des Films spielt für die Filmtheorie – gleichwie sie sich um allgemeingültige Aussagen bemüht – als doppelte Herausforderung eine Rolle (vgl. Groß 2021, S. 266 ff.). So ist der Untersuchungsgegenstand selbst einer Dynamik ständiger Veränderung unterworfen (vgl. Wuss 1990,

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S. 13). Mit jedem Jahr wächst der Filmkorpus; technologische Entwicklungen (Farbe, Breitwand, Surround-Ton, 3D, CGI, 360-Grad-Film etc.) und die Digitalisierung, Mobilität und Vernetzung der medialen Distributionsformen (DVD, Smartphone, Streaming etc.) führen dazu, dass Film heute in den Zeiten des Post-Cinema ein anderes Phänomen ist als vor 100 Jahren. Film ist nicht mehr ein Ereignis, dem man nur beiwohnen kann (attendance), sondern ein Medium, in das die Zuschauenden als Akteure und Akteurinnen eingreifen (performance) (vgl. Casetti 2010, S. 25 ff.; Morsch 2021). Wie müssen wir Film theoretisieren, wenn er als Meme auf TikTok, Loop auf Instagram oder GIF in WhatsApp bzw. als Best-Scenes-Kompilation auf YouTube auftaucht und im Bus oder Wartesaal mobil gesehen wird? Wo ist Film heute (vgl. Hagener 2011)? Es gilt also stets, das jeweilige historische Verständnis des Phänomens Film in einer Filmtheorie zu berücksichtigen. Neben dem Gegenstand unterliegt die Filmtheorie selbst der Geschichte. Ihre Texte sind vor den soziokulturellen Hintergründen ihrer Zeit zu betrachten: Was verstanden die Autoren und Autorinnen jeweils in ihrer Epoche unter Filmtheorie und was waren ihre Ziele  (vgl. Stam 2000, S. XVII)? Von welchem Publikum war die Rede? Einem „männlichen, weißen und heterosexuellen“ Zuschauer (Kiefer 2011, S. 250), wie es lange Zeit der Fall war? Obwohl es bereits im frühen Kino einen hohen Anteil an weiblichen Zuschauenden gab (vgl. Hansen 1983, S. 173–184), sodass sich die feministische Filmtheorie die Frage stellte, wie Frauen als Zuschauende das patriarchalische Kino adaptieren (vgl. Koch 1989, S. 125–157) und vielleicht gerade Schwarze Frauen, da sie auf der Leinwand kein Identifikationsangebot vorfinden, einen kritischen Blick (oppositional gaze) auf die stereotypen Implikationen entwickeln (vgl.  hooks 2014, S. 115–131)? Welche Filme – und hier schließt sich der Kreis – hatten die Autor*innen gesehen und lagen ihrer Theoriebildung zugrunde? Im Fall von Hugo Münsterberg betrug der Zeitraum zwischen dem Erwachen seines Interesses am Film (mit Neptun’s Daughter, USA 1914) und dem Verfassen seines theoretischen Pionierwerks The Photoplay: A Psychological Study kaum mehr als ein Jahr (vgl. Schweinitz 1996, S. 13; Andrew 1976, S. 14). Von Anfang an bestand also ein Konflikt zwischen dem filmtheoretischen Ziel der Systematisierung und der „Praxisbedingtheit eines Mediums, das […] ständigen, theoretisch nur schwer faßbaren Wandlungen unterworfen ist“ (Albersmeier  2009, S. 6). Eine gewisse Stabilität innerhalb dieses dynamischen Prozesses besteht für die Filmtheorie nur mit Blick auf die Geschlossenheit des einzelnen Artefaktes, also des einzelnen Films oder des jeweiligen filmtheoretischen Textes, wenn auch hier quellenkritische Probleme der Überlieferung (Zensur, Erhaltung, Fassungen, Übersetzung etc.) bedacht werden müssen. So sind Filme, die frühe Filmtheoretiker*innen gesehen haben, heute gar nicht oder nur unvollständig zugänglich. Beispielsweise basiert Béla Balázs prägender, in den 1920er Jahren entstandener Begriff des ‚Querschnittsfilms‘ auf dem Spielfilm K 13 513. Die Abenteuer eines Zehnmarkscheines (D 1926), für den er das Drehbuch schrieb (vgl. Balázs 2017, S. 71; Tröhler 2007, S. 116 ff.). Da der Film heute verschollen ist, können wir weder den Kontext prüfen, noch Siegfried Kracauers 1926 formulierte Kritik: dass die Idee, mit der Wanderung des Geldscheins das „Neben-

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einander des äußeren Lebens“ miteinander zu verknüpfen, in dem Film „längst nicht so reinlich durchgeführt worden“ sei, wie erwartet (2004). All diese Überlegungen zeigen, dass der nachvollziehbare Wunsch, in der Filmtheorie ein konsistentes Gebäude zu finden, in dem die Räume systematisch aufgeteilt, aneinander anschließend oder aufeinander aufbauend konzipiert sind, sich nicht einlösen lässt. Filmtheorie ist zunächst einmal ein „historisch gewachsene[r] Korpus von Texten, die sich wissenschaftlich-theoretisch, also kritisch-reflexiv, mit der spezifischen Technizität, Ästhetik und Rezeption des Mediums Film auseinandersetzen“ (Kiefer 2011, S. 248); und diese Texte leben nur fort, wenn die Refiguration, Diskussion, Anwendung und Weiterentwicklung ihrer Aussagen weiter praktiziert wird, idealerweise in einem „diskursiven Netzwerk“ (Schweinitz 2021, S. 26). Filmtheorie und Filmpraxis Die benannten Wechselwirkungen zwischen Theorie, Geschichte und Analyse des Films lassen sich ebenfalls diskutieren mit Blick auf das Verhältnis von Filmtheorie und Filmpraxis, also dem Nachdenken über Film und dem Gestalten von Film. Manche Autoren und Autorinnen betonen hier die Konkurrenz: „Es hat sich gezeigt, daß die Theorie der Praxis meist um Jahre hinterher hinkte, etliche gutgemeinte Vorschläge der Theoretiker von den Praktikern aus guten Gründen nicht umgesetzt wurden.“ (Diederichs 2004. S. 11) Andere loben den produktiven Austausch und stellen eine Korrelation zwischen „Blütezeiten der Filmkunst und theoretischen Anstrengungen“ fest: „Künstlerisches Niveau ist niemals in einem geistigen Vakuum entstanden, und so wird man vielfach entdecken können, daß im Vorfeld einer glücklichen künstlerischen Ernte eine Zeit nachdrücklicher kritischer Auseinandersetzung […] lag. Die Wissenschaft hat nie die Filme gemacht, wohl aber für verinnerlichte Maßstäbe der Filmemacher Sorge getragen.“ (Wuss 1990, S. 11) Dieses Argument folgt Béla Balázs’ um 1924 formulierten und berühmtem Plädoyer für eine Theorie, welche nicht das „Steuerruder, doch zumindest der Kompass einer Kunstentwicklung“ sein könne (2020, S. 12). Sicherlich sollte man nicht „in den Fehler verfallen, einen zwangsläufigen linearkausalen Zusammenhang zwischen Theorie- und Kunstentwicklung zu konstruieren“ (Wuss 1990, S. 11 f.); gleichwie lässt sich nicht übersehen, dass erste Innovationsphasen der Filmgeschichte – wie die 1920er Jahre (Französischer Impressionismus, Russischer Revolutionsfilm) – davon geprägt waren, dass Filmemachende ihre eigenen Werke theoretisch vor- oder nachbereiteten, was sowohl zu herausragenden Filmen als auch einschlägigen Filmtheorien geführt hat (vgl. ebd.; Bonnemann 2019, S. 4), die gerade, weil sie aus der praktischen Auseinandersetzung resultieren „unter Umständen bis heute Geltung beanspruchen“ können (Kessler und Wulff 2011, S. 262). Darüber hinaus haben Praktiker*innen gezeigt, dass sich Filmtheorie auch mit den Mitteln des Films umsetzen lässt, indem Elemente des Experimentalfilms in den Essay-, Dokumentar- oder Spielfilm übertragen wurden, wie in unserem Fall Michelangelo Antonionis metareflexive Sequenzen in Blow Up demonstrieren. So führt uns seine Fotosequenz im Atelier zur Grenze des Bewegungsbildes und damit zur Grundsatzfrage: Was ist Film? Die Gestaltungsmittel des Films – das Verlangsamen und Vergrößern, das

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Anhalten, Gliedern, Kontrastieren und Schichten der audiovisuellen Texturen – erweitern als filmisches Denken das Theoretisieren über die rein deskriptiven und argumentativen Aussagen der Sprache hinaus (vgl. Bellour 2011; Grant 2013, 2016). Die wachsende Bedeutung von filmerklärenden bzw. videoessayistischen Arbeiten im akademischen Raum und seinem reflexiven Umfeld, die sich zudem in E-Journals interaktiv vernetzen, trägt dieser Tatsache Rechnung (einen Überblick bietet die Website [in]Transition: Journal of Videographic Film and Moving Image Studies). Das Wechselspiel von Theorie und Experiment kann hier im Medium selbst performativ umgesetzt, geprüft, veranschaulicht und reflektiert werden. Dieser Trend lässt sich einordnen in eine breitere Entwicklung einer Experimentalkultur, die sich auch als Teilgebiet der Wissenschaftstheorie im Zuge des Neuen Experimentalismus emanzipiert: Disziplinen, die bislang das Experiment nicht als Teil ihrer Methodik betrachtet haben, entdecken Möglichkeiten und scheuen sich dabei auch nicht, vermeintliche Grenzen zwischen Wissenschaft und Gestaltung zu übersteigen (vgl. Marguin et al. 2019). Systematik der Filmtheorie In dem Versuch, die Theorie des Films zu historisieren, können wir es natürlich nicht dabei belassen, Filmtheorie als eine Ansammlung von Texten und als ein darauf rekurrierendes diskursives Netzwerk zu begreifen, sondern wollen auch eine Ordnung hineintragen. Zunächst kann ein Ordnungsversuch bei (1) der Kategorie Raum ansetzen, wobei hier nationale und/oder sprachliche Grenzen die geographische Zuweisung bestimmen können (vgl. Elsaesser und Hagener 2017, S. 10 f.). So wurde französische Filmtheorie (u. a. Jean Epstein, André Bazin, Étienne Souriau, Christian Metz, Roger Odin, Gilles Deleuze), russische Filmtheorie (u. a. Dziga Vertov, Vsevolod I. Pudovkin, Sergej M. Eisenstein), britische Filmtheorie (u. a. Peter Wollen, Laura Mulvey, Richard Dyer), deutsche Filmtheorie (u. a. Béla Balázs, Rudolf Arnheim, Siegfried Kracauer) oder US-amerikanische Filmtheorie (u. a. David Bordwell, Linda Williams, Rick Altman, Noël Carroll, Tom Gunning, Vivian Sobchack) unterschieden. Betont wird auf diese Weise, dass der Zusammenhang von Sprache, Kultur und Nähe in einem Land zu Austausch und Übereinstimmungen führt, mehr noch: dass sich Denkschulen an Orten und Institutionen konstituieren (ebd. S. 11). Tatsächlich kamen Filmtheorien im Umfeld von Fachzeitschriften (wie Cahiers du cinéma), Filmmuseen (wie der Cinémathèque française) oder wissenschaftlichen Einrichtungen auf – so zum Beispiel der Neoformalismus an der University of Wisconsin–Madison (vgl. Hartmann und Wulff 2002). Parallelen in der Philosophie und Soziologie (Frankfurter Schule), Literaturwissenschaft (Konstanzer Schule) oder Politikwissenschaft (Kölner Schule) unterstreichen die Tendenz zur Schulenbildung in der Wissenschaft. Bereits 1935 bemerkte Ludwik Fleck im wissenschaftssoziologischen Pionierwerk Die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, dass die soziale Komponente bei Erkenntnisprozessen eine nicht zu unterschätzende Rolle spiele. Ein gemeinsamer Denkstil, so Fleck, erwachse aus einem Denkkollektiv, also Menschen, die einander im Austausch prägen und sich auf Konventionen und Gewissheiten einigen (vgl. Fleck 2008, S. 60). Wer die „soziologische Bedingtheit allen Erkennens“ ausblendet oder als eine „leider existierende mensch-

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liche Unzulänglichkeit ansieht, die zu bekämpfen Pflicht ist, verkennt, dass ohne soziale Bedingtheit überhaupt kein Erkennen möglich sei, ja, dass das Wort ›Erkennen‹ nur im Zusammenhang mit einem Denkkollektiv Bedeutung erhalte“ (2008, S. 59). Ein Beispiel für ein solches Denkkollektiv ist der Russische Formalismus, der den Paradigmenwechsel zur modernen strukturalistischen Literatur- und Filmtheorie bereits in den 1910–30er Jahren vorbereitet und sich in St. Petersburg und Moskau entwickelt hat. Seine filmorientierten Texte wurden von Wolfgang Beilenhoff in einer Anthologie versammelt (2005). Solchen editorischen Vorhaben hat sich die Filmwissenschaft jüngst mehrfach gewidmet und gerade die frühen filmtheoretischen Diskurse eines Landes zusammengetragen: beispielsweise zu den Jahren 1907–1933 in Deutschland (Kaes et al. 2016), 1906–1929 in Frankreich (Tröhler und Schweinitz 2016) oder 1896–1922 in Italien (Casetti et al. 2017). In ihren Anfängen wurden filmtheoretische Diskurse stärker durch den kulturellen Zusammenhang in einem Land gerahmt. Es geht diesen Anthologien aber auch darum, den Facettenreichtum der Diskussion vorzuführen, auf wenig bekannte Stimmen, vergessene Entwürfe und übersehene Widersprüche aufmerksam zu machen (vgl. Tröhler und Schweinitz 2016, S. 15) und zu zeigen, dass uns dieses frühe filmtheoretische „Feld der Möglichkeiten, Erwartungen und Vorschläge“ auch in der heutigen Zeit der digitalen Medien mehr zu sagen hat, als wir vielleicht erwarten (Kaes et al. 2016, S. 1). Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs und der Exilzeit erscheint es zunehmend problematisch, Filmtheoretiker*innen einfach einem Land zuzuschlagen. So verbrachte Béla Balázs  sein Leben in Wien, Berlin, Moskau und Budapest, und es  veröffentlichten Münsterberg und Kracauer ihre Filmtheorie-Bücher in den USA auf  Amerikanisch. Je mehr Filmtheorie-Bücher in andere Sprachen übersetzt werden, halten sich auch geistige Einflüsse und Wirkungen nicht mehr an räumliche Grenzen. Diese „transnationalen Übersetzungs- und Transformationsleistungen“ würden von der nationalen Kategorie vernachlässigt, kritisieren Elsaesser und Hagener (2017, S. 11). Indem der geographische Behälter das Versammeln heterogener Theorien ermögliche, suggeriere er zudem eine Einheitlichkeit, die „nur selten der inneren Logik der Positionen entspricht“ (ebd.). Ein anderer Ordnungsversuch würde (2) die Kategorie Zeit zugrunde legen und die Geschichte der Filmtheorie in Epochen und Zäsuren strukturieren. Bereits die genannten Anthologien zur Frühzeit der Filmtheorie in einem Land beruhen auf einer phaseologischen Einteilung, deren Anfang in der Etablierung von Kino und Spielfilm (1907–1911) und deren Ende im Aufkommen des Tonfilms (um 1930) situiert wird, wenn auch die Auswirkungen bis in die 1950er Jahre spürbar sind (vgl. Schweinitz 2021, S. 26 f.). Im Unterschied zur Raumkategorie wird mit dem Blick auf die epochale Phase betont, dass diese frühen Filmtheorien – über die Ländergrenzen hinweg – das Bestreben vereint, auf das neue, moderne, staunenswerte Medium reflexiv zu reagieren und danach zu fragen, was es – wenn es denn eine Kunst sei – als solches charakterisiere. In den Augen Elsaessers musste Filmtheorie jedes Mal auf das Ende einer Ära (des Stummfilms, Studiosystems, Zelluloidfilms etc.) und den Anfang des Neuen (Tonfilm, Fernsehen, Video, digitaler Film etc.) reagieren und Konzepte anpassen (2011, S. 3). Dass

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der Umbruch vom Stumm- zum Tonfilm ein Umdenken in der Filmtheorie bewirkte, lässt sich beispielhaft an den Überlegungen André Bazins festmachen, der diametral andere Positionen einnahm als viele Filmtheoretiker und -historiker vorher. Während diese im Stummfilm die Blüte der Filmkunst und im Tonfilm ihren Niedergang gewahrten, die Kunstfertigkeit des Films an der Überformung der Wirklichkeit festmachten und den Film von anderen Künsten abzugrenzen suchten (vgl. Bordwell 2018, S. 35–45), begrüßte Bazin den Ton als Verstärkung der genuinen Kraft des Mediums Film, die er gerade in der Enthüllung der Realität verortete, und forschte nach den Gemeinsamkeiten mit Literatur und Theater (vgl. 2004a, b). Die phaseologische Einteilung der Filmtheorie wird – das zeigen die Beispiele – durch filmgeschichtliche, aber auch soziokulturelle Umbrüche bestimmt. In den 1960er Jahren, als soziale Bewegungen die Gesellschaften umwälzten und die Neuen Wellen die Kinematographien modernisierten (Nouvelle Vague, Tauwetter-Filme, British New Wave, Cinema Novo, Neuer Deutscher Film, New Hollywood etc.), erlebte auch die Filmtheorie einen Paradigmenwechsel. Die Zäsur führt zu der gemeinhin akzeptierten Unterteilung in eine klassische Filmtheorie (vgl. Kirsten und Tedjasukmana 2021) und eine moderne Filmtheorie (vgl. Felix 2007). Der klassischen Filmtheorie wird u. a. attestiert, das Wesen des Films als Ganzes erfassen und die Filmkunst normativ festlegen zu wollen, tendenziell eher intuitiv, nicht-empirisch und/oder essayistisch vorzugehen; als letztes Werk gilt Siegfried Kracauers Theorie des Films (1960), der Einschnitt selbst wird um 1965 bei Jean Mitrys zweibändigem Werk Esthétique et psychologie du cinéma (1963–65) situiert, einem Versuch der synthetisierenden Auswertung der klassischen Phase (vgl. Albersmeier  2009, S. 3). Danach beginnt die Zeit der modernen Filmtheorie, ausgelöst durch die Arbeiten des Franzosen Christian Metz und dem Bemühen der Semiologie, Film in Folge des linguistic turns als Text zu erfassen, als Zeichensystem mit einer materiellen Oberfläche (Signifikant) und Tiefenstruktur der Bedeutungen (Signifikat). Mit strukturalistischen Verfahren und empirischen Analysen soll das Medium möglichst genau und allgemeingültig beschrieben und auf die Weise Ansprüche der exakten Wissenschaften Genüge geleistet werden (vgl. Tröhler 2021). Im Fortgang hat sich die reflexive Beschäftigung mit Film in den 1970–80er Jahren institutionalisiert und zum Aufkommen der Filmwissenschaft als akademischen Disziplin geführt. Es folgt einer einschlägigen Methode, bei der Ordnung eines Phänomens (hier der Filmtheorie) das Koordinatenkreuz von Raum und Zeit anzulegen; Ferdinand de Saussure hat sie 1916 in eine synchronische Sichtweise (Analyse der räumlichen Vielfalt zu einem bestimmten Zeitpunkt) und diachronische Sichtweise (Analyse des zeitlichen Wandels in einem bestimmten Raum) differenziert (vgl. 2001, 120 ff.; 167–171). Synchronisch stellt das von Bernhard Groß und Thomas Morsch editierte Handbuch Filmtheorie den aktuellen Stand der Filmtheorien im Jahre 2021 in seiner Breite und Vielfalt vor. Dabei rollen die einzelnen Beiträge oftmals diachronisch die jeweilige historische Entwicklung ihres Diskurses auf. Neben der Systematisierung nach 1) Raum und 2) Zeit findet sich in den Werken über Filmtheorie eine Einteilung nach 3) Personen. Gliederungen, die eine „Geschichte der

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großen Namen“ (Schweinitz 2021, S. 27) in der Abfolge der Kapitel vorführen, waren einflussreich (vgl. Andrew 1976; Tudor 1977) und werden weiterhin gewählt (vgl. Bonnemann 2019). Die Vorzüge liegen auf der Hand: Die Abstraktion von Filmtheorie lässt sich konkret an einem Individuum festmachen, dessen Biografie, soziokultureller Hintergrund und Werkgenese eine klare Eingrenzung, womöglich überschaubare Größe und einen inneren Zusammenhang versprechen. Da ein Kanon auf dem Ausschlussprinzip beruht, stellt sich allerdings die Frage: Welche Filmtheoretiker*innen werden hier nicht aufgenommen und aus welchen Gründen? Die Herausforderung besteht darin, dem vielgestaltigen Denken einer Person in einem Kapitel gerecht zu werden. Oftmals suggeriert die Person als Kategorie auch eine Einheit, welche das Werk in seinen Widersprüchen und Umbrüchen nicht einlöst. Teilweise hat man Theoretiker*innen vorschnell auf bestimmte Positionen reduziert. Nahezu verrissen wurden Bazins Texte nach 1968, sein Realismusverständnis vereinfacht und missverstanden; Theoretiker, wie Jean-Louis Comolli oder Colin MacCabe, haben ihn sich „als leicht besiegbaren Gegner aufgebaut“, wie Thomas Elsaesser treffend formuliert (2009, S. 16), als er in einer Würdigung Bazins diese zahlreichen Fehlschlüsse aufarbeitet (vgl. auch Elsaesser 2011). Abgesehen davon ist nur ein Bruchteil von Bazins ca. 2600 Schriften zugänglich (vgl. Andrew et al. 2011, S. X; Kirsten 2009b, S. 4 f.), geschweige denn ins Deutsche übersetzt worden, sodass noch zahlreiche Überraschungen auf uns warten (vgl. Bazin 2014, 2009, S. 163–167). Über welchen Bazin sprechen wir also? Pragmatismus führt oftmals dazu, ganze Diskurse auf eine Person zu reduzieren (Eisenstein für Montagetheorien, Bordwell für Neoformalismus etc.), was der Vielstimmigkeit dieser Denktraditionen nicht gerecht wird. So kann das reiche Spektrum filmphilosophischer Ansätze (vgl. u. a. Engell et al. 2015; Ritzer 2015; Früchtl 2013; Liebsch 2010) leicht in den Hintergrund geraten, wenn der Fokus immer wieder und ausschließlich auf Gilles Deleuze gerichtet wird (vgl. Ott 2021). Die Erforschung historischer Filmtheorie ist ein Zweig in der Filmwissenschaft, der sich zunehmend auszudifferenzieren scheint. So liegen nun mehrere Monografien und Sammelbände zu einzelnen Filmtheoretiker*innen oder sogar einzelnen Facetten ihres Wirkens vor, allen voran zu Siegfried Kracauer (vgl. u. a. Rühse 2022; Biebl et al. 2019; Koch 2012; Hansen 2011; Brecht und Steiner 2004), aber auch Bazin (vgl. u. a. Kirsten 2009a; Andrew et al. 2011; Bazin 2014). Es bleibt zu hoffen, dass sich diese Tendenz auf weniger prominente Vertreter*innen und insbesondere weibliche Akteure ausweiten wird. Losgelöst von äußeren Indikatoren wie Raum, Zeit oder Person, lässt sich Filmtheorie nach 4) Denktraditionen (oder Diskursen) systematisieren. Dabei werden innerhalb der Texte thematische, begriffliche oder perspektivische Verwandtschaften herausgearbeitet – oftmals ausgelöst durch die intertextuellen Verweise der Autor*innen, die sich aufeinander beziehen, Modelle aufgreifen, anwenden, verwerfen oder weiterentwickeln. So bilden sich einzelne theoretische Strömungen aus. Diachronisch, also im zeitlichen Längsschnitt, lässt sich der Genese eines Diskurses folgen, wie es beispielsweise Ian Aitken zu Theorien des Filmischen Realismus unternommen hat (vgl. u. a. 2006, 2016, 2020).

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Die Geschichte der Filmtheorien inhaltlich zu ordnen, bedeutet allerdings nicht zwingend, den ausgeschilderten Wegen etablierter Denktraditionen folgen zu müssen. Um die Verfestigung in Denkschulen zu überwinden, gliedern Robert Stam und Toby Miller ihr Kompendium nach zentralen Fragen der Filmtheorie – was ist Kino? Was unterscheidet Film von anderen Künsten? Was sind der filmische Realismus und seine Alternativen? Wie prägen class, sex und gender den Film? (etc.) – und ordnen ihnen die Antworten verschiedener Richtungen zu, wie jene der Psychoanalyse, Rezeptionstheorie, Kognitionstheorie, Semiopragmatik und feministischen Theorie auf die Frage nach der Rolle der Zuschauenden im filmischen Kommunikationsakt (vgl. Stam 2000, S. XIV– XV). Noch origineller schreiben Thomas Elsaesser und Malte Hagener die Filmtheoriegeschichte neu, indem sie diese am Verhältnis des Films zum Körper (der Zuschauenden) ausrichten, weil sich „keine theoretische Position auf Film und Kino dieser Relation entziehen“ könne (2007, S. 13). Im Spannungsfeld zwischen der Realität des Betrachtenden und der illusionären Sphäre des Films werden sieben Themen mit verschiedenen Filmtheorien ausgeleuchtet: der Einblick in die filmische Welt (Fenster und Rahmen), der Übergang (Tür und Leinwand), die Reflexion des Selbst (Spiegel und Gesicht), die Konstitution visueller Regime (Auge und Blick), die leibliche Erfahrung (Haut und Kontakt), die akustische Raumwahrnehmung (Ohr und Ton) und neuroästhetische Entsprechung des Films zur Psyche (Geist und Gehirn) (ebd., S. 16–19). Interdisziplinarität von Filmtheorie Die Diskurse der Filmtheorie lassen sich nicht isoliert von ihrem denkgeschichtlichen Kontext betrachten, sondern sind eingewoben in geisteswissenschaftliche Denktraditionen (vgl. ebd., S. 12). Denn Film ist unter anderem Medium, Kunstform, Kulturträger, historisches Dokument, ökonomisches Produkt, psychosoziales Moment, politisches Instrument, Technologie und Institution. Und je nachdem, welcher Zugang gewählt wird, lassen sich Erklärungsansätze, lassen sich Filmtheorien in Korrespondenz zu anderen theoretischen Traditionen stellen. Wer sich dem Film über den Medienbegriff nähert, kann Filmtheorie als Teildisziplin der Medientheorie begreifen, die generell Dimensionen, Funktionen und Strukturen von Einzel- oder Massenmedien zu erfassen sucht: von der Antike bis heute, von Platons Höhlengleichnis über die Fotografie und das Kino bis zu VR-Brillen (vgl. u. a. Laagay und Lauer 2004; Weber 2010; Ströhl 2014; Bergermann und Heidenreich 2015; Helmes und Köster 2018). Da Film in seiner Entwicklung andere Medien durchlaufen, synthetisiert und beeinflusst hat, ließe sich Filmtheorie in Bezug setzen zu Einzelmedientheorien (des Comics, Hörfunks, Fernsehens, Computerspiels etc.) oder zu Theorien der Kommunikation, Inter- und Multimedialität (vgl. Rajewski 2002; Robert 2014; Heidemann und Kaul 2015; Yanagibashi 2020; Isekenmeier et al. 2021). Wer Technik, Materialität, Handwerk und Werkstatt des Films theoretisch ergründen will, kann Theorien der Medienarchäologie auf den Wandel der Apparaturen zur Aufnahme und Wiedergabe anwenden (vgl. Löffler 2021) bzw. Theorien der Production Studies oder gar Media Industry Studies auf die organisatorisch-institutionellen Arbeitszusammenhänge richten (vgl. Vonderau 2013; Herbert et al. 2020), außerdem untersuchen, wie

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sich das filmische Handwerk durch technologische Errungenschaften in den Verfahren ändert (vgl. Salt 2009) und in diesem Kontext der Poetik der stilistischen Inszenierung nachspüren (vgl. Bordwell 2018). Wer sich dem Film hingegen als Kunstform nähert, kann Filmtheorie im Bereich der allgemeinen Kunsttheorie verorten, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den modernistischen Avantgarde-Bewegungen befasste und ihren formästhetischen Blick auch auf das junge Medium richtete (vgl. Diederichs 2004; Kiefer 2011, S. 248–249). Indem der Filmkunst-Diskurs (die sogenannte Kino-Debatte) die frühe Filmtheorie dazu herausforderte, das junge Medium neben den etablierten Künsten zu behaupten, befördert er damit die Reflexion filmischer Ästhetik, zugleich aber auch eine normative Programmatik, welche u. a. die genuine Kunst des Films in der Entgrenzung der Wahrnehmung durch die Kamera (Dziga Vertov), in der Konstruktion neuer Bedeutungen durch die Montage (Vsevolod Pudovkin, Sergej M. Eisenstein) oder die Stilisierung der Wirklichkeit erkannte (Rudolf Arnheim 2004). Interdisziplinarität ist ein grundlegendes Merkmal der wissenschaftlichen Erforschung des Films. Von Beginn an war Film ein Gegenstandsbereich, dem sich auch andere Fächer widmeten, so in den 1910er Jahren insbesondere die Soziologie und Pädagogik (vgl. Kessler und Wulff 2011, S. 261–262). Kanonische Texte der klassischen Filmtheorie entstanden aus dem Geist der Kunstgeschichte (Vachel Lindsay), Psychologie (Hugo Münsterberg), Literaturwissenschaft (Russischer Formalismus), Soziologie und Philosophie (Siegfried Kracauer) und ebneten einer Tradition der Interdisziplinarität den Weg, welcher die Filmwissenschaft gefolgt ist, die bis heute in ihrer Theoriebildung u. a. auf Modelle anderer Wissenschaften zurückgreift (vgl. ebd.) oder von Beiträgen aus anderen Disziplinen profitiert, man denke nur an die beiden Kino-Bücher des Philosophen Gilles Deleuze. Indikatoren für die wachsenden Beziehungen zwischen den Disziplinen sind die nach dem Vorbild des lingustic turn erfolgenden turns in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften (cultural turn, spatial turn, iconic turn, body turn, ethic turn etc.), die seit den 1990er in immer kürzeren Abständen proklamiert werden (vgl. Lubkoll und Wischmeyer 2009; Bachmann-Medick 2018). Die Paradigmenwechsel, theoretischen und methodischen Vorstöße eines Fachs werden in Nachbar- und Bezugswissenschaften rasch wahrgenommen und für die eigene Forschung fruchtbar gemacht. Dadurch haben sich mittlerweile zwischen den Fächern eigene Schwerpunkte oder Brückendisziplinen herausgebildet, wie die Filmsoziologie, Filmpädagogik oder Filmgeographie. Ihre Notwendigkeit resultiert aus der wachsenden Mediatisierung unserer Wirklichkeit. Die Filmgeographie beispielsweise ist an der Schnittstelle von Humangeographie und Filmwissenschaft situiert, fragt nach den geographischen Imaginationen, die Filmen eingeschrieben sind, und ihren Auswirkungen auf die außerfilmische Welt: Schließlich werden nicht nur unsere Vorstellungen der Welt, sondern auch unsere Soziosphären vielfach filmisch beeinflusst (vgl. Lukinbeal und Zimmermann 2008; Lukinbeal und Sommerlad 2022). All dies zeigt, dass sich die Frage nach einer genuinen Filmtheorie (vgl. Bonneman 2019, S. 7) leicht beantworten lässt, wenn wir den reflexiv anvisierten Gegenstand Film zum Kriterium machen, aber nur schwerlich mit Blick auf die angelegten Konzepte. Betrachtet man die vorgestellten Theorien in diesem Buch, so wird angesichts von Stil-,

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Genre-, Bild-, Erzähl-, Gender-, Psychoanalyse-, Realismus-, Poststrukturalismus-, Intermedialität- und Medienkultur-Theorien deutlich, dass auch dieser Band vorführen will, wie sehr Filmtheorie eingebunden ist in geisteswissenschaftliche Denktraditionen und wie diese im Dialog mit unserem Gegenstand produktiv werden können. Literaturhinweise zur Filmtheorie (1) Deutschsprachige Literatur Albersmeier, Franz-Josef, Hrsg.  2009. Texte zur Theorie des Films. Stuttgart: Reclam. Bonnemann, Jens. 2019. Filmtheorie. Eine Einführung. Stuttgart: J.B. Metzler. Diederichs, Helmut H., Hrsg. 2004. Geschichte der Filmtheorie: kunsttheoretische Texte von Méliès bis Arnheim. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Elsaesser, Thomas/Malte Hagener.  2011. Filmtheorie zur Einführung. Hamburg: Junius. Felix, Jürgen, Hrsg. 2002. Moderne Film Theorie. Mainz: Bender. Groß, Bernhard/Thomas Morsch, Hrsg. 2021. Handbuch Filmtheorie. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Kirsten, Guido/Chris Tedjasukmana, Hrsg. 2021. Klassische Filmtheorie. Mainz: Ventil. Schlüpmann, Heide. 2002. Öffentliche Intimität: die Theorie im Kino. Frankfurt am Main [u.a.]: Stroemfeld. Witte, Karsten, Hrsg. 1982. Theorie des Kinos. Frankfurt am Main: Suhrkamp. (2) Englischsprachige Literatur Bordwell, David/Noël Carroll, Hrsg. 1996. Post-theory: reconstructing film studies. Madison: University of Wisconsin Press. Branigan, Edward/Warren Buckland. Hrsg. 2015. The Routledge Encyclopedia of film theory. New York/London: Routledge. Braudy, Leo/Marshall Cohen, Hrsg. 2016. Film theory and criticism: introductory readings. Oxford [u.a.]: Oxford UP. Casetti, Francesco. 1999. Theories of Cinema, 1945–1990. Austin: University of Texas Press. Dalle Vacche, Angela. 2003. The visual turn: classical film theory and art history. New Brunswick: Rutgers UP. Furstenau, Marc, Hrsg. 2010. Film Theory Reader: Debates & Arguments. New York/ London: Routledge. Galt, Rosalind/Karl Schoonover, Hrsg. 2010. Global Art Cinema: New Theories and Histories. Oxford [u.a.]: Oxford UP. Dissanayake, Wimal/Anthony Guneratne, Hrsg. 2003. Rethinking Third Cinema. London: Routledge. Lapsley, Robert/Michael Westlake. 2006. Film theory: an introduction. Manchester: Manchester UP [u.a.]. Rosen, Philip, Hrsg. 1986. Narrative, apparatus, ideology: a film theory reader. New York: Columbia UP.

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Kontext und Rezeption des Films Blow Up Ann-Christin Eikenbusch

Die Anwendung einer Theorie auf einen Film benötigt einen faktischen Bezugsrahmen, der den Spielraum für die theoretischen Überlegungen absteckt. Vergleichbar der Auflösung eines Kriminalfalls – der dem Film Blow Up (GB/I/USA 1966) schließlich zugrunde liegt – sollte zunächst dem Hintergrund, den Motiven und Alibis nachgespürt werden, um auf Grundlage der gesammelten Beweise verschiedene Theorien zu erproben. Dabei steht hier nicht das Vergehen im Vordergrund – auch im Film ist es weniger zentrales Handlungsthema als vielmehr Aufhänger – sondern eher die Biografie und das Umfeld der beteiligten Personen. Der Regisseur Fritz Lang schrieb einmal: Ein Werk der Filmkunst ist „nur dann überzeugend und eindringlich, wenn es sich mit dem Wesen der Zeit deckt, aus der es geboren wurde“ (1998, S. 149). Mit der Filmhistorikerin Lotte H. Eisner lässt sich ergänzen, dass das Werk daher auch aus „der Zeit und der Mentalität einer Nation, aus der heraus e[s] geboren wurde[…], erklärt werden“ sollte (1975, S. 11). Folglich soll die Summe der hier gelieferten Informationen über Kontext und Rezeption des Films dazu beitragen, den Dokumentsinn dieses Untersuchungsgegenstandes, seine zeithistorische Verwurzelung, detektivisch aufzudecken.

1 Der Kontext des Films Blow Up und der Durchbruch: Michelangelo Antonioni, Carlo Ponti und MGM  Michelangelo Antonionis Spielfilm Blow Up entstand als erster Teil eines Vertrages über insgesamt drei Filme unter der Leitung des italienischen Produzenten Carlo Ponti für das Major-Label Metro-Goldwyn-Mayer (Rohdie 1990, S. 141). Diese beiden A.-C. Eikenbusch (*)  Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Bulgakowa und R. Mauer (Hrsg.), Angewandte Filmtheorie, Film, Fernsehen, Neue Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41089-6_3

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Namen – MGM und Ponti, der zu dieser Zeit zu den größten und international erfolgreichsten Produzenten gehörte – sicherten Blow Up bereits im Vorfeld große Aufmerksamkeit, auch unter den Zuschauenden, die womöglich noch nie von Antonioni gehört hatten (vgl. Chatman 1985, S. 138). Die Sorge des Studios um die Wirkung eines offenen Endes – eines ungelösten Mordfalls, der (nur vermeintlich) im Vordergrund der Handlung steht – stellte sich als unbegründet heraus: Die Rezeption der zeitgenössischen Filmkritik wie auch des Publikums fiel überwiegend positiv aus. Die 1,8 Mio. Dollar Produktionskosten konnten durch ein Box-Office von fast 20 Mio. Dollar in den Vereinigten Staaten mühelos wieder eingespielt werden (vgl. Corliss 2007, o. S.). Der kommerzielle Erfolg fällt zusammen mit einer thematischen wie motivischen Wende innerhalb von Antonionis Schaffen. Vor Blow Up hatte Antonioni seine sogenannte italienische Tetralogie abgeschlossen, bestehend aus L’avventura (Die mit der Liebe spielen, I/F 1960), La notte (Die Nacht, I/F 1961), L’eclisse (Liebe 1962, I/F 1962) (Abb. 1) und seinem ersten Farbfilm Il deserto rosso (Die rote Wüste, I 1964). Mit Blow Up verschob er die Schwerpunkte, wie er selbst bestätigt: „In my other films I have tried to probe the relationship between one person and another – most often, their love relationship […]. But in this film […] the relationship is between an individual and reality – those things that are around him.” (zit. n. Billard 2008, S. 54) Erste Anzeichen dieser Verlagerung, welche die Spannungen nun weniger zwischen den Figuren, sondern mehr zwischen Figur und Umwelt erkundet, lassen sich bereits in Il deserto rosso ausmachen: Stellte der Regisseur hier sein Gespür für die Beredsamkeit trister Industrielandschaften (Abb. 2) unter Beweis, so sensibilisiert er in Blow Up für den Kontrast zwischen der grauen, urbanen Backsteinkulisse des ärmlichen Londoner East Ends und der opulenten (Schein-) Fassade des Capital of Cool. War es in Il deserto rosso Giuliana (Monica Vitti), die in einer durch Fabriken und Maschinen künstlich und lebensfeindlich gewordenen Landschaft umherirrte, so zeigte nun Blow Up einen männlichen Protagonisten, der seinen wahren Empfindungen keinen Ausdruck zu verleihen wusste und stattdessen ebenso orientierungslos wie von der Wirklichkeit betrogen umherstreifte. Der Erfolg seiner Tetralogie (Sonderpreis der Jury bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 1960 für L’avventura und 1962 für L’eclisse, Goldener Bär der Internationalen Filmfestspiele von Berlin 1961 für La notte, Goldener Löwe der Biennale von Venedig 1964 für Il deserto rosso) ermöglichte Antonioni erstmals Arbeitsoptionen im Ausland, deren unmittelbares Resultat sein erster englischsprachiger und außerhalb seines Heimatlandes Italien gedrehter Film Blow Up werden sollte. Blow Up und die Vorlage: Literatur und Film Es war Francis Wyndhams intimes Interview mit den Mitgliedern der sogenannten „Black Trinity“ – bestehend aus den Londoner Fotografen David Bailey, Brian Duffy und Terence Donovan – in einer Ausgabe des London Sunday Times Magazines vom 10. Mai 1964, welches Produzent Carlo Ponti noch im gleichen Jahr zur Idee eines Films über einen Fotografen inspirierte. Er bot gar David Bailey selbst das Projekt mit dem Namen The Photographer an, welches dieser jedoch ablehnte. Das Vorhaben wurde zunächst ausgesetzt, bis Ponti über seinen

Kontext und Rezeption des Films Blow Up Abb. 1   Antonionis italienische Tetralogie erzählt vom Suchen, Finden und Verpassen der Liebenden: (a) Sandro (Gabriele Ferzetti) und Claudia (Monica Vitti) kommen sich näher, doch ihr gemeinsames Schicksal bleibt am Schluss unklar. Quelle: L’avventura (Die mit der Liebe Spielen, I/F 1960, © Cino del Duca u. a.); (b) Lidia (Jeanne Moreau) und Giovanni (Marcello Mastroianni) sind am Ende wieder zusammen, lieben sich aber nicht mehr, Quelle: La notte (Die Nacht, I/F 1961, © Nepi Film u. a.); (c) Piero (Alain Delon) und Vittoria (Monica Vitti) vereinbaren schließlich ein Treffen, zu dem keiner der beiden erscheint, Quelle: L’eclisse (Liebe 1962, I/F 1962, © Studiocanal)

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britischen MGM-Vertreter Pierre Rouve von Antonionis Entwurf eines Films erfuhr, dessen Geschichte in London angesiedelt sein sollte (vgl. Walker 1974, S. 317). So erwuchs die Idee der filmischen Adaption einer Kurzgeschichte des argentinischen Autors Julio Cortázar: seine 1959 erstmals erschienene Erzählung Las Babas del Diablo (zu Deutsch Teufelsgeifer). Im Englischen trägt schließlich auch dieser Text – nach dem großen Erfolg seiner filmischen Umsetzung – die Überschrift Blow Up (Abb. 3). Antonioni erarbeitete das narrative Gerüst von Blow Up gemeinsam mit Tonino Guerra (einem seiner Stammautoren, der zuvor bereits für La notte, L’avventura und L’eclisse sowie später für Zabriskie Point schrieb) und dem englischen Dramatiker Edward Bond, der vornehmlich für die Dialoge zuständig war. Entsprechend Cortázars Kurzgeschichte reflektiert auch Antonionis Adaption über die Wahrheit des Blicks, der (medialen versus menschlichen) Wahrnehmung. Der Regisseur jedoch verlagerte die Pariser Île Saint-Louis in das London der 1960er Jahre und verlieh dem Amateurfotografen Roberto Michel die Profession eines Modefotografen, der im Film

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Abb. 2   Giuliana (Monica Vitti) unterwegs mit ihrem Filmsohn durch triste Industrielandschaften. Quelle: Il deserto rosso (Die rote Wüste, I/F 1964, © Studiocanal)

Abb. 3   Cameo-Auftritt Julio Cortázars im Fotoalbum über Obdachlose, welches Thomas seinem Agenten im Restaurant zeigt, als Referenz an den Autor der Kurzgeschichte Las Babas del Diablo (zu Deutsch Teufelsgeifer), die als Vorlage für Blow Up diente. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

namenlos verbleibt, doch im Skript als Thomas benannt wird – die Assoziation an den zweifelnden Apostel Thomas, der den Auferstandenen berühren musste, um an seine Existenz zu glauben, drängt sich auf, wenn der Fotograf die gefundene Leiche berührt.

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Beide glauben, einer unerhörten Situation (bei Antonioni einem Mord, bei Cortázar der Verführung eines Minderjährigen) ansichtig geworden zu sein – so scheint es die sukzessive Vergrößerung der Aufnahme (die im Englischen als Blow Up bezeichnet wird) zu beweisen. Der Abzug jedoch lässt sie vermuten, von ihrem fotografischen (Beweis-)Bild betrogen worden zu sein. Blow Up und die (Mode-)Fotografie: Recherche und Vorbereitung  Zur Vorbereitung verfolgte Antonioni die Arbeiten einiger prominenter, in London ansässiger Modefotografen, ließ ihnen gar Fragebögen zukommen, die sich jedoch weniger auf den Beruf, als auf das Privatleben der Szenekünstler bezogen: Wie sie ihre Tage verbringen und wie ihre Nächte; ob sie Alkohol trinken und welchen Hobbies sie nachgingen; wie glücklich ihre Ehen seien und ob sie regelmäßig ihre Frauen betrügen; wofür sie ihr verdientes Geld ausgeben und wie sie sich zum Leben und zum Tod positionierten (vgl. Walker 1974, S. 320). „I must always start from one more or less scientifically proven data“, beschreibt der Regisseur selbst seine akribische Recherchemethode (Antonioni zit. n. Cardullo 2008, S. 139). Und niemand geringeres als Francis Wyndham sollte der Erste sein, der Frage und Antwort stand: Defiantly [...] they have made no attempt to become ‚gentleman’. In this they are like their contemporaries in show business ... All (of them) sense obscurely that they are artists (although they are reluctant to admit this, for fear of sounding pretentious) ... They use East End slang effectively and often ironically – self-deprecatingly, lest they be considered putting on airs, they call photography ‚taking a few snaps’ ... They have a lot of love affairs as well as casual sex ... Bailey’s marriage to Catherine Deneuve was an unusual and significant step to take: usually the photographers’ girls are either models or subservient figures ... They think of themselves as ‚visual’ people and therefore suspicious of the written word. (Auszug aus Wyndhams Antwortschreiben, zit. n. Walker 1974, S. 321)

Direktes Vorbild für die Figuren des Films lieferten, damit Carlo Pontis ursprüngliche Idee aufnehmend, durchaus auch die Mitglieder der „Black Trinity“, die zu Beginn der 1960er Jahre mithilfe handlicher Kleinbildkameras eine neue Ästhetik und einen neuen Typ des Mannequins innerhalb der Modefotografie prägten, welche bis dahin von Größen wie etwa Irving Penn oder Richard Avedon dominiert wurde (vgl. Mahler 2014, S. 61). Im Mittelpunkt ihrer Arbeitsweise stand die Selbst- und Medienreflexion (Abb. 4), die sich in einem vermeintlich improvisierten, schnappschussartigen Duktus äußerte und das Selbstverständnis des fotografischen Mediums und der Wahrnehmung innerhalb der Aufnahmen selbst thematisierte (vgl. Moser 2014, S. 8). Anfang der 1960er Jahre schien die Fotografie im Allgemeinen einen regelrechten Freiheitsdrang zu verspüren: hinaus aus dem Studio, hinein in die Straßen der Stadt. Zu Beginn des Films – durch die ausgehöhlten Buchstaben des Vorspanns hindurch – sehen wir einen Fotografen während eines Shootings, der sein Modell auf dem Dach eines Marktstandes unter freiem Himmel positioniert hat (Abb. 5). Es ist der in London ansässige, US-amerikanische Modefotograf David Montgomery in einem Cameo-Auf-

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Abb. 4   Indizien auf einen Blick: kunst-, kultur- und sozialhistorische Einflüsse auf das Konzept, die Vorbereitung und Produktion des Films. (© Eikenbusch/Maisenbacher)

Abb. 5   Im Schriftzug der Credits wird Fotograf David Montgomery bei einem Shooting gezeigt. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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tritt, der in dieser Szene tatsächlich fotografierte, um sein Spiel überzeugend darstellen zu können. Antonioni jedoch verlegte den Fokus seiner Erzählung vornehmlich in die Kulisse des Studios und ließ die Ästhetik der zeitgenössischen Kunstbewegungen Pop- und Op-Art sowie modischer Trends in der Manier Yves Saint Laurents, André Courrèges und Mary Quants (auf bemerkenswerte Art und Weise im Bereich des Szenenbildes umgesetzt durch Assheton Gorton, im Bereich des Kostümbildes verarbeitet durch Jocelyn Rickards) als Spiegel des aktuellen Zeitgeschehens in sein Werk einfließen. Als „Modelmakers“, wie Francis Wyndham sie für sein Interview betitelte, prägten Baily, Duffy und Donovan das Bild des jungen, hippen, doch auch narzisstischen Modefotografen, ein Image, das Antonioni schließlich in der Inszenierung seines Protagonisten auf überzeichnende Art und Weise umsetzte: Genervt und gelangweilt von der Seelenlosigkeit der Modebranche und ihren „birds“, wie Thomas die Models abfällig bezeichnet, in der jedes An- und Ausziehen, jeder verführerische, kokettierende Blick des Gegenübers nicht etwa das Davor und Danach einer erotischen Erfahrung signalisiert, sondern zum unvermeidlichen nächsten Schritt innerhalb des Arbeitsprozesses wird. Auch hier ist es die (textile) Oberfläche, die etwas verdeckt oder sichtbar werden lässt, eine bloße Schicht, die es aufzubrechen gilt: „Are fashion photographers requested to stress the sexual angle or merely to concentrate on the clothes?“ (Moser 2014, Frontispiz) heißt es auch an einer Stelle des Fragebogens. Im Zuge seiner Recherchen ließ Antonioni jedoch nicht nur Künstler zu Wort kommen, er besuchte auch selbst die Ateliers der Modefotografen, wohnte verschiedenen Shootings bei und spazierte durch die Szeneclubs und Modeboutiquen auf der Carnaby Street in Soho, um sich einen Eindruck von der Stadt, von seinen Einwohnern und der Szene zu verschaffen: „[H]e spent a great deal of time hanging around in search of oscillation, often with photographers and models“ (Hemmings 2004, S. 21). So wurden auch die Fotografen John Cowan und Don McCullin sowie David Montgomery in den Produktionsprozess einbezogen. John Cowans Arbeitsweise und physische Präsenz an der Kamera ähnele am ehesten der des Fotografen in Blow Up, bestätigt Jill Kennington in einem Interview mit Philippe Garner (2011, o. S.). Laut Cowans ehemaligem Assistenten John Hooton wurden Antonioni und Cowan über Terence Donovan miteinander bekannt gemacht (vgl. Hooton 2014, o. S.). Überdies wurde Cowans (reales) Arbeitsatelier im Prince’s Place in Notting Hill zum Schauplatz von Thomas’ Fotostudio im Film umfunktioniert (vgl. ebd.) (Abb. 6). Der am häufigsten mit Antonionis Protagonisten in Verbindung gebrachte David Bailey weise lediglich optisch die größere Ähnlichkeit zu Schauspieler David Hemmings auf, in einem Interview mit Walter Moser bekannte Bailey zudem, den Regisseur erst Jahre nach dem Dreh von Blow Up kennengelernt zu haben (vgl. 2014, S. 9) (Abb. 7). Don McCullin, der vor allem für seine fotografischen Sozialreportagen bekannt war (Abb. 8), fertigte die ikonischen Aufnahmen aus dem Londoner Maryon Park an, auf denen Thomas den Mord zu erkennen glaubt. Ein Bezug zur Filmfigur wird außerdem über Thomas’ Arbeit an einer Fotoreportage über das Leben von Obdachlosen hergestellt – die Fotografien aus dem ärmlichen Londoner East End in dem Musterbuch, das

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Abb. 6   Das Studio des Fotografen in Blow Up verbindet in seiner Funktionalität Arbeits- und Wohnraum. Im Obergeschoss lässt sich auf der linken Seite ein improvisierter Shootingbereich (a) finden, während in der rechten Hälfte eine Ecke mit Sofas und Schallplattenspieler (b) eingerichtet ist. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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Abb. 7   Zwei Künstler bei der Arbeit: Der Fotograf David Bailey, (a) dessen Habitus für Blow Up von Schauspieler David Hemmings (b) adaptiert wurde. Foto: Terry O’Neill, © Iconic Images. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

Thomas seinem Agenten (Peter Bowles) überreicht, stammen tatsächlich aus McCullins Œuvre zu Anfang der 1960er Jahre (Hanreich 2014, S. 134). David Montgomerys Shooting für das Modemagazin Harper’s Bazaar (beziehungsweise für das Magazin Queen, wie sich Kennington im Interview erinnert, s. Garner 2011, o. S.) bescherte seinen Models Jill Kennington, Veruschka von Lehndorff und Peggy Moffitt schließlich ihre ersten Rollen in der Filmbranche (vgl. Moser 2014, S. 10).

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Abb. 8   Arbeiten des britischen Fotografen Don McCullin: Ein irischer Obdachloser (a) (Ohne Titel, 1970) sowie katholische Jugendliche, die vor einer Gasattacke flüchten (b) (Gang Of Boys Escaping C.S. Fired By British Soldiers, Londonderry, Northern Ireland, 1971). Quelle: Tate, © Don McCullin; National Galleries Scotland, © Don McCullin)

Wie es die Werkfotos aus dem Blow-Up-Katalog zur Wiener und Winterthurer Ausstellung belegen, fungierte Montgomery zudem in der Rolle eines Beraters für Antonioni (vgl. S. 39). So orientieren sich die Figuren der Models nicht nur an realen Vorbildern – sie gehörten gar selbst dem Kreis der Szene an, allen voran die Deutsche Veruschka von Lehndorff, aber auch das britische Supermodel der Zeit, Jill Kennington, die mit Fotografen-Größen wie Helmut Newton oder Jeanloup Sieff zusammengearbeitet hatte. „One day he turned up on a shoot I was doing [...] at David Montgomery’s studio“, erinnert sich Kennington. „I was a bit disappointed that the shoot was quite abstract and graphic, not typically my type of work. Of course, only when the filming started [...] could I see how that shoot had given him ideas and inspirations.“ (Garner 2011, o. S.)

Antonioni entdeckte den 24-jährigen David Hemmings in der Dylan ThomasProduktion Adventures in the Skin Trade auf der Bühne des Hampstead Theatre Clubs (vgl. Hemmings 2004, S. 5), nachdem er bereits zahlreiche Vorschläge seiner Agenten abgelehnt hatte (vgl. Billard 2008, S. 68). Als Hemmings von Ponti zu einem Screen Test eingeladen wurde, kursierte das Projekt noch unter dem Titel A Girl, a Photographer and a Beautiful April Morning, wurde dann als The Antonioni Film bezeichnet (vgl. Walker 1974, S. 322), bis es während der Dreharbeit als The Blow Up betitelt wurde (vgl. Theobald 1966, S. 128). Vanessa Redgrave und Sarah Miles übernahmen die zwei weiblichen Hauptrollen der geheimnisvollen Frau aus dem Park (Redgrave) und die der Patricia, Thomas’ Nachbarin (Miles). Ähnlich namenlos, wie die Figuren sowohl von Hemmings als auch von Redgrave im Film verbleiben, waren beide Schauspieler

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vor ihrem Engagement dem internationalen Publikum wenig bekannt. Für die Kamera gewann Antonioni wieder Carlo di Palma, der seine Fähigkeiten – und vor allem sein Gespür für die Besonderheiten des Farbfilms – zuvor in Il deserto rosso unter Beweis gestellt hatte (Abb. 9). Am 24. April 1966 starteten schließlich die Dreharbeiten an Originalschauplätzen in London und in den MGM-Studios in Boreham Wood und konnten noch im August desselben Jahres abgeschlossen werden. Blow Up und das Swinging London: Mode, Musik, Jugendkultur Ursprünglich war überlegt worden, die Geschichte in Italien anzusiedeln, doch bot keine der dortigen Städte den richtigen Schauplatz – nicht nur für die Erzählung selbst, auch als Umgebung des Protagonisten war sein Heimatland für Antonioni undenkbar: In the first place, a person like Thomas does not really exist in Italy. [...] Thomas is also about to become entangled in events which are easier to relate to London than to life in Rome or Milan. He has opted for the revolution which affects life, customs, and morality here in England, at least among young artists, designers, advertising men, models or musicians who are inspired by the ‚pop’ movement. [...] But I do not really intend to make a film about London. The same story could be shot in New York, perhaps also in Stockholm, and certainly in Paris. (Huss 1971, S. 10)

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Abb. 9   Antonioni nutzte bereits in Il desserto rosso den Farbfilm, um Themen und Figuren des Films zu unterstützen. Das Rot verleiht dem Raum einen erotischen Hauch (a), während die Figuren sich einander langsam annähern und berühren. Der Rauch wird mit gelber Farbe verstärkt (b), um seinen Giftgehalt für die Umwelt auszudrücken. Quelle: Il deserto rosso (Die rote Wüste, I/F 1964, © Studiocanal) Ähnlich expressiv, aber auch ordnend arbeitete Antonio in Blow Up (c+d). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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Ein eigenes Bild der britischen Hauptstadt erlangte Antonioni bereits zwei Jahre vor der Produktion: 1964 begleitete er seine damalige Frau Monica Vitti zu den Dreharbeiten von Joseph Loseys Modesty Blaise (Modesty Blaise – Die tödliche Lady, GB 1966) (vgl. Billard 2008, S. 54). Die Stadt war ihm zu diesem Zeitpunkt nicht gänzlich unbekannt, machte er London doch bereits in einer Episode seines zweiten Langspielfilms I Vinti (Kinder unserer Zeit, F/I/GB 1953) zum Schauplatz der Geschichte. „I liked the happy, irreverent atmosphere of the city. People seemed less bound by prejudice“ (Antonioni zit. n. Billard 2008, S. 54), fasst der Regisseur seine ersten Eindrücke der Metropole zusammen. „English people are much more familiar to me“ (ebd., S. 76). Die Wohnung als Schauplatz der Potparty-Szene stellte der Kunstgalerieinhaber und Antiquitätenhändler Christopher Gibbs zur Verfügung (vgl. Hemmings 2004, S. 29), der für eine Geschichte der Men in Vogue in der Novemberausgabe 1965 innerhalb seiner (noch leeren) vier Wände abgelichtet wurde und für Antonioni das „selbstverliebte neue Dandytum“ (Garner 2014, S. 174) des Swinging London repräsentiert haben musste. Gewiss bildete die Stadt in den 1960er Jahren eine stimmige Kulisse für eine Geschichte über Wahn und Wirklichkeit, war es doch ein Ort, der selbst „sowohl urbane Realität als auch Trugbild“ verkörperte, eine Metropole, „in der ein neuer Geist von Freiheit und Möglichkeit herrschte“ (ebd., S. 172): Mary Quant verkaufte auf der King’s Road massenweise Miniröcke, das Wochenende wurde an jedem Freitagabend durch die Musik-, Mode- und Tanztipps der Popsendung Ready, Steady, Go! eingeleitet, die den Zeitgeist der vibrierenden Beatszene entschieden mitprägte. Auch die Yardbirds, die zu Anfang des Films im (auf dem Gelände der MGM-Studios nachgebauten) Ricky Tick Club auftraten, waren Gast dieser Fernsehshow, erstmals im Frühjahr 1964 und schließlich im Mai 1966 – also zur Zeit der Dreharbeiten (vgl. ebd., S. 173). „[N]ew ideas in music and fashion were being nurtured, ideas designed to shock the older generation out of its post-war apathy and convince the new young spenders that they deserve a culture all of their own“, erinnert sich David Hemmings (2004, S. 4): „[T] he sixties were up and running and with them emerged a horde of style-setting retailers who influenced almost everything we bought – miniskirts, tights […], a new take on make-up, hairstyle and art, […] and, in the end, films like Blow Up.” (ebd. S. 5) Hier wuchs eine hedonistische Generation heran, die sich durch eine künstlichschrille Oberfläche, einer Art Maskerade auf den Laufstegen der Szeneviertel, von der Wirklichkeit abzuschotten suchte. Mode, Musik, Popkultur und Kunst wurden zum Ausdrucksmedium einer neuen, selbstbewussten wie selbstbestimmten Jugendlichkeit, das Wirtschaftswunder der vorherigen Dekade bescherte ihnen Wohlstand und Dekadenz gewissermaßen als Geburtsrecht. Das Ergebnis war die Produktion günstiger Massenware, in der Mode- und Musikbranche gleichermaßen, für eine trendbewusste Generation. Das Time Magazine widmete seine komplette Ausgabe vom 15. April 1966 der Swinging City als Epizentrum dieser Kultur, und nicht ohne Grund besang die Band The Kinks die modische Strahlkraft des Szeneviertels Soho in ihrem im gleichen Jahr veröffentlichten Hit Dedicated Follower of Fashion: „Everywhere the Carnabetian Army marches on, each one a dedicated follower of fashion.“ Mithilfe all dieser Querver-

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weise wurde der Schauplatz explizit Teil einer Distributionsstrategie für einen Film in einer Stadt, „where teenage pop singing groups have their records sold in shops owned by people their own age, and photographers who have barely started showing drive Rolls Royces with radio-telephones“ (aus der Pressemappe des Films, zit. n. Lev 1989, S. 135).

2 Reaktionen und Nachwirkungen Blow Up und das Publikum: Rezeption und Auszeichnungen Mit Blow Up wurde Antonioni international bekannt; mittlerweile gilt das Werk als Meilenstein der Filmgeschichte und zugleich als größter kommerzieller Erfolg des italienischen Autorenfilmemachers. Die Attraktivität des Films gründete jedoch nicht nur auf der Präsentation des Swinging London oder den großen Etiketten Ponti und MGM, mit denen der Film von Anfang an ausgewiesen wurde. Es waren vor allem auch die (damals als riskant geltenden) Aufnahmen von Nacktheit, die Andeutungen sexueller Handlungen (zwischen Thomas und den zwei jungen Frauen ebenso wie zwischen Ron und Patricia), welche die Diskussionen um den Film immens anfeuerten. Entstanden inmitten der Debatten um eine Überarbeitung des sogenannten Production Codes, der die gesamte Hollywoodproduktion seit den 1930er Jahren durch strikte Zensurmaßnahmen steuerte, erzielten die Kontroversen um jene Szenen große Publicity, wie es auch Peter Lev in seiner ironischen Erfolgsgleichung herausstellte: „Blow Up is Antonioni plus Cortázar plus swinging London plus the Film Generation plus sex in cinema plus Carlo Ponti plus MGM.“ (1989, S. 137) Da sich Antonioni grundsätzlich einer Kürzung verweigerte (das Recht auf den Final Cut lag vertraglich zwar bei MGM, konnte jedoch ausschließlich nach Zustimmung des Regisseurs in Kraft treten), schlug MGM einen anderen Weg ein: Blow Up wurde ohne offizielles Freigabesiegel der Motion Picture Association of America unter der Tochterfirma Premier Films vertrieben und die Verantwortung im Vorspann durch den Titel „Carlo Ponti Presents“ gewissermaßen abgetreten, um mögliche Differenzen mit der MPAA zu unterbinden, gehörten doch alle Major Labels zu seinen treuen Unterstützern. Tatsächlich aber nahm Antonioni eine Kürzung in der Sequenz zwischen Ron und Patricia vor, um den Eindruck zu mindern, Patricias Erregung würde durch den voyeuristischen Akt des Fotografen während ihres Liebesspiels gesteigert (vgl. ebd., 1989, S. 136). Trotz (oder gerade wegen) der andauernden Kontroversen, die nicht nur in den USA die Veröffentlichung des Films begleiteten, wurden dem Regisseur zahlreiche Auszeichnungen und Nominierungen zuteil, von denen im Folgenden nur ein kleiner Ausschnitt Beachtung finden kann. Sie ebneten dem Werk nach seiner Uraufführung in New York im Dezember 1966 den Weg in das Pantheon der Filmkunst: Die Academy (of Motion Picture Arts and Sciences) nominierte Antonioni bei den Oscar-Verleihungen des Jahres 1967 in der Kategorie „Beste Regie“, sowie ihn und seine zwei weiteren Drehbuchautoren Tonino Guerra und Edward Bond in der Kategorie „Bestes Original-

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drehbuch“. Ebenso nominiert wurde der Film in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ bei den Golden Globes desselben Jahres. Die Internationalen Filmfestspiele von Cannes ehrten den Regisseur 1967 schließlich durch die Verleihung der Goldenen Palme und die in den USA neu gegründete National Society of Film Critics verlieh die Auszeichnungen in den Kategorien „Bester Film“ sowie „Bester Regisseur“ an Antonioni. Enno Patalas nannte Antonionis Film die Geschichte einer „sehr spezifische[n] Faszination“ an dem Medium der Fotografie als „Abbild der Wirklichkeit, Inbegriff der Objektivität“, welche eine „Vorstellung […], deren Wahrheit oder Unwahrheit am Ende irrelevant wird“ auszulösen vermag (1967, S. 265). Auch Uwe Nettelbeck legt in seiner Besprechung für Die Zeit den Fokus auf die Frage nach dem Sujet des Films – ein Ansatz, der auch im Publikum für Spekulationen gesorgt haben dürfte: Antonionis Film ende „wie sonst Krimis anfangen“, weil hinter der Frage nach der Wahrhaftigkeit des Mordes „die wichtigere Frage wartet, ob dies nicht vielleicht gleichgültig ist“ (1967). Antonioni beantworte dies, indem er „nicht eine geheimnisvolle Mordgeschichte“ zum Hauptthema seines Films mache, sondern das Leben und die Arbeit des Fotografen Thomas in den Mittelpunkt rücke (vgl. ebd.). F. A. Macklin lastete Antonioni hingegen an, zu viel gewollt zu haben – „Michelangelo Antonionis Blow Up is an important film, but the range of its brilliance gives it the effect of a tour de force.“ –, hebt den medienreflexiven Ansatz des Films jedoch als besonders herausragend hervor (1971, S. 36 f.). Carey Harrison prophezeite Antonioni für Blow Up, dessen Plot fesselnd und der intellektuelle Input banal seien, eine breitere und gemischte Zuschauerschaft, als er es sonst gewohnt sei (1967, S. 62) – eine Einschätzung, die sich tatsächlich bestätigen sollte. Einen Verriss hingegen schrieb Pauline Kael, deren Kritik auf dem ihr unverständlichen Hype um den pseudo-intellektuellen und -künstlerischen Gehalt des Films aufbaut, kulminierend in ihrer Beurteilung des Endes als „one of those fancy finishes that seems to say so much (but what?) and reminds one of so many naïvely bad experimental films“ (1967, S. 30). Ihren Erzrivalen Andrew Sarris von der Village Voice indes stimmte ein Film wie Blow Up äußerst optimistisch: „It is possible that this year’s contributions from Ford, Dreyer, Hitchcock, Chabrol, and Godard may cut deeper and live longer, but no other movie this year has done as much to preserve my faith in the future of the medium.“ (1971, S. 31) Der Kritiker ordnete Blow Up in die Reihe der Filme anerkannter Autorenfilmer vorheriger Jahre ein, unter anderem zwischen Max Ophüls Lola Montès (Lola Montez, D/F 1955), Kenji Mizoguchis Ugetsu monogatari (Ugetsu – Erzählungen unter dem Regenmond, J 1953), Jean-Luc Godards Le mépris (Die Verachtung, F/I 1963), Frederico Fellinis 8½ (Achteinhalb, I/F 1963) oder Alfred Hitchcocks Rear Window (Das Fenster zum Hof, USA 1954) (vgl. ebd., S. 33). Wobei letzterer immer wieder zu Vergleichsanalysen hinsichtlich der Beschäftigung mit dem Medium der Fotografie anspornte (Abb. 10) – eine Verbindung, die als beliebteste Referenz aufscheint, zuletzt etwa durch die 2014/2015 von den Ausstellungshäusern C/O Berlin, der Albertina Wien und dem Fotomuseum Winterthur gemeinsam entwickelte und präsentierte Ausstellung Blow Up. Antonionis Filmklassiker und die Fotografie.

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Abb. 10   Rear Window lud schon 12 Jahre vor Blow Up mit seinem offensichtlichen Voyeurismus und der rahmenden Kriminalhandlung dazu ein, Fotografie zu thematisieren. Quelle: Rear Window (Das Fenster zum Hof, USA 1954, © Universal)

Auch der Kurator Walter Moser bezeichnete Blow Up jüngst als einen Klassiker, der „nicht nur Film-, sondern auch Foto- und Kunstgeschichte geschrieben“ habe (2014, S. 6). Auf die Weise, wie Antonioni die Möglichkeiten der Fotografie im Verbund mit anderen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, etwa der Malerei, Musik, Design und Mode reflektiert, bestätigt sich die Reichweite von Blow Up gewiss auch in Hinblick auf die Beschäftigung zeitgenössischer Künstler*innen mit den Motiven und Themen des Films. Matthias Meyers 2-Kanal-Videoinstallation Ohne Titel (1999/2007) etwa basiert auf den subjektiven Einstellungen der zentralen Szenen im Maryon Park, in denen alle beteiligten Personen jedoch herausretuschiert wurden, sodass die Doppelprojektion lediglich – mit Hinweis auf Siegfried Kracauer – das vom Wind bewegte Blattwerk der Bäume in den Blick nimmt (Abb. 11). „Durch die digitale Ausblendung und die Konstruktion einer Leerstelle erlangt die im Fokus des Originalfilms stehende Problematik filmischer Bildrealität eine verschärfte Präsenz“, heißt es im Ausstellungstext auf der Website des Künstlers (2016). In Anlehnung an Walter Benjamins zwischen 1936 und 1939 entstandener Abhandlung zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (2013) und Timm Ulrichs

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Abb. 11   Matthias Meyer hat für seine Installation „Ohne Titel“ die Figuren aus den Parkszenen herausretuschiert. Auf diese Weise ergibt sich für die Betrachtenden durch die Doppelprojektion, dem übriggebliebenen Rauschen des Windes und dem Wehen der Blätter eine neue Rezeption der filmischen Realität: ein Thema, mit dem sich Blow Up selbst auseinandersetzt. (Foto: Yun Lee, © Matthias Meyer)

Die Photokopie der Photokopie der Photokopie der Photokopie (1967), einer 100-fachen Vervielfältigung des Schutzumschlages von Benjamins Werk, widmete sich das Amsterdamer Designtrio Experimental Jetset in „Helvetica/Blow Up“ (2007) der sukzessiven Vergrößerung eines Details aus dem Filmposter des Jahres 1966 (Abb. 12). Der letzte der insgesamt neun Ausschnitte präsentiert sich schließlich als „schwarz gedruckte, mikroskopisch aufgebrochene Fläche […], deren holzartiges Papier an Antonionis verschwommene Szene im Unterholz“ erinnere (Seelig 2014, S. 225). Der Versuch einer (ersten) Spurensicherung sei hiernach abgeschlossen, woraufhin unser Untersuchungsgegenstand nun auf verschiedene Interpretationen hin abzuprüfen ist – in Form verschiedener Filmtheorien, die als blow ups einzelner Aspekte des Filmwerkes einen jeweils anderen Fokus auf Details offenbaren. Diese vermögen im Einzelfall sodann das Geschehen, wie wir hoffen, plausibel zu entschlüsseln.

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Abb. 12   Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Schriftart Helvetica steuerte das Design-Trio Experimental Jetset ein Poster zum Jahr 1966 bei. Sie entschieden sich für Blow Up, der in diesem Jahr erschienen war. Gemäß der Idee des Films vergrößerten sie jeden Ausschnitt sukzessive, sodass am Ende ein ähnlicher blow up entsteht wie der im Film. (© https://www. experimentaljetset.nl)

Filmografie: Michelangelo Antonioni Cronaca di un amore (Chronik einer Liebe, I 1950) I vinti (Kinder unserer Zeit, I/F 1952) La signora senza camelie (Die große Rolle/Die Damen ohne Kamelien, I 1953) L’amore in città, Episode “Tentato suicidio” (Liebe in der Stadt, I 1953) Le amiche (Die Freundinnen, I 1955) Il grido (Der Schrei, I/USA 1957) L’avventura (Die mit der Liebe spielen, I/F 1960) La notte (Die Nacht, I/F 1961) L’eclisse (Liebe 1962, I/F 1962) Il deserto rosso (Die rote Wüste, I/F 1964) I tre volti, Episode „Die Probeaufnahme“ (Drei Gesichter einer Frau, I 1965) Blow Up (GB/I/USA 1966) Zabriskie Point (USA 1970) Chung Kuo China (Antonionis China, I 1972) Professione: reporter (Beruf: Reporter, I/F/SP 1975) Il mistero di Oberwald (Das Geheimnis von Oberwald, I/BRD 1980) Identificazione di una donna (Identifikation einer Frau, I/F 1983) 12 registi per 12 città (Episode “Rom”) (I 1989) Al di là delle nuvole (Jenseits der Wolken, F/D/I 1995) Eros (Episode “Il filo pericoloso delle cose”) (USA u. a. 2004)

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Theorien der Gestaltungsanalyse: Narration, Bild und Ton Roman Mauer, Thomas Meder und Larson Powell

1 Theorien des filmischen Erzählens Roman Mauer Mit Konzepten des filmischen Erzählens lässt sich das ästhetische Material eines Romans oder Films durchleuchten und das tragende Gerüst  der Narration freilegen. Ziel dieses Beitrags ist es, den Nutzen dieser Modelle zu demonstrieren, indem sie als Methoden der Analyse auf Blow Up (GB/I/USA 1966) angewendet und indem zugleich Anschlussstellen für andere Theorien markiert werden. Welche Präzisierung und welche Erkenntnisse erzeugt ein solcher erzähltheoretischer Blick auf Antonionis Film? In der Literaturwissenschaft ist es üblich, die historische Entwicklung der Narratologie in drei Phasen zu unterscheiden: die vorklassische, klassische und postklassische Phase. Die (1) vorklassische Phase wurde durch Reflexionen des eigenen Schreib-Handwerks initiiert (wie Aspects of the Novel von Edward M. Forster, 1927; The Art of the Novel von Henry James, 1934), bis in den 1940–1950er Jahren deutsche Literaturwissenschaftler Pionierarbeit bei der Systematisierung leisteten, wie Käte Hamburger, Wolfgang Kayser, Eberhard Lämmert oder Franz K. Stanzel. Die (2) klassische Phase entstand in Frankreich R. Mauer (*)  Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Meder  Hochschule Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] L. Powell  University of Missouri-Kansas City, Kansas City, USA E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Bulgakowa und R. Mauer (Hrsg.), Angewandte Filmtheorie, Film, Fernsehen, Neue Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41089-6_4

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in den 1960er Jahren im Zuge des französischen Strukturalismus, als Tzvetan Todorov, Gérard Genette, Claude Bremond und Roland Barthes (u. a.), die Einflüsse aus der Linguistik (Ferdinand de Saussure), dem russischen Formalismus (Boris M. Eichenbaum, Viktor Šklovskij, u. a.) und der Morphologie (Vladimir Propp 1972) aufgriffen. Die methodologische Grundlage legte Genette 1972 mit dem Standardwerk Discours du récit (Die Erzählung), dessen Begriffe sich als ‚Gebrauchssprache‘ der Narratologie etabliert haben. In der (3) postklassischen Phase seit Ende 1990er Jahre wird das Forschungsfeld erweitert: transgenerisch auf faktuale Erzählungen, Dramen oder Lyrik, transmedial auf Comics, Musik oder Computerspiele und interdisziplinär – der sogenannte narrative turn – in den verschiedensten Sozial- und Geisteswissenschaften (vgl. Herman 1999; Nünning und Nünning 2002). Da Film als darstellende Kunst eine enge Verbindung zum Theater aufweist, lässt sich diese Phaseneinteilung der Literaturwissenschaft nur bedingt auf die Filmwissenschaft anwenden. Die Dramentheorie (Aristoteles, Gustav Freytag, u. a.), daran anschließende Drehbuchdidaktik (Syd Field, Christopher Vogler, Robert McKee u. a.) sowie die Produktionspraxis (Studio-Traditionen des Classical Hollywood, u. a.) haben einen Einfluss auf die Theoriebildung filmischen Erzählens ausgeübt (vgl. Eder 2007; Eick 2006; Krützen 2011), die durch Arbeiten von beispielsweise Seymour Chatman (1985), Edward Branigan (1984) und David Bordwell (1985) eine eigene (teils kognitivistisch-neoformalistische) Richtung entwickelt hat. Daher werden wir unsere Perspektive bei Bedarf um andere Modelle erweitern und insbesondere im ersten Teil dramaturgische Konzepte an der Schnittstelle zur Drehbuchdidaktik heranziehen, wenn sie einen heuristischen Wert haben. Dezidiert filmnarratologische Theorien kommen danach zum Zuge. Ausgangspunkt ist die Frage: Welche Elemente sind eigentlich konstitutiv für eine Erzählung? Zur „Minimalbedingung der Narrativität“ zählt Wolf Schmid, „dass mindestens eine Veränderung eines Zustands in einem gegebenen zeitlichen Moment dargestellt wird“ (2014, S. 3; vgl. dazu auch Kuhn 2011, S. 55–61). Aus diesem Nukleus des Erzählens lassen sich drei Forschungsbereiche ableiten, welche die Vorgehensweise und Analysen dieses Beitrags bestimmen sollen: 1) die Frage nach der Zustandsveränderung (Handlungsstruktur), 2) die Frage nach der zeitlichen Ordnung (temporale Struktur) und 3) die Frage nach der darstellenden Vermittlung (perspektivische Struktur).

1.1 Handlungsstruktur In der Regel weisen filmische Erzählungen nicht nur eine Zustandsveränderung auf, sondern mehrere, die als Ursache-Wirkungs-Kette den Film durchziehen. Von den Dramentheorien bis zu den Drehbuchratgebern herrscht Einigkeit darüber, dass der Erzählbogen (Arc) durch eine Initialzündung in der Exposition aufgelöst wird. Diese Initialzündung etabliert entweder 1) den zentralen Konflikt, der im Finale behoben wird, 2) die grundlegende Frage, die am Schluss ihre Beantwortung findet oder 3) das willentliche Ziel der Hauptfigur, welches diese schließlich erreicht oder verfehlt (vgl. Freytag 2003, S. 100–102; Krützen 2004, S. 153; Eick 2006 S. 60, 80–81). Die Exposition des

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Films Blow Up weckt unser Interesse mit einem kleinen Spannungsbogen, der sich aber rasch auflöst und nicht den Plot in Gang bringt. Dieser Hook – also der ‚Angelhaken‘, der uns zu Beginn ‚ködert‘ und ‚hineinzieht‘ (vgl. Carrière und Bonitzer 1999, S. 107; Hant 2000, S. 72; Chion 2001, S. 188–189) – besteht aus der Frage: Wer ist dieser Mann, der als Obdachloser ein Asyl verlässt und dann im Rolls Royce wegfährt? Nach der Auflösung des Hooks (ein Fotograf, der mit Undercover-Aufnahmen sein Buchprojekt bereichert) folgen lose Episoden, die den Protagonisten in seiner (beruflichen) Welt charakterisieren, aber keine Geschichte entfesseln – obwohl in ihnen durchaus narrationsstiftende Fragen schlummern: Wird es um das Verhältnis zum Model Veruschka (Veruschka von Lehndorff) gehen? Um die Freundin Patricia (Sarah Miles)? Den Kauf eines Antiquitätenladens? Aber der Film lässt die Fragen ins Leere laufen. Der dramaturgische Zweck dieser Episoden liegt darin, hinter den oberflächlichen Zielen, denen der Fotograf nachjagt (wants), einen ihm selbst unbekannten und in seiner Psyche verborgenen Bedarf (need) aufzuzeigen: Erfolgsverwöhnt, arrogant und gelangweilt scheint er in seiner Welt der Modefotografie festgefahren zu sein; die Tatsache, dass er mit dem idealistischen Kunstanspruch des Malers Bill konkurriert, deutet an, dass er unbewusst auf der Suche nach einem tieferen Sinn in seinem Leben als Fotograf sucht. In der 30. Minute erfolgt dann doch noch die Initialzündung der Geschichte. Dass die Frau (Vanessa Redgrave) im Park verzweifelt versucht, Thomas (David Hemmings) den Fotoapparat zu entreißen, wirft die zentrale Frage auf: Was versucht diese Frau zu verheimlichen? Einen Seitensprung? Das Diagramm (Abb. 1) zeigt die Stationen des dadurch ausgelösten Plots, wobei sich Wendepunkte (Plot-Points) benennen lassen, welche die Erzählung in eine neue Richtung drehen, und verstärkende Ereignisse, welche diese Entwicklung intensivieren. Dass sich ein Fremder an Thomas‘ Auto zu schaffen macht und jene Frau aus dem Park bei ihm im Studio auftaucht, um die Negative zu bekommen, verstärkt den durch die Initialzündung geweckten Verdacht. Eine Wendung erfolgt erst, wenn Thomas in den Fotografien den Mörder und die Leiche entdeckt, denn nun müssen wir von einem Kriminalfall ausgehen – eine Tendenz, die durch das Auffinden des toten Körpers im Park gesteigert wird. Die zweite Wendung setzt ein, wenn ihm die fotografischen Indizien gestohlen werden, wiederum verstärkt durch das Verschwinden der Leiche. Entmachtet und isoliert, vermag Thomas seine Entdeckung nicht mehr zu beweisen. Vergeblich versucht er, die Frau im Park zu finden. Danach sinkt die Spannungskurve ab; dem Motor der Erzählung geht der Treibstoff aus. In Folge von Antonionis italienischer Tetralogie (L’avventura, La  notte, L’eclisse,  Il deserto rosso) konstatierte man die Herausbildung eines europäischen Stils des cinéma du comportement (zu Deutsch „Kino des Verhaltens“), welcher die Charakterstudie ins Zentrum stellt, erkennbar daran, dass sich „dramatische Handlungen mit ihren Plots verboten und sich stattdessen offene, sujetlose Fabeln empfahlen, die auf lose verknüpften episodischen Handlungen aufbauten“ (Wuss 1998, S. 158–159). Blow Up erfüllt diese Stilmerkmale des cinéma du comportement in den ersten episodischen 30 min, weist aber dann – so stellen wir nun fest – durchaus Übereinstimmungen mit Standardmodellen der Dramaturgie auf. Syd Fields bekanntes Paradigma (vgl. 1996,

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Abb. 1   Die dramaturgische Spannungskurve des Films wird bestimmt von handlungswendenden und handlungsverstärkenden Ereignissen (gelbe und orange Kreise): Ein Vorfall wirft Fragen auf (Initialpunkt); der Verdacht erhärtet sich; das Ganze entpuppt sich als Kriminalfall (1. Wendepunkt) und führt zum Fund der Leiche; doch mit dem Diebstahl der Fotos verliert der Protagonist seine Beweise (2. Wendepunkt) und bleibt ratlos zurück. (© Mauer/Maisenbacher)

S. 52) lässt sich sogar punktgenau auf Blow Up anwenden. So entsprechen der Initialpunkt von Blow Up (bei Field der Plot-Point I am Ende des 1. Akts: dem Set-Up) und die beiden Wendepunkte (Midpoint und Plot-Point II im 2. Akt: der Confrontation) in ihren temporalen Positionen (Minute 30, 67 und 87) präzise den zeitlichen Vorgaben, die Field macht (ebd., S. 39–40). Allerdings folgt danach im 3. Akt nicht die von Field geforderte Resolution (ebd., S. 193 ff.). Mit dem Ende von Blow Up wären Drehbuchdidaktiker nicht zufrieden, weil der Erzählbogen nicht geschlossen wird (vgl. u. a. Howard und Mabley 1993, S. 74–78; Seger 1997, S. 51; Eick 2006, S. 63–64). Zuschauende erwarten in der Regel Antworten auf die aufgeworfenen Fragen: Was war das Motiv der Mordtat? Wer war der Killer? War der ältere Herr ihr wohlhabender Ehemann, den sie von ihrem Geliebten erschießen lässt, damit sie mit dem Erbe durchbrennen können? Antworten auf diese Fragen hätten dem Enthüllungsplot seinen Sinn gegeben (→ Genretheorie). Blow Up liefert sie nicht. Als Detektivgeschichte scheitert daher Blow Up in den Augen Bordwells: „it presents too few pieces of information to enable the protagonist, or us, to solve the crime (or even to determine what the crime involves)“ (1985, S. 54). Doch es steckt mehr dahinter: Denn an diesem heiklen Punkt verdeutlicht der Film, dass er die Resolution bewusst verweigert. Demonstrativ werden Patricia die

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zentralen Fragen des Enthüllungsplots in den Mund gelegt: „Who was he?“ / „How did it happen?“ / „I wonder why they shot him?“ Thomas‘ Antworten könnten in ihrer Lakonie nicht ironischer sein: „Someone.“ / „I don’t know, I didn’t see.“ / „I didn’t ask.“ Es scheint, als würde uns Blow Up zu Beginn des dritten Aktes mitteilen: Eine Resolution des Detektivplots sei nicht relevant. Aber warum hat sich der Film dann ausführlich der Entwicklung der Negative und Rekonstruktion der Park-Geschehnisse im Fotostudio gewidmet? An dieser Stelle schert der Film aus der populären Dramaturgie aus und wechselt die Spur. Der Spannungskonflikt, der im Plot angelegt war, verlagert sich nach außen und wird zu einem Konflikt zwischen Film und Zuschauenden. Indem geschürte Genre-Erwartungen absichtlich nicht eingelöst werden, provoziert der Film einen Wendepunkt auf Rezeptionsebene. Die neue Frage lautet nun: Um was für eine Geschichte geht es hier überhaupt? In den folgenden Ausführungen werden wir narratologisch den Mitteln nachspüren, die der Film einsetzt, um seine Zuschauenden auf diese neue Spur zu führen und auf einen anderen Entdeckungsprozess zu schicken – abseits des Kriminalplots. Bleiben wir zunächst bei der Verweigerung der Resolution des Detektivplots. Die Aneinanderreihung von Episoden im dritten Akt (Musikkonzert, Party, Tennisspiel) entspricht ebenfalls dem losen Prinzip des cinéma du comportement und spiegelt somit den Stil des ersten Akts. So gesehen erscheint Blow Up wie eine Mischform, halb cinéma du comportement (Akt 1 & 3), halb Standard-Dramaturgie (Akt 2). Da es Antonionis erster internationaler und im britischen Ausland gedrehter Spielfilm für ein großes Studio ist, drängt sich die Frage auf, ob der zweite Akt (Confrontation) eine Konzession an kommerzielle Interessen und die Unterhaltungsindustrie darstellt. Oder geht Antonioni hier nur zum Schein auf die Strategien der populären Dramaturgie ein, um in dieser Verpackung ein anderes Anliegen an ein breiteres Publikum zu schmuggeln? Solche Fragen koppeln stiltheoretische Überlegungen an narratologische Themen, einer Verbindung, der wir in einem kleinen Exkurs nachgehen möchten. Das offene Ende Um zu veranschaulichen, wie sich die Narratologie mit der Stiltheorie verbinden lässt, können wir den Fokus exemplarisch auf ein Erzählmerkmal in Antonionis Œuvre richten. Gewählt sei jenes, das uns gerade als Verweigerung der Resolution begegnet ist: das offene Ende. Hier gilt es zu beachten, dass Antonioni nicht der alleinige künstlerische Urheber ist, weil literarische Werke als Vorlagen dienten und/oder Drehbücher im Team verfasst wurden (zu diesem oftmals blinden Fleck der Stilanalyse, vgl. Hesse et al. 2016, S. 239 ff.). Er kollaborierte mit namhaften Drehbuchschreibenden wie Suso Cecchi D’Amico, Ennio De Concini, Ennio Flaiano, Fred Gardner, Sam Shepard, Mark Peploe (u. a.) und schrieb mehrere Skripte zusammen mit Francesco Maselli und Elio Bartolini. Die wohl kontinuierlichste Zusammenarbeit verband ihn aber mit Tonino Guerra: Von diesen sieben Filmen gelten nahezu alle als Meisterwerke der Filmgeschichte, wie L’avventura (I/F 1960), La notte (I/F 1961), L’eclisse (I/F 1962), Il deserto rosso (I/F 1964), Blow up (1966) und Zabriskie Point (USA 1970). Die Tatsache, dass Antonionis Hinwendung zu modernistischen Formen

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alle Kollaborationen mit Guerra kennzeichnet, unterstreicht, dass es mindestens ihr gemeinsamer Erzählstil ist, offene Enden einzusetzen. Das Gegensatzpaar geschlossene Form versus offene Form geht auf den Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin zurück, der mit solchen Dichotomien Bildkompositionen verschiedener Stilepochen verglich: Während die geschlossene Form das Bild „zu einer in sich selbst begrenzten Erscheinung macht, die überall auf sich selbst zurückdeutet“, weise „der Stil der offenen Form überall über sich selbst hinaus“ (1915, S. 133). Volker Klotz adaptierte die Kategorien (vgl. 1999) zur Benennung eines alten Konflikts, der seit Aristoteles Schrift Poetik (ca. 335 v. Chr.) die Dramentheorie und später auch die Drehbuchdidaktik beschäftigt. So schreibt Gustav Freytag gegen die „Formlosigkeit“ der Dramen seiner Zeit an und setzt ihnen sein geschlossenes Pyramidenmodell entgegen (2003, S. 11). Auch Robert McKee fasst die offene Form (die er Miniplot nennt) eher mit spitzen Fingern an, während er die klassische, geschlossene Form als Archeplot bezeichnet und als „Fleisch, Kartoffeln, Pasta, Reis und Couscous des Weltkinos“ feiert (2008, S. 57). Die geschlossene Form des Dramas, an der sich das klassische Storytelling des Films orientiert, fordert u. a. einen linearen, zielorientierten, logisch-kausal entwickelten Plot, der die Problemstellung zu Beginn einführt und am Ende klar, vollständig und befriedigend auflöst (vgl. Eick 2006, S. 40–41; Eder 2007, S. 91–92; McKee 2008, S. 53–70; Hickethier 2012, S. 118–119). In Antonionis Schaffen hingegen findet sich eine zunehmende Abwendung von geschlossenen Konstruktionen, die er auch explizit formuliert: „I don’t believe that the old laws of drama have validity any more.“ (zit. nach Christen 2002, S. 114)  Seine Hinwendung zu offenen Formen tritt deutlich 1960 in L’avventura zutage. Nicht nur, dass auf der Insel Lisca Bianca die Hauptfigur Anna (Lea Massari) verloren geht, auch ihre Freunde Claudia (Monica Vitta) und Sandro (Gabriele Fercetti) vergessen im Laufe der Handlung die Suche nach Anna, sodass am Ende offenbleibt, was mit Anna passiert ist und auch, ob Sandro und Claudia zusammenbleiben werden. Geradezu berühmt geworden als einer der ungewöhnlichsten Filmenden der 1960er, ist der Schluss von L’eclisse. Verloren wirken Vittoria (Monica Vitti) und Piero (Alain Delon), unfähig, die Fremdheit zu überwinden. Am Ende des Films verabreden sie sich: Die Kamera und das Publikum erscheinen pünktlich zum Treffpunkt; wer nicht auftaucht, das sind die Protagonisten. Dem Film scheint nichts anderes übrig zu bleiben, als Momentaufnahmen der sich verdunkelnden Straßenszenerien aneinander zu reihen, die zunehmend dystopische Züge tragen (Abb. 2a). Dieses Ende formuliert eine eindrucksvolle Alternative zum Erzählkino: Der Narration sind nicht nur die Hauptfiguren, sie ist sich auch selbst abhandengekommen. Der Vergleich zur Explosions-Sequenz im Finale von Zabriskie Point liegt nahe, weil auch hier die Hauptfigur von einer eigenständigen Experimentalfilm-Episode nahezu verdrängt wird: einem Exzess der Bewegung, Farbe und delirierenden Formen in extremer Zeitlupe (Abb. 2b). Antonioni erklärt: „Einmal in ihrem Flussbett eingeschlossen, läuft eine Geschichte Gefahr, darin zu versickern, wenn man ihr nicht eine andere Dimension gibt, wenn man nicht zulässt, dass sich ihre Zeit nach außen hin verlängert, dorthin, wo wir, die Protagonisten aller Geschichten, leben. Wo nichts abgeschlossen ist.“ (1985, S. 128)

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Abb. 2   Stillstand und Explosion. Die Schlusssequenzen von L‘eclisse (a) und Zabriskie Point (b) vergessen ihre Hauptfiguren und Geschichten, um sich ganz der Poesie der Bilder zu überlassen. Quelle: L‘eclisse (Liebe 1962, I/F 1962, © Studiocanal); Zabriskie Point (USA 1970, © MGM u.a)

Der Filmwissenschaftler Thomas Christen hat die Endfiguren in Antonionis Filmen seit 1960 treffend in vier Punkten zusammengefasst (2002, S. 173 ff.). 1) Präsenz der Dinge und Verschwinden der Protagonisten: Dass die Hauptfiguren gegen Ende von den Objekten verdrängt werden, ist „logische Konsequenz eines Erzählmodus, der keine finale Lösung der Hauptprobleme anstrebt“ (ebd., S. 174). 2) Selbstreflexivität: Der Film beginnt zunehmend über das Wesen des Kinos nachzudenken, was den Plot schließlich ganz überlagert. „In Blow Up entwickelt sich das Pantomimenspiel zu einem Lehrstück über Imagination, Realität und Fiktion, Bild und Ton: Die Hauptfigur wird dabei in die Rolle des Zuschauers versetzt – wir finden unser Doppel auf der Leinwand.“ (ebd., S. 176) Was Antonioni erreiche, so William Arrowsmith, sei: „Watching a film watch us“ (zit. nach ebd., S. 176). 3) Autonomie und Neubeginn: Das Ende entwickelt sich zu einer autonomen Sequenz und scheint, einen anderen Film zu starten – „durch den Wechsel des formalen Systems, durch den Genrewechsel oder die Weigerung, den bisherigen Modus aufrechtzuerhalten“ (ebd., S. 177). 4) Verstummen der Geschichte und Triumph des Visuellen: Am Ende steht oftmals Schweigen oder Stille. „Während zu Beginn das Bild bisweilen das Wort zu suchen scheint, kehrt das Ende zum wortlosen Bild zurück.“ (ebd.) Gerade die Stille, der sich das Tennisspiel der Pantomimen vollzieht, erlaubt es den Zuschauenden schließlich, das leise Geräusch des imaginären Tennisballs zu hören. Es lässt sich also konstatieren, dass die Verweigerung einer Resolution in Blow Up ein narratives Stilmerkmal der Antonioni-Filme insbesondere nach 1960 ist. Mit offenen Enden soll die Trennung zwischen der Welt der filmischen Fiktion und der Welt der Zuschauenden aufgehoben werden: „I mean that it is necessary for the film to have a longer life than its physical projection time. It needs to stay with the viewer and the viewer should take it away with him. Then […] the experience that the viewer had while watching the film was worthwhile.“ (Antonioni, zit. nach ebd., S. 114) Dies erhärtet unsere Annahme, dass das Gespräch zwischen Thomas und Patricia ein expliziter Fingerzeig an die Zuschauenden sein könnte, die Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Auflösung des detektivischen Rätsels zu richten und sich stattdessen für andere Fragen zu öffnen.

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Der Subplot  Es ist eine Erkenntnis, die Bordwell beim Vergleich von hundert Filmen des klassischen Hollywoodkinos gewann: Dass abseits der Haupthandlung stets eine Nebenhandlung abläuft, dass beide Linien kausal verknüpft sind über die gleiche Gruppe von Charakteren und dass einer der Plots eine heterosexuelle Liebesbeziehung erzählt (vgl. 2005, S. 16). In einem Detektivfilm wird der Hauptplot strukturiert durch den Fortschritt der Ermittlungen, der durch Einschübe aus dem Subplot verlangsamt wird (spannungssteigernde Retardierung) (vgl. Bordwell 1985, S. 64). In Alfred Hitchcocks Rear Window (USA 1954) besteht der Hauptplot aus Jeffs (James Stewart) und Lisas (Grace Kelly) Nachforschungen zu Mr. Thorwalds vermeintlichem Mord, während der Subplot Lisas Versuch beschreibt, den abenteuerlustigen Jeff von ihren Qualitäten und Hochzeitsambitionen zu überzeugen. Beide Plotlinien kulminieren im Finale: Denn Mr. Thorwald wird nur dadurch als Mörder entlarvt, dass Lisa ihren Mut unter Beweis stellt (vgl. ebd., S. 55). Hinzu kommt in Rear Window eine dritte Handlungsebene, denn Jeffs Blick in den Hinterhof führt in die Wohnungen der Nachbarn. Ihre Situationen sind narrative Einsprengsel, die weniger kausal, vielmehr thematisch mit Haupt- und Nebenplot verbunden sind und deren Konflikte spiegeln (Abb. 3): Das tertium comparationis (also das Gemeinsame im Vergleich) sind hier die großstädtische Einsamkeit und Sehnsucht nach Liebe bei gleichzeitiger Bindungsangst (vgl. Truffaut 1995, S. 212). Auf diese Ergänzung einer dritten Handlungsebene kommen wir mit Blick auf Blow Up noch zurück. Suchen wir in Blow Up abseits der fotographischen Ermittlung (Hauptplot) nach einem Subplot, so fällt auf, dass hier keine einzelne durchgängige Liebesbeziehung entwickelt wird, sondern Thomas in Beziehung zu einer Vielzahl weiblicher Figuren steht. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich, dass wichtige Frauenfiguren immer zweimal auftauchen, einmal in der ersten, einmal in der zweiten Hälfte. Das erinnert an die planting-payoff-Technik (im Deutschen Säen und Ernten) aus der Drehbuchpraxis: a

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Abb. 3   Die berühmt gewordene Häuserwand in Alfred Hitchcocks Rear Window präsentiert diverse Mikrogeschichten, die sich abgekoppelt voneinander in den Fenstern abspielen. Sie verlaufen neben der Haupthandlung, unterstreichen zugleich die Zufälligkeit der Beobachtung, welche diese überhaupt erst in Gang setzt. Zugleich muten sie wie winzige Filme im Film an, sorgfältig eingefasst in Rahmungen, die einen zuschauenden Blick auf die kleinen Dramen ermöglichen (a+b) – nicht grundlos gehört das Fenster zu den zentralen Metaphern für die Kinosituation. Quelle: Rear Window (Das Fenster zum Hof, USA 1954, © Universal)

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Die Einführung eines Elements zu Beginn (Planting) führt dazu, dass dieses Element später wieder aufgegriffen wird und dann eine bedeutungstragende Rolle spielen darf (Payoff) (vgl. Chion 2001, S. 218–220; Eick 2006, S. 94; McKee 2008, S. 259–263). Ein typisches Beispiel für diese Praxis in Blow Up stellt das pointilistische Gemälde dar, das der Maler Bill dem Fotografen zu Beginn zeigt (Planting) und dessen Charakteristik Patricia am Ende in der grobkörnigen Fotografie der ‚Leiche‘ wieder entdeckt (Payoff). Die Verbindung von Planting und Payoff führt hier zur Erkenntnis, dass die Aussage eines abstrakten Bildes im Auge des Betrachtenden liegt. Indirekt stellt Patricia somit infrage, ob diese Fotografie tatsächlich eine Leiche zeigt. Mit dieser Planting-PayoffMethode werden also kognitive Prozesse bei Zuschauenden im Erzählvorgang angeleitet. Doch mit dieser Technik allein lässt sich die Anordnung der weiblichen Figuren in Blow Up nicht hinreichend erklären, denn sie ist auf besondere Weise gegliedert, und zwar tendenziell achsensymmetrisch und in konzentrischen Rahmungen: nach dem Prinzip A (Veruschka) – B (Patricia) – C (Blondine/Brunette) – D (Frau im Park) und bei der Wiederkehr in umgekehrter Reihenfolge D’ – C’ – B’ – A’ (vgl. Abb. 4). Das entspricht weniger einer Spannungsdramaturgie, sondern mehr einem lyrischen Reimschema (dreifach umarmender Reim ABC–CBA) oder musikalischem Kompositionsprinzip (Krebsgang). Es scheint keine kausale Entwicklung anzutreiben, vielmehr eine semantische Spiegelung anzustreben und fügt sich nahtlos in die gesamte Symmetrie des Films ein, der an einem Morgen mit Pantomimenspiel beginnt und endet. Neben dem Vergleich von Planting (A) und Payoff (A’) ergeben sich daher zwei Fragen: Warum tauchen die anderen Frauen, denen Thomas begegnet, nicht in dieser Symmetrie auf?

Abb. 4   Die Begegnungen des Protagonisten mit Frauen in einer Spiegelstruktur. (© Mauer/ Maisenbacher)

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Und warum laufen diese konzentrischen Rahmungen auf die Figur D (Frau im Park) zu bzw. was unterscheidet sie von den anderen und legitimiert ihre Zentralstellung? Zur ersten Frage: Frauen, die keinen Eingang in dieses konzentrische System finden, kommen Thomas nicht nah genug. So bildet die Begegnung mit der Eigentümerin des Antiquitätenladens (Susan Brodrick) einen losen Faden aus, der nicht aufgegriffen wird: eine falsche Fährte, weil auf die geschürte Erwartung kein Payoff folgt (vgl. Hartmann 2007, S. 33 ff.). Der implizite oder explizite Sexualakt, welchen Thomas hingegen mit den ausgewählten Frauen teilt, ist ein Tertium comparationis, ein verbindendes und facettenreich variiertes Element: impliziter Sex als Allegorie künstlerischer Ekstase (Veruschka) oder als pars pro toto-Prinzip im Augenkontakt (Patricia), explizit ausgeführter Sex in einer ménage à trois (Blonde/Brunette) und nicht realisierter Sex nach erotischer Steigerung (die Fremde aus dem Park). Zur zweiten Frage: Das Zentrum, welches durch die konzentrischen Rahmungen hervorgehoben wird, ist die Beziehung zur Frau im Park (das ursprüngliche Skript nennt sie „Jane“, vgl. Antonioni 1971, S. 117). Es handelt sich um die quantitativ längste und qualitativ intensivste Begegnung. Und: Jane ist die einzige Frau, die das achsensymmetrische System aufbricht und außerhalb dessen ein drittes Mal auftaucht: nachts auf der Straße, zufällig unter Passanten, vor einem verschlossenen Geschäft. Was ihre Begegnung genau von den anderen (A, B, C) unterscheidet, soll im Folgenden mit einer Figurenanalyse untersucht werden. Zunächst lässt sich mit Blick auf die Frage nach dem Subplot aber festhalten: Die Spiegelkonstruktion in Blow Up entspricht keiner typischen Nebenhandlung populärer Dramaturgien (vgl. Eder 2007). Wer dennoch die Beziehung zu Jane als zentrale Liebesbeziehung und somit als den eigentlichen Subplot bezeichnen will, müsste im Sinne der dritten Handlungsebene in Rear Window die anderen Begegnungen als episodische Ergänzungen einstufen, die den Subplot thematisch oder motivisch spiegeln. So oder so stellt sich für die Figurenanalyse die Frage, was diese Figurenkonstellation über den Protagonisten Thomas aussagt und ob sich dadurch, dass er dieses Spiegelkabinett der Weiblichkeit durchläuft, eine Art Charakterveränderung oder moralische Entwicklung konstatieren lässt. Figurenanalyse  Voraussetzung für die Figurenanalyse ist, dass wir uns vor Augen führen: So sehr uns Figuren im Film berühren oder mitreißen können, es handelt sich dabei um Konstrukte. „Ihre scheinbare Selbstverständlichkeit trügt. Was wir direkt auf der Leinwand sehen, sind nur Figurendarstellungen, nicht die Figuren selbst. Wir tasten das audiovisuelle Informationsangebot ab und entwickeln Figurenvorstellungen […].“ (Eder 2020, S. 132) Mit Eders bewährtem Modell der Uhr der Figur lassen sich die verschiedenen Ebenen einer Figur unterscheiden. Eine Figur wird 1) als Artefakt mit den Gestaltungsverfahren des Films (Licht, Kamera, Montage, Ton etc.) zur Erscheinung gebracht und lässt sich somit als ästhetisches Phänomen analysieren; dies ist zugleich die erste Ebene der Wahrnehmung. Eine Figur wird 2) als fiktives Wesen über Körper, Kleidung, Mimik, Gestik, Handlung, Aussagen, Eigenschaften und Zielen zu einem Charakter in der Erzählwelt und lässt sich daher als diegetisches Phänomen analysieren;

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auf die Weise konstruieren Zuschauende ein mentales Modell von der Figur. Sie wird 3) als Symbol zu einem Träger von Bedeutungen (Themen, Diskursen, Werten), die über die Erzählung hinausweisen und auf einer abstrakten Ebene intellektuelle Prozesse anregen; die Figur lässt sich somit als Zeichen analysieren und ermuntert Zuschauende zu Interpretationen. Schließlich wird eine Figur 4) als Symptom in Verbindung mit der Realität gebracht und verweist auf ihren gesellschaftlichen Kontext sowie die Produktion und Rezeption des Films, wie historische Figuren im Biopic, ideologisch besetzte Figuren im Propagandafilm oder Schauspielende, die auf ihre eigene Rollengeschichte Bezug nehmen (vgl. ebd., S. 139–142). Eder möchte das Modell nicht als statisch verstanden wissen. Zum einen beschreibe es in der Kreisbewegung einen (mitunter sich wiederholenden) Wahrnehmungs- und Reflexionsprozess, zum anderen variiere bei Filmfiguren die Ausprägung und Relevanz einzelner Aspekte, die zudem miteinander verknüpft sind und sich auch im Laufe der Handlung wandeln können (vgl. ebd., S. 143–147). In Blow Up finden sich zum Beispiel artefaktische Figuren, deren Künstlichkeit die Illusion der Erzählwelt stört. Gemeint sind nicht die Models, da sie nur von dem Fotografen artifiziell inszeniert werden, aber in der Garderobe natürlich wirken. Gemeint sind die irritierend starren und bleichen Fans im Konzert, die sich kaum als fiktive Wesen analysieren lassen und deren Bedeutung daher woanders liegt: Als Symptom verweisen sie auf die sich entwickelnde Jugend- und Popkultur der damaligen 1960er Jahre; als Symbol kritisiert ihre Darstellung diesen Kontext – und unterstellt der Bewegung einen blinden Kollektivismus, der sich hinter der Proklamation von Individualismus und Rebellion verberge. Die Pantomimen und Demonstranten hingegen sind zwar nicht rein artefaktisch, doch ihre kollektive Typisierung führt dazu, dass wir sie als eine Gruppenfigur (vgl. Tröhler 2007, S. 49 ff.) wahrnehmen. Das unterstreicht ihre repräsentative Bedeutung: Die Demonstranten stehen symptomatisch für die Protestmärsche der Jugendbewegung, die Pantomimen symbolisch für das (Masken)Spiel mit Wahrheit und Täuschung, Original und Kopie in diesem Film (Abb. 5). Mit solchen Typisierungen hat Antonioni generell die öffentlichen Räume, die sein Protagonist durchstreift, bevölkert: eine Gruppe Arbeiter, ein Sikh (mit Dastar), zwei Nonnen (in dominikanischer Ordenstracht), eine britische Königswache (mit Bärena

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Abb. 5   Antonioni zeigt Gruppenfiguren: So bunt sie wirken mögen, so agieren die Kollektive doch als Einheit. Die Demonstrierenden (a) und die Pantomimengruppe (b) lassen sich symptomatisch und symbolisch deuten. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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fellmütze), ein queeres Paar (mit weißen Pudeln), eine Parkwächterin (in Uniform) und eine Gruppe Westafrikaner (im traditionellen Boubou) repräsentieren gesellschaftliche Gruppierungen, Ordnungen und Institutionen Londons. Abseits dieser Typen spielen bei den Charakteren (vgl. McKee 2008, S. 116–120; Hickethier 2012, S. 125– 126) hingegen alle vier Bereiche eine Rolle und interagieren auch miteinander. So wird die artefaktische Seite des Fotomodels Veruschka dadurch bestimmt, dass wir sie in einer gespiegelten und von inneren Rahmungen zerteilten Bildkomposition vorgestellt bekommen; Jump Cuts zerschneiden dann das Zeitkontinuum ihrer Posen vor der Kamera. Diese Stilmittel evozieren auf symbolischer Ebene die Unterwerfung eines Körpers unter bildgebende Verfahren wie jene der Fotografie und des Films. Symptomatisch lässt sich hier einbeziehen, dass die Darstellerin Veruschka von Lehndorff zu der Zeit tatsächlich ein professionelles Model (Abb. 6) und die Figur Thomas dem britischen Starfotograf David Bailey nachempfunden war. Trotz dieser Verschränkungen liegt der Schwerpunkt der weiblichen Figuren in der diegetischen Ebene. Analysieren wir sie also als fiktive Wesen. Da aber Figuren als fiktive Wesen auch komplexe Einheiten sind – in ihrer körperlichen, psychischen, sozialen und kulturellen Beschaffenheit mit Theorien der Psychologie, Soziologie, Sprach- oder Kulturwissenschaft (etc.) deutbar (vgl. Eder 2020, S. 233 ff.) –, konzentrieren wir uns auf die handlungssteuernden Aspekte, wie Motivation und Konflikt. Aus ihrer Motivation (Bedürfnisse, Wünsche und Ziele) erklärt sich das Verhalten einer Figur (und vice versa); dieses Verhalten treibt den Plot voran, da die Interessen der Figur auf Widerstände treffen a

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Abb. 6   Außerfilmische Wirklichkeit und Charaktergestaltung durchdringen einander bei symptomatischen Figuren: Veruschka von Lehndorff auf dem Cover des LIFE-Magazins (a) sowie in einer Stillfotografie für Blow Up (b).   Quelle: LIFE Magazine (Ausgabe vom 18. August 1967, © Dotdash Meredith); Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.) 

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und Konflikte auslösen, die Spannungsbögen errichten (vgl. McKee 2008, S. 120–122; S. 228 ff.). Mit dem Model Veruschka verbindet den Fotografen eine berufliche Motivation und stille Übereinkunft: Grenzüberschreitungen ins Intime sind beim Shooting zulässig, um mitreißende Modefotografien zu schaffen. Thomas küsst sie am Hals, kniet auf ihr, simuliert sexuelle Ekstase. Sie lässt es zu, um ihm zu geben, was er für die Kamera braucht. Bezeichnenderweise lässt sich nicht sagen, ob die Erregung gespielt oder empfunden wird. Der Konflikt resultiert aus Thomas‘ Verachtung für Models. Eine Stunde hat er Veruschka warten lassen. Sind die Fotos im Kasten, wendet er sich ab. Folglich wird die zweite Begegnung auf der Party buchstäblich zum Payoff (Abrechnung) des Models. Thomas wird bewusst, dass sie ihn morgens angelogen hat (mit der Ansage, sie müsse um 11 Uhr nach Paris), um ihren Marktwert zu steigern. Sein Erstaunen kanzelt sie mit einer doppelbödigen Bemerkung ab: „I am in Paris!“ Sie demonstriert ihm, dass sie das Spiel der Täuschung und Herabsetzung genauso beherrscht wie er. Diese Art der subtilen Abrechnung im Payoff finden wir auch bei Patricia (Sarah Miles) wieder. Wie ihre Hände zärtlich in Thomas‘ Haar greifen, während sie verstohlen prüft, ob dies Begehren nicht von Ehemann Bill (John Castle) entdeckt wird, markiert den inneren Konflikt einer unerfüllten Liebe. Zufällig beobachtet Thomas die beiden nachts beim Liebesakt. Er will sich abwenden, doch Patricia signalisiert ihm, den Augenkontakt zu ihr zu halten. Thomas weicht aus. Was er dabei sieht, fügt sich zur Kunst: Das Brot an der Spüle, der Aschenbecher vor dem Radio – es wird zum Stillleben (ein weiteres Indiz, dass sich die Wirklichkeit seinen Vorstellungen fügt). Im folgenden Dialog kollidieren ihre Motivationen: Thomas will Patricia von seiner detektivischen Entdeckung überzeugen; Patricia aber wartet auf ein Zeichen der Liebe von ihm, um sich von Bill zu trennen – vergeblich. Subtil rächt sie sich, indem sie sein kriminalistisches Kartenhaus mit einfachen Fragen zum Einsturz bringt. Thomas reagiert – wie schon bei Veruschka – mit Gleichgültigkeit. Im Grunde bedeuten ihm beide Frauen wenig. Die Kostüme eröffnen eine symbolische Ebene: Veruschkas Schlangenkleid auf der Party korrespondiert mit Thomas Abstreifen seiner Obdachlosen-Verkleidung zu Beginn: Beide ‚häuten‘ sich beständig im professionellen Spiel mit Oberflächen, Texturen und Fotografien. Tritt Veruschka am Ende wie eine Femme Fatal im Film Noir auf, so umfängt Patricia das Genre des Melodrams: Eingeschnürt im roten Netzkleid, das ihre Nacktheit betont, aber nicht zeigt, artikuliert sie zugleich Begehren und emotionale Gefangenschaft (Abb. 7). Die dritte Begegnung ist jene mit den jungen Möchtegern-Models, die im Drehbuch despektierlich Blonde (Jane Birkin) und Brunette (Gillian Hills) genannt werden (vgl. Antonioni 1971, S. 46 ff.). Thomas kostet seine Macht aus und lässt ein Geldstück durch die Finger kreisen – symbolisches Zeichen dafür, dass er den monetären Wert der jungen Frauen geringschätzt und eine Gegenleistung für seine Kunst erwartet. Beim zweiten Treffen wird der stille Deal eingelöst: Thomas dirigiert sie mit seinen Augenbewegungen hinein in ein sexuelles Intermezzo zu dritt – ob gewollt oder erzwungen, ob gespielt oder empfunden, bleibt auch hier unklar. Anders als bei Veruschka wird das Herrschaftsver-

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Abb. 7   (Ver)Kleidung,  die Figuren charakterisiert und symbolische Bedeutungen ergänzt in Blow Up: Thomas als Obdachloser (a), Patricia im Netzkleid (b) und Veruschka in der Schlangenhaut (c).   Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.) 

hältnis nicht gebrochen: Nach dem Beischlaf binden ihm die Groupies unterwürfig die Schuhe und werden von ihm brüsk weggeschickt. Wieder hat er nur Augen für die fotografische Ermittlung. Was unterscheidet nun die (strukturell herausgehobene) Begegnung mit der Frau im Park von den anderen? Jane ist diejenige, die Thomas nachhaltig fasziniert und am Ende besiegt. Nicht nur, weil sie die Negative doch noch bekommt. Auch weil sie die Qualitäten eines Models aufweist, aber kein Interesse daran zeigt, denn sie ist autark gegenüber den Reizen seiner Fashionwelt. Jane findet Thomas, bleibt selbst aber unauffindbar. Sie erreicht ihr Ziel, die Negative und Abzüge zu erhalten. Dann verschwindet sie spurlos. Er jagt ihrem Phantom nach, strandet in dem Yardbirds-Konzert und bleibt auf der Wiese im Park allein zurück. Seine Selbstsicherheit scheint einer elementaren Verunsicherung gewichen. Eine moralische Entwicklung im Charakter des Fotografen – im Sinne eines Erziehungsplots, der ihn zum besseren Menschen wandelt (vgl. McKee 2008, S. 95–96) – ist das nicht, wohl aber eine (eventuell produktive) Störung seiner Gewohnheiten und vielleicht auch jener Arroganz, sich verächtlich, gelangweilt, bindungsängstlich oder misogyn gegenüber Frauen (wie Veruschka, Patricia, Blonde und Brunette) zu verhalten. Halten wir fest: Haupt- und Nebenplot bedeuten für den Protagonisten eine doppelte Enttäuschung: weder kann er den Mordfall verhindern und beweisen, noch kann er Jane verführen und wiederfinden. Der Prozess kulminiert in eine sichtbare Verunsicherung der Hauptfigur. Die Enttäuschung wird gespiegelt auf der Ebene der Rezeption: GenreErwartungen wurden gezielt geschürt und nicht eingelöst, um die Zuschauenden zu aktivieren, die aufgeworfenen Fragen auf einer anderen, erkenntnistheoretischen Ebene zu reflektieren.

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1.2 Temporale Struktur Das zweite Kernelement des Narrativen war: Erzählen bedeutet, Zeit zu strukturieren. Dabei organisieren Spielfilme ihre narrativen Impulse in Rhythmen. Ein Rhythmus ist ein zeitliches Muster, das sich aus regelmäßigen und/oder differierenden Akzenten ergibt, die im Film auf mehreren Ebenen interagieren (vgl. Eugeni 2003, S. 130). Auf der visuellen Ebene sind es Akzente des Schnitts, Raum- und Figurenwechsels, der Kamera- oder Objektbewegung, auf der auditiven Ebene die Impulse der Musik, Geräusche und Stimmen, auf der narrativen Ebene die Wende- und Höhepunkte, die Wechsel der Szenen, Sequenzen und Akte oder die Höhe der Ereignishaftigkeit (vgl. Schmid 2005, S. 20–21; Kuhn 2011, S. 62–64). So erzeugen Filme ein polyrhythmisches Erzählgeflecht, welches das Erleben der Zuschauenden strukturiert: das Einschwingen in den narrativen Rhythmus zu Beginn (mise-en-phase, siehe Odin 2019, S. 73 ff.), das „Vibrieren“ im Takt der Ereignisse oder das Herausgerissen-werden aus der Schwingungsstruktur (déphasage, siehe ebd. S. 14–15). Nennen wir die Erzählimpulse Beat (Herzschlag), Pace (Schritt), Puls oder Atem (vgl. McKee 2008, S. 47–48; Hartmann 2009, S. 269–270), so betonen wir genau die Verschränkung filmischer und körperlicher Rhythmen und öffnen eine Anschlussstelle der Narratologie für die Filmphänomenologie, die nach der leiblichen Erfahrung der Rezeption fragt (vgl. Sobchack 1992; 2004). Die Häufigkeit von Erzählimpulsen (Beats) in einer bestimmten Projektionsdauer verweist auf einen schnellen oder langsamen Erzählrhythmus (vgl. Mohr 2017, S. 71 ff.). Dieses Maß lässt sich unabhängig erheben von der Schnittfrequenz, der sogenannten Average Shot Length, kurz: ASL (vgl. Bordwell 2006, S. 121–124; → Kap.  6.2 Theorien der quantitativen Analyse). Denn Filme ohne jeden Schnitt können trotzdem ereignisreich sein, wie die One-Shot-Filme Victoria (D 2015) oder Utøya 22. juli (NOR  2018). Und Filme mit Schnitten können zerdehnte, ‚tote‘ Zeit kreieren: Temps-mort-Sequenzen sind ein Markenzeichen Antonionis, mit dem er stilprägend war in den 1960er Jahren (vgl. Salt 2009, S. 303–304). Mit Blick auf Antonionis Œuvre ließe sich untersuchen, ob der von Julian Sittel in diesem Band festgestellte Anstieg der Schnittfrequenz auch mit einer Beschleunigung im Erzählrhythmus einhergeht. Denn selbst wenn Blow Up schneller geschnitten ist als die frühen AntonioniFilme, so könnte er die gleiche Anzahl an Beats enthalten und weiterhin als Beispiel für Slow-Burn-Narration (vgl. Mohr 2017) oder  Slow  Cinema gelten (vgl. De Luca 2015; Çağlayan 2018; Flanagan 2012; Ueberfeldt 2020). Auf diese Weise lassen sich narratologische und quantitative Analyse verbinden. Bordwell verweist auf Untersuchungen des Kognitionspsychologen Richard Gregory, der mentale Grenzen bei der menschlichen Wahrnehmungs- und Entscheidungsfähigkeit ermittelt hat (1985, S. 76). Geschieht zu viel gleichzeitig oder zu schnell, kommt es zu einer Informationsüberlastung (Overload Effekt) und dem Ausblenden von Details. Wenn Antonioni, Yasujirō Ozu, Carl-Theodor Dreyer oder Béla Tarr hingegen auf einem Bild insistieren, erhalten Zuschauende mehr Gedankenspielraum. Rhythmus im Kino ent-

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scheidet also darüber, wie genau oder nachlässig wir etwas aufnehmen und verarbeiten. Im Folgenden wird sich zeigen, dass Blow Up auf die Wirkung von ästhetischen Feinheiten vertraut, um den oben entdeckten Spurwechsel der Dramaturgie zu stützen. Diese Details sind feine Störungen im temporalen und perspektivischen Gefüge. Und ihre Kenntnisnahme wird erst durch den langsamen Rhythmus des Films ermöglicht. Ordnung, Dauer und Frequenz Die Analyse der Zeitgestaltung nimmt in der Narratologie einen prominenten Platz ein. Genette wurde durch seinen Untersuchungsgegenstand – Marcel Prousts verschachteltes Werk À la recherche du temps perdu (1913–27) – zu einer differenzierten und bis heute einflussreichen Zeittheorie herausgefordert. Die Zeit-Kapitel in Genettes erstmals 1972 erschienenen Buch Die Erzählung (2010, S. 17–102) ließen sich zudem am leichtesten auf den Film übertragen, auch wenn Anpassungen an das Filmspezifische notwendig waren (vgl. u. a. Bordwell 1985, S. 77–88; Griem und Voigts-Virchow 2002; Birr et al. 2009; Hickethier 2012; Kuhn 2011, S. 195–270). Genette unterscheidet bekanntlich zwischen Ordnung, Dauer und Frequenz. Mit der Kategorie Ordnung fragt Genette nach der Reihenfolge des Erzählens. Hierfür benötigen wir die prominente Unterscheidung Fabel versus Sujet der russischen Formalisten Viktor Šklovskij und Boris Tomaševskij, die zu einer – für die Narratologie nicht ganz untypischen – Begriffsdiffusion geführt hat: Barthes nannte den Gegensatz récit und narration (1966), Todorov histoire und discours (1972) und Seymour Chatman Story und Discourse (1986) (vgl. Schmid 2017, S. 37–47). Wir wollen Bordwells Begriffen Story (für Fabel) und Plot für (Sujet) den Vorzug geben (vgl. 1985, S. 49–50). Die Story umfasst die chronologische Gesamtheit der Geschichte, zum Beispiel das Leben Vincent van Goghs von der Geburt bis zum Tode. Aus dieser Story werden für den Plot einzelne Ereignisse ausgewählt (Selektion) und eventuell zeitlich umgestellt (Permutation). Setzt man also Story und Plot in Relation zueinander, erhält man, so Genette, drei Varianten: die Übereinstimmung (im chronologischen Erzählen), die Umstellung der Ereignisse (im anachronischen Erzählen) und die Auflösung der zeitlichen Bezüge (im achronischen Erzählen) (vgl. 2010, S. 17 ff.). Bei der Anachronie erfolgen die Umstellungen in Form von Vorausblenden (Prolepsen) oder Rückblenden (Analepsen), dennoch behalten Zuschauende die temporale Orientierung – was bei der Achronie nicht mehr der Fall ist (vgl. ebd., S. 51–52). Die Frage nach der Dauer des Erzählens beruht auf der elementaren Unterscheidung zwischen der erzählten Zeit und der Erzählzeit (vgl. Müller 1948). Für den Film bevorzugen wir die Begriffe dargestellte Zeit (die Zeit in der Erzählwelt) und Darstellungszeit (die Zeit, die der Film für Zuschauende dauert) (vgl. Kuhn 2011, S. 213). Die Gegenüberstellung ergibt folgende Optionen: Die dargestellte Zeit kann mit der Darstellungszeit übereinstimmen (Plansequenz), langsamer verlaufen (Zeitlupe), schneller (Zeitraffer), stoppen (Freeze Frame) und die Varianten kombinieren als Zeit-Collage im Splitscreen (vgl. zu Zeitlupe und Zeitraffer Becker 2004). Abseits dieser technisch-verfremdenden Stilmittel lassen sich alle Formen auch mit der Montage erzielen: 1) Echtzeit mit kontinuierlichen Schnitten, 2) Zeitdehnung mit eingeschnittenen Nebenhandlungen

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(insertion) oder Wiederholungen (overlap-editing, vgl. Bordwell 1985, S. 84), 3) Zeitraffung mit Schnitten, die Zeit aussparen (Ellipse), wobei man hier zwischen expliziten und impliziten Ellipsen unterscheiden sollte (vgl. Genette 2010, S. 67; Martinez und Scheffel 2019, S. 46), 4) Erzählpausen mit deskriptiven Bewegtbildern (vgl. Kreimeier 2004), 5) Zeit-Collagen, zum Beispiel durch das Hinzufügen einer ungleichzeitigen Voice-Over (vgl. Becker 2008, S. 94–96). Was nun, wenn der Film wiederholt auf ein Ereignis zurückkommen möchte, um den Tathergang zu entschlüsseln (im Kriminalplot) oder das Trauma in Erinnerung zu rufen (im Melodram)? Wiederholungsrelationen zwischen Story- und Plot-Ebene erfasst Genette mit der Kategorie Frequenz (vgl. Genette 2010, S. 73–102). Die übliche Form des singulativen Erzählens (einmal erzählen, was sich einmal zugetragen hat) kann auf zwei Arten gebeugt werden: Repetitives Erzählen wiederholt im Plot dasselbe StoryEreignis (mehrfach erzählen, was sich einmal zugetragen hat), iteratives Erzählen fasst sich wiederholende Story-Ereignisse auf der Plot-Ebene zusammen (einmal erzählen, was sich auf ähnliche Weise mehrfach zugetragen hat) (vgl. ebd., S. 73–75; Kuhn 2011, S. 228–248). Bordwell ergänzt in seinem Modell das elliptische Erzählen (hier wird nicht erzählt, was sich einmal zugetragen hat (vgl. 1985, S. 79). Zeitgestaltung in Blow Up  Kinofilme und Fernsehserien seit der Jahrtausendwende haben dieses Potential komplexer Zeitgestaltung intensiv erforscht: rückwärts erzählt (Memento, USA 2000), simultan (Timecode, USA 2000), mehrsträngig (Cloud Atlas, D/ USA 2012) zirkulär (Source Code, USA 2011), paradox (Predestination, AUS 2014), verschachtelt (Inception, USA/GB 2010) oder chaotisch (21 Grams, USA 2003) (vgl. Mundhenke 2008; Buckland 2009; Krützen 2010; Eckel 2012). Infolgedessen hat sich notgedrungen auch die Drehbuchdidaktik für Alternativen abseits des Primats klassischer Dramaturgie geöffnet (vgl. Bildhauer 2007). Insbesondere für solche non-linearen Filme eignet sich das vorgestellte Begriffs-Inventar der narratologischen Zeitanalyse. Doch lohnt sich die Anwendung auch bei Blow Up: einem vergleichsweise schlicht aufgebauten Film? Beginnen wir mit der Dauer: Antonionis Film startet am Morgen und endet am darauffolgenden Vormittag. Diese ca. 24 h dargestellte Zeit werden zu 1:45 h Darstellungszeit komprimiert: eine Zeitraffung, die allerdings nicht auffallen soll. Denn was der Film suggerieren will, ist Echtzeit (vgl. Brössel und Kaul 2020). Szenen werden ausgebreitet: mit ausführlichen Dialogen, nachdenklichen Pausen, langen Gängen. Die zeitaussparenden Schnitte greifen immer am narrativen Rand, also dann, wenn der Erzählimpuls ausgelaufen ist und die Auslassungen kaum auffallen. Die impliziten Ellipsen verstärken die Echtzeitwirkung eines zeitdeckenden oder szenischen Erzählens (vgl. Martinez und Scheffel 2019, S. 47). Zur Ordnung: Blow Up ist chronologisch erzählt und folgt linear dem Weg einer Hauptfigur. Es findet sich nur eine minimale Anachronie: eine Rückblende (präzise formuliert: eine interne, repetitive Analepse, vgl. Kuhn 2011, S. 197), die interessanterweise rein akustisch erfolgt. Wenn Thomas im Studio die Situation im Park rekonstruiert, vernehmen wir den Ton aus der Vergangenheit

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– das Rauschen der Blätter im Wind. Diese Rekonstruktion stellt – und damit kommen wir zur Frequenz – die einzige Wiederholung eines Story-Ereignisses dar. Allerdings: Es unterscheiden sich die Szene im Park und ihre Rekonstruktion im Studio. Das Medium wechselt (von Film zu Fotografie) und ebenso die Semantik (Mörder und Waffe waren im Park nicht zu sehen). Wir müssen also fragen: Wiederholt sich im Studio tatsächlich ein Story-Ereignis? Oder wird hier nicht vielmehr ein alternatives Ereignis geschaffen: ein Teil der Vergangenheit neu erfunden (im Sinne einer alternate history)? Dass uns die Analyse der Frequenz direkt zur Kernfrage des Films und der oben benannten Verunsicherung der Hauptfigur führt, ist bemerkenswert und offenbart eine minimalistische Methode. Antonioni hat narrative Besonderheiten (wie Anachronie und Repetition) auf einen einzelnen Punkt im Film reduziert. Das Rauschen des Windes könnte man als eine der kleinsten (und leisesten) Analepsen der Filmgeschichte bezeichnen. Gerade weil die Ordnung chronologisch und linear verfährt, sticht dieser Punkt so hervor und hebt die Bedeutung dieser Szene (ihre fotografische Suchbewegung nach Wahrheit) heraus. Gerade weil der Rhythmus des Films eher langsam abläuft, kann der Moment von Zuschauenden gebührend beachtet und reflektiert werden. Ob es sich um eine Wiederholung oder Neuerfindung handelt, können wir mit den Instrumenten der Zeitanalyse aber nicht klären. Dafür müssen wir verstehen, ob diese repetitive Analepse der filmischen Erzählinstanz oder der Hauptfigur zugeordnet werden kann, es sich also um eine narrationale Analepse oder eine figurale Analepse handelt (vgl. Kuhn 2011, S. 199). Der Erzählinstanz würden wir (und zu diesem Zeitpunkt spricht nichts dagegen) Objektivität zugestehen, dem Blick des Protagonisten tendenziell Subjektivität unterstellen. Damit wenden wir uns einem anderen Forschungsfeld der Narratologie und dem dritten Element des Narrativen zu: der Erzählperspektive. Die Frage danach drängt uns Antonionis Struktur zudem auf, weil Dauer und Ordnung so einheitlich angelegt sind: Die Zuschauenden sollen den Eindruck gewinnen, sie begleiten beinah in Echtzeit den Protagonisten. Umso drängender stellt sich die Frage, ob wir auch seine Perspektive vollständig teilen und somit eventuell an einer verzerrten Wahrnehmung teilhaben.

1.3 Perspektivische Struktur Die Perspektive ist eines der wichtigsten Mittel zur kognitiven Steuerung der Zuschauenden im Erzählvorgang. Der vielschichtige Begriff verbindet in seinem Ursprung (von dem lat. Verb perspicere, also ‚hindurchsehen‘, ‚hindurchblicken‘) einen optischen (Sehen) mit einem kognitiven Aspekt (Erkenntnis) (Nünning und Nünning 2000, S. 8). Tatsächlich ist es sinnvoll bei einer Perspektive, zwischen Wahrnehmung und Wissen zu unterscheiden und deswegen – wie Marcus Kuhn vorschlägt – Genettes Fokalisierungsmodell, das beide Bereiche vermischt, auf den Aspekt des Wissens zu begrenzen (vgl. 2011, S. 119 ff.).

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Kommunikativität und Fokalisierung Beginnen wir also mit dem Wissen der Perspektivtragenden. Beteiligt die narrative Instanz die Zuschauenden an dem Wissen einer Figur, können Absichten und Aktionen der Figur besser verstanden werden. Ob Erzählungen die Informationen eher mittteilen oder vorenthalten, bezeichnet Bordwell in Anlehnung an Meir Sternberg die Kommunikativität (communicativeness) eines Films (vgl. 1985, S. 59–60). Genettes Fokalisierungsmodell unterscheidet eine Form, die potenziell jedes narrative Wissen zur Verfügung stellt und somit mehr mitteilt, als eine einzelne Figur weiß (Nullfokalisierung), von jener, die sich – zum Beispiel aus Gründen der Spannungs- und Informationsökonomie – auf das Wissen einer Hauptfigur beschränkt (interne Fokalisierung ) und dabei auch von einer Figur zur anderen wechseln kann (variable interne Fokalisierung) oder aber weniger erzählt, als eine Figur weiß (externe Fokalisierung) (vgl. 2010, S. 121; Kuhn 2011, S. 123). Stellen wir uns nun probehalber vor, Blow Up wäre nullfokalisiert, so würde sich der Film auch mal von Thomas lösen und Seitenblicke in andere storyrelevante Lebenswelten einfügen: der Fremden im Park, ihres Liebhabers oder des Täters. Wir würden die Hintergründe erfahren: über Motiv, Mordplan und Janes Verbindung zum Schützen. Tatsächlich sah die ursprüngliche Drehbuchfassung eine hoch kommunikative und nullfokalisierte Eröffnung vor, die zwischen verschiedenen Orten und zentralen Figuren hin und her springt (vgl. Antonioni 1971, S. 117–118). Im Fortgang haben sich Antonioni und Guerra für eine restriktive Kommunikativität entschieden und den Fokus auf die Hauptfigur beschränkt – mehr noch: Obgleich wir Thomas linear folgen, erhalten wir keinen Einblick in seine Vorgeschichte und nur widersprüchliche Hinweise zum Ehe-Verhältnis. Seine Wünsche und Ziele bleiben lange unklar, die Funk- und Telefongespräche sind oft nicht zu entschlüsseln und seine spontanen Aktionen kaum vorauszusehen. Antonionis Film Blow Up ist folglich extern fokalisiert und die Nähe zum Protagonisten im zeitdeckenden Erzählen nur eine scheinbare. Die Zuschauenden beobachten den Fotografen wie einen Fremden – so wie Ethnologen die Menschen anderer Kulturen. Auch wenn unser Wissen über Thomas durch Beobachtung mit der Zeit wächst (was manche Reaktionen vorhersehbar macht), so lässt sich auch am Ende kaum von einer internen Fokalisierung sprechen: Denn was denkt und empfindet Thomas in der Schlusssequenz? Hat ihn die Geschichte wirklich verändert? Die Leerstellen, die aus der eingeschränkten Kommunikativität und externen Fokalisierung entstehen, verleihen dem Film seine Rätselhaftigkeit, Modernität und anhaltende Aktualität (vgl. zu Leerstellen Dablé 2012, S. 147–192). Sie fordern die Imagination jeder Generation aufs Neue heraus. Okularisierung und Aurikularisierung  Dass sich von der Wissensperspektive einer Figur ihre optisch/akustische Wahrnehmung abgrenzen lässt, erscheint nicht auf Anhieb schlüssig und kann an der Point-of-View-Technik verdeutlicht werden (vgl. Salt 2009, S. 104–105; Beil 2010, S. 29 ff.). Denn eine sogenannte subjektive Einstellung, welche die Sicht einer Figur imitiert (Eyeline-Shot), zeigt nicht die Figur selbst. Das Gesehene verrät daher wenig darüber, was diese Person weiß, denkt oder fühlt – oder wer sie

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überhaupt ist (was sich der Horrorfilm gerne zu eigen macht, der uns den Blick eines Aggressors aufzwingt, aber das Wesen selbst nicht zeigt, vgl. Beil 2010, S. 72 ff.). Für Edward Branigan entfaltet die Point-of-View-Technik daher ihre Wirkung erst in der Kombination eines Eyeline-Shots mit dem Reaction Shot, der danach auch die blicktragende Figur zeigt: Erst ihr Gesichtsausdruck lädt das Gesehene semantisch auf, Wahrnehmung und Erkenntnis verbinden sich zu einem subjektiven Ausdruck (vgl. Branigan 1984, S. 103). Um die Wahrnehmungsordnung der Perspektive zu präzisieren, hat François Jost vorgeschlagen, das relationale Prinzip des Fokalisierungsmodells auf das Sehen (Okularisierung) und Hören (Aurikularisierung) zu übertragen (1987), was von Sabine Schlickers (1997, S. 127–167) und Markus Kuhn fortgeführt und ausdifferenziert wurde (vgl. 2011, S. 127 ff.). Die Erzählinstanz vermag prinzipiell, mit der Kamera überall zu sein (Nullokularisierung = Übersicht), kann vorgeben, nur das zu sehen, was die Hauptfigur beobachtet (interne Okularisierung = Mitsicht) oder gar weniger (externe Okularisierung = Außensicht). Auf den Ton bzw. das Gehör übertragen, wäre von Null-, interner oder externer Aurikularisierung zu sprechen (vgl. Kuhn 2011, S. 129). Extern aurikularisiert sind wir zum Beispiel, als Thomas Veruschka ins Ohr flüstert (was wir nicht hören) oder Thomas telefoniert (und wir die Antworten der Gesprächspartner nicht vernehmen). Kombinieren wir die Möglichkeiten der Vermittlung von Wissen (Fokalisierung) und Wahrnehmung (Okularisierung, Aurikularisierung) und fragen danach, ob dieser Fokus im Verlauf konstant bleibt oder wechselt, so offenbart sich, wie komplex das perspektivische Gewebe in einem Film sein kann. Kehren wir zu unserer Frage zurück, ob sich Thomas’ fotografische Rekonstruktion der Park-Situation im Studio als neutral oder subjektiv einstufen lässt. Da uns keine Hintergrundinformationen zur Tat gegeben werden (geringe Kommunikativität), bleibt nur eine Analyse der perspektivischen Wahrnehmungsordnung. Tatsächlich fördert die Anwendung von Josts Modell einen Konflikt zwischen null und intern okularisierter Perspektive zutage. Obwohl die filmische Erzählinstanz den Fotografen über 24  Stunden Story-Zeit nicht aus den Augen verliert, betont sie mehrfach ihre Unabhängigkeit von seiner Position. Das bezeugt bereits der Filmanfang, der null okularisiert in den Straßen Londons beginnt und sich erst nach einer Weile für Thomas entscheidet (Abb. 8): ein scheinbar zufällig gewähltes Einzelschicksal, von dem sich das Filmende wiederum in der Vogelperspektive verabschiedet. Gerade in der Park-Sequenz lassen sich deutliche Strategien der perspektivischen Abgrenzung feststellen. 1) Nicht Thomas‘ Blick initiiert das Betreten des Parks, sondern die narrative Instanz springt ihm voraus und erwartet ihn dort. 2) Dann simuliert sie seinen Blick (Eyeline-Shots mit Schwenk als Kopfbewegung), die sich als Fake entpuppen, da der Fotograf selbst in die vermeintliche Subjektive hineintritt. 3) Umgekehrt werden nach Reaction-Shots (wir sehen den Fotografen, wie er außerhalb des Kaders etwas Interessantes entdeckt) die Eyeline-Shots und somit das erblickte Objekt verweigert (externe Okularisierung). Erst wenn Thomas auf das Pärchen aufmerksam wird und hinter dem Zaun entlang schleicht, lässt sich der Film auf die interne Okularisierung

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Abb. 8   Die ersten Minuten von Blow Up bestehen aus fremdartigen Stadtansichten, präsentiert von einer Kamera, die lange Zeit keinen Protagonisten auswählt (a-c) und sich dann wie zufällig für den Fotografen entscheidet (d). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

ein. Die POV-Serie (Eyeline- und Reaction-Shots im Wechsel) wird allerdings bald durchbrochen – ausgerechnet von 4) einem Blick von oben, der im Englischen God’s Eye View genannt wird. Als omnipotenter, null okularisierter Blick hebt sich die Erzählinstanz auf diese Weise explizit von der beschränkten Wahrnehmung des Fotografen ab. Just, wenn das Paar erkennt, dass es zum fotographischen Objekt wurde,  5) springt die Kamera über die imaginäre Handlungsachse. Der Achsensprung lässt die perspektivische Ordnung im Raum gezielt kollidieren (vgl. Keutzer et al. 2014, S. 167–169). Diese Analyse zeigt uns, wie tief eine Untersuchung der perspektivischen Struktur in das Material hineinführt, und sie beweist, dass sich Filmnarratologie und Filmästhetik kaum voneinander trennen lassen. Daher ergänzt Bordwell zu den Ebenen Story und Plot diejenige des Style. Der Plot verwirklicht sich erst im Stil des Films und lässt sich umfänglich nur über die Analyse der Gestaltungsmittel ergründen (vgl. 1985, S. 49–53). Warum findet sich in Blow Up dieser Konflikt in der Wahrnehmungsordnung? Die spätere Rekonstruktion im Studio und Entdeckung des Mörders im Gebüsch offenbaren, dass die perspektivische Konstellation im Park komplexer gewesen sein könnte als gedacht: Nicht einer, sondern zwei heimliche Beobachter zielen auf das Liebespaar – der eine mit dem Fotoapparat, der andere mit der Waffe. Hinzu kommt als vermeintlich dritter Beobachter der nullokularisierte Blick der Erzählinstanz. Aber auch diese zeigt nicht, was der Fotoapparat als vierte Instanz aufgenommen hat. Somit klafft eine Divergenz zwischen dem, was Negativ (der Kamera) und was Auge (des Fotografen) erfassen, und eine Divergenz zwischen der Allmacht der Erzählinstanz (mit ihrem God’s Eye View) und ihrer Weigerung, den Mörder in den Büschen zu zeigen. Weil es keinen

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Mörder gab? Raffiniert wird ein Zweifel vorbereitet, der sich auf das vergrößerte Foto und später auf den Blick des Fotografen richtet. Bildet die körnige Textur der Fotografie tatsächlich eine Waffe ab oder findet sie erst in Thomas‘ Blick (als Wunschprojektion) zu dieser Form? Wie aufwendig und komplex in Blow Up die Park-Sequenz im Londoner Maryon Park visuell komponiert wurde, wird in der folgenden Kartierung sichtbar, welche die Positionen, Blickwinkel und Einstellungsfolge aufschlüsselt (Abb. 9). Der Konflikt zwischen Null- und interner Okularisierung ist bereits in der literarischen Vorlage des Films formuliert worden: Die Kurzgeschichte Las Babas del Diablo (deutscher Titel: Teufelsgeifer, 1959) des argentinisch-französischen Schriftstellers Julio Cortázar beginnt mit einer Selbstreflexion des Autors über seine Verunsicherung in der Wahl der Erzählperspektive: „Nie wird man wissen, wie das erzählt werden muß, ob in der ersten Person oder in der zweiten, indem man sich der dritten Person des Plurals bedient oder fortwährend neue Formen erfindet, die sich dann als nicht brauchbar erweisen“ (Cortázar 1981, S. 65). Am liebsten wäre es dem Autor, ein Automat erzähle die Geschichte: die Schreibmaschine oder der Fotoapparat (ebd.). Die Erzählerstimme fragt sich: „wer da eigentlich erzählt, ob ich es bin oder das, was passiert ist, oder das, was ich gerade sehe […], oder ob ich einfach eine Wahrheit erzähle, die lediglich meine Wahrheit ist, somit nicht die Wahrheit […]“ (ebd., S. 66–67). Folglich oszilliert die Erzählung zwischen der Ich-Form und der Er-Form – scheinbar willkürlich, manchmal von einem Satz zum nächsten (vgl. ebd., S. 80). Sie identifiziert ihre Perspektive mit derjenigen des Kameraobjektivs („und da schwenke ich ein wenig, will sagen, die Kamera schwenkt ein wenig“) und versetzt – wie auch Blow Up – den Stillstand der Fotografien in eine (imaginäre) Bewegung (ebd., S. 85). Mentale Metadiegese Dieser unscheinbare, minimale Riss im Wahrnehmungsgefüge wird ausgeweitet, wenn sich Thomas im Studio hinsetzt und seinen Blick auf die großformatigen Fotografien richtet, die dann Abzug für Abzug aufeinander folgen. Die berühmt gewordene Fotosequenz scheint eine interne Okularisierung darzustellen. Doch was ist mit dem Rauschen des Windes in den Parkbäumen, das wir dabei hören? Wo siedeln wir dieses geisterhafte Geräusch an? Hört es Thomas in seinem Kopf? Sind wir also intern aurikularisiert? Dann ließe sich die Abfolge der Fotos als Erinnerung deuten. Der Film würde die Erzählebene wechseln: vom tatsächlichen Erzählraum (der Diegese) in eine mentale Sphäre (Metadiegese). In dieser mentalen Metadiegese (vgl. Kuhn 2011, S. 284 ff.) würden sowohl die Inhalte als auch die narrative Verknüpfung der Fotografien ihren objektiven Charakter, ihre glaubwürdige Verankerung in der Wirklichkeit verlieren und könnten sich in dieser figuralen Analepse als subjektive Projektion entpuppen. Aber so leicht ist es nicht. Schaut man sich die Abfolge der Fotos genauer an, so wird diese erstens nicht mehr an den Blickenden zurückgebunden (mit einem ReactionShot), sondern gewinnt vielmehr einen autonomen Charakter; sie gleicht zweitens auch keiner subjektiven Blickbewegung: Sie wirkt eher mechanisch wie eine Dia-Projektion. Das Mechanische legt nahe, die Foto-Sequenz der Erzählperspektive zuzuschreiben

Abb. 9   Orientierung im Dickicht des visuellen Rätsels in Blow Up: Infografisch aufgeschlüsselter Ablauf der Begegnung zwischen dem Fotograf und dem Paar im Park. (© Mauer/Maisenbacher)

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(als Nullokalisierung) und demnach die Tonspur (Wind in den Bäumen) nicht als Erinnerung der Hauptfigur, sondern als akustische Rückblende des Films zu deuten. Keine mentale Metadiegese also, sondern ein selbstreflexiver Abschnitt, der an Fotoromane oder Fotocomics erinnert und eine Form wählt, die Chris Markers Film La Jetée (Am Rande des Rollfelds, F 1962) wenige Jahre zuvor bekannt machte (Abb. 10). Solch ein Foto-Film thematisiert den Schwellenübergang zwischen den beiden Medien und hebt die Montage als zentrales Verfahren des Kinos heraus, ein Verfahren, das zur (narrativen) Konstruktion von Zusammenhängen genutzt wird. Anders gesagt: Das Kino schneidet Bilder aus der Welt (Selektion) und reiht sie mechanisch auf, um eine Geschichte zu erzählen (Kombination). Auch in diesem Fall ließe sich von einem Wechsel in eine Metadiegese sprechen, allerdings in eine essayistische oder philosophische Metadiegese, in welcher der Film über sich selbst nachdenkt und uns Zuschauenden die Technik des Geschichtenerzählens demonstriert (wir kommen am Ende darauf zurück). Die Deutlichkeit, mit der die Konstruiertheit betont wird, erlaubt es uns nicht, die Nullokularisierung der Bildfolge als objektiven Beweis für den Mord zu interpretieren. Vielmehr wird über die Selbstreflexivität gerade der Objektivitätsgehalt der Nullokularisierung infrage gestellt. Diese raffinierte Oszillation zwischen interner und nullokularisierter Perspektive, Subjektivität und Materialität, mentaler und selbstreflexiver Metadiegese ist nicht lösbar – und soll es auch nicht sein. Nicht beantworten lässt sich also die Frage, die weiter oben bei der Analyse der Frequenz entstand: Wird hier die Situation im Park rekonstruiert a

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Abb. 10   Distanziert und mechanisch schneidet der Film von Abzug zu Abzug in Blow Up (a + b). Ein apparativer Blick auf eingefrorene Bilder, die eine fragmentierte Geschichte erzählen, vergleichbar mit Chris Markers „Photoroman“ La Jetée (c + d).   Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.); La Jetée (Am Rande des Rollfelds, F 1962, © Argos Film) 

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oder fabuliert, wird hier gefunden oder erfunden? Denn in beiden Fällen – seitens des Protagonisten wie des Films – könnte es sich um eine Fälschung handeln. In jedem Fall gilt: Der Zweifel am Wahrnehmungsmodus weitet sich unmerklich aus und beginnt, auch die nullokularisierte Perspektive zu infizieren und infrage zu stellen. Das Problem wird damit von einer subjektiven auf eine existentielle, ontologische Ebene gehoben. Unzuverlässige Erzählung Nun sind die bisher beschriebenen Risse im Wahrnehmungsgefüge sehr feine, nahezu unmerkliche ästhetische Störungen. Expliziter wird der Film, wenn Thomas nachts im Auto unterwegs ist und die Frau aus dem Park am Straßenrand bemerkt. In dem Eyeline-Shot – eine interne Okularisierung – geschieht etwas Sonderbares: Jane löst sich in Luft auf. Sie wird buchstäblich ausradiert von den vorbeiströmenden Passanten (Abb. 11). War sie nur eine optische Halluzination des Fotografen? Allerdings deuten keine Markierungen (Bild- oder Tonverzerrungen) darauf hin, dass es ein Perception Shot war (vgl. Branigan 1984, S. 80; Beil 2010, S. 107 ff.). Am Filmende kehrt das Phänomen wieder, diesmal als akustische Halluzination (Akoasma): Zu hören ist der Laut des imaginären Tennisballs aus dem Match der Pantomimen. Demonstriert uns die Erzählinstanz die Manipulierbarkeit von Bild und Ton? Und die Möglichkeit, eine eigene Wirklichkeit zu konstruieren, so wie es die Pantomimen tun? Der Film „tritt selbst in die von den Figuren imaginierte Wirklichkeit ein“ und „macht ihre Imagination zu seiner eigenen“ (Seel 2013, S. 83). Die Erzählinstanz, die ihre Unabhängigkeit mehrfach betont hat, grenzt sich nicht mehr von der halluzinativen Wahrnehmung des Fotografen ab.

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Abb. 11   Jane löst sich auf – nicht nur in der Menschenmenge (a), sondern auch in der Einstellung selbst (b). Das Verlöschen der Figur aus dem kinematographischen Bild wiederholt Blow Up am Schluss. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.) 

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Doch damit wird sie selbst unzuverlässig. Denn die Zuschauenden können ihren Bildern und Tönen nicht mehr trauen und müssen den ontologischen Status des Films infrage stellen. Auf diese Weise bildet sich eine zweite alternative Erzählung heraus, die uns bisher verborgen blieb. Sie erzählt von der wachsenden Unzuverlässigkeit der Wahrnehmung und Narration. Erinnern wir uns an die Kausalkette des Hauptplots mit der Initialzündung, den Wendepunkten und der fehlenden Resolution im dritten Akt sowie dem Spurwechsel in der Dramaturgie, welcher den Konflikt aus dem Inneren des Films (Ermittlungsplot) auf die Beziehung zwischen Film und Zuschauenden verlagert. Nun können wir ergänzen: Zu Beginn des dritten Akts wird nicht nur der Genre-Vertrag gebrochen (keine Resolution), sondern auch der ontologische Publikumsvertrag mit dem Film, und wir können den Verdacht schöpfen, es mit einer unzuverlässigen Erzählung zu tun zu haben. Unzuverlässiges Erzählen  Der Literaturwissenschaftler Wayne C. Booth, der das Konzept des „Unzuverlässigen Erzählers“ in Rhetoric of Fiction (1961, deutsch Rhetorik der Erzählkunst, 1974) erstmals benannte, entdeckte diese Strategie in Klassikern der amerikanischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Dass hier die Hauptfiguren, die als Erzählinstanz fungieren, einer verzerrenden Wahrnehmung unterliegen, können die Lesenden aus den Reaktionen der anderen Figuren kontextuell erschließen. Für Filme eignet sich der neutrale Begriff der „Unzuverlässigen Erzählung“ besser, da sie oft keine explizite sprachliche Erzählinstanz (als Voice-Over) installieren, sondern eine Hauptfigur vorführen, deren verfälschende Wahrnehmung sich auf den filmischen Darstellungsmodus überträgt. Zuschauende bemerken Diskrepanzen zwischen der Sichtweise der Hauptfigur und dem Bezugsrahmen der Erzählwelt (der possible world des Films, vgl. Orth 2006, 288–291) und versuchen diese aufzulösen, um Kohärenz herzustellen. Im Falle einer unzuverlässigen Erzählung bleibt keine andere Lösung, als die Wirklichkeitsdarstellung des Films selbst infrage zu stellen. Die Geschichte der Unzuverlässigen Erzählung im Film reicht von Das Cabinet des Dr. Caligari (D 1920), der sich als Wahn eines Psychiatrie-Insassen entpuppt, über Stage Fright (Die rote Lola, USA 1950), der eine „gelogene“ Rückblende einfügt (vgl. Truffaut 1995, S. 185) und Rashomon (JP 1950), wo unterschiedliche Sichtweisen auf einen Mord keine Auflösung finden, bis zu einem Boom des Unzuverlässigen zur Jahrtausendwende (vgl. Liptay und Wolf 2005; Blaser et al. 2007; Leiendecker 2015). Dass die Hauptfiguren von The Usual Suspects (USA 1995), The Sixth Sense (USA 1999) oder Fight Club (USA 1999) nicht das sind, wofür wir sie hielten, führt zu einem Last Act Twist: einem überraschenden Wendepunkt im Finale (vgl. Strank 2014, vgl. Abb. 12). Dieser zieht den Zuschauenden den (epistemologischen) Boden der Gewissheiten unter den Füßen weg, zwingt sie zu einer Revidierung aller Prämissen und der Re-Lektüre des trügerischen Films unter neuen Vorzeichen. Zwei grundlegende Strategien lassen sich unterscheiden: Beim underreporting werden den Zuschauenden wichtige Informationen vorenthalten – zum Beispiel, dass die Figur von Nicole Kidman in The Others (USA 2001) ein Geist ist –, beim

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Abb. 12   Der Last Act Twist im Film Fight Club vermittelt die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Psychose des Protagonisten (Edward Norton). Die Kamera offenbart erstmals, dass er nie mit Tyler Durden (Brad Pitt, a) gesprochen hat, sondern immer nur mit sich selbst (b). Quelle: Fight Club (USA 1999, © 20th Century Fox)

misreporting werden falsche Tatsachen inszeniert, wie die halluzinierten Freunde in A Beautiful Mind (USA 2001) (vgl. Hartmann 2007, S. 43).

Die Besonderheit von Blow Up – und anderer, surrealistisch anmutender Filme der 1960er Jahre von Ingmar Bergman, Federico Fellini oder John Boorman – ist, dass die Unzuverlässigkeit nicht final aufgelöst wird. Im Gegensatz also zur Jahrtausendwende, wo die Hauptfigur schließlich als Geist, Schizophrener oder Lügner entlarvt und eine letztgültige Deutung festgeschrieben wird, schafft Antonionis offenes Ende Raum für (philosophische) Interpretationen. Die erste Story-Variante (Enthüllungsplot) wird nicht durch die zweite (Unzuverlässigkeit) aufgehoben. Dies gelingt, weil die Unzuverlässigkeit nicht in die kausale Struktur eingreift, sondern im dritten Akt auf ästhetischer Ebene minimalistisch evoziert wird. Zwischen der optischen Halluzination (Jane verschwindet) und der akustischen Halluzination (Tennisballgeräusch) tritt Thomas auf mehrere surreale Szenerien: Somnambul wirken die Konzert-Besucher und unwirklich wie die Leiche, die Thomas nicht mehr findet, und wie die Masken der Pantomimen, die ein Tennisspiel imitieren (Abb. 13). a

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Abb. 13   Surreal wie die künstliche Leiche (a) muten auch die Szenen des letzten Drittels von Blow Up an: Thomas durchwandert sie passiv, trifft auf somnambule Personen, die bleich oder leblos an ihm vorbei blicken (b+c). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.) 

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Im Wissen um die Unzuverlässigkeit im dritten Akt, der über die Pantomimen auf den ersten Akt zurückweist, führt die Re-Lektüre dazu, vorher unbemerkte Hinweise wahrzunehmen: die schillernde Identität der Hauptfigur (Obdachloser, Sozial-Reporter, Fashion-Fotograf, Detektiv), seine ständige Übermüdung, Übersprungshandlungen, widersprüchlichen Aussagen (wenn er die Existenz seiner Ehefrau behauptet und zugleich leugnet), seine Begeisterung für uneindeutige Texturen in Gemälden und Fotografien und seinen Fund einer künstlich inszenierten Leiche. All das sind keine kausalen, sondern ästhetische Motive (Martinez und Scheffel 2019, S. 121 ff.), die auf kognitiver Ebene bei Zuschauenden das wankende Spiel mit Sein und Schein immer wieder anklingen lassen und schließlich rechtfertigen, an der Evidenz der Bilder und Töne zu zweifeln. Im Gegensatz also zu den Last-Act-Twist-Filmen, die man nach der Sichtung nur noch auf eine Weise deuten kann, bleibt Blow-Up bis heute auf zwei Arten lesbar. Wir können nun die Graphik der Spannungskurve nochmal aufgreifen und um die Unzuverlässige Erzählung im dritten Akt ergänzen (Abb. 14).

1.4 Schluss: Das narrative Selbst Aus erzähltheoretischer Sicht können wir Blow Up als einen Film über einen Menschen deuten, der sich aus dem Gefühl eines Mangels heraus auf die Suche nach einer Geschichte macht, diese Geschichte im Studio aus einzelnen Artefakten konstruiert und dadurch kurzzeitig eine sinn- und identitätsstiftende Aufladung seines Selbst erlebt. Der Begriff „Erzählen“ stammt ab von „Aufzählen“ und benennt die Verknüpfung von Elementen als elementares Prinzip. Darin liegt bereits eine Relativität begründet, denn es gibt unzählige Möglichkeiten der Kombination. Die Montage – sie ist im Film das Werkzeug der Verknüpfung – sei ein „ästhetischer ‚Transformator‘“ erklärte Bazin in den frühen 1950er Jahren, denn sie erzeuge Bedeutungen, die in den Einzelbildern nicht enthalten sei: „Der Sinn liegt nicht im Bild, sondern die Montage projiziert dessen Schatten ins Bewußtsein des Zuschauers.“ (2004, S. 92 f.) Genau das ist in Antonionis Film der Fall: Die Fotosequenz erhält ihren Sinn nur durch die Verkettung der Bilder, nicht aber durch die jeweilige Verbindung eines Bildes zur Wirklichkeit, denn diese Beziehung wird als zweifelhaft dargestellt (und von Patricia so bewertet). Erlebnisse zu einer sinnstiftenden Fabel zu ordnen, ist nicht nur für Thomas ein unausgesprochener Wunsch: „Jeder Mensch ist beständig Leser und Erzähler seiner eigenen Lebensgeschichte. Mehr noch: Er kommt gar nicht umhin, es zu sein.“ (Weiland 2019, S. 1) Aus der Sicht des narrativen Konstruktivismus stellt das Erzählen ein anthropologisches Grundbedürfnis und einen Akt der Weltaneignung dar: „Das Verstricktsein in Geschichten bzw. symbolische Netze erscheint dabei als existenzielle und unaufhebbare Daseinsform des Menschen“ (ebd., S. 220). An diesem Punkt strahlt die Narratologie in andere Disziplinen aus: Wie Historiker bewusst oder unbewusst mit Erzähltechniken (der Selektion, Motivation, Kausalität und des Antagonismus) den Strom faktischer Ereignisse zu einem Plot ordnen, ist eine Frage der Geschichtswissenschaft, spätestens seit Hayden V. White (vgl. 2008). Wie sich der Mensch seine „Wirklichkeit auf-

Abb. 14   Der Film verweigert die Auflösung der kausalen Motivkette und schert im dritten Akt aus der Dramaturgie des Enthüllungsplot aus, um die Zuschauenden auf eine alternative Erzählung aufmerksam zu machen, die unzuverlässig ist und zur Relektüre des Films sowie Neubewertung der ästhetischen Motive auffordert. (© Mauer/Maisenbacher)

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baut und strukturiert, gegenwärtig macht und aktualisiert“ (Neumann 2013, S. 63) ist eine epistemologische Frage für die Philosophie. Wie sich das Bewusstsein ein „narratives Selbst“ errichtet, indem es aus dem kontinuierlichen Fluss des eigenen Lebens bestimmte Erlebnisse heraushebt, in eine kausale Reihenfolge bringt und mit Anfang und Ende versieht, um sich selbst eine Identität zu verleihen, bzw. wie diese überhaupt noch in der Spätmoderne gelingen kann (vgl. Kraus 2000), ist eine Frage der (narrativen) Psychologie (vgl. Straub 2019). Einflussreicher Vordenker war der französische Paul Ricœur, der in seinem dreibändigen Werk Zeit und Erzählung (2007) den Prozess der narrativen Konstruktion in drei Stufen der Mimesis gliedert: Präfiguration, Konfiguration und Refiguration. Ohne dies ausführen zu können und ohne der Komplexität von Ricœurs Theorie damit gerecht zu werden, sei angedeutet, dass Blow Up einen ähnlichen Prozess durchläuft. Das Erleben im Park präfiguriert die Erzählung, welche im Studio in der Fotosequenz konfiguriert wird und sich damit zu einem identitätsstiftenden Bestandteil seines narrativen Selbst auswächst; das lässt sich an der Aufregung ablesen, mit der Thomas wiederholt versucht, die Erzählung zu refigurieren, zum Beispiel anderen Personen (wie Patricia oder seinem Verleger) zu vermitteln. Eine soziale Funktion des Erzählens kommt dabei zum Tragen. Denn diese verzweifelte Suche nach jemanden, den die Geschichte überzeugt, zeigt: Erst wenn Thomas sie mit jemanden teilen kann, der sie beglaubigt, kann sie zum Bestandteil seines narrativen Selbst werden. Identitätsbildung ist ein kommunikativer, wechselseitgier Akt, der jeden Tag in Erzählprozessen neu ausgehandelt wird. Im Schlussbild verschwindet Thomas vor dem Hintergrund der Wiese; er löst sich auf, so wie vorher die Frau im Park. Ihm wurde jeder artefaktischer Beweis genommen und seiner narrativen Konstruktion keinen Glauben geschenkt. Damit hat er nicht nur seine Erzählung verloren, sondern auch sein Selbst, das der Film folglich gnadenlos aus dem eigenen Zelluloidmaterial ausmerzt (Abb. 15). Weil sich der Mensch der Wirklichkeit nicht sicher sein kann, spannt er Netze aus Erzählungen a

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Abb. 15   Wie zuvor Jane, die sich in der Menschenmasse auflöst, ereilt Thomas dasselbe Schicksal in der Schlusseinstellung. Einsam steht er auf der grünen Wiese, wie ein abstraktes Farbfeld mutet sie an. Sein Körper friert ein, wird transparent und verschwindet aus der Erzählwelt (a–c). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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über das Mysterium. Indem er diese Narrationen mit anderen teilt, versucht er sich im Zirkelschluss selbst von der Wahrheit der Geschichte zu überzeugen. Dass Thomas so verloren und schließlich im Nichts endet, beweist: Die eigentliche Tragik des Menschen liegt in der Not, wenn ihm niemand seine Geschichten glauben mag. Exemplarische Filme Thema: Unzuverlässiges Erzählen im Film Das Cabinet des Dr. Caligari (D 1920, Robert Wiene) The Bridge (USA 1929, Charles Vidor) Detour (Umleitung, USA 1945, Edgar G. Ulmer) Stage Fright (Die rote Lola, GB 1950, Alfred Hitchcock) Rashomon (J 1950, Akira Kurosawa) L’Année dernière à Marienbad (Letztes Jahr in Marienbad, F 1961, Alain Resnais) Otto e mezzo (Achteinhalb, I/F 1963, Federico Fellini) Solaris (SU 1972, Andrej Tarkovskij) The Conversation (Der Dialog, USA 1974, Francis Ford Coppola) Céline et Julie vont en bateau (Céline und Julie fahren Boot, F 1974, Jacques Rivette) The Shining (GB 1980, Stanley Kubrick) Jacob’s Ladder (Jacob’s Ladder – In der Gewalt des Jenseits, USA 1990, Adrian Lyne) El viaje (Die Reise, ARG 1992, Pino Solanas) Before the Rain (Vor dem Regen, MKD 1994, Milčo Mančevski) The Ususal Suspects (Die üblichen Verdächtigen, USA 1995, Bryan Singer) Pâfekuto burû (Perfect Blue, J 1997, Satoshi Kon) Abre los Ojos (Öffne die Augen, E 1997, Alejandro Amenábar) eXistenZ (CDN 1999, David Cronenberg) Fight Club (USA 1999, David Fincher) The Sixth Sense (USA 1999, M. Night Shyamalan) Memento (USA 2000, Christopher Nolan) A Beautiful Mind (USA 2001, Ron Howard) Close Up (IRN 2001, Abbas Kiarostami) Mulholland Drive (USA 2001, David Lynch) Lucia y el Sexo (Lucia und der Sex, E 2001, Julio Medem) Cypher (CDN 2002, Vincenzo Natali) À la folie … pas du tout (Wahnsinnig verliebt, F 2002, Laetitia Colombani) Swimming Pool (F 2003, Regie: François Ozon) The Machinist (Der Maschinist, USA 2004, Brad Anderson) Caché (F et al. 2005, Michael Haneke) Stay (USA 2005, Marc Forster) El laberinto del fauno (Pans Labyrinth, MEX 2006, Guillermo del Toro) Yella (D 2007, Christian Petzold)

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Shutter Island (USA 2010, Martin Scorsese) Omoide no Mānī (Erinnerungen an Marnie, J 2014, Hiromasa Yonebayashi) Literaturhinweise zur Theorie des filmischen Erzählens Bal, Mieke. 2017. Narratology. Introduction to the Theory of Narratology. Toronto: University of Toronto Press. Bordwell, David. 2007. Narration in the fiction film. Madison: University of Wisconsin Press. Branigan, Edward. 2006. Narrative Comprehension and Film. London: Routledge. Branigan, Edward. 2010. Point of View in the Cinema. A Theory of Narration and Subjectivity in Classical Film. Berlin: De Gruyter. Brössel, Stephan. 2014. Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte. Berlin/New York: De Gruyter. Buckland, Warren. Hrsg. 2009. Puzzle films: complex storytelling in contemporary cinema. Chichester [u.a.]: Wiley-Blackwell. Chatman, Seymour. 1980. Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca: Cornell University Press. Chatman, Seymour. 1990. Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Ithaca: Cornell University Press. Dablé, Nadine. 2012. Leerstellen transmedial. Auslassungsphänomene als narrative Strategie in Film und Fernsehen. Berlin: De Gruyter. Eckel, Julia et al. Hrsg. 2012. (Dis)Orienting Media and Narrative Mazes. Bielefeld: transcript. Genette, Gérard. 1994. Die Erzählung. München: Fink. Hanebeck, Julian. 2017. Understanding Metalepsis. The hermeneutics of narrative transgression. Berlin: De Gruyter. Hartmann, Britta. 2009. Aller Anfang. Zur Initialphase des Spielfilms. Marburg: Schüren. Kuhn, Markus. 2011. Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin: De Gruyter. Martinez, Matias und Michael Scheffel 2019. Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H.Beck. Martinez, Matias. Hrsg. 2017. Erzählen: ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag. Nünning, Vera. Hrsg. 2015. Unreliable Narration and Trustworthiness. Intermedial and Interdisciplinary Perspectives. Berlin/New York: De Gruyter. Potsch, Sandra. 2014. Fragmentierte Welten und verknüpfte Schicksale. Formen episodischen und mehrsträngigen Erzählens in Literatur und Film. Bamberg: University of Bamberg Press. Powell, Helen. 2012. Stop the Clocks! Time and narrative in Cinema. London: I.B. Tauris. Reinerth, Maike Sarah/Jan-Noël Thon. Hrsg. 2017. Subjectivity Across Media: Interdisciplinary and Transmedial Perspectives. New York/London: Routledge.

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Rimmon-Kenan, Shlomith. 2002. Narrative Fiction. Contemporary Poetics. London: Routledge. Schlickers, Sabine/Toro, Vera. Hrsg. 2017. Perturbatory narration in film: narratological studies on deception, paradox and empuzzlement. Berlin; Boston: De Gruyter. Schmid, Wolf. 2014. Elemente der Narratologie. Berlin: De Gruyter. Thon, Jan-Noel. 2016. Transmedial narratology and contemporary media culture. Lincoln; London: University of Nebraska Press. Thompson, Kristin. 1999. Storytelling in the New Hollywood: Understanding Classical Narrative Technique. Cambridge: Harvard University Press. Willemsen, Steven/Miklós, Kiss. 2016. Impossible Puzzle Films: A Cognitive Approach to Contemporary Complex Cinema. Edinburgh : Edinburgh UP.

2 Bildtheorie Thomas Meder Was ist ein filmisches Bild? Der Einzelkader (frame) auf dem durchleuchteten Zelluloidstreifen? Allerdings bleibt dieser in der Regel unsichtbar, weil die Verweildauer eines Kaders unterhalb der menschlichen Perzeptionsfähigkeit von etwa 15 Einzelbildern pro Sekunde liegt. Oder die Einstellung, ein Bewegungsbild, das durch den Schnitt begrenzt wird? Tatsächlich spielt sie im Produktionsprozess eine größere Rolle als im montierten Produkt, wo sie erst in der Kombination mit anderen Einstellungen zur Gesamtheit einer Bildgestalt kulminiert wie in der berühmten Duschmord-Sequenz von Psycho (USA 1961). Oder doch das Querschnittsbild eines Films, abgekoppelt von seinem performativen Erscheinen? Es dauert im besten Fall der Rezeption vom Verlöschen der Lichter im Kino bis zum Weiß der Leinwand nach – im Falle von Blow Up (GB/IT 1966) – 106:39 min und ist ein zeitlich erstrecktes und prozessuales Bild, das sich in einer Informationsgrafik fassen lässt  (Abb. 16a, 16b, und 16c). So leicht die Wirkkraft von Filmen auf das Phänomen der Bildlichkeit, auf die visuelle Seite des Mediums zurückzuführen ist, so schwierig wiederum scheint die

Abb. 16a   Chronologische Folge der visuellen Ereignisse in Blow Up. (Teil 1 von 3, © Meder/Callenberg)

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Abb. 16b   Chronologische Folge der visuellen Ereignisse in Blow Up. (Teil 2 von 3, © Meder/Callenberg)

Abb. 16c   Chronologische Folge der visuellen Ereignisse in Blow Up. (Teil 3 von 3, © Meder/Callenberg)

Bestimmung des filmischen Bildes selbst. Zwei Eigenschaften unterscheiden das filmische Bild, welches zur Familie der Bilder Ende des 19. Jahrhunderts hinzustößt, grundlegend von seinen älteren Geschwistern, den Gemälden, Grafiken und Fotografien. Zum einen ist das filmische Bild zeitbasiert, zum zweiten kommt es in einer apparativen Ordnung zum Vorschein; es ist ein technisches Bild. Konsequenz hieraus ist, dass der Film nicht nur mit einem spezifischen Apparat, der Kamera, aufgenommen wird, sondern auch nur unter Zuhilfenahme eines Apparates, dem Projektor oder Bildschirm, erscheinen, also zur Welt kommen kann. Dabei ist nicht unerheblich, auf welchem Apparat man den Film betrachtet. Am besten sieht man Filme in einem großen Kino, weniger gut auf einem Bildschirm, kaum auf einem mobilen Endgerät, einem hand-helddevice. Entscheidende Details lassen sich nur in einer angemessen großen Projektion erkennen, wofür Blow Up einen Beleg bietet: Wann bekommt man beispielsweise den toten Mann im Park zum ersten Mal zu sehen? Lässt er sich bereits in einer Totalen der Park-Szene identifizieren oder erst mithilfe der von Thomas (David Hemmings) abfotografierten Vergrößerungen, der blow ups, also der Vermittlung über ein neues Bild? Für eine allgemeine Bildtheorie ist dies das große Verdienst dieses Films: „Antonioni analysiert in Blow Up die Bedingungen, unter denen das Ergebnis einer Gestaltbildung für real gehalten werden kann.“ (Bauer 2015, S. 392) Das filmische Bild ist ein EpiPhänomen des Apparates, der damit über die Möglichkeiten der Rezeption bestimmt: die Genauigkeit der Wahrnehmung und die Intensität der Versenkung.

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2.1 Zur Phänomenologie des bildlichen Erlebens Die Versenkung in das Bild Seit dem Mittelalter gibt es Seh-Formen, mit deren Hilfe sich Menschen in Bilder versenken können. Diese waren als gerahmte Objekte in Kirchen zu finden, in sogenannten illuminierten Handschriften und später in gedruckten Büchern. Zwar gab es bereits auch Erzählungen, die das einzelne Bild in einer Aneinanderreihung von Bildern zu Sequenzen subordinierten, entscheidend aber war die Versenkung ins Bild selbst: die meditatio. Sie sollte die Wendung der rational gesteuerten Psyche auf transzendental-moralisierende Absichten erreichen. Mit dem Ziel eines Exerzitiums von Leib und Seele ging es bei diesen Vorläufern des Kino-Erlebnisses um „eine Bildbewegung, bei der der Betrachtende zwischen Imagination und Wahrnehmung, zwischen innerem Bild und äußerem Bild, die ihm als bewegte eins werden, nicht mehr unterscheiden kann“ (Berns 2000, S. 27). Solches Verlieren und SichWiederfinden in Bildern ist bis heute entscheidend für die Wirkung von Filmen im Kino geblieben. Der Schriftsteller John Berger hat das sensuelle Primärerleben in einem eigens geschaffenen Seh-Raum mit dem Besuch eines Himmels auf Erden umschrieben: Im Kino scheine sich jedes Ereignis zum ersten Mal zu ereignen und sei im nächsten Moment bereits wieder Vergangenheit. Als Besucher müsse man sich nicht nur nach dem Film, sondern bereits von jedem einzelnen Bild in dem Moment verabschieden, in dem es von der Leinwand verschwinde (vgl. Berger 1991; Meder 2021). Umso stärker wirkt es, im Fall des gut gestalteten, gelungenen Bildes, als visueller Eindruck nach, analog zum menschlichen Gedächtnis, das ebenfalls weniger in rational einsehbaren Erzählungen als vielmehr in Bildern unbestimmter Art funktioniert, nicht zuletzt auch in verfälschenden Deckerinnerungen (vgl. Pöppel 2006, S. 47). Nimmt sich der Film als Bild-Kunst ernst, kann er sich daher nicht damit begnügen, nur Instrument von Erzählungen zu sein, die in Story und Plot fundiert sind. Vielmehr obliegt es den Macher*innen, prägnante Seh-Eindrücke im Rahmen der zeitlichen Gesamtkomposition vorzuhalten, die außerhalb der Erzählung wirksam werden. Der bildtheoretischen Analyse kommt dann zu, das Verhältnis der visuellen Ebene zum Text (den Dialogen und der Plotentwicklung) eines Films zu definieren. Manche Filmbilder illustrieren das gesprochene Wort oder die Story, andere koppeln sich hier ab. Sie umspielen erzähltes Geschehen, gestalten es nicht nur mit, sondern gestalten es auf ihre Weise auch neu. Michelangelo Antonioni gilt als Meister eines Kinos, das mit seinen visuellen Möglichkeiten wirkt und nachwirkt. Seine Bilder benötigen dafür nicht nur die oben genannte Kinoprojektion (eine räumliche Vergrößerung), um ihre Details zu offenbaren, sondern gewinnen auch durch eine Dehnung der Einstellungslängen (eine Vergrößerung in der Zeit), um ihre visuelle Wirkung zu entfalten. Formal weist Blow Up 695 Einstellungen auf. Bei einer Lauflänge des Films von knapp 107 min und einer Projektionsrate von 24 Bildern/Sek. bedeutet

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das eine ASL (average shot length), eine durchschnittliche Verweildauer des einzelnen Shots, von etwas mehr als neun Sekunden. Das ist sehr lang für einen Spielfilm, jedoch kürzer als die ASL anderer Antonioni-Filme, die Plansequenzen von mehr als 300 s Dauer aufweisen. Hier ragen Cronaca di un Amore (1950) und Le Amiche (1955) heraus (→ Kap. 6.2 Theorien der empirischen, quantitativen Analyse). Im klassischen Kino gibt es konventionalisierte Entsprechungen zwischen der Dauer einer Einstellung und deren Größe, wobei weite Einstellungen meist länger stehen bleiben als nahe (vgl. Rothschild 2006). Starre Regeln gibt es (außerhalb Hollywoods) freilich kaum. In Antonionis Autorenkino werden die ‚Grammatiken‘ des Films bis an den Rand gedehnt, was der Versenkung in das Bild entgegenkommt, weil es den Zuschauenden Zeit für die Entwicklung eigener Imaginationen während der Projektion schenkt. Die körperliche Erfahrung des Bildes Die Menschheit nimmt die Außenwelt heute so stark wie nie zuvor über technische Bilder wahr. Dabei bleibt aber der Beitrag der Betrachtenden entscheidend. Kino ist nicht ohne sein Publikum zu denken. Es kommt dem Kunsthistoriker Hans Belting zu, nachhaltig auf die Körpergebundenheit der bildlichen Wahrnehmung hingewiesen zu haben: „Der Körper stößt immer wieder auf die gleichen Erfahrungen wie Zeit, Raum und Tod, die wir schon a priori in Bilder fassen“ (2001, S. 9). Wesentlich ist die Rückübersetzung des Bildes von Körpern in Erfahrung, genauso wichtig aber die Voraussetzung des Körpers für diese Erfahrung. Im Kino sehen, hören, fühlen, fiebern wir ganzheitlich mit. „Das filmische Bild ist der beste Beweis für die anthropologische Fundierung der Bilderfrage, denn es entsteht weder auf der Leinwand noch im ‚filmischen Raum’ des Off, sondern im Betrachter durch Assoziation und Erinnerung“ (ebd., 2001, S. 31). Die Zuschauenden sind dieser Auffassung nach nicht mehr passiv Empfangende einer Aussage, sondern selbst Medien, die sich durch die Einbindung in eine bilateral geführte Kommunikation konstituieren. Echte Kunst lege es andererseits, so Régis Debray, nicht auf Kommunikation an, sondern darauf, Gegenstand von Kommunikation zu werden (vgl. 2013, S. 32). Zur filmtheoretischen Methode wird dies in der Phänomenologie des bildlichen Erlebens, das durch den Körper eines Rezipierenden, die persönliche Bindung an den Gegenstand und zugleich eine reflexiv-kognitive Distanz konstituiert wird, bei Maurice Merleau-Ponty skizziert und durch Vivian Sobchack nuanciert entworfen. Diese Methode hat eine Entsprechung in phänomenologischen sowie strukturanalytischen Zweigen der Kunstwissenschaft, wie sie in grundsätzlichen Schriften etwa von Otto Pächt (1977), dem frühen Hans Sedlmayr (1931), den Werkanalysen eines Wilhelm Messerer (1992) und dann einer Persönlichkeit wie Max Imdahl (1996) und seinem erlebenden Nachfühlen selbst gegenstandsloser Bilder aufzusuchen wäre. Gemeinsam ist diesen Autoren eine Nähe zu ihrem Gegenstand, der in allen Facetten und Details gesehen und beschrieben wird und dabei stets nach Messerer „vom Anschaulichen“ (1992) – den Formen, Farben, Linien und Bildebenen – und nicht vom Inhalt oder „Text“

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des Bildes ausgeht. Ziel solcher Annäherungen ist es, von einer dritten Seite steuernd in jenen Dialog einzugreifen, der zwischen sich darbietenden Formen von Artefakten und empfangsbereiten Betrachtern artikuliert. Wesentlich dabei sind das ästhetische Material und der sinnliche Überschuss des Kunstwerks; dialogisch stets subjektiv erlebt, kann er in der Beschreibung allein der Formen intersubjektiv dingfest gemacht und bestimmt werden. So sichert er nicht zuletzt auch die Fortschreibung einer Wissenschaft, die Neuauflagen von ästhetischen Befunden klassifizierend und datierend zueinander in Beziehung setzt und in das System einer autonomen Geschichte der Kunst einbringt. Das Anhalten des Filmbildes: Schlüsselbilder und vertikale Motivketten  Doch wie lässt sich ein filmisches Bild derart nuanciert erfassen, wie es die Phänomenologie verlangt? Schließlich ist es nicht so materiell fest gefügt, weder als Zelluloidstreifen noch als digitalisierte Bildinformation, wie sein genus proximum: das traditionell fixierte Bild. Beide Bildarten stehen sich in einem Spannungsfeld gegenüber, das durch Analogien wie Differenzen zu kennzeichnen ist. Indem man einen Film zum Zweck der Analyse anhält, produziert man ein vordem unbekanntes, zuerst unnatürliches Bild: Ihm fehlt phänomenologisch die Bewegung, die sich erst in Erinnerung an den Film wiedereinstellt. Dennoch ist das Standbild ein unabdingbar wichtiges Hilfsmittel für die Analyse von Filmen: Denn sichtbar im Sinne einer operationalisierbaren Diskursivität wird etwas wohl erst mit dem Anhalten des Films, mit der Kreation eines neuen (statischen) Bildes. Ein so gewonnener Screenshot kann zum einen als Referenzpunkt für die GesamtKomposition genommen und somit als Schlüsselbild verstanden werden (Abb. 17). Es lassen sich weiter verschiedenste Lesarten mit einem solchen Schlüsselbild verbinden (vgl. Meder 2000). So können sich methodisch von einem Bild aus vertikale Motivketten aufbauen, um Muster und Zusammenhänge aufzudecken. Als „Zeitsprung-Analysen“ wurden sie prototypisch in den Atlanten des Kulturwissenschaftlers Aby Warburg vorgebildet (vgl. Pauleit 2009, S. 45 ff.). Das hybride Bild des Screenshots erweist für das filmische Bild darüber hinaus Grundlegendes: Wie ein Gemälde oder Foto ist auch dieses Bild ontologisch durch einen Rahmen definiert, mit den beiden Komponenten einer definierten Binnenfläche und einem Off. Dass Bewegung und Veränderung als eigentliche Charakteristika des Filmbildes ausgelöscht werden, ist eine „ikonische Differenz“ (vgl. Boehm 1994, S. 170 ff.), für die sich Antonioni in Blow Up besonders zu interessieren scheint. Angehaltene und vergrößerte Fotogramme bilden den Kern des Bilderrätsels von Blow Up. Sie halten das Geschehen im Park an und lassen im Moment der Entwicklung und Neubetrachtung in Thomas‘ Atelier einen subjektiv perspektivierten Fotofilm entstehen, der eine, doch nicht unbedingt die letztgültige Variante des Geschehens im Park wiedergibt (Abb. 18, vgl. Scheid 2005, S. 43–46).

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Abb. 17    Schlüsselbilder sind thematisch-ästhetische Verdichtungen, die einen ganzen Film repräsentieren können und somit oft für Filmplakate oder Pressemappen genutzt werden. Mit dem Nebeneinanderstellen von filminternen und/oder filmexternen Bildern lassen sich vertikale Motivketten aufbauen und Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Bedeutungen freilegen. In dem Spielfilm Blow Up finden wir einmal (a) die Performance des Models für den Fotografen als Simulation von Emotionen und später (b) die Performance des Fotografen auf der Jagd nach authentischen Emotionen im Park. In dem Dokumentarfilm War Photographer erleben wir den Kriegsfotografen James Nachtwey mit der Kamera inmitten des realen Kriegsgeschehen – hier wird jedes Bild zur moralischen Frage auch für die Zuschauenden (c). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.); Filmplakat zu War Photographer (CHE 2001, © Kool Filmdistribution)

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Abb. 18   Finde den Fehler! Neben der ikonischen Differenz zwischen Filmbild (a) und Fotografie (b) gibt es auch mysteriöse Unterschiede im Dargestellten: Jane hält in der Fotografie den anderen Arm des Geliebten. Welches Medium lügt hier: Film oder Fotografie? Diese Differenz wird nur sichtbar, wenn man das Filmbild einfriert und stark vergrößert – der Moment währt eine Sekunde, dann greift bereits der Schnitt. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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Cinematic TurnScreenshots waren die Antriebsfeder im Prozess jenes cinematic turn, der die Sphäre des traditionellen Bildes im 20. Jahrhundert erreichte: in der Bewegung festgehaltene, eingefrorene Bilder, die auf ihre Herkunft, auf die Vorstellung der sequentiellen, zeitbasierten Matrix des Films schließen lassen. Momentaufnahmen in Gestalt der frühen Serienfotografien von Étienne-Jules Marey und Eadweard Muybridge hatten Aufschluss über den tatsächlichen Ablauf von Bewegung erbracht. Von der bildenden Kunst wurde derart fixierte Erkenntnis zum Ausgang neuer Bildgestalten genommen. In besonderem Maß gilt das auch noch für die frühe Pop-Art in London; in der legendären Ausstellung This is tomorrow (1956) in der Whitechapel Gallery ist die Hinwendung zum filmisch induzierten Bild zu erkennen (vgl. Crow 2014, S. 313 ff.), eine Wendung, die in der Postmoderne dominant wird (vgl. Pauleit 2004). Doch schon Exponenten des Pop wie Peter Blake, Richard Hamilton oder Eduardo Paolozzi verwendeten Screenshots, um eine dem Film angenäherte, dissoziative Motivik im Bild zu entwickeln (Abb. 19). Umgekehrt sieht man manchen Filmeinstellungen an, dass sie bereits für die werbliche Weiterverwendung eingerichtet wurden. Aus Blow Up kann man die michelangeske „Erschaffung“ des Paares Thomas und Jane als Beispiel nehmen (Abb. 4).

Filmbilder jenseits des Films Periphere Bilder sind nicht Teil des Films, sondern existieren um den Film herum (vergleichbar den Paratexten eines literarischen Werks); sich auf ihn beziehend, machen sie ihn bild-epistemisch verständlicher. Dabei erweisen sie sich oftmals als Doppelgänger von filminternen Bildern, jedoch mit leichten Abweichungen. Es sind Differenzen, die erst bei genauer Betrachtung auffallen – ein Phänomen, das durchaus mit den Augentäuschungen in Blow Up korrespondiert

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Abb. 19   (a) Die Malerei reagiert auf die Filmkunst: In Interior II (1964) zeigt Richard Hamilton einen fragmentierten Raum, wie er sich im Kino – durch das Kino – einstellt, und er integriert das Filmstill Patricia Knights aus Shockproof (Unerschütterliche Liebe, USA 1949). (b) Der Film reagiert auf die Malerei und konzipiert seine Bilder wie Gemälde: An die Erschaffung des Menschen von Michelangelo  Buonarroti erinnert dieser Moment in Blow Up. Nur wer erschafft hier wen? Die Frau steht dem Narzissten wie sein Spiegelbild gegenüber. Quelle: Tate, © The Estate of Richard Hamilton; Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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Abb. 20   Das Matrjoschka-Prinzip von Blow Up: Das paratextuelle Bild des Fotografen Peter Theobald (a) fixiert den Set-Fotografen Arthur Evans, der wiederum den fiktionalen Fotografen in einer Perspektive einfängt, die im Film nicht enthalten ist. Im Film (b) klettert der Protagonist mit dem linken Bein über den Zaun. Quelle: Sight & Sound Magazin (Sommerausgabe 1966, © Peter Theobald/BFI); Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

(siehe Abb. 20). Drei Formen des peripheren Bildes seien im Folgenden mit Blick auf Antonionis Film vorgestellt. 1. Die Set-Fotografie (Set photography) ist eine gebräuchliche Variante des klassischen Bildes im Kontext des Kinos. Ihrer Funktion entspricht heute das Making-of: Der Prozess der Herstellung wird gezeigt und für Interessierte aufbereitet. Solche Paratexte des Kinos gibt es für Eingeweihte, Fans, dann auch für Filmhistoriker. Im guten Fall sieht man Kameras, Lampen, Grips und Props, die Interaktion von Kameramann und Regisseur und manchmal dessen Arbeit mit Akteuren. Die Bilder erscheinen in Fanzines und filmhistorischen Büchern. Production stills von ‚heroischen‘ Sets sind Sammlerstücke. Dokumente der Nachkriegstrilogie Roberto Rossellinis, die ich vor Jahren in Italien aufspürte, gelangten in deutsche, italienische, englische, amerikanische Bücher und fanden Aufnahme in Scorseses Hommage Il mio Viaggio in Italia (1999); bis dato hatte man nur eine Handvoll fotografischer Bezeugungen dieser legendären Filme gekannt. Der erste Akt von Blow up kann auch als Reflexion darüber gedeutet werden, wie derart bezeugendes Sehen mit der Performance derer zusammen geht, die vor einem Fotoapparat agieren.

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2. Das Still: Klassische Stills sind in gleichem Maß Abkömmlinge des malerischen Porträts wie des filmischen Close-up. Im klassischen amerikanischen Filmbetrieb gibt es den Unit Still Photographer (deutsch: Standfotograf), der, mit eigener Fotokamera ausgestattet, zwischen oder nach den Film-Aufnahmen Porträts der Darsteller anfertigt, die dann zu Werbezwecken verteilt werden. Hollywood und vergleichbare Studiosysteme trieben dieses Format in Größe und Anspruch lange voran und arbeiteten dabei vor allem mit ausgeklügeltem Licht (vgl. Betz et al. 2014). Der Fotograf setzt dabei auf die alte Tradition des gemalten, später des fotografierten Porträts: das Bild einer Person von der Brust an aufwärts, in einem undefinierten Raum, mit stillstehender Zeit, ohne Handlungsreservoir, sozusagen: ein Jetzt für die Ewigkeit. Zwei Beispiele zeigen, wie dünn die Schutzschicht hier werden konnte. In diesen Fällen hat sich die sprichwörtliche ewige Schönheit im Bild im realen Leben der Protagonisten in Tragik verwandelt (Abb. 21). 3. Das Filmplakat: Zu Blow Up existiert eine unüberschaubare Zahl von Variationen und Entwicklungen des Motivs, das ein Hauptthema bereits in der zeitgenössischen Bewerbung des Films war: die Fotosession mit dem Modell Veruschka (Veruschka von Lehndorff) in der ersten Viertelstunde des Films. Nimmt man allein die Unterschiede zwischen einer fotografisch basierten Gestaltung eines Screenshots als Plakat sowie einer im Anschluss daran entwickelten, gemalten Variante in den Blick, offenbaren sich erhebliche Differenzen, die in der gewählten Technik nur ihren Ausgang haben (Abb. 22).

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Abb. 21   Klassische Stills heben den Star als Idealbild aus der Wirklichkeit heraus – in Fotografien, die wiederum die konkrete Filmszene transzendieren. Montgomery Clift (a), Quelle: Dr. Macro) kam als Schauspieler nicht mehr auf die Beine, nachdem ein Autounfall seine ebenmäßige Erscheinung zerstört hatte. Marlene Dietrichs (b), (© Thierry de Navacelle) Fazit: „Man hat mich zu Tode fotografiert“

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Abb. 22   Plakate für Blow Up: ein bearbeitetes Foto (a), die gemalte Variante (b). Vor allem das Modell unterscheidet sich: Das Gesicht ist anonymisiert, die Frau greift sich sinnlich in die Haare; einiger Stoff ist weggelassen, die Kehle des Rückens betont. Insgesamt wirkt die erotische Geste im gemalten Plakat forciert. (© MGM u. a.). Quelle: CineMaterial; Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

Das filmische Bewegtbild und seine Beschreibung Im Gegensatz zum Standbild, das aus dem Film gewonnen (Screenshot) oder abseits des Films geschaffen (Set-Photography, Still, Filmplakat) wird, ist das filmische Bild ein fluides, zeitlich limitiertes und vorüberziehendes: ein ephemeres Bild. Dem muss jeder noch so nichthermeneutische Denker Tribut zollen. Das gilt auch für Bruce Block, ein visual consultant und Hochschuldozent in Los Angeles, der sich auf Sergej Eisenstein und Slavko Vorkapich beruft. Er hat einen ernstzunehmenden Versuch vorgelegt, das Filmbild in seiner Fluidität zu beschreiben. Genuines Prinzip ist dabei die Aufstellung von sechs apriorischen Kategorien, visuelle Komponenten genannt, mit denen jeder Film (TV-Clip, Computerspiel) zu charakterisieren sei. Im Einzelnen sind das space, line, tone, color, movement, rhythm. Blickt man von hier aus auf Blow Up, ist beispielsweise die spezifische Visualität des Foto-Shootings mit den fünf Models mit Blocks ersten drei Kategorien anschaulich zu machen: die Abflachung des Tiefenraums (space), das graphische Herausarbeiten der Mode (line), die pastellene Tonalität (tone) (Abb. 23). Dazu dienen Block sehr einfach gehaltene Schaubilder, die auf die Übersetzungsmechanismen des menschlichen Gehirns eingehen, sobald sich ihm Gegenstände via Bild oder Screen präsentieren. Die Triftigkeit

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Abb. 23   Raum, Linie und Tonalität: Relativ flach ist der Bildraum; die Diagonalen betonen die Zentralperspektive (und somit die Dominanz der Blickachse des Fotografen); die Vertikalen bestimmen über die Frauen (Kostüme, Folien, Haltung, Positionen) und staffeln sie zur Mitte hin; die Pastellfarben verleihen ihnen Kraftlosigkeit und konterkarieren die Extravaganz der Kleider und Frisuren. So erscheinen sie wie Puppen in Gehäusen. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

von Blocks drei letzten Parametern lässt sich an Thomas' erster Fahrt zum Maryon Park illustrieren. Fünf Einstellungen bilden den Auftakt zur Verwirrnis stiftenden Kernepisode des Films: ein Zoom, professionell unsouverän, der vom Hintersitz aus sowohl Thomas als auch einen vor ihm fahrenden Lieferwagen ‚überholt‘; drei Porträtaufnahmen von Thomas im fahrenden Wagen und ein auslaufender, ruhigerer Shot (rhythm). Um die farblichen Effekte im Hintergrund zu erzielen – die roten Brick-Buildings, die blaue Häuserecke (color) – ließ Antonioni bekanntlich Londoner Fassaden und Straßen eigens anstreichen (vgl. Garner 2014, S. 177). Dazu setzt er in der kurzen Sequenz maximale Bewegung ein (movement): Laut Block sind das Objektbewegungen – die Hintergründe; Kamerabewegungen – der ‚unnatürliche‘ Zoom; und der Punkt, auf den das Publikum im Ganzen aufmerksam gemacht werden soll – die Hektik des Moments (vgl. 2007, S. 172). Am Ende steht die Frage, wie derartige Feinbeobachtungen, die mit einzelnen Einstellungen verknüpft sind, auf die Gesamtheit eines Filmes übertragen werden können. Hier bindet Block die zeitliche Achse des Films an Fragen nach unterschiedlich intensiv ausgespielten visuellen Atmosphären und löst das Ganze in einfache Graphen auf. Solchen Versuchen ist gemeinsam, die Bildfrage nicht mehr nach einzelnen Motiven zu lösen, sprich: durch einen ikonographischen oder ikonologischen Vorschlag, sondern, im Geiste eines Konrad Fiedler, in der Äquivalenz der Gesamt-Form, der Komposition, gegenüber der Narration. Film ‚kommuniziert‘ auf seine Weise mit den Zuschauenden; nach einer neueren Formulierung: „Die Augen der aus sich heraus blickenden Werke sind ihre Formen“ (Bredekamp 2010, S. 249). Wir haben die Visualität von Blow Up in einer etwas komplexeren Graphik zusammengefasst (Abb. 24). Sieht man von hier aus nochmals auf die Historie und Praxis bisheriger Filmwissenschaft, hat sich der erwähnte

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Abb. 24   Das Omega des ultimativen Films zur Fotografie. Eine Verlaufsgrafik von Blow Up legt die Komposition des Films frei, die sich als Omega-Form entpuppt. Der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets verweist darauf, dass sich dieser Film einem Schlusspunkt annähert: der Grenze der Fotografie, an der sie in die Abstraktion oder ins semantische Nichts übergeht und somit zu ihrem Ende kommt. (© Meder/Callenberg)

cinematic turn, der die Welt der Bilder seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beeinflusst hat, heuristisch vor allem in einem still-turn niedergeschlagen. Um dem Filmbild in seiner Bewegung gerecht zu werden, braucht es neue Erklär-Verfahren und -Techniken, „filmerklärende Filme“ und Videoessays mit zeitbasierten Grafiken etwa, könnten in Zukunft Abhilfe schaffen.

2.2 Ikonographie Wendet sich die Analyse nicht den formalen Merkmalen zu, sondern dem Gegenstand des Bildes und somit der Interpretation seiner Bedeutung, so kommen die Methoden der Ikonographie und Ikonologie zum Einsatz. Die Methoden von Ikonographie und Ikono-

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logie sind in der Kunstwissenschaft mit dem Namen Erwin Panofsky verbunden, der selbst eine bündige Definition seiner Setzungen lieferte: „Die Ikonographie ist der Zweig der Kunstgeschichte, der sich mit dem Sujet (Bildgegenstand) oder der Bedeutung von Kunstwerken im Gegensatz zu ihrer Form beschäftigt“ (Panofsky, zit. nach Kaemmerling 1979, S. 207). Denn die Fülle an Symbolen, Attributen und allegorischen Gestaltungsmöglichkeiten bildet ein komplexes Netzwerk an Bezügen und Bedeutungsebenen, die entschlüsselt und eingeordnet werden möchten. Panofsky errichtet modellhaft einen dreistufigen Interpretationsprozess, der aus a) Identifizieren und Beschreiben, b) Bestimmen eines disguised symbolism, dem eigentlichen ikonographischen Akt, sowie c) der Bestimmung des weltanschaulichen Gehaltes des interpretierten Gegenstandes besteht. Der letzte Schritt signalisiert den Übergang zur Ikonologie (vgl. Panofsky in Kaemmerling 1979, S. 223). So entstand als Modell der Interpretation jedweden Kunstwerks die wohl folgenreichste kunstwissenschaftliche Methodik überhaupt. Panofsky hat sich, in etwas weniger rigider Form, auch zum Film geäußert. Sein Aufsatz ist für motivische bis weltanschauliche Analysen von Filmen nach wie vor konsultierenswert und beantwortet auch durchaus aktuelle Fragestellungen (vgl. Meder und Ritzer 2015). Gebrauchsgegenstände im Filmbild  Als Beispiel aus Blow Up mag für die Methode ein Objekt einstehen, das sich selten im Fokus von Interpretationen befand, obwohl es den Fotografen im obersten Bereich der kreativen Bohème Londons ansiedelt: der Rolls Royce-Convertible, ein wegen der charakteristischen Doppel-Scheinwerfer auch Chinese Eye bezeichnetes Modell des Silver Cloud III (Abb. 25a). Wie alle Modelle der Nobelmarke weist es auf erlesene britische Ingenieurskunst hin. Erwin Panofsky hat den Kühlergrill des Rolls Royce im Sinn von Nikolaus Pevsner als Chiffre für die „Englishness of English Art“ gelesen (Panofsky 1993, S. 55 ff.). Was Blow Up nicht eröffnet, ist die Perspektive auf einen an jener Karosse durchaus aufzuhängenden class struggle: Thomas führt sie aus der farb- und trostlosen Welt des Obdachlosenasyls heraus, sie eröffnet im Folgenden immer wieder Blicke auf das bunte, materiell saturierte Berufsfeld des Fotografen, der mit dem Wagen ruhelos durch London manövriert. So füllt sich jener Spirit of Ecstasy mit neuem Sinn, den die Kühlerfigur des Rolls Royce, die Emily oder Silver Lady, als eigentlichen Namen trug. Das kleine Objekt war von Anfang an plastisches Emblem für ein Automobil, das ebenfalls als vollendetes Kunstwerk erachtet wurde (vgl. Bredekamp 2010, S. 162). Der Exzess, in britischen Filmen der 1960er Jahre sonst verbreitet, fügt sich mit diesem Sinnbild ein als Darniederhalten einander widerstrebender Energien. Die divergenten Impulse der Moderne sind hier noch einmal gebändigt; nur künstlerisch überragende Objekte der jeweiligen Zeit, seien es Automobile, Bilder oder Filme, finden sich derart klar in Form gegossen. Indem ein Film angehalten wird, kann ein Objekt als Bild isoliert werden, um eine ikonographische Tiefenbohrung anzubringen, die wiederum ein über den Film hinausreichendes semantisches Feld eröffnet. Der Ausstatter des Films, Assheton Gorton, füllte insbesondere das Atelier des Fotografen mit verschiedensten physischen Objekten. Zu sehen sind farbige Folien, Fächer und Federwedel, die monochrome Büste einer Frau,

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Abb. 25   Bestimmung symbolischer Bedeutungen: Rolls Royce (a) und Propeller (b) sind Zeichen für Modernität, Mobilität und Design. Der Rausch der Bewegung korrespondiert mit dem unsteten Charakter des Fotografen, der im Design dieser Fortbewegungsmittel vollendete Formen erkennt. Im Atelier wird der Propeller zur Kunst und konkurriert so als Gebrauchsgegenstand mit dem klassischen Kunstverständnis der Gemälde. Zugleich sind die Objekte Zeichen für soziale Abgrenzung: Ob der Fotograf als Bohemien das mit dem Rolls Royce verbundene National- und Klassenbewusstsein teilt oder nicht;:er hat die Mittel, solche Prestigeobjekte zu erwerben. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

ein knock-down-chair, der am Royal College of Art entwickelt worden war (Rayner et al. 2012, S. 114 f.), und vieles andere, das am Drehort, dem Atelier des Fotografen John Cowan, bereits vorhanden war. Dazu fügt sich Thomas' aktuelle Erwerbung, jener hölzerne Propeller eines Kleinflugzeugs, dessen Anlieferung den Vollzug des Liebesaktes mit ‚Jane‘ abbricht (siehe Abb. 25b). Als der Story sich verweigerndes Objekt eröffnete der Propeller Raum für Spekulationen. Als Requisit eines an organischen Formen interessierten Fotografen scheint es keine ganz abseitige Wahl, Antonioni hatte es in einem entsprechenden Ambiente aufgestöbert (vgl. Garner 2010, S. 110). Zudem birgt es eine historische Reverenz an die klassische Moderne der Kunst. Marcel Duchamp soll im Angesicht eines ähnlichen Propellers, den er beim Besuch des Pariser Luftfahrt-Salons 1912 sah, geäußert haben, dies bedeute das Ende der Malerei: Gäbe es Vollendeteres als solch ein praktisches Objekt? Bernhard Kock, der diese Entdeckung machte, spricht vom „ausgewiesenen Camp-Bewusstsein“ des Fotografen Thomas, der seine Sammelleidenschaft mit Andy Warhol teile (1994, S. 309). Gemälde in Blow Up: Der Diskurs des Films über die Malerei Der Fotograf hat den Trödelladen am Maryon Park betreten. Dort äußert er einen Wunsch: Er suche eine (gemalte) Landschaft. So etwas habe er nicht, antwortet der Verkäufer. Thomas stöbert ein entsprechendes Gemälde auf. Darauf der Verkäufer: Das sei bereits verkauft. Aus dem harmlosen Dialog wird in der anschließenden Sequenz von Blow Up Ernst. In der echten Landschaft des Parks beginnen die Augen-Täuschungen. Was Malerei betrifft, so hängen in Thomas' Atelier eine Reihe zeitgenössischer Bilder; in der angrenzenden Wohnung, die er mit dem Maler Bill und dessen Freundin Patricia (Sarah Miles) teilt, sind neben der komplizierten Dreierkonstellation so signifikante Blickwechsel mit Gemälden zu verzeichnen wie Wortwechsel, die Bills und Thomas‘ ästhetisches Credo

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beleuchten. Antonionis Ausführender Produzent, der Kunstkritiker Pierre Rouve, führte den Regisseur in die Chelsea Art School ein. Hier erhielt er Anregungen, die sich in Blow Up in einer nicht sehr versteckten Anthologie der britischen Malerei der Nachmoderne unmittelbar vor Ausbruch des Pop manifestiert. „What was exceptional, during the planning and production of this major commercial film, was the director’s incorporation of certain practices and sensibilities of particular painters, photographers and art directors working in London at this point“, schreibt David Mellor, der diese Einflüsse penibel rekonstruiert hat (2010, S. 124 ff.). Größten Einfluss auf den Produktionsprozess hatte der Maler Ian Stephenson (1934– 2000). Der Darsteller des Bill im Film, Arthur Evans, darf in seiner Ähnlichkeit zu dem echten Maler erstmals bei Antonioni als einem lebenden Menschen nachgebildet gelten. Das chronologisch früheste Bild Stephensons, das in Bills Atelier prominent sichtbar wird, ist Still Life Abstraction D 1 (1957) (Abb. 26). Figürlich zeigt es einen Restbestand der prismatisch gebrochenen Formen des Kubismus, arbeitet aber vor allem mit dem Akt des Wahrnehmens: Das betrachtende Auge muss sich suchend von Facette zu Facette tasten, ohne beim Halt einer gänzlich definierten Gestalt anzukommen. Der Kubismus gilt als die erste Epoche der Kunstgeschichte, die unmittelbar auf die sukzessiven Eindrücke der Serienfotografie sowie des Films reagierte. Das Auge wurde „variabel“, der Blick „mobil“ (Aumont 1997, S. 231). Wenn Malerei reflexiv auf den Modus des konsekutiven Blickens auf ein Abb. 26   Ian Stephenson, Still-Life Abstraction D I, 1957: Ein Rekurs des Films Blow up auf den klassischen Kubismus und sein Zerschneiden der Wahrnehmung.   Quelle: Moser, Walter (Hrsg). 2014. Blow Up – Antonionis Filmklassiker und die Fotografie, Ostfildern: Hatje Canz, S. 216, © Ian Stephenson 

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Objekt reagieren will, muss der im Gemälde festgehaltene Eindruck die Blick-Ergebnisse in einsehbarer Weise co-chronologisch fixieren. Was sich dazu gesellt, ist die bei Stephenson immer dominanter werdende Abstraktion, sprich, die Auflösung der Formen. „[The Paintings] don’t mean anything when I do them – just a mess. Afterwards I find something to hang onto – like that – like – like … that leg. And then it sorts itself out. It adds up. It’s like finding a clue in a detective story“, beschreibt Bill gegenüber Thomas seine mehr suchende denn findende Methode. Tatsächlich beschreibt er so exakt auch das Vorgehen des Fotografen, der sich – im Park – nicht auf ein arrangiertes und überprüftes Motiv verlässt, sondern spontan und ‚aus sich heraus‘ fotografiert, im Vertrauen auf die Poesie, die ihm sein Apparat wie von selbst bescheren wird. Für die Nachkriegs-Malerei gibt Bills Statement das Vorgehen der amerikanischen Abstrakten Expressionisten wieder, die mit ihrer physisch ausgeübten, gestischen Malerei nicht nur ihr Innerstes nach außen kehren, sondern selbst zur schöpferischen Natur werden wollten. Die Subjektbehauptung des aus sich heraus schaffenden Künstlers lässt den Maler von Blow Up hieran anschließen. Wenn Patricia an einer Schlüsselstelle angesichts eines blow ups aus dem Fotoatelier ihre vielzitierte Einsicht „looks like one of Bill’s paintings“ formuliert, dann steht die Malerei nicht mehr für sich, sondern hat den archimedischen Punkt der Berührung mit den technischen Medien überschritten (vgl. Abb. 27). Das spiegelt sich in der faktischen Herstellung einer ganzen Reihe im Film prominent zu sehender Gemälde, für die wiederum Ian Stephenson verantwortlich war. Ihm wurden Vergrößerungen der Fotos aus dem Park im Maß von 20 × 24 inches (ca. 50 × 61  cm) mit dem Auftrag übergeben, daraus in kurzer Zeit entsprechend Gemälde mit charakteristischen dots (Bildpunkten) zu entwickeln. Die Produktionsgesellschaft übernahm die noch unfertigen Bilder Anfang Juli (1966), um sie mit Bill zu drehen, und stellte für zwei Tage den verantwortlichen Maler ein, der sein Alter Ego im Filmstudio beriet (vgl. Mellor 2010, S. 129). Entscheidend ist die Aufgabe der autonomen Stellung

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Abb. 27   Dripping (Abtropfen) von Farbe auf einer Leinwand als künstlerischer Ausdruck, eine Methode des Abstrakten Expressionismus (a). Fotochemische Vergröberung der Körnung bis zur Unkenntlichkeit über das Abfotografieren und Vergrößern eines analogen Fotos (b). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.) 

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Abb. 28   Rahmung und innere Rahmung in Blow Up. Das postklassische Gemälde selbst bildet keine Perspektive mehr aus. An der Wand: Alan Davie, Joy Stick Stick Joy, 1966. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

der Bildenden Kunst gegenüber den technischen Medien. Einerseits zollt Antonioni in Thomas' Atelier der neo-expressiven, teils noch figürlichen Malerei von Alan Davie Tribut (Abb. 28); größeres Interesse hat er aber offensichtlich an medienkonvergenten Formen. In diesem Zusammenhang besonders auffallend ist eine quadratische Tafel von Peter Sedgley (geb. 1930) über dem Sofa im Atelier des Fotografen. Der Print aus der Serie Cycle II zeigt einen hellen Farbkreis mit diffus verlaufenden, farbigen Rändern, die von monochromem Schwarz umfasst sind (Abb. 29). Peter Sedgley und seine Partnerin Bridget Riley gelten als Pioniere der kinetischen Kunst in England. Ausgehend von physiologischen Experimenten entwickelten sie Bilder, die sich weniger am Pigment interessiert zeigen als an durch optische Phänomene induzierter ‚Bewegung‘. Im Anschluss an den Behaviorismus hat die Wahrnehmungspsychologie zahlreiche derartige Gestalten versammelt, die einfachste Täuschungsmöglichkeiten des Auges demonstrieren (vgl. Nänni 2011). In der Bildenden Kunst ist das Pendant die Op-Art, die mit Hilfe abstrakt-geometrischer Figuren entsprechende optische Effekte auslöst, bis zu Flimmereffekten und Täuschungen. Wie um sich der

Abb. 29   Ein production still: An der Wand rechts hängt Peter Sedgleys Print aus der Serie Cycle II, hinter dem Modell Veruschka eine Fotografie von John Cowan. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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Konkretion des materiellen Bildes ein letztes Mal zu versichern, nähert sich ihm der Fotograf in Blow Up an, just bevor er die Vergrößerungen aus dem Park zu produzieren beginnt. Er nähert sich an, streicht mit dem Finger die Kurvatur des Kreises nach – und berührt das Bild nicht. Damit versteht er es bereits ‚medial‘. Sedgleys Werk wäre aber nur ein weiterer Ausweis für Antonionis Kennerschaft der zeitgenössischen Kunst, gäbe es nicht auch inhaltliche Lesarten von Blow Up, die das Gemälde zum ‚Dietrich‘ eines erweiterten Verständnisses des Films machten. Zum einen erscheint es „targetlike“ (Mellor 2010, S. 130); targets (Zielscheiben) waren eine Neuerung im Design der Pop-Art-Mode und wurden als badges oder auf Kleidungsstücken aufgedruckt getragen (Rayner et. al. 2012, S. 84 f.). Eine weitere Assoziation wäre die farbige Inversion einer sich drehenden Schallplatte, eine picture disk. 1966 gilt als das Jahr, in dem Alben die Beliebtheit der Single ablösten (vgl. Savage 2015, S. 84, 475). Der Jugend hält Antonioni in der Yardbirds-Episode von Blow Up anhand ihres Umgangs mit Musik einen reflektierenden Spiegel vor. Doch meine Lesart favorisiert eine dritte Interpretation des infrage stehenden Bildes. Eine Paraphrase für den Sinn, den der Fotograf in den blow ups von Blow Up sucht und doch, so sehr er sich auch bemüht, von der Realität nicht mehr bestätigt bekommt, findet sich in der Literatur: Als alternativer Titel wäre für den gesamten Film Ein Nichts mit Präzision ebenso zutreffend wie für das Bild Sedgleys.

2.3 Bildanalyse und Stiltheorie Antonionis visuelle Prägung  Es ist dem Modell der Kunstlandschaft geschuldet, einen Künstler in die Gegend einzubetten, in der er groß geworden ist, die ihn kulturell und visuell von klein auf geprägt hat. Die Visualität beispielsweise der Filme von Edgar Reitz wäre danach mit der historisch kargen Kulturgeschichte und -landschaft seiner ursprünglichen Heimat Hunsrück zu ‚kontextualisieren‘. Michelangelo Antonioni stammte aus Ferrara, einer jener Mittelstädte der erfolgreichsten Region Italiens, die sich vom Piemont im Nordwesten in einem breiten Korridor bis ins Podelta zieht. Viele dieser Städte haben historisches Flair, geschuldet alten Fürstengeschlechtern und deren innovativen Baumeistern und Hofmalern. Wenn ein Zentrum wie Venedig der Welt die größten Errungenschaften malerischer colore zu Füßen gelegt hat, bleibt für Antonionis Kunst die linea prägender, wie sie aus Florenz und kleineren, aber nicht minderen wichtigen Zentren wie dem Ferrara der Este kam. Der Hinweis auf die klassische Bild-Kunst Oberitaliens erscheint aus zwei Gründen angebracht. Antonioni zeigt als Filmemacher erstens eine grundsätzliche piktoriale Orientierung, ein malerisches Auge; es manifestiert sich von Anfang an im Erspüren der je spezifischen Visualität zum Beispiel des Ortes in einer jedem Film eigenen, metaphysischen Atmosphäre. Antonioni ist ein Meister des „visuellen Echos“ (Béla Balázs). Zum zweiten lässt sich in seiner stilistischen Entwicklung ein Muster erkennen, das analog aus der Überwindung klassischer Formulierungen gespeist ist, weg von der Klassik, hin zu einer synkretistischen maniera. Schon das Stadtbild Ferraras scheint die klassische Aus-

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gewogenheit, das perfekte Maß, die Harmonie augengerecht gebauter Proportionen herauszufordern. Alfred Andersch (1967) beschrieb in einem Essay die Formensprache der Stadt „von Ariost bis Antonioni“ als „zugleich klassisch und rätselhaft, kritisch und metaphysisch, klar und raffiniert“. Andersch spricht von Giorgio de Chirico, dem einen großen Modernisten der Stadt, dessen Kunst die „enigmatische Stimmung“, das Gefühl sich in dieser Stadt „wie in einem Rebus zu bewegen“, gut wiedergebe (Abb. 30), und von dem anderen, von Antonioni: „Man könnte aus der Palette der ferraresischen Maler des 15. und 16. Jahrhunderts und aus der Art ihres Zeichnens die Chromatik der Filme des großen, auf seine Herkunft stolzen Ferraresen Michelangelo Antonioni ableiten, der mit diesen Bildern aufgewachsen ist.“ (1967, S. 265)  Die Scuola Ferrarese, De Chirico, Antonioni – wenn man diese drei Säulen der regionalen (wie globalen) Kunstgeschichte betrachtet, lässt sich, gegen alle medienspezifischen Unterschiede, ein gemeinsames Merkmal festhalten: Alle satteln auf eine sanktionierte Klassik auf. Wie ein klassischer Manierist stellt Antonioni in Blow Up das entscheidende Ereignis infrage, dehnt und umspielt den klassischen „fruchtbaren Moment“ der Malerei genauso wie den decisive moment der Fotografie (über die umgekehrte Entwicklung, die Wirkung ‚filmischer‘ Tendenzen auf die Moderne, hat der Kunstsoziologe Arnold Hauser in seinem Manierismus-Buch einige unübertreffliche Bemerkungen gemacht; vgl. Hauser 1973, S. 379–382). Die Überwindung eingeführter Formen wird zum Spezifikum, ohne damit bei größeren Teilen des Publikums gleich auf Akzeptanz zu stoßen. Diese Erfahrung machte Antonioni in Cannes 1960, als während der Projektion von L’avventura angeblich „Cut! Cut!“-Rufe laut wurden. In diesem Film und der mit ihm ansetzenden Tetralogie – die vier Filme mit Monica Vitti – entwickelte er unverwechselbare und bleibende Bilder, seinen eigenen „atmosphärischen Manierismus“ (Kock 1994, S. 244 f.).

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Abb. 30   Links: Piazza Italia, 1913, von Giorgio  de Chirico (a, Quelle: Kunsthalle Mannheim, © VGBild-Kunst) ist Teil der Pittura metafisica, eine frühe post-kinematografische Bewegung der Malerei. Rechts: Nicht minder modern, enigmatisch und geisterhaft, eine Einstellung aus L’eclisse von Antonioni (b).  Quelle: L‘eclisse (Liebe 1962, I 1962, © Studiocanal)

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Antonionis visueller Stil  Antonionis Entwicklung vollzieht sich in zwei wesentlichen Schritten: der Reflexion als Kritiker seit den mittleren dreißiger Jahren (ich komme darauf zurück) und der Tätigkeit als Regisseur ab 1950, im ersten Jahrzehnt noch in Versuchen, in dieses und jenes Genre zu blicken, ehe mit L’avventura eine unübersehbare Reife einsetzt. Im Film davor, Il grido (1957), hatte er noch einmal ein ‚neorealistisches‘ Problem verhandelt: den sozialen und emotionalen Niedergang eines Arbeiters, im Vertrauen auf die Emphase des Publikums, solche Probleme nachvollziehen zu wollen. Nun war er in der alta borghesia und der Moderne angelangt; immer noch zeitgenössisch interessiert wie der klassische Neorealismus, aber nicht länger kollektive Probleme verhandelnd; beobachtend, doch ohne tiefere Psychologisierung der Figuren, denen nun uneinsehbare Eigenheiten belassen werden: Vittis Tick etwa, haptischen Kontakt mit allen möglichen Gegenständen des Alltags aufzunehmen, ohne dass diese für die Erzählung etwas bedeuten würden. Sie bereichern die Figur, ohne sie transparenter werden zu lassen. Dazu kommt ein eigener Blick der Kamera. Neu bei Antonioni sind subjektive Blicke, die weder einer Figur zuschreibbar sind noch die Sicht eines Erzählers wiedergeben, dessen Ziel eine nachvollziehbare Geschichte wäre. Antonionis Bilder wirken gelegentlich wie abgelenkt, geben eigene, ästhetisierende Beobachtungen wieder – ästhetisierend, formsuchend noch am hässlichsten Motiv. Es gibt weiter eine erstarrte Haltung der Kamera, die nicht jeder Objektbewegung folgt, sondern lediglich den Rahmen setzt, aus dem sich Figuren und Objekte hinaus- oder hineinbewegen. Befinden sie sich im Rahmen, wirkt die Komposition oft nicht harmonisch, sondern ‚dis-kadriert‘. Ein anderes Verfahren hat man als „Dekadrierung“ beschrieben; es meint die Verweigerung der Re-Kadrierung, das Abkappen eines motivischen Fadens über die Montage zweier Einstellungen hinweg. Die decadrage führe dazu, schreibt Pascal Bonitzer, das Intervall eines Schnitts deutlich zu machen; die Spannung bestehe darin, „die Befriedigung aufzuschieben, um sie zu verstärken“ (2011, S. 96). Von der Narration abgesehen, wirken bestimmte Einstellungen in den formal avanciertesten Filmen Antonionis, in L’eclisse (Liebe 1962, I/F 1962) und Il deserto rosso (Die rote Wüste, I/F 1964), wie Such- oder Kippbilder, die sich in ihrer optischen Exposition faktisch nicht mehr erschließen. Antonionis piktoriales Interesse artikuliert sich schließlich in einem Motiv, das sich auf der Schwelle von gerade noch bewegtem Bild und starrer Fotografie befindet: Häufig gibt es bei ihm den Blick der Kamera in vom Wind bewegte Bäume oder Büsche. Ebendiese Metapher, das „Zittern der vom Wind erregten Blätter“, hat Siegfried Kracauer seiner 1964 veröffentlichten Theorie des Films als Mehrwert der zeitbasierten Bilder gegenüber der Fotografie zugrunde gelegt (vgl. Kracauer 2022, S. 11): ein Mehrwert, der in L’eclisse und in Blow Up weder motivisch noch immer atmosphärisch hinreichend motiviert ist, vielmehr auch das filmische Bild wie ein kontingentes Spiel willkürlich abstrakter Formen erscheinen lässt. Es liegt im Wesen der menschlichen Natur, auch in die abstraktesten Gebilde Formen und damit Bedeutung hineinsehen zu wollen – begründete Beispiele lassen sich bis in die Renaissance zurückverfolgen (vgl. Bredekamp 2010, S. 319). Wenn Antonioni die Neuerungen der

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malerischen Moderne ab 1945 nutzt und in seinen Filmen manifestiert, ist an dieser Stelle doch festzuhalten, dass er auch vier der fünf Gattungen der klassischen Malerei tangiert: Seine Filme sind (1) Historien, Geschichten, wenn auch de-dramatisiert erzählt; er behandelt (2) Landschaft, insbesondere Stadtlandschaften, in spezifisch aufmerksamer Weise; es gibt bei ihm statische Tableaus, exemplarisch am Anfang und am Ende von L’eclisse, in der Art von (3) Stillleben. Schließlich ist er in der Gattung (4) Porträt unterwegs; und nicht allein mittels der in den Filmen existenten, diegetischen Figuren: Mindestens bis Blow Up sind die Filme auch Selbstporträts, die seine Herkunft aus dem Po-Delta und den Weg nach Rom vermittelt reflektieren. John Berger sah die Stadt Ferrara mit ihrem Nebel als Grundierung aller Filme Antonionis erhalten (vgl. 1995, S. 14 f.). Inwieweit die fünfte klassische Gattung der Malerei, das Genre, in die Diskussion von Blow Up einzubeziehen ist, diskutiert Sebastian Lauritz im späteren Kapitel dieses Buches (→ Kap. 5.2 Genretheorie). Das Werk entfernt sich Es ist ein bis zur Aporie ausgeübtes Verfahren, Leben und Werk eines Künstlers in Einklang zu bringen und daraus die Eigenart seiner künstlerischen Sicht der Welt zu entwickeln. Von 1935 an bis zu seinem ersten Spielfilm im Jahr 1950 hat sich Antonioni als Journalist und Kritiker schreibend mit Filmen auseinandergesetzt: zunächst für lokale Blätter wie den Corriere Padano, ab 1939 dann für Cinema, eine zweiwöchig erscheinende Zeitschrift, welche eine italienische Filmblüte herbeiwünschte und bereits in der Theorie vorwegnahm (vgl. Meder 1993, S. 44 ff.). Dafür, sowie in Anbetracht der Weltausstellung, die für 1942 geplant war, zog Antonioni nach Rom. Eine offene Frage ist, wie sehr er sich dabei auf die Ziele des faschistischen Regimes einließ. Ein gewisses Maß an Konformismus war hier wohl angezeigt; wie der junge Kritiker mit der Herausforderung umging, lässt sich am Ende weniger an biographischen Daten aufzeigen als an einer Vielzahl von Texten, die als Basis der intellektuellen Formierung des kommenden Regisseurs bislang nur im Ansatz von Sam Rohdie ausreichend berücksichtigt wurden (vgl. 1990). Antonioni schreibt kaum in der prospektiven Prosa seiner Kollegen, die in Italien ein führendes europäisches Filmland der Zukunft erhoffen. Er durchforstet die Produktion der Gegenwart mit dominant ästhetischen Kriterien und wird dabei insbesondere in Frankreich, den USA und Deutschland fündig. Ziel ist eine Annäherung an den absolut gelungenen Film, analog vielleicht zu einem Gedanken des Soziologen Max Weber, der vom „idealen Gedankenbild“ wie folgt spricht: „[Es ist] nirgends in der Wirklichkeit auffindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Fall festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht“ (Weber zit. nach Brunner 2015, S. 52). Kunst ist danach nicht der Wirklichkeit abgelauscht oder abgesehen, sondern konstruiert jene auf ihre Weise neu. Aber was ist, wenn Kunst eine Wirklichkeit erschafft, die eine menschenfeindliche Ideologie vermittelt? Ein Zweifel ist spürbar in einem frühen Text Antonionis zu einem der – im Nachhinein – umstrittensten Filme, zu Jud Süß (D 1940), den er auf der Biennale 1940 sieht:

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Der ganze Film bewegt sich in glänzender Stimmigkeit, ohne Holprigkeiten oder Disharmonien, in opulenten, historisch genauen Szenerien. Wir wären versucht, die Harmonie des Films perfekt zu nennen, der keinen Moment seine These vergisst, um in Phantastik auszuweichen; doch ist uns, ehrlich gesagt, ein Zweifel gekommen: ob der Charakter des Jud Süß noch im Bereich der Kunst anzuzweifeln sei oder ob er nicht von der eigenen dogmatischen Boshaftigkeit in eine unmenschliche und gerade deshalb anti-poetische Sphäre hinauskatapultiert wird. (Cinema 102, 25. September 1940, zit. nach Meder 1991)

Die Erfahrung des Totalitarismus ließ fortan nicht nur Antonioni den Glauben an die sakrosankte Funktion von Kunst bezweifeln. Als roter Faden zieht sich durch seine Aussagen daher die Skepsis, im Nachhinein Erklärungen zum Sinn eines Films abzugeben. So beginnen zwei „Ichs“ auf den Plan zu treten, der Künstler und das Werk (Abb. 31). Einen Überbau für dieses Loslassen des Regisseurs hat zuletzt der Kunstwissenschaftler Horst Bredekamp geliefert. Im Anschluss an Adorno entwickelt er „das Verhältnis zwischen Kunstwerk und Rezipient im Sinne des Bildakts vom Artefakt her“ (2010, S. 323), nicht mehr vom „Sprechenden“ oder als „Sprechakt“ des Urhebers. Der Ausdruck von Malerei, so Bredekamp, sei nicht „gespiegelte Externalisierung des Gemüts im Medium der Materie, sondern eine lebendige Selbsttätigkeit des Werks“ (ebd., S. 272). Die Natur bleibe die Lehrmeisterin: Sie schreibe wahrnehmbare Formen vor, welche von Betrachtenden nachvollzogen werden oder auch nicht. Diese würden zum Objekt, während sich die „Geschicklichkeit der Mittel selbst in ihrer Lebendigkeit und Wirkung durch sich selber eine Gegenständlichkeit erzeugen zu können kundtut“ (nach G.W.F. Hegel, zit. ebd.). Allein die Annahme, dass Bilder und Körper austauschbar seien, begründe den „substitutiven Bildakt“ (ebd., S. 191). Bildtheoretisch nicht nur Fußnote ist, dass Blow Up an dieser scheinbar festgefügten Annahme im Umgang ausgerechnet mit Fotografien rüttelt (vgl. Abb. 32).

Abb. 31   Jeder Künstler, der ein Werk geschaffen hat und veröffentlicht, entlässt es in den Fluss der Geschichte. Wohl kennt er den Bauplan, aber nicht den zukünftigen Kurs. Quelle: Fotoarchiv Thomas Meder, Foto: © Norman Eschenfelder

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Abb. 32   Wer steuert hier wen? Erschafft der Fotograf in Blow Up ein Bild als Ausdruck seiner Wahrnehmung? Oder sind es die Formen des Bildes, die den Fotografen lenken? (a+b) Die Bild-Akt-Theorie versteht das Bild als handlungsstiftenden Agenten. Nach Bredekamp liegt die Wirkmacht der Bilder darin, dass sie nicht etwas Vorgefundenes repräsentieren, sondern dass sie zugleich erschaffen, was sie zeigen.  Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.) 

2.4 Zur Wahrheit der Bildlichkeit in Blow Up Wie kaum ein anderer Film bringt Blow Up zeitgebundene wie allgemeine Aussagen zur Bildlichkeit von Filmen zum Vorschein, indem der Film spezifische Errungenschaften der Mode, des Designs, der populären Künste der mittleren 1960er Jahre in London integriert und dazu einen zentralen Diskurs über Beschaffenheit und Wirkung des fotografischen Bildes führt, mit Antonioni – und, als faktisch Verantwortlichem, dessen Kameramann Carlo di Palma – als Fragenden. Die meisten Antworten gibt der Film wiederum selbst. Antonionis Film spricht das Motiv der Täuschung nicht nur in den Gemälden an, die er zeigt, er ist auch eine Geschichte über fortlaufende Täuschungen. Der Film beginnt mit einem Schwindel. Ein Fotograf hat sich in ein reception house, ein Asyl für Obdachlose im Londoner Stadtteil Battersea eingeschlichen, um als vorgeblicher Schicksalsgenosse mehr oder weniger heimlich Aufnahmen sozial heruntergekommener Männer zu machen. Nach der Heimfahrt im Rolls Royce setzen sich die aktiv betriebenen Täuschungen fort. Die Leidenschaft zwischen dem Topmodel und dem Fotografen ist professionell gespielt. Parodoxerweise dient die Vorstellung einem authentisch wirkenden Ergebnis. Thomas und das Model Veruschka performen dafür gemeinsam im Ansatz einen Liebesakt, um anschließend jede/r für sich der acedia zu verfallen, einer italienischen Spielart der Überdrüssigkeit des Anderen nach dem Beischlaf. Vor dem bildtheoretischen Hauptteil des Films gibt es weitere Täuschungsversuche: Thomas flunkert seiner neuen Bekannten von Ehefrau und Kindern vor, im Gegenzug versucht sie, seine Kamera mit den kompromittierenden Aufnahmen zu entwenden. Wenig später gibt sie ihm eine falsche Telefonnummer. Intellektuell spannender wird die Sequenz um die Identifizierung des Geschehens im Park, denn hier sehen wir uns erstmals unmittelbar ins Geschehen mit einbezogen, im wahrsten Sinn des Wortes ‚Sehen‘: Der die Fotografien interpretierende Blick

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sucht zu einer dem Anschein nach stimmigen Lösung des Rätsels und trägt damit zum ästhetischen Gelingen des Ganzen bei. Die Frage nach Wahrheit und Täuschung geht ins Bild ein. Als Zuschauende beobachten wir auf der Leinwand nun einen „Detektiv“, der nach „Spuren“, nach „Indizien“ eines vermeintlichen Kriminalfalles sucht (vgl. Ginzburg 1993). Die konkreten Spuren aber bleiben Metonymie, bleiben Teile des vermeintlichen kriminalistischen „Teppichs“ oder Puzzles. Thomas ist nun nicht länger die blanke Metapher des Regisseurs des Films, in dem er auftritt: Blow Up bedeutet uns sehr genau, dass das ästhetische Erleben beim Filmesehen an den bildlichen Moment gebunden bleibt, an eine „Form von Wissen, die an die tägliche Erfahrung oder genauer: an alle Situationen gebunden sind, in denen Einzigartigkeit und Unersetzbarkeit der Faktoren in den Augen der betroffenen Personen entscheidend sind“ (Ginzburg 1993, S. 38). Diese Erfahrung teilt das Publikum nun mit Thomas. Das Ergebnis von Thomas’ – und mit ihm: unserer – Recherche wird nicht so evident, dass es von Kriminologen oder Rationalisten als schlüssig bewertet werden könnte. ‚Live‘ zu beobachten ist zunächst das sich küssende Paar im Park. Beim Entwickeln der Negative entdeckt der Fotograf dann (möglicherweise) ein Opfer und (dem Augenschein nach ziemlich sicher) einen Täter, ausgestattet mit einer Handfeuerwaffe. Dieses deutlich sichtbare Indiz für einen Mord ‚bläst‘ er ‚auf‘, bis buchstäblich nichts Konkretes mehr zu erkennen, aber immer noch ein neues Bild entstanden ist. Dieses ‚letzte Bild‘ bekommt später Gewicht, als der Fotograf nämlich von der zweiten Exkursion in den Park zurückkehrt und seine Wohnung im Chaos vorfindet, weil von unbekannter Seite hier zwischenzeitlich offenbar alle fotografischen Spuren auf ein Verbrechen im Park getilgt worden sind. In einer Lücke zwischen Möbelstücken findet Thomas schließlich doch noch ein blow up, eben jenes ‚letzte Bild‘ (Abb. 33). Er betrachtet es eher aufmerksam als verwundert und zeigt es dann Patricia, die er kurz zuvor noch im Bett mit dem – aus seiner Sicht – wohl falschen Mann gesehen hatte. „Looks like one of Bill’s paintings“, ist ihr lapidarer Kommentar. Weiter geht Antonioni nicht, weil er hier den Gipfel des Diskurses erreicht hat, den er in Blow Up in der Hauptsache führt: einen Diskurs über die visuellen Möglichkeiten des Films, der sich einerseits zusammensetzt aus fotografischen Anteilen, die eine vorfilmische RealiAbb. 33   „That’s the body“: Das letzte blow up in Blow Up. Die Abstraktion erreicht das konkrete Film-Bild.   Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.) 

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tät möglichst getreu wiedererstehen lassen – im Park wäre demzufolge tatsächlich ein Mord geschehen –, und andererseits einer überhöhenden, verfremdenden, im konkreten Fall gar abstrahierenden Tendenz. Als Verwandter des Mediums Film wird, einigermaßen überraschend, neben der Fotografie insbesondere nicht-gegenständliche Malerei ins Spiel gebracht. Auf dieses streng binär angelegte Spannungsfeld – das Konkrete versus das Abstrakte – ist der gesamte bildtheoretische Diskurs von Blow Up aufgebaut. Fotografie und Film als bildgebende Verfahren Film galt lange als zeitbasierte Fortentwicklung der realitätsnahen Tendenz des Mediums Fotografie und daher im Wesentlichen als ein abbildendes Verfahren, das auf vorfilmische Realitäten, auf ein referentielles Verhältnis zu einer wie auch immer gearteten, vor-existenten Wirklichkeit baute. Erst die digitale Evolution hat diesen epistemischen Ansatz ins Wanken gebracht. Eine Avantgarde der bildenden Kunst dagegen hatte den Pfad der mimetisch treuen Wiedergabe der Außenwelt, so wie sie ähnlich auch dem menschlichen Auge erscheint, bereits im späten 19. Jahrhundert verlassen und damit einen Weg vorgezeichnet, wie ihn Blow Up noch einmal in einzelnen, fast didaktisch anmutenden Schritten nachvollziehbar macht: ein Weg, der vom abbildenden zum bildgebenden Verfahren führt. Thomas kommt zu dieser Konsequenz durch die Mühen eines aufwendigen Prozesses, von der Fotografie zum abstrahierenden Bild: „Jede erneute Reproduktion ist ein Schritt weg von der referentiellen, der Dingwelt verhafteten fotografischen Praxis hin zu einer Generierung neuer fotochemischer Zeichen, die allein der Vorstellungskraft unterworfen sind“ (Scheid 2005, S. 48). Diese Einsicht lässt die Diskussion obsolet erscheinen, die zahlreiche Exegeten von Blow Up betrieben haben: die einer qua Technik stets beglaubigenden, sakrosankten Natur des fotografischen Bildes. Nach den Schlüsselpassagen in Park, Dunkelkammer und Atelier agiert Antonioni weitaus offener mit unzuverlässigen Bildern oder binär zu bewertenden Bildmotiven. Eine kurze, doch sprechende Passage lässt ‚Thomas‘ ‚Jane‘ – beide Namen erscheinen nur im Drehbuch – noch einmal vor einem Permutit-Laden sehen: Als der Fotograf jedoch anhält und die Menschenschlange abscannt, ist sie nicht mehr da. Antonioni muss dafür in seinem Labor Redgraves Figur aus jedem Einzelkader entfernt haben. Noch schlichter am Ende: Der einfachste Trick der Filmgeschichte, der Stopp-Trick, lässt den Fotografen im Bruchteil einer Sekunde von der grünen Rasenfläche des Maryon Park verschwinden. Die Weitergabe der Rätsel von Blow Up an die Zuschauenden wird spätestens im nächsten Augen-Blick evident: Hat man den verschwundenen Fotografen denn nun wirklich gesehen? Man hat ihn wohl sicher nur in einem Film gesehen, und dieser Film ist jetzt, da zu Ende, sozusagen bereits nicht mehr wahr; er wird es aber wieder, wenn wir ihn erneut sehen. Der Gedanke ist weiterzudenken. Die entscheidende faktische Frage der Erzählung lautet: Gab es nun einen Mord im Park oder nicht? Fast überdeutlich stellt die Frage nach der Semiotik – der dominierenden bildtheoretischen Richtung der 70er und 80er Jahre, allein ausgerichtet auf die kommunikative Funktion von Bildern –, ein „Superzeichen“ (Umberto Eco) gegen Ende des Films, als Thomas den Park zum dritten

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Abb. 34   Links die mysteriöse Pistole, die in der Fotografie auftaucht (a), rechts das „Superzeichen“, eine Leuchtreklame in Form einer Pistole (b) – genau dort, wo der Mörder in Blow Up vermeintlich in den Büschen war. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.) 

Mal aufsucht: die blinkende ‚Pistole‘ auf einem Billboard, das Antonioni eigens aufstellen ließ (vgl. Abb. 34). So paradox es klingt: Es ist stimmiger, die Frage nach dem Mord zu verneinen, denn alle Hinweise, die zur Bejahung führen, werden bald zu Nicht-Indizien. Wie wäre der gegenteilige Fall zu begründen? Das Bild des toten Mannes unter dem Busch wäre dann ebenso als mediale Erscheinung zu werten wie die Hand mit der Waffe. Antonioni tut einiges dafür, dass sich diese Lesart, so ‚unwahr‘ sie zunächst erscheint, am Ende aufdrängt. Die Leiche im Park wirkt merkwürdig unecht, wächsern, wie aus Mme. Tussauds Kabinett entführt. Die Hand mit der Pistole, die im Foto auftaucht und im nächsten wieder verschwindet, wird nur in einer medialen Kodierung, einer bestimmten Körnung der einzelnen Rasterpunkte sichtbar. In beiden Fällen hätte man somit modale Bilder vor Augen: Bilder, die nicht unbeugbar wahr sind. Es wäre demnach auch die Möglichkeit einer Vision des Fotografen erörtert, die wir augen-faktisch teilen, um am Ende des Films, in einer ‚Phantasie-an-die-Macht‘-Sequenz, einer anderen Möglichkeit – nicht des Besseren – belehrt zu werden. Es liegt im Modus unseres kognitiven Verstehen-Wollens von Filmen, dass die Sichtbarkeit eines Geschehens zunächst unmittelbar überzeugt. Die unechte Leiche ist freilich eine visuelle Tautologie. Die eine Möglichkeit, die die andere nicht ausschließt, hat Antonioni in Blow Up jedenfalls in die feinste Balance gebracht. Dass er auf die Vision einer handelnden Person vertraut, derer wir Zuschauenden mitansichtig werden, ohne dass sie sich in der erzählten Realität (der Story) des Films wahrlich ereignen muss, hat er mit dem vielfigurigen Love-in von Zabriskie Point (1969) sowie mit Darias Blick auf die Explosion der Villa am Ende desselben Films dann noch einmal nachdrücklich bestätigt.

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Exemplarische Filme Thema: Authentizität und Beweiskraft des fotografischen und bewegten Bildes Ace in The Hole (Reporter des Satans, USA 1951, Billy Wilder) Peeping Tom (GB 1960, Michael Powell) Ningen jōhatsu (A Man Vanishes, J 1967, Shōhei Imamura) Alice in den Städten (D 1974, Wim Wenders) Under Fire (USA 1983, Roger Spottiswood) JFK (USA 1991, Oliver Stone) War Photographer (CHE 2001, Christian Frei) One Hour Photo (USA 2002, Mark Romanek) Road To Perdition (USA 2002, Sam Mendes) Freeze Frame (GB 2004, John Simpson). The Final Cut (Dein Tod ist erst der Anfang, CAN/D 2004, Omar Naim). Grizzly Man (USA 2005, Werner Herzog) Flags of Our Fathers (USA 2006, Clint Eastwood) I'm not there (USA/D 2007, Todd Haynes) Five Days of War (USA/GEO 2011, Renny Harlin) The Act of Killing (DK/GB/NOR 2012, Joshua Oppenheimer) The Secret Life of Walter Mitty (Das erstaunlich Leben des Walter Mitty, USA 2013, Ben Stiller) L'Image Manquante (Das fehlende Bild, KHM/F 2013, Rithy Panh) Nightcrawler (USA 2014, Dan Gilroy) The Cleaners (D 2008, Hans Block, Moritz Riesewieck) Aftersun (USA/UK 2022, Charlotte Wells) Literaturhinweise zur Bildtheorie Arnheim, Rudolf. 1979. Film als Kunst. Frankfurt/M.: Fischer. Arrowsmith, William. 1995. Antonioni. The Poet of Images. New York [u.a.]: Oxford Univ. Press. Belting, Hans, Hrsg. 2007. Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch. München: Fink. Brunette, Peter. 1998. The Films of Michelangelo Antonioni. Cambridge University Press. Flach, Sabine/Münz-Koenen/Marianne Streisand, Hrsg. 2005. Der Bilderatlas im Wechsel der Künste und Medien. München: Fink. Geilert, Gerald. 2021. Bildkonzepte in Produktion und Wahrnehmung. Kassel: Universitätsbibliothek Kassel. Glasenapp, Jörn Hrsg. 2012. Michelangelo Antonioni. Wege in die filmische Moderne. München: Fink. Grave, Johannes. 2022. Bild und Zeit. Eine Theorie des Bildbetrachtens. München: C.H. Beck.

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Hanke, Christiane. 2020. Bildwissenschaften und Filmtheorie. In Handbuch Filmtheorie, hrsg. Bernhard Groß, S. 705–716. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Hensel, Thomas, Klaus Krüger und Tanja Michalsky, Hrsg. 2006. Das bewegte Bild. Film und Kunst. München: Fink. Messerer, Wilhelm. 1992. Vom Anschaulichen ausgehen. Schriften zu Grundfragen der Kunstgeschichte. Wien u.a.: Böhlau. Müller, Uwe. 2004. Der intime Realismus des Michelangelo Antonioni. Norderstedt: Book on Demand. Nardelli, Matilde. 2021. Antonioni and the Aesthetics of Impurity: Remaking the Image in the 1960s. Edinburgh: Edinburgh University Press. Niewöhner, Heinrich. 1992. Mythisches Perpetuum Mobile. Lettre International. IV. Vol. 4, Nr. 19, S. 48–54. Pächt, Otto. 1977. Methodisches zur kunsthistorischen Praxis. München: Prestel. Pantenburg, Volker. 2020. Black Box/White Cube. Kino und zeitgenössische Kunst. In Handbuch Filmtheorie, hrsg, Bernhard Groß, S. 687–703. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Pantenburg, Volker. 2022. Aggregatzustände bewegter Bilder. Berlin: August Verlag. Prümm, Karl. 1983. Suspense, Happy-end und tödlicher Augenblick. Überlegungen zur Augenblicksstruktur im Film mit einer Analyse von Michelangelo Antonionis Blow Up. Veröffentlichungen des Forschungsschwerpunktes „Massenmedien und Kommunikation“ an der Universität-Gesamthochschule-Siegen. Purgar, Kresimir. 2019. Pictorial Appearing. Image Theory after Representation. Bielefeld: transcript. Remmers, Peter. 2018. Film als Wissensform. Eine philosophische Untersuchung der Wahrnehmung filmischer Bewegungsbilder. Berlin: De Gruyter. Scholz, Oliver R. 2000. Lemma Bild. In Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Band 1, hrsg. v. Karlheinz Barck u.a. Stuttgart: Metzler, S. 618–669. Sedlmayr, Hans. 1931. Zum Begriff der Strukturanalyse. In: Kritische Berichte zur kunstgeschichtlichen Literatur, Band 32, S. 146–160. Seitz, Sergej [u.a.], Hrsg. 2018. Facetten gegenwärtiger Bildtheorie. Interkulturelle und interdisziplinäre Perspektiven. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Stiglegger, Marcus und Christoph Wagner, Hrsg. 2022. Film – Bild – Emotion. Film und Kunstgeschichte im postkinematographischen Zeitalter. Berlin: Gebr. Mann Verlag. Veits, Andreas. 2021. Narratologie des Bildes. Zum narrativen Potenzial unbewegter Bilder. Köln: Herbert von Halem Verlag.

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3 Theorie der Filmmusik Larson Powell Die Stellung der Musik im Film wurde ab den 1980er Jahren neu bewertet. Wissenschaftliche Arbeiten begannen damit, Filmmusik in den Fokus zu rücken und somit bis dahin vernachlässigte Aspekte der Filmgeschichte ans Licht zu bringen. Filmmusik wird seitdem nicht mehr bloß als Zutat oder Ergänzung zum Bild wahrgenommen, sondern unter anderem auch als Motor der Handlung: als Akteur. Nach Jerrold Levinson könne Filmmusik „narrative agency“, also narrative Handlungsmacht, besitzen (1996, S. 248), ein Vorschlag, der mit älteren Formulierungen zur Funktion der Filmmusik korrespondiert (vgl. Gorbman 1987, S. 73; Kalinak 1992, S. 187). Narrative Handlungsmacht kommt nach Levinson nur der nicht-diegetischen Musik zu (1996, S. 248). Diese Musik, die nicht innerhalb der erzählten Welt erklingt, sondern nachträglich zu den Bildern ergänzt wird, lasse sich einer Erzählinstanz zuschreiben: jener Intelligenz, welche die Story konstruiere (vgl. ebd., S. 258). Levinsons Versuch, bei dieser Zuschreibung eine implizierte Erzählinstanz (cinematic narrator) von einem implizierten Regisseur (implied filmmaker) zu unterscheiden, ist anfechtbar, da diese narratologischen Kategorien, die Levinson von Seymour Chatman (1990) übernimmt, innerhalb der Erzähltheorie umstritten sind. So monieren Laura Sulzbacher und Monika Socha: „An praktischen Beispielen zeigt sich, dass Musik sich einer solchen eindeutigen Zuordnung zu einem cinematic narrator oder einem implied filmmaker entzieht“ (2009, S. 266). Sogar die traditionelle Unterscheidung zwischen diegetischer und nichtdiegetischer Filmmusik, die seit Gorbman (1987) üblich ist, haben Filmmusikforscher zunehmend infrage gestellt (Stilwell 2007; Winters 2010). Aber die Idee, dass der Musik eine narrative Handlungsmacht zukommen kann, lässt sich – trotz der ungelösten Fragen zu ihrer Verortung – aufgreifen. Auf diese Weise kann man die traditionelle Hierarchie, welche das Bild über den Ton stellt, hinterfragen. Dass vielmehr das Bild auch der Musik folgen kann, ist in Untersuchungen zum Musical längst ein Gemeinplatz („movement follows the rhythm of the music,“ Altman 1987, S. 65) und eine Einsicht, welche die neuere Forschung auch auf andere Genres ausdehnt: To represent music, to take it as an object of interpretation, is to recognize it as a constituent part of a world and as an active force in the construction of that world rather than as a mere embellishment or appendage to a world the construction of which is otherwise complete (Goldmark, Kramer, Leppert 2007, S.7).

Auch Theodor W. Adorno und Hanns Eisler haben in Filmkompositionen die Möglichkeit gesehen, die Musik zum Handlungsfaktor zu erheben (2006). Die Bedeutung dieser Handlungsmacht ist von Theoretikern auf verschiedene Weise differenziert worden. So unterscheidet Hansjörg Pauli (1993) zwischen persuasiver Funktion (emotionaler oder rhetorischer Wirkung), syntaktischer Funktion (die Handlung erklärend),

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hermeneutischer Funktion (die Artikulation von Teil und Ganzem in Hinsicht auf die Erzählung), und Metafunktion (die Vermarktung jenseits des filmischen Textes). Helga De La Motte Haber (1993) erkennt verschiedene syntaktische und integrierende Funktionen; Maas und Schudack (1994) nennen syntaktische, semantische, tektonische und mediatisierende Funktionen; und Josef Kloppenburg versucht diese Unterschiede zu gruppieren: als syntaktische, expressive und dramaturgische Funktionen (vgl. 2012, S. 150). Für unsere Zwecke genügt folgende Unterscheidung: Filmmusik kann sowohl semantisch-konnotativ wirken (also ein Milieu oder ein Gefühl vermitteln) als auch syntaktisch-strukturell sein (also die Erzählung gliedern und somit die Zuschauenden orientieren). Antonionis Verhältnis zur Filmmusik Von der Rolle der Musik bei Michelangelo Antonioni zu reden, ist keine Selbstverständlichkeit. Seine Beziehung zur Filmmusik erscheint von je her ambivalent: „Non amo la musica nel film.“ („Musik im Film liebe ich nicht.“) stellt eine seiner bekanntesten Aussagen dar (1980, S. 201). Musik bewusst zu reduzieren, ist ein Bestreben in seiner Kunst bis zu Il deserto rosso (Die rote Wüste, IT/F 1964). In einem zentralen Interview äußert sich Antonioni dazu wie folgt: I am personally very reluctant to use music in my films, for the simple reason that I prefer to work in a dry manner, to say things with the least means possible. And music is an additional means. I have too much faith in the efficacy, the value, the force, the suggestiveness of the image to believe that the image cannot do without music. It is true, however, that I have a need to draw upon sound, which serves an essential ‚musical‘ function (1962, S. 55, zit. nach Chatman 2004, S. 133).

Feststellen lasse sich in Antonionis Werk der 1960er Jahre, so Alberto Boschi, „eine immer drastischere Reduktion der musikalischen Begleitung im strengen Sinne und eine entsprechende Aufwertung der ‚wirklichen‘ sonoren Umwelt“ (1999, S. 87). Roberto Calabretto nennt für diese Reduktion eine Reihe von Gründen: wie das Bedürfnis nach stilistischer Strenge, basierend auf der Überzeugung, möglichst wenige Mittel zu verwenden; die Ablehnung alles Expliziten, insbesondere durch den Entzug des traditionellen Ton-Kommentars; und das Konstatieren der problematischen Beziehung zwischen dem Visuellen und der Stimme (2011, S.7).

Doch Blow Up (GB/IT 1966) markiert eine Zäsur. Der Film weicht nicht nur in der Erzählstruktur und dem gezeigten Milieu von dem vorherigen Werk ab, auch der Einsatz der Filmmusik ist neu bei Antonioni – ein Umstand, der wenig zur Kenntnis genommen wird. Man könnte die neue Rolle der Musik auf die Farbigkeit des Films beziehen oder aber auf das neue Raumgefühl, das sich im Film vermittelt. Dahingehend hebt auch Antonioni seine Bestrebungen in Blow Up von den früheren Filmen ab: I worked a lot then [in Il deserto rosso, A.d.V.] with the zoom lens to try and get two dimensional effects, to diminish the distances between people into objects, make them seem flattened against each other. This time I’m trying to do something quite different. I’ve tried

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to lengthen the perspective, to give the impression of space between people and things (zit. nach Wake 1971, S.16).

Zur Erzeugung von räumlicher Tiefe setzt Antonioni in Blow Up auch die Geräusche und sogar Musik ein. In seiner vorherigen Aussage von 1962 werden Geräusche und Musik noch als Gegenspieler betrachtet. Die Geräusche sollen die Funktion der (in seinen Augen verdächtigen oder überflüssigen) Musik übernehmen. Antonionis Vorstellung eines „trockenen“ oder distanzierten (phänomenologischen) Blicks war mit der üblichen, untermalenden Funktion von Filmmusik nicht vereinbar. Es ist wohl dieses besondere Interesse Antonionis für Geräusche, das Michel Chion zu der schönen Formulierung geführt hat: Der Regisseur sei ein „Prosaist des Tons“ (1999, S. 95). Wir werden auf die Funktion der Geräusche bei Antonioni nochmal zurückkommen. Die Präsenz von Jazzmusik in Blow Up jedenfalls mag Zuschauende, die Antonionis frühere Filme kennen, verwundern. Wie lässt sich ihre Funktion in dem Film verstehen?

3.1 Jazzmusik und Film Jazzmusik ist ein Geburtshelfer bei der Etablierung des Tonfilms: Der Durchbruchsfilm The Jazz Singer (Der Jazzsänger, USA 1927, R: Alan Crosland) ist, wie viele frühe Tonfilme, ein Musical mit populären Songs (Abb. 35). In den 1950ern, als die Blütezeit der klassischen Hollywood-Symphonik zu Ende geht, hält der Jazz auf andere Weise Einzug in die Filmmusik: diesmal nicht im Rahmen des Musical-Genres, sondern im Film Noir oder Thriller. Als wegweisend gilt die Musik zu The Man with the Golden Arm (Der Mann mit dem goldenen Arm, USA 1955, R: Otto Preminger) von Komponist Elmer Bernstein. Seitdem wird Jazz im Film oft mit Drogen, Kriminalität oder fragwürdiger Moral assoziiert. Beispiele wie The Man with the Golden Arm oder A Streetcar Named Desire (Endstation Sehnsucht, USA 1951, R: Elia Kazan) zeigen, „wie ein Genre von der Filmmusik im Dienst genommen und durch Überakzentuierung eines seiner Aspekte zum Ausdrucksstereotyp standardisiert werden kann“ (De La Motte-Haber und Emons 1980, S. 135). Dass der Jazz nicht nur in Hollywood Eingang findet, sondern auch in europäische Filme, davon zeugt Louis Malles L’Ascenseur pour l’échafaud (Fahrstuhl zum Schafott, FRA 1959) mit der Musik von Miles Davis (Abb. 36). Antonioni hat Saxophonmusik (von Giovanni Fusco) für Cronaca di un amore (1950) benutzt, einen Film, der mit Genreaspekten des Film Noir arbeitet. Auch in Blow Up suggeriert der Jazz ein Milieu, allerdings nicht einen halbkriminellen Untergrund wie im Film Noir, sondern die durchaus gesetzestreue Freiheit der Londoner Mod-Subkultur und Popszene Mitte der 1960er Jahre (der Begriff Mods hat sich aus dem Englischen Modernists entwickelt). Als Bestandteil dieser profilmischen Umwelt gerät die Musik in Blow Up weniger in Gefahr, dem Bild fremde Bedeutungen aufzudrücken, jene „additional meanings“, die Antonioni im obigen Zitat abgelehnt hat. Stattdessen zählt die Musik als „Bildton“ zur Diegese (im Gegensatz

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Abb. 35   Als der Film das Sprechen lernte, half der Jazz mit: in The Jazz Singer von Alan Crosland.   Quelle: CineMaterial; The Jazz Singer (Der Jazzsänger, USA 1927, © Warner) 

zum nicht-diegetischen „Fremdton“; vgl. dazu Bullerjahn 2001, S. 19–24). Nach dem Modell Kloppenburgs ließe sich der Jazzmusik in Blow Up eine „expressive Funktion“ zuweisen, die das Ziel einer „Intensivierung der Wahrnehmung“ verfolgt (2012, S. 150). Eine syntaktische Funktion hingegen nimmt die Musik selten ein, denn sie gliedert oder verklammert kaum die Erzählung. Antonionis Bewertung des Londoner Milieus fällt distanziert aus (wie Rezensenten bereits nach der Premiere bemerkten). Daher verwundert es nicht, dass die Musik nicht einfach eine identifikationsstiftende Wirkung erzielen will. Ihr kommt aber mit Sicherheit eine dokumentarische Funktion zu, denn sie stellt einen bestimmten Moment in der Geschichte des Jazz dar. „Zeitstil und musikalisches Niveau bestimmen als Diskriminanten auch ihren Gebrauch im Film“, schreiben De La Motte-Haber und Emons: „Als extrem ‚zeitanfälliges‘ Genre vermag die Tanzmusik ungleich deutlicher als die Kunstmusik, Vergangenheit von Gegenwart zu separieren und damit auch Generationen voneinander abzuheben, Neigungen und Identifikationen zu verdeutlichen.“ (1980, S. 137)  Die Entwicklung der Jazzmusik  Gerade Mitte der 1960er Jahre ist der Jazz im Begriff, sich noch einmal drastisch zu verändern. Bereits mit der Entwicklung des Bebop von

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Abb. 36   Jazzmusik in kriminellen Milieus: In L’Ascenseur pour l’échafaud führen der Regisseur Louis Malle und der Musiker Miles Davis die Künste Kino und Jazz in ihrer genuinen Form zusammen: Miles Davis improvisiert die Musik mit seiner Band vor der Leinwandprojektion. Sein minimalistischer Trompetenstil ist wie geschaffen für den Kriminalfilm: Der Sinn für Pausen, für wenige und langgezogene Töne öffnet atmosphärisch geladene Räume, in denen die Bilder düsterer Urbanität nachhallen können.   Quelle: L‘Ascenseur pour l‘échafaud (Fahrstuhl zum Schafott, F 1959, © Studiocanal) 

Charlie Parker hat er sich Ende der 1940er von der leicht verständlichen, „tanzbaren“ Unterhaltungsmusik distanziert und in eine zunehmend abstrakte Kunstform verwandelt. Auf diese Weise nimmt der Jazz die Vereinsamung der modernen E-Musik auf sich, in einem Verlauf, der Theodor W. Adornos Kritik am (früheren) Jazz gleichzeitig bestätigt und widerlegt. Schon Charlie Parker möchte, dass der Jazz als „ernste“ Form der Musik anerkannt wird; davon zeugt sein Album Charlie Parker with Strings (1949/1950). Ende der 1960er schließlich will Anthony Braxton, der radikalste Erbe des Free Jazz, seine Musik nur noch „creative music“ nennen. Man könnte die rapide Entwicklung des Jazz nach 1945 als Reflexion oder mithin als Selbstkritik verstehen. Der Jazz ist nun nicht mehr die populäre Form, die er im Swing noch war. Die Entwicklung des Free Jazz durch Ornette Coleman und John Coltrane hat schließlich sein traditionelles harmonisches Fundament unterminiert oder gar (mit Cecil Taylor) gänzlich aufgehoben. Wie früher der Film vom Fernsehen bedroht wurde, sieht sich der Jazz in den 1960ern der neuen Konkurrenz durch die Rockmusik ausgesetzt. Eine Gegenreaktion zu den Tendenzen der Abstrahierung lässt nicht lange auf sich warten. Es war Miles Davis, der bereits mit dem Cool Jazz der 1950er Jahre (Kind of Blue, 1957) eine klassizisistische Korrektur des wilden Bebop einläutet. Danach wird Davis mit seinem Second Quintet

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(1964–68) und Platten wie Miles in the Sky (1968) sowie insbesondere In A Silent Way (1969) Pionier des sogenannten Jazz-Rock-Fusion. Die Gattung Fusion wird von Jazzhistorikern nicht ohne Kritik betrachtet (vgl. Fellesz 2011). Schon zu Davis‘ Zeiten wird der Fusion als popularisierender Ausverkauf des Jazz an die konsumfreudige Rockmusik gesehen – fast so, wie Blow Up von manchen Kritikern als ein Werk betrachtet wird, das unter Antonionis künstlerischem Niveau rangiert (vgl. Huss 1971), oder das Ende seiner modernistischen Periode markiert (vgl. Kovács 2007, S. 339). Beide Alben von Davis nutzen elektronische Instrumente und nicht nur die herkömmlichen akustischen. Mit In A Silent Way entfernt sich Davis auch von der Live-Ästhetik, dabei begleitet von dem Toningenieur Teo Macero, der wesentlich zum Design der Musik beiträgt (man vergleiche etwa die ähnliche Rolle von George Martin und Phil Spector beim Sound-Design für die Beatles in den 1960ern). Und es ist der Komponist des Blow Up-Soundtracks, Herbie Hancock, seines Zeichens Pianist für Davis’ Second Quintet, der dann das erfolgreichste Album des Fusion produzieren wird: Head Hunters (1973) ist noch heute das meistverkaufte Jazzalbum aller Zeiten (zur Geschichte vgl. Pond 2005).

3.2 Die Jazzmusik in Blow Up Zur Entstehungszeit von Blow Up ist Hancock noch Mitglied des Davis-Quintetts, hat aber schon fünf Soloalben veröffentlicht, von denen Empyrean Isles (1964) und Maiden Voyage (1965) bereits als Klassiker gelten. Darin verknüpft er Elemente des Hardbop und Free Jazz mit einer zugänglichen Melodik. Wie Bill Evans (Pianist bei Davis’ First Quintet in den 1950ern) verfügt Hancock über eine Ausbildung in klassischer Musik; Spuren der Harmonik von Claude Debussy und Maurice Ravel sind bei ihm herauszuhören. Auf dem Weg zum Modernismus geht Hancock aber nicht so weit wie seine Zeitgenossen Cecil Taylor und Albert Ayler oder die Gruppe AACM (Association for the Advancement of Creative Musicians, gegründet 1965), welche alle die Grenze zur Atonalität überschreiten. Daher lässt sich nur bedingt zustimmen, wenn De La MotteHaber und Emons die Musik zu Blow Up als „Herbie Hancocks Free Jazz“ bezeichnen (1980, S. 156). Herbie Hancocks Musik für Blow Up  Hancock ist wegen seines stilistischen Eklektizismus von Musikwissenschaftlern als „Chamäleon“ bezeichnet worden (vgl. Fellezs 2011, Pond 2005). Oszillierend wie die filmische Erzählung in Blow Up, die zwischen der parabolischen Offenheit von Antonionis früheren Filme und den Konventionen des Hitchcock-Thrillers (oder des Whodunit) changiert, hält auch Hancocks Musik die umstrittene Mitte zwischen kommerzieller Popularität und künstlerischer Ambition, zwischen Rockmusik und Jazz. In der Musik zu Blow Up liegen die verschiedenen musikalischen Subgattungen – Free Jazz und Fusion – eher disparat nebeneinander. Sie werden auch durch keine wiederkehrenden Themen oder Motive strukturell zusammengehalten. Darin ähneln sie eher der improvisierten Musik von Miles Davis

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zu L’Ascenseur pour l’échafaud als der homogenen Filmmusik von Duke Ellington zu Anatomy of a Murder (Anatomie eines Mordes, USA 1959). Wie Friedrich Geiger zu Recht bemerkt, sind die musikalischen Nummern des Films „Zitate der Genres Jazz, Rock oder Beat“ (1998, S. 40). Diese Heterogenität zeigt sich bereits in der Titelsequenz des Films. Es ist die erste Musik, die man im Film hört. Sie fängt mit einer Solo-Gitarre an (gespielt von dem Jazzveteranen Jim Hall); und man weiß nicht so genau, ob die Musik der Gattung Rock oder Jazz zuzuordnen ist. „Musical practices overlap genres in many cases“, schreibt Fellezs (2011, S. 6); daher lässt sich Musik oft nur aus dem Kontext heraus einer bestimmten populären Gattung zuordnen. Auf einmal, nach nur 42 s (also direkt in der Mitte der Titelsequenz) hört die Gitarre auf, und wir hören einen Bläsersatz, wie er im Hardbop oder Post Bop der frühen 1960er zu hören war (zum Post Bop und der Rolle von Herbie Hancock und Miles Davis bei seiner Entstehung, siehe Yudkin 2008). Es gibt kaum einen Übergang zwischen den beiden Musikteilen; insofern könnte man dies als „harten Schnitt“ zwischen Stilen oder gar Gattungen benennen. Bei manchen Musikausschnitten ist es sogar manchmal „unklar[…], ob sie überhaupt von Hancock stammen, weil sie nicht auf dem Soundtrack vertreten sind“ (Geiger 1998, S. 40). Zudem finden sich Liedzitate, wie in der Fotoshooting-Sequenz: Der Song heißt Did You Ever Have to Make Up Your Mind? und erschien auf dem Debütalbum Do You Believe in Magic (1965) der Popgruppe Lovin’ Spoonful. Der Text bezieht sich auf die sexuelle Freiheit, die im Film gezeigt wird: „Sometimes you really need a girl/And you get distracted by her older sister.“ Ein anderes Lied, das nur wenig später im Radio läuft und die Textzeile „Get you in a whole lot of trouble“ enthält, ist noch nicht identifizierbar. Obwohl Herbie Hancock eine neue Musik für das Ende des Films komponiert hat, verwendet Antonioni einfach die Musik der Titelsequenz wieder und lässt die andere Musik weg. Antonionis drastische Kürzung von Hancocks eigens komponierter Musik löst zuerst Ärger und Unverständnis bei dem Komponisten aus. Erst nachdem er den Film mehrmals gesehen hat, versteht Hancock den Sinn dieser Reduktion (vgl. Hancock 2014, S. 95–101; auch Fricke 1996, S. 15). Darin ähnelt Antonionis Umgang mit Musik demjenigen von Jean-Luc Godard, der versucht hat, „to involve music in… the most powerful attribute of cinema, montage“ (Gorbman 2007, S. 154). Dass Antonioni soviel von Hancocks Musik ausgelassen hat, bedeutet, dass es verschiedene Varianten oder Versionen dieser Musik gibt, und dass sie kaum einen einheitlichen Werkcharakter besitzt. Nicht nur hat Hancock die Musik ein zweites Mal eingespielt, weil er mit den Londoner Musikern unzufrieden war, auch enthält der Soundtrack, den man jetzt auf CD findet, Stücke, die ursprünglich geplant waren, aber dann ausgelassen wurden, wie zwei Lieder der kurzlebigen englischen Gruppe Tomorrow (Abb. 37). Die Musik, die man hört, wenn man sich auf DVD die Version ohne gesprochenen Dialog anschaut, weicht auch gelegentlich von der Musik mit Dialog ab. Es gibt also keinen einzigen oder einmaligen Soundtrack, sondern mehrere. Musikberieselung in der neuen Kontrollgesellschaft Wie schon früher bemerkt, wird Musik von Antonioni eingesetzt, um ein historisches und lokales Milieu zu

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Abb. 37   Der Soundtrack zu Blow Up wirbt mit Herbie Hancocks Namen. Im Film hört man aber auch Musik, bei der sich Experten uneinig sind, ob sie von Hancock stammt, da sie nicht auf dem Soundtrack wiederzufinden ist. Wiederum beinhaltet der Tonträger Stücke, die nicht in Blow Up Verwendung fanden. (© MGM Records)

charakterisieren. Geiger schildert diese Funktion (eine „subkutane Darstellung“) wie folgt: Antonioni zeigt einen Alltag, in dem permanent Musik konsumiert wird. Diesen Eindruck erweckt er durch mehrere Kunstgriffe. Erstens durch die stilistische Vielfalt der erklingenden Musik. Zweitens grundiert sie die verschiedensten Situationen: Sie begleitet Thomas’ Arbeit, sie lärmt ihm im Beatclub, die Models tanzen zu ihr, sie bildet den Hintergrund zu Gesprächen, sie wird beim Autofahren gehört und als Thomas die Vergrößerungen betrachtet. Auch beim Sex läuft das Radio. Zudem wird sehr häufig in Szene gesetzt, wie Thomas den Plattenspieler oder das Radio einschaltet. Er erscheint als typischer Vertreter einer Generation, die der unablässigen Berieselung bedarf (1998, S. 41).

Diese völlige Funktionalisierung der Musik gibt das Drehbuch selbst zu. Thomas (David Hemmings), der Hintergrundmusik als Stimulanz für seine Arbeit benötigt, ruft beim Fotoshooting seinem Assistenten zu: „Reg, let’s have some noise!“ (Antonioni zit. nach Wake 1971, S. 29). Musik ist also mit noise – Lärm oder Geräusch – praktisch identisch. Es geht nur um den „Sound“. Wie wir sehen werden, verhält Antonioni sich buchstäblich „kritisch“ (im Sinne des griechischen κρίνειν, das „trennen“ oder „unterscheiden“ heißt) zu dieser Gleichstellung, denn sein Film möchte die Unterschiede zwischen Lärm und Musik oder Musik und Stille wiederherstellen. Antonionis Film, und besonders dessen Musikeinsatz, lässt sich mit Gilles Deleuze’ Überlegungen zu den neuen Kontrollgesellschaften (sociétés de contrôle) besser verstehen. Deleuze (1990) hat diese (mit dem Hinweis auf Paul Virilio) charakterisiert als „die ultra-schnellen Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen, die alte – noch

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innerhalb der Dauer eines geschlossenen Systems operierenden – Disziplinierungen ersetzen“ (1993, S. 255). Die alten Disziplinierungen waren noch an konkrete Räumlichkeiten gebunden, wie jene staatliche Wohlfahrtseinrichtung für Obdachlose, mit der Blow Up bezeichnenderweise beginnt. Die neuen Kontrollgesellschaften werden von Deleuze genauso kritisch betrachtet wie die coole Mode-Szene des Swinging London von Antonioni. In beiden Fällen handelt es sich um einen Übergang von der alten kapitalistischen Industriegesellschaft zu einer neueren der Dienstleistung. „Es ist ein Kapitalismus der Überproduktion[…]. Was er verkaufen will, sind Dienstleistungen, und was er kaufen will, sind Aktien. Dieser Kapitalismus ist nicht mehr für die Produktion da, sondern für das Produkt, das heißt für Verkauf oder Markt. Daher ist sein wesentliches Merkmal die Streuung“ (ebd., S. 259–60) und auch – so möchte man hinzufügen – die Zerstreuung seiner Individuen. „Marketing heißt jetzt das Instrument der sozialen Kontrolle“ (ebd., S. 260). Das bedeutet auch „persönliches“ Self-Marketing und Selbstdarstellung, wie sie die Models in Blow Up (und ihre Anwärterinnen) betreiben. „In den Kontrollgesellschaften ist das Wesentliche nicht eine Signatur oder eine Zahl, sondern eine Chiffre: Die Chiffre ist eine Losung [auf Französisch „mot de passe“, A.d.V.]“ (S. 258). Solch eine Chiffre taucht im Film auf: der Code des coolen Benehmens. Und wie wir noch sehen werden, nutzt Thomas die Jazzmusik, um der unbekannten Frau (Vanessa Redgrave), den Code der Coolness beizubringen. Wie kann Antonioni nun diese Gesellschaft darstellen, ohne ihre fragwürdigen Reize einfach zu duplizieren? Die Strategie des Regisseurs ist es, sehr spärlich mit Musik umzugehen, gerade weil das dargestellte Milieu eines der Selbstkontrolle durch ständige Musikberieselung ist. Von seinen 111 min sind nur 21 mit Musik begleitet, und manche davon sind nur leise im Hintergrund zu hören (wie das klassische Underscoring). Man muss auch Geigers oben zitierte Schilderung der Musik in einem Punkt korrigieren: Die Musik spielt gerade nicht, wenn Thomas die Vergrößerungen der Fotografien betrachtet. Obwohl die Jazzmusik das Milieu charakterisiert, ist sie nicht der primäre Motor der Erzählung (und hat somit nur begrenzt Levinsons „narrative agency“). Die Erzählung, das Whodunit, wird vielmehr durch das Schweigen vorwärtsgetrieben – also eigentlich durch Löcher im Soundtrack, in einer Musik, die sich ständig zurücknehmen oder selbst auslöschen muss. Was Hancocks Filmmusik zur Erzählung von Blow Up beitrage, sei „Drive“ (Trieb, Impuls), so De La Motte-Haber und Emons (1980). Solch einen „Drive“ kann man in der Regel in Beziehung zu den „vorwärtstreibenden“ narrativen Codes eines Films setzen – Strategien der Textstrukturierung, wie sie Roland Barthes (1970) in seinem Buch S/Z unterschieden hat, etwa der hermeneutische Code (das Setzen eines Rätsels und seine spätere Auflösung) und der proairetische Code (Gegensätze und Korrelate in der Handlungskette). Doch das Besondere bei Antonioni ist, wie gesagt, dass die filmische Erzählung genauso vom Verschwinden der Musik wie von ihrer Präsenz angetrieben wird. Man kann Antonionis Einsatz von Musik nur als lakonisch bezeichnen. Schon die Titelsequenz – der Teil eines Films, bei dem Komponisten die größte Freiheit genießen, und der in klassischen Hollywoodpartituren so lange wie eine Opernouvertüre dauern

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kann (man denke etwa an die Titelsequenz von Alfred Hitchcocks und Bernard Herrmanns Psycho, USA 1960) – dauert bei Antonioni keine zwei Minuten (1′42″). Viele der anderen Musikteile sind auch nur Akzente oder Schnörkel (auf Englisch „flourishes“), die eine Szene kurz einleiten, um schnell danach zu erlöschen: meist durch Blenden, sodass man das Ende der Musik kaum bemerkt. Der Film kann bis zu 10 min ohne jegliche Musik laufen: In der Schlüsselsequenz, als Thomas den Mord in den vergrößerten Fotografien entdeckt und dann den Leichnam im Park findet, hören wir zwanzig Minuten lang keine Musik (von etwa 62’ bis 84’). Das Bewusstwerden der Hauptfigur ist nicht zu trennen von seinem Aufwachen aus dem „traumlosen Traum“ (Theodor W. Adorno über die Kulturindustrie) der Musikberieselung. Die Musik als Akteur In zwei Szenen aber tritt die Musik in den Vordergrund und wird selbst zum Akteur. Die erste Sequenz ist das Yardbirds-Konzert im Musikklub. Die Yardbirds sind eine kurzlebige, aber sehr einflussreiche Band (1963–1968), in der drei der berühmtesten Rockgitarristen spielen: Eric Clapton, Jeff Beck und Jimmy Page, der danach Led Zeppelin begründet. Der Popmusikhistoriker Paul Friedlander beschreibt die große Disparatheit des Yardbird-Sounds: „ranging from the gritty, bluesy Howlin’ Wolf cover ‚Smokestack Lightning‘ to a bouncy ‚Good Morning Little Schoolgirl‘… and the prepsychedelic hit ‚Shapes of Things‘“ (2006, S. 210). Schon der Name der Yardbirds war eine Hommage an Charlie „Bird“ Parker. In Blow Up spielen sie den Song Stroll On: ein Cover (mit anderem Text) von Train Kept A-Rollin’, einem Rhythm-and-Blues-Lied von Tiny Bradshaw aus dem Jahre 1951, das ursprünglich als Jump Blues gespielt wurde. Jump Blues ist eine schnelle Form des Blues und markiert den Übergang vom Jazz zu Rhythm-and-Blues und Rockmusik. Antonionis Sequenz hat viele Pendants in anderen Filmen der Zeit, die alle das neue Phänomen des Rockkonzerts dokumentieren wollen. Man denke an die Tanzszenen in Jürgen Böttchers Jahrgang’45 (DDR 1966), Andrzej Wajdas Wszystko na sprzedaż (Alles zu verkaufen, POL 1967) oder Polowanie na muchy (Fliegenjagd, POL 1969), an Wim Wenders frühe Filme, wo ganze Rocklieder in einer Einstellung aufgenommen werden (Summer in the City, BRD 1970). Die Sequenz bildet nur eine Episode im Film und unterbricht die zentrale Ermittlung des unaufgeklärten Mordes. Wichtig ist hier die Zerschlagung der Gitarre durch Jeff Beck. Damit imitiert er – auf Antonionis Bitte – die legendäre erste Gitarrenzerschlagung, die 1964 durch Pete Townshend von The Who stattfand. Die Szene ist also nicht derart spontan entstanden, wie es wirken soll. Thomas entreißt den aufgeregten Zuhörern den gebrochenen Gitarrenhals, nachdem Beck ihn ins Publikum geschleudert hat. Doch sobald er allein auf der Straße ist, wirft er das Stück gleichgültig weg, denn es hat keinen Wert außerhalb des Konzertraumes. Allerdings wird die Sequenz nicht authentisch in einem Londoner Club gedreht; Antonioni lässt im Studio eine Reproduktion des damals bekannten Ricky Tick Club in Windsor aufbauen, inklusive der Graffitis an den Wänden (vgl. Calabretto 2011, S. 167). Laut dem Schlagzeuger Jim McCarty sei die von Antonioni arrangierte Bewegungslosigkeit des Publikums in Blow Up untypisch für das Verhalten der Zuhörer bei ihren Konzerten (vgl. ebd., S. 168). So haben, als die Yardbirds im Crawdaddy Club

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spielen, einige Zuhörende an den Dachsparren gebaumelt („swing from the rafters“, McCarty zitiert nach Bacon 1999, S. 60). Die zweite Szene ist noch wichtiger: Sie ereignet sich zwischen Thomas und der unbekannten Frau (Vanessa Redgrave), die ihn fasziniert, weil sie sich von den anderen Londoner „birds“ („Mädels“, eigentlich wie „chicks“, also „Küken“) unterscheidet. Von den „birds“, so hatte Thomas seinem Verleger Ron erklärt, sei er übersättigt. Die Unbekannte aber spielt nicht cool, verkauft sich nicht, hat kein Image, sondern ist sichtlich nervös. Und Thomas versucht, ihr etwas Gelassenheit beizubringen – mittels Musik. Er legt eine Schallplatte auf, raucht mit ihr, und erklärt ihr, wie sie sich zur Musik verhalten soll: „slowly, slowly, against the beat“, gegen den Pulsschlag (Antonioni zit. nach Wake 1971, S. 73) (Abb. 38). Hancock hat seine Musik der Anleitung Thomas’ entsprechend komponiert: „I couldn’t make it a straight ballad. It had to be balladlike but also walk along because his lines were for Vanessa Redgrave to go against the music“ (zit. nach Fricke 1996, S. 14). Die Musik hat hier eine verhaltenskontrollierende Funktion. Sie ist das eigentliche Medium des „coolen“ Verhaltens, wie schon in der emblematischen Miles DavisLP Birth of the Cool (1949). Als Training im richtigen Benehmen funktioniert sie wie eine Psychotechnik. Hier auch, wie in der Yardbirds-Sequenz, unterbricht die Konzentration auf die Musik den eigentlichen Erzählstrang (Ziel der Unbekannten ist es schließlich, die Filme von Thomas zu bekommen). Thomas verwendet die Musik, um die Zeit zu verlangsamen und Intimität mit der faszinierenden Frau herzustellen. Man könnte auch meinen, er benutze die Musik als Täuschungsmanöver: um sie von ihrem Versuch, die Filme zu bekommen, abzulenken. Wie sich Coolness bei einer Betrügerei strategisch einsetzen lässt, hat Erving Goffman in einem interessanten Aufsatz mit dem Titel „On Cooling the Mark Out“ beschrieben (ein „mark“ ist in der Umgangssprache ein Betrogener): Sometimes, however, a mark is not quite prepared to accept his loss as a gain in experience and to say and do nothing[…]. One of the operators [der Betrüger, A.d.V.] stays with the mark and makes an effort to keep the anger of the mark within manageable and sensible proportions. The operator stays behind[…] in the capacity of what might be called a Abb. 38   „Slowly, slowly, against the beat!“ Mit Jazzmusik gibt der Fotograf der Besucherin eine Lektion in Coolness.   Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.) 

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cooler and exercises upon the mark the art of consolation. An attempt is made to define the situation for the mark in a way that makes it easy for him to accept the inevitable and quietly go home. The mark is given instruction in the philosophy of taking a loss. (1952, S. 452)

Das beschreibt ziemlich genau die Situation in Blow Up: Die Unbekannte muss dazu gebracht werden, ihren Verlust der Fotos zu akzeptieren und bekommt zum Ausgleich eine Einweisung in kultivierter Distanz. Sie soll durch die Musik und den Rausch versöhnt werden. Thomas spielt hier buchstäblich die Rolle eines Geschäftsmannes, welcher der Frau die Kunst des Image-Managements beibringt. Der Film zeigt uns, wie sich Coolness-Attitüde und wirtschaftliches Kalkül verbinden lässt. Denn Thomas will sich den Besitz der Fotos von der Frau nicht streitig machen lassen, schließlich hat er die Bilder für seinen Fotoband fest eingeplant. In der Sprache des Systemtheoretikers Talcott Parsons ist die Coolness-Attitüde ein Output des kulturellen Systems, das an andere soziale Teilsysteme (wie zum Beispiel jenes der Wirtschaft) weitergegeben wird. Consumerism and its ethos of cool were in fact the flip side of professionalism, of a heightened differentiation of roles between job and family. If consumerism entailed any ‚challenging of norms‘, it was only through a relocation of control to the medium of money, away from more traditional value commitments (Powell 2013, S.33).

Wir können jetzt – soziologisch informiert – die Rebellion der Mod-Szene genauso wenig für bare Münze nehmen, wie seinerzeit Antonioni. Aber es wäre auch falsch, in dem Film eine konventionelle moralische Verurteilung der Londoner Szene zu sehen. „Es wäre sicher voreilig, hieraus auf ‚Dezisionismus‘, Relativismus oder grundsätzliche Beliebigkeit des ‚anything goes‘ zu schließen“ (Luhmann 2008, S. 240). Dass Werte sich ändern, bedeutet eher eine Umstellung von normativen auf kognitive (lernbereite) Erwartungen (vgl. ebd., S. 36). „Der Zusammenbruch“ einer alten Werthierarchie oder einer Gesetzeshierarchie „kann aber nicht so verstanden werden, dass nun alles variabel und kontingent geworden ist. Gerade, weil Kontingenzbeobachtungen sich ausbreiten, kommt es zu einer Neuformulierung von damit kompatiblen ‚Werten‘“ (Luhmann 1997, S. 401–402). In einer Hinsicht aber nimmt die Filmmusik Anteil am Rätsel von Blow Up. Und dabei erhält sie etwas von einer narrativen Handlungsmacht. Obwohl Antonioni bemüht ist, die Musik auf ihre diegetische Erscheinung zu beschränken (vgl. Abb. 39), bleibt er schließlich nicht ganz konsequent. Oft wird die im filmischen Raum erklingende Musik ein- oder ausgeblendet, ohne dass wir die Schauspieler die Lautstärkenregelung benutzen sehen. Wenn die Unbekannte (Redgrave) auf ihre Uhr sieht und bemerkt „it’s late“, dann verstummt die Musik auf einmal ohne sichtbare Ursache. Vermittelt wird so die Sorge der Frau, welche die verführerische Musik sozusagen verdrängen und ausblenden muss. Es wirkt, als wäre sie aus dem gemeinsamen Traum und Rausch aufgeweckt wurde. Und wenn Thomas sagt „Listen to this!“, wird die Musik lauter, ohne dass er die Lautstärke aufgedreht hat.

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Abb. 39   In Blow Up erklingt alle Musik innerhalb des Handlungsraums (nur Vor-/Abspann enthalten extradiegetische Musik). Doch werden Einsatz und Lautstärke der gezeigten Abspielgeräte (a+b) extradiegetisch gesteuert – wie von einer unsichtbaren Macht. Diese Verletzung der Grenze zur Erzählwelt erschafft, zusammen mit den geisterhaften Wind- und Tennisballgeräuschen, ein akustisches Pendant zu den unzuverlässigen Bildern.   Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.) 

In solchen Momenten verwischt Antonioni die Grenze zwischen diegetisch und nichtdiegetisch (zu der Porosität dieser Grenze: Stilwell 2007). Die Musik (zusammen mit ihrer Abwesenheit: der Stille) scheint zum subjektiven Ausdruck der Figuren geworden zu sein: zu ihrer ortlosen Stimme. Das ist vergleichbar mit dem Wind in den Parkbäumen, die Thomas später in seiner Wohnung beim Betrachten der Fotos hört, und mit den Geräuschen des fiktiven Tennisballs, die er wahrnimmt oder sich einbildet. Hier hat Musik auf diskrete Weise doch eine syntaktische Funktion übernommen, diejenige, zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu vermitteln (vgl. Abb. 40). Blow Ups Vermächtnis Fünfzehn Jahre später verfilmt Brian De Palma mit Blow Out (USA 1981) eine Hommage an Blow Up, wobei die „narrative agency“, die bei Antonioni der visuellen Technologie zukommt, nun durch eine auditive (die der Tonaufnahme) ersetzt wird. Mitte der 1970er haben Francis Ford Coppola in The Conversation (USA 1974) und Alan J. Pakula in Klute (USA 1971) bereits der Audiotechnik eine zentrale narrative Funktion zugewiesen; gerade in dieser Zeit werden die neuen Technologien des Dolby und Surround Sound entwickelt (vgl. Sergi 2004). Während bei Pakula die Prostituierte (Jane Fonda) am Ende durch den Detektiv gerettet wird, bleibt Coppolas Held Harry Caul (Gene Hackman) hilf- und ratlos zurück. Genauso ist es in De Palmas Blow Out: Der Toningenieur Jack Terry (John Travolta) kann seine Freundin nicht vor dem Mörder retten und hat schließlich nur ihren Todesschrei auf Band übrig, den er zynisch-resigniert für einen billigen Pornofilm verwenden kann. Auch hat Terry – im Gegensatz zu Antonionis Thomas – kaum neue Erkenntnisse aus seiner Geschichte gewonnen: Terry endet, wie er begann, in der unentrinnbaren Korruption des PornoGeschäftes und mithin der genauso (politisch) korrupten US-amerikanischen Gesellschaft. In Antonionis Blow Up scheitert zwar die Ermittlung, doch die Ästhetik des Films sieht noch die Möglichkeit vor, dass man durch Askese und Distanz etwas von der Wirklichkeit erkennen kann. In De Palmas Blow Out ist diese Hoffnung verloren und weicht einer ironischen Resignation (die gelegentlich als „postmodern“ glossiert wurde, so

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Abb. 40   In dieser Graphik, die von Roman Mauer entwickelt und von Daniela Maisenbacher gestaltet wurde, sind die akustischen Ebenen des Films Blow Up quantitativ dargestellt. Die Basis bildet die Timeline, die zugleich die Abfolge der Räume zeigt. Darüber wurden die diegetischen Tonbereiche (Stille, Geräusche, Dialoge, Musik) und non-diegetischen Anteile (Intro-/Outro-Musik) festgehalten. Klar erkennen lässt sich, dass die Symmetrien in der Raum-Dramaturgie zu einer akustischen Rhythmisierung des Films führen. Heraus sticht dabei die Identität von Park und Stille, die ein kontemplatives Gegengewicht zur Stadt (laute Geräusche), zum Studio (Dialoge, Musik) und der Livemusik (Rockkonzert) bildet. Die gezackte Kluft markiert die Grenze zwischen Diegese und Non-Diegese – also dem Innen und Außen der Erzählwelt, eine Grenze, die mehrfach angegriffen und metaleptisch durchbrochen wird: visuell (Rechtecke) und auditiv (Kreise). Die dunklen Kreise mit Sternchen bezeichnen die ominösen MetaGeräusche (Windrauschen, Tennisball), die helleren Kreise die unmerkliche, extradiegetische Steuerung der Musik (Fade In/Out bei Radio oder Schallplatten) in den Innenräumen. (© Mauer/Maisenbacher)

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Abb. 41   Wie viele Spuren Blow Up der Filmwelt hinterlassen hat, lässt sich anhand der Filme zeigen, die dem Werk später mehr oder weniger offensichtlich ihren Tribut zollten. Hier John Travolta in Brian de Palmas Blow Out: ein Film der die Suche nach einem Mord von der Bild- auf die Tonebene überträgt.  Quelle: Blow Out (USA 1981, © MGM)

Jameson 1995, S. 82; auch 1992, S. 19–21; noch kritischer Horning 1982). In Blow Out ist das Tonband am Ende so wertlos wie der Gitarrenhals in Blow Up. Dieser Sinnverlust mag an der Verlagerung vom Auge zum Ohr liegen. In einer Schlüsselszene „sieht“ Terry die Bilder zu den Geräuschen des Autounfalls, so wie Thomas in Blow Up den Wind in den Bäumen zu seinen schweigenden Fotos „hört“. Aber das Ohr hat nicht dasselbe ontologische Fundament wie das Auge; deswegen kann Jameson schreiben: In Blow Out sei „the ontological medium of sight[…] strategically replaced by the ‚textuality‘ of sound“ (1992, S. 267). Mit „textuality“ meint Jameson gerade das Manipulieren der Geräusche, die wir ebenso im Film „sehen“ können, und zwar in Terrys Geräuschelabor (Abb. 41). Auch die Musik in Blow Out beteiligt sich an der filmischen Ästhetik der Ironie. In general, [Pino] Donaggio – who also scored Carrie, Home Movies, Blow Out, Body Double, and Raising Cain for De Palma – provides a deadpan pastiche of utterly generic „film score“ cues. Pure cinema, as Hitchcock conceptualized it, is dependent on orchestral music for its affect, and De Palma – again like Hitchcock – relies on familiar musical tropes to achieve certain affective goals (Dumas 2012, S. 55).

De Palmas Musikeinsatz ist dem von Antonionis diametral entgegengesetzt. Antonioni widersteht einer dramaturgischen Überhöhung durch Musik, De Palma gibt ihr nach. Besonders eklatant ist das in der Mordszene, als Terry die Leiche der gerade getöteten Frau in seine Arme nimmt: Da explodieren Feuerwerke am Himmel zu Ehren des Liberty Day in Philadelphia, und eine anschwellende Musik unterstreicht unverhohlen das Pathos. Schon die damaligen Rezensenten bedauern, dass die Thriller-Elemente in Blow

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Out die Aspekte verdrängen, die mit Terrys Aufdeckung einer politischen Vertuschung zu tun haben. Das geschieht nicht zuletzt durch die Musik (vgl. ebd., S. 179), die nicht nur für Liebesszenen eingesetzt wird, sondern auch für dramatische Handlungen (wie der Verfolgungsjagd am Ende) und den Wunsch des Politikers kommentiert, die Begleitung einer Edelprostituierten beim Tod des Gouverneurs zu verschleiern. Da Pathos und Ironie einander durchkreuzen und die Waage halten, wissen die Zuschauenden genauso wenig wie Terry, wie sie auf den Tod emotional reagieren sollen. Im Gegensatz zur Stille bei Antonioni, welche die Möglichkeit eines Auswegs aus der Kontrollgesellschaft andeutet, besagt die ständige Musik bei De Palma, dass es keinen Ausgang aus einer geschlossenen Gesellschaft mehr geben kann. Exemplarische Filme Thema: Filme der 1950er–1960er Jahre mit Jazz-Soundtrack A Streetcar Named Desire (Endstation Sehnsucht, USA 1951, Elia Kazan) K: Alex North The Glenn Miller Story (Die Glenn Miller Story, USA 1954, Anthony Mann) K: Glenn Miller Pete Kelly’s Blues (Es geschah in einer Nacht, USA 1955, Jack Webb) K: Ray Heindorf The Man With The Golden Arm (Der Mann mit dem goldenen Arm, USA 1955, Otto Preminger) K: Elmer Bernstein The Benny Goodman Story (Die Benny Goodman Story, USA 1956, Valentine Davies) K: Henry Mancini/I: Benny Goodman Sweet Smell of Success (Dein Schicksal in meiner Hand, USA 1957, Alexander Mackendrick) K: Elmer Bernstein/I: Chico Hamilton Jonas (D 1957, Ottomar Domnick) I Want to Live! (Laßt mich leben, USA 1958, Robert Wise) K: Johnny Mandel Touch of Evil (Im Zeichen des Bösen, USA 1958, Orson Welles) K: Henry Mancini Anatomy of a Murder (Anatomie eines Mordes, USA 1959, Otto Preminger) K: Duke Ellington Les Liaisons Dangereuses (Gefährliche Liebschaften, I/F 1959, Roger Vadim) I: Art Blakey, Barney Wilen Odds Against Tomorrow (Wenig Chancen für morgen, USA 1959, Robert Wise) K: John Lewis Shadows (Schatten, USA 1959, John Cassavetes) I: Charles Mingus, Shafi Hadi The Five Pennies (5 Pennies, USA 1959, Melville Shavelson) K: Leith Stevens Kyōnetsu no kisetsu (The Warped Ones, J 1960, Koreyoshi Kurahara) À bout de souffle (Außer Atem, F 1960, Jean-Luc Godard) K: Martial Solal All Night Long (Die heiße Nacht, GB 1962, Basil Dearden) K: Philip Green Nóż w wodzie (Das Messer im Wasser, PL 1962, Roman Polański) K: Krzystof Komeda Smog (I 1962, Franco Rossi) K: Piero Umilani/I: Chet Baker The Cool World (USA 1963, Shirley Clarke) K: Mal Waldron/I: The Dizzy Gillespie quintet Mickey One (USA 1965, Arthur Penn) K: Eddie Sauter/I: Stan Getz In Cold Blood (Kaltblütig, USA 1967, Richard Brooks) K: Quincy Jones

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4 Theorien der Gestaltungsanalyse im Vergleich Roman Mauer Seinen letzten Langfilm Al di là delle nuvole (Jenseits der Wolken, I/F/D 1995) konnte Antonioni wegen der Folgen eines Schlaganfalls nicht mehr allein realisieren. Es ist bezeichnend, dass ihm dabei Wim Wenders als Ko-Regisseur zur Seite stand. Beide verbindet die Liebe zum Bild und das Misstrauen gegenüber (standardisierten) Dramaturgien. In Wenders’ Film The State of Things (Der Stand der Dinge, BRD/USA/Portugal 1982) streiten sich der deutsche Autorenfilmer Munro und der US-amerikanische Produzent Gordon über Narration. „Ein Film ohne Geschichte, das hält nicht,“ meint Gordon. „Genauso gut könntest du ein Haus ohne Mauern bauen. Aber es gibt kein Haus ohne Mauern. Filme brauchen Mauern.“ Munro entgegnet: „Warum Mauern? Der Raum zwischen den Menschen kann die Decke tragen.“ In seinem Beitrag zur Bildtheorie fordert Thomas Meder (Abschn. 2): „Nimmt sich der Film als Bild-Kunst ernst, kann er sich daher nicht damit begnügen, nur Instrument von Erzählungen zu sein, die in Story und Plot fundiert sind. Vielmehr obliegt es den Macher*innen, prägnante SehEindrücke im Rahmen der zeitlichen Gesamtkomposition vorzuhalten, die außerhalb der Erzählung wirksam werden.“ Für David Bordwell ist allerdings, wie im ersten Beitrag zu lesen war (Abschn. 1), das gesamte audiovisuelle Gewebe des Films Ausdruck der Erzählung, die sich in den gewählten Stilmitteln erst materialisiere. Die Frage stellt sich, ob das Bewusstsein der Zuschauenden nicht beständig auf der Suche nach Kohärenz ist und bestrebt, Verbindungen zwischen den visuellen und auditiven Elementen zu suchen, um diese im Rahmen der Narration sinnstiftend einzuordnen. Es war und ist sicherlich das Ziel von Antonioni, Wenders (oder Vertreter*innen des Slow Cinema), die narrative Pulsation derart zu verlangsamen und die erzählerischen Bindungskräfte so auseinanderzuziehen, dass sich ein Raum öffnet für die eigenständige Wirkung des Bildes oder des Tons: Wenn die Kamera bei Wenders unvermittelt abschweift und dem Flug eines Vogels folgt (Alice in den Städten, BRD 1974), wenn die rätselhaften Bilder von Straßen (L’eclisse), dem pantomimischen Tennisspiel (Blow Up) oder dem Zeitlupen-Ballett explodierender Dinge (Zabriskie Point) sich zu eigenen Kurzfilmen verselbstständigen, scheinen sie die Geschichte zu verdrängen. Doch dieser Streit lässt sich auch beruhigen, wenn wir zwischen den kausalen Motiven (des Plots) und den ästhetischen Motiven (des

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Themas) unterscheiden, aber beide als zwei zentrale Säulen der Erzählung begreifen. Der Plot kommt hier zum Stillstand, doch das Thema der Erzählung wird vertieft und das Publikum angeregt: sowohl zur Reflexion über als auch zur Hingabe an Atmosphäre, Schönheit, Geheimnis, welche die Erzählwelt charakterisieren, in der sich unsere Hauptfiguren bewegen. Aufhorchen lässt, dass auch in dem dritten Beitrag (Abschn. 3) eine Vereinnahmung angesprochen wird – in diesem Fall die Vereinnahmung des Tons durch das Bild – und dass Szenen in Blow Up identifiziert werden, in denen die Musik selbst federführend zur Handlungsmacht wird. Larson Powell erinnert daran, dass sich Antonioni in den vorherigen Filmen gegen den Einsatz von Musik ausgesprochen hat und nun in Blow Up die Rezeption von Musik zum Thema macht. Es ist kein Zufall, dass diese Reibung zwischen Narration und Bild, Bild und Ton, Narration und Musik in den drei Beiträgen diskutiert wird. Aus zwei Gründen. Zum einen, weil Blow Up die jeweiligen Künste, die hinter diesen Gestaltungsverfahren Pate stehen (Literatur, Malerei und Fotografie sowie Musik), wie in einem inneren Monolog erforscht, problematisiert, reflektiert. Mit Blick auf das Erzählen: Wie entsteht eine Geschichte und wie willkürlich sind dabei die Mechanismen der Selektion und Kombination? Was bedeutet die Erzählung für die Identität eines Menschen und was bleibt ihm, wenn ihm niemand seine Geschichte glauben will? Mit Blick auf die Bildtheorie: Was resultiert aus der ikonischen Differenz zwischen Film und Fotografie? Wo liegt und wo scheitert die Erkenntnis zwischen Dokumentation und Abstraktion? Mit Blick auf den Ton: In der Gegenüberstellung der ekstatischen Jazz- oder Rockmusik oder der langen Passagen der Stille (und des Windes), wo liegt die eigentliche Authentizität und wo der Ausweg aus der Konditionierung durch die Kulturindustrie? Der andere Grund ist, dass Antonioni nicht nur einen inhärenten Diskurs über die Bedeutung der Künste führt, sondern den zugehörigen Gestaltungsverfahren auch ihre Autonomie zugesteht, sie separiert, kontrastiert oder gar kollidieren lässt. Für die Zuschauenden, die auf eine Auflösung des detektivischen Enthüllungsplots hoffen, sind sowohl das Live-Konzert als auch das Tennisspiel im letzten Akt Irritationen. Es ist kein Zufall, dass Martin Seel in seinem Buch Die Künste des Kinos (2013) vielfach Antonionis Werke zur Anschauung konsultiert. Die Separation, Kollision und Reflexion der Künste im Film, so wie sie Antonioni betreibt, antworten auf kluge Weise auf einen Diskurs, welchen die Filmtheorie seit den frühen Tagen des Kinos führt. Da geht es um die Frage nach der Reinheit der kinematographischen Kunst (cinéma pur) angesichts des Stelldicheins, das sich die anderen Künste (Architektur, Malerei, Musik, Theater, Literatur etc.) im Film geben. Sowohl die frühere Filmtheorie als auch avantgardistische Filmkunst waren darum bemüht, den Film auf der Suche nach einer genuinen Ästhetik von den anderen Künsten abzugrenzen; Dziga Vertov schreibt: „Wir protestieren gegen die Ineinanderschiebung der Künste, die viele eine Synthese nennen. […] Wir säubern die Filmsache von allem, was sich einschleicht, von der Musik, der Literatur und dem Theater […]“ (Vertov 1998, S. 31 f.). Doch eine andere Argumentationslinie, die von André Bazin bis Alain Badiou reicht, entdeckt gerade in der Unreinheit der Filmkunst großes Potential, plädiert für ein

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cinéma impur, welches die Besonderheiten anderer Künste aufzuzeigen und in einen Reflexionsraum zu stellen vermag. Die Verknüpfung der Künste im Film führe nicht zu ihrer gegenseitigen Verdrängung, sondern vielmehr zu ihrer Bereicherung: „Der Film eignet sich Kunstformen an, weil er sie braucht und weil wir das Bedürfnis haben, sie durch den Film wiederzuentdecken.“ (Bazin 2004a, b, S. 137). Durch die Koexistenz der Künste im Film entstünden Brüche, die für Badiou von besonderem Wert sind. Denn da, wo das Disparate aufeinandertreffe, entstünden im Film philosophische Situationen (vgl. 2014, S. 279). Mehr noch: Der Film erschaffe an diesen Bruchstellen neue Synthesen, welche die alten philosophischen Konzepte herausfordern und zum Umdenken auffordern würden: Was bringt der Film an Neuem? Nun, ich glaube, der Film führt einen Umbruch. Im Kern dieses Umbruchs steht die Schaffung neuer Synthesen, Synthesen der Zeiten, Synthesen zwischen den Künsten, Synthesen in den Verfahren der Darstellung von Moral. […] Wenn wir ausgehend vom Film philosophische Konzepte entwickeln können, dann so, dass wir die alten philosophischen Synthesen im Kontakt mit den neuen filmischen Synthesen umformen. (ebd., S. 302) 

Auch Martin Seel hebt in Die Künste des Kinos heraus, „dass der Film durch seine Grundanlage selbst philosophisch operiert“ (2013, S. 231). Filme „können in der Art ihrer Gestaltung eine Exposition und Reflexion ihres eigenen Verfahrens oder desjenigen von Filmen im Allgemeinen leisten; kraft ihrer eigenen Formen enthalten sie Elemente einer Theorie des Kinos“ (ebd.). Was Antonioni in Blow Up zu gelingen scheint, wie die drei Beiträge zeigen: Mit seiner Auseinandersetzung mit Narration, Bild und Ton denkt er über Wirklichkeit, Identität, Authentizität und Bildlichkeit nach. Sieht man von den Bestrebungen nach Autonomie ab, so lässt sich aber auch festhalten, dass sich die drei Beiträge ergänzen. Sie liefern Puzzlestücke, die sich zu einer konsistenten Interpretation zusammenfügen. Die Narratologie stellt im dritten Akt den Abbruch des detektivischen Enthüllungsplots und die Verlagerung des narrativen Konflikts in den ontologischen Bereich der Unzuverlässigen Erzählung fest. Die erzähltheoretischen Modelle zur Zeit- und Perspektiven-Analyse heben bestimmte Details scharf hervor, welche die Störungen im Wahrnehmungsgefüge des Films anzeigen. Als eine Abfolge von Täuschungen begreift auch Thomas Meder die Geschichte in Blow Up und deckt mit der Bildtheorie auf, wie dieses Thema im Laufe des Films auf verschiedenen visuellen Ebenen reflektiert wird: durch die Integration von Gemälden (die den Akt der Wahrnehmung behandeln), Gespräche über abstrakte Malerei (und ihre Offenheit für Interpretationen) sowie den Unterschied zwischen filmischem Bild und Fotografie. Dabei erzeugen alle drei Perspektiven jeweils einen eigenen Fokus, der wie in einem Brennglas Details zum Vorschein bringt, welche in einem anderen Schlaglicht verborgen bleiben: zum Beispiel, dass die Unzuverlässigkeit auf der Ebene der ästhetischen Motive verhandelt wird, aber nicht die kausale Ebene des Plots berührt und somit eine doppelte Lesart des Films über das Ende hinaus erhalten bleibt (Narration), dass die Gemälde im Studio des Fotografen einen stummen Diskurs über den Akt der

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Wahrnehmung führen (Bild), dass die intradiegetische Musik extradiegetisch in Einsatz und Lautstärke reguliert wird (Ton). Alle drei Beiträge decken in ihren Bereichen nicht nur gezielte Leerstellen auf, sondern auch eine Hybridität, die gerade Blow Up zu kennzeichnen scheint. Im Bereich der Narration ist da die Mischung aus dem episodischen cinéma du comportement und dem generischen Detektivplot zu nennen sowie die doppelte Lesart, welche die Unzuverlässige Erzählung weder bestätigt noch auflöst. Im Bereich der Bildtheorie lässt sich diese Mischung aus klassischen und modernen Stilmerkmalen nennen, hier Realismus, da Künstlichkeit und Manierismus, hier Bewegung, da Stillstand. Im Bereich der Musik stehen Jazz und Rock teils nebeneinander, teils fusionieren sie. Und die kleinen Differenzen, die der Film mit Blick auf die Fotografien diskutiert („Finde den Fehler!“), finden sich auch beim Vergleich der verwendeten Musikstücke im Film und auf der CD des Soundtracks. Die Unbeständigkeit und Wandelbarkeit der Hauptfigur spiegelt sich auf vielen Ebenen in der Unbestimmtheit der narrativen, visuellen und akustischen Elemente dieses Films. Abschließend lässt sich konstatieren, dass alle drei Beiträge an verschiedenen Punkten Verbindungen zu anderen Theorien gesucht und produktiv gemacht haben. Modelle zur Gestaltungsanalyse scheinen sich demnach durch eine gute Anschlussfähigkeit auszuzeichnen. Zudem liegt es wohl in der Natur der Sache, dass die Beschäftigung mit der Ästhetik Türen in verschiedene Räume öffnet, die sich dann mit anderen Theorien – wie der Genre- und Stiltheorien oder Modelle der kognitiven und quantitativen Analyse, die hier angeklungen sind und nun in den nächsten beiden Kapiteln vertieft werden – begehen lassen.

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Stil- und Genretheorien Claudia Anton und Sebastian Lauritz

1 Stiltheorie und Autorenpolitik Claudia Anton Stiltheorie und Autorenpolitik gehen davon aus, dass sich von Menschenhand geschaffene Erzeugnisse – und insbesondere Kunstwerke – durch wiedererkennbare Eigenarten auszeichnen. Diese Charakteristika lassen sich nicht nur systematisieren und klassifizieren, wie es die Stilkunde tut, sondern erlauben darüber hinaus Rückschlüsse auf die Autorin oder den Autor, ein Begriff, der etymologisch auf das lateinische Substantiv auctor (Urheber*in oder Schöpfer*in) zurückgeht. Der Terminus Stil wiederum ist vom lateinischen stilus abgeleitet, womit seit dem 15. Jahrhundert Schreibgeräte (zugespitzte Stiele oder Griffel) bezeichnet wurden. Bildlich gedacht, schreiben Autoren und Autorinnen mit einem Schreibwerkzeug ihre individuelle Handschrift, während sie zugleich auf einer abstrakten Ebene ihre persönliche Art zu Schreiben (Satzbau, Wortwahl, Rhythmus etc.) verwirklichen. Mit Blick auf andere Künste (Malerei, Musik, Film etc.) ließe sich analog dazu formulieren, dass Künstler*innen durch den spezifischen Gebrauch der ihnen zur Verfügung stehenden Ausdrucksmittel ihren Stil realisieren, was dazu führt, dass ihre Persönlichkeit sich indirekt in das entstehende Kunstwerk einschreibt. Während die Klassifizierung nach stilistischen Distinktionsmerkmalen als naturgegebene Notwendigkeit erscheint und in sämtliche Kunst- und C. Anton (*)  Walluf, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Lauritz  Erftstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Bulgakowa und R. Mauer (Hrsg.), Angewandte Filmtheorie, Film, Fernsehen, Neue Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41089-6_5

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C. Anton und S. Lauritz

Kulturwissenschaften Einzug gehalten hat, ist die Frage nach der Bedeutung der Autorin oder des Autors für die Interpretation eines Werks nicht unumstritten. Zudem sind diese Diskurse um Autorenschaft historisch wandelbar (vgl. Schulte 2021, S. 383 ff.) und in hohem Maße an zeitgeschichtliche und gesellschaftspolitische Kontexte geknüpft, wie im Folgenden zu skizzieren sein wird.

1.1 Theoretische Grundlagen In der Filmwissenschaft geht die Stilanalyse von der Beobachtung der medienspezifischen Ausdrucksmittel des Films aus (Kameraarbeit, Mise-en-scène, Montage etc.) und versucht daraus ein stilistisches System abzuleiten. Eine Analyse vor dem Horizont der sogenannten Autorentheorie zielt ebenfalls auf die Erfassung eines stilistischen Systems, impliziert dabei aber eine Autor-Persönlichkeit als bild- und bedeutungsgebende Instanz, die den spezifischen Stil eines Films generiert. Beide Konzepte (Stilanalyse und Autorentheorie) rekurrieren nicht zwangsläufig auf Regisseure oder Regisseurinnen, obwohl stilistische Analysen zum Gesamtwerk von Filmemachern und Filmemacherinnen (meist im Sinne einer kritischen Würdigung) nach wie vor ein Gros filmwissenschaftlicher Literatur ausmachen. Erst allmählich deutet sich eine Aufwertung anderer Disziplinen, wie beispielsweise der Kameraarbeit, gegenüber der Regie an. So fordert der Film- und Medienwissenschaftler Karl Prümm bereits seit längerem eine „neue filmische Lektüre, die auf den fotografischen Akt bezogen ist“ (1999, S. 15) und formuliert dies explizit in Aufsatztiteln wie: Von der Mise en scène zur Mise en images. Plädoyer für einen Perspektivenwechsel in der Filmtheorie (Prümm 2006). Darüber hinaus verweisen Publikationen wie Kameraautoren. Technik und Ästhetik (Brandlmeier 2008) darauf, dass auch Kameramännern und -frauen eine Autorenschaft im Sinne einer schöpferischen Sinnstiftung zugeschrieben werden kann. Auch das Lehrbuch Filmstile (2016 in derselben Reihe erschienen) beklagt ein Missverhältnis, indem es den Regie-Stil als Dominante filmwissenschaftlicher Analysebestrebungen ausmacht, und konzentriert sich infolgedessen im Kapitel Individualstile auch auf andere Gestaltungsbereiche wie Drehbuch, Schauspiel, Kamera und Licht, Montage, Filmmusik und Sound Design, Architektur und Ausstattung. Trotz dieser Bemühungen ist die Idee, dass Regieführende als schöpferische Instanzen eines Werks die zentrale Bezugsgröße der Interpretation darstellen, bis heute allgegenwärtig, sodass sich die Autorentheorie, wie Jürgen Felix formuliert, vor allem „als Schnittstelle zwischen den akademischen und den populären Diskursen über das Kino“ (2007, S. 9 f.) behauptet. Zahlreiche Monografien, die sich mit dem Leben und dem Gesamtwerk eines Regisseurs oder einer Regisseurin auseinandersetzen, postulieren ein reziprokes Verhältnis zwischen Biografie und Werk und betreiben damit Filmgeschichtsschreibung im Sinne der Autorentheorie. Diverse Interviewbände mit Filmregisseuren, wie beispielsweise François Truffauts Mr. Hitchchock, wie haben Sie das gemacht? (1966, dt. 1973) oder Michelangelo Antonioni. Interviews (Cardullo 2008) belegen darüber hinaus, dass man erfolgreiche Filmemacher

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und Filmemacherinnen gerne als Exegeten ihrer eigenen Arbeiten heranzieht, weil man ihnen im Sinne einer geistigen Urheberschaft auf diesem Gebiet eine natürliche Autorität zugesteht. Nicht zuletzt das Filmmarketing macht sich die Idee einer wiedererkennbaren Handschrift als Qualitätsstandard zunutze, indem es die Namen von Regieführenden zu Markenzeichen stilisiert und beispielsweise The Hateful 8 (USA 2015) auf sämtlichen Plakaten als „The 8th Film by Quentin Tarantino“ ankündigt (Abb. 1). Der Subtext einer solchen Werbebotschaft lautet, dass ein Publikum, welches an bisherigen Filmen Tarantinos Gefallen fand, auch dieses Mal auf seine Kosten kommen wird. Blow Up (GB/I/USA 1966) ist ein Film, der sich sowohl für eine werkimmanente als auch für eine vergleichende Stilanalyse anbietet, weil er einen distinkten und leicht wiedererkennbaren Stil aufweist, der sich von anderen Individual- und Epochalstilen abgrenzen lässt. Zugleich gilt Michelangelo Antonioni aber auch als einer der großen Kinoautoren, dessen Werk nicht nur von thematischen, motivischen und inszenatorischen Konstanten geprägt ist, sondern das auch immer wieder die gleichen Fragen aufwirft und den Regisseur als Reflexionsinstanz hinter den Bildern sichtbar werden lässt. Aus Gründen der Übersichtlichkeit beginnt dieser Beitrag mit einigen Überlegungen zum Stilbegriff und zur Autorenschaft, die – soweit der Raum es zulässt – auch in historischer Dimension entwickelt werden. Im zweiten Teil soll es dann darum gehen, den charakteristischen Stil Antonionis exemplarisch zu umreißen und anzudeuten, inwieweit er als Autor seiner Filme begriffen werden kann und welches Erkenntnisinteresse diese Perspektive impliziert.

Abb. 1   Werbeplakat zu The Hateful 8. Neben dem Titel des Films und dem Bild des Ensembles wird vor allem mit der Information geworben, dass es sich um Quentin Tarantinos achte Regiearbeit handelt. Quelle: CineMaterial; The Hateful 8 (USA 2015, © Universum Film)

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Gruppenstile und Individualstile  Der Stilbegriff bezieht sich in der Filmwissenschaft sowohl auf die spezifische Praxis (also den Umgang mit der Gesamtheit filmischer Ausdrucksmittel) als auch auf die charakteristischen Erscheinungsformen des Endprodukts, die es ermöglichen, den Film geografisch zu lokalisieren, ihn zu datieren und beispielsweise einer bestimmten Epochalströmung (Expressionismus, Neorealismus, Nouvelle Vague etc.) zuzuordnen. Unabhängig von übergeordneten stilistischen Zugehörigkeiten ist es auch möglich, ausgehend von nur einem Film eine Stilanalyse zu betreiben, indem man diesen mit filmanalytischem Handwerkszeug (wie im Lehrbuch Filmanalyse, 2014, in derselben Reihe ausführlich beschrieben) unter die Lupe nimmt und dabei alle – oder auch nur vereinzelte – Verfahren filmischer Gestaltung analysiert. Eine Vielzahl solcher Studien hat David Bordwell vorgelegt, der beispielsweise in seiner Publikation Visual Style in Cinema (2006) zunächst von detaillierten Einzelbeobachtungen zur Inszenierung des filmischen Raums ausgeht, um im Anschluss daran den Blick zu weiten und länderund epochenübergreifende Konstanten und Umbrüche filmischer Inszenierung zu benennen. Zweifellos ist dies ein anspruchsvolles, aber vielversprechendes Unterfangen, wie Bordwell selbst an anderer Stelle bemerkt: „The way movies look has a history; this history calls out for analysis and explanation; and the study of this domain – the history of film style – presents inescapable challenges to anyone who wants to understand cinema“ (1997, S. 4). Ein wenig leichter fällt die Stilanalyse mitunter, wenn man Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Filmen voraussetzt, die einen ähnlichen Entstehungskontext haben und vor diesem Hintergrund charakteristische Gemeinsamkeiten in den Themen, Motiven oder der Bildsprache (etc.) aufweisen. Zentrale Bezugsgrößen der stilistischen Klassifikation sind die Epoche, die Nation und das Individuum, wobei es sich bei Epochal- und Nationalstilen um Gruppenstile handelt, die einander durchdringen. Der Begriff „Weimarer Kino“ beispielsweise bezieht sich sowohl auf die Epoche (1918– 1933) als auch auf die Nation (Deutschland), wohingegen Individualstile immer auf das Werk einer Einzelperson verweisen, die einem Korpus von Filmen ihren persönlichen Stempel aufdrückt. Obwohl Regisseure und Regisseurinnen für die Inszenierung und die künstlerische Leitung eines Filmprojekts zuständig sind, liegt es auf der Hand, dass man ihnen nicht (in Analogie zu Schriftsteller und Schriftstellerinnen) die alleinige geistige Urheberschaft an einem Film zuschreiben kann, sondern dass Filmproduktionen, mit sehr wenigen Ausnahmen (z.B. in der Gattung des Experimentalfilms), immer eine künstlerische Kollektiv-Leistung sind. Zwar kann der Einfluss der Regie durch die Produktionsbedingungen (nationale Kinematografie, produzierendes Studio, Budget, Popularität etc.) erheblich eingeschränkt werden, dennoch obliegt es den Regieführenden, die Kompetenzen der unterschiedlichen Abteilungen zu bündeln, indem sie die Mitarbeitenden im Idealfall wie ein Orchester dirigieren. Im Zusammenspiel der Mise-en-scène, also den inszenatorischen und bildgebenden Prozessen während der Aufnahme, sowie sämtlichen Entscheidungen im Schnitt und in der Postproduktion manifestiert sich deshalb in vielen Fällen trotz der professionalisierten Arbeitsteilung

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so etwas wie eine wiedererkennbare Handschrift, die als stilistische Signatur des Filmemachers oder der Filmemacherin gelten kann. Oftmals wird dieser Eindruck dadurch begünstigt, dass viele erfolgreiche Regisseure und Regisseurinnen wiederholt mit den gleichen Teammitgliedern zusammenarbeiten, sodass man strenggenommen nicht mehr von einem Individual-, sondern von einem Ensemblestil sprechen müsste. Individualstile können nicht nur diachron als eine sukzessive Entwicklung oder Fortführung eines eigenen Stils beschrieben werden, sondern auch synchron in Bezug zu parallel vorhandenen Epochalstilen oder anderen zeitgleich existierenden Individualstilen (Abb. 2). Die Individualität des künstlerischen Ausdrucks lässt sich gerade durch die Abweichung von der jeweiligen Norm oder im Kontrast zu anderen Regieführenden exemplifizieren. Wechselwirkungen zwischen Individual- und Epochalstilen, wie etwa bewusste Assimilation oder Abgrenzung, sind sehr wahrscheinlich. Ebenso wie es denkbar ist, dass ein künstlerisch tätiger Mensch „im Laufe seiner persönlichen Stilentwicklung unterschiedliche, von Epochenstilen geprägte Phasen durchläuft“ (Müller

Abb. 2   Der Stilbegriff kann auf eine Werkgruppe, ein Werk oder ein Verfahren angewendet werden (siehe linke Zeilen). Bei einer Werkgruppe können künstlerische Bewegungen (ein Epochalstil) aber auch Eigenheiten von Institutionen & Organisationen (ein Studiostil) sichtbar werden. Bei einem Werk lassen sich kollektive oder individuelle Stile erkennen. Ein Verfahren kann man als Stilmittel in seiner historischen Entwicklung oder kulturellen Prägung studieren. Sie alle unterliegen äußeren Einflüssen: den sich wandelnden Bedingungen von Technik, Ökonomie, Politik, Gesellschaft und Traditionen (siehe untere Spalten). (© Anton/Maisenbacher)

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2009, S. 1272), ist es vorstellbar, dass er schon im Frühwerk einen charakteristischen Stil aufweist, dem er über seine gesamte Schaffensperiode hinweg verpflichtet bleibt. Autorenschaft, Autorenfilm und politique des auteurs  Filmgeschichte wird bis heute meist „als Geschichte eines Kinos der Regisseure geschrieben, produziert, rezipiert, historisiert“, schreibt Felix (2007a, b, S. 16) und verweist auf Stephen Crofts, der bereits 20 Jahre zuvor bemerkte: „Authorship is by far the best known ‚theory‘ of cinema“ (1988, S. 310). Dass der Begriff der Theorie in Anführungszeichen steht, erscheint bezeichnend, handelt es sich doch eher um eine Methode oder ein heuristisches Prinzip als um eine Theorie im wissenschaftlichen Sinne. „The study of authorship is not in itself a theory, only a topic or theme“, bemerkt James Naremore (2007, S. 9) zu Beginn einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Thema, und selbst ein erklärter Anhänger des Auteurismus, wie Andrew Sarris, eröffnet seine Notes on the auteur Theory in 1962 damit, dass diese „less a manifesto than a credo“ sei (2000, S. 122), also eher eine Art Haltung oder Herangehensweise. Ursprünglich verwies die Bezeichnung Autorenfilm auf ein literarisch geprägtes Kino der 1910er und 1920er Jahre und bezeugte das Bestreben der Regisseurinnen und Regisseure, sich vom frühen Kino der Attraktionen (vgl. Gunning 1990, S. 56 ff.) abzugrenzen. Durch das Engagement erfolgreicher Schriftsteller und Dramatiker (wie beispielsweise Paul Lindau und Gerhart Hauptmann), die Stoffe aus der Literatur und dem Theater für den Film adaptierten, erhoffte man sich eine künstlerische Aufwertung der Filmproduktion (vgl. Schulte 2021, S. 384 ff.). Eine Praxis der späteren Autorentheorie, die in dieser frühen Verwendung des Terminus bereits angelegt war, ist die Strategie, „die kollektive, industriell-technische Herstellungsweise des Films auszublenden und auf eine dem Kunstbürgertum entsprechende, idealistische Vision vom Einzelschöpfertum hin zu vereinseitigen“ (Brauerhoch 1991, S. 156). Ein entgegengesetztes Konzept von Autorenschaft liegt den ab den 1920er Jahren entstehenden Avantgardefilmen der Surrealisten zugrunde, die sich vom literarischen Narrativ lossagten und ein „Gegenkino“ begründeten, „das sich als Bild-Kunst verstand“ (Felix 2007a, b, S. 21). Diese Tradition galt es, fortzuführen und weiterzudenken, so Alexandre Astruc, der 1948 mit dem Aufsatz Naissance d’une nouvelle avant-garde: la caméra stylo (Die Geburt einer neuen Avantgarde: die Kamera als Federhalter) einen wegweisenden Text für das cinéma des auteurs publizierte, in welchem er den filmischen Ausdruck als eigene „Sprache“ und „Mittel der Schrift“ verstanden wissen wollte (1964, S. 112). Die zwei Schlüsseltexte der Autorentheorie Alexandre Astrucs Naissance d’une nouvelle avant-garde: la caméra stylo (Die Geburt einer neuen Avantgarde: die Kamera als Federhalter) verglich die Kamera mit dem Federhalter von Autoren und Autorinnen. Damit der Auteur seine individuelle Schrift verwirklichen könne, sollte er Regie und Kamera in Personalunion verantworten (1964, S. 114). François Truffauts Une certaine tendance du cinéma français (1954):

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Truffauts Artikel erschien zum ersten Mal in der Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma und wurde mancherorts als „Manifest der Nouvelle Vague“ eingestuft. Truffaut prangerte in seinem Text „Papas Kino“ an, welches aus seiner Sicht aus handwerklich professionellen, glatten, aber uninspirierten Literaturverfilmungen wie beispielsweise La symphonie pastorale (Und es ward Licht, F 1946, R: Jean Delannoy) bestand. In der Regel basierten die betreffenden Filme auf Adaptionen routinierter Drehbuchautoren wie Jean Aurenche oder Pierre Bost. Dieser sogenannten tradition de qualité, die weder dem Anspruch literarischer Werktreue genüge, noch eine eigene künstlerische Vision erkennen lasse, stellt er das cinéma d’auteurs gegenüber und meint damit Filme von Jean Renoir, Robert Bresson, Jean Cocteau, Jacques Becker, Max Ophüls etc., die ihre Dialoge meist selbst schreiben und manchmal sogar die Geschichten, die sie erzählen, frei erfinden. Unabhängig davon, ob diese Regisseure als ihre eigenen Drehbuchautoren fungieren oder nicht, sind es vor allem visuelle Ideen und inszenatorische „Kühnheiten“, die Truffaut begeistern, wie „der Gang des Monsieur Hulot, die Selbstgespräche der Haushälterin in Rue de L’Estrapade, die Inszenierung der Carosse d’or, die Schauspielerführung in Madame de… und auch die Versuche mit der Polyvision von Abel Gance“ (1964, S. 128). Die Autorenschaft begründet sich demnach primär in der kreativen Umsetzung eines filmischen Sujets sowie stilistischen Formung des Materials und lässt einen „einzigartige[n] originelle[n] Blick der Autoren auf die Welt [erkennen], der zugleich einen Standpunkt gegenüber dieser Welt formuliert“ (Grob 2003, S. 84).

Diese von Grob angesprochene spezifische Weltsicht, die sich in einem individuellen Stil und einer kreativen Mise-en-scène artikuliert und in der filmwissenschaftlichen Literatur häufig mit dem französischen Ausdruck vision du monde aufgerufen wird, glaubten Filmkritiker wie Chabrol, Godard und Rivette sogar im amerikanischen GenreKino eines Samuel Fuller, Howard Hawks, Anthony Mann, Otto Preminger oder Alfred Hitchcock zu entdecken und machten es sich zur Aufgabe, sich intellektuell mit deren Filmen auseinanderzusetzen. Damit einher gingen eine Aufwertung der Filme und eine erhöhte Wertschätzung ihrer Regisseure, die als auteurs bezeichnet und von den sogenannten réalisateurs abgegrenzt wurden. Diese Praxis der Differenzierung zwischen Künstler*innen (auteurs), deren Werk es zu diskutieren galt, und Handwerker*innen (réalisateurs), denen man zwar eine technische Kunstfertigkeit zugestand, eine künstlerische Vision jedoch absprach, wird mit dem Begriff der politique des auteurs umschrieben, „eine Politik, die auf nichts weniger zielte als auf die Herausbildung eines Autorenkanons“ (Schulte 2021, S. 389) (Abb. 3). Auch wenn an vielen Stellen zu lesen ist, dass es sich bei dieser Unterscheidung um „distinktive, keine wertende[n] Kategorien“ (Grob 2003, S. 77) handle, ist die Problematik dieser hochgradig subjektiven Konzeption offenkundig. Hinzu kommt, dass die Cahiers-Autoren selbst beständig

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Abb. 3   Autoren unter sich: François Truffaut (links) bei seinem Interview mit Alfred Hitchcock, veröffentlicht im Buch Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? (1966, dt. 1973), das heute als Standardwerk gilt. Quelle: Truffaut, Hitchock. 1993. Hitchcock/Truffaut. Édition Définitive. Paris: Gallimard, S. 49, © Philippe Halsman

Werturteile fällten, indem sie Dutzende von Bestenlisten veröffentlichten oder sich zu polemischen Äußerungen hinreißen ließen, wie beispielsweise Truffaut, wenn er sagt: „Ein weniger guter Film von Hawks ist allemal interessanter als der beste Film von Huston“ (1997, 27). Auteur Theory Explizit wertend ist das Autorenkonzept bei Andrew Sarris, der es 1962 unter dem Namen auteur Theory (Sarris 2000) ins Englische überträgt (ausgehend von dem 1957 in den Cahiers du Cinéma erschienenen Aufsatz De la politique des auteurs von André Bazin) und eine Kanonisierung fordert: „it requires cultural audacity to establish a pantheon of film directors“ (Sarris 2000, S. 124). Sarris formuliert seine auteur theory nicht nur zur Aufwertung des amerikanischen Erzählkinos, sondern auch dezidiert gegen die zeitgenössische amerikanische Filmkritik, die (wie beispielsweise die Zeitschrift Film Culture) Autorenkino primär im Sinne unabhängiger und avantgardistischer Filmkunst verstand. Überschwänglich feierte Sarris das später als „klassisch“ beschriebene Hollywoodkino, das sich Anfang der 1960er Jahre in einer Krise befand. Sein vielzitierter Satz „American Cinema has been consistently superior to that of the rest of the world from 1915 through 1962“ (ebd., S. 130) ist vor diesem Hintergrund wohl weniger als Provokation gegenüber anderen Nationalstaaten zu verstehen, sondern vielmehr als Aufruf an seine Landsleute, sich der Qualitäten des eigenen kinematographischen Erbes bewusst zu werden. Drei Abstufungen, die als Wertkriterien fungieren, sind für Sarris’ Idee von Autorenschaft konstitutiv (Abb. 4). Damit ein Regisseur oder eine Regisseurin ins „pantheon of

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Abb. 4   Bedingungen der Autorenschaft nach Andrew Sarris. (© Anton/Maisenbacher)

directors“ (Sarris 2000, S. 124) aufgenommen werden kann, muss er oder sie zunächst sein Handwerk auf technischer Ebene beherrschen. Die zweite Voraussetzung ist, dass er oder sie einen charakteristischen und individuellen Stil besitzt („The way a film looks and moves should have some relationship to the way a director thinks and feels“, ebd. S. 132). Doch erst die dritte Prämisse, die „innere Bedeutung“, die dem Konzept der vision du monde sehr ähnlich ist, macht den Filmemacher oder die Filmemacherin Sarris zufolge zum auteur („Interior meaning is extrapolated from the tension between a director’s personality and his material“, ebd. S. 133). Auteur-Structuralism Ende der 1960er Jahre finden fast überall auf der Welt gewaltige gesellschaftliche Umbrüche statt. Es existiert ein Pluralismus konkurrierender Theorien (Strukturalismus, Marxismus, Psychoanalyse etc.) und die romantisch gefärbte Idee einer autonom agierenden und Bedeutung schaffenden Künstlerposition gerät in die Kritik. In einem berühmt gewordenen Aufsatz (La mort de l’auteur, erstmals veröffentlicht 1968) postuliert Roland Barthes den „Tod des Autors“, mit dem die „Geburt des Lesers“ zu bezahlen sei (2000, S. 193). Er argumentiert, dass die Autorin oder der Autor keine sinnstiftende Bedeutung haben, sondern dass diese im Prozess der Lektüre von den Lesenden selbst erzeugt werde. Etwas Vergleichbares findet sich im filmwissenschaftlichen Diskurs, wo es zu einer Verbindung der Autorentheorie mit dem Strukturalismus und der Semiotik kommt, die Jürgen Felix mit dem Begriff Auteur-Structuralism umschreibt: „Der Film wurde zum ‚Text‘ und dessen Analyse zu einer ‚Lektüre‘; der Autor verwandelte sich von einer Person in eine ‚Struktur‘, von einer autonomen Instanz in eine ‚Konstruktion‘ des Lesers bzw. der ‚Arbeit‘ am filmischen Text“ (2007, S. 37). Diese Konzeption setzt kein Autor-Subjekt mehr voraus, sondern zielt darauf ab, aus mehreren Filmen mittels des Vergleichs invariable Strukturen herauszudestillieren, von denen ausgehend dann eine Autorenschaft abgeleitet werden kann. Der Begriff der Struktur ist hierbei sehr weit gefasst und meint nicht nur genuin filmische Ausdrucksmittel wie die Mise-en-scène oder die Montage, sondern auch Genremechanismen, dramaturgische Muster und narrative Formen. Durch die methodische Orientierung am Strukturalismus (→Neoformalismus/Kognitivismus) findet eine Verwissenschaftlichung des Autorenkonzepts statt, und aus der politique des auteurs wird tatsächlich eine auteur-theory, wie sie beispielsweise

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der Kritiker, Drehbuchautor und Regisseur Peter Wollen in seiner Publikation Signs and Meanings in the Cinema (1972) vertritt. Nicht die hermeneutische Frage nach den Intentionen des Autors oder der Autorin, biografischen Inspirationen oder kreativen Entstehungsprozessen sind mehr Ziel der Analyse, „sondern die Offenlegung einer Struktur im Werk, die post factum einem Regisseur zugeschrieben werden kann“ (Kamp 1996, 40). Wollen betont ausdrücklich, dass die sich ergebenden Autor-Strukturen keineswegs identisch sind mit den empirischen Personen, auf die sie verweisen (was für alle in diesem Artikel erläuterten Konzepte von Autorenschaft gilt!): „Fuller or Hawks or Hitchcock, the directors, are quite seperate from ‚Fuller‘, or ‚Hawks‘ or ‚Hitchcock‘, the structures named after them, and should not be methodologically confused“ (Wollen 1972, S. 168). An dieser Stelle vollzieht sich eine entscheidende semantische Differenzierung des auteurBegriffs, denn „[d]ie verschiedenen Zeichensysteme des Films drücken die Intention des Autors nicht aus, sondern produzieren diese erst“ (Kamp 1996, S. 38) und degradieren die Autorin oder den Autor damit zum Effekt der Strukturen. Totgesagte leben länger Trotz aller Abgesänge ist das Autorenkino im cineastischen Diskurs nach wie vor präsent – und wird es vermutlich bleiben. Das liegt nicht zuletzt an seiner Fähigkeit, eine Art Gegenposition zu Hollywoods Traumfabriken zu formulieren. Wann immer das Mainstreamkino einen erheblichen materiellen und personellen Aufwand generiert, ist es – zwecks Risikominimierung – versucht, auf vielfach erprobte, schablonenhafte Erzählformen und Bilder zurückzugreifen, die einen individuellen Stil unterdrücken. Filme, die stärker von den Persönlichkeiten ihrer Regisseure und Regisseurinnen geprägt sind, versprechen dagegen ein „freieres“ Kino, das sich kurzlebigen Trends und kommerziellen Zwängen verweigert und ästhetisch innovativ sein kann. Meist wird der Begriff des Autorenfilms auf unabhängig produzierte, kleine, keinem klassischen Genre zugehörige Produktionen angewandt, es gibt jedoch auch Regisseure und Regisseurinnen, die sich in den Strukturen des kommerziellen Studiosystems ihre Handschrift erarbeitet oder bewahrt haben und die vor diesem Hintergrund als auteurs betrachtet werden. So gehören beispielsweise Clint Eastwood, Quentin Tarantino oder Paul Thomas Anderson zu den bekanntesten Vertretern eines eigenwilligen amerikanischen Autorenkinos. Im Autorenfilm haben das Extreme und das Provokante ihren Platz, aber auch das Abseitige und das Verdrängte, weshalb Marcus Stiglegger von „Splitter[n] im Gewebe“ (2000, S. 7 ff.) spricht, und damit Filme meint, die sich den Erwartungen, Sehgewohnheiten und Konventionen ihrer Zeit widersetzen und zu produktiven Störfaktoren werden. Vor diesem Hintergrund erscheint die Autorentheorie als ein erhaltenswertes Gut, denn entgegen normativen Mustern und kommerziellen Regelwerken verteidigt sie die Subjektivität des künstlerischen Ausdrucks, geht es doch nach wie vor „um Experiment und Vision, um Poesie und Traum. Natürlich auch um die Freiheit, (auch) im Film endlich ‚ICH‘ zu sagen – mal eher thematisch, mal eher motivisch, mal eher stilistisch“ (Grob 2003, S. 82).

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Auf der anderen Seite ist die Autorentheorie – wie eingangs angedeutet – selbst in hohem Maße kommerzialisiert, was unter anderem dadurch zutage tritt, dass einer Autorin oder einem Autor und dem Œuvre durch paratextuelle Strategien Authentizität und Marktwert verliehen werden sollen (vgl. Felix 2007a, b, S. 48). Autor oder Autorin ist in diesem Sinne nicht nur Künstler-Subjekt, sondern auch Kulturprodukt, an dessen Inszenierung die Filmindustrie, die Filmkritik, die Filmwissenschaft und auch die Filmemacher und Filmemacherinnen selbst eifrig mitwirken, sodass es diese Konstruktionsbedingungen im Einzelfall kritisch zu reflektieren gilt. Viele Filmemachende sind heutzutage Medienstars und ihre Namen erscheinen als rezeptionsleitende Instanzen bereits vor und außerhalb der zu rezipierenden Filme in Form von Vorberichten, Interviews, Trailern, Porträts etc. Das Zentrum der Aufmerksamkeit verlagert sich in vielen Fällen vom filmischen Werk zum auteur als Bedeutungsträger (vgl. Kamp 1996, S. 61), sodass Corrigan bereits 1992 in Anspielung auf Barthes süffisant konstatierte: „it is the text that may now be dead“ (1992, S. 106). Trotz dieser anhaltenden Diskussionen um filmische Autorenschaft ist die Perspektive des Autors und der Autorin als heuristische Kategorie (unabhängig von einer genauen theoretischen Verortung) für die Filmanalyse in hohem Maße produktiv. Indem sie dazu anregt, das Gesamtwerk eines Filmemachers oder einer Filmemacherin einer aufmerksamen Sichtung zu unterziehen, lädt sie dazu ein, thematische, motivische und stilistische Entwicklungen in den Blick zu nehmen und miteinander in Bezug zu setzen. Geht man von der Autorin oder dem Autor als bedeutungsgenerierende Instanz aus, so verlangt diese Prämisse vom Publikum, dass es aktiv nach Bedeutung sucht und seine Interpretation im hermeneutischen Sinne beständig verfeinert. Nicht selten können auch Interviews mit den Filmemacher*innen sowie außerfilmische Informationen hilfreich sein und die Auseinandersetzung mit einem Werk vertiefen. Vor allem Cinephile schätzen eine Kombination aus intensiver Filmsichtung und begleitender Auswertung sämtlicher Paratexte, verspricht sie doch einen Zugang zur Gedankenwelt der wertgeschätzten Künstler*innen. Individualstil und Art Cinema  In der angloamerikanischen Filmwissenschaft war es lange üblich, den europäischen Autorenfilm der 1960er Jahre in Abgrenzung zu den Genrekategorien des klassischen Hollywoodkinos mit dem Label Art Cinema (Kunstkino, Kunstfilm) zu etikettieren. Da dieser Begriff (ähnlich wie viele Genrebezeichnungen) nicht formallogisch geprägt wurde, sondern im kommunikativen Gebrauch, handelt es sich um einen unscharfen Sammelbegriff, der sowohl auf produktionstechnische als auch auf thematische und ästhetische Besonderheiten verweist. Verwendung fand der Terminus zunächst ab Mitte der 1940er Jahre in den USA, wo er aus Europa importierte Filme beschrieb (später auch aus Asien und weiteren Regionen), die als künstlerisch wertvoll erachtet wurden. Dazu zählten vor allem neorealistische Filme wie Roma città aperta (Rom, offene Stadt, I 1945) und Produktionen aus dem Umfeld der sogenannten neuen Wellen, aber auch skandinavisches Kino wie beispielsweise die Arbeiten Ingmar Bergmans. Diese Filme, die oft nur mit wenigen

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Verleihkopien starteten, profitierten von einer geschickten Marketing-Strategie. Einerseits stilisierte man die Regisseure (ganz im Sinne der Autorentheorie) zu Künstlern, was unter anderem durch Kritikerlob und die Nennung von Festivalauszeichnungen beglaubigt wurde. Andererseits hatte auch der Aufführungskontext dieser Filme den Ruf des Besonderen, denn bevor im Laufe der 1950er und vor allem der 1960er Jahre spezialisierte Art House-Filmtheater entstanden (vgl. Monaco 2001, S. 54 f.), wurden diese Importe häufig in Kinos gezeigt, die sich auf die Vorführung exploitativer Produktionen spezialisiert hatten. Ganz in diesem Sinne stellte man inszenatorische Abweichungen von den Normen des amerikanischen Production Codes in reißerischer Manier heraus, indem es beispielsweise im Werbematerial von Roma città aperta heißt, dieser besitze eine „Violence and Sexiness Hollywood Seldom Approaches“ (vgl. Brennan 2012, S. 92). In diesem Spannungsfeld zwischen künstlerisch-innovativem Entwurf und potenziellem Tabubruch entwickelte sich eine mit dem Etikett „Art Cinema“ gekoppelte Erwartungshaltung, die in Teilen auf die europäische Kunstfilmproduktion zurückwirkte. Auch im Fall von Blow Up liegt es nahe, zu vermuten, dass die sexuelle Freizügigkeit, das Zeigen nackter Haut und die erotisch konnotierte Fotosession zwischen David Hemmings und dem Model Veruschka (Veruschka von Lehndorff) nicht zuletzt im Hinblick auf die internationale Vermarktung des Films konzipiert wurden. Die stilistischen Merkmale des Art Cinema zu umreißen, ist alles andere als einfach, da sehr unterschiedliche Filme unter diesem Label firmieren und der Begriff sowohl die kleinen, preisgünstig realisierten, oftmals verspielten Filme der Nouvelle Vague umfasst als auch Fellinis und Viscontis barock anmutende Großproduktionen. Zweifellos liegen Welten zwischen den zeitgleich entstandenen À bout de souffle (Außer Atem, F 1960) und La dolce vita (Das süße Leben, I/F 1960) – und doch lässt sich in beiden der Wille erkennen, „anders“ zu erzählen als bisher und mit den Erwartungshaltungen des Publikums zu spielen (Abb. 5). David Bordwell hat dem Art Cinema in seiner Publikation Narration in the Fiction Film ein Kapitel gewidmet und versucht darin, den Erzählmodus dieser Filme zu charakterisieren, den er vor allem durch eine Entdramatisierung des Geschehens und eine offene, zum Episodischen tendierende Dramaturgie gekennzeichnet sieht, die dem Publikum nicht selten eine befriedigende Auflösung des Geschehens verweigert. Manchmal kommt es auf stilistischer Ebene zum Bruch mit Montageregeln und gängigen filmischen Erzählkonventionen (180°-Prinzip, Blickachsenanschluss, räumliche Kontinuität etc.) oder sogar zu explizit selbstreferentiellen und selbstreflexiven Momenten, in denen die Narration auf sich selbst verweist und ihre eigene Künstlichkeit ausstellt. Ein populäres Beispiel ist der in Ingmar Bergmans Persona (S 1966) visualisierte Filmriss, der metaphorisch zu deuten ist und zugleich eine narrative Zäsur markiert. Leichter als über diese nicht immer manifesten Merkmale lässt sich das Art Cinema ex negativo als eine Abkehr von Genrekonventionen, einer erstarrten Formensprache und klassischen Dramaturgien beschreiben, wie auch Bordwell feststellt: „Art cinema has become a coherent mode partly by defining itself as a deviation from classical narrative“ (1985, S. 228). Ähnlich wie die Genreformen des klassischen Hollywoodkinos entzieht sich der Kunstfilm einer eindeutigen Klassifizierung, wes-

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Abb. 5   À bout de souffle gilt durch seine offene Erzählweise, die Jump Cuts oder den HandkameraEinsatz (u. a.), nicht nur als Exempel für die Nouvelle Vague, sondern auch für das Art Cinema. Quelle: Recontres d‘Arles, © Raymond Cauchetier

halb Andrew Tudor 1973 vorschlug, sich vom Alltagsgebrauch der Begriffe leiten zu lassen. Genre definierte er in diesem Sinne als „way in which an audience classifies its films“ (1973, S. 9), um anzufügen: „According to this meaning of the term, 'art movies' is a genre”. Steve Neale hingegen plädierte dafür, den institutionellen Rahmen des Art Cinema zur Definitionsgrundlage zu erheben (vgl. 1981, S. 13 ff.). Ihm zufolge sind es im Falle des europäischen Autorenfilms also beispielsweise die von Filmförderungsmodellen gestützten Produktions-, Distributions- und Aufführungspraktiken, die sich maßgeblich in die Konzeption und das Erscheinungsbild der Filme einschreiben und innerhalb derer sich dann erst so etwas wie ein individueller Stil ausprägen kann. Unabhängig davon, ob man das Konzept des Art Cinema eher als Genre oder als Epochalstil begreifen möchte, steht außer Frage, dass sich Blow Up und diverse Filme Antonionis und seiner Zeitgenoss*innen sowohl über ihre stilistischen Merkmale als auch über ihre Entstehungskontexte als Kunstfilme kategorisieren lassen. Auch vor dem Hintergrund des Art Cinema ließe sich Blow Up deshalb einer vergleichenden Stilanalyse unterziehen.

1.2 Antonionis Œuvre im Spiegel der Stiltheorie und Autorenpolitik Es gibt wenige Filmemacher und Filmemacherinnen, die die Kritik so kontinuierlich zu kontroversen Diskussionen und Interpretationen herausgefordert haben, wie Michelangelo Antonioni. Möglicherweise liegt einer der Gründe hierfür in einer selt-

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samen Paradoxie: So offen die Erzählungen Antonionis einerseits erscheinen (und damit multiple Lesarten und eine semantische Potenzierung befördern), so geschlossen und homogen wirkt das Gesamtwerk auf der anderen Seite. William Arrowsmith beschreibt Antonioni als Künstler, „whose thematic repertory – his tematica, as italians like to say – is complex but also severely limited; the motifs are recurrent, even obsessive. This is why almost any Antonioni film reveals an extremely close affinity with any other“ (1995, S. 49 f.). In diesem anwendungsorientierten Kapitel gilt es nun, Antonionis Gesamtwerk und seinen Individualstil in gebotener Kürze vor dem Hintergrund eines epochalen Wandels zu skizzieren und zu reflektieren. Darüber hinaus soll Blow Up einer Stilanalyse unterzogen werden, wobei – um Dopplungen innerhalb dieses Bandes zu vermeiden – exemplarisch vorgegangen wird, sodass nicht alle Schlüsselszenen des Films Erwähnung finden können. Dennoch wird hoffentlich deutlich, welche Aspekte des Films für eine Stilanalyse von besonderer Relevanz sind. Antonionis Themen Den Weg zum Kino fand Michelangelo Antonioni Anfang der 1940er Jahre als Film- und Theaterkritiker, als Drehbuchautor (unter anderem für Roberto Rossellini) und als Assistent (z. B. von Marcel Carné), bevor er mit Gente del Po (IT 1947) seinen ersten kurzen Dokumentarfilm realisierte. Es folgten weitere dokumentarische Arbeiten, die entweder im ruralen Italien oder im Arbeitermilieu spielen und in der Thematisierung prekärer Lebensumstände eine gewisse Nähe zu den Epochalstilen des Poetischen Realismus (Frankreich) und des Neorealismus (Italien) aufweisen. Der Begriff Neorealismus, der 1943 vom italienischen Filmkritiker Umberto Barbaro zunächst auf das französische Kino bezogen wurde, umfasst ab Roma città aperta einige Filme, die sich entweder mit den letzten Jahren des Krieges (Faschismus und Widerstandsbewegung) oder mit der unmittelbaren Gegenwart Italiens und seinen sozialen Problemen beschäftigen (vgl. Schenk 2014, S. 125 f.). Zentrale Anknüpfungspunkte zum Frühwerk Antonionis bestehen vor allem in einer Hinwendung zum Alltäglichen, in der Arbeit mit Laien, die oft in ihrer natürlichen Identität auftreten, sowie im Filmen an Originalschauplätzen. Analog zum Neorealismus, der eine vergleichsweise kurze filmhistorische Epoche markiert, bevor er sich bereits Ende der 1940er Jahre populären Erzählmustern und Genrekonventionen zu öffnen beginnt (neorealismo popolare), schlägt auch Antonioni ab seinem ersten Spielfilm Cronaca di un amore (Chronik einer Liebe, I 1950) neue Wege ein und kombiniert eine an den Film Noir erinnernde Detektiverzählung mit einem in der italienischen Bourgeoisie angesiedelten Melodram. Lediglich mit seiner Episode „Tentato suicidio“ für den Omnibusfilm L’amore in città (Liebe in der Stadt, I 1953) wird er später thematisch noch einmal an seine filmischen Anfänge anschließen, inszeniert die Rekapitulationen von Suizidversuchen jedoch aus einer theatralen Kulisse heraus und distanziert sich bereits deutlich von der Formensprache des Neorealismus. Nimmt man die dokumentarischen Arbeiten des Regisseurs aus, lassen sich seit seinem erstem Spielfilm Cronaca di un amore diverse figurative, thematische und

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inszenatorische Konstanten herausarbeiten. Wiederkehrende Sujets sind beispielsweise die Unbeständigkeit der Gefühle zwischen Mann und Frau, Kommunikationslosigkeit oder verfehlte Kommunikation sowie die Entfremdung der Menschen in einer kalten modernen Welt, in der sie sich noch nicht oder nicht mehr zurechtfinden. Immer wieder setzte Antonioni sich mit einer bisweilen fast an Monomanie grenzenden Hartnäckigkeit mit Themen und Problemen – oder besser: Neurosen – der neo-kapitalistischen Gesellschaft auseinander: Paarbeziehungen, emotionale Krisen, Einsamkeit, Kommunikationsschwierigkeiten, existentielle Entfremdung. Seine Filme sind der ‚Blues‘ der Krisen des Bürgertums, bei dem die nur leicht verschleierte Autobiografie als Zeitzeugnis dient. (Morandini 2006, S. 326)

Interessant an dieser Äußerung Morando Morandinis ist, dass der Filmkritiker den 1912 in die italienische Mittelklasse hineingeborenen Antonioni nicht nur als auteur begreift (begründet durch die Homogenität des Werks), sondern ihm darüber hinaus eine biografisch motivierte Inspiration unterstellt und in ihm einen Chronisten des Bürgertums seiner Zeit sieht. Solche Zusammenhangshypothesen zwischen autobiographischer Lebenserfahrung und künstlerischer Werkgenese sind charakteristisch für autorentheoretische Interpretationen und wurden im Falle Antonionis durch den Filmemacher selbst bestärkt, der sich vielfach zu seinen Filmen äußerte. Als Ausgangspunkt seiner Spielfilme beschrieb er stets das Bestreben, die inneren Befindlichkeiten seiner Figuren vor dem aktuellen gesellschaftspolitischen Hintergrund auszuloten und zu reflektieren, weshalb es nicht verwundert, dass fast alle seine Filme in der Gegenwart angesiedelt sind. Er selbst formulierte in einer Rede (die unter dem Titel Die Krankheit der Gefühle publiziert wurde) sein zentrales Thema in Abgrenzung zur Sozialkritik des Neorealismus: [E]s schien mir, daß es wichtiger war […] vielmehr bei der Person selber zu verweilen, im Innern dieser Person, um zu sehen, was von alledem, das sich ereignet hatte […] in den Personen selbst zurückgeblieben war […]. Und so habe ich mit Cronaca di un amore begonnen, wo ich den Zustand geistiger Dürre und auch eine bestimmte Art seelischer Kälte bei einigen Figuren des gehobenen Mailänder Bürgertums analysiert habe. Gerade weil mir nämlich schien, daß in diesem Fehlen von Interessen außerhalb ihrer selbst, in diesem Ganzauf-sich-selbst-Bezogensein ohne einen moralischen Kontrapunkt, ohne einen Impuls, der in ihnen noch das Gefühl für die Gültigkeit bestimmter Werte ausgelöst hätte, daß in dieser inneren Leere ausreichend wichtiges Material vorhanden war, um es einer Prüfung zu unterziehen. (1964, S. 85)

Die Idee einer kritischen Prüfung, im Sinne einer nach allen Seiten tastenden Suchbewegung, erscheint als passende Denkfigur für Antonionis lose Dramaturgien, die in der Regel keine teleologische Handlungsstruktur erkennen lassen. „Für Antonioni war Film ein Medium der Welterkundung“, bemerkt Matthias Bauer und ergänzt, dass es Antonioni nicht um „schlüssige Mitteilung“ ging, sondern darum, „sich und den Zuschauer in ein responsives Verhältnis zu den sinnlichen Erscheinungen [zu] rücken, die sich unaufhörlich wandeln“ (2015, S. 13). Die Konsequenz daraus ist ein Kino, das

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zum Episodischen tendiert, das eine Entdramatisierung des Geschehens in Form einer „Ausschöpfung der toten Zeit des Alltags“ (Deleuze 1991, S. 16) betreibt und das die Figuren oftmals im Zustand des Blickens verharren lässt und die Zuschauenden dazu einlädt, diesen Blick selbst mit Bedeutung aufzuladen. Nicht von ungefähr sind viele von Antonionis Helden professionelle Beobachter und Bildproduzenten, wie der Fotograf Thomas (David Hemmings) in Blow Up, der Journalist David Locke (Jack Nicholson) in Professione: reporter (Beruf: Reporter, I/E/F 1975) oder der Filmemacher Niccolò (Tomas Milian) in Identificazione di una donna (Identifikation einer Frau, I/F 1982). Stets bewegt sich dieses Kino „im Spannungsfeld von Image und Imagination, von Bild und Einbildung“ und stellt dabei seine eigene „Medialität und Materialität“ (Bauer 2015, S. 53) infrage. Dass Antonioni als explizit moderner Filmemacher gilt, hängt nicht zuletzt mit diesen selbstreferentiellen und selbstreflexiven Strategien zusammen, wie Uta Felten erläutert: Die Selbstthematisierung des Blicks, des Sehens oder gerade des Nicht-Sehens, der Infragestellung unserer Wahrnehmungsdispositive bildet die Grundlage der Ästhetik des modernen Kinos. Der Umbruch der Seh-Dispositive, die Verunsicherung des Betrachters und des Betrachteten im Film führt gleichzeitig zu einem stärkeren Einbezug des Zuschauers. Dieser wird zum Voyeur des Voyeurs, zum bricoleur, zum Bastler, zum Detektiv, der sich die von Rissen gekennzeichnete filmische Matrix selbst zusammensetzen muss. (2012, S. 251)

In Blow Up scheint uns der Regisseur gleich in der ersten Einstellung mit unseren Wahrnehmungsgrenzen und dem Problem der Mehrdeutigkeit von Bildern konfrontieren zu wollen, indem große Teile der Credits als Ausstanzung in einer grünen Rasenfläche sichtbar werden und einen limitierten Blick auf dahinterliegende Vorgänge (ein Fotoshooting) freigeben (Abb. 6). Man muss sich entscheiden, ob man die Credits lesen oder die Bilder dahinter betrachten möchte, weil beides zugleich unmöglich ist, wodurch das Primat der subjektiven Wahrnehmung, eines der zentralen Themen des Films, bereits an dieser Stelle angedeutet wird. Die darauffolgende Parallelmontage zwischen ausgelassenen, als Clowns geschminkten jungen Leuten, die lärmend in die Londoner City einfallen und Obdachlosen, die

Abb. 6   Das Bild hinter dem Bild und die Unmöglichkeit, Schrift und innere Bildebene zugleich zu erfassen, wirft die Problematik der subjektiven (und selektiven) Wahrnehmung auf sowie der generellen Erkennbarkeit der Wirklichkeit. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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schweigend aus einem Nachtasyl auf die Straße entlassen werden, konstituiert eine Opposition zwischen den „revelers of the ‚swinging sixties‘“ und den sozial Unterprivilegierten (Brunette 1998, S. 110). Die Suche nach Bedeutung, die als epistemologisches Thema des Films bezeichnet werden kann und am offensichtlichsten in Thomas’ Versuchen zutage tritt, anhand seiner Fotografien einen Mord zu rekonstruieren, sieht Peter Brunette in dieser Sequenz bereits angelegt. So wie Thomas, als er das Paar im Park fotografiert, zunächst nicht begreift, was vor seiner Linse passiert und erst mit zeitlichem Abstand ein Narrativ konstruiert, ergeht es auch uns von Anfang an. Weil die Kamera Thomas beim Verlassen des Asyls keine privilegierte Behandlung zuteilwerden lässt und er genauso schäbig aussieht wie alle anderen, erkennen wir ihn zunächst nicht als Protagonisten. Erst als er sich von der Gruppe separiert und wenig später in seinem Rolls-Royce zu sehen ist, erahnen wir seine Bedeutung für die Narration und setzen uns aus einer Reihe von Indizien (er hat eine Kamera, er arbeitet offensichtlich als Fotograf etc.) allmählich eine konsistente Erzählung zusammen. Zugleich werden wir uns dabei einer erzählenden Instanz bewusst, die Informationen vergeben, aber auch zurückhalten kann: „Thus, the interrelationship among truth, reality, appearance, and art that will become increasingly important in the film is also posited from the beginning“ (ebd.). Figuren  Ein auffälliges Merkmal, das Antonionis Figuren mit zahlreichen Protagonisten und Protagonistinnen des Art Cinema teilen, ist die Tatsache, dass viele von ihnen die Handlung nicht aktiv vorantreiben, indem sie Ziele verfolgen und Entscheidungen treffen, sondern dass sie offensichtlich stark vom Zufall beeinflusst werden. Oft scheint die erwähnte „innere Leere“, die der Filmemacher seinen Zeitgenoss*innen attestierte und in seine Figurenkonzeption übertrug, eine depressive oder zumindest melancholische Grundstimmung mit sich zu bringen, die dazu führt, dass seine Protagonisten und Protagonistinnen sich mit schlafwandlerischem Gleichmut durch ihren Alltag bewegen. Aldo (Steve Cochran) in Il grido (Der Schrei, I/USA 1957) ist dafür ein Beispiel, aber auch Lidia (Jeanne Moreau) in La notte (Die Nacht, I/F 1961) oder Vittoria (Monica Vitti) in L’eclisse (Liebe 1962, I/F 1962). Gescheiterte Beziehungen spielen für diesen Gemütszustand eine Rolle, emotionale Vereinsamung und ebenso die Schwierigkeit, dem eigenen Leben einen Sinn und eine Richtung zu geben. Auch in Blow Up erscheinen die dargestellten zwischenmenschlichen Beziehungen dysfunktional und rätselhaft. Thomas gibt gegenüber Jane (Vanessa Redgrave) einmal vor, einen Anruf von seiner Frau zu erhalten, korrigiert sich dann aber sofort: „She isn’t my wife, really. We just have some kids. No. No kids. Not even kids. Sometimes, though, it feels as if we had kids. She’s not beautiful, she’s … easy to live with. No, she isn’t. That’s why I don’t live with her.“ Ob die Frau, von der Thomas spricht, tatsächlich existiert, ist fraglich, und auch die Models, die er vor seiner Kamera arrangiert, einkleidet oder auszieht, bedeuten ihm nichts. Interesse zeigt Thomas lediglich an seiner Nachbarin Patricia (Sarah Miles), die wiederum mit einem Maler zusammenlebt und sich heimlich davon stimulieren lässt, von Thomas beim Sex beobachtet zu werden. Unklar bleibt auch, in welcher Beziehung Jane zu jenem Mann steht, mit dem sie sich

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in spielerisch-verliebten Posen durch den Park bewegt, schließlich erscheint ihre Verstrickung in seine Ermordung wahrscheinlich. Bezeichnend für Antonionis Erzählweise ist hierbei, dass all diese Figurenkonstellationen zwar angedeutet, aber nicht konkretisiert werden und dass sie für den Fortgang der Erzählung keine Rolle spielen. Antonionis Filme sind reine Gegenwart – und weder über die Vergangenheit seiner Charaktere noch über ihre Zukunft lassen sich valide Thesen aufstellen. Obwohl Thomas eine aktivere Figur ist als die meisten Helden und Heldinnen voriger Filme (beispielsweise plant er, einen Antiquitätenladen als zusätzliches Atelier zu erwerben und einen Bildband über London zu publizieren), lebt auch er in einer Art Künstler-Bohème in den Tag hinein und zeigt sich dem Zufall gegenüber aufgeschlossen. Thomas scheint eine geringe Aufmerksamkeitsspanne zu haben und wirkt mitunter launisch und sprunghaft, wenn er seine Models beispielsweise mit geschlossenen Augen stehen lässt, weil ihn die Inspiration und die Lust verlassen haben. Gleichzeitig ist er aber auch impulsiv und begeisterungsfähig, wenn er im Maryon Park ein Paar entdeckt, das seinen Jagdinstinkt weckt, und er als Paparazzo ein ungeplantes und unautorisiertes Shooting beginnt. Von „innerer Leere“ ist bei ihm keine Spur, vielmehr wird er von einer inneren Rastlosigkeit getrieben, die mit einem spürbar beschleunigten Erzählrhythmus und einer höheren Schnittfrequenz gegenüber Antonionis anderen Filmen korrespondiert (siehe Kap. 6, Abschn. 2). Während Giuliana (Monica Vitti) im unmittelbar zuvor gedrehten Il deserto rosso (Die rote Wüste, I/F 1964) noch unter der beschleunigten Veränderung der Welt zu leiden schien, passiv und deprimiert wirkte, ist Thomas „schon von Berufs wegen ein Agent der forcierten Veränderung“ und „[d]as Erzähltempo des Films orientiert sich an seiner Umtriebigkeit“ (Bauer 2015, S. 401). Als Fotograf ist Thomas immer auf der Suche nach dem perfekten Moment und Blow Up „ist nicht allein ein Traktat über das Verhältnis von Fotografie und Film, sondern erzählt zugleich von der narzisstischen Fixierung seines Helden, der Augenblicke seines Lebens habhaft zu werden“ (Seel 2013, S. 227). Wie so viele Charaktere Antonionis ist auch der Fotograf ein Einzelgänger, der nirgendwo dazugehört und vielleicht auch deshalb eine voyeuristische Perspektive auf das Leben anderer einnimmt (Abb. 7). Ins Armenhaus schleicht er sich ein, die glitzernde Welt der Modefotografie stößt ihn ab, auf das Konzert der Yardbirds gelangt er nur zufällig (weil er für einen Moment lang die Frau aus dem Park in der Schlange wiederzuerkennen glaubte), auf der Potparty zieht er sich zurück und schläft schließlich ein. Trotz dieser Isolation ist Thomas vielleicht der einzige Antonioni-Protagonist, der zumindest andeutungsweise eine positive Entwicklung durchmacht und sich der Außenwelt ein Stück weit anpasst, indem er sich zum Schluss auf das Spiel der Pantomimen einlässt. Schauplätze  Als international koproduzierter Film (Carlo Ponti, MGM), der außerhalb Italiens im Swinging London gedreht wurde, markiert Blow Up bereits auf den ersten Blick eine Zäsur in Antonionis Œuvre. Nach vier Filmen mit Monica Vitti, seiner damaligen Lebensgefährtin, in der Hauptrolle, verkörpert nun ein verhältnismäßig unbekannter Darsteller den Protagonisten. Bestehen bleibt die Aufmerksamkeit des

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Abb. 7   Die Schwierigkeit der Figuren, offen und direkt miteinander zu kommunizieren, findet – wie so oft bei Antonioni – ihre Entsprechung in der Bildsprache. Veruschka von Lehndorff ist im linken Bildkader nicht materiell präsent, sondern wird lediglich indirekt hineingespiegelt (a). Bill (John Castle) und Thomas reden miteinander, ohne sich anzusehen, wobei der Spiegel im Hintergrund die Tiefenwirkung verstärkt (b). Beide Kompositionsstrategien betonen die Distanz zwischen den Figuren. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

Regisseurs für die subjektiven Befindlichkeiten des Individuums, wobei auffällt, dass Antonioni, diesem Interesse zum Trotz, nach wie vor davon absieht, seine Figuren zu psychologisieren. Konsequent vermeidet er jede Form der Introspektion durch Monologe oder Dialoge und behält stets einen distanzierten Blick. Gefühle werden nicht artikuliert, sondern äußern sich in Mimik, Gestik und Proxemik oder werden manchmal auch abstrakt externalisiert, indem die Schauplätze zu Seelenlandschaften werden. Die karge und schroffe Felsenküste sowie die kalte, betonierte Geisterstadt in L’avventura (Die mit der Liebe spielen, I/F 1960) sind hierfür ein Beispiel oder auch die korrumpierte (auch farblich) denaturierte Industrielandschaft in Il deserto rosso. Einen Antonioni-Film versteht man nicht dadurch, dass man zuhört, was die Menschen sagen – obwohl dies Nuancen oder Komplexität verleihen mag –, sondern dass man schaut, wo die Menschen stehen, was sie anfassen, was sie anschauen und was sie anschaut. […] Die Landschaft wird nicht nur eingesetzt, um allgemeine Aussagen über die Persönlichkeit der Menschen zu treffen, sondern die spezifischeren Bewusstseinszustände werden durch bestimmte Schauplätze ausgedrückt. (Perry und Prieto 1986, S. 18f.)

Antonionis Œuvre ist in diesem Sinne voll von extremen Landschaften, die mit extremen Gefühlen korrespondieren. Ist die titelgebende „rote Wüste“ noch eine Metapher für Ravennas Hochöfen, Silos, Maschinenhallen und Industrieanlagen, so wird die Wüste in Professione: reporter und in Zabriskie Point (USA 1970) zum konkreten Schauplatz. Doch auch die Städte haben bei Antonioni stets etwas Wüstenhaftes, erscheinen nicht weniger lebensfeindlich und sind, wie Thomas Koebner bemerkte, „meist so ins Bild gesetzt, daß sie an Bühnendekorationen gemahnen“ (2001, S. 412) und keine Intimität zulassen. Diese Verödung und Leere, die sich auch als ästhetisches Prinzip durch Antonionis Gesamtwerk zieht, kontrastiert mit Lärm und Überfüllung, wie beispielsweise in den Börsen-Sequenzen von L’eclisse, die eine Hölle auf Erden entwerfen. Blow Up erscheint weniger radikal als Antonionis italienische Filme, doch auch er zeigt

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eine artifizielle Überformung der Stadt London, die nichts mit Naturalismus und noch weniger mit gängigen Bildstereotypen zu tun hat, die man mit dieser Stadt verbindet (Abb. 8). Wie bereits in seinem ersten Farbfilm Il deserto rosso verfolgt Antonioni auch in Blow Up eine Farbdramaturgie, die dazu tendiert, monochromatische Farbeindrücke zu generieren, wobei über weite Strecken kühle Blau-, Grau- und Grüntöne dominieren. Der kunstbegeisterte Regisseur, der selbst auch Maler war, hat sich immer gegen eine naturalistische Verwendung von Farben ausgesprochen und gefordert, diese müssten eine psychologische und dramatische Funktion erfüllen (vgl. Antonioni 2007, S. 98). Neben der eher kühlen Stimmung in Blow Up, die von den Farbtemperaturen wesentlich beeinflusst wird, tendiert eine auffällige Farbgebung vor allem dazu, die Aufmerksamkeit der Betrachtenden auf die Oberfläche der Bilder zu lenken. So lassen der Rasen, die Bäume und der Zaun in den Parksequenzen den filmischen Raum auf den ersten Blick als undifferenzierte grüne Textur erscheinen, innerhalb derer sich sowohl der Protagonist als auch das Publikum erst orientieren müssen. Zweifellos besteht ein enger Zusammenhang zwischen Antonionis farblicher Akzentuierung der Oberfläche als ästhetisches Prinzip und der oberflächlichen Modewelt, in der Thomas von Berufs wegen zu Hause ist (Abb. 9). Seine Undercover-Fotografie im Nachtasyl, die indiskrete Verfolgung des Paares im Park und auch das stetige Vergrößern (blow up) seiner Fotografien, um den Bildern eine Erkenntnis abzutrotzen, sind Suchbewegungen, die auf einen Blick unter die Oberfläche abzielen. In einer künstlich überformten, ästhetisierten Welt sucht der Fotograf nach Bedeutung, um – so könnte man die Schlusssequenz interpretieren – schließlich einsehen zu müssen, dass diese nur subjektiv konstituiert werden kann. Bildsprache  Antonionis Werke sind von einer artifiziellen Bildsprache geprägt, die mit einem distanzierten und emotionslosen, zugleich aber präzisen Blick auf die Figuren einhergeht. Auf der einen Seite gibt es bei ihm eine Tendenz zu weiten Einstellungen und zur Entleerung des Bildes, was dazu führt, dass Figuren an die Peripherie gerückt werden oder ganz aus dem Kader verschwinden. Sehr deutlich wird dies beispielsweise in der Schlusssequenz von L’eclisse, in der sich die visuelle Erzählung verselbst-

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Abb. 8   London erscheint in der Exposition als anonyme Wüste aus Glas und Beton (a+b). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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Abb. 9   Um einen monochromatischen Farbeindruck zu kreieren, ließ Antonioni die Häuser rot (a) und den Zaun grün (b) streichen. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

ständigt und in langen Einstellungen scheinbar wahllos Stadtansichten aneinanderreiht. Nicht selten wirken diese Kompositionen eher wie Gemälde oder Fotografien, die den filmischen Erzählfluss unterbrechen und einer narrativen Kohärenz entgegenwirken. Der damit einhergehenden Offenheit des Bildes, die dazu einlädt, den Blick schweifen zu lassen, steht auf der anderen Seite eine genaue Kadrierung und eine präzise Blicklenkung gegenüber. So fällt in Blow Up – wie bereits in früheren Antonioni-Filmen – immer wieder die Betonung von Rahmen ins Auge, mit denen Antonioni den Bildausschnitt des Breitwandformats optisch verkleinert (Abb. 10). Eine selektive Informationsvergabe, in Form einer Minimierung des Sichtfeldes, findet nicht nur durch die Mise-en-scène (insbesondere Kadrierung und Komposition) statt. Vielmehr wird die bereits angesprochene offene und mehrdeutige Erzählweise Antonionis, bei der die Zuschauenden selbst zu Sinnstiftenden werden müssen, häufig durch eine elliptische Narration und eine Ästhetik des Bruchstückhaften befördert. In der Bildsprache von Blow Up findet dieses Prinzip eine Entsprechung in Jump Cuts und ungewöhnlichen Bildanschlüssen, die die Wahrnehmung fragmentieren und eine Orientierung im filmischen Raum erschweren (beispielsweise in den Sequenzen, in denen Thomas in seinem Rolls Royce durch London fährt). Als Grund für eine Missachtung gängiger Montageregeln, die sich durch das gesamte Werk Antonionis zieht, benannte der Regisseur eine „instinktive Müdigkeit“, die er „schon seit einiger Zeit gegenüber den normalen und konventionellen Techniken und Erzählweisen des Films verspürte“ (1964, S. 85) und betonte, dass es ihm stets darum ginge, Irritationsmomente zu schaffen. In L’avventura findet sich beispielsweise eine Sequenz, in der Sandro (Gabriele Ferzetti) und Claudia (Monica Vitti) auf der kargen Felseninsel nach ihrer verschwundenen Freundin suchen, die vielen gängigen Montageregeln widerspricht und auf diese Weise eine räumliche Desorientierung und eine Fragmentierung der einzelnen Einstellungen schafft. Die Kamera schwenkt beispielsweise erst nach links, um gleich darauf wieder nach rechts zu schwenken; eine Figur bewegt sich im Bildraum zunächst von rechts nach links, um nach einem Zwischenschnitt von links nach rechts in den Bildkader zu kommen; eine vermeintliche Subjektive Sandros entpuppt sich als Trugschluss und als Sandro und Claudia aneinander vorbeigehen und sich dabei berühren, vollzieht

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Abb. 10   Wiederholt arbeitet Antonioni mit inneren Rahmungen, die ihm eine gezielte Blicklenkung erlauben und dennoch Distanz zu den Figuren wahren (a–e). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

die Kamera einen Achsensprung, als wolle sie verdeutlichen, dass die Beziehung der beiden gestört ist. Die Verunsicherung der Figuren, die nicht wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollen, findet ihre Entsprechung in der Bildsprache und überträgt sich als Irritationsmoment (Abb. 11). Was auf der Basis einer über Jahrzehnte hinweg gewachsenen filmsprachlichen Grammatik als unumstößliche Regel galt, wird von Antonioni infrage gestellt. So wie Thomas in Bezug auf die Zuverlässigkeit der eigenen Wahrnehmung in Zweifel gerät und dieses Defizit mit Hilfe seiner Vergrößerungsapparaturen zu kompensieren sucht, so soll auch das Publikum dazu angeregt werden, dem eigenen Blick zu misstrauen. Weit über das Thema der subjektiven Wahrnehmung hinaus führt Antonioni den aufmerksamen Betrachter*innen die generelle Manipulierbarkeit des filmisch geführten Blicks vor Augen, was in der finalen Parksequenz besonders deutlich zutage tritt. Nachdem der Fotograf an der Stelle, an der er in der Nacht zuvor eine Männerleiche entdeckt zu haben glaubte, nichts mehr vorfindet, hebt er seinen Blick gen Himmel. Die Folgeeinstellung ist

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Abb. 11   Thomas fotografiert den Antiquitätenladen (a). Im darauffolgenden Bild (b) ist die Kamera auf ihrer Blickachse in den Bildhintergrund hineingesprungen und nimmt das Geschehen nun in umgekehrter Richtung auf. Die große Distanz und die Weite der gewählten Einstellung provozieren (zumindest einen Moment lang) Orientierungsschwierigkeiten. Dadurch, dass die Figur des Fotografen verschwindend klein im mittleren Bildhintergrund zu sehen ist, mutet die Aufnahme an wie ein Vexierbild. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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Abb. 12   Eine vermeintliche Subjektive des Protagonisten entpuppt sich durch einen Kameraschwenk als Täuschung (a+b). Daraus ableiten lässt sich eine Limitation und Manipulierbarkeit des kamerageführten Blicks, der aus diesem Grund kritisch zu hinterfragen ist. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

eine Untersicht auf raschelnde Baumwipfel im Wind, ein für Antonioni typisches Motiv, das sich in zahlreichen seiner Filme finden lässt. Im Zusammenspiel von Thomas’ Blick und der Kombination von Auf- und Untersicht suggeriert dieser Umschnitt infolge filmsprachlicher Konventionen, dass es sich um eine Subjektive des Protagonisten handelt. Ein Schwenk von den Baumwipfeln herab auf den Fotografen offenbart jedoch, dass dies eine Täuschung ist und dass er selbst nicht der Urheber des Blicks gewesen sein kann (Abb. 12). Wer aber ist die Blickinstanz, die das Geschehen für uns perspektiviert und uns zugleich darauf hinweist, dass es so etwas wie einen objektiven Blick nicht geben kann? Antonioni selbst hätte auf diese Frage eine klare Antwort: „The objective camera is the camera wielded by the author. Using it I make my presence felt. The camera’s viewpoint becomes mine.“ (zit. nach Cardullo 2008, S. 123) Auch die Schlusseinstellung des Films lässt sich vor diesem Hintergrund als selbstbewusstes Statement eines Filmemachers interpretieren, der uns eine Zeit lang an einer subjektiv gefärbten Erzählung teil-

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haben ließ, in der er uns mit seiner Sicht auf die gegenwärtige Realität konfrontierte. In einer Rahmung des Geschehens zeigt eine aufsichtige Einstellung Thomas auf dem grünen Rasen der Titelsequenz, bevor er mit einem „Méliès-würdigen Stopptrick“ (vgl. Brunette 1998, S. 118) eliminiert wird. Wir haben es – scheint uns dieser Schluss noch einmal sagen zu wollen – nicht mit einem realen Charakter zu tun, sondern mit der Imagination eines Autors, der an dieser Stelle entschieden hat, einen Schlusspunkt zu setzen. Exemplarische Filme 1) Italienischer Autorenfilm der 1960er Jahre L’avventura (Die mit der Liebe spielen, I 1960, Michelangelo Antonioni) La maschera del demonio (Die Stunde, wenn Dracula kommt, I 1960, Mario Bava) Accattone (Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß, I 1961, Pier Paolo Pasolini) Divorzio all’italiana (Scheidung auf Italienisch, I 1961, Pietro Germi) Il posto (Der Job, I 1961, Ermanno Olmi) Il sorpasso (Verliebt in scharfe Kurven, I 1962, Dino Risi) 8 ½ (Achteinhalb, I 1963, Federico Fellini) Ieri, oggi e domani (Gestern, heute und morgen, I 1963, Vittorio De Sica) Il Gattopardo (Der Leopard, I 1963, Luchino Visconti) I basilischi (Die Basilisken, I 1963, Lina Wertmüller) Le mani sulla città (Hände über der Stadt, I 1963, Francesco Rosi) C’era una volta il West (Spiel mir das Lied vom Tod, I/USA 1968, Sergio Leone) Il grande silenzio (Leichen pflastern seinen Weg, F/I 1968, Sergio Corbucci) I cannibali (Die Kannibalen, I 1970, Liliana Cavani) Il conformista (Der große Irrtum, I/F/BRD 1970, Bernardo Bertolucci) 2) Europäischer Autorenfilm der 1960er Jahre Les 400 Coups (Sie küßten und sie schlugen ihn, F 1959, François Truffaut) Saturday Night and Sunday Morning (Samstagnacht bis Sonntagmorgen, GB 1960, Karel Reisz) Viridiana (SP/MEX 1961, Luis Buñuel) L'Année dernière à Marienbad (Letztes Jahr in Marienbad, F/I 1961, Alain Resnais) Samson (PL 1961, Andrzej Wajda) Cléo de 5 à 7 (Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7, F 1962, Agnès Varda) Elektra (GR 1962, Michael Cacoyannis) Nóż w wodzie (Das Messer im Wasser, PL 1962, Roman Polański) The Loneliness of the Long Distance Runner (Die Einsamkeit des Langstreckenläufers, GB 1962, Tony Richardson) O něčem jiném (Von etwas anderem, CZE 1963, Věra Chytilová) Gertrud (DK 1964, Carl Theodor Dreyer) Le Bonheur (Das Glück aus dem Blickwinkel des Mannes, F 1965, Agnès Varda)

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Pierrot le fou (Elf Uhr nachts, F/I 1965, Jean-Luc Godard) Andrei Rublev (Andrej Rubljow, SU 1966, Andrej Tarkovskij) Persona (S 1966, Ingmar Bergman) Spur der Steine (DDR 1966, Frank Beyer) Au hasard Balthazar (Zum Beispiel Balthazar, F/SWE 1966, Robert Bresson) Abschied von gestern (BRD 1966, Alexander Kluge) Vedreba (Das Gebet, GEO 1967, Tengis Abuladse) If... (GB 1968, Lindsay Anderson) Eltávozott nap (Das Mädchen, HUN 1968, Márta Mészáros) Korotkije wstretschi (Kurze Begegnung, SU 1968, Kira Muratova) Ich war neunzehn (DDR 1968, Konrad Wolf) Flickorna (Die Mädchen, SWE 1968, Mai Zetterling) Fényes szelek (Schimmernde Winde, HUN 1969, Miklós Jancsó) Katzelmacher (BRD 1969, Rainer Werner Fassbinder) Nran Guyne (Die Farbe des Granatapfels, ARM 1969, Sergej Paradschanow) Literaturhinweise zur Stiltheorie und Autorenpolitik Bazin, André. 2004. Die Entwicklung der Filmsprache. In Was ist Film?, hrsg. Robert Fischer, 90-109. Berlin: Alexander. Blunk, Julian [u.a.], Hrsg. 2016. Filmstil. Perspektivierungen eines Begriffs. München: edition text + kritik. Bordwell, David [u.a.]. 1988. The classical Hollywood cinema: Film Style and Mode of Production to 1960. London: Routledge. Bordwell, David. 1997. On the history of film style. London: Harvard University Press. Bordwell, David. 2001. Visual Style in Cinema: Vier Kapitel Filmgeschichte. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren. Gibbs, John. 2002. Mise-en-scène. Film style and interpretation. London: Wallflower. Gibs, John und Douglas Pye. 2005. Style and Meaning. Studies in the detailed analysis of film. New York: Manchester University Press. Groß, Bernhard/Thomas Morsch. Hrsg. 2021. Handbuch Filmtheorie. Wiesbaden: Springer. Gumbrecht, Hans Ulrich, Hrsg. 1986. Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Felix, Jürgen. 2002. Autorenkino. In Moderne Film Theorie, hrsg. ders, 13-57. Mainz: Bender. Hesse, Christoph/Oliver Keutzer/Roman Mauer/Gregory Mohr. Hrsg. 2016. Filmstile. Wiesbaden: Springer. Müller, Wolfgang G. 1981. Topik des Stilbegriffs: Zur Geschichte des Stilverständnisses von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Panofsky, Erwin. 1985. Style and Medium in the Motion Pictures [1934/1936]. In Film Theory and Critics, hrsg. Gerald Mast und Marshall Cohen, 215-233. New York: Oxford University Press.

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Prümm, Karl. 2006. Von der Mise en scène zur Mise en images. Plädoyer für einen Perspektivenwechsel in der Filmtheorie. In Bildtheorie und Film, Hrsg. Thomas Koebner und Thomas Meder, 15–35. München: ETK. Schulte, Christian. 2021. Politique des auteurs und die Theorie filmischer Autorschaft. In Handbuch Filmtheorie, Hrsg. Bernhard Groß und Thomas Morsch, 383-400. Wiesbaden: Springer. Salt, Barry. 2009. Film style and technology. History and analysis (3. Aufl.). London: Starword. Salt, Barry. 2006. Moving into pictures. More on film history, style, and analysis. London: Starword. Wuss, Peter. 1998. Originalität und Stil. Zu einigen Anregungen der Formalen Schule für die Analyse von Film-Stilen. Montage/av. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation, Vol 7. Nr 1. 145-167.

2 Genretheorie Sebastian Lauritz Mit dem von David Hemmings gespielten Fotografen Thomas steht eine Figur im Zentrum von Blow Up (GB/IT 1966), die sich einem ästhetischen Lebensstil im Sinne Kierkegaards verschrieben hat. Ziellos streift er umher, begeistert sich für Objekte, die ihm auf unerklärliche Weise gefallen und verliert bald wieder das Interesse an ihnen. So auch im Hause seines Freundes Bill, in dem er sich von der Faszination des Malers für dessen eigene Gemälde anstecken lässt. Seine Kunst bedeute noch nichts in dem Moment, in dem er sie kreiere, erläutert dieser. Sie habe noch keine Ordnung. Erst nachträglich würden sich bei der Betrachtung aus den Linien und Flächen Dinge herausschälen: „Then it sorts itself out and adds up. It’s like finding a clue in a detective story.“ Der kurze Monolog des Künstlers, einer Randfigur, der die Versenkung in eine Welt abstrakter Formen beschwört, in der diese ohne Zutun des Betrachters plötzlich eine tiefer liegende Bedeutungsschicht offerieren, ist als filmische Mise-en-abyme inszeniert. Die Selbstbespiegelung der filmischen Konstruktion kündigt bereits an, dass sich Blow Up ebenfalls in eine Art Detektivgeschichte verwandeln wird, wenn der Fotograf wenig später auch in seinen Bildern Indizien entdeckt, die auf ein Mordkomplott hindeuten (Abb. 13). Dabei fungiert der Verweis auf die Spurensuche einer Detektivgeschichte nicht nur als Analogiebildung zwischen zwei hermeneutischen Verfahren, die jeweils bestrebt sind, eine zunächst rätselhaft anmutende Textur – die Bildfläche im einen, den Schauplatz eines Verbrechens im anderen Fall – durch korrekte Interpretation vorhandener Zeichen dechiffrierbar zu machen. Er schafft zugleich eine Folie, vor welcher der Film fortan betrachtet und mit der er abgeglichen werden kann. So wird eine doppelte Markierung gesetzt: Einerseits wird das Bewusstsein für ein spezifisches Genreschema etabliert, noch bevor die Kriminalgeschichte einsetzt. Andererseits wird

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Abb. 13   Die Entschlüsselung von Bildern wird in Blow Up immer wieder mit der Spurensuche in einer Detektivgeschichte verglichen und als kriminalistische Arbeit inszeniert (a+b). Quelle: Blow Up (GB/I/ USA 1966, © MGM u. a.)

aber offengelassen, wie der Film mit diesem Schema arbeiten und ob er dessen Konventionen einhalten will. Wird Blow Up über seinen Rekurs auf das Muster der Detektivgeschichte selbst zu einer Genreerzählung? Was würde sie auszeichnen? Und welchen Nutzen hätte eine Kenntnis des Genrerahmens, falls der Film dessen Schema nicht befolgt? Um uns Blow Up von diesen Fragen geleitet nähern zu können, soll zunächst das Konzept des Genres in den für eine Einzelfilmanalyse wesentlichen Dimensionen konturiert werden.

2.1 Theoretische Grundlagen Der Begriff des Genres wird in vielen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, aber auch in der alltäglichen Kommunikation verwendet und ist Gegenstand filmwissenschaftlicher Forschungen gewesen, seit sich die Beschäftigung mit Film- und Fernsehprodukten in den 1960er Jahren im akademischen Umfeld auszuprägen begann. Dabei hat er sich nicht nur als langlebiges, sondern auch bemerkenswert wandelbares Konzept erwiesen. Er ließ sich im Kontext semiotisch orientierter Ansätze, welche die Forschung in den 1970er Jahren prägten, ebenso diskutieren wie im Zusammenhang mit mythentheoretischen und feministischen Fragestellungen und war in nachfolgenden Jahrzehnten auch anschlussfähig für Perspektiven des Poststrukturalismus, der Kognitionswissenschaften oder der Cultural Studies. So repräsentiert der Bereich der Genreanalyse nicht nur einen eigenen Forschungsstrang, sondern bildet eine Schnittstelle, an der sich unterschiedliche Ansätze treffen, ohne dass Erörterungen des Genrekonzepts in ihnen selbst notwendigerweise im Zentrum stehen und der Begriff stets in identischer Weise verwendet wird. In der Konsequenz hat dies zu einer Unschärfe des Gegenstandsbereichs beigetragen, der sich nicht mehr in überzeitlich gültiger Weise definieren, sondern besser über eine Auffächerung der Axiome erschließen lässt, die in der Genretheorie immer wieder umkreist wurden.

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Genrekonzepte im Rahmen poetologischer Systematiken Abgeleitet wird der französische Begriff genre vom lateinischen genus und dieses vom griechischen génos (γένος), was sich als Art oder Typus übersetzen lässt (vgl. Neale 2000, S. 9; Keutzer et al. 2014, S. 281). Diesem Begriffsverständnis folgend bilden Genrekonzepte in unterschiedlichen Philologien, der Kunstwissenschaft und anderen akademischen Disziplinen (vgl. Kuhn et al. 2013, S. 2) eine Achse, anhand derer sich ästhetische Gegenstände im Rahmen poetologischer Überlegungen gruppieren und klassifizieren lassen. Im Unterschied zu Kategorienbildungen, denen technisch-handwerkliche, zeitliche oder geographische Kriterien zugrunde liegen, orientieren sich Genres an Merkmalen oder Merkmalskomplexen, die in den Werken selbst lokalisiert werden. In Anlehnung an René Welleks und Austin Warrens Theory of Literature (1956) wurde dabei zum Teil auch in der Filmwissenschaft angestrebt, zwischen der äußeren und inneren Form eines Werks zu differenzieren (vgl. Altman 1999, S. 7 f.). Die äußere Form sei über Verwendungszweck und/oder Erzählmodus charakterisiert, wodurch filmische Großformen wie der Werbe-, Industrie- und Spielfilm im ersten oder Dokumentar-, Spiel- und Experimentalfilm im zweiten Falle voneinander abgrenzbar werden. Davon zu unterscheiden wären dominante stofflich-motivische Ausprägungen innerhalb dieser Großformen (vgl. Hickethier 2003, S. 63). Im Rahmen dieses Konzepts ließe sich beispielsweise der Kriminalfilm als Unterform des Spielfilms begreifen. Bildet auch sie mehrere markante Ausprägungen aus, könnte man diese als Unterformen der Kriminalgeschichte auffassen (Abb. 14). Während die angloamerikanische Filmwissenschaft dazu neigt, solche Kategorien per se als Genres – oder die äußeren Formen als Genres und die inneren als Subgenres – zu bezeichnen (vgl. Sobchack 1995, S. 113), tendiert die Filmwissenschaft im deutschsprachigen Raum dazu, die äußeren Formen als Gattungen, die inneren dagegen als Genres (und nur deren Unterformen als Subgenres) zu bestimmen (vgl. Kuhn et al. 2013, S. 11).

Abb. 14   Hierarchisch organisiertes Schema der Gattungs- und Genresystematik (© Lauritz)

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Die begriffliche Trennung kann im Anschluss an Knut Hickethier damit begründet werden, dass die Unterordnung des Genres unter die Gattung impliziere, dass diese nur innerhalb einer Gattung aufträten. Da sich aber etwa Kriminalerzählungen nicht nur im Spiel- und Animationsfilm, sondern auch medienübergreifend im Theater, in Comics und der Literatur finden, spreche dies dafür, dass Genres „nicht nur quer zu den Gattungen im Film, sondern auch zu denen in verschiedenen anderen Medien“ (Hickethier 2003, S. 63) stünden. Folglich handle es sich bei ihnen nicht zwingend um medienspezifische Phänomene. Ganz gleich, ob man die Begriffe Genre und Gattung synonym verwendet und davon ausgeht, dass Genres Unterformen von Gattungen darstellen oder nicht, ist jede Systematisierung mit der Frage konfrontiert, wie viele Genres sie für ihren Gegenstandsbereich veranschlagt. Geht man von der Produktionspraxis und den in den Alltagsdiskursen zirkulierenden Begriffen aus, die eine Vielzahl von Genrebezeichnungen anbieten oder beschränkt man sich auf die theoretische Bestimmung einer in der Regel kleineren Gruppe von Kategorien? Im ersten Fall besteht das Problem, dass sich die Genre- und Gattungsbezeichnungen in der Regel nicht in theoretisch vollends überzeugende Kategorien übersetzen lassen. Entwickelt man dagegen ausgehend von formallogischen Kriterien abstrakte Genrekategorien (was auch mit neuen Begriffsprägungen einhergehen kann, vgl. Altman 1999, S. 15), lassen sich diese im Zuge empirischer Überprüfungen nicht durchgängig verifizieren (vgl. Schweinitz 1994, S. 106 f.). In beiden Fällen dient folglich die Bestrebung zur Systematisierung einer ersten groben Gegenstandsbestimmung, die aber gewöhnlich in einer nachfolgenden Analyse verfeinert und modifiziert wird. Interessanterweise zeichnet sich bei der Historisierung der zur Klassifizierung verwendeten Kategorienbildungen nicht allein eine Veränderung der Anzahl und Bezeichnungsformen ab. Es ist auch zu beobachten, dass sich im Laufe der Zeit die zugrunde liegenden Kriterien verschieben: So war die neoklassische Literaturtheorie des 17. und 18. Jahrhunderts, die Edward Buscombe Anfang der 1970er Jahre maßgeblich bei seinen Pionierarbeiten der filmwissenschaftlichen Genretheorie inspirierte, noch darauf ausgerichtet, anhand distinkter Merkmale Literaturkategorien mit klaren Grenzziehungen zu definieren, die ermöglichen sollten, literarische Werke innerhalb des Kategorienspektrums unstrittig einordnen zu können (vgl. Buscombe 1970, S. 33). Entsprechend waren filmwissenschaftliche Überlegungen zur Genretheorie zunächst bestrebt, eine kleine Gruppe erzählerischer Großformen anhand distinkter Merkmale voneinander zu separieren. Besteht aber die der Klassifizierung vorangehende ästhetische Praxis – wie schon im frühen Hollywoodkino üblich – nicht mehr darin, einmal postulierte Normen immer wieder in identischer Weise zu erfüllen, sondern Merkmalskomplexe in stets neuen Kombinationen und Varianten zu durchmischen (vgl. Neale 1990, S. 56 ff.), bietet es sich an, auch die Genrekategorien offener anzulegen. Über den Genrebegriff können dann bestimmte Kernaspekte eines Films umrissen werden, ohne zu unterstellen, dass die derart klassifizierten Werke ausschließlich in die jeweils genannte Kategorie fallen und Merkmale dieser Kategorie nicht auch in anderen

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Genres präsent sein können. Einen Film sowohl als Detektivgeschichte als auch als Thriller zu charakterisieren, wäre folglich nicht nur möglich, weil diese Bezeichnungen auf unterschiedliche Abstraktionsebenen zielen und im ersten Fall auf eine Verknüpfung von Figurentyp und Handlungsmuster, im zweiten primär auf eine Wirkungsabsicht rekurrieren, sondern auch, weil sich die den Kategorienbildungen zugrunde liegenden Merkmale nicht notwendigerweise unterscheiden müssen. Genreformen als Teilbereich der oder Gegenpol zur Kunst Neben der Konzeption der Genrekategorien ist auch die Wertung und damit verbundene Wertschätzung generischer Formen nicht überzeitlich konstant. Galt der Literaturtheorie des 16. bis 18. Jahrhunderts die Einhaltung generischer Konventionen als Grundvoraussetzung, um Texte überhaupt als Literatur anzuerkennen, wandelte sich dieses Verständnis im Zuge der Romantik vollständig (vgl. Neale 2000, S. 22 f.). Genreformen wurden in der Folge häufig in Opposition zu einem als wahrhaftig gewerteten künstlerischen Ausdruck gesetzt, weil erstere unter Berücksichtigung eines Sets von Mustern und Konventionen entstünden, während letzterer sich nur in der Missachtung und Durchbrechung regelhafter Strukturen artikulieren könne. In dieser Perspektive werden seit dem 19. Jahrhundert gern in generalisierter Form alle Ausprägungen massenkultureller Unterhaltung als schematisch, stereotyp und damit generisch bezeichnet und einer (avantgardistischen) Kunst gegenübergestellt, die nicht regelhaft sei und folglich keine Genres kenne (vgl. ebd.). Dieses Werturteil hat maßgeblich dazu beigetragen, dass in der Filmkritik der 1920er bis 1960er Jahre meist die Wertschätzung für einzelne, als Filmkünstler gewertete Regieführende im Zentrum der Besprechungen stand, während generische Formen pauschal als 'Konfektionsware' und 'Trivialfilme' diskreditiert oder lediglich als Prätext für die Analyse individueller Regiestile gewertet wurden (vgl. Schweinitz 1994, S. 102; Hickethier 2003, S. 66 f.). Im Zuge postmoderner Kunstpraxis und Theoriebildung ist diese Dichotomie seit den 1960er Jahren sukzessive ausgehöhlt worden. Dazu hat auch die Erkenntnis beigetragen, dass der Impuls der Avantgarden in den Jahrzehnten zuvor nicht die erhoffte Zerstörung aller ästhetischen Konventionen bewirkt, sondern selbst neue hervorgebracht hat. Versteht man Genres also als wertneutralen Ausdruck für Inszenierungskonventionen, die sich auf einer überindividuellen Ebene ausprägen, lassen sich auch jenseits des Unterhaltungskinos, etwa im Dokumentar-, Kunst- oder Experimentalfilm, generische Muster bestimmen. Ebenen der Genrekonzeption  Neben Ansätzen, die Genres als Textklassen beziehungsweise Produktionsformen beschreiben und diese allein anhand werkimmanenter Merkmale bestimmen, können sie auch als werkexterne Phänomene begriffen werden. Schon 1973 sprach Andrew Tudor davon, dass es sich bei Genres weniger um Filmgruppen handle, sondern um „conceptions held by certain groups about certain films“ (1995, S. 10). Um sie zu analysieren, sei nicht primär das filmische Artefakt interessant, sondern der mit ihm verbundene Erwartungshorizont. Im Anschluss an Steve Neales Questions of Genre (1990) wird dabei verstärkt auch auf die Ausprägung und Ent-

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wicklung von Genrebegriffen und deren Verwendungsformen in der Filmwerbung, in Programmzeitschriften oder Filmkritiken eingegangen. So wird beispielsweise danach gefragt, welche Merkmale über die jeweils verwendeten Bezeichnungen betont und welche Erwartungshaltungen auf Seite der Rezipienten mit einem Genre verbunden werden. Dies öffnet nicht zuletzt auch den Blick dafür, wie der jeweils bestehende Erwartungshorizont auch auf die Produktion neuer Genrefilme zurückwirkt. Deshalb vertreten neuere Ansätze durchweg die Auffassung, dass Genres als diskursive Größen zu verstehen seien, also als „zwischen Text und Kontext zirkulierende Strukturen“ (Ritzer 2014, S. 8), die sich erst über Austauschprozesse zwischen ästhetischer Praxis, rezeptionsseitiger Appropriation und nicht zuletzt auch der wissenschaftlichen Theoriebildung realisieren (vgl. ebd., S. 6). Überlegungen zur Statik oder Dynamik generischer Formen stehen in Zusammenhang mit den bisher umrissenen Punkten. Einerseits berühren sie Fragen zur Strukturierung des generischen Feldes: Wie viele Genres im Sinne unterscheidbarer Einzelgenres werden etwa zu einer Zeit in einem Produktionsumfeld angenommen? Bleiben diese simultan bestehenden Genreformen überzeitlich konstant oder verändern sie sich? Werden dabei einzelne Genres sukzessiv von anderen abgelöst oder verändert sich die Einteilung des gesamten Feldes, wird also ein „generic regime“ (Neale 1990, S. 57) von einem anderen ersetzt? Andererseits beeinflussen sie die Konzeption der Einzelgenres, die im Mittelpunkt vieler Genreanalysen stehen: Lassen sich Genres in einem essentialistischen Verständnis für die Dauer ihres Bestehens als invariante, starre Merkmalskategorie denken, deren fester Kern eindeutig bestimmbar wäre? Oder wird auch das Einzelgenre in Anlehnung an Rick Altmans 1984 veröffentlichen Semantic/ Syntactic Approach to Film Genre als historisch veränderbare Größe ohne festen Kern konzipiert, dessen Merkmale sich im Laufe der Zeit so signifikant wandeln, dass es beispielsweise zum Zeitpunkt A anhand gänzlich anderer Kriterien und zugehöriger Filme bestimmt würde als zum Zeitpunkt B? Genres rekurrieren auf Merkmalskomplexe der Filmgestaltung auf stofflicher Ebene  Die zugrunde liegende Kategorienbildung erfolgt dabei anhand klar umrissener oder diffus gehaltener Kriterien. Genres können historisch invariant oder prozessual konzipiert sein. Variabel ist zudem die Einschätzung, ob sich Genres allein auf textimmanenter Ebene bestimmen lassen oder auch werkexterne Parameter wie Erwartungshorizonte und Hypothesenbildungen auf Rezipientenseite in die Genrebestimmung einfließen müssen. Dann wird das Genre, wie es inzwischen üblich ist, als ein zwischen Text und Kontexten zirkulierender, sich beständig prozessual modifizierender Diskurs begriffen. In diesen Tendenzen zeichnet sich auch die historische Entwicklung der Genreforschung ab: Die um 1970 entstandenen, frühen Genretheorien tendieren zu einem statischen, essentialistischen Genreverständnis, während sich im Anschluss an Rick Altmans Semantic/Syntactic Approach und Steve Neales Questions of Genre ein mehrschichtiges, prozessuales Begriffsverständnis durchsetzt.

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2.2 Stationen der Genretheorie Autorentheorie und Genretheorie Die Begeisterung für konventionelle Aspekte der Filmgestaltung innerhalb der US-amerikanischen Filmwissenschaft entsteht um 1970 als Gegenentwurf zu der Form der Autorentheorie, die Andrew Sarris dort etabliert hatte. Auf deren Grundlage war in den 1960er Jahren begonnen worden, die Geschichte des amerikanischen Kinos zu einer Historie seiner Regie-Autor*innen umzuschreiben. Gegen den als Snobismus empfundenen Grundsatz der Autorentheoretiker „which assumes that you cannot really appreciate a film unless you have seen all its director’s other films […] [and] if an individual film is good, then it must have an auteur behind it“ (Buscombe 1970, S. 41) richtet sich Edward Buscombes The Idea of Genre in the American Cinema (1970), ein Schlüsseltext der frühen US-amerikanischen Genretheorie. Der Grundfehler der Autorentheorie liege nach Buscombe in der Annahme, Filme allein über die Berücksichtigung der für ihre Herstellung verantwortlichen künstlerischen Instanz erschließen zu wollen. Dabei werde, wie er mit Blick auf Robin Woods Monographie Hitchcock’s Films (1965) ausführt, außer Acht gelassen, dass sich viele gestalterischen Merkmale der Filmproduktion gerade nicht über den Regiestil, sondern die Kenntnis der jeweils genutzten erzählerischen Standards erklären lassen: When we are faced with genuinely distinctive artist, we too often consider them apart from the genre background they work in. Robin Wood's book on Hitchcock is an excellent piece of criticism. But in his discussion of Psycho (1960) he says nothing of the film's obvious relation to the horror genre. Surely our sense of fear depends at least in part on our built-in response to certain shock symbols that Hitchcock employs. [...] The house itself, with its vague suggestion of Victorian Gothic, is straight out of any number of horror films. And when at the end Vera Miles goes down to the cellar, we are terrified, not just because we have heard Norman say he is taking his mother down there [...]; our certainty that something unpleasant will be found comes from our knowledge that nasty things come out of cellars in this kind of film. This is not to deny Wood's ascription of Freudian overtones to the cellar; but the trouble with Freudian overtones is that you aren't supposed to be aware of them. It seems more likely that our conscious reaction to the scene owes more to our having assimilated them through an exposure to the tradition of the genre. (ebd., S. 42)

In einer um Vollständigkeit bemühten Filmanalyse müsse daher der Blick auf den auteur um eine Berücksichtigung generischer Konventionen ergänzt oder gleich ersetzt werden, denn die künstlerische Position bringt „to the genre his or her own concerns, techniques, and capacities – in the widest sense, a style – but receives from the genre a formal pattern that directs and disciplines the work. In a sense this imposes limitations“ (ebd., S. 43). Wenn nämlich gewisse Themen und Verfahren nicht erfolgreich sind, weil sie zu stark gegen das Genre arbeiten (vgl. ebd.), bedeutet dies, dass letztlich nicht der auteur, sondern das Genre festlegt, was ein Film ausdrücken könnte. Mit dieser Argumentation kreiert Buscombe nicht nur einen unversöhnlich anmutenden Gegensatz zwischen Autoren- und Genretheorie, sondern gibt auch die Richtung für die Theorieentwicklung der Folgejahre vor: Verstanden als ‚Systeme kultureller Konventionen‘ (Andrew Tudor),

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scheinen die „klassischen Hollywood-Genres, mit ihren langlebigen Reihen ähnlicher Filme“ und ihren „strukturellen und motivischen Ähnlichkeiten […], ob man sie nun ‚Genrestrukturen‘, ‚structural patterns‘, ‚formulas‘ oder anderes nannte“ (Schweinitz 1994, S. 104), als idealer Untersuchungsgegenstand, an dem sich in einer Mischung aus kulturkritischer, semiotischer und mythentheoretischer Perspektive zeigen ließ, wie bislang unbeachtete Makrostrukturen des Erzählens in die Filmindustrie und darüber auch in die Vorstellungswelt eines Kulturraums hineinwirken. Genres werden fortan häufig als Regulative betrachtet, die über schematisierte Erzählformen kollektive Mythen prägen und determinieren, welche Formen des Handels, der Geschlechtlichkeit, der Normen und Werte in der kulturellen Sphäre wirken, in der sie präsent sind. Ob sie deshalb als reaktionäre und manipulative Mechanismen oder als Instanzen kulturellen Gleichgewichts zu werten wären, wie in der Folge kontrovers diskutiert wurde, ist für unsere Belange weniger relevant als die Frage, über welche Klassifizierungsformen Genrestrukturen theoretisch zu fassen versucht wurden. Denn dies führt zum Kernproblem jeder Genrestudie: Was zeichnet ein Genre aus? Was grenzt es von anderen ab? Wie viele Genres gibt es überhaupt? Genrekategorien zwischen Alltagslogik und formallogischem Modell Orientiert man sich an den innerhalb der Filmindustrie, Filmwerbung und Filmkritik gebräuchlichen Bezeichnungen, stellt sich häufig das Problem, dass deren Etikettierungen zum Teil willkürlich anmuten, da mitunter für denselben Film in unterschiedlichen Zeitschriften oder im Zuge von Wiederaufführungen wechselnde Genre-Etikette gewählt werden. Zudem lässt sich die Anzahl verfügbarer Begriffe kaum vollständig überblicken. So wurden zum Beispiel im Rahmen einer in den 1990er Jahren durchgeführten Untersuchung rund 2500 in Programmankündigungen verwendete Genre- und Gattungsbegriffe gezählt (vgl. Hickethier 2003, S. 64). Sie stellen meist „Komposita aus Produktbezeichnungen, funktionalen und affektiven Attributen und anderen Bestimmungen dar“ (ebd.), lassen sich aber kaum auf einen Nenner bringen. Ausdrücke wie ‚Western‘ beschreiben eine raum-zeitliche Verortung (ein Setting), ‚Musical‘ eine diegetische Konvention, die von unserer Alltagserfahrung abweicht, ‚Söldnerfilm‘ einen Figurentyp, ‚Suspense-Thriller‘ eine Wirkungsabsicht und ‚Frauenfilm‘ das offenbar intendierte Zielpublikum. Auch scheinen Genrekonzepte der Alltagskommunikation und einem Großteil filmkritischer Diskurse fragil, weil hierbei, so hat Jörg Schweinitz auf Grundlage der Kognitionstheorie George Lakoffs gezeigt, üblicherweise mit einer „Bildung von Clustermodellen auf Grundlage einer radialen Struktur“ (1994, S. 111) gearbeitet werde: Ausgehend von ein bis zwei als prototypisch erachteten Beispielen wird eine intuitive Merkmalsbestimmung des Genres durchgeführt und von diesen ausgehend eine assoziative Verkettung mit weiteren Beispielen angestrebt. In solchen Kettenkomplexen müssen schon das erste und das dritte Element in keiner direkten Beziehung mehr miteinander stehen, da beispielsweise der Film 1 mit Film 2 das Merkmal a, jedoch mit Film 3 das Merkmal b teilt (Abb. 15).

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Folglich können solche Kategorien, deren Muster nach Lakoff für das Alltagsdenken typisch seien, nicht in ein formallogisches Modell übersetzt werden, weil nicht alle Teilelemente über ein identisches Merkmal verfügen (vgl. ebd., S. 112). Da bei diesem Vorgehen auch nicht festgelegt ist, welche Beispiele als Prototypen auszuwählen sind, können verschiedenste Merkmale als genrekonstituierend abgeleitet und daraus divergierende Gegenstandsverständnisse entwickelt werden. Die frühen Genretheoretiker*innen waren überzeugt, dieser Unschärfe eine formallogische Definition ihres Gegenstandsbereichs entgegensetzen zu müssen, in der sich einzelne Genres über eine „hinreichend[e] Zahl von Motiven“ (Stuart Kaminsky, zit. nach Schweinitz 1994, S. 107) bestimmen und klar voneinander separieren ließen (vgl. Gledhill 2000, S. 221) (Abb. 16). Damit das gelingen konnte, wurde das Untersuchungsfeld radikal eingegrenzt und auf die Analyse einer Handvoll vermeintlicher Hauptgenres, wie den Western oder das Musical, beschränkt, in denen ein in der Tendenz überzeitlich konstantes, „möglichst vielgliedriges Invarianzmuster“ (Schweinitz 1994, S. 106) vermutet wurde. So prägte sich eine Diskrepanz zwischen Genrebezeichnungen aus, die a) als Verständigungsbegriff in Alltagsdiskursen und b) als theoretische Konzepte in wissenschaftlichen Diskursen fungieren (vgl. Kuhn et al. 2013, S. 3 f.), die bis in neuere Publikationen hinein als widersprüchlich empfunden wird. Schichtenmodelle der Genregrammatik Auf welchen filmischen Gestaltungsebenen sind aber die Invarianzmuster zu veranschlagen, nach denen die theoretischen Entwürfe zunächst suchen? Der Begriff Genre macht diesbezüglich keine Vorgaben und auch die literaturwissenschaftlichen Abhandlungen zur Genre- und Gattungstheorie, die von Buscombe herangezogen werden, liefern kaum Anhaltspunkte. Deshalb griffen viele Ansätze auf ein Analyseschema zurück, dass von dem New Yorker

Abb. 15   Der Kettenkomplex: Filmbeispiel 1 weist distinkte Merkmale auf. Da jene Merkmale, die mit Film 2 übereinstimmen, nicht jene sein müssen, die mit Film 3 geteilt werden, ergibt sich keine Merkmalsüberschneidung zwischen Film 2 und Film 3. Folglich lässt sich hier kein gemeinsamer Nenner an Merkmalen bestimmen, den alle Filme des Genres teilen. (© Lauritz)

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Abb. 16   Sogenannte „essentialistische Genretheorien“ gehen von der Grundannahme aus, dass sich Genres anhand distinkter Merkmale bestimmen lassen. Neben genreunspezifischen Merkmalen – wie z. B. einer Liebesgeschichte, die als Subplot fungiert und in einer Vielzahl von Genres anzutreffen ist – gebe es auch eine Reihe von Merkmalen, die nur innerhalb eines einzelnen Genres anzutreffen und daher charakteristisch für dieses seien. (© Lauritz)

Kritiker Robert Warshow in seinen Essays The Gangster as Tragic Hero (1948) und The Westerner (1954) entwickelt worden war. Warshow, der seinerzeit als einer der ersten amerikanischen Intellektuellen für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Phänomenen der Populärkultur plädiert hatte, stellt in diesen Texten zwei Genres des amerikanischen Kinos – den Gangsterfilm und den Western – gegenüber. Beiden nähert er sich nicht in Form von Einzelanalysen, sondern löst Bilder, Posen und Momente aus einem nicht näher konkretisierten Filmkorpus heraus und choreographiert sie in assoziativer Verkettung zu einer neuen Grundordnung, in der ein gemeinsamer Grundtenor erklingt. Im Falle des Gangsterfilms leuchtet so eine moderne Form der Tragik auf, in welcher der Gangster als Repräsentant einer kapitalistischen Logik zum radikalen Erfolgsstreben verpflichtet sei, im Moment des Erfolges aber für eben dies bestraft werde und zugrunde gehe. Das Spannungsfeld, in dem sich das Genre entfalte, sei demnach durch a) ein gleichbleibendes Grundthema gekennzeichnet, das sich aus dem Zusammenspiel eines b) klar definierten Figurentyps innerhalb eines c) feststehenden Handlungsmusters (im Falle des Gangsterfilms: einer Geschichte um Aufstieg und Fall eines Gangsters) und eines d) fest fixierten Settings (hier: der modernen amerikanischen Großstadt) ergebe. Ebenso wichtig ist es für Warshow, auf einer wiederkehrend anzutreffenden Form visueller Konventionen (wie den immer wieder prominent ins Bild gerückten Waffen des Gangsters und des Westerners oder den Posen, die beide einnehmen) zu insistieren. Diese Ebene wird seit Colin McArthurs Gangsterfilm-Monographie Underworld USA (1972) gewöhnlich als e) Ikonographie bezeichnet (Abschn. 2 im Kap. 4 „Theorien der Gestaltungsanalyse: Narration, Bild und Ton“). Was bei Warshow noch nicht als Matrix

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zur vergleichenden Beschreibung aller Genreformen konzipiert war, wird 1981 in Thomas Schatz' Hollywood Genres bereits als Kriterienkatalog grundlegender Parameter für die Analyse einer jeden Genre-'Grammatik' präsentiert. Andere Studien verwenden häufig ähnliche Kategorien. Allerdings zeigt sich die Problematik solcher Verfahren beim Versuch der empirischen Absicherung. Nicht nur für die Ikonographie, die in jüngeren Genrestudien kaum noch eine Rolle spielt, sondern auch für alle weiteren Analysekriterien lassen sich in keinem Genre überzeitlich konstante Merkmale nachweisen. Um dies in der Theoriebildung zu berücksichtigen, wurde das essentialistische Konzept sukzessive um flexiblere Komponenten ergänzt: Die Erweiterung um eine historische Achse soll erklärbar machen, dass innerhalb eines Genres in verschiedenen Phasen der Genreentwicklung unterschiedliche Tendenzen dominieren können. Zudem könnten auch innerhalb einer Phase mehrere Grundtendenzen koexistieren. Kombiniert werden diese Modelle oft mit einem Prototypenansatz, über den für jede Phase einer Genreentwicklung, teils auch für jede Einzelebene besonders typische Filme angeführt werden. Dass auch dies methodisch unscharf bleibt, zeigt sich daran, dass schon für ein Genre in unterschiedlichen Studien verschiedene Phasen und Prototypen konzipiert werden. Rick Altmans semantisch/syntaktischer Ansatz Eine interessante Modifikation des Prototypenansatzes entwickelt Rick Altman in dem erstmals 1984 erschienenen und später um eine pragmatische Dimension erweiterten Semantic/Syntactic Approach to Film Genre. In der Tradition semiotischer Ansätze konzipiert er Film als Zeichensystem mit eigener Grammatik. So unterscheidet er in der Analyse generischer Strukturen zwischen der an der Filmoberfläche sich abzeichnenden Semantik und der im Bedeutungshorizont eines Films aufscheinenden Syntax. Auf semantischer Ebene verortet Altman genrekonstituierende Gestaltungskomponenten vom Setting bis zu Figurentypen, aber auch charakteristische Elemente der ästhetischen Gestaltung. Aus dem Zusammenspiel aller Komponenten forme sich auf syntaktischer Ebene ein thematischer Gesamteindruck (vgl. 1995, S. 30). Semantische und syntaktische Komponenten könnten sich nun von Film zu Film in zweierlei Weise verändern und neue Ausrichtungen eines Genrekomplexes produzieren – „either a relatively stable set of semantic givens is developed through syntactic experimentation into a coherent and durable syntax, or an already existing syntax adopts a new set of semantic elements“ (ebd., S. 34). Wenngleich die hier bemühte linguistische Terminologie aus heutiger Sicht nicht mehr als unerlässliches Analyseinstrument gilt, gelingt Altman dennoch eine differenzierte Beschreibung der Entwicklung von Filmzyklen. So werden Filmgruppen bezeichnet, die in meist eng gefasstem Zeitrahmen entstehen und sich durch thematische, motivische oder ästhetische Ähnlichkeiten auszeichnen. Altman zufolge bilden sie sich, wenn a) ein erfolgreicher Film den Anstoß zur Produktion einer Reihe ähnlicher Stoffe gebe, die das Muster des Vorgängers variieren oder

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b) ähnliche Merkmalskomplexe beginnen in unterschiedlichen Produktionen aufzutauchen, bis irgendwann ein Film entstehe, der als Synthese dieser Merkmalsansammlung erscheine. In beiden Fällen liege eine Prototypenbildung vor, die den Zyklus entweder initiiere oder mit der Zeit entstehe. Da Altman Genres als Summe einzelner Filmzyklen definiert, kann er die Merkmalsbandbreite einzelner Genres differenzierter erklären als andere evolutionäre Modelle. Steve Neale’s Questions of Genre  In den meisten Genrestudien der 1970er und 1980er Jahre blieb das Verhältnis zwischen Genrebezeichnung und Genrefilm diffus. Zwar hatten Theoretiker wie Andrew Tudor darauf verwiesen, dass die Kategorie Genre mehr mit der Erwartungshaltung des Publikums als mit distinkten Kennzeichen auf Einzelfilmebene zu tun habe. Und Altmans Modell der Filmzyklen zeigte, dass Genres keine überzeitlich konstanten, unveränderlichen Größen sind. Üblicherweise aber gingen Genrestudien davon aus, dass ein Film, der etwa als ‚Detektivfilm‘ bezeichnet wird, auch ein ‚Detektivfilm‘ ist, es sich bei Genres also um Entitäten handle, die sich über die gewählten Begriffe zweifelsfrei benennen und in ihrer Entwicklung nachzeichnen ließen wie ein Flussverlauf auf einer Landkarte. Gegen diese Grundgewissheit richtet sich Steve Neales Aufsatz Questions of Genre, der 1990 in der Zeitschrift Screen erscheint und eine Neuausrichtung der Genreforschung initiiert. Am Beispiel des Westerns, der vermeintlich langlebigsten Genreform des amerikanischen Kinos, zeigt er, dass Filme wie The Great Train Robbery (Der große Eisenbahnraub, USA 1903), die inzwischen als typische Vertreter dieses Genres gelten, zu ihrer Entstehungszeit keineswegs als solche verstanden, sondern als innovative Mischung aus Melodram, Tatsachenfilm und „violent crime genre“ (Charles Musser, zit. nach Neale 1990, S. 54 f.) rezipiert wurden. Darüber wird deutlich, dass es sich bei Genrekonzepten um historisch wandelbare Phänomene ohne überzeitliche Konstanz handelt. Dass die beobachtete Verschiebung kein singuläres Phänomen darstellt, demonstriert Neale in seinem Text Melo Talks (1993) auch am Beispiel des Begriffs „Melodram“, mit dem in den 1930er und 1940er Jahren „vor allem Spannungsorientiertheit und äußere dramatische Handlung“ (Hickethier 2003, S. 71) assoziiert wurde, während er inzwischen der Bezeichnung unerfüllt bleibender Liebesgeschichten diene. Eine filmhistorisch ausgerichtete Studie, die nach Inszenierungsformen ‚unerfüllter Liebesgeschichten‘ sucht, fände demnach einen anderen Filmkorpus vor als eine, die sich an der Begriffsgeschichte orientiert, wenngleich beide glauben, ‚das Melodram‘ zu erforschen. Genrestudien müssten sich, so Neale, dieser doppelten Historizität bewusst sein und in der Analyse zwischen der Entwicklung filmindustrieller Textklassen und den zu ihrer Bezeichnung verwendeten diskursiven Strukturen differenzieren (vgl. 1990, S. 48 ff.), wiewohl sich beides wechselseitig beeinflussen könne. In der Genreforschung hat diese Erkenntnis zu einer Aufsplitterung der Untersuchungsperspektiven beigetragen. Neben a) Studien, die weiterhin an der historischen

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Entwicklung einzelner Textklassen in Form von Filmanalysen interessiert sind, treten b) Diskursanalysen, die Verschiebungen unterschiedlicher Begriffsbezeichnungen und der damit verknüpften Erwartungshorizonte nachzeichnen wie auch c) metatheoretische Untersuchungen, die Veränderungen der Prämissen und Methoden auf Ebene der Theoriebildungen reflektieren. Als Ausgangspunkt einer Einzelfilmanalyse bietet sich Neales Ansatz nicht nur an, weil er das Bewusstsein dafür schärft, dass die Verknüpfung eines Films mit einem Genrekonzept nicht naturgegeben, sondern Teil eines historisch veränderlichen Prozesses ist. Denn um plausibel darlegen zu können, dass verschiedene Epochen in der Geschichte des Kinos durch unterschiedliche Genresysteme, unterschiedliche „generic regimes“ gekennzeichnet werden (ebd., S. 168), wirbt er auch für ein prozessuales Verständnis der Genrefilmproduktion. Frühere Ansätze der Theoriebildung hatten ihre Statik noch aus der Annahme bezogen, dass sich Genres ihr „eigenes Bezugsfeld“ schaffen (Warshow 2014, S. 103), in dem Variationen nur denkbar seien, solange sie das einmal etablierte Grundmuster intensivieren, „ohne es grundlegend zu verändern“ (ebd.). Neale dagegen plädiert für ein dynamisches Entwicklungsmodell, in dem jeder hinzukommende Film als potenzielle Erweiterung und Veränderung des gegebenen Korpus zu begreifen sei: Er könne bestehende Elemente aufgreifen, sie aber auch verändern, um neue Komponenten ergänzen und bekannte Muster ersetzen. „In this way the elements and conventions of a genre are always in play rather than being simply replayed; and any generic corpus is always being expanded“ (1990, S. 56). So sei auch der mit Genres assoziierte Erwartungshorizont in ständiger Bewegung, könnten doch bekannte Spielregeln von neuen Werken unentwegt gefestigt, variiert, erweitert, korrigiert oder transformiert werden. Dabei sei es nur eine Frage der Zeit, bis die Variationsbreite etablierter Schemata ausgereizt sei und versucht werde, verankerte Regelwerke auszustreichen und durch anderes Material zu ersetzen. In der Folge verschieben sich die Dominanten der verwendeten Muster und neue generische Regime prägen sich aus.

2.3 Genretheoretische Perspektiven auf Blow Up Anknüpfend an Steve Neales prozessuales Entwicklungsmodell lässt sich Blow Up als Film analysieren, der sich in einen etablierten Genrerahmen einschreibt und dessen Muster adaptiert oder variiert. Um herauszuarbeiten, welche seiner Gestaltungselemente genretypisch sind und wo er gegebenenfalls generische Konventionen ausspart, modifiziert oder bricht, kann im Sinne einer Figur-Grund-Beziehung zunächst ein Genremuster skizziert werden, vor dessen Hintergrund der Film dann diskutiert wird. Welcher oder welche Genrerahmen als Referenzpunkt eines Films fungieren, lässt sich allerdings nicht in jedem Fall mit gleicher Deutlichkeit entscheiden. Manchmal drängt sich ein Genrebezug oder eine hybride Verschmelzung unterschiedlicher Genremuster schon auf den ersten Blick auf. In anderen Fällen dagegen sind offensichtliche Schemata nur rudimentär oder gar nicht erkennbar. Da wir davon ausgehen, dass das Bewusstsein für

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Genrekonventionen aus einem zirkulären Wechselspiel zwischen Text und Kontext, also zwischen der Nutzung bestimmter Konventionen auf textueller Ebene und dem Wissen um diese Konventionen auf Rezeptionsseite entsteht, bliebe im letztgenannten Fall offen, ob der Film auf den Einsatz generischer Konventionen verzichtet oder diese bei der Filmbetrachtung lediglich nicht erfasst und folglich auch nicht zugeordnet werden können. Blow Up ähnelt indes nicht nur einem – so würde ich unterstellen – hinlänglich bekannten Erzählmuster, was sich als generisch modellierter Film bezeichnen ließe (vgl. Neale 2000, S. 28), sondern kreiert über den eingangs bereits erwähnten Künstlermonolog eine generische Markierung, die in selbstreflexiver Form den Rahmen etabliert, vor dem der Film betrachtet werden will. Solche Markierungen wären auch für Parodien und Pastiches typisch und deuten gewöhnlich darauf hin, dass mit einer Offenlegung, Umarbeitung und/oder Brechung distinkter Genrekonventionen zu rechnen sein wird (vgl. ebd.), die das Publikum genauso wie die zugrunde liegende, meist überdeutlich ausgestellte Genreschablone erkennen muss, um die Intention des Films zu verstehen. Im Falle von Blow Up wird dies nicht nur den Erwartungshorizont, sondern auch die Syntax der Detektiverzählung (detective story) betreffen. Grundzüge der detective story  Nähert man sich der in Blow Up zitierten Genreform über eine erste, schematische Klassifizierung, bietet es sich an, diese als eine Form der Kriminalerzählung (engl. crime fiction, auch: contemporary crime fiction) zu beschreiben. Gemäß der Kategorienbildung, die Steve Neale in Genre and Hollywood (2000) für dieses um Gesetzesübertretungen aller Art kreisende Genre vorschlägt, lassen sich grob drei Subgenres differenzieren, deren Merkmale aber vielfach überlappen: In Gangsterfilmen liegt der Fokus der Erzählung auf den Verbrechern und Verbrecherinnen und ihren Taten, während Suspense-Thriller den Kontakt mit Verbrechen aus der Perspektive von Figuren schildern, die diesen ausgesetzt sind und sich ihrer (zeitweise) nicht erwehren können. Das dritte große Subgenre schließlich widmet sich der Aufklärung von Verbrechen und legt den Fokus dabei auf die als Ermittelnde auftretenden Figuren (Abb. 17). Die Vielzahl simultan kursierender Begriffe zur Bezeichnung dieses letzten Sektors macht bereits deutlich, dass hier weniger in Form einer essentialistischen Definition ein klar umrissener Genrekorpus mit festen, unveränderlichen Merkmalen bestimmbar ist, sondern das Feld der detective stories einer Ansammlung von Variablen ohne gänzlich klar umrissenen Kern gleicht. Begriffe wie Detektiv- oder Polizeifilm betonen die als Ermittelnde auftretenden Figuren (die nicht notwendig mit der Aufklärung eines Mordes beschäftigt sein müssen). Englischsprachige Ausdrücke wie investigative narration, mystery story und whodunit dagegen betonen Aspekte des Ermittlungs- beziehungsweise Rätselcharakters der Erzählung (ohne darauf zu insistieren, dass es sich bei den agierenden Figuren um berufsmäßige Ermittler*innen oder die Aufklärung eines Mordes handeln wird) und Klassifizierungen wie murder mystery konkretisieren das der Ermittlung zugrunde liegende Rätsel (vgl. Neale 2000, S. 72 ff.). Als genrekonstituierend werden demnach allein narrative Merkmale angeführt. Das Grundmuster der detective

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Abb. 17    Auffächerung des Genres „Kriminalfilm“ gemäß Steve Neale: Die Subgenres unterscheiden sich in der thematisierten Gesetzesübertretung und Art der Hauptfigur, lassen sich aber auch kombinieren. Filmtyp A konzentriert sich allein auf die Ermittlungsarbeit, in Filmtypus B beginnt eine mit dem Verbrechen konfrontierte Figur selbst zu ermitteln. Filmtypus C verbindet alle drei Perspektiven, wie Akira Kurosawas Tengoku to Jigoku (Zwischen Himmel und Hölle, J 1963). Hier stehen zunächst die Opfer eines Erpressungsversuchs im Zentrum, bevor sich der Fokus auf die Ermittlungsarbeit verlagert, wobei interessanterweise auch ein differenzierter Blick auf die Täter erfolgt. (© Lauritz)

story wäre also auf semantischer Ebene durch eine Konfiguration von Figurentyp (Ermittler*in) und Handlungsmuster (Entdeckung und/oder Aufklärung einer Straftat, zum Beispiel eines Mordes) markiert, während andere potenziell genrekonstituierende Merkmale, etwa das Setting, flexibel bleiben, sodass sich das narrative Gerüst einer detective story gleichermaßen auf einem Landsitz in Neuengland wie auch im Swinging London der 1960er Jahre entwickeln ließe. Charakteristisch für den Genrekomplex detective story/murder mystery ist nach Tzvetan Todorov die Tendenz zur Ausbildung einer Doppelstruktur: Einerseits wird die Geschichte einer Straftat erzählt und gegebenenfalls deren Gründe enthüllt; andererseits ihre Entdeckung und/oder Aufklärung geschildert. Von der Straftat ausgehend rücke dabei vielfach die Ermittlungsarbeit ins Zentrum, mit deren Fortschreiten auch jene erste, zunächst noch nicht explizierte Schicht der Geschichte rekonstruiert werde. Nicht zuletzt aus diesem Prozess allmählicher Enthüllung bezögen Erzählungen solchen Typs ihre Spannung (vgl. Todorov 1977, S. 47). Zu den Konventionen des Genres gehört

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indes nicht nur der finale Erfolg dieser Rekonstruktion, die eine Überführung des Täters (oder eine noch umfassendere Form der Aufklärung, zum Beispiel die Aufdeckung eines Komplotts) möglich macht. In der Regel ist schon das Gelingen der Ermittlungsarbeit an die Prämisse geknüpft, dass dies durch eine rationale Analyse der Tat und/oder des Erscheinungsbildes des Tatorts möglich wird. Denn Ereignisse, so führt es die Syntax zahlreicher detective stories immer wieder vor, hinterlassen Spuren, aus denen die zur Identifikation und Überführung des Täters oder der Täterin notwendigen Indizien deduktiv ableitbar sind. Wenn die Kunst der Detektivfigur nun darin besteht, relevante Spuren zu entdecken und korrekt zu deuten, liegt die der Erzählung darin, die finale Auflösung zwar als umfassend und plausibel, nicht aber als vorab antizipierbar wirken zu lassen. Deshalb erweist sich in vielen Detektivgeschichten, die den Rätselcharakter betonen, die offensichtlichste Lösungsmöglichkeit nie als korrekt, während die scheinbar nebensächlichen, an der Peripherie gelegenen Details die wahren Schlüssel zur Auflösung des Falles enthalten. Im Lichte dieser Erwartungshaltung erscheint Arthur Conan Doyles Figur des Sherlock Holmes (im Verbund mit zahlreichen weiteren Bausteinen der angloamerikanischen Literatur des späten 18. und 19. Jahrhunderts) als generischer Prototyp und zugleich als Sinnbild eines epochenspezifischen Erzählmodells, in dem sich vor dem Hintergrund eines zunehmend rationalen Weltverständnisses die Konstruktion von mystery plots mit einem Interesse an neu aufkommenden, wissenschaftlich fundierten Methoden der Ermittlungsarbeit verbindet. Um die Bandbreite des Genres anzudeuten, müssten indes die zahllosen Abweichungen von Doyles Detektivkonzept (wie auch von dessen Vorläufern und Nachahmern) ebenso berücksichtigt und in der Entwicklung ihrer Varianten historisiert werden. Dies beträfe zum Beispiel die in vielen Groschenromanen und klassisch narrativen Spielfilmen angelegte Tendenz, das hermeneutische Prinzip der Spurensuche hinter einer zum Suspense-Thriller tendierenden, spannungsreichen und aktionsgeladenen Erzählung zurücktreten zu lassen. Für Ermittler*innen steht dann kaum die kognitive Bewältigung eines Rätsels, sondern das physische Durchleben von Abenteuern im Zentrum – ein Trend, der sich etwa in den von Universal produzierten Sherlock Holmes-Filmen der 1940er Jahre wie auch zur Entstehungszeit von Blow Up in der James Bond-Reihe niederschlug. Auch dem Konstruktionscharakter der Erzählung mit seiner scheinbar immer gleichen, reaktionären Syntax, die eine vollständige Lesbarkeit der Welt proklamiert, in der sich alle Verbrechen aufklären und so gesellschaftliche Normalzustände stets wieder herstellen lassen, wurden – unter anderem in der hardboiled-Literatur und den daraus hervorgegangenen Film Noirs – immer wieder vermeintlich ‚realistischere‘ Entwürfe der Ermittlungsarbeit und der den Verbrechen zugrunde liegenden Motiven entgegenzusetzen versucht (vgl. Chandler 1988, S. 15 f.) (Abb. 18). Muster der detective story in Blow Up  In seiner reduzierten Gestaltung verweigert sich Blow Up den zum Suspense-Thriller neigenden Spielarten der detective story und knüpft stattdessen deutlich an den um Sherlock Holmes zentrierten Strang der Detektiverzählung an. Antonionis Kriminalgeschichte bleibt auf zwei Schauplätze – den Park,

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Abb. 18   Während prototypische „armchair detectives“ wie Sherlock Holmes – hier (a) von Basil Rathbone verkörpert in Dressed to Kill (Sherlock Holmes – Jagd auf Spieldosen, USA 1946) – in der Filmserie der Universal-Studios ihren Lehnstuhl zumeist verlassen und eine Reihe aktionsreicher Episoden durchleben müssen, bis das jeweilige Rätsel gelöst ist, betont Antonioni in Blow Up wieder den kognitiven Anteil der Ermittlungsarbeit, der sich für seinen Fotografen als beinahe rein gedankliche Betätigung erweist (b). Quelle: Dressed to Kill (Sherlock Holmes – Jagd auf Spieldosen, USA 1946, © Universal); Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

in dem sich das Verbrechen ereignet, und das Atelier des Fotografen, in dem dieser auf einer Reihe von Fotografien Indizien dieser Straftat entdeckt, – begrenzt und zeigt einen Ermittler, der zur Aufdeckung dieses murder mysteries an seinem Arbeitsplatz sitzend auf eine Bilderserie starrt. So gleicht er vordergründig jenem populären Detektivtyp des 19. Jahrhunderts, der mit messerscharfem Verstand komplexeste Kriminalfälle zu lösen vermochte, ohne sich dabei aus seinem Lehnstuhl zu erheben (vgl. Seeßlen 1981, S. 28). Dieses Bild verschmilzt er mit einer Figurentypologie, die in der Tradition von Alfred Hitchcocks Thrillern Alltagsfiguren in die Rolle der Ermittler zwängt. Durchaus genretypisch zielt Antonionis Film beim Aufbau seiner Erzählung darauf ab, a) Entdeckung und Aufklärung des Kriminalfalles durch retardierende Momente zu verzögern und so in ihrer Komplexität zu steigern (vgl. Neale 2000, S. 74), b) das Maß der Informationsvergabe einzuschränken und mit dem Wissenshorizont der ermittelnden Figur zu koppeln (vgl. Bordwell 1985, S. 65) und c) klar zu motivieren, warum sich eine Alltagsfigur mit einem Kriminalfall beschäftigt. Da detective stories bemüht sind, psychologisch intelligible Charaktere zu zeigen (Neale 2000, S. 33), erscheint gerade der letztgenannte Punkt unumgänglich. Denn während Polizei sowie Detektive und Detektivinnen sich schon aufgrund ihres Berufs mit der Aufklärung von Verbrechen beschäftigen müssen (und sich in solchen Erzählungen die Hinführung zur Übernahme der Ermittlungsarbeit relativ schnell abhandeln lässt), sind die Beweggründe im Falle von Alltagsfiguren in der Regel persönlicher Natur. Wie in Blow Up handelt es sich zumeist um Figuren, die zufällig in Augenzeugenschaft eines Verbrechens geraten (oder zu geraten glauben). Wird dann beispielsweise – wie in Robert Siodmaks Phantom Lady (Zeuge gesucht, USA 1944) – ein Unschuldiger für den Täter

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gehalten oder ist – wie in Alfred Hitchcocks Rear Window (Das Fenster zum Hof, USA 1954) – keine Leiche auffindbar, wodurch die Behörden keinen Anlass zu ermitteln erhielten, motiviert das den Augenzeugen (oder wie in Phantom Lady eine andere als Alltagsermittler auftretende Figur) zur eigenen detektivischen Betätigung, wobei gerade Hitchcocks Film dies als obszessiven Charakterzug herausstellt. Um die Recherche zusätzlich zu motivieren, kann sich – beispielsweise in La ragazza che sapeva troppo (The Girl who knew too much, I 1963), einem Wegbereiter des italienischen Giallo-Films – ein Augenzeuge fortan selbst im Visier des Verbrechers wähnen und diesen überführen wollen, um nicht gleichfalls von ihm ermordet zu werden. Blow Up arbeitet mit einer Variante der zweitgenannten Option, integriert die Konvention aber behutsam in seinen Aufbau, indem der Initiationsmoment zufälliger Zeugenschaft hier nicht nur aus einer Handlung der Hauptfigur resultiert, in der sich berufliche Routine und private Obsession überlagern, sondern ihm auch, ebenfalls analog zu Rear Window, eine bemerkenswert lange (rund 20-minütige) Exposition vorausgeht. In dieser werden Arbeitspraxis und Lebensumfeld des Fotografen gezeigt und seine ziellose Suche nach Dingen etabliert, die ihn spontan begeistern. Zugleich klingt sein Hang an, ungewöhnliche Dinge und Ereignisse über Schnappschüsse fassen und später in einer genauen Betrachtung durchdringen zu wollen. So fließend sich der Weg des Fotografen in den Park aus der im Film vorangehenden Szene entwickelt, so beiläufig wird dann innerhalb des Parks das ungleiche, aus einer jüngeren Frau und einem älteren Mann bestehende Pärchen eingefügt, denen Thomas zu folgen beginnt, während er auch sie fotografiert. Giallo-FilmeGiallo (vom lateinischen giallo „gelb“) bezeichnet ein italienisches Subgenre des Thrillers, welches in vieler Hinsicht als Grundlage für spätere Slasher-Horrofilme gelten kann. Narrativ handeln Giallo-Filme meist von einer Mordserie, die es aufzuklären gilt. Besonders zeichnen sie sich aber vor allem durch blutige und spektakuläre Darstellung der Morde und eine besonders affektive Inszenierung aus, die visuell sowie musikalisch geleitet wird. Die Stimmung steht hier im Vordergrund, statt sich auf investigative Aspekte des Falles zu konzentrieren. Als die bekanntesten Regisseure des Genres gelten Mario Bava und Dario Argento.

Keineswegs unauffällig ist allerdings die visuelle Auflösung dieser für das Einsetzen der Kriminalhandlung wesentlichen Sequenz, die mit einer Konvention des Genres spielt und sie zugleich unterläuft. Zentral in der Konzeption von detective stories sei, so hat David Bordwell in einer Analyse der Raymond Chandler-Verfilmungen Murder, My Sweet (Mord, mein Liebling, USA 1944) und The Big Sleep (Tote schlafen fest, USA 1946) gezeigt, die Einschränkung und Unterdrückung von Wissen. Wäre das Publikum von Beginn an genau im Bilde, wer innerhalb einer Erzählung warum welches Verbrechen begangen hat, könne sich bei der Betrachtung kaum die für das Genre charakteristische Mischung aus einer Neugier bezüglich vergangener Ereignisse, Spannung bezüglich des

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Fortgangs der Erzählung und Überraschung hinsichtlich des Ausgangs einstellen (vgl. Bordwell 1985, S. 65). Folglich werde die Informationsvergabe gezielt manipuliert, ohne dies den Zuschauenden selbstbezogen vor Augen zu führen. Innerhalb klassischer Detektivfilme sei die Narration deshalb an Wissensstand und Perspektive der Ermittlerfigur geknüpft. Blow Up orientiert sich an diesem Grundsatz und stellt seine Ermittlerfigur ins Zentrum jeder Szene. Kein Segment des Films präsentiert Informationen, über die der Fotograf nicht verfügt. Bei seinen Autofahrten durch London innerhalb der Exposition aber reibt sich die Kamera bereits an dieser Anbindung, verändert über Zooms abrupt den Bildausschnitt, nähert sich dem Fahrer an und reißt dann wieder zur Seite aus. Teilweise schiebt sie sich dabei in einer Kombination aus Fahrt- und Schwenkbewegungen an Objekten innerhalb des Bildfeldes vorbei, sodass darüber Ansätze parallaktischer Verschiebungen auftreten. Mit einer ähnlichen visuellen Konzeption wird auch später im Atelier des Fotografen gearbeitet, während dieser Besuch von der Frau erhält, die er im Park fotografiert hatte. Bei der Darstellung des ersten Parkbesuchs spitzt sich diese Eigendynamik zu. Nicht nur der Blick auf den möglichen Tatort verschiebt sich mit jeder Einstellung, sodass sich die Relationen zwischen den Elementen innerhalb dieses Bildareals kontinuierlich verändern (Abb. 19). Immer wieder provozieren abseits und oberhalb des Geschehens gelegene Blickwinkel und autonome, nicht figuren-

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Abb. 19   Jede Einstellung innerhalb der ersten Parkszene in Blow Up, die den vermeintlichen Tatort zeigt, ist von einem neuen Kamerastandpunkt aus fotografiert (a–d). Dadurch verändern sich nicht nur die Positionen der Elemente innerhalb des Bildfeldes und die Relationen zwischen ihnen. Denn da in jeder Einstellung Dinge hinzukommen, zurücktreten oder fehlen, wird so zugleich die Unmöglichkeit verdeutlicht, einen idealen Betrachter-Standpunkt einnehmen zu können, von dem aus eine vollständige, korrekte Erfassung des Schauplatzes und der Handlung, die sich dort ereignet, möglich wäre. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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gebundene Schwenks die Frage, welche Instanz diese Blicke hervorbringt und leitet. So steht der Fotograf zwar auch hier im Zentrum, weniger aber als fotografierendes Subjekt, sondern vornehmlich als fotografiertes Objekt (Abb. 20). Genau diese visuelle Strategie – auf die bezeichnenderweise in den Passagen, in denen sich Thomas allein in seinem Atelier befindet und in die im Park fotografierten Bilder versenkt, vollständig verzichtet wird – generiert allerdings zugleich jenen für die nachfolgende Entwicklung der Kriminalerzählung notwendigen, eingeschränkten Wissensstand. Denn wie dem Fotografen ist auch der Narration entgangen, den Ablauf eines Verbrechens zu registrieren. Dadurch erst wird hier der Einsatz der Todorov zufolge für murder mysteries typischen Form der Doppelstruktur plausibel (vgl. 1977, S.47), die sich ab diesem Moment auch in Blow Up auszuprägen beginnt. Wie für Detektiverzählungen üblich wird der Fortschritt der Ermittlungsarbeit mithilfe retardierender Momente unterbrochen: Zunächst erscheint die von Thomas im Park fotografierte Frau in dessen Atelier und will die Herausgabe der Bilder erwirken, noch bevor sie entwickelt und betrachtet wurden. Später tauchen zwei junge Frauen auf, die dem Fotografen zunächst Modell stehen wollen, dann aber mit ihm schlafen. Eingerahmt von diesen Zäsuren beginnt die Auswertung der Bilder, die in drei Stufen abläuft: Zunächst wird eine Auswahl der Fotografien entwickelt und betrachtet, dann in ihrer Abfolge umgestellt und durch Vergrößerungen einzelner Bildareale (der titelgebenden blow ups) ergänzt, bevor nach einem abermaligen Vergrößerungsvorgang Zeichen eines Mordversuchs zutage treten und die Lesart provozieren, Thomas habe durch sein Auftreten im Park einen Mordanschlag vereitelt. Separiert von dieser rund 10-minütigen Sequenz findet nach der zweiten Zäsur eine abermalige Vergrößerung, diesmal nur eines einzelnen Bildausschnitts, statt, dessen schemenhafte Konturen der Fotograf als Leichnam interpretiert. Da die Leiche, die Thomas bei seinem unvermittelt an diese Entdeckung anschließenden, nächtlichen Parkbesuch in der Tat dort vorfindet, am nächsten Morgen aber wieder verschwunden ist und auch die als Beleg dienenden Bilder zwischenzeitlich aus seinem Atelier entwendet wurden, verschwindet die „Spur,

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Abb. 20   Die Hauptfigur ist innerhalb der ersten Parkszene in Blow Up immer wieder als Beobachter im Bildfeld präsent. Allerdings verschieben sich Handlungsachse und Blickrichtung der Figur oftmals markant zur Blickachse der Kamera, sodass Thomas wiederholt als fotografiertes Bildobjekt erscheint (a+b). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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die sich vorübergehend zu einer Geschichte zu verdichten schien“ (Michaelsen 2005, S. 183) sogleich wieder. Blow Up nimmt also zwei signifikante, unmittelbar miteinander korrespondierende Veränderungen am Bauplan der Detektivgeschichte vor: Zum einen dient die der Rekonstruktion gewidmete Direktion der Erzählung nicht der Klärung eines Tathergangs und der damit verbundenen Überführung eines Täters wie auch keine Ursachenforschung hinsichtlich der den Mord begründenden Motive und Begleitumstände angestrebt wird. Stattdessen stellt die Entdeckung des Mordes den Höhe- und zugleich Endpunkt einer weithin ungerichteten Ermittlungstätigkeit dar, deren einziges Ziel darin besteht, sich mittels fotografischer Reproduktion Überblick über ein Ereignis zu verschaffen, das sich im Moment seines Eintretens der bewussten Wahrnehmung entzogen hatte. Wenn sich, wie Georg Seeßlen argumentiert, im Laufe der Entwicklungsgeschichte des Genres die Grundfrage von der Frage, wer eine Straftat begangen hatte (inwiefern also mit Mitteln der Spurensicherung ein Täter oder eine Täterin überführt werden kann) hin zu den Fragen, wie diese verübt und warum sie begangen wurde, kehrt Blow Up zum Ausgangspunkt zurück. Aber er stellt die der Syntax dieser Erzählform von Beginn an eingeschriebene Grundgewissheit radikal infrage und schreibt auch dessen Semantik in bemerkenswerter Weise um. Studien zu Blow Up kommen meist nicht umhin, sich den Sequenzen zu widmen, in denen der Fotograf die im Park geschossenen Bilder in seinem Atelier entwickelt und aus diesen Stück für Stück den vermeintlichen Tathergang rekonstruiert. Auch dabei lehnt sich der Film im Kern zunächst an eine Inszenierungskonvention an. Denn um eine Tat rekonstruieren zu können, muss eine Spurensuche möglich sein. In einer Vielzahl von Genrefilmen, auch in der Sherlock Holmes-Reihe der Universal Studios, ist das möglich, weil der Tatort immer wieder besichtigt und aufs Neue durchforstet wird, wie auch beispielsweise in Rear Window der mutmaßliche Täter unentwegt beobachtet und sein Verhalten analysiert werden kann. Im Laufe der Erzählung wird so aus der Entzifferung und Auswertung der Spuren ein Gesamtbild der Tat rekonstruiert. Dazu wird in Rear Window zwar auf Fernglas und Fotoapparat, in anderen Werken auf Lupen und ähnliche Hilfsmittel zurückgegriffen. Diese Apparaturen dienen aber nur dazu, eine Distanz im Raum zu verkürzen und das Untersuchungsobjekt klarer hervortreten zu lassen. Sie unterbrechen nicht den zeitlichen Ablauf der Narration (Abb. 21). Anders dagegen gehen Erzählungen vor, in denen von der betreffenden Tat keine Überbleibsel mehr vorhanden sind. Psychoanalytisch ausgerichtete Filme wie Spellbound (Ich kämpfe um Dich, USA 1945), aber auch Giallo-Filme wie Dario Argentos L’uccello dalle piume di cristallo (Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe, I/BRD 1970), visualisieren das kriminalistische Rätsel als figurengebundene Erinnerung. Da auch hier eine Lösung über die korrekte Interpretation vorhandener Zeichen möglich, diese aber noch nicht direkt ersichtlich sein soll, müssen solche Erinnerungsbilder (analog zu Sigmund Freuds Konzept der Traumdeutung) in einer stufenweise ablaufenden Ausdeutung mehrfach re-evaluiert und ihre zunächst verdichtet und verschoben erscheinende Oberfläche dechiffriert werden, bis darunter der eigentliche Tathergang auf-

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Abb. 21   Typisch für die Ikonografie von Genres sind nach Colin McArthur nicht Elemente, die das Milieu und die Erscheinung der handelnden Figuren prägen (wie es etwa bestimmte Accessoires oder Kleidungsstile tun), sondern auch die Technologien, mit deren Hilfe die Figuren operieren. Wie in Rear Window (a) nutzt auch Antonionis Figur Linsensysteme, die eine optische Vergrößerung und damit einen genaueren Blick ermöglichen. Im Unterschied zu Hitchcocks Film ist dies in Blow Up (b) aber als nachträglicher Prozess inszeniert. Der Fotograf beobachtet hier weder einen Tathergang noch den Schauplatz eines Verbrechens, sondern nur noch deren mediale Reproduktion. Quelle: Rear Window (Das Fenster zum Hof, USA 1954, © Universal); Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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Abb. 22   Dass Traumbilder gemäß Sigmund Freud häufig verformte und veränderte Darstellungen tatsächlicher Ereignisse enthielten, wird in John Hustons Biopic Freud – The Secret Passion überdeutlich inszeniert, indem innerhalb der als mindscreen visualisierten Traumerzählungen auf das kaschierte Traumbild (a) stets die „korrekte“ Darstellung folgt (b). Nach diesem Grundsatz arbeiten auch eine Reihe von Kriminalfilmen, die den Ermittlungsprozess an die Ausdeutung figurengebundener Erinnerungen koppeln. Quelle: Freud – The Secret Passion (Freud, USA 1962, © Pidax Film)

leuchtet (Abb. 22, 23, und 24). Nach diesem Prinzip geht auch Antonionis Fotograf vor, schichtet das vorhandene Material wiederholt um, operiert dabei aber mit Oberflächen, die sich weder durchdringen noch transformieren, sondern nur bis zur Unkenntlichkeit vergrößern (Abb. 25) und in immer neuen Zusammenstellungen komponieren lassen. Die mediale Konstruktion eines Tathergangs, die kaum mehr einem Akt der Rekonstruktion, sondern einer artistischen Neuschöpfung gleicht, welche neue Verknüpfungen und Sinnzusammenhänge generiert, ist in der Folge mehrfach aufgegriffen worden (Abb. 26), in Polit- und Paranoia-Thrillern The Conversation (Der Dialog, USA 1974) genauso wie in Brian DePalmas postmodernem Blow Out (Der Tod löscht alle Spuren, USA 1981) und Steven Spielbergs Minority Report (USA 2002). Keine dieser Varianten adaptiert dabei aber die in Blow Up angelegte Ungewissheit, was mit dieser

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Abb. 23   Besteht die Schwierigkeit in Alfred Hitchcocks Spellbound noch darin, das erinnerte Traumbild (a) überhaupt in eine sinnhafte Schilderung eines Tathergangs zurückübersetzen zu können, arbeiten italienische Kriminalfilme der 1960er und 1970er Jahre häufig damit, dass die figurengebundene Beobachtung eines Verbrechens unvollständig bleibt und zunächst falsch interpretiert wird: So wird der Auftritt eines schwarz gekleideten Mannes am Tatort in La ragazza che sapeva troppo (b) zunächst fälschlicherweise als Indiz dafür gehalten, dass es sich bei ihm um den Täter handle. Quelle: Spellbound (Ich kämpfe um dich, USA 1945, © Selznick International Pictures u. a.); La ragazza che sapeva troppo (The Girl who knew too much, I 1963, © Galatea Film u. a.)

retrospektiven Konstruktion gewonnen wäre. Denn ob der Fotograf die Existenz eines Leichnams imaginiert hat (was die höchst irreale Ausleuchtung des nächtlichen Parks ebenso nahelegen dürfte wie jene auf der Tonspur erklingenden Geräusche eines Tennisspiels, das auf der Bildebene nur pantomimisch angedeutet wird) oder tatsächlich für einen kurzen Moment nachweisen konnte, spielt hier keine Rolle, da weder das eine noch das andere Konsequenzen hat und die Bilder ebenso wie der Tote unbemerkt verschwinden. Genrevariation oder Genrebruch? Wie in jeder Einzelgenreanalyse stellt sich auch hier die Frage, inwiefern die aufgezeigten Abweichungen von den Grundsätzen des Genres, das als Bezugspunkt gewählt war, zu bewerten sind. Ist ein Film, der Muster eines Genres zitiert, um sie zu dekonstruieren (oder zu parodieren), noch als Teil des Genres zu betrachten? Die Antwort auf diese Frage kann unterschiedlich ausfallen, je nachdem aus welcher Position argumentiert wird: Ausgehend von Rick Altmans dynamischem Genrekonzept ließe sich das in Blow Up aufgezeigte Spiel mit scheinbar unumgänglichen Genrekonventionen zwar als deutliche Veränderung, wenn nicht gar Transformation bis dahin feststehender Genremuster werten. Und auch auf Grundlage von Steve Neales prozessualem Genreverständnis wäre ein deutlicher Wechsel innerhalb der generischen Konventionen zu konstatieren. Beide Modelle gehen aber davon aus, dass Variationen feststehender Muster Teil (im Falle von Neale sogar Voraussetzung) einer Genreentwicklung sind. Insofern ließe sich Blow Up problemlos als Teil des Genrekosmos begreifen. Ältere, statischere Ansätze würden die Deutlichkeit der Regelverstöße dagegen stärker gewichten und dafür plädieren, dies als Bruch mit dem Genre zu werten. Ähnlich könnten Ansätze argumentieren, die sich dem Film in einer Mischung

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Abb. 24   Auch in L’uccello dalle piume di cristallo legt das Bild des Tatverlaufs, das sich als mindscreen durch den Film zieht (a), zunächst nahe, dass bei der beobachteten Tat eine Frau von einem maskierten Täter mit einem Messer bedroht und verletzt wurde. Ein der freudschen Traumdeutung vergleichbarer qualitativer Sprung findet am Filmende statt, wenn das zunächst lückenhaft gebliebene Gedankenbild durch eine nähere Einstellung (b) ersetzt wird, die den korrekten Tathergang zeigt und dabei offenlegt, dass nicht der Maskierte, sondern die Frau die Tatwaffe in der Hand hielt. Quelle: L‘uccello dalle piume di cristallo (Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe, I/BRD 1970, © Central Cinema Company Film u. a.)

aus genre- und autorentheoretischer Perspektive nähern. In solchen Fällen läge es nahe, das Genremuster als (tendenziell triviale) Folie zu interpretieren, von der sich der Filmkünstler abgrenzt, indem er deren Regelwerk aufsprengt. Einer solchen Einschätzung läge nicht nur ein in der Tendenz statisch-essentialistisches Genrekonzept, sondern auch eine pejorative Wertung der Kategorie Genre zugrunde. Dass all diese Positionen indes übereinstimmend zu bestätigen scheinen, Blow Up würde mit Mustern einer konventionellen Erzählform arbeiten (wenngleich er diese signifikant verändere), liegt nicht zuletzt daran, dass wir selbst diese Sichtweise produziert haben. Denn im Rahmen von Einzelgenreanalysen ist es üblich, einen Film

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Abb. 25   Im Unterschied zum Eindringen in Erinnerungsbilder produziert die Versenkung in die fotografische Oberfläche bei Blow Up nicht die per Genrekonvention zu erwartende Enthüllung eines zuvor übersehenen Indizes, sondern führt lediglich die technische Begrenzung des fotografischen Mediums vor Augen (a), bei dem der titelgebende Blow Up nur die Körnung des Ausgangsmaterials vergrößert (b). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

vor einem Genrehorizont zu betrachten und ihn mit den auf dieser Folie angelegten Mustern abzugleichen. Folglich kann eine Untersuchung, die ein Werk vor dem Hintergrund des Genres „Detektivfilm“ diskutieren will, nicht den Nachweis erbringen, dass das jeweilige Beispiel zu einem anderen Genre, etwa dem „Kriegsfilm“ oder dem „Melodram“ zugehörig wäre, sondern nur aufzeigen, welche Übereinstimmungen mit und Abweichungen von dem als Vergleichswert etablierten Muster vorhanden sind. Wenn wir aber davon ausgehen, dass Genres keine exklusiven Grenzen besitzen und ein Merkmal demzufolge nicht nur in einer Genrekategorie, sondern in mehreren enthalten sein kann, werfen allzu deutliche Abweichungen vom Merkmalskomplex der Vorlage die Frage auf, ob die als Hintergrund bestimmte Folie gut gewählt war. Oder würden sich andere Kategorien besser eignen, um auch die Gestaltungsmerkmale zu integrieren, die bislang nur als ungewöhnlich oder irritierend beschreibbar waren? Vom Genre Cinema zum Art Cinema  In der angloamerikanischen Filmwissenschaft ist lange Zeit versucht worden, den europäischen Autorenfilm der 1960er Jahre, dem fraglos auch Blow Up zuzurechnen ist, nicht in den Genrekategorien des klassischen Hollywoodkinos, sondern stattdessen mit dem Label Art Cinema zu erfassen. Dieser Begriff ist auch in genrezentrierten Diskursen anzutreffen, obgleich er eher einem oberflächlichen Sammelbegriff für unterschiedlichste Formen des internationalen Autorenkinos ähnelt. Er sei hier im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit herkömmlichen Genrekonzepten skizziert. Wie viele in der Filmwerbung und -kritik geprägte, unscharfe Genrebezeichnungen ist auch der Begriff Art Cinema im kommunikativen Gebrauch geprägt worden, ohne dass diesem eine formallogische Definition vorausging. Verwendung fand er zunächst innerhalb der USA ab Mitte der 1940er Jahre, um als künstlerisch wertvoll erachtete Filme zu beschreiben, die aus Europa (später auch aus Asien und weiteren Regionen) importiert wurden. Dazu zählten anfangs neorealistische Filme wie Roma città aperta (Rom, offene Stadt, I 1945), später auch Produktionen aus

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Abb. 26   Seit Blow Up arbeiten ambitionierte Kriminalfilme immer wieder mit Sequenzen, in denen die Rekonstruktion eines Tathergangs als schöpferische Tätigkeit inszeniert wird, die das nachzuweisende Verbrechen im Zuge der medialen Aufbereitung erst zu erschaffen scheint. Deutlicher noch als in Blow Up (a) (in dem die Frage, ob die betreffende Bilderreihe richtig oder falsch arrangiert ist, kaum eine Rolle spielt, weil sich die Spur des Verbrechens zum Filmende ohnehin auflöst) betonen Filme wie Steven Spielbergs Minority Report (b) die Fehleranfälligkeit solcher Arrangements, die das Erkennen in Verkennen umschlagen lässt. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.); Minority Report (USA 2002, © 20th Century Fox u. a.)

dem Umfeld der sogenannten neuen Wellen (wie der französischen Nouvelle Vague oder dem italienischen Autorenfilm). Um die auf wenige Verleihkopien und Aufführungsorte beschränkten Vorführungen attraktiv zu machen, wurden viele von ihnen mit einer dualen Marketingstrategie beworben: Einerseits wird der künstlerische Wert des Films betont (was unter anderem über die Hervorhebung des Regisseurs oder der Regisseurin, über Kritikerlob und die Nennung von Festivalauszeichnungen geschieht

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und ein cineastisches Publikum ansprechen soll). Zum anderen werden sie, bevor im Laufe der 1950er und vor allem der 1960er Jahre eigene Art House-Filmtheater entstehen, die sich auf die Vorführung von Kunstfilmen spezialisieren (vgl. Monaco 2001, S. 54 f.), gerade in den Anfängen auch in Kinos gezeigt, die sich auf die Vorführung exploitativer Produktionen spezialisiert haben. Im Rahmen solcher Aufführungen werden häufig die inszenatorischen Abweichungen von den für amerikanische Filme dieser Zeit noch unumgänglichen Normen des Production Codes betont und etwa Roma città aperta über das damals verwendete Werbematerial angepriesen als Inbegriff einer „Violence and Sexiness Hollywood Seldom Approaches“ (Brennan 2012, S. 92). Dieses Spannungsfeld zwischen künstlerisch-innovativem Entwurf und potenziellem Tabubruch entwickelte nicht nur die innerhalb der US-Rezeption mit dem Etikett Art Cinema gekoppelte Erwartungshaltung, sondern wirkte auch in Teilen auf die europäische Kunstfilmproduktion zurück, die teils dem einen, teils dem anderen und mitunter auch beiden Erwartungshorizonten zu entsprechen versuchte. Entsprechend erscheint auch in Blow Up die Integration einzelner Andeutungen sexueller Freizügigkeit und die gleich nach Filmbeginn positionierte Sequenz, in der David Hemmings das Model Veruschka (Veruschka von Lehndorff) fotografiert, als wesentliche Gestaltungselemente für die Vermarktung des Films. Abgesehen von solchen recht oberflächlichen semantischen Komponenten aber (die sich in manchen, allerdings gewiss nicht allen mit Filmkunstlabel versehenen Produktionen jener Zeit finden), die auch in Blow Up für die Narration des Films weitgehend funktionslos bleiben, lassen sich im Sektor des Art Cinema kaum überzeitlich konstante, identische Grundbausteine wiederfinden. Für die Genretheorie, der in dieser Zeit selbst vordergründig evidente Genres wie der Western Klassifikationsprobleme bereiteten, weil sich essentialistische Definitionen nicht ableiten ließen, stellte die Kategorie des Art Cinema eine Herausforderung dar. Denn einerseits war offensichtlich, dass ganze Publikumsschichten konkrete Vorstellungen von den Art Films hatten, die sie sich in Kinos ansahen, welche auf Kunstfilme spezialisiert waren. Mehr noch als im Falle der Genreformen des klassischen Hollywoodkinos entzog sich das Art Cinema aber einer eindeutigen Klassifizierung. Andrew Tudor hat deshalb 1973 versucht, Genres – am Alltagssprachgebrauch orientiert – als ein Verfahren zu definieren, durch welches das Publikum seine Filme klassifiziert, und dabei auf eine Bestimmung filmimmanenter Merkmale verzichtet: „According to this meaning of the term, ‚art movies‘ is a genre.“ (1973, S. 9) Da dies allerdings eine intersubjektive Verständigung über Filmgenres im wissenschaftlichen Diskurs unmöglich machen würde, ist an diesen Vorschlag in der Folge kaum angeknüpft worden. Steve Neale dagegen hat vorgeschlagen, den institutionellen Rahmen des Art Cinema – zu dem die vielfach von Filmförderungsmodellen gestützte Produktionspraxis großer Teile des europäischen Autorenfilms ebenso zu rechnen wäre, wie die Distributions- und Aufführungspraktiken – als definitorische Basis zu konzipieren, innerhalb derer unterschiedliche stoffliche und ästhetische Entwürfe realisierbar sind (vgl. Neale 1981, S. 13 ff.). David Bordwell hat ergänzend dazu versucht, für die innerhalb dieses institutionellen Rahmens entstehenden Produktionen einen distinkten Erzählmodus herauszuarbeiten, der Züge einer Genre-

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definition annimmt, aber umstritten, da von einigen argumentativen Widersprüchen durchzogen ist. Interessant ist daher das Modell, das András Bálint Kovács in seiner Studie Screening Modernism (2007) entwickelt hat. Darin wird ebenfalls das europäische Kunstkino der 1960er Jahre diskutiert, das Etikett des Art Cinema aber widerspruchsfrei mit einer Analyse generischer Strukturen zusammengedacht. Genre vs. Epoche, klassisches vs. modernes Kino  Kovács' Studie ordnet sich in eine Reihe von Ansätzen ein, die den europäischen Autorenfilm (in einer nicht unumstrittenen Begriffsverwendung) als eine Ausprägung des filmischen Modernismus interpretieren und ihn einem klassischen Kino gegenüberstellen. In Anlehnung an die von David Bordwell geprägte Differenzierung zwischen einer (mit dem Studiosystem Hollywoods assoziierten) classical narration und einer art cinema narration ist auch für Kovács der filmische Modernismus durch einen distinkten Erzählmodus geprägt. Im Unterschied also zur klassischen Narration, die sich durch einen Hang zur Geschlossenheit und Transparenz der Filmform auszeichnen würde, tendiere der Modernismus zu einer offenen (das heißt unabgeschlossenen) Form der Erzählung und betone dabei den Konstruktionscharakter filmsprachlicher Grammatik, zuweilen auch die Materialiät der Filmform. Interessant an Kovács Konzeption ist nun für uns, dass er das europäische Autorenkino weder über eine Abwesenheit von Genreformen charakterisiert (vgl. 2007, S. 84), noch die Genrekategorie auf jene Referenzen an amerikanische Filmgenres reduziert, die sich zum Teil in den neuen Wellen finden. Vielmehr wird die Epoche selbst bei Kovács als prägende Kategorie konzipiert, innerhalb derer sich von den 1950er bis in die 1970er Jahre in den Werken mehrerer Filmemacher ein wiederkehrendes Interesse an bestimmten thematisch-stofflichen Mustern herausarbeiten lässt. Wenn er in der Folge Investigation, Wandering/Travel, Mental Journey, Closed-Situation Drama, Satire/Genre Parody und Film Essay als wesentliche Genreformen dieser Strömung bestimmt, deutet er über die verwendete Terminologie bereits an, dass hier keine Fortschreibung der Hollywoodgenres intendiert ist, die zahlreichen Analyserastern zugrunde liegen, sondern diese theoretisch konzipierte Bezeichnungen für distinkte Formen der Materialgestaltung sind, die man mit Steve Neale als regional und zeitlich spezifisches generisches Regime begreifen kann. In dieser Perspektive läge es erneut nahe, Blow Up innerhalb der großen Gattung „Kunstfilm/moderner Film“ mit dem Muster der Investigationserzählung (investigative narration) zusammenzudenken und so die rezeptionsseitige Etikettierung des Art Cinema mit einer analytisch bestimmten Ausprägung innerhalb dieser äußeren Form zu verknüpfen. Charakteristisch für den äußeren Rahmen (also den Erzählmodus) sei nach Kovács für all diese Genreformen, dass sie im Unterschied zum klassischen Kino mehrere Erzählstrange parallel entwickeln (im Falle von Blow Up: der Strang der Ermittlung, die angedeutete Beziehung zwischen Thomas und der Frau des Malers, das wiederholte Auftauchen der beiden jungen Fotomodelle), ohne dass diese einander

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motivieren oder am Ende miteinander verknüpft würden: „Each story line is simple and banal without the other, they do not make sense alone“ (Kovács 2007, S. 100). Der epochenspezifische Trend innerhalb der Investigationserzählung bestehe dann darin, dass • die Ermittlungsarbeit deskriptiv und nicht lösungsorientiert behandelt werde. Die Ermittlung erfolge in Form einer einfachen Suche ohne Anlass und Motivation. Eine Lösung des Kriminalfalls existiert dabei gewöhnlich nicht oder die Suche nach ihr wird von bedeutsameren Problemen überlagert: „The search loses step by step its original goal“ (vgl. ebd.), bis die Ermittlerfigur feststellen muss, dass sich auch ihre Motivation zu ermitteln verflüchtigt hat. • die Gewichtung in der Erzählung nicht zugunsten des kriminalistischen Rätsels ausfalle, sondern dieses als ein disparates Element unter vielen anderen erscheine (vgl. ebd., S. 99). Damit schließt sich zugleich der Bogen zu den Anfängen unserer Einzelfilmanalyse. Denn die so herausgestellten, in Blow Up durchscheinenden epochenspezifischen Züge einer nicht mehr um Auflösung des Rätsels bestrebten Erzählung ließen sich im Sinne von Rick Altmans semantisch/syntaktischem Ansatz mit Filmzyklen anderer Epochen und Kinematographien zusammensetzen und, ohne die aufgezeigten Unterschiede nivellieren zu müssen, als einzelne Phasen oder Abschnitte in der umfassenderen Entwicklung und Geschichte einer Genreform interpretieren. Exemplarische Filme 1) Murder Mysteries: Morde und ihre Aufklärung im Laufe der Filmgeschichte Das Fräulein von Scuderi (D 1919, Karl Frey & Gottfried Hacker) M – Eine Stadt sucht einen Mörder (D 1931, Fritz Lang) The Kennel Murder Case (USA 1933, Michael Curtiz) The Hound of the Baskervilles (Der Hund von Baskerville, USA 1939, Sidney Lanfield) The Big Sleep (Tote schlafen fest, USA 1946, Howard Hawks) Quai des Orfèvres (Unter falschem Verdacht, F 1947, Henri-Georges Clouzot) Mystery Street (Die Tote in den Dünen, USA 1950, John Sturges) Rashômon (Rashomon – Das Lustwäldchen, J 1950, Akira Kurosawa) Rear Window (Das Fenster zum Hof, USA 1954, Alfred Hitchcock) Murder, She Said (16 Uhr 50 ab Paddington, GB 1961, George Pollock) Sei donne per l'assassino (Blutige Seide, I/F/BRD 1964, Mario Bava) In Cold Blood (Kaltblütig, USA 1967, Richard Brooks) Fragment of Fear (Schatten der Angst, GB 1970, Richard C. Sarafian) Murder on the Orient Express (Mord im Orient-Express, GB/USA 1974, Sidney Lumet) Blue Velvet (Blue Velvet – Verbotene Blicke, USA 1986, R: David Lynch) Se7en (Sieben, USA 1995, David Fincher)

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L.A. Confidential (USA 1997, Curtis Hanson) Salinui chueok (Memories of Murder, KOR 2003, Bong Joon-ho) Knives Out (Knives Out – Mord ist Familiensache, USA 2019, Rian Johnson) 2) Detektivische Spurensuche als Medienanalyse Citizen Kane (USA 1941, Orson Welles) Es geschah am hellichten Tag (CH/BRD/ESP 1958, Ladislao Vajda) L'uccello dalle piume di cristallo (Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe, I/BRD 1970, Dario Argento) The Conversation (Der Dialog, USA 1974, Francis Ford Coppola) Blow Out (Der Tod löscht alle Spuren, USA 1981, Brian De Palma) The Draughtsman's Contract (Der Kontrakt des Zeichners, GB 1982, Peter Greenaway) La casa con la scala nel buio (Das Haus mit dem dunklen Keller, I 1983, Lamberto Bava) Détective (Detective, CH/F 1985, Jean-Luc Godard) JFK (JFK – Tatort Dallas, USA/F 1991, Oliver Stone) Disclosure (Enthüllung, USA 1994, Barry Levinson) Strange Days (USA 1995, Kathryn Bigelow) Tesis (Faszination des Grauens, ESP 1996, Alejandro Amenábar) Memento (USA 2000, Christopher Nolan) Minority Report (USA 2002, Steven Spielberg) Freeze Frame (GB/IRL 2004, John Simpson) The Da Vinci Code (Sakrileg, USA/MLT/F/GB 2006, Ron Howard) Untraceable (Untraceable – Jeder Klick kann töten, USA 2008, Gregory Hoblit) The Ghost Writer (Der Ghostwriter, F/BRD/GB 2010, Roman Polański) Literaturhinweise zur Genretheorie Altman, Rick. 1999. Film/Genre. London: BFI. Casetti, Francesco. 2001. Filmgenre, Verständigungsvorgänge und kommunikativer Vertrag. Montage/av. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 10 (2): 155-173. Fowler, Alastair. 1982. Kinds of Literature. An Introduction to the Theory of Genres and Modes. Oxford: Clarendon Press. Grant, Barry Keith, Hrsg. 2012. Film Genre Reader IV. Austin: University of Texas Press. Grant, Barry Keith und Malisa Kurtz. 2016. Notions of Genre. Writings on Popular Film before Genre Theory. Austin: University of Texas Press. Hediger, Vinzenz und Patrick Vonderau. 2005. Landkarten des Vergnügens. Genres in Filmwerbung und Filmvermarktung. In Demnächst in Ihrem Kino. Grundlagen der Filmwerbung und Filmvermarktung, hrsg. dies., 240-248. Marburg: Schüren. Hickethier, Knut. 2002. Genretheorie und Genreanalyse. In Moderne-Film-Theorie, hrsg. Jürgen Felix, 62–103. Mainz: Bender.

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3 Stil- und Genretheorien im Vergleich Claudia Anton und Sebastian Lauritz Wenngleich sie auf unterschiedliche Fragestellungen abzielen, lassen sich Autoren-, Stil- und Genreanalyse im Rahmen einer Einzelfilmbetrachtung nach gleichem Prinzip anwenden. Alle drei Ansätze verfolgen die Intention, einen einzelnen Film vor dem Hintergrund eines ausgewählten Korpus zu betrachten, mit dem er zentrale Merkmale teilt. Vergleichend herausgearbeitet werden dabei sowohl Kontinuitäten als auch Abweichungen, sowie gestalterische Besonderheiten. Im Zuge einer Genreanalyse dient hierzu gewöhnlich ein Grundmuster auf stofflicher Ebene. Im Falle eines Individualstils dagegen wird die Beteiligung eines oder einer künstlerisch Kreativen an der Filmproduktion als ausschlaggebender Faktor gewertet und zum Bezugspunkt der Analyse. Dass hierbei unterschiedliche Ergebnisse zu erwarten sind, liegt auf der Hand. Obwohl Individualstil- und Genreanalysen methodisch analog vorgehen, indem sie das Einzelwerk mit der Bezugsgruppe vergleichen, unterscheiden sie sich einerseits in der Zusammenstellung des als Vergleichswert herangezogenen Materials (in den beiden vorangehenden Kapiteln waren dies Filme des Regisseurs Michelangelo Antonioni im Rahmen der Individualstilanalyse und Detektiverzählungen im Rahmen der Genreanalyse) und andererseits in Bezug auf die Analyseinstrumente und das Erkenntnisinteresse.

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Genreanalysen legen den Fokus in der Regel auf stofflich-motivische Aspekte der Filmgestaltung, während sich reine Stilanalysen (wie sie beispielsweise David Bordwell vorgelegt hat) meist auf ästhetisch-technische Parameter der Filmgestaltung, wie etwa spezifische Formen der Mise-en-scène, konzentrieren. Von den Maximen der Autorentheorie geleitete Untersuchungen eines Œuvres sind dagegen – wenngleich durch die Bezeichnung „Individualstil“ vordergründig eher an die Stilanalyse angelehnt – zumeist eine Kombination beider Perspektiven, arbeiten also Konstanten eines Werks gleichsam auf stofflicher und ästhetischer Ebene heraus. Das antagonistisch anmutende Verhältnis zwischen Autoren- und Genretheorie, welches die filmwissenschaftliche Forschung über Jahre hinweg prägte, resultierte weniger aus methodischen oder inhaltlichen Differenzen, sondern vielmehr aus den ideologischen Implikationen, die sich aus dem Bekenntnis zu einem der beiden Ansätze ableiten lassen. Möchte man die Eigenheiten filmischer Gestaltung einer künstlerisch-kreativen Instanz zuschreiben oder auf die Adaption erzählerischer Konventionen zurückführen? Im einen Fall scheint das schöpferische, innovative Potential im Zentrum der Analyse zu stehen, im anderen das schematisch-routinierte. Diese vordergründig unversöhnliche Dichotomie prägte Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre die Debatte zwischen Autoren- und Genretheoretikern und -theoretikerinnen, obgleich sich das Für und Wider beider Positionen schon damals weder von der jeweils mitschwingenden Polemik noch von dem zugrunde liegenden Untersuchungsgegenstand ablösen ließ. Denn ob man einen Film unter autoren- oder genretheoretischen Gesichtspunkten analysieren sollte, lässt sich ebenso wenig pauschal beantworten, wie die Frage, ob einer der beiden Ansätze per se „besser“ beziehungsweise „adäquater“ für eine Untersuchung geeignet sei als der andere. Entscheidend ist zum einen das mit der Analyse verbundene Erkenntnisinteresse, zum anderen aber mit Blick auf die historische Entwicklung und Stoßrichtung der Autoren- und Genretheorie unweigerlich auch die Art des Untersuchungsgegenstandes: Im Kontext von Experimentalfilmen, bei denen die Kontrolle aller filmischen Gestaltungsebenen von der Kameraarbeit bis zur Postproduktion zuweilen in der Hand einer einzigen Person liegen kann, autorentheoretisch zu argumentieren, ist eine durchaus verbreitete Praxis. Weit strittiger ist die Argumentation der Auteuristen um Andrew Sarris, die in den 1960er Jahren ähnlich individuelle Handschriften selbst aus Hollywoodproduktionen herauslesen wollten, in denen die schematischen Gestaltungsaspekte zu dominieren schienen und an denen eine Vielzahl von Beteiligten mitgewirkt hatten. Im Umkehrschluss erschien es für Genretheoretiker wie Edward Buscombe naheliegend, bei der Beschreibung einer arbeitsteilig organisierten Filmwirtschaft wie dem klassischen Hollywoodkino die dortigen Formen der Standardisierung (und damit auch eine überindividuelle Ebene der Filmgestaltung) zu betonen und als generisch zu bezeichnen. Das Vorhandensein zeitgebundener und überindividuell ausgeprägter Normen der Filmgestaltung auf stilistischer und generischer Ebene auch für Bereiche der Filmwirtschaft herauszuarbeiten, die – wie das Festivalund Filmkunstkino – vor allem die individuelle Prägung ihrer Produkte in den Vordergrund rücken, wäre hierbei ein anspruchsvolleres und weniger offensichtliches Vorgehen.

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Doch wie lassen sich Genre- und Stilanalysen umsetzen, wenn man sich für eine der beiden Perspektiven entschieden hat? Beide Ansätze zielen auf ein System der Klassifikation, das Filme entweder primär nach stofflich-motivischen Kontinuitäten gruppiert oder vor allem stilistische Aspekte herauszustellen sucht, wobei in beiden Fällen sowohl synchrone als auch diachrone Betrachtungsweisen möglich sind. In synchroner Perspektive würde man beispielsweise den Individualstil eines Regisseurs oder einer Regisseurin in Abweichung zum dominanten Epochalstil der Zeit oder im Vergleich zu anderen Individualstilen herausarbeiten. Analog dazu würde man im Fall der Genreanalyse einen Film vor dem Hintergrund eines Genremusters analysieren, indem man ihn mit anderen zu dieser Zeit entstandenen Genrefilmen vergleicht. Eine diachrone Perspektive versucht dagegen die Entwicklung eines Stils oder eines Genres über einen bestimmten Zeitraum hinweg nachzuzeichnen und zu interpretieren. Kontinuitäten im filmischen Œuvre oder in der Entwicklung eines Genres erscheinen für diese Untersuchungen nicht weniger interessant als Wandlungen, die durch eine Vielzahl von Faktoren (Produktionsumfeld, Budget, Materialwechsel, neue künstlerische Impulse etc.) bestimmt sein können. Sowohl Stil- als auch Genreanalysen tendieren bei diachroner Betrachtungsweise zu einem Denken in Phasenmodellen. So teilt beispielsweise Matthias Bauer in seiner Monografie (2015) Antonios Gesamtwerk in fünf Phasen ein, die er mit: Das Frühwerk (1943–50); Die italienische Phase (1950–1958), Die europäische Phase (1958–1965), Die globale Phase (1967–1977) und Das Spätwerk (1980–2004) betitelt. Interessanterweise räumt er Blow Up ein eigenes Kapitel und damit eine Sonderstellung zwischen der europäischen und der globalen Phase ein. Zugrunde liegt dieser Einteilung die Idee einer Entwicklung, die im Falle Antonionis sowohl an Produktionsbedingungen als auch an einen stilistischen Wandel geknüpft ist und vom italienischen Neorealismus über den europäischen zum internationalen Kunst- und Autorenfilm führt. Will man sich weniger von den Produktionskontexten, sondern primär von Mustern der filmischen Gestaltung leiten lassen, wären gleichwohl auch andere Segmentierungen denkbar. Mit Blick auf mögliche Kombinationen von Genre- und Stilanalyse ließe sich etwa Antonionis Umgang mit Genreformen – zum Beispiel mit den Mustern des Melodrams, des Kriminal- oder Reisefilms – untersuchen, was sich als werkimmanente Studie realisieren, aber auch in Bezug zu anderen Œuvres, beispielsweise innerhalb einer Epoche (wie der des europäischen Autorenfilms der 1960er Jahre) realisieren ließe. Bei den Kategorien Genre und Stil handelt es sich überdies nicht allein um wissenschaftliche Termini, sondern zudem um alltägliche Verständigungsbegriffe, über die Filme vermarktet und im kommunikativen Gebrauch diskutiert und klassifiziert werden. Es ist ferner ebenso möglich, die Analyse ganz auf diese diskursive Dimension hin auszurichten und am Beispiel eines Films wie Blow Up zu untersuchen, welche Genre- und Stilkategorien etwa vonseiten des Verleihs oder der Filmkritik genutzt wurden, um ihn zu beschreiben, und welche Bedeutung im Zuge dieser Diskurse die Kategorie des Filmemachers erhielt.

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So flexibel sich Stil- und Genreanalysen kombinieren und auf unterschiedliche Fragestellungen hin zentrieren lassen, fällt dennoch auf, dass der Stilbegriff in höherem Maße medial gebunden erscheint als der Genrebegriff, weil er vor allem auf die ästhetischen, genuin filmischen Mittel rekurriert, die sich schwer in ein anderes Medium übertragen lassen. Zwar gibt es epochale Kunstströmungen – wie die des Expressionismus oder des Impressionismus – die zugleich filmische Stilrichtungen bezeichnen, jedoch lassen sich auch diese Merkmale nicht medienübergreifend beschreiben. Versucht man beispielsweise, die zentralen Charakteristika des malerischen Expressionismus (nämlich den freien Umgang mit Farbe und Form, die Aufhebung der Zentralperspektive verbunden mit einer Flächigkeit des Bildes sowie die subjektive Interpretation der Wirklichkeit) auf den Film zu übertragen, finden sich nur wenige Filme, die diesen Kriterien entsprechen, sodass man kaum von einem „Epochalstil“ sprechen kann. Fasst man die Definition hingegen weiter und lässt das Ästhetische zugunsten des Narrativs zurücktreten, so finden sich nicht mehr allzu viele Gemeinsamkeiten zwischen dem Expressionismus der Bildenden Kunst und des Films. Der Genrebegriff hingegen lässt sich deutlich einfacher als transmediales Phänomen begreifen, da er vor allem auf stoffliche, motivische und dramaturgische Konstanten zielt und damit medienübergreifend zur Beschreibung bestimmter Merkmale herangezogen werden kann. So ist das Kriminalsubgenre des Whodunit gleichermaßen in Film, Theater und Literatur präsent und weist in allen Erscheinungsformen ähnliche Standardsituationen, Motive und Spannungsdramaturgien auf. Selbstverständlich können die eben genannten Aspekte, nämlich narrative Standards, motivische Konstanten und dramaturgische Kniffe, nicht nur im Rahmen der Genreanalyse, sondern auch als Bestandteile eines Epochal- oder Individualstils untersucht werden. Deutlich wird dies in Blow Up vor allem an jenen Sequenzen, in denen der Fotograf Thomas in seinem Appartement versucht, aus den von ihm gefertigten Fotografien einen Mordfall zu rekonstruieren. Die Umschichtung des Materials, die immer neue Einzelbildkombinationen und damit andere Verknüpfungen des Materials erlaubt, fungiert in genreanalytischer Perspektive als Kontrapunkt zur Syntax der Detektiverzählung. Im Kontext einer Individualstilanalyse betrachtet würde sie dagegen mustergültig Antonionis gleichsam kubistischen Ansatz des Filmemachens illustrieren, der darauf basiert, eine Vielzahl von Perspektiven anzubieten, deren Verknüpfung aber fragil bleibt und darüber das für sein Werk charakteristische „Schwanken des Sinns“ exemplifiziert. Dient als Folie der Untersuchung dagegen nicht allein Antonionis Œuvre, sondern das europäische Autorenkino der 1960er Jahre, erschienen diese Sequenzen (wie auch der Film Blow Up insgesamt) als paradigmatisch für die Tendenz vieler ambitionierter Filmemacher und Filmemacherinnen jener Dekade, die Grundprinzipien ihres Filmemachens in selbstreflexiver Form offenzulegen, wie es beispielsweise Federico Fellini in 8½ (Achteinhalb, I/F 1963), Jean-Luc Godard in Le mépris (Die Verachtung, F/I 1963) oder Ingmar Bergman in Persona (S 1966) taten. Insofern bieten stil- und genreanalytische Fragestellungen Perspektiven an, unter denen sich Filme miteinander in Beziehung setzen und vergleichen lassen. Abgesehen

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aber von der Begrenzung des Filmkorpus – etwa auf die eines Filmemachers oder eines Erzählmusters – und der Akzentuierung einer Untersuchungsperspektive geben sie nicht automatisch vor, welche Merkmale, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Vergleich herausstellen wird. Ob also beispielsweise eine spezifische Farbästhetik nachgewiesen wird, wie dies im Rahmen der Stilanalyse von Blow Up geschah oder im Zuge der Genreanalyse auf die Einschränkung des Wissenshorizontes innerhalb dieses Filmes verwiesen wurde, ist in hohem Maße von den gestalterischen Spezifika des Untersuchungsgegenstandes und des hierbei zitierten Einzelgenres beziehungsweise des individuellen Gestaltungsstiles abhängig. In stil- und genrebezogenen Filmanalysen kann man sich von solch filmimmanenten Besonderheiten leiten lassen und diese ins Zentrum der eigenen Untersuchung stellen. Will man weniger heuristisch verfahren, ist es ebenso möglich, schon vorab eine Reihe von stilistischen oder stofflichen Parametern zu definieren, anhand derer sich Konstanten und Varianten des zu untersuchenden Filmkorpus bestimmen lassen. So verfährt beispielsweise Barry Salt in Film Style and Technology (1992), einer Stilgeschichte des Films, in der nach Jahrzehnten geordnet auf den Entwicklungsstand des Filmmaterials, der Lichtsetzung, der Farb- und Tonverfahren, der Kameraarbeit und des Filmschnitts eingegangen wird. In beiden Fällen aber wird die stoff- und/oder stilorientierte Untersuchungsperspektive hierbei um Beschreibungsparameter ergänzt, die nicht schon notwendigerweise durch die theoretischen Grundlagen der Genre- und Stiltheorie determiniert sind. Ob also zur Beschreibung einer genretypischen Erzählsituation in Blow Up auf David Bordwells neoformalistisches Konzept des Wissensstandes oder ein anderes narratologisches Modell zurückgegriffen wird, bleibt ebenso den Interpretierenden überlassen wie die Frage, welche Form der Farbanalyse oder anderer stilistischer Parameter gewählt wird. Und wenn, wie in der oben beschriebenen Sequenz aus Blow Up, immer wieder unbewegte Fotografien das Filmbild ausfüllen und den Bewegungsfluss des Films einzufrieren scheinen, wäre es nicht abwegig, bei einer Untersuchung des Individualstils von Michelangelo Antonioni ebenfalls das grundlegende Verhältnis von Bewegung und Stillstand und damit jenes zwischen den Medien Film und Fotografie zu reflektieren und die Untersuchung damit um eine intermediale Dimension zu erweitern. Insofern generieren Genre- und Stilanalysen keine hermetisch abgeschlossenen Untersuchungsperspektiven, sondern bilden Ausgangspunkte der filmübergreifenden Betrachtung, die in unterschiedliche Richtungen anschlussfähig sind und zur Kombination mit anderen Theorien und Modellen einladen.

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Theorien der neoformalistischkognitivistischen und der quantitativen Analyse Michael Brodski und Julian Sittel

1 Neoformalismus/Kognitive Filmtheorie Michael Brodski Der etymologische Ursprung des Begriffs „Kognition“ (lat. cognoscere) meint „erkennen“, „erfahren“, „kennenlernen“. Er verweist bereits auf eine aktive Teilnahme der Rezipierenden bei der mentalen Verarbeitung semantischer und sinnlicher Informationen. Ausgehend von einem aktiven Rezeptionsprozess schaffen David Bordwell und Kristin Thompson in den 1980er Jahren ein neues filmtheoretisches und filmanalytisches Modell: den Neoformalismus. Er wird sich zu einer bis in die heutige Gegenwart kontroversen und zugleich prägenden filmwissenschaftlichen Strömung entwickeln. Methodisch bildet der Neoformalismus ein Dreigestirn aus, das erstens in zentraler Stellung eine kognitive Filmtheorie verfolgt, flankiert zweitens von der formalen Analyse von Einzelwerken und drittens von der systematischen Historisierung filmischer Stilepochen. Dass nun die Rolle der Filmzuschauenden in den Fokus gerückt wird, bezeichnet Bordwell 1989 als Paradigmenwechsel der Filmtheorie (in seinem wegweisenden Essay A Case of Cognitivism). Ziel ist es, die interaktive Wechselbeziehung zwischen Publikum und Filmwerk zu untersuchen. Das Filmmedium soll nicht mehr als ein reines „Kommunikationsmodell“ (Thompson 1995, S. 29) angesehen werden,

M. Brodski (*)  Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Sittel  Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Bulgakowa und R. Mauer (Hrsg.), Angewandte Filmtheorie, Film, Fernsehen, Neue Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41089-6_6

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das unterschiedlich codierte Botschaften an Zuschauende sendet, die auf eine passive Empfängerrolle reduziert sind. Damit grenzt sich der Neoformalismus entschieden (und oftmals sehr polemisch) von der psychoanalytischen und marxistisch-ideologiekritischen Filmtheorie ab. Denn sie würden die aktive Rolle der Zuschauenden negieren und die Rezeption ausschließlich durch unbewusste Faktoren beeinflusst sehen. Solche von den Neoformalisten als grand theories titulierten Ansätze würden außerdem Annahmen vertreten, die bereits vor der eigentlichen Filmanalyse feststehen und die der analysierte Film dann positivistisch belegen soll, wodurch er letztlich in seiner Eigenständigkeit relativiert werde (vgl. Bordwell 1985a; Bordwell und Carroll 1996). In seinem narratologischen Standardwerk Narration in the Fiction Film (1985) weist Bordwell darauf hin, dass der Erzählvorgang im Film erst durch die konstruktivistische Mitarbeit der Rezipierenden entsteht: „Seeing is thus not a passive absorption of stimuli. It is a constructive activity, involving very fast computations, stored concepts, and various purposes, expectations, and hypotheses. A comparable account can be provided for auditory perception.“ (Bordwell 1985a, S. 32)

1.1 Die kognitive Aktivität des Filmzuschauenden Die Informationen, die von einem Film präsentiert und von den Zuschauenden aktiv verarbeitet werden, offenbaren sich in Form von stilistischen und narrativen Hinweisen: den cues. Wenn Thompson den cue-Begriff in ihrer Einleitung zu Breaking the Glass Armor (1988) erklärt, stellt sie den Neoformalismus als ein perzeptiv-kognitives Modell vor (perceptual-cognitive model), das an die klassische Kognitionspsychologie angelehnt ist. Der Zuschauer sucht im Werk aktiv nach Hinweisen [cues] und reagiert darauf mit den Wahrnehmungsfähigkeiten [viewing skills], die er durch seinen Umgang mit anderen Kunstwerken und mit dem Alltagsleben erworben hat. Der Betrachter wird perzeptiv, emotional und kognitiv gefordert, wobei diese drei Ebenen unauflösbar miteinander verbunden sind. (1995, S. 30)

Welche cues erscheinen den Zuschauenden nun relevant (auch im besagten Kontext ihres Rezeptionshintergrundes)? Zur Klärung dieser Frage bezieht sich der neoformalistische Ansatz auf den russischen Formalismus. Die russischen Formalisten verfolgten in den 1920er Jahren in literaturwissenschaftlichen Analysen das Ziel, die poetische Sprache von der Alltagssprache abzugrenzen, um somit die Literarizität, also die formalen Eigen­schaften eines literarischen Kunstwerks zu bestimmen. Abseits der Inhalte soll die Besonderheit der Kunstrezeption als solche herausgearbeitet werden. Die Rezeption von Kunst findet demnach in einem außeralltäglichen Erfahrungsraum statt, der von der normierten Wahrnehmung der Umwelt abgegrenzt ist. Doch wie gelingt Kunstwerken diese Durchbrechung der Alltagswahrnehmung? Der Neoformalismus beruft sich hier auf ein zentrales Konzept der Formalisten: die ostranenie (russisch für „Verfremdung“). Ostranenie bezeichnet die Eigenschaft von Kunstmedien, alltäglich vertraute Begebenheiten durch eine künstlerische Perspektive oder Bearbeitung auf verschobene Weise

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wiederzugeben. Ziel ist eine Entautomatisierung der Wahrnehmung. Das Vertraute und Gewohnte wird mithilfe der Kunst einem neuen, zur Reflexion verleitenden Blick unterzogen (Abb. 1). Viktor Šklovskij, einer der wichtigsten Vertreter des russischen Formalismus, formuliert in seinem wegweisenden Essay Kunst als Verfahren (1916) diesen Umstand wie folgt:

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Abb. 1   Ostranenie, das bedeutet: Durch eine künstlerische Verfremdung wird die Automatisierung unserer Alltagswahrnehmung aufgebrochen und ein neuer Zugang geschaffen – zum Beispiel zu Äpfeln, Blumen oder Vasen und Geschirr in den arrangierten Stillleben der Malerei. Moderne Beispiele dafür sind die Gemälde von Giorgio Morandi (a, 1920) und S.J. Peploe (b, 1904). Antonioni thematisiert seine Ostranenie-Aufgabe als Künstler in L‘Eclisse: Ein Rahmen im Bildkader erzeugt ein Stillleben (c), bis Monica Vittis Hand hineingreift (d) und den Gegenstand verrückt (e). Sprung auf die andere Seite des Rahmens: Der Blick hinter das Bild weist auf die prinzipielle Gemachtheit nicht nur dieses, sondern aller Bilder hin – mit der bildschaffenden Hand des Menschen im Zentrum (f). Quelle: Guggenheim Bilbao, © Centro Studi Giorgio Morandi; NGV Collection Online, © National Gallery of Victoria; L‘Eclisse (Liebe 1962, I 1962, © Studiocanal)

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Vergegenwärtigen wir uns die allgemeinen Gesetze der Wahrnehmung, so sehen wir, dass zur Gewohnheit gewordene Handlungen automatisch ablaufen. […] Die Automatisierung verschlingt die Dinge, die Kleider, die Möbel, die Frau und den Schrecken des Krieges. [...] Um nun die Empfindung des Lebens wiederzugewinnen, die Dinge wieder zu fühlen, den Stein steinern zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen. (1987, S. 16 f. zit. nach Thompson 1995, S. 31)

Das Potenzial eines Kunstwerkes, die Seherfahrung des Publikums zu entautomatisieren, hängt von zwei Faktoren ab: zum einen dem Innovationsgrad des Kunstwerks gegenüber den anderen filmischen Texten seiner Entstehungszeit (also dem Bruch mit Konventionen einer bestimmten Zeit), zum anderen dem Publikum, das mit diesen Konventionen entsprechend vertraut ist und dessen Wahrnehmungsfähigkeiten sich innerhalb eines bestimmten zeitlichen Kontextes verorten lassen (Abb. 2). Beispielsweise würden Zuschauende, die mit dem klassischen Erzählkino vertraut sind, bei einem narrativ unkonventionellen Film eher in ihrer Wahrnehmung entautomatisiert werden als bei der Sichtung eines weiteren, vergleichsweise konventionellen Werkes. Kognitive Schemata des Filmverstehens Eine solche kognitive Rezeption lässt sich nach Bordwell und Thompson einem allgemeinen Muster unterordnen: Jeder formale oder inhaltliche cue, der für das Verstehen eines Filmes von Bedeutung ist, wird als Verfahren (device) bezeichnet. Aus der Summe aller Verfahren setzt sich das Kunst-

Abb. 2   Die Dekade der 1960er Jahre läutet Alfred Hitchcock mit einem Angriff auf das kanonische Schema ein. In Psycho wird Marion Crane (Janet Leigh) zunächst als Hauptfigur etabliert, aber nach der Hälfte des Films überraschend ermordet. Dieser intendierte Bruch mit den Konventionen entfaltet seine schockierende Wirkung vor allem bei einem Publikum, welches mit der unausgesprochenen Regel vertraut ist, dass eine Hauptfigur – wenn überhaupt – erst am Ende des Films sterben sollte. Quelle: Psycho (USA 1960, © Universal)

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werk zusammen. Diese Verfahren kann das Publikum verstehen, indem es auf kognitiv angelernte Schemata zurückgreift, wie das Wissen um (1) Stiltraditionen (etwa SchussGegenschuss), um (2) motivische Konstanten (etwa Protagonist versus Antagonist, Gut versus Böse) sowie um (3) Handlungsmuster (Abb. 3), vornehmlich jener der konventionellen Erzählungen, die mit linearen, kausalen Strukturen einen kohärenten Sinn stiften und von Bordwell Kanonische Erzählung (canonical story) genannt werden (vgl. 1985a, S.  35). Letztgenanntes Schema der Kanonischen Erzählung verortet Bordwell historisch im klassischen Hollywoodstil (vgl. Bordwell 1985b). Weitere Verfahren dieses Stils sind: eine zielorientierte Dramaturgie samt zeitlicher deadlines, die Ausführung einzelner zielorientierter, einem Endpunkt entgegenstrebender Handlungen und das continuity editing als Teil einer kompletten Unterordnung des Stils in den Dienst der Erzählung. Aus der Anwendung solcher Schemata auf filmische Verfahren resultieren für die Zuschauenden Fragen, die sie an die filmische Narration richten, um daraus Hypothesen und Rückschlüsse über den Handlungsverlauf des Films oder auch über die im Film präsentierten Bedeutungsebenen zu bilden. Bordwell schließt sich hier den Ausführungen des israelischen Literaturwissenschaftlers Meir Sternberg an und unterscheidet zwischen Hypothesen, die auf Neugier (curiosity), und Hypothesen, die auf Spannung (suspense) beruhen (vgl. 1985a; Carroll 1988). Diese können sich durch entsprechende Entwicklungen der Filmhandlung auch als komplett fehlgeleitet erweisen, um anschließend neu gebildet werden zu müssen. Zentral ist dabei der von Sternberg übernommene Begriff des primacy effects. Er bezeichnet den ersten und damit auch zunächst bleibenden Eindruck eines Sachverhalts, an welchem sich das Publikum im weiteren Verlauf des Films orientiert. Wenn beispielsweise eine Filmfigur als Antagonist oder Antagonistin (und entsprechend negativ charakterisiert) eingeführt wurde, fungiert dieser Eindruck für die Zuschauenden danach als grundlegende Hypothese, die nicht mehr so einfach revidiert werden kann. Bedeutungsebenen des Films  Auf welche Weise nutzt ein Film seine Verfahren, um Bedeutungen zu schaffen? Vier Ebenen können hier unterschieden werden (Bordwell 1991, S. 8 f.; Thompson 1995, S. 32 f.): • Die referenzielle Bedeutungsebene (referential meaning) verweist denotativ auf Dinge und Sachverhalte, die in dieser Form auch in der außerfilmischen Realität vorhanden wären, wie der Fotoapparat in Blow Up (GB/I/USA 1966). • Die explizite Bedeutungsebene (explicit meaning) verweist auf abstrakte Ideen, die zum Beispiel im Dialog von Figuren artikuliert werden und Wertvorstellungen oder Ideologien proklamieren können. Dieser Fall tritt ein, wenn der Fotograf im Park gegenüber der protestierenden Frau seine Arbeit verteidigen muss. • Die implizite Bedeutungsebene (implicit meaning) bezieht sich auf durch konnotative Bedeutungen zur Interpretation nicht eindeutig definierbarer

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Abb. 3   Mit der Last-Second-Rescue prägt David W. Griffith eine Kombination aus Stilmittel (konvergierende Parallelmontage), Motiv (Täter/Opfer und Retter) und Handlungsmuster (Finale Rettung). In rascher Folge wechseln sich ab: (a) der Einbruchsversuch der Banditen, (b) der verzweifelte Widerstand der Familie und (c) der zu Hilfe eilende Ehegatte. Die Dynamik der alternierenden Bilder und die Zuspitzung der Situation straffen den Spannungsbogen, der sich in letzter Sekunde auflöst, wenn die Handlungsabläufe mit der Rettung zusammenfinden (d) in dem 12-minütigen Kurzfilm The Lonely Villa. Quelle: The Lonely Villa (USA 1909, © Biograph Company)

Begebenheiten; so bleibt die in Blow Up scheinbar begangene Mordhandlung uneindeutig. • Die symptomatische Bedeutungsebene (symptomatic meaning) verweist auf gesellschaftliche Tendenzen, die im Entstehungskontext des Films mitschwingen. Beispielweise impliziert der Auftritt der britischen Rockband Yardbirds und der Kampf des Publikums um den Gitarrenhals den aufkommenden Personenkult in der Popkultur der 1960er Jahre.

Daran anknüpfen lässt sich die Unterscheidung verschiedener Motivationen, die Bordwell und Thompson treffen. Die Idee ist: Eine filmische Inszenierung verfolgt stets eine bestimmte Absicht (Motivation) bei der Auswahl und Verwendung der Verfahren. Die Zuschauenden wiederum forschen nach dieser Absicht, um den Film zu verstehen: „Die Motivation läßt sich als cue auffassen, der vom Werk aus-

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geht und uns dazu veranlaßt, uns über die Rechtfertigung des jeweiligen Verfahrens Gedanken zu machen“ (Thompson 1995, S. 36). Diese Absichten können: a) Authentizität suggerieren (realistische Motivation) oder b) narrative Kohärenz anzeigen (konzeptionelle Motivation); sie können c) Versatzstücke anderer Filmwerke erkennen, die von den Rezipierenden wiedererkannt werden (transtextuelle Motivation) oder d) rein ästhetischen Gründen folgen (künstlerische Motivation). Narratologische und historisch bedingte Rezeption  Hinsichtlich der narratologischen Rezeption von Filmen unterscheidet der neoformalistische Ansatz zwischen der Fabel als abstrakter Struktur einer chronologischen und kohärenten Erzählung (die Story) sowie dem Sujet als tatsächlicher vom Film präsentierten Reihenfolge der Erzählversatzstücke (der Plot) (Abschn. 1 im Kap. 4 „Theorien der Gestaltungsanalyse: Narration, Bild und Ton“). Die Fabel würde ausschließlich als mentale Konstruktion entstehen und korrespondiere demnach „mit dem ‚Geschichten-Wissen‘ der Zuschauenden – ihrem Wissen über Handlungsschemata, -motive und Genres“ (Hartmann und Wulff 2002 S. 194). Alle der bereits genannten Verfahren, die die Wahrnehmungsaktivitäten des Publikums katalysieren, lassen sich somit auf eine derartige mentale Transferleistung zurückführen: „Die Distinktion von Fabel und Sujet ist ein zentrales Konzept sowohl zur Beschreibung des künstlerischen kreativen Aktes als auch zur Modellierung der konstruktiven und nachschaffenden mentalen Tätigkeit des Zuschauers“ (ebd., S. 194 f.). Das angesprochene Wissen um die Konstruktion von Geschichten kann dabei auch stets im Hinblick auf die spezifischen Rezeptionshintergründe von Filmzuschauenden in einer bestimmten Epoche historisch verortet werden. Die kognitiven Fähigkeiten des Zuschauers und der Zuschauerin – also die Frage, welche Verfahren ihnen bekannt sind, auf welche Schemata zurückgegriffen und welche filmischen cues dementsprechend von ihnen erkannt würden – hängen laut Thompson „unausweichlich von der Beziehung zwischen dem Werk und seinem historischen Kontext sowie dem historischen Kontext des Zuschauers ab“ (1995, S. 60). Die verfremdende Wirkung von Kunstwerken – die ostranenie – wäre dementsprechend auch als historische Determinante zu verstehen: Das Kunstwerk könnte diese entautomatisierende Wirkung im Laufe der Zeit durch die Gewöhnung des Publikums an die Verfahren einbüßen. Die historische Entwicklung von Kunst sei demnach ein stetes Bestreben, dem Prozess der Automatisierung durch die Entwicklung neuer Formen zu entkommen, wie insbesondere die im globalen Kino stets vorzufindende Abkehr von der ästhetischen Norm des klassischen Hollywoodstils zeige: „Die Spannung zwischen ästhetischer Norm und Abweichung liefert die Grundlage für das Verständnis der affektiven und kognitiven Erfahrung des Zuschauers sowie der Regeln, ‚Codes‘ und Konventionen, die die Filmkunst regulieren“ (Hartmann und Wulff 2002, S. 197). Der neoformalistische Ansatz, der sich auch als historische Poetik und Kartographie der Geschichte der Filmstile versteht (vgl. Bordwell 1997), konstruiert somit auch spezifisch historisch verortete Rezipierende: Demnach könnten durch Analyse von bestimmten Normen einer Filmepoche wie auch ihren Abweichungen gegenüber Einzelwerken „Annahmen darüber getroffen werden, wie ein gegebenes Verfahren von den Zuschauern vermutlich verstanden wird“ (Thompson 1995, S. 45).

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1.2 Kognitivistische Emotionsforschung Obwohl der neoformalistische Ansatz der 1980er Jahre die Wahrnehmungsprozesse des Zuschauers und der Zuschauerin in den Vordergrund stellt und damit einen kognitivistischen Wendepunkt in der Filmwissenschaft propagiert, vernachlässigt er völlig die affektiv-emotionale Reaktion des Publikums bei der Filmsichtung. Bordwell folgt einer klassisch cartesianischen Logik (der Trennung von Gefühlen und rationalem Denken), wenn er erklärt: Bei der Analyse kognitiver Filmwahrnehmung sollte die emotionale Komponente am besten völlig ausgeblendet werden, um profundere Resultate zu erzielen (vgl. 1985a, S. 30). Einer der Gründe für die später folgende Relativierung dieser These (vgl. Bordwell 2007, S. 54) bestand in zahlreichen Studien, die seit den 1990er Jahren unter anderem von einigen seiner Schüler durchgeführt wurden. Indem man sich nun interdisziplinär auf Konzepte aus der kognitiven Philosophie und Emotionspsychologie stützte, erweiterte man den kognitivistischneoformalistischen Ansatz um die Analyse von Zuschaueremotionen (vgl. Smith 1995, 2003; Smith und Platinga 1999; Plantinga 2009; Grodal 1997). Diese Ansätze  der kognitiven Filmtheorie verfolgen Psychologen, die antibehavioristisch und anticartesianisch argumentieren, wie Antonio Damasio und Joseph Ledoux, aber auch der Philosoph Ronald de Souza. Diese Theoretiker gehen von einer untrennbaren Verknüpfung zwischen rationalem Denken und emotionalem Empfinden, gar dem gegenseitigen Bedingen beider aus (vgl. Tröhler und Hediger 2005, S. 14 f.). Kognivistische Positionen distanzieren sich auch – entsprechend der neoformalistischen Abkehr von grand theories – von rein psychoanalytischen Emotionskonzepten, wie sie von Laura Mulvey und im Spätwerk von Christian Metz vertreten werden: Deren Emotionskonzepte des Films setzten sich ausschließlich aus der vom Kino vermittelten Lust und der Analyse des Begehrens zusammen, das die Zuschauenden zum Schauen animieren soll. Hingegen erweisen sich nun Ansätze aus der klassischen Filmtheorie als wichtige Referenzpunkte: Hugo Münsterbergs seiner Zeit vorauseilenden Entwürfe emotionspsychologischer Rezeption oder Rudolf Arnheims gestaltpsychologische Überlegungen (vgl. Smith und Platinga 1999, S. 10 f.). Betont wurde, dass auch empirisch prüfbare, evolutionspsychologische Faktoren bei sowohl kognitiven wie emotionalen Reaktionen eine zentrale Rolle einnehmen; damit inbegriffen auch die physiologische Definition von Emotionen als angeborenen Erregungen des Körpers (arousal, vgl. Grodal 1997, S. 16 f.). So plädiert Torben Grodal in seiner zentralen Studie Moving Pictures: A New Theory of Film Genres, Feelings and Cognition (1997) für eine Erweiterung neoformalistischer Ausführungen, da diese von ausschließlich angelernten und in einem historischen Kontext verorteten Schemata ausgehen. Stattdessen sollten jedoch gleichzeitig auch naturbedingte und angeborene, von sämtlichen Menschen und anderen Säugetieren gleichwohl geteilte, mentale Wahrnehmungs- und Emotionsmechanismen berücksichtigt werden (Abb. 4). Diese stellen inhärente Bausteine des genetischen Erbgutes dar und lassen erst im Zusammenspiel mit spezifisch

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Abb. 4   Der Jumpscare ist ein Beispiel für ein Stilmittel des Horrorfilms, das auf einen angeborenen (Flucht)Mechanismus des Menschen ausgerichtet ist: das Erschrecken. So in Friday the 13th (a–d): Als Hauptfigur (und Publikum) sich schlussendlich in Sicherheit wähnen, bricht das Monster Jason jäh aus dem stillen See in die Einstellung hinein, akzentuiert von abrupt einsetzender Atonalität. Der ästhetische ‚Schock' durch plötzlich umschlagende Bild- und Tongestaltung kennzeichnet die Wirkungsweise des Jumpscares. Quelle: Friday the 13th (Freitag der 13., USA 1980, © Paramount)

kulturhistorischen Aspekten die entsprechenden Schemata entstehen (vgl. Grodal 1997, S. 7 f.). Die kognitivistische Emotionsforschung geht davon aus, dass nach dem Psychologen Paul Ekman die Basisemotionen von Freude, Ärger, Ekel, Überraschung, Verachtung, Traurigkeit und Angst (vgl. Smith 2003, S. 21 f.) mit dem Schema der kanonischen Erzählstruktur des klassischen Hollywoodstils verknüpft sind. Interessanterweise könnte das von Bordwell verwendete Binärmodell von Spannung und Neugier, obwohl ursprünglich ausschließlich emotionsunabhängig formuliert, solchen Basisemotionen zugeordnet werden (vgl. Grodal 2000, S. 66). Filmverständnis und emotionale Reaktion würden in dieser Hinsicht zusammenfallen. Gekoppelt wären solche Emotionen grundsätzlich an bestimmte Personen, Objekte und intentionelle Handlungsmuster, welche die besagte kanonische Erzählung als linear-kausale Handlungsstruktur vorantreiben und zur narrativen Zielsetzung führen. Die Beziehung der Zuschauenden zur Filmfigur  Die darauf aufbauende emotionale Beziehung der Zuschauenden zu diegetischen Figuren wird in der kognitivistischen Emotionsforschung durch ein breites Spektrum unterschiedlicher Theorien abgedeckt: Ein zentrales Konzept stellt dabei der Prozess der Identifikation dar. Unter diesem Prozess könnte etwa „das Erlebnis von empathischer Nähe zu Personen, das eine solche

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kognitive und emotionale Situation erzeugt“ verstanden werden (Grodal 2000, S. 86). Man sollte aber hervorheben: Dieser Terminus kann ähnlich wie auch Empathie und Sympathie je nach Ansatz unterschiedlich ausfallen (vgl. Smith 1995; Plantinga 2018, S. 193 f.). So geht beispielsweise Noël Carroll in erster Linie nicht von der inneren Einfühlung gegenüber Filmfiguren aus, sondern von einer Sympathie, die an der Oberfläche bleibt (vgl. 2008, S. 177 f.). Am effizientesten erscheint es jedoch, Identifikation, Empathie sowie Sympathie jeweils voneinander abzugrenzen (vgl. Gaut 2010, S. 138 f.). So können beispielsweise die Zuschauenden von Billy Wilders Double Indemnity (Frau ohne Gewissen, USA 1944) wahlweise sämtliche der drei Einfühlungsverfahren auf den filmischen Protagonisten Walter Neff (Fred MacMurray) anwenden: Sie können sich an seiner Stelle imaginieren, um nachzuempfinden, gleichzeitig Zuneigung und Opferbereitschaft gegenüber einer intriganten femme fatale empfinden und sich der Verzweiflung der eigenen, ausweglosen Situation bewusst werden (Identifikation). Sie können, ohne sich selbst in dieser Rolle zu wähnen, nachempfinden, wie Walter sich fühlen müsste (Empathie). Oder sie können, unabhängig von der eigenen Miteinbeziehung, schlichtweg Mitleid mit dem Protagonisten empfinden, der – symptomatisch für einen Film Noir – zum fatalistischen Scheitern verurteilt ist (Sympathie) (Abb. 5).

Abb. 5   Formen des Empfindens eines Zuschauers oder einer Zuschauerin am Beispiel von Double Indemnity (Frau ohne Gewissen, USA 1944, © Universum Film). (© Brodski/Maisenbacher)

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Wie bereits angedeutet, könnte eine entscheidende Schnittstelle zwischen Neoformalismus und kognitiver Emotionsforschung darin liegen, dass beide auf eine kanonische Narration zurückgreifen, die sich durch eine kausale Handlungslinie auszeichnet – das am häufigsten vorzufindende analytische Basismodell. Während der Neoformalismus diese historisch als klassischer Hollywoodstil bezeichnet, würde aus evolutionspsychologischer Perspektive die weltweite Verbreitung dieses Stils bzw. Erhebung zur ästhetischen Norm dadurch erklärt werden, dass er am ehesten jenen dem Menschen eigenen kognitiven Vorgängen entspräche (vgl. Grodal 1997, S. 10; Grodal 2009, S. 210). Gerade aus diesem Grund würden sich zahlreiche kognitivistische Ansätze mit „den Plotstrukturen von populären Genres wie dem Horrorfilm und dem Thriller“ (Tröhler und Hediger 2005, S. 12) auseinandersetzen, wie etwa Noël Carroll Werk The Philosophy of Horror or Paradoxes of the Heart (1990), das gerade die Emotionen in den Blick nimmt. Kanonische Erzählformen wären, evolutionspsychologisch argumentiert, derart populär, weil es sich wiederum bei „Linearität, Kausalität und Intentionalität […um] universelle Grundelemente des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses“ handeln würde (Grodal 2000, S. 68). Gegen die kanonische Erzählform: das Art Cinema  Dem aufgezeigten kanonischen System – also konventionalisierte kognitive und emotionale Fähigkeiten der Zuschauenden, welche mit bekannten, kausalen Erzählfiguren und Genremustern verknüpft sind – stehen Filme gegenüber, die eine kanonische Erzählform gezielt unterlaufen. Thompson hebt gerade diesen Unterschied treffend hervor: Bestätigt ein Kunstwerk in erster Linie bereits bestehende Wahrnehmungsfähigkeiten, werden wir unseren Gebrauch von Schemata und die Hypothesenbildung kaum bemerken. Manche Filme kommen uns daher "leicht" vor, und man könnte fast annehmen, wir verfügten über eine quasi "natürliche" Fähigkeit, sie zu verstehen. […] Demgegenüber gibt es andere Filme, die unsere Erfahrung stärker herausfordern: Wenn man sich das Geschehen auf der Leinwand nicht mehr erklären kann, wird uns diese Verwirrung bewußt, und wir werden uns darüber klar, daß hier die eigenen Erwartungen verschoben oder sogar dauerhaft frustriert werden. (1995, S. 49 f.)

Besagte Filme lassen sich u. a. dem europäischen Art Cinema zuordnen, das Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre entsteht und zu dem auch Michelangelo Antonionis Blow Up gezählt werden kann. Daher werden wir nun Blow Up durch die Linse der neoformalistischen Filmtheorie wie auch der darauf gründenden Emotionsforschung betrachten. Die kognitive Filmtheorie hat sich ein breites Spektrum an Ansätzen für die Analyse eben nicht-normativ beschaffener Filme angeeignet, was bemerkenswert ist, weil Bordwell und Thompson – aber auch viele auf Emotionsforschung ausgerichtete Kognitivisten (vgl. Smith 1999, S. 115) – ihr analytisches Vorgehen dezidiert als Ansatz bezeichnen. Auf diese Weise sollte ein Verfahrensspektrum beschrieben werden, das sich flexibel an das jeweils analysierte Filmwerk anpasst. Man wollte sich damit, wie

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eingangs geschrieben, von einer allzu deterministischen Methode abheben, welche die singulären Eigenschaften eines Films zugunsten einer übergeordneten theoretischen Fragestellung ignoriert (nicht umsonst leitet Thompson ihren einführenden Essay mit dem programmatischen Untertitel „Ein Ansatz, viele Methoden“ ein). Im Folgenden sollen einige dieser Ansätze zur Analyse nicht-normativer Filme vorgestellt und auf Blow Up angewandt werden.

1.3 Methoden und ihre Anwendung Objektiver Realismus und gesättigte Gefühle Der Neoformalismus begreift das Konzept des Realismus nicht als direkte Kopie der Realität (im Sinne von André Bazin oder Siegfried Kracauer), sondern als Einsatz von Verfahren, die realistische Wirkungen erzeugen (Abschn. 1 im Kap. 8 „Theorien der Repräsentation“). Diese Verfahren können je nach historischer Verortung variieren. Der klassische Hollywoodstil etwa intendiert die Entfaltung einer realistischen Wirkung durch eine zielgerichtete Dramaturgie, kohärente Figurenzeichnung und kausale Sinnzusammenhänge. Das Art Cinema hingegen geht von einer Vorstellung der Realität als brüchiges und akausales Konstrukt aus. Sich an moderner Literatur orientierend (wie dem Nouveau Roman), präsentiert dieses Kino einen Entwurf der filmischen Diegese, der alles andere als kohärent und geschlossen ist (vgl. Abb. 6). Bordwell differenziert dabei zwischen zwei unterschiedlichen Realismusentwürfen: einen objektiven und einen subjektiven Realismus. Den objektiven Realismus des Art Cinemas zeichnen Zufälle, Alltagsbanalitäten und unvorhersehbare Geschehnissen in der filmischen Narration aus (vgl. 1985a, S. 212), zudem eine höhere Wahrscheinlichkeit und Plausibilität (verisimilitude) der porträtierten Ereignisse, die konträr zum klassischen Hollywoodkino stehen. In diesem Sinne prägen den objektiven Realismus plausiblere Rauminszenierungen: Sie resultieren aus Originalschauplätzen und einer an der ‚Langeweile‘ des eigentlichen Lebens orientierten Darstellung von toter Zeit (temps mort) als narrativer Leerstelle. Damit im Einklang steht ein nicht mehr kohärent verknüpfter Plot (in der Sprache der Neoformalisten: Sujet). Thompson bezeichnet eine derartige Erzählstruktur, die ausschließlich einer ästhetischen Motivation entspringt und keine Fabel-Informationen generiert: Exzess (cinematic excess, vgl. 1986, S. 130 f.). Darüber hinaus können auch Leerstellen durch bewusstes Auslassen von Fabel-Informationen bis zum Ende ungeklärt bleiben und zu einem permanenten kausalen Bruch beitragen (vgl. Carroll 2008, S. 143). Zudem kann der Plot (das Sujet) des Kunstfilms auch durch die Präsentation bestimmter cues eine akausale Wirkung erzielen: Viele Ereignisse werden nicht als Glied einer miteinander verknüpften Kausalkette wie im klassischen Hollywoodkino, sondern als isolierte Zufälle inszeniert. Dadurch entsteht im Kunstkino des Öfteren kein kohärent aufeinander aufbauender, sondern stattdessen ein episodischer Handlungsverlauf. Solche Zufälle und unerwartete Begebenheiten können in einem Sujet auch am Ende des Films stehen, um das Publikum gegenüber dem präsentierten Inhalt

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Abb. 6   Überblick über die Differenzen zwischen dem klassischen Hollywoodstil und dem Art Cinema. (© Brodski/Maisenbacher)

im Unklaren zu lassen. Außerdem wird das Sujet nicht durch eine für das klassische Hollywoodkino typische deadline-Dramaturgie konstruiert: Es gibt bei vielen Handlungselementen keine hypothetisch festgelegte Zeit, zu welcher sie abgeschlossen sind (Abschn. 1 im Kap. 4 „Theorien der Gestaltungsanalyse: Narration, Bild und Ton“). In Blow Up erzeugen viele der gezeigten Szenen, Begegnungen und Handlungen cues, die einer realistischen Motivation verpflichtet sind und gleichzeitig der narrativen Kohärenz des Films zuwiderlaufen. Dabei kann zwischen zwei verschiedenen Referenztypen unterschieden werden: 1) Zufall und Zeitbezug: So finden sich Versatzstücke, die einen dezidiert zufälligen Charakter aufweisen. Gleichzeitig weisen sie in ihrer Beschaffenheit eine im zeithistorischen Kontext des Films situierte, referenzielle Bedeutungsebene auf. Symptomatisch dafür fungiert eine am Filmanfang eingeführte, in einem Wagen fahrende Gruppe von jungen Männern und Frauen. Es handelt sich dabei um Pantomimen oder für die 1960er typischen Anhänger einer subkulturellen Jugendkultur. Darauf verweisen entsprechende referenzielle cues wie Schminke und Kleidungsstil der Figuren: Durch deren Inszenierung wird verdeutlicht, dass die Aufnahmen an Realschauplätzen entstanden sind. Durch diverse wie zufällig positionierte Passanten und Passantinnen auf offener Straße, mit denen die lärmende Gruppe kollidiert, wird auch ein Eindruck von Zufälligkeit konstruiert (Abb. 7). 2) Exzess: Es finden sich bestimmte durch Exzess geprägte Sequenzen, insbesondere die längere Parksequenz, in welcher der Protagonist Thomas (David Hemmings) einem

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Abb. 7   Das Erste, was wir in Blow Up nach dem Vorspann zu sehen bekommen, ist eine Gruppe von Pantomimen, die sich durch die Straßen Londons bewegen. Wir können anhand ihrer Kleidung die Handlung in einen zeithistorischen Kontext einordnen, bekommen durch ihr Verhalten aber auch ein Gefühl der Zufälligkeit vermittelt. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

vermeintlichen Paar nachstellt, um deren vorgebliche Intimität für potenzielle Fotografien zu instrumentalisieren. Nur auf den ersten Blick erscheint die Sequenz von besagter kausaler Handlungsmotivation des Protagonisten gekennzeichnet. Tatsächlich wirkt sie – aufgrund der durch ihre Inszenierung generierten cues – eher handlungsentbunden: Durch Totalen und Halbtotalen werden nicht mehr die handelnden Figuren primär als Handlungsträger hervorgehoben (also nicht der sich anpirschende Thomas oder das mit sich selbst beschäftigte Paar). Stattdessen erfolgt eine visuelle Einbettung der Figuren in die weitläufige Geographie des Parks. Dadurch wird dem Publikum ein reichhaltigeres Wahrnehmungsspektrum gewährt. Die Narration ist somit nicht nur an die kausale Handlungsstruktur und Intentionalität der Figuren geknüpft, sondern offenbart zahlreiche cues, die nicht zum Voranschreiten der Handlung beitragen: zum Beispiel die im Wind wiegenden Baumwipfel, die wiederholt einen Großteil des Bildfeldes einnehmen. Wie bereits angedeutet: Aus der Perspektive der Emotionsforschung sind Basisemotionen gekoppelt an zielorientierte und kausale narrative Handlungen sowie die entsprechenden Genres. Da narrative Handlungen flüchtiger Natur sind, haben solche Emotionen auch nur eine beschränkte Dauer: insbesondere im Hinblick auf das nach Grodal damit verbundene physiologische arousal. Anders ist es in handlungsund kausalitätsungebundenen Szenen: Hier entwickeln die Rezipierenden – anstatt kurzer, aufbrausender Emotionen – konstant wirkende Gefühle. Grodal bezeichnet sie

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deshalb als „gesättigt“ (saturated) und sieht sie von der filmischen Narration losgelöst (vgl. 1997, S. 47 f.). Beispiele sind Aufnahmen, die vom Exzess geprägt oder lyrischassoziativ respektive durch „lyrische Handlungsverzögerungen“ bestimmt sind (2000, S. 78), so wie es in der geschilderten Parkszene der Fall ist. Im Gegensatz also zu Emotionen, die an spezifische Genre-Handlungsmuster geknüpft sind, erscheinen Gefühle von solchen Prozessen unabhängig. Gefühle wiederum sprechen naturgegebene „Assoziationsbereiche und Assoziationsverbindungen“ im menschlichen Gehirn an (Grodal 2000, S. 70). Darstellen können sie beispielsweise auch eine „lyrische Hervorhebung eines Erlebnisses (die Schönheit einer gegebenen Landschaft)“ (ebd.) – man denke erneut an die inszenatorisch exponierte Natur des Parks. Die permanente Affizierung der Rezipierenden, die durch gesättigte Gefühle entsteht, führe bei diesen zum Eindruck, dass in derart beschaffenen Szenen ein höherer Sinngehalt mitschwinge: „The very fact that higher meaning is often based on categories at a level superior to those of the visible and audible diegetic world cues the feeling of being confronted with certain permanent essentials“ (Grodal 2009, S. 212). Solche Gefühle konstituieren – wiederum im Gegensatz zu handlungsorientierten Emotionen – komplexere mentale Erfahrungen: Statt Angst, die an den Handlungsverlauf des Horrorfilms gebunden ist, würden Rezipierende ambivalentere Nuancen wie Melancholie oder Nostalgie erleben. Allein die Evokation assoziativlyrischer Gefühle durch Exzess, zu denen die Parkszene in Blow Up die Zuschauenden verleitet, suggeriere diesen gleichzeitig, dass der semantische Gehalt dieser Sequenz in weit mehr besteht, als nur in der Intention des Fotografen, gute Aufnahmen zu ergattern. Durch die Vernachlässigung von aktiver Handlung würde das Publikum auf einer impliziten Bedeutungsebene konfrontiert und zu Interpretationen über den höheren Sinn des Gezeigten animiert (vgl. Grodal 2009, S. 212 f.; Thompson 1995, S. 33). Und da die Impressionen der Parkszene somit nicht an eine abschließbare Handlung geknüpft sind, bleiben die ihnen anhaftenden Gefühle eines höheren Sinns für die Zuschauenden während der Filmsichtung kontinuierlich erhalten. Subjektiver Realismus und emotionale Brüchigkeit Neben dem aufgezeigten objektiven Realismus definiert sich das Kunstkino im Hinblick auf seine Figurenzeichnung auch durch einen subjektiven Realismus: Im Gegensatz zum Äquivalent des klassischen Erzählkinos haben die Protagonisten und Protagonistinnen des Art Cinema oft keine fest determinierten und auf entsprechende Handlungsmuster herunterzubrechenden Eigenschaften, Motive oder Ziele. Außerdem existieren signifikante Unterschiede hinsichtlich des vom Sujet propagierten Handlungsziels. Bordwell hebt den Unterschied zwischen der klassischen Hauptfigur und ihrem Pendant im Art Cinema treffend hervor: „If the Hollywood protagonist speeds towards the target, the art-film protagonist is presented as sliding passively from one situation to another. […] If the classical protagonist struggles, the drifting protagonist traces out an itinerary which surveys the film’s social world“ (Bordwell 1985a, S. 207). Figuren des Kunstfilms schweifen demnach oft von ihren propagierten Zielen ab, widmen sich scheinbaren

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Nebensächlichkeiten des Alltags und hinterfragen sich und ihr Handeln, was wiederum zu einem Abweichen von der zielorientierten Dramaturgie des klassischen Hollywoodkinos führe. Gerade besagtes Innehalten und selbstbezogenes Reflektieren konstruiert eine dramaturgische Situation, welche Bordwell als Grenzsituation (boundary situation) bezeichnet. Darüber hinaus können sich innere Zustände auch durch eine ästhetische äußere Entsprechung manifestieren: „Dreams, memories, hallucinations, daydreams, fantasies, and other mental activities can find embodiment in the image or the soundtrack“ (Bordwell 1985a, S. 208). Grodal schreibt über paradigmatische Werke des Kunstfilms, wie Alain Resnais‘ L’Année dernière à Marienbad (Letztes Jahr im Marienbad, F 1961), Antonionis L’avventura (Die mit der Liebe spielen, I 1960) oder eben auch Blow Up: „Französische und italienische Filme der sechziger Jahre stellen oftmals Personen mit einem markanten, nicht zielorientierten Verhalten dar […] um einen Eindruck starker innerer und damit subjektiver Vorstellungen zu vermitteln“ (2000, S. 77). Darunter lassen sich die selbstreflexiven Fähigkeiten einer Figur verstehen, auch ihre Selbsterkenntnis, dass sie nicht etwa ein objektives, äußeres, sondern ein existenzielles Problem habe, welches sich durch das Verhalten und die eigene Selbstwahrnehmung artikuliert (vgl. ebd.). Zunächst soll jedoch – die einleitenden Ausführungen dieses Kapitels beachtend – aufgezeigt werden, in welchen Punkten Blow Up noch einer handlungsorientierten kanonischen Erzählform zugeordnet werden kann. In der ersten Filmhälfte vollzieht Thomas Handlungen, deren Motivation die Zuschauenden im Nachhinein erklärt bekommen, was typisch ist für das klassische Erzählkino: Wenn der Fotograf im Londoner Stadtpark dem Pärchen nachstellt, um dieses heimlich zu fotografieren und, nachdem er ertappt worden ist, den Negativfilm um keinen Preis aushändigen will oder wenn er scheinbar grundlos einen Antiquitätenladen aufsucht, erfährt das Publikum jeweils in einer späteren Szene den Grund für sein Agieren. So braucht er die Fotos im Park für einen neuen Fotoband; das Antiquariat sucht er hingegen auf, weil er die Lokalität wohl für ein neues Atelier erwerben möchte. Die vom Sujet nachgereichten Gründe seiner Intentionalität erzeugen durch den kognitiven Prozess der Zuschauenden eine kohärente Fabel mit kausalen Handlungssträngen. Der primacy effect, welchen die Zuschauenden von Thomas zunächst erhalten, ist somit der eines rational agierenden Subjektes, welches sich durch zielorientierte Handlungen auszeichnet. Jedoch entpuppt sich Thomas in zahlreichen Situationen als nicht ausschließlich handlungs- und zielorientiert: So offenbart er des Öfteren eine übergroße emotionale Anteilnahme. Diese wird durch den Kontrast zu seiner ansonsten eher unterkühlt wirkenden Art verstärkt und durch die immense Obsession beim Ausüben seiner Arbeit als Fotograf akzentuiert. Als ihm die geheimnisvolle Frau (Vanessa Redgrave) das Negativ entwenden will, reagiert er mit einem deutlich nach außen exponierten Wutausbruch und als er mehrere Models zu Beginn des Films fotografiert, nutzt er deren passive Rolle in affektiv übersteigerter Manier als Festigung seiner durch das Fotoshooting eingenommenen dominanten Position. Entscheidend ist jedoch, dass ihn der vermeintliche Mord an dem Begleiter der Frau im Park nicht mehr zur Ruhe kommen lässt und er folg-

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lich mit unerwarteter Obsession versucht, die wahren Tathintergründe zu entschlüsseln. Diese figurengebundenen cues provozieren beim Publikum die Frage: Wie lassen sich Thomas‘ mentale Zustände deuten? Nach Bordwell befindet sich Thomas dabei zumindest temporär in einer boundary situation: Denn in diesen Momenten ist er nicht nur auf die reine Intentionalität seiner Taten fixiert, sondern verweist in einem selbstreflexiven Gestus auf sein inneres Befinden. Das scheint von Spannungen und Unsicherheiten durchsetzt zu sein. Solche mentalen Zustände unterbrechen, wie angedeutet, eine zielgerichtete Handlungsform und werden von Grodal als passive Handlungsform bezeichnet: „Im Gegensatz zu einem Verhalten, das sich auf äußere und damit objektiv erkennbare Ziele bezieht, wird Verhalten hier als passiv-deterministisch und expressiv erlebt, weil es auf inneren und damit für den Zuschauer nicht erkennbaren Ursachen beruht“ (2000, S. 76 f.). Thomas definiert sich somit nicht ausschließlich durch zielorientiertes Handeln, sondern auch durch seine ‚inneren Dämonen‘. Sie können als Kräfte angesehen werden, die von seinem Zugriff unabhängig sind und seinen inneren Zwiespalt an den Tag bringen. Aufgrund des Ausbleibens einer narrativen Erklärung für diese emotionale Disposition können wir ihn als eine Figur kennzeichnen, die keiner kanonischen Erzählform entstammt (Abb. 8). Grodal bezeichnet eine solche passive, nicht rein handlungsdeterminierte Erzählform als „paratelic“ (1997, S. 61). Er bezieht sich auf die Identitätsmodelle von Damasio, wenn er in seinem Werk Embodied Visions. Evolution, Emotion, Culture and Film (2009) differenziert zwischen einem kohärenten Selbst (core self) und einem autobiografischen Selbst (autobiographical self) (vgl. 2009, S. 214): Während das kohärente Ich einer klassischen Filmfigur entsprechend nur in der Gegenwart existieren und sich auch nur über die darin verrichteten Taten definieren würde, wäre das autobiographische Ich stets von konträren Gefühlen determiniert, welche aus der Vergangenheit auf sie einwirken oder aus Gedanken an die Zukunft entstehen. So konstatiert Grodal: „The autobiographical consciousness not only provides the emotional basis for the experience of identity but may give rise to a feeling of fragmentation, as exemplified in numerous art films, in which there are no functional solutions to the protagonists‘ conflicting emotions and motivations“ (2009, S. 215). Aufgrund ihrer emotionalen Brüchigkeit erscheint Thomas somit als eine typische fragmentarische Figur des Art Cinema. Selbstreflexivität und emotionale Distanz  Zusätzlich zum objektiven sowie subjektiven Realismus evoziert der Kunstfilm ein anderes zentrales Schema beim Publikum: das der Selbstreflexivität. Diese Bedeutungsebene existiert unabhängig von den Verfahren, welche eine alltägliche Wahrscheinlichkeit vermitteln und solchen, die die inneren Zustände einer Figur konstituieren. So verweisen viele stilistische Verfahren in Art-Cinema-Filmen mittels eines selbstreflexiven Gestus nur auf ihre eigene strukturelle Beschaffenheit und damit auf die Künstlichkeit der Narration sowie auf deren Erzählinstanz. Dies kann wiederum durch stilistische Brüche bewirkt werden: eine ungewöhnliche Kameraperspektive, ein unnatürliches Geräusch auf der Tonspur, einen abrupten Wechsel der Beleuchtung, eine narrativ unmotivierte Kamerafahrt

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Abb. 8    Subjektiver Realismus: Intentionelle Handlungsmuster werden durch individuelle Gefühlschwankungen untergraben und offenbaren die innere Brüchigkeit des Protagonisten. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

oder Montage. Auch auf Plot- bzw. Sujetebene kann in diesem Kontext etwa eine Verschachtelung von Zeitebenen dazu führen, wie sie etwa in Resnais‘ Hiroshima, mon Amour (F 1959) äußerst prominent vertreten ist (vgl. Bordwell 1985a, S. 213) (Abb. 9). Die Zuschauenden registrieren dies als Abgrenzung zum klassischen Erzählkino und seinen mit dem Sujet verschmelzenden Inszenierungsmethoden (wie unsicht-

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Abb. 9   Prägend für das Art Cinema der 1960er Jahre war Alain Resnais‘ Hiroshima mon amour. Immer wieder schneidet Resnais abrupt in die laufende Handlung (a) Flashbacks (b) ein – ein selbstreflexiver Gestus, mit dem auf die strukturelle Beschaffenheit und die Künstlichkeit der Narration hingewiesen wird. Quelle: Hiroshima mon amour (F/I 1959, © Argos Films)

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barer Schnitt oder verweigerter Achsenbruch). Durch stilistische Verfremdungen wird den Rezipierenden eine auktoriale und allwissende Erzählinstanz vor Augen geführt. Dies kann wiederum auch im ökonomisch-produktionsästhetischen Kontext des Art Cinema verortet werden: Während im klassischen Hollywoodkino die Regieführenden hinter die Erzählung zurücktreten, konstituiert sich im Kunstfilm durch selbstreflexive Verfahren – bzw. die dadurch erfolgende Akzentuierung des Konstruktionscharakters der Inszenierung – ein direkter Rekurs auf den Regisseur oder die Regisseurin als Vermittlungsinstanz einer persönlichen Weltsicht und Vision. An dieser Stelle lassen sich definitiv Parallelen zur Autorentheorie finden (Abschn. 1 im Kap. 5 „Stil- und Genretheorien“), jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, dass der Neoformalismus die Exponiertheit der Regie-Perspektive als rein kognitive Motivation auf Seite der Rezeption verortet. Diese Motivation setzt die Werke von Filmemacher*innen mit ihrem bisherigen Œuvre auf einer transtextuellen Ebene in Beziehung: Die vorgefundenen selbstreflexiven Verfahren werden als Bestandteile ihres persönlichen Stils interpretiert. Gleichzeitig betrachtet Bordwell das Phänomen vor dem Hintergrund seiner historischen Poetik des Kinos und meint, dass Regieführende als singulär denkende Künstler und Künstlerinnen im Art Cinema über ihren Individualstil definiert werden – und zwar durch eine auf institutionelle und ökonomische Parameter zurückzuführende Vermarktung (vgl. Bordwell 1985a, S. 238). Grodal bezeichnet solche selbstreflexiven Verfahren treffend als bracketing (vgl. Grodal 1997, S. 209 f.), weil sie für die Rezipierenden bestimmte Szenen nicht gänzlich in der Realität verorten, sondern durch artifizielle Überbetonung „in Anführungszeichen“ setzen und dem Publikum auf diese Weise ihren fiktiven und künstlichen Charakter aufzeigen würden. Im Kontext der Emotionsforschung würden solche Verfahren auch als emotionale „Filter“ verwendet werden, um den Zuschauenden eine empathische Distanz gegenüber den Figuren der Diegese und ihren Schicksalen zu gewähren. Eine solche Disposition würde „es dem Zuschauer ermöglichen, nur neugieriger Beobachter von Personen zu sein, also keine affektive oder kognitive Simulation der Situation dieser Personen vorzunehmen“ (Grodal 2000, S. 86). Blow Up offenbart wiederum in diversen Szenen einen rein stilistischen und somit selbstreflexiven Gestus. Dies geschieht etwa, wenn Thomas zu Filmbeginn das besagte Fotoshooting abhält: durch die disparaten Jump Cuts, welche die Posen des Models voneinander abgrenzen, durch die extreme Untersicht der Kamera, wenn sie Thomas beim Fotografieren zeigt, oder durch den Zoom auf das sich am Boden räkelnde Model. Diese Stilmittel verfügen über keine reine Erzählfunktion, sondern verweisen, kongruent mit dem besprochenen Exzess, auf den Regisseur als Erschaffer seiner Filmwelt. Ähnlich können wir auch bestimmte häufig wiederkehrende Anordnungen der Mise-en-Scène deuten: Figuren werden oft von Dekor entweder teilweise oder ganz verdeckt oder erscheinen auch als von diesen Gegenständen eingerahmt, was wiederum selbstreflexiv auf die rahmende Funktion des Bildkaders verweist (Abb. 10). Auch die Schlussszene des Films, als die Kamera kontinuierlich vertikal nach oben zurückfährt, bis sie Thomas auf einem weiten Feld in einer Totalen isoliert, ist laut Grodals Ausführungen ein typisches Mittel der Distanzierung (Abb. 11). Die Aus-

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Abb. 10   Inszenatorische Auffälligkeiten, wie beispielsweise eine innere Rahmung von Figuren durch Objekte innerhalb des Bildkaders (a+b), verweisen häufig selbstreflexiv auf die Künstlichkeit des Dargestellten. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

löschung der individuellen Dimension, die einer empathischen Identifikation zugrunde liegen könnte, kann mit einer solchen Totalen angestrebt werden (vgl. 2000, S. 88). Auch die Park-Sequenz ist von einer kontinuierlich inszenierten optischen Distanz geprägt. Und ebenso diese Darstellungen können als Gestus verstanden werden, der die Einfühlung der Zuschauenden in die Figuren bewusst blockiert. Den Rezipierenden wird somit die Möglichkeit gewährt, sich gegenüber Thomas abseits einer emotionalen Beziehung – also abseits von Identifikation, Empathie oder Sympathie – zu positionieren. Dadurch sollen sie auch die moralische Problematik dieser unter anderem häufig sexistisch agierenden Hauptfigur nicht aus affektiv nachfühlender Perspektive rezipieren können, sondern aus der moralisch sicheren Warte eines quasi neutral Beobachtenden. Epistemologische Unsicherheit Widmen wir uns der Rezeption von Kunstfilmen, so fällt auf, dass sich ihre propagierten Schemata auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen: Die selbstreflexiven Verfahren durchbrechen den objektiven und den subjektiven Realismus. Sie unterlaufen die Wahrscheinlichkeit sowohl der porträtierten Außenwelt als auch der seelischen Innensicht der Figuren. Wenn die Zuschauenden zunächst auf Realismus-Schemata zurückgreifen, müssen sie diese während der kognitiven Verarbeitung besagter, verfremdender Stilmittel sogleich wieder revidieren. Doch die dadurch erzeugten Unsicherheiten sind nicht etwa unfreiwillig verschuldet, sondern können als gezielte narrative Strategie der Filme angesehen werden, das Publikum zur Reflexion über die spezifische Beschaffenheit von Fabel und Sujet zu verleiten. Wegen ihrer gewollten Konstruktion werden sie von Bordwell als obvious uncertainties, also offensichtliche Unsicherheiten bezeichnet (vgl. Bordwell 1985a, S. 212). Wann auch immer eine Einstellung oder eine Rückblende beispielsweise nicht genau einer Figur oder der in die Narration eingreifenden Erzählinstanz zugeordnet werden kann, müssen sich die Zuschauenden selbst ein Urteil über mögliche FabelKonstruktionen bilden. Wo das Sujet der klassischen Erzählstruktur eine Auflösung aller Unschlüssigkeiten anstrebt, erzeugt der Kunstfilm permanent verschlüsselte cues und erhebt das Reflektieren über diese zu seinem zentralen, ästhetischen Programm, was

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Abb. 11   Durch die optische Distanzierung verringert der Film auch die Möglichkeiten der Einfühlung für die Zuschauenden. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

Thompson auch die Dominante eines Films nennt (vgl. 1995, S. 60). Diesen Umstand bezeichnet Bordwell wiederum als Ambiguität (ambiguity) des Gezeigten (vgl. Bordwell 1985a, S. 212). Eine derartige Ambiguität wird insbesondere an der Stelle verdeutlicht, wenn Thomas sich nebeneinander platzierte und vergrößerte Ausschnitte seiner Fotografien anschaut. Es wirkt dabei so, als wäre der Schwenk, der von einem Foto zum anderen gleitet, keine subjektive Einstellung, sondern in seiner Präzision und fließenden Bewegung, gefolgt von einem leichten akkuraten Näherrücken an die jeweilige Fotografie von Schwenk zu Schwenk, eine bewusste Betonung des maschinellen Kameraauges, welches sich vom flüchtigen menschlichen Blick in der Klarheit seiner Bewegungen unterscheidet. Und obwohl im weiteren Verlauf der Szene dargestellt wird, wie Thomas sich die Fotos hintereinander anschaut, wirken die mit einer schnellen Schnittfrequenz aneinandergereihten Aufnahmen wiederum wie durch einen maschinellen Projektor wiedergegeben und nicht den Blick von Thomas imitierend. Durch eine solche Betonung des Kamerablickes bei gleichzeitig vermeintlichem subjektivem Realismus, schwankt das Publikum zwischen der Frage, ob die Fotografien durch die subjektive Sicht des Protagonisten oder eine selbstreflexive Geste des Regisseurs präsentiert werden (Abb. 12). Der Film kann Mehrdeutigkeit auch kreieren, indem er auf Genreformen zurückgreift, die dem Publikum vertraut sind – was sich als transtextuelle Motivation verorten ließe –, diese aber dann verfremdet: durch den Abbruch oder die Auflösung einer kausalen Narration mit zielgerichteten Handlungen. Obwohl Blow Up also durch bestimmte Merkmale (eine Leiche, ein vermeintlicher Mord oder die Suche nach den Umständen der Tat) an die Motive eines Kriminalfilms erinnert, kann er wegen besagter Unsicherheit diese Genre-Prämissen nicht erfüllen (Abschn. 2 im Kap. 5 „Stil- und Genretheorien“). Darüber hinaus scheint der Film vordergründig Versatzstücken einer obsessiven Narration (vgl. Grodal 1997, S. 168 f.) zu folgen, welche wie etwa der Film Noir „vorwärtsgerichtete und zielorientierte Handlungselemente mit solchen verbindet,

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Abb. 12   Epistemologische Unsicherheit (a–d): Ist es der subjektive Blick des Protagonisten, durch welchen die Fotografien betrachtet werden, oder doch eher der selbstreflexiv hervorgehobene Kamerablick?  Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.) 

die auf passiven und unwillentlichen, obsessiven Zügen basieren“ (Grodal 2000, S. 75). So kann der Protagonist in Double Indemnity sein intentionales Ziel, ein schönes und erfülltes Leben zu führen, aufgrund äußerer, schicksalshafter Einflüsse nicht erreichen. Dennoch basiert seine zum Scheitern verurteilte Zielsetzung auf kohärentem Handeln. Blow Up aber umgeht einfach eine derartige narrative Kohärenz. Der Film lässt den Rezipierenden bis zum Ende im Unklaren darüber, ob es den Mord gab oder ob er Thomas‘ Imagination entstammte. Damit befördert der Film, dass sich jene mit dem Kriminalfilm verbundenen Basisemotionen wiederum in lyrisch-assoziative Gefühle wandeln: „Because of the epistemological problems involved, the viewer gives up trying to create a coherent and unambiguous diegetic world, and instead enjoys the film lyrically by absorbing its various themes and associations“ (Grodal 2009, S. 223). Als paradigmatisch für eine solche Inszenierung lässt sich die Schlusssequenz einstufen. Sie unterstreicht die für das Publikum konstruierte Unsicherheit. Denn sie treibt das Spiel zwischen objektivem Realismus, subjektivem Realismus und Selbstreflexion auf die Spitze: ein Spiel mit Erzählformen, wie es, so Bordwell, für das Art Cinema bezeichnend ist. In einem offenkundig selbstreflexiv gemeinten Verfahren schwenkt die Kamera der Flugbahn des imaginären Tennisballs nach. So als würde dieser wirklich existieren. Zunächst zeugt Thomas‘ Lächeln davon, dass er das Spiel der Pantomimen als Illusion wahrnimmt, doch nachdem er den imaginären Ball aufgenommen hat, folgt er beim Zurückwerfen mit den Augen der vermeintlichen Flugkurve. Und dann ist auf wundersame Weise das Geräusch des aufprallenden Tennisballs zu hören. Subjektive

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Wahrnehmung, objektive Realität und stilistische Eingriffe des Regisseurs lassen sich nicht mehr voneinander trennen. Der Film endet nicht nur, ohne den Kriminalfilmplot der Fabel zu vervollständigen, wodurch er permanente Leerstellen in dieser hinterlässt. Er endet auch, indem er deutlich seine dominante Kernintention artikuliert: die epistemologische Unmöglichkeit einer objektiven Wahrnehmung der Umwelt. Damit bestätigt er ein Schema, mit dem das Publikum im Laufe der Handlung durch die stetig wachsenden Verunsicherungen konfrontiert wurde. Zum Verständnis bieten sich den Rezipierenden darüber hinaus transtextuelle Referenzen in Antonionis Œuvre an. Denn dort tauchen opake cues wiederholt an prominenten Stellen auf. Exemplarische Filme Thema: Slow Cinema ab 1960 Sanma no aji (Ein Herbstnachmittag, J 1962, Yasujirō Ozu) Empire (USA 1962, Andy Warhol) Gertrud (DK 1964, Carl Theodor Dreyer) Out 1: Noli me tangere (F 1971/1990, Jacques Rivette) Soljaris (Solaris, SU 1972, Andrej Tarkovskij) Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles (Jeanne Dielman, B/F 1975, Chantal Akerman) Shatranj-e Baad (The Chess Game Of The Wind, IRN 1976, Mohammad Reza Aslani) Ni luo he nu er (Daughter Of The Nile, TWN 1978, Hou Hsiao-Hsien) Topio stin omihli (Landschaft im Nebel, GR/F/I 1988, Theodoros Angelopoulos) Satantango (Satanstango, H/D/CH 1994, Béla Tarr) Bad ma ra khaha bord (Der Wind wird uns tragen, IRN/F 1999, Abbas Kiarostami) No Quarto da Vanda (In Vandas Zimmer, P/D/CH 2000, Pedro Costa) Ni na bian ji dian (What Time Is It There?, TWN 2001, Tsai Ming-Liang) Old Joy (USA 2006, Kelly Reichardt) Sang sattawat (Syndromes and a Century, THAI/F/A 2006, Apichatpong Weerasethakul) Du levande (Das jüngste Gewitter, S u.A., 2007, Roy Andersson) Somewhere (Somewhere – Verloren in Hollywood, USA 2010, Sofia Coppola) Kis Uykusu (Winterschlaf, TRK/F/D 2014, Nuri Bilge Ceylan) Mula sa kung ano ang noon (From What Is Before, PHI 2015, Lav Diaz) Paterson (USA 2016, Jim Jarmusch) La Mort de Louis XIV (Der Tod von Ludwig XIV., F/P/E 2016, Albert Serra) Literaturhinweise zur neoformalistischen und kognitiven Filmtheorie Anderson, Joseph D. 1996. The Reality of Illusion: An Ecological Approach to Cognitive Film Theory. Carbondale: Southern Illinois University Press.

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2 Empirische, quantitative Analyse Julian Sittel

2.1 Einführung in die Measurement-Theorie und in Barry Salts wissenschaftlichen Realismus Als Pionier einer quantitativen Evaluation innerhalb der Filmanalyse darf Georg Otto Stindt gelten (vgl. Thompson 2005, S. 115). Bereits 1926 entwickelte Stindt eine Methode zur vergleichenden Ausmessung von Einstellungen. Er verglich deren Dauer und Häufigkeit auf Filmrollen deutscher und US-amerikanischer Produktionen. Dabei stellte er fest, dass sich der Schnitt bei amerikanischen Produktionen beschleunigte, wenn die Handlung auf den Höhepunkt zulief (er zählte also gegen Ende mehr Einstellungen), während dieses Merkmal bei deutschen Filmen ausblieb. Im Jahre 1968 griff der Australier Barry Salt den Gedanken der Messbarmachung filmischer Konstruktionselemente erneut auf (vgl. Salt 2009, S. 1). Salt, ein promovierter theoretischer Physiker, wollte das Verfahren weiter systematisieren, auch auf Faktoren wie Einstellungsgrößen und Kamerabewegungen ausdehnen (vgl. Salt 2006, S. 251, 330) und die Merkmale eines Werkes im Zusammenhang mit der Entwicklung der Filmtechnologie betrachten (vgl. Flückiger 2011, S. 47). In seinen Veröffentlichungen Film Style and Technology: History and Analysis (2009) und Moving into Pictures (2006) entwirft Salt darüber hinaus ein wissenschaftstheoretisches Fundament für die von ihm vorgeschlagene Methodik, welche er aus dem Bereich der Naturwissenschaft in die Filmanalyse importiert: den wissenschaftlichen Realismus (scientific realism). Der Philosoph Christian Suhm definiert diesen in seiner ‚Minimalgestalt‘ wie folgt: Verteidigern des wissenschaftlichen Realismus ist es vornehmlich darum zu tun, die Idee einer geist- und theorieunabhängigen physischen Wirklichkeit mit der Vorstellung zu verknüpfen, dass sich in empirisch wohl bestätigten und nach anerkannten wissenschaftlichen Methoden entwickelten Theorien zumindest partielles Wissen ausdrückt und wir die theoretische Entwicklung der Naturwissenschaften als Fortschritt im Sinne einer Annäherung an eine wahre Beschreibung der Wirklichkeit begreifen dürfen. (2005, S. 24)

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Salts practical film theory versucht die hermeneutisch-interpretative Fixierung etablierter Modelle zu umschiffen, eine Fixierung, die vornehmlich aus der kommunikationstheoretischen Trichotomie zwischen Sender, Medium und Empfänger herrührt (vgl. Thompson 1995, S. 27). Dass es sich beim Film um ein Kommunikationssystem handelt, sieht Salt zwar nicht als Problem an, er tadelt jedoch die wissenschaftstheoretische Architektur als auch die Resultate traditioneller Ansätze (2009, S. 32). Seine Argumentation kommt dabei in wesentlich verschärfter Weise dem nahe, was Thomas Elsaesser und Malte Hagener als einen neuralgischen Punkt markieren: Ein Kardinalproblem der Filmtheorie ist, dass sie sich allzu häufig für intelligenter hält, als die Filme, von denen sie spricht, also diese (und deren Zuschauer) belehrt, was die Filme ‚wirklich‘ sagen. Diese ‚Hermeneutik des Verdachts‘ (Paul Ricœur) sucht den Film so lange nach Symptomen ab, bis sich etwas findet, das den Verdacht post festum bestätigt. (2008, S. 67)

Salt stützt seine unversöhnlich radikalisierte Position durch eine polemische Bewertung traditioneller semiotischer, marxistischer sowie psychoanalytischer Konzepte. Er konfrontiert sie mit der Prämisse, die dem filmtheoretischen scientific realism zugrunde liegt: die Erfassung der physischen Beschaffenheit von Filmen, unabhängig von theoretischen Zuschreibungen (vgl. Salt 2009, S. 4–24). Salts Sichtweise auf den Film unterscheidet sich also von traditionellen Methoden dahingehend, dass er ihn ausschließlich als empirischen Gegenstand begreift. Im Sinne der Erfahrungswissenschaften (vgl. Stegmüller 1986, S. 316) geht er davon aus, dass die formal-stilistische Spezifik eines filmischen Werkes objektiv prüfbar und durch die erhobenen Daten unmissverständlich repräsentiert sei. Zwar gesteht auch Salt zu, dass Filme intentional entstehen, also Ausdruck subjektiver Vorstellungen sind, aber für seine Methode spiele dies keine Rolle, da nur eine quantitativ-statistische ‚Atomisierungsmethode‘ in der Lage sei, „zeitloses“ Wissen über den Gegenstand hervorzubringen (vgl. Salt 2009, S. 2 ff.). Hat man die formale Signatur eines Films (oder Filmkorpus‘) auf diese Weise heraus präpariert, so sieht Salt zwei Vergleichsgrößen: zum einen dessen Lokalisierung im Rahmen filmtechnologischer Entwicklungen, zum anderen das Inbeziehungsetzen des Films zu den Produktionsentscheidungen des Filmteams und den jeweiligen Arbeitsweisen (darum auch die Bezeichnung practical film theory). Salt schreibt: The obvious factors that influence the creation of a film previous films, the technical and other production constraints from inside the film industry and craft, and the more general influence of society and culture all act through individual film-makers whose individual differences play a large part in producing the visible variety of films […]. (2009, S. 25)

Salts Entwurf zielt in diesem Sinne primär auf historisch verifizierbare Kriterien ab, welche als Vergleichsfolie zur Interpretation der gewonnenen Datenmenge dienen. Beispielsweise tendierte Howard Hawks aus produktionsökonomischen Gründen dazu, Kamerabewegungen möglichst zu vermeiden, und positionierte die Kamera auf Augenhöhe der Schauspielenden. Auf diese Weise war eine optimale Kadrierung der

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agierenden Personen gewährleistet, ohne dass die Kamera bei größeren Distanzen neigen musste, was eine Anpassung des Lichts vorausgesetzt hätte (vgl. Salt 2009, S. 27). Henry Hathaway eignete sich dieses Verfahren an, allerdings verwendete er höhere Schnittfrequenzen. Darin lässt sich, dem Salt’schen Paradigma entsprechend, ein stilistisches Alleinstellungsmerkmal erkennen (vgl. ebd.). Diese individuelle Arbeitsweise des Filmemachers Hathaway ließe sich also festmachen am Grad der Abweichung vom gegebenen Referenzwert – in diesem Fall die niedrigere Frequenz des Schnitts in den Filmen Howard Hawks (vgl. Bordwell und Thompson 1985, S. 226). Dass die Thesen Salts – vor allem aufgrund seiner polemisch formulierten Bemühung, eine die Fachkultur revolutionierende Programmatik zu postulieren – auch umstritten sind, kann an dieser Stelle leider nur angedeutet werden, genauso wie der Verdacht eines „reduktionistischen Positivismus“, der aus der „szientistischen“ Erkenntnistheorie seines Modells herrührt (Flückiger 2011, S. 44). Eine zentrale Rolle als Vergleichswert spielt in Salts Forschungen die Average Shot Length (ASL): die durchschnittliche Einstellungslänge eines Films. Sie errechnet sich durch die Teilung der Gesamtspielzeit (in Sekunden) durch die Anzahl der festgestellten Schnitte. Salt vergleicht mit diesem Wert US-amerikanische Filmproduktionen zwischen 1976 und 1999. In seinen Diagrammen zur statistischen Verteilung der durchschnittlichen Einstellungslängen (Abb. 13) gibt die x-Achse des Diagramms die Summe der evaluierten Filme wieder, während die y-Achse deren durchschnittliche Einstellungs-

Abb. 13   Salts Diagramme veranschaulichen seine Forschungsergebnisse und geben Einblick in die statistische Verteilung durchschnittlicher Einstellungslängen US-amerikanischer Produktionen zwischen den Jahren 1976 und 1999. (Quelle: Salt 2006, S. 333)

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längen abbildet – beide Größen wurden jeweils einem Maximalwert von 250 Filmen beziehungsweise einer ASL von 25 s angeglichen. Demnach indiziert beispielsweise der Balken mit dem Wert 5 im ersten Histogramm (1976–1981), dass in jener Zeitspanne 82 Filme mit einer durchschnittlichen Einstellungslänge zwischen 5.0 und 5.9 Periode Sekunden produziert wurden. Allerdings ist anzumerken, dass sich die Anzahl der von Salt gemessenen Filme deutlich unterscheidet: Die aus den Jahren 1976–1981 erhobenen 395 Stichproben stehen den aus den Jahren 1994–1999 erfassten 1035 Stichproben unterproportional gegenüber. Außerdem gibt Salt an, bei manchen Filmen lediglich 40 min der Gesamtspielzeit berücksichtigt zu haben (2006, S. 332 ff.). Dies stellt zweifellos die Verlässlichkeit der Erhebung infrage (vgl. Bordwell und Thompson 1985, S. 230 ff.), soll jedoch hier aufgrund des Demonstrationscharakters der Schilderung keine weitere Rolle spielen. Eine zukünftige Aufgabe wäre es, dieses Modell zum historischen Verlauf von Schnittfrequenzen durch neue Datenerhebungen zu präzisieren. Letztendlich geben Salts Histogramme deutlich zu erkennen, dass die Schnittfrequenz binnen der erfassten 23 Jahre schrittweise zunahm, beziehungsweise immer schneller geschnittene Filme veröffentlicht wurden. Während zum Beispiel im ersten Histogramm lediglich 17 Produktionen eine ASL zwischen 3.0 und 3.9 Periode Sekunden aufweisen, hat sich deren Anzahl in der darauffolgenden Zeitspanne bereits verdreifacht und so weiter. Als Ursache jener beschleunigenden Tendenz der US-Filmindustrie zieht Salt im Rahmen seiner Studie mehrere Faktoren in Betracht, wie etwa technische Innovationen, handwerkliche Entwicklung oder damit zusammenhängend auch epochenspezifische Trends (siehe hierzu die entsprechenden Kapitel in Salt 2009). Das Analysetool Cinemetrics, das im Folgenden präsentiert und verwendet wird, orientiert sich an den Parametern Salts und weist eine konzeptionelle Nähe zu dessen practical film theory auf. Neben Cinemetrics soll die Detektionssoftware Videana zum Einsatz kommen, die an den Universitäten Marburg und Siegen entstand (vgl. Ewerth et al. 2009, S. 101 ff.) und zur automatisierten Analyse bestimmter formtechnischer Elemente von Videos konzipiert wurde. Cinemetrics und Videana werden in diesem Beitrag für eine quantitativ orientierte Studie zu den Filmen Michelangelo Antonionis genutzt. Im Anschluss an eine kurze Einführung in das Programm wird die vorgestellte Analysemethode am Beispiel von Blow Up (GB/I/USA 1966) in der praktischen Anwendung demonstriert, um schließlich die Resultate zusammenzufassen.

2.2  Cinemetrics – Werkzeug zur manuellen Erfassung filmischer Abläufe Bei Cinemetrics (http://www.cinemetrics.lv/) handelt es sich um eine seit 2005 frei zugängliche interaktive Webseite. Sie dient der Sammlung, Verwaltung und Verarbeitung von Daten mit dem Schwerpunkt Film und wurde unter Yuri Tsivian an der Universität Chicago entwickelt. Erklärtes Ziel des Projektes ist es, mittels des CrowdsourcingPrinzips, also unter der Beteiligung freiwilliger Nutzenden, eine umfassende öffentliche

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Datenbank anzulegen. Erhoben werden sowohl messbare als auch zahlenmäßig erfassbare filmische Merkmale wie Schnitt, Kamerabewegungen oder Einstellungsgrößen (vgl. Tsivian 2009, S. 93 ff.). Zur Erhebung dieser Daten stehen den Nutzern zwei Analysewerkzeuge zur Verfügung: zum einen das Classic Cinemetrics Tool (Abb. 14), dessen Funktionsweise einer Stoppuhr ähnelt, zum anderen das Frame Accurate Cinemetrics Tool (kurz unter dem Akronym FACT, Abb. 15), mit dem die genauen Bildübergänge jeder Einstellung markiert werden können. Während die Evaluation mit dem Classic Cinemetrics Tool die simultane Erfassung am Fernseher oder Computer voraussetzt, wird der Film unter Verwendung des FACTs direkt als AVI-Datei in die Nutzeroberfläche geladen. Ist bei ersterem die Reaktion des Anwendenden gefordert, um die jeweiligen Schnittstellen zu kennzeichnen, kann der zu evaluierende Film im FACT mit Hilfe der unter dem Bildkader befindlichen Leiste Schritt für Schritt durchkämmt werden. Die erhobenen Daten werden in Echtzeit im unteren Feld als Diagramm angezeigt. Damit ist letztlich zwar eine größere Akkuratheit gewährleistet, jedoch erfordert die Methode großen Zeitaufwand und ist für breiter angelegte empirische Studien nahezu ungeeignet. Beide Werkzeuge verfügen darüber hinaus über einen Advanced und einen Simple Mode: Im Advanced Mode können die ermittelten Einstellungen beispielsweise mit den qualitativen Merkmalen der Einstellungsgrößen oder Kamerabewegungen versehen werden; im Simple Mode wird dagegen lediglich Häufigkeit und Dauer der Einstellungen gemessen. Zwar sind im Advanced Mode die Parameter des Salt’schen Paradigmas voreingestellt, jedoch können diese nach Belieben verändert und auch mit inhaltlichen Merkmalen belegt werden.

Abb. 14   Mit dem Classic Cinemetrics Tool werden am Bildschirm bei laufendem Video die Einstellungslängen gestoppt. (Quelle: http://www.cinemetrics.lv, © Cinemetrics)

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Abb. 15   Mit dem Frame Accurate Cinemetrics Tool (FACT) können die genauen Bildübergänge jeder Einstellung unter Verwendung einer AVIDatei markiert und es kann die unter dem Bildkader befindliche Geschwindigkeitsleiste genutzt werden. (Website: http://www. cinemetrics.lv, © Cinemetrics)

2.3 Cinemetrics und seine Anwendung Der Fokus vieler quantitativer Studien lag in der Vergangenheit überwiegend auf der stilhistorischen Entwicklung industrieller Systeme: zum Beispiel den jeweiligen Ausprägungen des Hollywoodkinos sowie der formalen Spezifik seiner Repräsentierenden (vgl. Salt 2006, 2009; Bordwell 2006; O'Brien 2005; Buckland 2009). Dagegen wird im Folgenden die Verfahrensweise mit Cinemetrics an zehn Filmen Antonionis als Vertreter des europäischen Autorenfilms erprobt. Wie andere Kunstfilme der 1960er-70er Jahre legen auch seine Arbeiten die Gesetzmäßigkeiten filmischer Narration eigenwillig aus (vgl. Nowell-Smith 1998, S. 524) und erzählen ihre Geschichten „mit gleicher Gewichtung von Handlung und anscheinend ereignisloser 'toter Zeit'“ (ebd., S. 524–525). In diesem Kontext durfte das Erleben von Raum und Zeit „die Dynamik der narrativen Entwicklung überwiegen, das in den konventionellen Verfahren und Montage-Regeln des Continuity-Schnitts Ausdruck fand“ (ebd., S. 525). Ob sich dieses reflexive, von Gilles Deleuze als „Zeitbild“ beschriebene Charakteristikum (1991, S. 11 ff.) auch in den erhobenen Daten zeigt, kann hier nicht untersucht werden, da dies einen breit angelegten empirischen Vergleich mit anderen Filmen – nämlich jenen, die der ästhetischen Norm folgen – verlangen würde. Auch können nicht alle künstlerischen Merkmale Antonionis im Rahmen dieser Studie berücksichtigt werden. Jedoch wird die Untersuchung unter der Annahme durchgeführt, dass sich der Prozess der Stilfindung sowie der stilistische Wandel Antonionis in den gesammelten Daten konkretisieren

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lassen, sodass ein zahlenmäßig fundiertes Gesamtbild der Entwicklung des Regisseurs erkennbar wird. Zur Generierung der dazu notwendigen Datengrundlage verwendet Salt die früheren Industrie-Standardbezeichnungen (Abb. 16) und differenziert zwischen sieben Einstellungsgrößen (vgl. Salt 2009, S. 156 ff.). Einstellungsgrößen nach Barry Salt

1. Big Close Up (BCU) – zeigt ausschließlich den Kopf; 2. Close Up (CU) – zeigt den Kopf und die Schultern; 3. Medium Close Up (MCU) – schließt den Körper mit ein, von der Taille aufwärts; 4. Medium Shot (MS) – von der Hüfte aufwärts; 5. Medium Long Shot (MLS) – zeigt den Körper aufwärts der Knie; 6. Full Shot (FS) – zeigt die Person in ganzer Größe; 7. Long Shot (LS) – zeigt die Person auf größere Distanz.

Freilich ist dieser qualitative Skalierungsentwurf nicht unproblematisch, da sich je nach Anzahl der im Bildkader befindlichen Personen oder beispielsweise durch Kamerabewegungen ein Interpretationsspielraum öffnet, der zu einer kategorialen Unschärfe führen kann. Um dem vorzubeugen, wurden in der vorliegenden Studie Einstellungen, in denen die Distanz der Kamera zum gefilmten Objekt nicht konstant bleibt (oder denen gar kein klares Größenverhältnis zugeordnet werden kann), in einer achten Kategorie mit der Bezeichnung Other erfasst. Cinemetrics stellt nur 8 Optionen zur Verfügung. Außerdem mussten Big Close Ups auch auf Detailaufnahmen von Objekten angewandt werden, Long Shots gleichermaßen auch auf Landschaftspanoramen ohne Schauspielende. Alle Einstellungs- sowie Kameradaten wurden ausschließlich mit FACT erhoben, opening und end credits stets ausgespart. Zur Erfassung der Kamerabewegungen verwendet Salt eine Skala, die sich in sieben Kategorien aufteilt (Salt 2006, S. 338 ff.). Kamerabewegungen nach Barry Salt

• • • • •

Panning: horizontale Bewegungen nach links und/oder rechts; Tilting: vertikale Bewegungen nach oben und/oder unten; Panning and Tilting: horizontale und vertikale oder diagonale Bewegungen; Tracking: Kamera folgt einer Person, einem Fahrzeug etc.; Tracking with Panning: Kamera folgt einer Person und schwenkt oder bewegt sich selbst horizontal, um ihr zu folgen (Crabbing); • Tracking with Panning and Tilting: Kamera folgt einer Person und bewegt sich horizontal und vertikal; • Static Camera: Kamera bleibt bewegungslos.

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Abb. 16   Schaubild Barry Salts zur Visualisierung seiner Systematik der Einstellungsgrößen, die früheren Standardbezeichnungen der Industrie entsprechen. (Quelle: © Salt 2009, S. 156)

Auch in diesem Zusammenhang wurde beispielsweise die finale Kamerafahrt in Professione: Reporter (Beruf: Reporter, I/ES/F 1975) als Tracking with Panning and Tilting gewertet, obwohl es im engeren Sinne keine direkte Verfolgung einer Person ist. Die praktische Anwendung der Kategorien gestaltet sich im Allgemeinen dennoch unproblematischer, obgleich es auch hier zu berücksichtigen gilt, dass nicht das ganze Spektrum an Bewegungen (zum Beispiel die Links-rechts-Orientierung) erfasst werden kann, ohne den Film einer erneuten zeitaufwendigen Sichtung zu unterziehen. Abhängig von der Routine der Nutzenden kann ein Durchgang (wie bei Blow Up) bis zu fünf Stunden in Anspruch nehmen. Letztlich umfasst die Datenbasis der Untersuchung also eine zeitliche und räumliche Erhebungsgröße. Handelt es sich bei ersterer (den Einstellungslängen) um eine objektiv messbare Einheit auf Grundlage der physikalischen Charakteristik des Films, meint räumlich hier zum einen die (subjektive) Zuschreibung des Distanzverhältnisses zwischen Kamera und Objekt, zum anderen die dimensionalen Bewegungen innerhalb des Raumes. Diese Erhebungsgrößen ermöglichen es letztlich, Hypothesen über die stilistischen Präferenzen eines Filmemachenden zu bilden (sofern nicht zweifelsfrei ermittelbar, sind es zumindest Tendenz- oder Orientierungswerte). Bei Abb. 17 handelt es sich um die tabellarische Darstellung der erläuterten Faktoren (hier die Einstellungsgrößen), wie sie nach einem Durchlauf in der Cinemetrics-

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Abb. 17   Ermittelte Parameter zu den Einstellungsgrößen in Antonionis Film Cronaca di un amore (Chronik einer Liebe, I 1950) als tabellarische Darstellung. (http://www.cinemetrics.lv, © Cinemetrics)

Datenbank vorzufinden sind. In der Waagrechten (BCU bis Other) wird die jeweilige Erhebungsgröße angezeigt, in der Senkrechten die durch die Cinemetrics-Website berechneten statistischen Werte. Der darüber liegende Balken gilt für den gesamten Film – in diesem Fall handelt es sich um den erste Spielfilm Antonionis Cronaca di un amore (Chronik einer Liebe, I 1950). Von oben nach unten gibt Cinemetrics folgende Informationen:

• • • • • • • •

Number of shots: Anzahl der gemessenen Einstellungen; Length (min): Länge des jeweiligen erhobenen Wertes in Minuten; ASL (sec): durchschnittliche Länge des Wertes in Sekunden; MSL: Median Shot Legth (statistischer Mittelwert); StDev: Standardabweichung vom Mittelwert (MSL); Min: die kürzeste gemessene Einstellung mit dem jeweiligen Wert; Max: die längste gemessene Einstellung mit dem jeweiligen Wert; CV: der Variationskoeffizient.

Wie schon zu Beginn erläutert, errechnet sich die Average Shot Length als arithmetischer Mittelwert anhand der Division der Spieldauer in Sekunden durch die Anzahl der erhobenen Einstellungen. Bei der Median Shot Length (MSL) handelt es sich zwar ebenfalls um einen Mittelwert, jedoch ist er anders definiert: Um diesen zu bestimmen, muss ein Wert gefunden werden, der die Beobachtungen (also in diesem Fall die jeweiligen Einstellungen) in die 50 % der kleineren und 50 % der größeren Beobachtungen aufteilt (vgl. Kronthaler 2014, S. 19 ff.). Am Beispiel der oben angegebenen Big Close Ups in Cronaca di un Amore vollzieht sich dies wie folgt:

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Die 7 Big Close Ups in chronologischer Reihenfolge (Angaben in Sekunden): 20,5        3,9        11,5        2,8        8,3        7,0        13,8. Ermittlung des Medians der Big Close Ups: 2,8        3,9        7,0        8,3        11,5        13,8        20,5. Der Median respektive die Median Shot Length der Big Close Ups liegt also bei 8,3. Die nun vorangestellten Größen liegen nicht über jenem Mittelwert, die nachgeordneten nicht darunter. Um daran anknüpfend die Standardabweichung der Einstellungslängen vom Median zu ermitteln (StDev), was vor allem bei größeren, unübersichtlicheren Zahlenmengen Rückschlüsse auf deren Fluktuation ermöglicht, wird zunächst die Abweichung der einzelnen Werte vom Mittelwert berechnet. Diese werden quadriert (damit sich die negativen und positiven Abweichungen letztlich nicht auf Null aufaddieren) und durch die Anzahl der Beobachtungen dividiert. Im Anschluss daran muss das Ergebnis radiziert werden (vgl. Kronthaler 2014, S. 33 ff.). 

(2, 8 − 8, 3)2 + (3, 9 − 8, 3)2 + (7, 0 − 8, 3)2 + (8, 3 − 8, 3)2 + (11, 5 − 8, 3)2 + (13, 8 − 8, 3)2 + (20, 5 − 8, 3)2 7   (−5, 5)2 + (−4, 4)2 (−1, 3)2 + 02 + 3, 22 + 5, 52 12, 22 30, 25 + 19, 36 + 1, 69 + 0 + 10, 24 + 30, 25 + 148, 84 s= = 7 7   240, 63 s= = 34, 38 = 5, 8 7 s=

Zudem kommt der Variationskoeffizient (hier CV/Coefficient of variation) zum Einsatz, „wenn wir die Streuung zweier Variablen vergleichen wollen, das heißt, wenn wir uns fragen, welche Variable die größere Streuung aufweist. Er misst die Abweichung relativ in Prozent vom Mittelwert“ (Kronthaler 2014, S. 36). Cinemetrics teilt dahingehend den oben errechneten Wert der Standardabweichung durch den arithmetischen Mittelwert, also die Average Shot Length. Das Ergebnis beträgt in diesem Fall 0,59. Im rein exemplarischen Vergleich mit dem Variationskoeffizienten der Mediums Shots (1,53), deren Einstellungslängen ein Minimum von 2,1 und Maximum von 158,2 s aufweisen, liegt demnach die Schlussfolgerung nahe, dass diese Kategorie eine deutlich höhere Streuung (also häufige Abweichungen vom Mittelwelt) aufweist. Darüber hinaus verdeutlicht sich letztlich am Beispiel der Medium Shots die jeweilige Spezifik der Average und Median Shot Length: Zwar stellt die Average Shot Length eine intuitive Orientierungshilfe bereit (bei MS 21 s), die speziell im Kontext eines breiter angelegten diachronen Vergleichs aufschlussreicher sein kann, jedoch gibt sie keinerlei Auskunft darüber, wie sich die jeweiligen Einstellungslängen verteilen. Sie zeigt letztlich an, in welchem Zeitintervall ein Schnitt erfolgen muss, um vor dem Hintergrund aller gezählten Schnittstellen die Gesamtspielzeit zu erreichen. Der Median (bei MS 11,1 s) hingegen lässt in Anbetracht des Maximal- und Minimalwertes den Schluss zu, dass zumindest 50 % der jeweiligen Einstellungen schneller geschnitten sind, was sich auch in der grafischen Darstellung der Medium Shots verdeutlicht. So liegen letzten Endes 11 der insgesamt 22 Einheiten unter der 11-s-Marke (siehe Y-Achse im CinemetricsDiagramm in Abb. 18).

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Abb. 18   Die Average Shot Length der Medium Shots (hier 21 s) gibt eine Auskunft über die Verteilung der Einstellungslängen. Vereinzelte sehr lange oder kurze Einstellungen beeinflussen diesen Durchschnitt – insbesondere in Fällen, bei denen eine geringe Anzahl von Werten vorliegt. Nur fünf der 22 Einstellungen liegen hier über dem so errechneten Durchschnitt. Die Median Shot Length (hier 11,1 s) hingegen gibt einen Durchschnittswert an, der die Anzahl der darüber und darunter liegenden Werte mit einbezieht (http://www.cinemetrics.lv, © Cinemetrics)

2.4 Eine quantitativ orientierte Analyse der Werke Michelangelo Antonionis Strukturelle Orientierung Salt konstatierte, wie oben beschrieben, einen fortschreitenden Rückgang der Average Shot Length im Laufe der filmhistorischen Entwicklung: Filme würden also im Durchschnitt immer schneller geschnitten. Tatsächlich weisen auch Antonionis Werke bis zu Zabriskie Point (USA 1970) zunehmend kürzere Einstellungslängen auf (Abb. 19). Im Folgenden werden die ASL-Werte in die übliche Dreiteilung der Werkentwicklung Antonionis eingeordnet. Als (1) Stilfindungsphase gelten die in den Jahren 1950 bis 1957 produzierten Filme Cronaca di un amore, Le amiche (Die Freundinnen, I 1955) und Il grido (Der Schrei, I/USA 1957). Rapide fällt hier die Average Shot Length von Cronaca di un amore bis zu Il grido ab. Il grido wird in der einschlägigen Literatur häufig als Wendepunkt in Antonionis Schaffen hervorgehoben (vgl. Chatman 1985, S. 39 ff. / Brunette 1998, S. 21/Christen 2002, S. 118). Danach folgt (2) die von Chatman aufgrund homogener Gestaltungsfaktoren als ‚Tetralogie‘ kanonisierte Phase (vgl. 1985,

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Abb. 19   Die Average Shot Length (ASL) der Filme Antonionis von 1950 bis 1975. (© Sittel)

S. 51 ff.): La notte (Die Nacht, I/F, 1961), L’avventura (Die mit der Liebe spielen, I/F 1960), L’eclisse (Liebe 1962, I/F 1962) und Il deserto rosso (Die rote Wüste, I/F 1964), entstanden in den Jahren 1960 bis 1964. Diese vier Filme senken die Average Shot Length zwar weiterhin Schritt für Schritt ab, allerdings in geringerem Maße. Bei Blow Up kommt der Trend kurz zum Stillstand; der Film wiederholt die ASL des Vorgängerfilms. Blow Up ist der kommerziell erfolgreichste Film Antonionis, der gleichzeitig die erste im Rahmen der nächsten Phase entstandene Arbeit darstellt, nämlich jene (3) der Internationalisierung durch einen drei Produktionen umfassenden Vertrag mit MetroGoldwyn-Mayer (vgl. Chatman 1985, S. 138). Bei Zabriskie Point erreicht die ASL ihren niedrigsten Stand – es ist Antonionis am schnellsten geschnittener Film –, um sich bei Professione: reporter, dem dritten und letzten von MGM finanzierten Film, wieder mehr als zu verdoppeln und somit zum Ausgangswert der Tetralogie zurückzukehren. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass beispielsweise auch der hier nicht mehr berücksichtigte Folgefilm Identificazione di una donna (Identifikation einer Frau, I/F 1982) mit einer ASL von 13,9 s wieder durch einen erneuten Abwärtstrend gekennzeichnet ist. Beispielanalyse des Films Blow Up  Eine von Salt durchgeführte Analyse zum Werk von Max Ophüls erwies, dass Ophüls‘ Kooperation mit der US-amerikanischen Filmindustrie zu einer auffälligen Veränderung in den Daten führte, was auf eine

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abweichende Arbeitsweise des Regisseurs hindeutete (vgl. Salt 2009, S. 397 ff.). Interessanterweise lässt sich bei Antonionis Wechsel der Produktionsumstände Mitte der 1960er Jahre durch die Kooperation mit MGM keine deutliche Umstellung erkennen: Nicht nur der ASL-Wert stimmt mit dem Vorgängerwerk Il deserto rosso überein (Abb. 20), auch Anzahl und Wahl der Einstellungsgrößen weichen in Blow Up (Abb. 21) nur in relativ geringem Maße ab. Hatten sich die Median Shot Length-Werte aller Größeneinheiten in L’eclisse und Il deserto rosso bereits reduziert, folgt Blow Up diesem Trend. Zwar lassen sich Abweichungen feststellen, doch sind die Spitzen (Maximalwerte von 52,3 s) relativ selten und somit nicht maßgebend. Auch im Hinblick auf die Gesamtdaten weist Blow Up im Vergleich mit Il deserto rosso nur eine geringfügige Reduktion der Spieldauer von rund vier Minuten auf, was einer Verminderung um 50 Einstellungen entspricht. Auf den ersten Blick gibt dies Grund zur Annahme, dass Antonioni trotz wechselnder Produktionsbedingungen seine Arbeitsweise fortsetzt. Doch wird die genauere Untersuchung erweisen, dass der Montage in Blow Up ein höherer, thematisch interpretierbarer Stellenwert zukommt als vorher. Typisch für Antonioni sind weite Aufnahmen (LS/Long Shots), die in vielen Fällen mit einem bestimmten Handlungsort in Verbindung stehen. In Blow Up fallen Sie insbesondere bei der Darstellung des Londoner Maryon Park auf. Die drei Parksequenzen des Films sind in Abb. 22 an den orangenen Einfärbungen (1, 2, 3) zu erkennen. Das mit Cinemetrics erzeugte Schaubild gibt auf der x-Achse die Gesamtdauer des Films an (104:23 min), während die nach unten verlaufenden weißen Linien die Länge der einzelnen Einstellungen veranschaulichen (insgesamt 593 Einheiten). Zwar setzt sich der ruhige Rhythmus der ersten Parksequenz in der zweiten zunächst fort, doch geht mit

Abb. 20   Ermittelte Parameter zu den Einstellungsgrößen in Antonionis Film Il deserto rosso. (http:// www.cinemetrics.lv, © Cinemetrics)

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Abb. 21   Ermittelte Parameter zu den Einstellungsgrößen in Blow Up. (http://www.cinemetrics.lv, © Cinemetrics)

Abb. 22    Diagramm zur Schnittfrequenz des Films Blow Up (http://www.cinemetrics.lv, © Cinemetrics). Hervorgehoben sind die Parksequenzen (Markierungen 1, 2 und 3) und die blow-upSequenz mit der Vergrößerung und Begutachtung der Fotografien im Studio (Markierung 4).

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dem Auffinden des Toten eine wachsende Beschleunigung einher, die zudem in Close Up-Größen mehr Nähe sucht. Auch die dritte und finale Parksequenz wiederholt diese stufenweise Be- und Entschleunigung des Schnitts. Zur genaueren Darstellung wird diese finale Parksequenz nochmal mit einer Grafik der Software Videana abgebildet und anhand der schwarzen Markierungen in drei Handlungssegmente unterteilt (Abb. 23): In dem ersten Abschnitt nähert sich der Fotograf dem Fundort und stellt das Verschwinden der Leiche fest; im zweiten Segment sehen wir alternierend den Protagonisten und die im Geländewagen heranrasenden Pantomimen; im dritten das imaginäre Tennisspiel der Gruppe und die Teilnahme des Fotografen. Wieder sind die Einstellungen im ersten Segment – mit einer Maximallänge von bis zu 28,3 s – ungewöhnlich lang (mit Einschüben von jeweils 5,8 und 3,5 s). Doch im nächsten Abschnitt beschleunigt die Schnittfolge ein erstes Mal und entschleunigt sich in drei längeren Einstellungen wieder, in denen sich die Pantomimen um den Handlungsort (das Tennisfeld) positionieren (10,3 bis 20,6 s). Während des Spiels im dritten Segment beschleunigt das Schnitttempo erneut (von 1,3 bis zu 3,7 s). Hier kommen vor allem auch Close Ups der zuschauenden Pantomimen zu tragen. In den vier darauffolgenden Einstellungen interagiert der Fotograf mit den Spielern, wonach sich die Kamera noch einmal auf diese fokussiert und der Schnitt erneut an Fahrt aufnimmt. Die letzten beiden kürzeren Einstellungen zeigen den sich entfernenden Protagonisten, der den imaginären Ball zurück zu den Pantomimen wirft – bis die Kamera in einer letzten langen Einstellung auf der verschwindenden Hauptfigur verharrt. Zusammenfassend lässt sich sagen: Dieser wiederkehrende Rhythmus aus Be- und Entschleunigung in Kombination mit näheren Aufnahmen zeigt, dass Schnitt und Kamera zur Dynamisierung der Handlung eingesetzt werden, um ein hohes Maß an ‚Formalspannung‘ (Korte 2010, S. 62) zu erzeugen. Während Il deserto rosso dieses Verfahren handlungsorientiert einsetzt – beispielsweise im Rahmen der Dialoginszenierung – kann es in Blow Up als Konkretion der medienphilosophischen Thematik interpretiert werden.

Abb. 23   Schnittfrequenz der Parksituation am Ende von Blow Up (© Videana): im dritten Abschnitt – dem Tennisspiel der Pantomimen – beschleunigt sich deutlich die Schnittfolge. (© Sittel)

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Abb. 24    Schnittfrequenz, eingeteilt durch die schwarzen Markierungen in drei Abschnitte: a) Arbeit des Fotografen in Labor und Studio mit narrativer Fotosequenz, b) Besuch der beiden jungen Frauen, c) erneute Prüfung der Fotografien. (© Sittel)

Im Folgenden wird dahingehend die zentrale Blow-Up-Sequenz in den Blick genommen, also die detektivische Vergrößerung und Anordnung der Fotografien, die im Schnittdiagramm (Abb. 22) mit der vierten Markierung hervorgehoben und in der folgenden Videana-Abbildung nochmal genauer visualisiert wird (Abb. 24). Diese entscheidende Veränderung gilt es im Weiteren, als Unterstützung der metareflexiven Thematik des Films durch die Montage herauszuarbeiten. In den ersten längeren Einstellungen erzeugt der Fotograf eine narrative Ordnung der Fotografien aus dem Park, indem er sie mit Klebeband an die Balken heftet. Danach sticht deutlich eine schnelle Abfolge von Einstellungen hervor, die zudem Big Close Ups der Fotografien darstellen, was den langsamen, distanzierten Modus der ersten Parksequenz nahezu umkehrt. Die Montage verdichtet somit die Fotografien zu einer kriminalistischen beziehungsweise epistemologischen Fragestellung. Die Chronologie der Ereignisse im Park erfährt eine filmtechnische Intensivierung: Die Kamera bringt zum einen Bilder hervor, die in dieser Form nicht existieren, indem sie beispielsweise Bildausschnitte akzentuiert und damit den Interpretationsprozess aktiv mitgestaltet (vgl. Müller 2004, S. 162 ff.), zum anderen bewirkt der schnelle Schnittrhythmus (2,8 bis zu 5,6 s) den Eindruck von Regsamkeit; er dramatisiert (vgl. Peters 2009, S. 38) die überwiegend statischen Bilder. Danach erfolgt im Schnittrhythmus ein abrupter Stopp – mit 52,6 s sogar die längste Einstellung des Films; hier informiert der Fotograf per Telefon einen Freund über seine Vermutung, woraufhin es an der Haustür klingelt und sich die Einstellungen mit dem Besuch der jungen Frauen im Segment 2 wieder verlängern, bis die Situation in einen Akt der Verführung umschlägt. Das sexuelle Intermezzo bewirkt eine erneute Erhöhung der Formalspannung (von 1,2 bis zu 7,4 s), wobei Nahaufnahmen (Medium Close Ups) mit Medium Shots, Medium Long Shots und Full Shots alternieren. Auch weisen die Einstellungen vermehrt Kamerabewegungen auf (Panning sowie Panning with Tilting), ungenaue Ausschnitte verleihen der Begegnung zudem Dynamik (vgl. Müller 2004, S. 163), die darüber hinaus durch die Montage rhythmisch zur Darstellung gebracht wird. Im Anschluss verlangsamt sich die Schnittgeschwindigkeit wiederum deutlich.

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Zusammenfassend kann festgestellt werden: Im ersten Abschnitt (Fotosequenz) hat der Film die Erkenntnisse der Zuschauenden und des Protagonisten parallelisiert; in der zweiten Handlungseinheit (sexuelles Intermezzo) macht er sich das Publikum zum Komplizen, um nicht zuletzt durch einen noch intensiveren Einsatz der Filmtechnik die Wirkungsmächtigkeit des medialen Bilderflusses zu beschwören. Wirkt die Unterbrechung der fotografischen Spurensuche durch die beiden jungen Frauen auf der Handlungsebene wie eine Verzögerung, so erweist sich auf der Bedeutungsebene (die durch Schnitt und Kamera erzeugt wird), dass Antonioni hier in ostentativer Weise ein Exempel für das Thema des Films setzt: die Hinterfragung medialer Strukturen. Erst danach – im dritten Abschnitt – lässt er seinen Protagonisten die entscheidende Vergrößerung vornehmen, die ihn die Leiche auffinden lässt. Das Tennisspiel der Pantomimen konkretisiert am Ende schließlich erneut unter Anwendung jener Verfahrensweise den Zweifel am vermeintlichen Wahrheitsanspruch des medialen Bildes, legt dabei allerdings seine Strukturen offen. Hier antizipieren Panning und Tilting-Bewegungen (12 an der Zahl) im Zuge des beschleunigten Schnitts einen Ball, der im aktualen Bild (vgl. Bauer und Ernst 2010, S. 213) nicht existiert, was verdeutlicht, dass das Medium keine neutrale Instanz ist, sondern den Prozess der Bedeutungsproduktion durch seine formale Repräsentation mitgestaltet, was wiederum der Tätigkeit des Fotografen bei der Vergrößerung der Bilder entspricht. So geht es letztlich um das in Blow Up angelegte imaginäre Potential der Zuschauenden (vgl. Bauer und Ernst 2010, S. 213), welches „aus Andeutungen, aus Gestik einen Match entstehen lässt und ein paar Fotos zu einer abgründigen Geschichte montiert“ (Christen 2002, S. 154). Zusammengefasst lässt sich Blow Up als einen Höhepunkt der Antonioni’schen Montagepraxis einstufen. Antonioni bindet hierbei den Schnitt nicht nur zur Dynamisierung der Handlung, sondern auch als eine Instanz zur Generierung von Bedeutungen ein. Unterstützt werden soll der thematische Kern: die Frage nach dem Wahrheitsgehalt medial vermittelter Bilder beziehungsweise dem „ontologischen Status des realen Referenten“ (Elsaesser und Hagener 2008, S. 97). Der Schnitt wird in Anbetracht einer medienkritischen Wirkungsabsicht funktionalisiert. So ist Blow Up schließlich ein Bewusstsein seiner Fremdwahrnehmung durch die Zuschauenden inhärent: „Der Film ist in der Lage, sich in ein Verhältnis zu seinem Außen (Fremdbezug) wie auch zu seinen eigenen Verfahren (Selbstbezug) zu setzen und über diese Bezugnahme eine eigene reflexive Praxis zu formulieren“ (Bauer und Ernst 2010, S. 209). Indem konventionalisierte filmische Konstruktionsprinzipien durch Achsensprünge, unmotivierte Schnitte oder Jump Cuts subvertiert werden, erzeugt der Film quasi eine epistemologische Schnittstelle zwischen Publikum und Protagonisten, wobei beide ihre Wahrnehmung und damit ihre Wirklichkeiten auf Grundlage des Mediums strukturieren. Demzufolge stehen auf der einen Seite die durch die Filmkamera vorkonstruierten Bilder und die Orientierung an wahrnehmungspsychologischen Gesetzmäßigkeiten, welche die Rezipierenden beim Entwerfen des filmischen Raumes anleiten (vgl. Khouloki 2007, S. 39 ff.). Auf der anderen, innerfiktionalen Seite finden sich der Protagonist und der trügerische Charakter des photographischen Bildes als mechanisch erzeugte, indexikalische Reproduktion der Realität.

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2.5 Datenbasierte Interpretation der stilistischen Entwicklung Antonionis Abschließend sollen die Resultate der mit Cinemetrics durchgeführten Studie zu Antonionis Filmen ausgewertet werden, um dessen formal-stilistische Entwicklungsgeschichte mit Blick auf Einstellungslängen und -größen nachvollziehen zu können. Die Visualisierungen der Daten zu jedem Film werden im Folgenden nicht abgebildet, sind aber alle unter dem Namen des Autors in der Cinemetrics-Datenbank abrufbar. In Zukunft wären solche Datensätze statistisch auszuwerten, um genauer zu überprüfen, ob es sich um Muster handelt oder nicht. Waren insbesondere Long Takes in den ersten Filmen eine zahlenmäßige Auffälligkeit, gibt der historische Vergleich aller verhältnismäßig langen Einstellungen (ungeachtet ihrer kategorialen Zuschreibung) einen Eindruck davon, wie sich der formale Aufbau der Filme sukzessive gewandelt hat: • Cronaca di un amore

63 von 176 Einstellungen (über der 30 s-Marke)

• Le amiche

73 von 220 Einstellungen

• Il grido

60 von 334 Einstellungen

• L’avventura

91 von 475 Einstellungen

• La notte

50 von 433 Einstellungen

• L’eclisse

32 von 624 Einstellungen

• Il deserto rosso

23 von 643 Einstellungen

• Blow Up

15 von 593 Einstellungen

• Zabriskie Point

11 von 775 Einstellungen

• Professione: Reporter

50 von 396 Einstellungen

In Antonionis Erstlingswerk Cronaca di un amore dominieren in eklatanter Weise lange sowie den Handlungen der Figuren folgende (vgl. Bordwell und Thompson 2004, S. 273) Aufnahmen mit einer Maximallänge von bis zu 194,6 s, die auf ein Prinzip der systematischen Kameramobilisierung zurückzuführen sind (vgl. Chatman 1985, S. 117 ff.) und so einen Großteil der Gesamtspielzeit für sich beanspruchen. 40 der 63 Einstellungen überschreiten dabei die 30 s-Marke in beträchtlichem Maße. Die Struktur des Films lässt sich als Abfolge kleinerer Plansequenzen beschreiben. Es gibt kaum Beschleunigungen von Schnittpassagen. Die Präferenz einer Mise-en-scène betonten Realisierung wirkt sich auch auf die Häufigkeiten der Einstellungsgrößen aus: Nahaufnahmen – also Big Close Ups, Close Ups und Medium Close Ups – kommen mit insgesamt 30 Einheiten kaum zum Tragen. Die distanzierten Long Shots sind mit 37 Einheiten die dominante Größe, verteilen sich allerdings über den ganzen Film und konzentrieren sich nicht wie später auf einen Handlungsort.

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In Antonionis zweitem Spielfilm, Le amiche, setzt sich dieser Trend zunächst fort. Stellenweise wird, wenn auch nur in geringem Maße, ein Verzicht auf die Ausgedehntheit langer Einstellungen ersichtlich. In Il grido intensiviert sich diese Tendenz – parallel dazu steigen die gezählten Schnittstellen um 114 Einheiten an. Waren in Le amiche noch 44 ausschweifend lange Einstellungen (über 30 s) zu beobachten, sinkt deren Anzahl im Folgefilm auf 28. Stellten die Plansequenzen (zum Beispiel über zwei Minuten), in denen die Kamera den Figuren folgt, in Cronaca di un amore ein dominantes Merkmal dar, so sind sie nun in Il grido eine Seltenheit (nur vier gezählte Einheiten). Eine wesentliche Veränderung der Kameragrößen war nicht festzustellen, nur im Hinblick auf die Häufigkeit der Long Shots konnte ein deutlicher Zuwachs verzeichnet werden. Diese stehen nun in erster Linie mit bestimmten Handlungsorten in Verbindung. Auch das Schuss-Gegenschuss-Verfahren, das in den Vorgängerwerken nur in wenigen Ausnahmen zu beobachten war, wird jetzt vermehrt durch den Einsatz schneller geschnittener Medium Shots getragen. Was die Nutzung der Einstellungsgrößen anbelangt, findet in dem ersten Film der Tetralogie (L’avventura) ein Umbruch statt. Nähere Aufnahmen – wie Big Close Ups, Close Ups und Medium Close Ups –, die vorher unterrepräsentiert waren, erfahren massive Zunahmen (insgesamt 166 Einheiten), während alle anderen Kameragrößen weitestgehend unverändert bleiben. Zwar erhöht sich auch die Menge der Schnittstellen erheblich, jedoch relativiert sich dies durch den gleichermaßen hohen Anstieg an Spielzeit (rund 33 min). Des Weiteren sind in L’avventura wieder vermehrt Long takes festzustellen: 43 Einstellungen überschreiten die 40 s-Marke bei Weitem, wobei sich erheblich längere Einstellungen (bis zu 106,5 s) insbesondere am Ende des Films ballen. Allerdings werden die Long takes, meist Kern einer Sequenz, in vielen Fällen von wesentlich kürzeren Einstellungen umlagert, was unter anderem auch am Leitfaden des Schuss-Gegenschuss-Verfahrens einen zumindest stellenweise komplexeren Montagerhythmus hervorbringt, der in dieser Häufigkeit ein Novum im Werk Antonionis darstellt. Im Übrigen sind auch in L’avventura viele der Long Shots, die im Vergleich zu Il grido beinahe stagnieren, primär mit bestimmten Handlungsorten wie der Insel oder dem Boot in Verbindung zu bringen. Dem nächsten Film La notte liegt zwar kein Anstieg der Schnittstellen, jedoch eine größere Reduktion der Spielzeit zugrunde (rund 26 min), was die Average Shot Length des Films ansteigen lässt. Alternierte Antonioni in L’avventura an manchen Punkten längere Einstellungen mit kurzen Schnittfolgen, gewinnt im Folgewerk letzteres an Relevanz. So weist La notte zwar 20 ausgedehnte Einstellungen mit einer Maximaldauer von bis zu 89,3 s auf, allerdings findet hier verhältnismäßig oft das Schuss-GegenschussVerfahren Anwendung, welches in vielen Fällen schnell geschnittene Nahaufnahmen produziert, die wie im vorangegangenen Film die Skala dominieren. Die dadurch erzeugten schnellen Schnittfolgen zeichnen sich deutlich in die Struktur des Films ein, zumal das Verfahren in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Big Close Ups, Close Ups und Medium Close Ups steht. Die weiten Aufnahmen (Long Shots und Full Shots) erfahren im Vergleich mit L’avventura einen Rückgang und verteilen sich beispielsweise auf

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den Stadtspaziergang der Protagonistin oder die Party, was gleichermaßen für eine ortsgebundene Verwendung der Kameragrößen spricht. Alles in allem wird eine Tendenz im Schaffen des Regisseurs ersichtlich: Die mobile Kamera und damit auch die langen Einstellungen weichen zunehmend ausgefeilteren Montageformen. Letztlich greift Antonioni zwar in La notte ebenso auf komplexere Kameraverfahren zurück, allerdings sind 253 der 433 Einstellungen statisch gehalten und mit einer Median Shot Length von 7,1 s verhältnismäßig betrachtet schnell geschnitten – sie nehmen den Großteil der Gesamtspielzeit ein. In L’eclisse findet der Trend eine Fortsetzung: Hier erhöht sich die Anzahl der Schnittstellen um 191 Einheiten, was rund 44 % entspricht. Lediglich vier ausgedehnte Einstellungen überschreiten dabei die 40 s-Marke, worin sich ein eklatanter Unterschied zu den vorangegangenen Filmen eröffnet – nur eine Einstellung nähert sich mit einer Länge von 57,7 s der vollen Minute an. Auch hier stellen die Nahaufnahmen die dominanten Kategorien dar, Long Shots verzeichnen zudem Zuwächse und sind an Handlungsorte, wie etwa den Flugplatz oder die Verabredungsorte des ProtagonistenPaares, gekoppelt. Kurz geschnittene Big Close Ups, Close Ups und Medium Close Ups stehen auch in L’eclisse häufig mit dem Schuss-Gegenschuss-Verfahren in Verbindung, jedoch kommen zum Beispiel im Rahmen der Börsensequenzen für Antonioni komplexere Schnittrhythmen zu tragen, die das Geschehen über längere Strecken dramatisieren und somit eine expressive Funktion übernehmen, was zuvor eine Seltenheit darstellte. Im letzten Film der Tetralogie Il deserto rosso maximiert sich des Weiteren die Anzahl der Nahaufnahmen auf insgesamt 305 Einheiten, wobei die Long Shot-Kategorie einen Zuwachs auf insgesamt 122 Einheiten erfährt. Während die weiten Aufnahmen auch hier eine relativ klare ortsbedingte Verteilung aufweisen, wie zum Beispiel durch die Industrieanlagen, die Sequenz an Bord des Schiffes oder etwa die Inselsequenz, unterliegt einem Großteil der Nahaufnahmen eine nicht weniger übersichtliche Zuweisung. Zum Beispiel greift Antonioni im Rahmen des Zusammentreffens in der Hütte am Meer in erster Linie auf Medium Close Ups zurück, welche die Montage nach einem handlungsorientierten Prinzip beschleunigt. Diese Akzelerierung klingt in längeren Einstellungen aus, um kurz darauf wieder schnelle Einstellungsfolgen zu bewirken. Auch das Schuss-Gegenschuss-Verfahren gehört in Il deserto rosso zum Standardrepertoire des Regisseurs und ist Ursache schnell geschnittener Nahaufnahmen. Überdies sind im Film lediglich fünf ausgedehnte Einstellungen festzustellen, die sich der vollen Minute annähern. Ausgedehnte Einstellungen, wie sie zu Beginn häufiger vorkamen, sind nun eine Seltenheit. Zwar intensiviert sich die Anwendung der Montage in Blow Up, dem ersten im Zuge des three-picture contracts entstandenen Films, nicht, jedoch werden Montage und Kameraarbeit hier Teil einer selbstreflexiven Praxis, die mit dem Leitthema des Films in Verbindung steht. Die formale Repräsentation nimmt dahingehend eine konstitutive Rolle ein, da nicht zuletzt die Filmkamera den Fotoapparat des Protagonisten in Szene setzt. Speziell die zweite Hälfte weist den vermehrten Einsatz des Schnittprinzips auf

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– stellenweise oszilliert Blow Up zwischen Folgen kurzer und langer Einstellungen. In Il deserto rosso verteilt sich das Prinzip der Be- und Entschleunigung des Schnitts hingegen über den ganzen Film. Länger gehaltene Einstellungen reduzieren sich darüber hinaus, auch die Anzahl an Long takes beläuft sich nun auf insgesamt drei Einheiten. Letztlich liegt beiden Filmen eine Vielzahl an weiten Aufnahmen und Nahaufnahmen zugrunde, welche wie in allen Werken Antonionis einen verhältnismäßig klaren Bezug (Dialoge und Ortsinszenierung) aufweisen. Außerdem zeigt die Auswertung der Daten zum Kameraverhalten, dass der Film der sich in La notte abzeichnenden Tendenz folgt: 289 Einstellungen – und damit ein Großteil der Gesamtspielzeit – sind statisch gehalten und mit einer Median Shot Length von 5,4 s zu 50 % dem schneller geschnittenen Spektrum zuzuordnen. Dieser Umstand lässt mit Blick auf das Gesamtwerk auf einen deutlichen stilistischen Wandel des Regisseurs schließen. Bei Zabriskie Point handelt es sich um den am schnellsten geschnittenen Film Antonionis, der ähnlich wie Blow Up einem reflexiven beziehungsweise ästhetischkritischen Paradigma folgt, das (wie beispielsweise in der Werbespot-Sequenz) gleichermaßen in der formalen Umsetzung des Films seinen Ausdruck findet. Auch der zweite von MGM produzierte Film weist über längere Strecken eine Akzelerierung des Schnitttempos auf, beispielsweise im Rahmen der ‚Love-In‘-Sequenz, die eine Zuspitzung des in Blow Up angewandten filmtechnischen Prinzips darstellt, welches im Analyseteil anhand des sexuellen Intermezzos ausgeführt wurde. Der Film verzeichnet dahingehend einen Zuwachs von insgesamt 182 Schnittstellen, was einem relevanten Zuwachs entspricht. Der Großteil der hinzugekommenen Einstellungen verteilt sich auf die Kategorie Long Shot sowie die Nahaufnahmen-Größen. Erstere erreichen dabei mit 204 Einstellungen den Maximalwert im Werk Antonionis, was vor allem auf die Wüste als Handlungsort zurückzuführen ist. So gehen unter anderem mit der Kontaktaufnahme des Protagonisten-Paares zu Land und in der Luft viele weiten Aufnahmen einher. Die long takes erfahren letztendlich auch hier einen Rückgang: Lediglich zwei Einstellungen überschreiten noch die 40 s-Marke. Der letzte im Rahmen der Studie berücksichtigte Film Professione: reporter stellt einen erneuten Bruch im Schaffen Antonionis dar. Die Schnittstellen sinken nun um 379 Einheiten, wobei die Average Shot Length des Films dem in L’avventura ermittelten Wert entspricht. Die Verteilung der Einstellungsgrößen weist ebenso Ähnlichkeiten zu den frühen Filmen auf, wobei auch die long takes wieder Einzug in das Werk des Regisseurs halten. So konnten im Diagramm 23 Plansequenzen, ähnlich der Verfahrensweise der frühen Filme, festgestellt werden, welche in Abgleich mit den Kameradaten eine Rückkehr zum Prinzip der systematischen Kameramobilisierung erkennen lassen. Dementsprechend halbieren sich die statischen Einstellungen beinahe. Letzten Endes sind in Professione: reporter kaum akzelerierende Passagen zu beobachten, lediglich gegen Mitte des Films steigt die Schnittfrequenz stellenweise, wie zum Beispiel im Rahmen der Erschießungssequenz; ebenso findet das Schuss-Gegenschuss-Verfahren deutlich weniger Anwendung. Im Ganzen betrachtet, dominieren also wieder verhältnismäßig lange Einstellungen den Film. In der Skala der Einstellungsgrößen stellen schließlich

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Nahaufnahmen und vor allem auch Long Shots einen großen Anteil dar, wobei letztere unter anderem auf die Repräsentation der südspanischen Landschaft zurückzuführen sind. Die weiten Aufnahmen häufen sich schließlich mit der letzten Autofahrt des Protagonisten-Paares. Fazit  Schlussendlich zeichnen die Daten ein sehr differenziertes Bild der Filme Antonionis. Ihre Entwicklung lässt sich als Ausdruck der Experimentierfreudigkeit des Regisseurs deuten. In Cronaca di un amore und Le amiche führt die auffallend häufige Mobilisierung der Kamera zu zahlreichen langen Einstellungen. In Il grido und L’avventura sind long takes immer noch als häufig vorkommendes Merkmal erkennbar, allerdings zeichnet sich im diachronen Vergleich bereits ab, dass Antonioni durch die Verwendung von Nahaufnahmen andere Formen der Dialoginszenierung erprobt: Das Schuss-Gegenschuss-Verfahren kommt zunächst punktuell zum Tragen, jedoch zieht der Schnitt auch zugunsten der Raumdarstellung beziehungsweise der Repräsentation der Außenlandschaften in die Filme ein, was sich durch den parallelen Anstieg an Long Shots in beiden letztgenannten Werken abzeichnet. Mit La notte standardisiert Antonioni das Schuss-Gegenschuss-Verfahren. Dadurch rückt die mobile Kamera zunehmend in den Hintergrund. Kürzere statische Einstellungen, die in komplexere Schnittrhythmen eingebunden sind, nehmen einen höheren Stellenwert ein. Der Film dürfte einen Wendepunkt darstellen, was die stufenweise Priorisierung des Montageprinzips in Antonionis Gesamtwerk anbelangt. Sie intensiviert sich weiter in L’eclisse und erreicht in Zabriskie Point ihren Höhepunkt. Bis La notte scheint Antonioni die richtige ‚Dosierung‘ des Schnitts in der Konstruktion seiner Filme zu suchen, ohne von den langen Einstellungen größeren Abstand zu nehmen. Doch in den darauf folgenden Werken verlagert er seinen Fokus: Die Einstellungen werden kürzer und statischer, wobei nun die long takes eine nebensächliche Rolle spielen und ein anderes Präferenzmuster ermittelt werden konnte. Seymour Chatman schreibt dahingehend treffend: „The camera still prowls through the tetralogy but not to the extent that it did in the earlier films. The evolution of Antonioni’s style reverses that of film history in general, becoming less rather than more systematically mobile“ (1985, S. 117). Kommt der Montage in L’eclisse eine dramatisierende beziehungsweise expressive Funktion zu, setzt sich dies anhand handlungsorientierter Akzelerierungen wie beispielsweise in Il deserto rosso fort. Die Vielzahl der Nah- und Weit-Aufnahmen in beiden Filmen verdeutlicht außerdem, wie sich Antonioni mit den Schnittstellen beziehungsweise den hinzugekommenen Einstellungen ein größeres Spielfeld für die Raumdarstellung schafft. Auch setzen die reflexiven Konzepte, vor allem in Blow Up und Zabriskie Point, den vermehrten Einsatz der Montage voraus. Der von MGM finanzierte Zabriskie Point etwa nähert sich in seiner durchschnittlichen Einstellungsdauer dem von Salt ermittelten ‚Hollywood-Schnitt‘ – auch deswegen, weil er die Sehgewohnheiten der Zuschauenden ‚von innen durchläuft‘, wie zum Beispiel im Zuge des Werbespots. Antonioni erzeugt einen Rausch der Bilder, der sich in der visuellen Kultur Amerikas im Hollywood-Stil konkretisiert, um das geschaffene Universum der Simulakren letzt-

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endlich symbolisch zu sprengen und somit einen naturbetonten Status Quo herzustellen (vgl. Korte 2010, S. 95 ff.). Letztlich findet Antonioni – entgegen des beschleunigenden Trends – allerdings zu einem ruhigeren Rhythmus zurück, der den Filmen vor L’eclisse entlehnt zu sein scheint. War Zabriskie Point gewissermaßen eine ‚Überdosierung‘ des Schnittprinzips zu eigen, zelebriert er im darauf folgenden Professione: reporter die Mise-en-Scène betonende Inszenierungsweise mit einer über sechs Minuten andauernden Mobilmachung der Kamera. Jener erneute stilistische Bruch verdeutlicht die Offenheit Antonionis gegenüber dem Experimentieren mit einem ganzen Spektrum von Repräsentationsmöglichkeiten, welches sich über sein gesamtes Schaffen erstreckt. Alles in allem war es am Leitfaden des Salt’schen Paradigmas möglich, tiefgreifende Veränderungen im Gesamtwerk Antonionis zu ermitteln, die zuvor in einschlägigen Arbeiten noch nicht erforscht wurden. Abb. 25 veranschaulicht noch einmal die schrittweise Abnahme und den Wiederanstieg der durchschnittlichen Einstellungslängen in den Filmen von 1950–1975. Die orange Linie zeigt demnach die Häufigkeit aller gemessenen Einstellungen mit einer Länge über 30 s an, während die blauen Balken die Anzahl der Einstellungen indizieren. Deutlich zu erkennen ist, wie mit einem Rückgang längerer Einstellungen eine Zunahme an Schnittstellen einhergeht. Wurden long takes in der Forschung häufig als stilistisches Charakteristikum Antonionis aufgeführt, so zeigt die Grafik deutlich, wie relativ dieser Begriff ist. Dem Begriff des long takes kommt in den unterschiedlichen Schaffensphasen Antonionis eine jeweils andere Bedeutung zu. So variiert deren Dauer von einer maximalen Einstellungslänge von 3 min in Cronaca di un amore bis hin zu knapp über 30 s in Zabriskie Point, was wiederum einer durch-

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0

0 Cronaca di un Le amiche Il grido (1957) L'avventura amore (1950) (1955) (1960) Einstellungen insgesamt

La noe (1961)

L'eclisse (1962)

Il deserto rosso (1964)

Blow-Up (1966)

Zabriskie Professione: Point (1970) reporter (1975)

Einstellungen über 30 Sekunden (long takes)

Abb. 25   Historische Entwicklung der Anzahl langer Einstellungen (in Orange) im Verhältnis zu der jeweiligen Gesamtzahl an Einstellungen (in Blau) im Werk Antonionis. (© Sittel)

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schnittlichen Einstellungslänge in Ersterem entspricht. In diesem Kontext gewährleistet die Messbarkeit der jeweiligen Einstellungslängen eine präzisere intersubjektive Kommunizierbarkeit mit Blick auf die Wahrnehmung eines bestimmten filmästhetischen Phänomens. Basiert die hier durchgeführte Untersuchung primär auf Auszählungen sowie dem Abgleich der Grafiken mit dem Videomaterial, wären allerdings statistische Analysen notwendig, um die festgestellten Muster mathematisch zu unterfüttern (und so zu einer tatsächlichen Validierung der Hypothesen zum Stilwandel Antonionis beizutragen). Die Verfahrensweise innerhalb der Studie kann daher als ad-hoc-Lösung der noch jungen Methodik des Fachs verstanden werden. Exemplarische Filme aus Europa 1964–69 (Quelle: Cinemetrics) 1) Höherer ASL-Wert als Blow Up (1966, ASL 10,2) = langsameres Schnitt-Tempo Warum läuft Herr R. Amok? (BRD 1969, Rainer Werner Fassbinder), ASL: 156,5 Gertrud (DK 1964, Carl Theodor Dreyer), ASL: 82,4 Katzelmacher (BRD 1969, Rainer Werner Fassbinder), ASL: 38,6 Persona (SWE 1966, Ingmar Bergman), ASL: 33,9 Masculin, féminin: 15 faits précis (Masculin – Feminin oder: Die Kinder von Marx und Coca-Cola, F/SWE 1966, Jean-Luc Godard), ASL: 28,2 Controsesso (Countersex, F/I 1964, Renato Castellani, Marco Ferreri, Franco Rossi), ASL: 24,5 Belle de Jour (Belle de jour – Schöne des Tages, F 1967, Luis Buñuel), ASL: 22,3 …a pátý jezdec je Strach (Der fünfte Reiter ist die Angst, CS 1965, Zbyněk Brynych), ASL: 18 Playtime (Tatis herrliche Zeiten, F/I 1967, Jacques Tati), ASL: 17,7 La chinoise (Die Chinesin, F 1967, Jean-Luc Godard), ASL: 15,9 2) Niedrigerer ASL-Wert als Blow Up (1966, ASL 10,2) = schnelleres Schnitt-Tempo Le samouraï (Der eiskalte Engel, F/I 1967, Jean-Pierre Melville), ASL: 10,1 Modesty Blaise (Modesty Blaise – Die tödliche Lady, GB 1966, Joseph Losey), ASL: 9,4 Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben, GB/USA 1964, Stanley Kubrick), ASL: 8 Fellini – Satyricon (Fellinis Satyricon, I/F 1969, Federico Fellini), ASL: 7,2 Il Vangelo secondo Matteo (Das 1. Evangelium – Matthäus, I/F 1964, Pier Paolo Pasolini), ASL: 7,1 The Devil Rides Out (Die Braut des Teufels, GB 1968, Terence Fisher), ASL: 6 L’homme qui ment (Der Mann, der lügt, F/I/CS 1968, Alain Robbe-Grillet), ASL: 5,7 De valse noot (The False Note, B 1963, Raoul Servais), ASL: 4,8 Per un pugno di dollari (Für eine Handvoll Dollar, I/GB/BRD 1964, Sergio Leone), ASL: 4,5 Goldfinger (James Bond 007 – Goldfinger, GB 1964, Guy Hamilton), ASL: 4,4 The Italian Job (Charlie staubt Millionen ab, GB 1969, Peter Collinson), ASL: 4 …A Valparaiso (…nach Valparaiso, CL/F 1963, Joris Ivens), ASL: 3,7

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3 Theorien der neoformalistisch-kognitivistischen und der quantitativen Analyse im Vergleich Michael Brodski und Julian Sittel Beide Filmtheorien verbindet die Ablehnung der traditionellen Methodik akademischer Filminterpretation. Sowohl Salt als auch Bordwell kritisieren die Praxis des Deutens von Botschaften, die am Leitfaden des jeweiligen Interpretationsmodells vorbestimmt werden – ähnlich einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Vor dem Hintergrund eines kommunikationstheoretischen Modells aus Sender, Medium und Empfänger kann schließlich niemals von einer Deckungsgleichheit zwischen der Art und Weise, wie der Film seine Botschaften verschlüsselt und wie die hermeneutische Methode diese wiederum entschlüsseln will, ausgegangen werden. Der Film und seine Aussagen sind so als willkürliches Erzeugnis eines ebenso austauschbaren Rahmens zur Strukturfindung zu betrachten, der immer nur „rezeptbuchartige Lesarten“ (Hartmann und Wulff 1995, S. 11) hervorbringt. Die dieser Verfahrensweise zu eigene Missverständlichkeit soll im Sinne Bordwells durch den Bezug auf erfahrungswissenschaftliche Grundlagen der menschlichen Informationsverarbeitung umgangen und im Sinne Salts durch die Erfassung von Daten zur Inszenierung des Films ersetzt werden. Auch hierbei schaffen allerdings nur messbare, quantitative Variablen eine intersubjektive Vergleichbarkeit im Sinne der Erfahrungswissenschaften. Sind Ergebnisse der Psychologie in Bordwells Konzept aufgrund der nicht vorgesehenen experimentellen Unterfütterung eher ein alternativer Leitfaden zur Analyse eines Films, basiert Salts Methode auf einem reduktionistischen Prinzip, welches die vollständige Rückführbarkeit aller Filmdaten auf einen Theoriesatz voraussetzt. Trotz der strikten Abgrenzungen von interpretativen Verfahren weist Bordwells ‚Film-Kognitivismus‘ eine große Nähe zu deren methodologischen Mechanismen auf. Auch seine Vorgehensweise mündet in die häufig detailgenaue Segmentierung, Klassifizierung und somit letztlich Textualisierung von filmischen Abläufen. Die theoretischen Grundlagen sorgen dabei jedoch für einen strukturellen Zusammenhang stilistisch ähnlicher Filme. Anstelle des in sich geschlossenen Filmtextes, den die hermeneutische Praxis erzeugt, entwirft die kognitivistische Perspektive einen filmübergreifenden Text (vgl. Bordwell 1992). Dieser entfaltet nur in Verbindung mit einem System von Normen seine Wirkung. Bordwell konzipiert das Verhältnis zwischen Zuschauenden und Film also primär auf Grundlage der logischen Folgerichtigkeit der Filmhandlung sowie denen mit der Filmrezeption einhergehenden Lernprozessen des Publikums. So verknüpfen Ansätze der kognitiven Filmtheorie perzeptive, kognitive sowie emotionale Reaktionen zu einem zusammenhängenden Modell der Filmerfahrung. Allgemeine kulturelle Vorprägungen und die Prämisse, dass diese in der Handlung des Films thematisiert werden, spielen dabei eine untergeordnete Rolle. Ein Beispiel: In der whodunit-Erzählung liegt die kriminalistische Leitfrage in der Aufdeckung der Identität eines Mordenden, was zugleich den logischen Dreh- und Angelpunkt der Handlung darstellt. Gezielte Hinweise

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(die beschriebenen cues) animieren die Zuschauenden dazu, erklärende Hypothesen zur genannten Leitfrage zu bilden. Diese werden im Verlauf des Films entweder verifiziert oder falsifiziert. Dabei erfolgt der Prozess der Hypothesenbildung nicht zuletzt auf Basis der Erfahrungen mit den erzählerischen Konventionen des Kriminalfilms, sozusagen einem Maßstab zur Antizipation des Handlungsverlaufs (vgl. Bordwell 1985a, 1989, 1992). Dieser Import von Prinzipien aus der Kognitions- und Wahrnehmungspsychologie zur feingliedrigen Einzeluntersuchung, wie sie Bordwell etwa am Beispiel von Mildred Pierce (Michael Curtiz, USA 1945) umsetzt (vgl. Bordwell 1992), förderte letzten Endes ein alternatives Verständnis von Filmanalyse, das auch außerhalb des Kernfachs Beachtung fand – zum Beispiel im Rahmen psychologischer Studien zur Filmwahrnehmung (vgl. Berliner und Cohen 2011; Cutting et al. 2011; Magliano und Zacks 2011; Germeys/d’Ydewalle 2007; und viele weitere). Im Gegensatz zu Bordwell verzichtet Salt in Rahmen seiner practical film theory auf eine Definition des Verhältnisses zwischen Zuschauenden und Film, was wohl der wissenschaftlich-realistischen Grundierung der Theorie geschuldet ist. Demnach kann nur über die Messung von quantitativen Größen wie den Einstellungslängen, die sich über genau bestimmte mathematische Regelsysteme miteinander vergleichen lassen, Erkenntnis über das Forschungsobjekt erlangt werden. Diese eindimensionale Vorgehensweise birgt jedoch den Vorteil, dass im Gegensatz zur Hermeneutik ein Kommunikationsraum entsteht, in dem Codierungs- und Decodierungssystem im Rahmen der Analyse übereinstimmen. Ungeachtet der subjektiven Wahrnehmung einer Schnittsequenz, lässt sich so eine kommunikative Übereinstimmung erzeugen, die auf einem unmissverständlichen Ergebnis in Form eines Zahlenwertes basiert. Auch übernimmt Salt die in der Erfahrungswissenschaft übliche strikte Trennung zwischen Theorie und Empirie, während sich im Rahmen des ‚hermeneutischen Zirkels‘ die theoretische Grundlage stets im Einzelfall konkretisiert und umgekehrt (vgl. Kjørup 2001, S. 83 ff.). Dass demnach immer apriorische, lediglich aus einer Denknotwendigkeit entstandene Aussagen über die Publikumsaktivität getroffen werden, sieht Salt als ein Kernproblem gängiger Filmtheorien. Er verortet die Rezeptionsforschung jenseits des filmwissenschaftlichen Betätigungsfeldes und weist diese bewusst als Lücke seines Theoriegebildes aus; lediglich die Neurowissenschaft ist in der Lage, die Publikumsaktivitäten hinreichend zu erforschen. Aus diesem Grund handelt es sich bei Salts Paradigma im Kern um eine Umkehr der jeder filmtheoretischen Ausarbeitung zu eigenen Verbindung zwischen Film und Publikum. Dabei steht das Verhältnis zwischen Filmemachenden respektive Produktionsinstanz und Werk im eigentlichen Fokus der Auseinandersetzung. Zur Realisierung dessen stellen zum Beispiel Produktionsbedingungen innerhalb eines Filmstudios, die allgemeine technologische Entwicklung oder die Migrationsgeschichte der Filmemachenden eine wichtige historische Vergleichsfolie dar, um die ermittelten Werte zu interpretieren. Das von Salt in seinen beiden Schlüsselwerken zur quantitativen Filmanalyse maßgeblich vorangetriebene Konzept erweist sich dahingehend auch als fruchtbarer Nährboden des interdisziplinären Austauschs, da die Daten in einem anderen fach-

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lichen Zusammenhang interpretiert werden können. So beschäftigt sich der Psychologe James Cutting (vgl. Cutting et al. 2010) mit einem in menschlichen Reaktionszeiten (und vielen weiteren Naturprozessen) nachgewiesenen spektralen Muster, das als 1/f bekannt ist (pink noise). Cutting zufolge sind Filmaufnahmen so gestaltet, dass sie die Aufmerksamkeit einfangen und fokussieren, wobei im Schnittprozess Einstellungsmuster und Rhythmen entworfen werden, die eine visuelle Dynamik erzeugen sollen, damit das Publikum der Erzählung besser folgen kann. Cuttings Studie hat gezeigt, dass sich die Struktur von Filmeinstellungen – parallel zur von Salt festgestellten Tendenz – in Richtung des 1/f-Spektrums entwickelt hat. Das mathematische Modell zur Beschreibung des Musters konnte zunehmend auch auf die Verteilung von Einstellungslängen angewandt werden, als Ausgangspunkt dienten dabei Stichproben aus Barry Salts Filmdatenbank. Demnach liegt die Vermutung nahe, dass sich der Verstand am leichtesten in einer zeitlichen Kunstform mit dieser Struktur ‚verlieren‘ kann. Das heißt, wenn man die eigentliche Erzählung beiseite lässt, besteht das immersive Potential, also das Eintauchen in einen Film, möglicherweise zum Teil darin, dass man der 1/f-Zeitstruktur erlaubt, den Verstand von außen zu steuern. Ein weiterer Berührungspunkt mit Vertretern der Kognitionswissenschaft eröffnet sich zum Beispiel in den Studien der Psychologen Markus Huff und Stephan Schwan (vgl. Huff und Schwan 2012). In einem Experiment zum spatial updating gehen beide der Frage nach, wie verschiedene durch den Schnitt getrennte Perspektiven im Verlauf einer Szene von Zuschauenden zu einer zusammenhängenden mentalen Darstellung der Situation zusammengefügt werden. Im Zentrum der Versuchsanordnung, welche die Beurteilung der Bewegungsrichtung eines Fahrzeugs zum Gegenstand hatte, stehen dabei zum einen die spatial alignment-, zum anderen die spatial heuristics-Hypothese. Der spatial alignment-Hypothese zufolge legen die Zuschauenden beim ersten Wahrnehmen einer Szene einen Bezugspunkt an, um sich an einem räumlichen Strukturmerkmal (wie zum Beispiel der Position einer Mauer) zu orientieren. Werden sie im Folgenden nach einem Schnitt mit einer anderen Perspektive auf das Geschehen konfrontiert, wird jener Bezugspunkt erneut identifiziert. So kann auf Grundlage eines Vergleichsmaßstabs, der im Gedächtnis gespeichert wird, die gegenwärtige Perspektive der Szene mit der jener vorangegangenen abgeglichen werden. Da sich die Kamera im Rahmen der 180°-Regel (centerline rule) allerdings an bestimmten Achsenverhältnissen entlang des Aufnahmeobjekts ausrichtet, um dessen Bewegungsrichtung der Links-RechtsOrientierung der Zuschauenden anzupassen, prüfen Huff und Schwan eine auf dieser gängigen Inszenierungsform beruhende Verhaltensanpassung der Versuchspersonen. Im Rahmen der spatial heuristic-Hypothese erfolgt die räumliche Einordnung einzelner Perspektiven, solange die Ausrichtung der Kamera der 180°-Regel gehorcht, sozusagen auf Basis des in der Medienerfahrung erlernten Schemas wie es auch die kognitive Filmtheorie voraussetzt. Zusammengefasst deuten die Resultate des Experiments darauf hin, dass die Betrachtenden die Szenen vorzugsweise im Sinne der 180°-Regel interpretieren, anstatt sie am Leitfaden eines Referenzpunktes miteinander abzugleichen. Auch

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bei Konflikten zwischen heuristischer Verarbeitung und dem räumlichen Abgleich wählen die Betrachtenden das Ergebnis der heuristischen Verarbeitung in einem signifikant höheren Maße. Liegt also eine Verletzung der 180°-Regel vor, kommt nicht der räumliche Bezugspunkt zu tragen, sondern viel eher bewirkt das erlernte Schema eine Strukturierung der Situation. Da aufgrund der mittlerweile sehr hohen Schnittfolgen kaum Zeit bleibt, einen solchen Referenzpunkt zu identifizieren, fungiert die Ausrichtung der Kamera an der Wahrnehmung der Zuschauenden als Orientierungshilfe. Durch das Zusammenspiel zwischen centerline rule und spatial heuristic gelingt es der Studie letztlich, einen Aspekt der filmtechnischen Praxis im Sinne Salts mit dem Konzept der durch Automatismen geleiteten Filmwahrnehmung zu verbinden und so einen möglichen diskursiven Ansatzpunkt zu eröffnen. Auch wenn die quantitative Filmanalyse eine fachübergreifende Datenvorlage geben kann, zeigen neuere Arbeiten – wie Nick Redferns Studie zur Anwendbarkeit gängiger mathematischer Modelle zur Auswertung von Filmdaten (vgl. 2015) –, dass das Feld methodisch nicht weit entwickelt ist. Fraglich ist zum Beispiel die Aussagekraft der mit der Normalverteilung in Verbindung stehenden mathematischen Operationen (Standardabweichung, Variationskoeffizient etc.) im Hinblick auf die Verteilung der hier gesammelten Filmdaten. Da die Cinemetrics-Programmatik in erster Linie auf der Arbeit Salts, der für die Gültigkeit der Normalverteilung plädiert, gründet, gibt es im Rahmen der Plattform bislang keine Ausweichmöglichkeit zur Analyse der Beobachtungen. Jenes Modell wurde auch im Zuge dieser Untersuchung nicht auf seine korrekte Anwendung hin geprüft und kann daher lediglich als Demonstration mathematischer Verfahren der Normalverteilung verstanden werden. Allen Zweifel zum Trotz wurden die Beobachtungen im Zuge der Auseinandersetzung stets manuell und im chronologischen Verlauf, also anhand des Schnittdiagramms und der Einzelverteilung der Einstellungsgrößen, abgeglichen und auch filmübergreifend ins Verhältnis gesetzt. Dennoch wäre eine weitere statistische Analyse der Daten zum Werk Antonionis notwendig. Hinzu kommt, dass die bisherige Forschung keinerlei Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den einzelnen Parametern berücksichtigt, was in erster Linie der Tatsache geschuldet ist, dass keine zeitgemäße Software zur praktikablen Erhebung hinreichend differenzierter Datensätze existiert. So ist es beispielsweise im Rahmen einer Analyse mit Cinemetrics meist schwierig zu ermitteln, ob es sich bei einer Einstellung um eine unbewegte oder bewegte Nahaufnahme handelt. Zwei Messdurchläufe mit der nach dem Stoppuhr-Prinzip arbeitenden Software sind nie deckungsgleich, was das Ineinanderblenden zweier Tabellen (in Form von Einstellungslängen und den jeweils zugewiesenen Einstellungsgrößen und -bewegungen) erheblich erschwert. So fällt der Anspruch der Vergleichbarkeit durch genau vergleichbare Zahlenwerte und mathematische Regelsysteme wieder mit dem reinen Augenmaß zusammen, was die Validität vieler bislang durchgeführter Studien in Zweifel zieht. Softwarelösungen, die es ermöglichen, einer Einstellung mehrere Informationsträger zuzuweisen, sind in den meisten Fällen weniger intuitiv bedienbar, was der reibungslosen Datengewinnung gleichermaßen im Wege steht. Die meisten auf Daten basierenden Analysen bleiben deswegen eindimensional,

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obwohl im Zusammenhang zwischen Kameragrößen und -bewegungen ein signifikanter Unterschied zur Feststellung stilistischer Alleinstellungsmerkmale liegen kann. Stellen diese grundlegenden Problembereiche eine große Herausforderung für die Optimierung der zahlenbasierten Stilanalyse dar, zeigt sich der Aufholbedarf auch angesichts des Mangels eines methodenkonformen Tools zur Annotation inhaltlicher Faktoren in Spielfilmen. Neuere Forschungsprojekte lassen allerdings erkennen, dass sich die Erhebung von Filmdaten durch die technische Entwicklung von Algorithmen in Zukunft wesentlich weitreichender und praktikabler gestaltet. Trotz unterschiedlicher methodischer Herangehensweisen präsentieren schlussendlich beide Filmtheorien durchaus miteinander kompatible Ergebnisse. Deshalb können die kognitive Filmtheorie sowie Salts Methode der Datenerhebung beim wissenschaftlichen Arbeiten voneinander profitieren und sich ergänzen. Salts Konzept untersucht die Form des Films unabhängig von ihrer Wahrnehmung durch die Zuschauenden, während im Rahmen der kognitiven Filmtheorie gezielt nach inszenatorischen sowie narrativen Normabweichungen gesucht wird, da deren Grundlagen eine emotionale beziehungsweise kognitive Aktivierung der Zuschauenden nahelegen. Damit einhergehend existieren wichtige Unterschiede bei der Anwendung beider Ansätze, wie auch anhand der Analyse von Blow Up ersichtlich wurde. Interessanterweise führen diese jedoch dabei oftmals zu ähnlichen Erkenntnissen: So kann anhand beider Vorgehensweisen eine durch den Film produzierte epistemologische Unsicherheit ermittelt werden, die von der Hauptfigur auf die Filmrezipierenden übertragen wird. Anhand der Schlusssequenz im Park, in der Thomas bei dem pantomimenhaften Tennisspiel partizipiert, konnte mittels einer neoformalistischen Analyse durch das Abgleichen der Perspektivierungen einzelner Aufnahmen eine wahrnehmungsgebundene Mehrdeutigkeit aufgezeigt werden. Diese entsteht durch eine nicht vollständig aufschlüsselbare Zuordnung zwischen subjektiver Figurensicht, objektiver Mimesis oder selbstreflexivem Regie-Eingriff. Eine derartige Unsicherheit kann im Rekurs auf emotionstheoretische Zugänge an ein lyrisch-assoziatives Empfinden der Rezipierenden zurückgeführt werden. Im Rahmen einer epochenspezifischen Zuordnung kann dieses Merkmal als typisch für das Art Cinema beschrieben werden. Im Rahmen der quantitativen Analyse konnte dazu ergänzend herausgestellt werden, wie Antonioni die Montage als bedeutungsgenerierende Instanz in sein Werk einbindet. Demnach weisen die Sequenzen gegen Ende des Films vermehrt eine solche handlungsorientierte Beschleunigung der Montage auf, um die kriminalistische Leitfrage des Films vorübergehend aus dem Fokus der Zuschauenden zu rücken und zu verzögern. Damit schafft Antonioni weitere Knotenpunkte in der Argumentationsstruktur des Films, welche die Frage nach den Prinzipien der Konstruktion des Films und deren Wahrnehmung durch das Publikum vertieft. Dieses in der zweiten Hälfte dominante Merkmal wurde in vordigitalen, primär textbasierten Analysen angedeutet, konnte durch den auf Messdaten der Einstellungslängen basierenden Einblick in die interne Dynamik des Films jedoch in die hermeneutische Deutung integriert werden. Der über die Erfassung der Ein-

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stellungslängen erzeugte Blick in die interne Dynamik zeigt so auch sein Potential, um in Ergänzung zu bisherigen qualitativen Lesarten neue Forschungsfragen zu formulieren.

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Theorien der diskursiven Analyse Gregory Mohr und Oksana Bulgakowa

1 Psychoanalyse Gregory Mohr Das Interesse an der Psyche des Menschen schlägt sich bereits in den Erzählungen der Romantik nieder. Die Kindheit wird darin als traumatischer Ort beschrieben, die Familie als Nährboden inzestuöser Konflikte, der Wahnzustand als Ausdruck einer gespaltenen Wahrnehmung (oder einer Ich-Dissoziation in eine Tages- und eine Nachtseite). Was die Aufklärung hervorgebracht hat: das freie Subjekt, es verliert zunehmend seine Identität und Handlungsfreiheit. Vorreiter der Psychologie in jener Zeit sind der Arzt Franz Anton Mesmer, der im Rahmen seiner Heilmethode (Mesmerismus) Hypnosetechniken einsetzt und dessen Arbeiten eine beachtliche Popularität in der Öffentlichkeit erfahren, oder der Naturforscher und Philosoph Gotthilf Heinrich Schubert, der im frühen 19. Jahrhundert sein einflussreiches Hauptwerk Die Symbolik des Traums (1814) veröffentlicht. Diese frühen Vertreter postulieren eine Psychologie, die sich stark am pathologischen Fall orientiert. Dies ändert sich als der Wiener Neurologe Sigmund Freud (1856–1939) im ausgehenden 19. Jahrhundert die Psychoanalyse begründet und die These vertritt, dass das Subjektverhalten von Trieben bestimmt wird und diese Triebe in jedem Menschen wohnen. Im Jahr 1895 publiziert Freud gemeinsam mit Josef Breuer die Studien über Hysterie (1970), die als Gründungstext der Psychoanalyse betrachtet werden. Vier Jahre G. Mohr (*)  Bornheim, Deutschland E-Mail: [email protected] O. Bulgakowa  ehemals Johannes Gutenberg-Universität, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Bulgakowa und R. Mauer (Hrsg.), Angewandte Filmtheorie, Film, Fernsehen, Neue Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41089-6_7

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später folgt sein epochales Werk Die Traumdeutung (1899/2007), in dem Freud die Zusammenhänge zwischen Träumen und den persönlichen Lebensgeschichten herausstellt und das sich damit grundlegend von vorherigen Texten zur Traumforschung unterscheidet. Die Analyse dieser Träume beschreibt Freud als den Königsweg zu jenem Phänomen, das er als das Unbewusste bezeichnet.

1.1 Sigmund Freuds topographisches Modell der Psyche In seinem topografischen Modell unterteilt Freud die menschliche Persönlichkeit in das Bewusste, das Vorbewusste und eben jenes Unbewusste. Das Bewusste besteht aus Gedanken und Wahrnehmungen, aus Inhalten, die nach Belieben in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt und wieder beiseite gelegt werden können. Gedächtnisinhalte, auf die das Bewusstsein nicht sofort zugreifen kann, die aber durch das Suchen nach Zusammenhängen oder durch das Rekonstruieren von Erinnerungen wieder relativ leicht zugänglich gemacht werden können, ordnet Freud dem Vorbewussten zu. Das Unbewusste hingegen entzieht sich dem willkürlichen Zugriff. Es ist vielmehr ein Ort archaischer Trieb- und Wunschvorstellungen, an dem sich zum Beispiel selbstsüchtige Bedürfnisse, Ängste, unmoralisches sexuelles Begehren oder gesellschaftlich inakzeptable Wünsche manifestieren – ein System bestehend aus der (Ur-)Verdrängung abgewehrter Triebrepräsentanzen, die aber dennoch, auch ohne bewusste Aktivierung, handlungswirksam werden, indem sie sich dem Bewusstsein des Individuums in Träumen symbolisch mitteilen. Die Aufgabe des Psychoanalytikers oder der Psychoanalytikerin liegt dann darin, die sich in Träumen artikulierenden Partikel des Unbewussten zu identifizieren und darüber Rückschlüsse auf die tiefenpsychologische Verfasstheit des jeweiligen Analysanden oder der Analysandin zu ziehen. Der Traum, an den man sich nach dem Aufwachen erinnert, wird von Freud als manifester Traum bezeichnet. Dahinter verbirgt sich jedoch ein unbewusster, kaschierter Wunsch, der sich im Traum zu vermitteln versucht, weil er es in der Alltagswirklichkeit aufgrund von Verdrängungsmechanismen nicht vermag. Dabei handelt es sich um latente Traumgedanken, deren Entschlüsselung bei der sogenannten Traumarbeit im Vordergrund steht. Seine Erkenntnisse bezeichnet Freud in den 1916 und 1917 veröffentlichten Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse als die dritte, aber empfindlichste Kränkung des überbordenden menschlichen Egos nach Kopernikus‘ heliozentrischem Weltbild und Charles Darwins evolutionsbiologischen Erkenntnissen. Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche Größensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht. (1998b, S. 295)

Das Ich wird vom Unbewussten beeinflusst und muss mit zwei weiteren Instanzen konkurrieren, die Freud als Über-Ich und Es bezeichnet und die er in seinem Struktur-

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Abb. 1   Freuds Topografisches Modell, auch Eisberg-Modell genannt, visualisiert die drei Teile der Persönlichkeit und verdeutlicht, dass sich ein Großteil unterhalb der Oberfläche befindet, der aber einen starken Einfluss auf das menschliche Handeln hat. Die Wellenbewegungen auf der Wasseroberfläche demonstrieren den Stellenwert des Vorbewussten zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit. Fügt man die drei psychischen Instanzen hinzu, wird zudem die Einflussnahme des Es und des Über-Ichs deutlich. (© Mohr/Maisenbacher)

modell (Abb. 1) visualisiert. Das Ich vertritt die Persönlichkeit des Individuums gegenüber seiner sozialen Umwelt, steht dabei aber ständig unter dem Einfluss der Forderungen und Ansprüche der beiden anderen Instanzen. Bestehend aus fortwährend wirksamen Trieben, ist das Es als ein Prozess zu verstehen, der den obsessiven Trieben des Unbewussten rigoros Befriedigung verschaffen will. „Das Es diskutiert nicht und überlegt nicht, kennt keine Werte und Regeln, beachtet weder Verstand noch Logik. Es ist pure Begierde.“ (de Bergh 2005, S. 58) Diese Triebe können sich in Träumen äußern, durch Verdrängungsprozesse abgewehrt, zeitweise ungefiltert ausgelebt oder durch Sublimierungsprozesse in sozial wie kulturell akzeptiertes Verhalten umgeleitet werden. Das Über-Ich impliziert Werte und Normen, die durch die Sozialisation erworben wurden. Trotz seiner prinzipiell sozialen Ausrichtung darf das Über-Ich keineswegs als in seiner Natur ausschließlich wohlwollend verstanden werden. Vielmehr ist es ebenso rücksichts- und kompromisslos bei der Verwirklichung seiner Ideale wie das Es. Dabei versucht das Über-Ich, das Subjektverhalten in eine Deckungsgleichheit mit seinem Idealbild zu überführen. Seine kontrollierende Strenge gleicht einer moralischen Zensur und bewirkt belastende Gewissenskonflikte und Schuldgefühle. Die Annahme, dass Es und Über-Ich jeweils immer nur in eine Richtung und – setzt man

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die beiden in Verbindung – in entgegengesetzte Richtungen streben, ist falsch. Vielmehr wirken sie für sich genommen bereits in sehr viele unterschiedliche Richtungen, was wiederum bewirkt, dass bestimmte Verhaltensmuster, Handlungen oder Gefühle gegenüber Mitmenschen von ein und demselben Individuum teils mit kontrastierenden Empfindungen belegt werden können. Das Ich fühlt sich permanent den Einwirkungen der beiden anderen Instanzen ausgesetzt. Es versucht, diese auszubalancieren und mit den eigenen Wünschen sowie den Einflüssen und Forderungen seiner sozialen Umwelt in harmonischen Einklang zu bringen, was trotz aller Anstrengung oftmals misslingt. Triebe werden als ein psychischer Vorgang, dem ein innerer Drang mit Zielabsicht innewohnt, erklärt. Durch den Ausgangspunkt (Triebquelle) entzündet sich ein innerer Spannungszustand (Drang), der sich auf ein Objekt (Triebobjekt) bezieht. Die Aufhebung dieses Spannungszustandes ist das Triebziel, das bei Erreichen schließlich zur Triebbefriedigung führt. Doch „ein Trieb kann nie Objekt des Bewusstseins werden, nur die Vorstellung, die ihn repräsentiert“ (Freud 1998a, S. 275). Da das Wesen des Triebes dem Urverdrängten angehört und daher lediglich seine Vorstellungen (Triebrepräsentanzen) offenbart werden, handelt es sich beim Trieb im Grunde um etwas Unerreichbares. Er bleibt eine kontinuierlich fließende, aus dem tiefsten Inneren (und nur von dort) wirkende Kraft. Bei der Triebkategorisierung greift Freud auf zahlreiche Gegensatzpaare zurück: Lebens- und Todestrieb, Sadismus und Masochismus oder Voyeurismus und Exhibitionismus. Die Triebe wirken in jedem Individuum, wenn einer von ihnen allerdings zu dominant wird und sich zu stark von seinem Gegenstück emanzipiert, kann der Trieb ein pathologischer werden. Insbesondere im filmwissenschaftlichen Kontext scheint der Voyeurismus von großer Bedeutung. Der Begriff beschreibt das heimliche Beobachten einer unwissenden Person. Verbunden ist der Voyeurismus mit einer Luststeigerung und -befriedigung, die die reine Schaulust übersteigen. Er wird krankhaft, wenn sein Zwang zu einem dauerhaften wird, der zu schweren Beeinträchtigungen des sozialen Lebens und zu Kontrollverlust führt. Ein weiterer bedeutsamer Begriff des Freudschen Vokabulars ist der Ödipuskomplex. Der Terminus bezieht sich auf die Gestalt des Ödipus aus der griechischen Mythologie. Laut Freud durchläuft jedes männliche Kind in seiner Entwicklung eine ödipale Phase, in der es seine Mutter begehrt und der Vater zu einem Konkurrenten wird. Der Wunsch, sich mit dem Vater zu versöhnen, führt zur Anerkennung des Vaters und zur Beilegung der Rivalität. Die Überwindung der ödipalen Phase ist elementar für die Ausprägung des Gewissens, für Schuldgefühle und Rechtsempfinden und damit für die Ausbildung des Über-Ichs. Die ödipale Phase darf dabei keineswegs ausschließlich sexuell konnotiert verstanden werden. Vielmehr steht sie stellvertretend für sämtliche Formen des Genusses und gleichzeitig als Synonym und Ausgangspunkt für die Gesamtheit ambivalenter Wünsche. Das Äquivalent in der weiblichen Entwicklung wird als Elektrakomplex bezeichnet, allerdings wurde der Begriff erst Jahre später vom Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung (1875–1961) geprägt. Jung war ein Schüler Freuds, überwarf sich später allerdings mit ihm, weil er zunehmend von seinem Lehrer abweichende Ansichten und Konzepte verfolgte. Die

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Präzisierung dieser Divergenzen wäre an dieser Stelle nicht zuträglich. Zu Jungs zentralen Begriffen gehört die Persona, die die nach außen sichtbare und an die soziale Umwelt angepasste Verkörperung des Ichs bezeichnet. Ihren Gegenpol stellt der Schatten dar, in dem sich jene Verhaltensweisen versammeln, die den allgemeinen Normen und Werten der sozialen Umwelt nicht entsprechen. Die tiefste aller psychischen Schichten bezeichnet Jung als das kollektive Unbewusste. Er versteht darunter ein überpersönliches und daher universelles Konstrukt im Bereich des Unbewussten, das nicht erworben wird, sondern angeboren ist. Als Archetypen wiederum werden von Jung die funktionalen Bestandteile des kollektiven Unbewussten aufgefasst. Sie sind ein archaisches Erbe, das in sämtlichen Persönlichkeiten, kultur- und sozialisationsunabhängig, existiert. Sie beschreiben unveränderliche anthropologische Konstanten, die in allen Menschen ähnliche Assoziationen auslösen. Beispiele hierfür wären der Mutter-, der Kindoder der Heldenarchetyp, aber auch Bilder und Motive können einen archetypischen Charakter aufweisen. Vor allem in einigen dramaturgischen Konzepten kann eine starke Fokussierung auf Jungs Archetypen beobachtet werden. Joseph Campbells The Hero with a Thousand Faces (1949), Christopher Voglers The Writer’s Journey: Mythic Structure for Storytellers and Screenwriters (1992) oder Michaela Krützens Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt (2004) stützen sich in der Beschreibung ihrer Figurenentwürfe ausdrücklich auf Jungs Archetypenkonzept.

1.2 Jacques Lacans strukturalistische Psychoanalyse Freuds Ausführungen wurden in der Folge von zahlreichen weiteren Psychoanalytiker*innen aufgegriffen, weiter- und umgedacht. Der Theoretiker, der den psychoanalytischen Diskurs im Rahmen der Geistes-, Kunst- und Kulturwissenschaften am stärksten beeinflusst hat, ist Jacques Lacan (1901–1981). Er lebte und lehrte in Paris und war der Begründer der so genannten strukturalen Psychoanalyse. Andere Stimmen der Psychoanalyse waren zwar sehr an seinen Ausführungen interessiert, hielten sie für die psychologische Praxis aber für zu radikal respektive nicht anwendbar. Die Psychoanalyse ist in ihren Grundfesten vielmehr therapeutische Methode als theoriebasierte Wissenschaft, erfuhr aber durch Lacan eine zunehmend ungegenständliche Behandlung. Grundsätzlich interpretierte Lacan die Freudschen Methoden neu und kombinierte sie unter den Vorzeichen des linguistic turn mit den strukturalistischen Theorien des Linguisten Ferdinand de Saussure. Dabei nimmt Lacan eine Neuformulierung der psychoanalytischen Modelle Freuds aus einer zeichentheoretischen Perspektive vor. Ein ganz wesentlicher Aspekt des Lacanschen Denkens weicht dabei grundsätzlich von den Freudschen Konzepten ab. Primärvorgänge beschreiben bei Freud sämtliche Prozesse des Unbewussten, die zunächst die Kindheit erfüllen, sich später aber lediglich noch in Träumen oder Fantasien zu artikulieren vermögen. Das Leben nach der frühkindlichen Phase wird von Sekundärvorgängen dominiert, also von Prozessen, die durch das ÜberIch zensiert werden und dabei eine an die Anforderungen der Lebenswirklichkeit aus-

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gerichtete Beziehung zwischen dem Vorbewussten und dem Bewusstsein generieren. Primär- und Sekundärvorgänge sind bei Freud strikt voneinander getrennt, wobei er die Sprache eindeutig den Sekundärvorgängen zuordnet. Lacan jedoch verweist analog zu de Saussure auf die Sprache als ein System aus Signifikanten (dem Bezeichnenden) und Signifikaten (dem Bezeichneten). Ein sprachliches Zeichen besteht aus einer Inhaltsseite beziehungsweise einem Vorstellungsbild (Signifikat) und einer dazugehörigen Ausdrucksseite (Signifikant). Das heißt schließlich, dass jede Verwendung von Sprache auf ein System rekurriert, das sich nicht erst durch den sprachlichen Ausdruck konstituiert, sondern bereits auf der Ebene der Signifikate (der Vorstellungen) existieren muss. Einer der prägnantesten Aphorismen Lacans lautet, „dass das Unbewußte wie eine Sprache strukturiert ist“ (1996, S. 213). Lacan zeigt, dass bereits unbewusste Primärprozesse von Sprache gestaltet werden. „In einem zweiten Schritt stellt er dar, daß auch der Sekundärprozeß, das rationale, zielgerichtete Denken, seinem Wesen nach unbewußt ist“ (Widmer 1997, S. 40) und das Subjekt keinesfalls die uneingeschränkte Herrschaft über das Sprechen besitzt. Vielmehr betrachtet Lacan das sprechende Subjekt als eines der Sprache unterworfenes. Da die Sprache im Unbewussten grundiert ist, wirkt das Unbewusste in jedem Sprechakt nach außen, wodurch es der Deutung zugänglich wird. Die von Roman Jakobson geprägten sprachlichen Primärprozesse, Metapher (Verdichtung) und Metonymie (Verschiebung), betrachtet Lacan als grundlegende, bedeutungsschaffende Prozesse des Unbewussten. Die durch die Sprache geformte symbolische Ordnung liegt jeder Existenz voraus, ihre Annahme konstituiert das Subjekt und dies geschieht im sogenannten Spiegelstadium. Das Kind begegnet im Spiegelstadium (imaginäre Phase) seinem Spiegelbild und nimmt sich dabei erstmals als komplette und autonome Einheit wahr. Wurde der Körper zuvor nur fragmentarisch aus der Leibperspektive wahrgenommen, so sieht sich das Kind nun als ein vollkommenes Ganzes. Allerdings an einem Ort, an dem es sich nicht befindet – dem Spiegelbild. Dieser Anblick verleiht dem Kind zunächst eine Herrschaft über das Selbst und über den Blick im Allgemeinen, der aber nur illusorisch ist. Das Kind erkennt, dass es auch von anderen gesehen werden kann; und damit beginnt ein Den-Anderen-Gefallen-Wollen. Aber noch viel wichtiger: Der Andere im Spiegel (also das Spiegelbild) ermöglicht erst die Wahrnehmung des eigenen Ichs. Und dabei kommt es zur Spaltung des Subjekts in das idealisierte Spiegel-Ich (moi) und das soziale Ich (je). Durch die Spaltung entsteht ein Mangel, der irreduzibel, also unaufhebbar bleiben wird. Dieser Mangel wiederum löst das Begehren aus, was im Grunde eines nach der Wiederherstellung einer vollkommenen Einheit des Subjekts ist, die ebenfalls unerreichbar bleibt; daher ist das Begehren unstillbar. Den Motor des Begehrens bezeichnet Lacan als Objekt a. Es entsteht durch die im Spiegelstadium sich vollziehende Trennung und treibt das Begehren dazu an, tätig zu werden. Das Individuum versucht, es wenigstens temporär zu befriedigen oder den Druck, der vom Mangel ausgeht und sich im Begehren artikuliert, zu lindern. In der Folge richtet sich das Begehren auf Objekte, wobei dessen Begrifflichkeit neben sinnlich fassbaren Objekten und Fetischen gleichsam andere Individuen impliziert. Weil diese Objekte alle-

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Abb. 2   Die Bedeutung der lacan’schen Theorie für das Kino zeigt sich im vielgenutzten Motiv des Spiegels: gehäuft in Filmen, die die Stabilität der Subjekte infrage stellen. Der psychologische Horrorfilm bereitet ein fruchtbares Feld für die Aushandlung fragiler Identitätskonstrukte, wie die trügerischen und gebrochenen Spiegel etwa in Black Swan (a) oder Suspiria (b) demonstrieren. Quelle: Black Swan (USA 2009, © 20th Century Fox); Suspiria (I/USA 2018, © Plaion Pictures)

Abb. 3   Borromäischer Knoten von Lacan. (© Mohr/ Maisenbacher)

samt nur eine Surrogatfunktion einnehmen, pflanzt sich das Begehren metonymisch fort, indem es sich immer wieder auf ein anderes Objekt verschiebt (Abb. 2). Ein weiteres wesentliches Grundkonzept des Lacanschen Denkens verkörpert die drei Strukturbestimmungen der menschlichen Psyche, bestehend aus dem Imaginären, dem Symbolischen und dem Realen. Diese drei Ordnungen bilden ein relationales Kräftegefüge im Spannungsfeld des Subjekts aus und bleiben unauflösbar (Abb. 3). Das ganzheitliche Bild von Identität und Körper wird im Rahmen des Spiegelstadiums zu einem illusionären. Nichtsdestotrotz bleibt es vorstellbar und wird deshalb dem Register des Imaginären zugeordnet, das all jenes umfasst, was imaginiert werden kann und die gesamte vorsprachliche und präödipale Phase dominiert. Was sich durch Sprache repräsentieren lässt, wird der symbolischen Ordnung zugeschrieben. Sie ist eine durch Sprache und soziale Werte geformte Ordnung. Um in sie eintreten zu können, muss das Individuum die imaginäre Phase durchlaufen und sich dem Gesetz des großen Anderen (der Sprache) unterwerfen. Diese Phase entspricht annähernd Freuds ödipaler

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Phase, nur dass bei Lacan die Sprache an Dominanz gewinnt und er den Ödipuskomplex aus seiner konkret familialen Einkleidung befreit. Das ausgesprochene Inzestverbot des Vaters bei Freud wird bei Lacan zu einer Konfrontation mit einer autoritären Instanz, die nicht mit dem Vater gleichgesetzt werden muss. Das Reale ist das kryptischste dieser drei Ordnungsregister. Vereinfacht ausgedrückt wird unter ihm all das subsumiert, was sich weder dem Imaginären noch dem Symbolischen zuordnen lässt. Dementsprechend sind die Bestandteile im Bereich des Realen unsagbar, aber auch unvorstellbar. Definition

Ödipuskonflikt Benannt nach der Ödipus-Figur der griechischen Mythologie, beschreibt Sigmund Freud mit diesem Begriff das unbewusste Begehren des gegengeschlechtlichen Elternteils durch das Kind. Gleichzeitig entstehen dabei Todeswünsche gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, das ein (Inzest-) Verbot ausspricht. Die Akzeptanz dieses Verbots führt zur Überwindung des Konflikts, die Nicht-Akzeptanz wiederum zu fortwährenden innerpsychischen Konflikten. Symbolische Ordnung Die symbolische Ordnung (oder das Symbolische) ist eine der drei Ordnungen innerhalb der Trias der menschlichen Psyche nach Jacques Lacan. Sie wird von ihm als Ordnung der Sprache und auch als Ordnung der Macht aufgefasst und besteht aus Signifikaten und Signifikanten. Auch das Unbewusste unterliegt, laut Lacan, der sprachlichen Struktur des Symbolischen, was zu einer Dominanz dessen führt. Der Eintritt in die symbolische Ordnung erfolgt durch die Überwindung des Ödipuskonflikts. Signifikat/Signifikant Die Begriffe „Signifikat“ (das Bezeichnete) und „Signifikant“ (das Bezeichnende) entstammen der strukturalistischen Linguistik Ferdinand de Saussures. Laut de Saussure bestehen sprachliche Zeichen aus einer Inhalts- und einer Ausdrucksseite. Der Signifikant als Lautbild verweist dabei auf ein dazugehöriges Vorstellungsbild – das Signifikat.

Psychoanalyse und Filmtheorie Freud, Jung und Lacan sind sicherlich die Psychoanalytiker, die nicht nur die Psychoanalyse selbst, sondern auch den psychoanalytischen Diskurs innerhalb der Filmwissenschaft am nachhaltigsten geprägt haben. Sie selbst haben sich gar nicht oder lediglich kursorisch mit Film auseinandergesetzt, dennoch beziehen sich nahezu alle psychoanalytisch gestützten Filminterpretationen auf mindestens einen dieser drei genannten Hauptvertreter, und auch die im Anschluss folgende Filmanalyse basiert in erster Linie auf Freud und Lacan. Gleichwohl haben auch Filmtheoretiker und -theoretikerinnen innerhalb ihrer eigenen Disziplin psychoanalytische Konzepte adaptiert, erweitert und diskutiert. Drei der prominentesten Vertreter*innen sollen an dieser Stelle in aller Kürze vorgestellt werden. Jean-Louis Baudry gilt als Kopf der sogenannten Apparatustheorie. Seine Ausführungen basieren zunächst auf der Dream Screen-Theorie von Bertram Lewin. Eine Kernthese Baudrys besagt, dass bereits die technische Grundlage des Kinos spezifische ideologische Effekte produziert.

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Das Publikum nimmt während der Filmvorführung eine zentrierte Position ein und vor ihm, so Baudry, entspinnt sich eine Defragmentierung der im Grunde fragmentarischen Alltagswirklichkeit, was wiederum zu einer suggerierten Totalität der Realität führt (1974). Direkten Bezug auf Lacan nimmt der französische Filmtheoretiker Christian Metz beispielsweise in seiner Publikation Le signifiant imaginaire: psychanalyse et cinéma (Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino, 1977). „The activity of perception which it [the cinema, A.d.V.] involves is real (the cinema is not a phantasy), but the perceived is not really the object, it is its shade, its phantom, its double, its replica in a new kind of mirror“ (1982, S. 45). Im Kino nehmen wir, so Metz, Objekte aus einer Distanz heraus wahr. Was wir dabei perzipieren, ist nicht länger das Objekt selbst, sondern sein Stellvertreter, der als Instanz den Lacanschen Mangel verdeutlicht. Durch das bereits durchlebte Spiegelstadium besitzen die Zuschauenden die Fähigkeit, eine Welt der Objekte zu konstituieren, ohne sich dabei zunächst selbst innerhalb dieser Welt erkennen zu müssen. Ebenso wie Metz formuliert auch Laura Mulvey eine Zuschauertheorie. Mit Mulvey und ihrem von den Schriften Freuds und Lacans beeinflussten Aufsatz Visual Pleasure and Narrative Cinema (Visuelle Lust und narratives Kino, 1975) als Initial entstand in der Folge eine psychoanalytisch-feministische Filmtheorie, die die Geschlechtsspezifik der Zuschauerpositionierung und des Blicks ins Zentrum stellt. Den Schriften der drei vorgestellten Theoretiker*innen gemein ist, dass sie in erster Linie ideologiekritische Schriften sind, die den Film als ideologische Waffe betrachten, als Affektmaschine. Sie sind Zuschauertheorien, Theorien eines Kinodispositivs, die sich mit der Rezeptionsseite auseinandersetzen und somit auf eine metapsychologische Rezeptionspraxis rekurrieren, und auf einer Ebene der allgemeinen Kulturpraxis anzusiedeln sind. Dabei gestaltet sich der Rückgriff auf diese Theorien bei der Analyse eines konkreten filmischen Einzelwerks meist nicht sonderlich produktiv. Zudem werden sie von ihren Kritikern und Kritikerinnen immer wieder als rein hypothetische Gedankenkonstrukte ohne jeglichen Bezug zu unserer Alltagswirklichkeit kritisiert. So konstatiert Stephen Prince, “Film theorists have constructed spectators who exist in theory; they have taken almost no look at real viewers. We are now in the unenviable position of having constructed theories of spectatorship from which spectators are missing” (1996, S. 83). Vor allem seit den 1990er Jahren hat sich die psychoanalytische Filmwissenschaft verstärkt aus ihrem engen theoretisch-abstrakten Rahmen befreit. Das bedeutet keineswegs, dass zuschauerzentrierte Theorien an Popularität verloren hätten. Sie leben vielmehr in anderen theoretischen Zugängen wie der Rezeptionsästhetik oder in phänomenologischen und kognitivistischen Ansätzen fort. In psychoanalytischen Ansätzen geraten zunehmend Ausdeutungen konkreter Filme und Œuvres in den Vordergrund oder auch einzelne psycho-pathologische Kategorien (dissoziative Störungen, Voyeurismus, Traumsequenzen, etc.), die anhand ihrer Ausprägung in unterschiedlichen Filmen interpretiert werden, wie in den Veröffentlichungen von Todd McGowan, Christopher Hauke oder Ralf Zwiebel. Für solche Interpretationen scheint nach wie vor die mangelnde Belegbarkeit der Psychoanalyse als Theorie und der damit verbundene Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit ebenso problematisch wie der Vorwurf der Eng-

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sichtigkeit und der Vermenschlichung von Filmfiguren. Kristin Thompson kritisiert beispielsweise, dass der umfassende analytische Blick zugunsten eines zu sehr auf psychoanalytische Kategorien beschränkten Interpretationsblick eingegrenzt wird. Ihrer Meinung nach handele es sich dabei im Allgemeinen um „die Plätzchenform-Variante, die aus jedem Film einen Kastrationskomplex ausstanzt oder feststellt, dass, wer über den Blick verfügt, auch über die Macht verfügt“ (2009, S. 445). Wenngleich selbstverständlich jedes angewandte theoretische Modell die Gefahr in sich birgt, bestimmte Aspekte eines Werks zu vernachlässigen oder in das Modell einzupassen, so stellt sich trotzdem immer die Frage, inwiefern eine Theorie für die jeweilige Analyse gewinnbringend eingesetzt werden kann. In diesem Fall konkret: Warum wird die Psychoanalyse so häufig für die Filminterpretation herangezogen? Die Psychoanalyse als Analyseinstrument narrativer Werke ist im Grunde ein auf die Psyche des Menschen fokussiertes hermeneutisches Verfahren, mit dem angestrebt wird, die Tiefensemantik eines Films offenzulegen. Als Verstehenslehre ist die Hermeneutik wiederum ein anerkanntes und häufig praktiziertes Verfahren zur Textauslegung in den Geistes- und Kunstwissenschaften. Dabei gilt es zu unterscheiden, ob eine Analyse exopoetisch oder rein endopoetisch vorgeht. Bei der exopoetischen Variante wird das jeweilige Werk als psychisches Produkt von Werkschöpfenden (zum Beispiel von Filmregisseuren und Regisseurinnen) betrachtet. Dabei fließt neben der Biografie das historisch-kulturelle Umfeld des Individuums in die Analyse ein und es werden Sinnzusammenhänge zwischen dem Werk, lebensgeschichtlichen und damit verbundenen soziokulturellen Faktoren hergestellt. Dies entspricht dem Vorgehen der modernen Hermeneutik, wie sie Friedrich Schleiermacher im 19.  Jahrhundert postulierte. Dagegen verkörpert die endopoetische Herangehensweise eine rein werkimmanente Analyse, sodass psychoanalytisch-endopoetische Analysen einem hermeneutischen Verfahren (zum Beispiel im Sinne Paul Ricœurs) entsprechen, nur dass sie mithilfe der psychoanalytischen Kategorien und dem dazugehörigen Vokabular den Untersuchungsgegenstand spezialisieren. Des Weiteren ist das narrative Kino vorrangig ein anthropozentrisches. Obgleich es sich in Filmen nicht um Menschen, sondern um Filmfiguren handelt, so bestehen zwischen beiden durch die mimetische Funktion des Films offenkundige Zusammenhänge. Zwar sind Filmfiguren nicht allein aus sich selbst zu verstehen, sondern gewinnen ihr Profil aus ihrem Stellenwert innerhalb des Films. Nichtsdestotrotz scheint die Übertragung der Psychoanalyse von realen Menschen auf Filmfiguren aufgrund der Ähnlichkeitsbeziehung legitim und durchaus fruchtbar. In der psychoanalytischen Praxis schildern der Analysand oder die Analysandin bestimmte Ereignisse. Aus dem Zusammenhang dieser Ereignisse ergibt sich eine Geschichte. Die Ausdeutung von Geschichten ist gleichermaßen eine Aufgabe des Psychoanalytikers oder der Psychoanalytikerin wie auch des Filmanalytikers oder der Filmanalytikerin. Vor allem in Träumen und Krisensituationen vermittelt sich das Unbewusste in Form von Tropen wie der Metapher und der Metonymie, die wiederum von Filmemachenden bewusst eingesetzt werden, um eine künstlerische Form der Abstraktion zu erzielen. Und letztlich können laut Freud Kunst und Kultur als Symptome des Verdrängten verstanden

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werden, sodass Filme als Anhaltspunkte soziokultureller Befindlichkeiten gelesen werden können, die uns wiederum Rückschlüsse auf verdrängte psychische Prozesse liefern. Wie dargelegt, existieren zahlreiche Analogien zwischen dem psychoanalytischen Prozess und der Filminterpretation. Die folgende endopoetische Beispielanalyse, die sich in erster Linie auf Freuds und Lacans Ausführungen stützt, soll nun die Produktivität einer psychoanalytisch gestützten Filminterpretation demonstrieren.

1.3 Psychoanalytische Deutung von Blow Up Gleich zu Beginn von Blow Up (GB/I/USA 1966), im Vorspann, sehen wir eine Wiesenfläche im Park, die wir in der Schlusseinstellung erneut präsentiert bekommen. Darüber befinden sich die Lettern des Titels – Schrift, die wir eindeutig der Sprache und damit dem Lacanschen Symbolischen zuordnen. Doch lässt die Semitransparenz der Buchstaben einen Blick auf etwas Dahinterliegendes zu, das wir lediglich fragmentarisch wahrnehmen können – das Lacansche Imaginäre. Der Vorspann inszeniert bereits das Spannungsverhältnis zwischen Sichtbarem und Verborgenem, zwischen Bewusstem und Unbewusstem, zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit. „Seelenbildnis eines Fotografen“ sollte der Titel des Films ursprünglich lauten. Dieser Verweis auf den seelischen Zustand des Protagonisten kann als Indiz für die Bedeutung seiner inneren Verfasstheit gelesen werden, auf die sich eine psychoanalytische Herangehensweise erklärtermaßen konzentriert. Blow Up liefert uns keinerlei Verweise auf die Vergangenheit der Hauptfigur, die sowohl eine geschichts- als auch eine namenlose zu sein scheint. Somit fehlen der Figur elementare identitätsstiftende Einflussgrößen, die sie zur Verortung in der symbolischen Ordnung benötigt. Darüber hinaus beobachten wir eine Figur, die sich zunächst sehr stark durch zustimmende Äußerungen („yes…“) auszeichnet, die im Laufe der Geschichte aber zunehmend zu negierenden („nothing…“) werden. Wie kommt es dazu? Warum, in welchem Maße und wovon beeinflusst verändert sich die Figur des namenlosen (im Drehbuch Thomas genannten) Fotografen? Zu Beginn des Films ist der Mann mit der Kamera zweifelsohne ein Gewinner: Er ist jung, trendy, vermögend, einflussreich und wird begehrt. Er kann seine Models beliebig auswählen, über sie verfügen, sie in der Welt seines Fotostudios wie Objekte arrangieren und mit seiner Kamera dominieren. In seinem Atelier diktiert Thomas mit herrschaftlicher Überlegenheit. Daraus resultiert eine Omnipotenzfantasie, die nicht auf den überschaubaren Bereich des Ateliers limitiert bleibt, sondern sich auf die gesamte Lebenswelt überträgt. Analog zum Spiegelstadium erfährt der Modefotograf dabei einen trügerischen Sinn der Ganzheit, einhergehend mit der Fähigkeit, seine Umwelt dominieren zu können. Vor allem im ersten Akt des Films ist Thomas eine Figur, die sich stark von ihrem Unbewussten leiten lässt, was sich im Fall des Fotografen in einer Form der Tyrannei gepaart mit einem präödipalen Narzissmus artikuliert, die er durch Geld, Erfolg und Einfluss zu legitimieren scheint. Die Tyrannei „manifestiert sich in dem Umgang mit

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seinen ‚Untergebenen‘, den Models, und seinen Angestellten, die er, ähnlich wie der Tyrann, verachtet“ (Mahler-Bungers 2011, S. 60). Im Vordergrund steht für Thomas eine unreflektierte und unmittelbare Form der Befriedigung. Er herrscht über seine Umwelt, Thomas selbst wiederum wird vom Lustprinzip beherrscht, was dazu führt, dass er dem Streben des Es nach Triebbefriedigung nachgibt, um das Eintreten von Unlust-Gefühlen zu vermeiden. Wenn zahlreiche, sich ständig im Gleiten befindliche Triebe auf die Psyche einwirken, so hat dies negativen Einfluss auf die Konzentrationsfähigkeit. Es entsteht ein Aufmerksamkeitsdefizit, weil das Befolgen der ruhelosen Triebimpulse eine Unstetigkeit in Handeln und Verhalten nach sich zieht, das sich vor allem in leichter Ablenkbarkeit dokumentiert. Beispielsweise wird Thomas Annäherung an eine attraktive Unbekannte durch die Anlieferung des Propellers unterbrochen, banale Ereignisse auf der Straße lenken ihn von einem wichtigen Gespräch mit seinem Verleger ab, er lässt seine Models mit geschlossenen Augen verharren und verlässt das Atelier, und die Fotosession mit Veruschka wird ebenso unterbrochen, wie sein Telefonat, in dem er Ron von den Ereignissen, die sich im Park zugetragen haben, berichten möchte. Diese Formen der Ablenkung, der Unaufmerksamkeit oder des Etwas-nicht-zu-Ende-bringen-Könnens sind dabei symptomatische Erscheinungen einer Figur, die sich unproportional stark dem Lustprinzip hingibt, weil keine adäquate Ausbalanciertheit zwischen den psychoanalytischen Einheiten herrscht. Seine Fotokamera, die Thomas stets bei sich führt und durch deren Sucher er die Welt erblickt, erfüllt dabei, neben dem medienreflexiven Verweis auf die Filmkamera, weitere Funktionen: Einerseits dient sie als Machtinstrument und als Verlängerung seines Blicks, andererseits verdeckt sie das Gesicht des Fotografen und verhindert damit mögliche Einblicke in sein Seelenbild. Die Kamera schützt Thomas vor (emotionaler) Berührung und psychischem Schmerz, weil sie eine Distanz zwischen ihm und dem fokussierten Objekt schafft, die selbst dann bestehen bleibt, wenn sich Thomas, wie in der Fotosession mit Veruschka, seinem Objekt räumlich und damit auch körperlich nähert. Doch im Verlauf des Films wird diese Distanz zunehmend aufgelöst und Thomas Weltbild maßgeblich erschüttert. Als Thomas sich in einem städtischen Park aufhält, gerät sein Weltbild ins Wanken. Er ist es aus seinem Atelier gewohnt, die Herrschaft über die Anordnung der Dinge zu besitzen. Doch hier scheint ihm dies nicht länger möglich. Er ist gezwungen, sich immer wieder neu zu den Objekten – eine Frau und einem Mann – zu positionieren, um das Geschehen nach seinen Vorstellungen fotografisch festhalten zu können. Ihre Archäologie hat die für den Film so elementare Park-Szene in der vom Kind fantasierten oder (wie in diesem Fall) gesehenen Urszene, in der das „Kind“ den elterlichen Geschlechtsverkehr beobachtet. Dabei lassen sich nicht nur solche Szenen, in denen Vater-MutterKind-Konstellation die Basis bilden, als Urszenen auffassen, sondern auch jene Szenen, die solche Ereignisse und Konstellationen im korrelierenden Sinne enthalten. Unerwünscht beobachtet Thomas (zunächst) heimlich die Intimität eines Liebespaares, bestehend aus einem Mann, der Thomas Vater sein könnte und einer Frau, die in Thomas

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sexuelles Begehren weckt. Ganz im Gegensatz zu den Modellen im Atelier möchte sich die Frau im Park, als sie Thomas bemerkt, allerdings nicht von ihm abbilden lassen. Sie versucht sogar, ihm seine Kamera zu entreißen, was psychoanalytisch betrachtet mit einer Kastrationsdrohung vergleichbar ist. Diese symbolische Androhung der Kastration infolge eines nicht tolerierbaren Verhaltens ist für das Durchlaufen der ödipalen Phase entscheidend. Erst durch das mit ihr zusammenhängende Verbot, das entweder vom Vater selbst oder stellvertretend, wie Lacan es bezeichnet, Im-Namen-des-Vaters ausgesprochen wird, wendet sich das Subjekt dem Symbolischen hin und tritt schließlich in die symbolische Ordnung der Gesellschaft ein (Abb. 4). Im Anschluss an die Urszene ist das „Kind“ genötigt, sie zu verarbeiten und Stellung zu ihr zu beziehen. Auch Thomas versucht im Anschluss, die Geschehnisse der ParkSzene zu deuten. Die Deutung von erlebten Urszenen mit ihren ödipalen Konstellationen sind typische Momente der Nachträglichkeit, zwar lösen sie bereits während des akuten Erlebens einen Prozess der Reflexion aus, der sich aber erst zeitverzögert artikuliert. Diese Nachträglichkeit ist sowohl bei Freud als auch bei Lacan (er nennt sie aprèscoup) ein zentraler Begriff, der eine psychische Umarbeitung oder Umcodierung von vergangenen Ereignissen beschreibt. Mittels der Fotos beginnt dann auch bei Thomas die Rekonstruktion der Geschichte. Er ordnet die Fotos an, arrangiert sie um, vertauscht Reihenfolgen, vergrößert Bestandteile und positioniert sich in unterschiedlichen Betrachtungswinkeln und Abständen. Ein Vorgehen, das eine starke Analogie zum psychoanalytischen Prozess aufweist. Interessant dabei ist, dass uns Thomas als eine Figur präsentiert wird, die keine Geschichte hat bzw. über deren Geschichte im Sinne einer Vorgeschichte wir ebenso wenig erfahren wie über die Geschichte der weiteren Beteiligten. Mit Lacan und auf einer abstrakten Ebene gelesen, verweist dieser Zustand der Nicht-Geschichtlichkeit auf elementare Grundlagen des Lacanschen Konstrukts. Eine seiner maßgeblichen Errungenschaften war, dass er die Psychoanalyse von einer rein diachronen Betrachtungsweise befreite und sie einer synchronen zuwendete. Lacan erachtet nicht mehr die Theorie der aufeinanderfolgenden Stadien für wesentlich. Vielmehr bezieht er diese Stadien auf eine ödipale Grundstruktur, „die durch ihre Universali-

Abb. 4   Jane (Vanessa Redgrave) versucht, die Kamera mit einem Biss in Thomas’ Hand aus seinem Griff zu lösen. Das versuchte Entreißen der Kamera (für den Fotografen gar als freudsche Prothese zu verstehen) fungiert als angedrohter Kastrationsakt (a+b). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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tät gekennzeichnet, von zeitlichen Kontingenzen unabhängig und jeder Geschichte vorrangig ist“ (Dosse 1999, S. 163). Die in eine Reihenfolge angeordneten Fotos entsprechen einer Signifikantenkette. Wobei die Signifikanten bei Lacan nicht mehr auf ein konkretes Signifikat verweisen, sondern die Bedeutung eines Signifikanten erst durch seine Beziehung zu anderen Signifikanten entsteht. Analog dazu und durch die zuvor entstandene Irritation angetrieben, beginnt Thomas allmählich zu verstehen, dass seine Fotos nicht lediglich das zeigen, was sie, oberflächlich betrachtet, abzubilden vorgeben. Diese Betrachtungsweise entspräche dem Bild im Spiegelstadium und der Illusion, dass dieses Bild ein Abbild der Realität verkörpert, wenngleich ein Bild und sein Spiegelbild ontologisch betrachtet unvereinbar sind. Vielmehr betrachtet Thomas die Fotos nun als Zeichen und sieht sie als Signifikanten, die auf ein verschlüsseltes Signifikat verweisen, damit vermutlich mehr sagen als sie zeigen und demnach deutbar sind. Thomas ordnet die Fotos zu einer Fotoreihe bzw. Signifikantenkette an und versucht, durch das Erkennen von Signifikantenbeziehungen zu einem Signifikat und damit zu einer Bedeutung zu gelangen, die ihm die wirkliche Rekonstruktion der Geschichte ermöglicht. Was Thomas zu erkennen glaubt, ist, dass der männliche Teil des Liebespaares unwissentlich von einem weiteren Mann beobachtet und vermutlich erschossen wird. Während Thomas die Fotos gründlich betrachtet, entsteht durch die Mise-en-scène ein eyeline match zwischen ihm und der Frau, die in diesem Moment wohl den vermeintlichen Mörder betrachtet. Thomas nimmt dabei Position und Perspektive des Mörders ein, nur dass anstelle einer Pistole der Fotoapparat seine Waffe ist. Bedingt durch die Mehrfachvergrößerung scheint das Gesicht dieses unbekannten Beobachters auf einem weiteren Foto leer und erhält dadurch etwas Abstraktes, das auf die Universalität dieses Szenarios verweist. Es ist ein Platzhalter, auf den sich jegliches Gesicht projizieren ließe. Zunächst vermutet Thomas noch, dass er den Mord verhindert habe. Als er später die Leiche im Park entdeckt, wird ihm allerdings klar, dass der Mord stattfand und darüber hinaus vielleicht erst dadurch möglich wurde, weil er selbst erst durch das Fotografieren die Frau vom Schauplatz weglockte. So betrachtet gleicht das Szenario einem Widerhall der dem ödipalen Wunsch inhärenten Schuld. Das Kind wünscht sich den Tod des Vaters herbei, wird dabei aber gleichzeitig von Schuldgefühlen zersetzt. Als Thomas später seine Nachbarn beim Geschlechtsakt sieht, beobachtet er sozusagen eine weitere Urszene. Doch der Blick des Voyeurs wendet sich diesmal vom Geschehen ab und er verlässt frühzeitig das Szenario. Der Voyeurismus ist laut Lacan ein mieser Trick des Objekt a und eine Artikulation des Begehrens, die dem Voyeur und der Voyeurin suggeriert, dass eben jenes, was sie voyeuristisch betrachten, ihr Begehren und damit ihren Seinsmangel stillen könne. Es entsteht die Vorstellung, dass die Einheit des Subjektes wiederhergestellt werden kann. Zunächst ist Thomas ein voyeuristischer Konstrukteur, der die Bilder nach seinen Vorstellungen arrangiert, dann, im Park, wird er zum heimlichen Beobachter, der keinen Einfluss mehr auf die Bilder hat. Auch hier beobachtet er mit seiner Kamera, er wird jedoch von den Beobachteten erwischt. Dennoch schießt er weiterhin Fotos, als könne er seinen Blick nicht abwenden. Als

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Thomas dann seine Nachbarn beim Beischlaf beobachtet, findet eine Verschiebung statt. Erstens beobachtet er nicht mit seiner Kamera, und zweitens scheint er nicht mehr zum Zuschauen gezwungen, denn sein Blick wendet sich, obwohl der Geschlechtsakt noch im Gange ist, recht schnell vom Geschehen ab und mit ihm auch der Blick der Kamera. Es folgt eine Einstellung, die eines von Bills abstrakten, rätselhaften Gemälden zeigt. Zuvor wurde deutlich, dass Thomas diese Gemälde zutiefst begehrt, Bill ihn aber zurückweist, indem er ihm den Besitz eines der Gemälde verwehrt. Etwas besitzen zu wollen, was der Vater besitzt, ist der Kernwunsch des ödipalen Verlangens. Bill ist natürlich nicht Thomas‘ Vater, aber, wie erwähnt, geht es Lacan bei der Urszene nicht um konkrete familiale Beziehungen. Vielmehr sind Urszene und Ödipuskomplex als Strukturen zu verstehen. Den Platz des (symbolischen) Vaters kann prinzipiell jeder einnehmen, von dem das (kindliche) Subjekt etwas begehrt, dieses Begehren aber zurückgewiesen wird. Bill ist eine Kontrastfigur zu Thomas und seine Gemälde veranschaulichen die Zweifel des ungesicherten Wissens. „Mit der Reziprozität zwischen Thomas Kunst und Bills Kunst wird die Spannung zwischen (vermeintlich) sicherem Wissen und der Unsicherheit des Nichtwissens thematisiert“ (Mahler-Bungers 2011, S. 63). Dieses zunächst im Film bestehende Spannungsverhältnis wird jedoch sukzessive durch Thomas Entwicklung aufgelöst, denn die Sicherheit des Wissens wird nach der Park-Szene bedroht und schließlich unterminiert. Die Abstraktheit der Gemälde offeriert eine nahezu unbegrenzte Anzahl an Lesarten und weist daher bereits auf die Ausdeutung der Parkfotos hin, als Thomas die Deutungshoheit über seine eigenen Werke einbüßt und sein vermeintlicher Besitz des wahren Wissens über die Welt eingerissen wird. Vor allem die Leiche im Park korrespondiert eng mit den Begriffen des Wissens und Nichtwissens, mit Realität und Existenz. Nachdem Thomas durch das Deuten der Fotos einen Mord vermutet, begibt er sich abermals in den Park, um nach weiteren Beweisen zu suchen. Schließlich entdeckt er just an der Stelle, an der er sie vermutete, die Leiche des Mannes. Er sieht die Leiche vor sich, berührt sie, um sich ihrer Existenz zu ver-

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Abb. 5   An- und Abwesenheit der Leiche werfen die Frage nach Wissen und Nicht-Wissen, nach Existenz und Nicht-Existenz auf. Dass die Leiche von niemandem außer von Thomas selbst an diesem recht einsehbaren Ort entdeckt wird, erhärtet die Vermutung, dass sich dieses Szenario allein in Thomas Psyche abspielt (a+b). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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gewissern, als er sie aber zu einem späteren Zeitpunkt erneut aufsuchen möchte, ist der Leichnam verschwunden (Abb. 5). Es erscheint merkwürdig, dass Thomas gerade in der Nacht des Leichenfundes seinen ständigen Begleiter, die Fotokamera, nicht bei sich trägt, obwohl er dazu neigt, alles mit seinen Apparaten festhalten zu wollen. Würde er die Leiche fotografieren, hielte er auch Beweise für ihre Existenz in der Hand und könnte Ron die Fotos zeigen. Aber warum kommt es dazu nicht? Betrachtet man die Park-Szene als Urszene, dann kommt in ihr der Vater zu Tode. Der Tod des Vaters ist aber ein rein sinnbildlicher und existiert lediglich im Unbewussten. Das Auffinden der Leiche scheint lediglich die Projektion eines starken unbewussten Wunsches. Dieser resultiert einerseits aus dem ödipalen Wunsch, den Vater zu eliminieren, andererseits aus dem Wunsch nach der Bestätigung dessen, was Thomas glaubt, auf den Fotos erkannt zu haben. Doch die sichere Existenz wird nicht validiert und die vermeintliche Erkenntnis wird ebenso wenig bestätigt. Sie wird sogar subvertiert, denn das Resultat all dieser Ereignisse ist schließlich die Erkenntnis, dass es kein gesichertes Wissen gibt und die Existenz selbst und die Realität, in der wir uns vermuten, infrage gestellt wird. We know that under the revealed image there is another one which is more faithful to reality, and under this one there is yet another, and again another under this last one, down to the true image of that absolute, mysterious reality that no one will ever see. Or perhaps, not until the decomposition of every image, of every reality. (Antonioni 1996, S. 63)

Der Motor des Begehrens ist das Objekt a. Es treibt Thomas dazu an, sein Begehren stillen zu wollen, das sich fortan, nach der Überwindung der ödipalen Phase, auf andere Objekte richtet. All diese Objekte üben einen immens starken Reiz auf das Subjekt aus, werden von ihm oftmals fetischisiert und der Drang, dieses Objekt besitzen zu wollen, steigt häufig ins Unermessliche. Zwei hochgradig bedeutungsvolle Objekte in Blow Up sind der zweiblättrige Propeller und der Gitarrenhals. Auf den hölzernen Propeller stößt Thomas in einem Antiquitätengeschäft im ersten Akt des Films. Thomas erblickt ihn, ist hellauf begeistert und muss ihn unbedingt erwerben. Als er feststellen muss, dass sein Cabrio kein geeignetes Transportmittel für den großen Propeller ist, insistiert er, dass das erworbene Objekt noch am selben Tag geliefert wird. Bei der Anlieferung wirkt er allerdings überrascht, als hätte er es vergessen. Auf die Frage, was er mit dem Propeller anfangen wolle, antwortet Thomas „Nichts“, er gefalle ihm nur. Der Gitarrenhals tritt in einer deutlich späteren Phase des Films in Erscheinung. Thomas befindet sich auf einem Konzert der Yardbirds. Erzürnt über technische Schwierigkeiten, beginnt der Gitarrist der Band, sein Instrument zu zertrümmern. Er schlägt mit der Gitarre wütend auf den defekten Verstärker und tritt auf sie ein, bis sich der Gitarrenhals vom Körper löst. Dann wirft er ihn ins tosende Publikum und unter den Fans entzündet sich ein Kampf um das fetischisierte wie begehrte Objekt, aus dem Thomas als Sieger hervorgeht. Doch bereits wenige Meter außerhalb des Konzertsaals schlägt Thomas intensives Interesse an dem Objekt in Desinteresse um, woraufhin er den Gitarrenhals vollkommen gleichgültig neben sich auf die Straße fallen lässt (Abb. 6).

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Abb. 6   Der chaotische Kampf um die fetischisierte Gitarre, aus dem Thomas förmlich flüchten muss (a) und das gleichgültige Wegwerfen derselben (b) zeigen die Willkür und Schwankungen im Begehren der Hauptfigur. Gleiches gilt für den Propeller, den Thomas enthusiastisch gekauft hat (c). Nur Stunden später tippt er ihn resignativ mit dem Fuß an und weiß nichts mehr mit ihm anzufangen (d). Die begehrten Objekte haben ihre Anziehungskraft bereits verloren, wenn Thomas Besitz von ihnen ergreift. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

Eine Gemeinsamkeit der beiden betrachteten Objekte besteht darin, dass sie aus Holz gefertigt sind. Ein wesentlich signifikanteres Bindeglied liegt allerdings in der Form, die bei beiden Objekten beispielhaft die Form eines Phallischen repräsentiert. Beide sind Teil eines Ganzen, das ohne sie nicht mehr funktioniert – ohne den Propeller erfüllt das Fluggerät ebenso wenig seine Funktion wie die Gitarre ohne Hals. Neben den Gemeinsamkeiten bestehen aber auch Unterschiede zwischen den Objekten. Das Abtrennen des Propellers wird im Film nicht inszeniert. Dabei wird es sich auch nicht um eine mutwillige Destruktion des Objekts gehandelt haben, denn der Propeller sieht intakt aus und wirkt als könne er wieder funktionstüchtig montiert werden. Im Kontrast dazu scheint der Gitarrenhals irreparabel demoliert. Seine Zerstörung wird im Film inszeniert und Thomas kann ihn nicht bequem käuflich erwerben, sondern muss um ihn kämpfen. Der Kauf des Propellers verkörpert eine spontane, unmittelbare Triebbefriedigung im Sinne des Lustprinzips, die zu einem, wenn auch in diesem Beispiel nur kurzen, Wohlgefühl beiträgt. Aus der Inbesitznahme des Gitarrenhalses hingegen resultiert keinerlei Befriedigung, weil durch Thomas psychischen Entwicklungsprozess bedingt nun das Begehren der Motor ist. Weil das Begehren wiederum, egal wie energisch darum gekämpft wird, nicht gestillt werden kann, tritt in diesem Fall auch keine temporäre Befriedigung ein. Der Besitz des begehrten Objekts schlägt deshalb prompt in Desinteresse um, in eine Form von Enttäuschung, ob der nicht eintretenden

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Befriedigung. Das Objekt, von dem angenommen wurde, es könnte das Begehren stillen und den Mangel beheben, wird aufgrund dieser Enttäuschung abgestoßen. Dass beide beschriebenen Objekte phallischer Natur sind, kann im Falle des Propellers als eine Foreshadowing-Strategie und im Falle des Gitarrenhalses als Visualisierung des sinnbildlichen Kastrationskomplexes gewertet werden. Durch den Übergang in die symbolische Ordnung zerfällt das Subjekt in das idealisierte und das soziale Ich. Diese Spaltung wird auf der visuellen Ebene des Films aufgegriffen. So erfolgt beispielsweise in der Parkszene ein Achsensprung und damit das Überschreiten einer Schwelle, das mit dem auslösenden Moment, der den psychischen Entwicklungsprozess vorantreibt, zusammenfällt. Durch innere Rahmungen entstehen Verengungen, die Thomas zunehmend Raum rauben und die Bedrohung des Selbstbildes veranschaulichen. Die Subjektspaltung (sujet divisé) wiederum wird in Blow Up durch dezentrierte Bildkompositionen, Figurenspiegelungen und -schatten visualisiert. Diese inszenatorischen Mittel folgen aufeinander und entstehen erst mit bzw. nach der Schlüsselszene im Park. Sie illustrieren und konkretisieren die psychischen Prozesse des Protagonisten (Abb. 7). Die erfolgten Überlegungen legen nahe, dass sich Thomas zu Beginn des Films in einem psychischen Entwicklungsstand befindet, der nicht seinem biologischen entspricht. Vielmehr lässt sich Thomas als eine Figur betrachten, die beharrlich in der prä-

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Abb. 7   Die psychischen Veränderungen des Subjekts werden auch auf filmstilistischer Ebene reflektiert. Die beengenden inneren Rahmungen bedrohen Thomas Selbstbild (a), Aufsichten visualisieren den Verlust der Omnipotenz (b), die Dezentrierung des Subjekts spiegelt sich ebenfalls in der Bildkomposition wider (c), und es werden zunehmend Schatten und Spiegelbilder von Thomas inszeniert (d). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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ödipalen Phase verblieben ist. Die Triebimpulse des Unbewussten und die Einheit des Imaginären dominieren und der Eintritt in die symbolische Ordnung erfolgte noch nicht. Der Film schildert die Ereignisse, die dazu führen, dass Thomas den notwendigen Entwicklungsschritt vollzieht, die Welt des Symbolischen annimmt und betritt. Die Psyche der (prä-)ödipalen Phase wird als eine zweidimensionale beschrieben, die erst durch das Annehmen der symbolischen Ordnung zu einer dreidimensionalen wird. Ebenso wird die zweidimensionale Flächigkeit der Fotografien in Thomas Erkenntnisprozess und durch die Anordnung der Fotos im filmischen Raum zu einer, zumindest suggerierten, Dreidimensionalität. Es folgt eine Trennung von Imaginärem und Symbolischem, eine Trennung zwischen Unbewusstem und Bewusstem. Sobald ein Individuum in die Sphären des Symbolischen eintritt, konstituiert sich das unstillbare Begehren. Sinnbildlich gesprochen besteht die einzige Möglichkeit, die ödipale Phase nicht überwinden zu müssen, darin, den Tod des Vaters herbeizuführen. Das ist der Nukleus des Begehrens, der zentrale Wunsch in dieser Phase, dessen Nicht-Erfüllung das in der Folge fortwährende Begehren fundamentiert. Der symbolische Leichnam des Vaters wird also zum maßgeblichen Objekt der Begierde. Ein Objekt, von dem Slavoj Žižek sagt, dass es, wenn man einen direkten Blick darauf riskiere, verschwinde. Und so verschwindet schließlich auch die Leiche im Park. Obgleich sich die Veränderung fast ausnahmslos im Unbewussten vollzieht, markiert der Eintritt in die Welt des Symbolischen wohl die fundamentalste Veränderung, der sich jedes Individuum stellen muss. Doch eben dieser (unbewusste) Prozess scheint in Blow Up, insofern wir den Film einer psychoanalytischen Lesart unterziehen, visualisiert. Das offene und enigmatische Ende des Films lässt dabei unterschiedliche Interpretationsansätze zu. Zwei Pantomimen spielen ein imaginäres Tennisspiel. Sowohl Spielende als auch Spielfeld samt Netz und eingezeichneter Linien sind vorhanden und der Ablauf des Spiels lässt vermuten, dass die allgemein gültigen Tennisregeln befolgt werden. Jedoch fehlen die elementaren Spielgeräte. Der Tennisschläger, ein phallisches Symbol, dessen Fehlen auch in dieser Szene möglicherweise auf die Überwindung der ödipalen Phase rekurriert. Um sich schließlich auf dieses Spiel einlassen zu können, legt auch Thomas seine Kamera und damit seinen Machtapparat nieder. Visuell betrachtet sind nicht nur die Schläger, sondern auch der Tennisball fiktiv, weil sie trotz uneingeschränkten Blickes nicht sichtbar sind. Auf der auditiven Ebene hingegen existieren sie. Sowohl das Aufprallen des Balls auf den Ascheboden als auch das typische Geräusch seines Auftreffens auf die Schlägerbespannung sind hörbar. Die Geräusche sind als Signifikanten lesbar, die auf ein Signifikat verweisen, das nur fehlerhaft oder unvollständig repräsentiert werden kann. Antonioni stellt hier sozusagen die abstrakte Ebene der Signifikanten und Signifikate mit filmischen Mitteln auf der Bild- und Tonebene dar. So wird der Tennisball zu einem fehlerhaften Zeichen, weil der Signifikant (in dem Fall das Geräusch) auf eine Bedeutung verweist, die sich der Sichtbarkeit entzieht und zu einer unfassbaren wird. Wenn Thomas schließlich diesen Tennisball aufhebt, akzeptiert er das Spiel der Anderen und die Regeln des großen Anderen, also des Symbolischen, in dem der Platz des Objektes leer ist. Die Vorstellung, dass das Objekt (des Begehrens) von Thomas

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durch die Mehrfachvergrößerung enthüllt werden konnte, erwies sich als illusorisch. Er bekam lediglich die schwindenden Konturen eines unerreichbaren Objekts zu sehen, das schließlich gänzlich verschwand. Thomas akzeptiert am Ende die symbolische Ordnung und fügt sich dem, was andere von ihm erwarten. In der letzten Einstellung des Films verschwindet er schließlich hinter der Schrifteinblendung, die als Bestandteil der Sprache eindeutig dem Symbolischen zuzuordnen ist. In der symbolischen Ordnung wird das Subjekt von einem aktiven zu einem passiven, das seine Bedeutung nur dadurch erlangt, dass es von den Anderen (seinen Mitmenschen) signifiziert wird. Dabei werden der für das Subjekt verwendete Signifikant und damit auch das passive Subjekt selbst unvermeidlich von den Zuweisungen der Anderen bestimmt. Durch die Sprache kann lediglich ein Teil des eigentlichen Subjekts bezeichnet werden und darüber hinaus nur in einer durch die Signifikanten entfremdeten Form. Das vormals aktive, aber noch nicht bezeichnete und daher leere Subjekt nimmt den Platz des Signifikats ein und verschwindet dann gänzlich hinter seiner Repräsentation. Diesen Effekt des Dahinschwindens des Subjekts hat Lacan mit dem Begriff fading bezeichnet, und das visuelle Fadeout bringt schließlich auch den Film zu seinem Ende. Exemplarische Filme Thema: Filme und Fernsehserien, die Psychoanalyse thematisieren Le mystère des roches de Kador (F 1912, Léonce Perret) Das Cabinet des Dr. Caligari (D 1920, Robert Wiene) Geheimnisse einer Seele (D 1926, G.W. Pabst) Un chien andalou (Ein andalusischer Hund, F 1929, Luis Buñuel) Spellbound (Ich kämpfe um dich, USA 1945, Alfred Hitchcock) Whirlpool (Frau am Abgrund, USA 1950, Otto Preminger) Freud – the Secret Passion (Freud, USA 1962, John Huston) Persona (SWE 1966, Ingmar Bergman) A Clockwork Orange (Uhrwerk Orange, GB 1971, Stanley Kubrick) Heroína (ARG 1972, Raúl de la Torre) Zelig (USA 1983, Woody Allen) Blue Velvet (USA 1986, David Lynch) Another Woman (Eine andere Frau, USA 1988, Woody Allen) An Angel at My Table (Ein Engel an meiner Tafel, NZ u. a. 1990, Jane Campion) Cattiva (Hoffnungslose Liebe, I 1991, Carlo Lizzani) What About Bob? (Was ist mit Bob?, USA 1991, Frank Oz) Good Will Hunting (USA 1997, Gus Van Sant) Yurîka (Eureka, JP/F 2000, Shinji Aoyama) La Pianiste (Die Klavierspielerin, AUS u. a. 2001, Michael Haneke) La stanza del figlio (Das Zimmer meines Sohnes, I 2001, Nanni Moretti) The Sopranos (Die Sopranos, USA 1999-2007, David Chase) BeTipul (ISR 2005-2008, Ori Sivan) Papurika (Paprika, JP 2006, Satoshi Kon)

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La Science des rêves (Science of Sleep – Anleitung zum Träumen, F 2006, Michel Gondry) In Treatment (In Treatment – Der Therapeut, USA 2007-2010, Rodrigo Garcia) Kynodontas (Dogtooth, GR 2009, Giorgos Lanthimos) Black Swan (USA 2010, Darren Aronofsky) A Dangerous Method (Eine dunkle Begierde, GB/D/CAN 2011, David Cronenberg) Shame (GB 2011, Steve McQueen) Web Therapy (USA 2011-2015, Lisa Kudrow/Don Roos/Dan Bucatinsky) The Double (GB 2013, Richard Ayoade) L’amant double (Der andere Liebhaber, F 2017, François Ozon) Arīka fī Tūnis/Un divan à Tunis (Auf der Couch in Tunis, TUN/F 2019, Manele Labidi) Nightmare Alley (USA 2021, Guillermo del Toro) En thérapie (In Therapie, F 2021-22, Éric Toledano und Olivier Nakache) Literaturhinweise zur Psychoanalyse im Film Bergstrom, Janet. hrsg. 1999. Endless Night. Cinema and Psychoanalysis, Parallel Histories. Berkeley: University of California Press. Camden, Vera J., Hrsg. 2021. The Cambridge Companion to Literature and Psychoanalysis. Cambridge: Cambridge University Press. Freud, Sigmund. 2010. Gesammelte Werke. 11. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer. Gabbard, Glen O. hrsg. 2001. Psychoanalysis and Film. London, New York: Karnac. Haas, Marie-Therese. 2022. Kreativität, Ästhetik und das Unbewusste. Eine Begegnung zwischen Kunst und Psychoanalyse. Gießen: Psychosozial Verlag. Hamburger, Andreas. 2018. Filmpsychoanalyse. Das Unbewusste im Kino – Das Kino im Unbewussten. Gießen: Psychosozial Verlag. Hauke, Christopher. 2014. Visible Mind. Movies, Modernity and the Unconscious. London, New York: Routledge. Jung, C. G.. 2011. Gesammelte Werke. Ostfildern: Patmos. Kaplan, E. Ann. hrsg. 1990. Psychoanalysis and Cinema. London, New York: Routledge. Lacan, Jacques. 2016. Schriften I. Wien: Turia + Kant. Lacan, Jacques. 2015. Schriften II. Wien: Turia + Kant. Laszig, Parfen. hrsg. 2012. Blade Runner, Matrix und Avatare. Psychoanalytische Betrachtungen virtueller Wesen und Welten im Film. Heidelberg: Springer. Lebeau, Vicky. 2006. Psychoanalysis and Cinema. The Play of Shadows. London, New York: Wallflower. MacGowan, Todd u. Sheila Kunkle. 2004. Lacan and Contemporary Film. New York: Other Press. Mahler-Bungers, Annegret u. Ralf Zwiebel. Hrsg. 2007. Projektion und Wirklichkeit. Die unbewusste Botschaft des Films. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mertens, Wolfgang. 2004. Psychoanalyse. Grundlagen, Behandlungstechnik und Anwendung. Stuttgart: Kohlhammer.

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2 Gender Studies Oksana Bulgakowa Dieser Film scheint für eine Analyse aus der Perspektive der Gender Studies (deutsch: Geschlechterforschung) prädestiniert zu sein: Blow Up (GB/I/USA 1966) ist in der Welt der Modefotografie angesiedelt; schöne stumme Frauen werden von einem nicht weniger attraktiven Mann zu Bildern gemacht, die die Imagination ansprechen und die Lust am Sehen wecken sollen. Das Sujet des Films ist mit den wichtigsten Themen der Gender Studies verbunden: Differenz und Hierarchie zwischen (sowie Rollen und Stereotypen von) den Geschlechtern. Körper, Sex, kulturelle Konstruktion und Imagination, die Fetischisierung der Körper mittels des Bildes sowie Geheimnisse und Erkenntnisse, die mit Körpern, Bildern und Blicken verknüpft sind, werden im Folgenden nach den theoretischen Überlegungen im Zentrum der Filmanalyse stehen.

2.1 Symbolische Konstruktionen des Geschlechts: das Männliche und das Weibliche Der Begriff 'Gender' bezeichnet die soziale Geschlechterrolle, das heißt alles, was in einer Kultur als typisch für Männer oder für Frauen angesehen wird (Kleidung, Beruf,

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Sprache, Körpersprache, Verhaltensmuster etc.), im Unterschied zum ‚Sex‘, dem naturbedingten Geschlecht. Die Gender Studies beschäftigen sich mit dem komplexen Begriff des Geschlechts als Produkt der sozialen Praxis und individuellen Erfahrung, als symbolischen Code, Struktur der Institutionen oder diskursive Formation. Sie untersuchen auch die Differenz zwischen dem ‚Männlichen‘ und ‚Weiblichen‘. Dabei decken sie auf, dass dies keine essentialistischen Kategorien sind, sondern Konstruktionen, die sich auf die symbolisch gedeuteten biologischen Geschlechtsunterschiede stützen. Auch wenn diese als naturgegeben erscheinen, sind sie Konstrukte normativer Ideale. So macht die Theorie auf den alten Dualismus aufmerksam, der unsere Kultur – oder eher unser Denken – prägt und uns immer wieder mit Oppositionen konfrontiert: Geist und Körper, Seele und Verstand, Gott und Teufel, Natur und Kultur, Gut und Böse, links und rechts, aktiv und passiv. Dieser Dualismus wird von den Gender Studies mit Blick auf das Männliche und das Weibliche untersucht. Psychoanalytiker*innen, Soziolog*innen, Philosoph*innen, Kulturwissenschaftler*innen sowie Schriftsteller*innen, darunter Simone de Beauvoir (1949), Betty Friedan (1963), Pierre Bourdieu (1998), Klaus Theweleit (1977) und viele andere, haben Konstruktionen der traditionellen Männlichkeit oder Weiblichkeit beschrieben, die oft metaphorisch und symbolisch gedeutet wurden – als Hartes und Weiches, Vertikales und Horizontales, Eindringendes (Aktives) und Empfangendes (Passives). Die bürgerliche Gesellschaft wurde interpretiert als eine Domäne der männlichen Dominanz und des männlichen Gestaltungswillens, die alle nicht-privaten Sphären – Ökonomie, Politik, Wissenschaft, Religion – bestimmte. Frauen war in dieser patriarchalischen Ordnung eine marginale Position zugewiesen. Kraft, Stärke, Autorität wurde der Männlichkeit zugeschrieben, die Weiblichkeit hingegen war mit Sensibilität und Sinnlichkeit ausgestattet. Jedoch sind das Männliche und das Weibliche diskursive Konstruktionen: Sie markieren Differenzen, strukturieren und zementieren die Kulturen. Die amerikanische Philologin und Philosophin Judith Butler zum Beispiel war inspiriert von der Sprechakttheorie John L. Austins, der in seiner 1955 an der Harvard University gehaltenen Vorlesung auf eine handlungspraktische Dimension des Sprechens hinwies, die nicht nur bezeichnet, sondern auffordert, dasselbe zu vollziehen. Butler definierte, an Austin anknüpfend, auch das Geschlecht als performativ. In ihrem Buch Das Unbehagen der Geschlechter (1990) dekonstruierte sie die Auffassung vom statischen Körper und einer als statisch verstandenen Identität und meinte, der Körper könne nicht unabhängig von kulturellen Formen existieren. Die artifizielle Trennung zwischen Sex und Geschlecht gehe auf denselben Dualismus zurück: Sie impliziert, dass der Mensch aus einem biologischen, natürlich gegebenen Körper und aus einem sozialen Geschlecht bestehe. Aber auch das biologische Geschlecht sei eine kulturelle Interpretation des Körperlichen. Es sei das Ergebnis einer eingeübten Wiederholungspraxis, also des aktiven Handelns und in diesem Sinne der performativen Inszenierungen. Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaftler*innen analysierten die Konstruktionen der Männlichkeit und Weiblichkeit in prototypischen Figuren und Narrativen, in heidnischen, griechischen, biblischen Mythen, in Märchen, Romanen, Kunstwerken, Filmen

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und auch Modetrends. Sie haben diese Bilder und Diskurse in ihrem Verhältnis zu bestehenden Machtsystemen untersucht, die die Dominanz der Männer über den Frauen innerhalb der Gesellschaft sicherten. Die kulturelle Konstruktion des Geschlechts, die metaphorische Deutung der biologischen Merkmale hängt stark davon ab, wie diese Strukturen in der Gesellschaft organisiert sind. Sie bestimmen die Ansichten darüber, welches Geschlecht als aktiv, gesetzgebend, kreativ und welches als passiv, untergeordnet, destruktiv betrachtet wurde. Wenn der Samen wichtiger als der Uterus für die Sicherung des Überlebens der Menschheit angesehen wird, besteht kein Zweifel darüber, dass solche Eigenschaften wie aktiv und kreativ dem Männlichen zugeordnet werden und über den Gegensatz das Weibliche definiert wird. Die symbolischen Konstruktionen des Männlichen und Weiblichen wurden den Menschen mittels Mythen, Kunstwerken und Ideologien seit jeher als natürlich eingeimpft, wurden vom ganzen System der Kultur und der Erziehung getragen und bestimmten das Aussehen und die Verhaltensmodelle, die Sprache und die Gesten der Männer und Frauen. Doch diese Vorstellungen unterliegen dem historischen Wandel. Heute kursieren auch alternative Bilder des Männlichen und Weiblichen. Neben Businessmännern, Soldaten, Westernhelden, Agenten und Athleten gibt es ‚feminisierte‘ Männer. Neben jungfräulichen Müttern und sündigen Verführerinnen, neben Lolitas, neugierigen Rotkäppchen und frigiden, schlafenden Schneewittchen, neben Sexbomben und Pin Up-Girls gibt es auch Amazonen, Kämpferinnen und Machtfrauen (Abb. 8). Die Vorstellungen vom Männlichen und Weiblichen gründen in der sexuellen Differenz und kreisen um das Körperliche. Dabei werden sie nicht aus den Zwängen der Opposition gelöst: Sie existieren nur als ein Paar, in dem das eine durch das andere ad negativum bezeichnet wird. So definiert das Männliche in der symbolischen Ordnung den Verstand, das Gesetz, die Kultur, die Macht und das Vertikale, während das Weibliche die Höhle, die Natur, die Emotion, das Zyklische, das Horizontale, das Biologische und in diesem Sinne das Subversive darstellt. So gesehen geht es um die Konstruktion des prinzipiell Anderen – nicht biologisch, sondern kulturell Anderen –,

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Abb. 8   Neue Frauenrollen im Kino und im Fernsehen: Claire Underwood (a) in House of Cards verhilft ihrem Mann zunächst zur Präsidentschaft und entwickelt sich dann zur Machtfrau, die ihre eigenen Ziele verfolgt. Diana (b) in Wonder Woman ist eine Amazone aus einem utopischen Matriarchat, die in die Männerdomäne des Ersten Weltkriegs eindringt und dort zur siegreichen Anführerin wird. Quelle: House of Cards (USA 2013–18, © Netflix); Wonder Woman (USA 2017, © Warner)

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was Imagination, Subjektivität, Sprache und Sinnlichkeit, aber auch Narrative oder das Zeit- und Raumempfinden betrifft. Der amerikanische Medientheoretiker Walter J. Ong analysierte in seinem Buch Oralität und Literalität (1987) den Ursprung dieser Trennung: Die Durchsetzung der Schriftlichkeit führte zur Änderung der narrativen Strukturen, in denen er männliche und weibliche Narrative ausmachte, die mit der Teilung der Sprachen in wissenschaftliche und private Diskurse verbunden waren. Im Mittelalter war Latein die Sprache der gelehrten Männer, in der wissenschaftliche, medizinische, juristische, theologische (also hermeneutische) Traktate geschrieben wurden. Die Frauen drückten sich in nationalen – in ihren Muttersprachen – aus, und ihre Erzählungen waren nicht mit der öffentlichen und rationalen, sondern mit der privaten Sphäre des Häuslichen und des Emotionalen verbunden. Die Narrative wurden geteilt – in die des Verstandes und des Gefühls – und die sogenannte Frauenliteratur war geboren. Diese Geschlechterordnung unterliegt seit etwa fünf Jahrzehnten einer sich sukzessive beschleunigenden Transformation. Mit der Entwicklung der Technik hat sich der Mann gewissermaßen entmännlicht, indem er seine Kraft und Autorität an effiziente Geräte abzugeben hatte. Dieser Prozess war mit dem historischen Aufstieg der Frauen verbunden, ausgelöst durch eine politische Frauenbewegung in den späten 1960er Jahren, die die Entstehung der feministischen Filmtheorie und des Begriffs des Frauenfilms beförderte.

2.2 Gender Studies und Filmtheorie Die Feministinnen dieser zweiten Welle (als erste wird die Bewegung der Frauenrechtlerinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezeichnet) waren nicht so sehr an der Entwicklung einer theoretischen Disziplin – etwa der feministischen Filmtheorie – interessiert. Sie waren Teil einer politischen Bewegung, die gegen Formen institutionalisierter Ungleichheit der Geschlechter kämpfte, wie sie in der Sexualpolitik, Arbeitsteilung, in den Rollenzuschreibungen und Repräsentationskanons zum Ausdruck kamen. Daraus erwuchs eine Programmatik der weiblichen Ästhetik, der weiblichen Schrift, die sich aus der Kritik am männlichen Logik- und Zeichengebrauch entwickelte und von Lucy Irigaray (1979), Hélène Cixous, Julia Kristeva und anderen formuliert wurde. Die Filmemacherinnen der 1970er und 1980er Jahre deuteten die weibliche Sicht als eine subversive, andersartige, befreiende, utopische Vision in Hinsicht auf die Strukturen der Macht in der patriarchalischen Gesellschaft. Sie wurden stark von den Debatten um diese weibliche Schrift sowie weibliche Gegensprache beeinflusst und bemühten sich im sogenannten Frauenfilm eine weibliche Ästhetik als Ausdruck einer weiblichen Subjektivität und zum Ziel der Emanzipation zu entwickeln. Politisch engagierte westdeutsche Regisseurinnen wie Helma Sanders-Brahms, Helke Sander und Margarethe von Trotta versuchten in ihren Filmen, durch weibliche Randfiguren eine andere Sicht auf

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die politische Ordnung der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu etablieren. Ihr Glaube, dass nur weibliche Figuren diesen subversiven Blick entwickeln können, basierte auf der folgenden Annahme: Frauen machten im Unterschied zu Männern keine Trennung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, zwischen Verstand und Gefühl, großen und kleinen Ereignissen, wie Margarethe von Trotta schrieb: Wir haben uns noch ein wenig die antihierarchische Auffassung des Matriarchats erhalten. Im Matriarchat waren alle Menschen gleich, weil sie alle Kinder von Müttern waren. Die Liebe der Mutter wird voraussetzungslos und bedingungslos gewährt, man muss sie sich nicht durch Leistung oder Verdienst erwerben. Das Patriarchat hat den Lieblingssohn eingeführt, er musste sich die Liebe des Vaters durch Verdienst und Gehorsam erwerben. Das war der Beginn des hierarchischen Denkens. Mit der Hierarchie entstand die Abtrennung der einzelnen Bereiche, entstand allmählich der Gegensatz zwischen Öffentlichem und Privatem. (1983, S. 103 f.)

Gender Studies und Filmwissenschaft In dieser Zeit entwickelte sich aus der politischen Frauenbewegung die feministische Filmtheorie, die Formen der weiblichen Subjektivität im Film erkundete. Ihre Methoden waren von soziologischen und später ethnografischen Studien, von der Psychoanalyse und der Semiotik, später dem Poststrukturalismus und der Diskursanalyse beeinflusst, die sich mit der Erforschung solcher symbolischen Ordnungen befassen. Die feministische Filmtheorie bewegte sich von der Rezeptionsanalyse von Zuschauerinnen, die historisch und empirisch betrieben wurde, zur Auseinandersetzung mit den geschlechtsspezifischen Repräsentationsstrategien und zur Besonderheit der weiblichen Artikulation. Diese stark von der Psychoanalyse geprägte Richtung setzte sich mit der genderbestimmten filmischen Gestaltung von Lust, Fantasien, Narrativen sowie Zeit- und Raumordnungen auseinander. Von der Psychoanalyse war auch die Erforschung der weiblichen Ästhetik und der weiblichen Perspektive, die die maskuline Ordnung durchkreuzte, beeinflusst. Diese Untersuchungen konzentrierten sich zumeist auf den Stummfilm als Reservoir der später anders geformten Potenzialitäten oder auf das Werk der Frauenregisseure innerhalb Hollywoods, wie Dorothy Azner und Ida Lupino. Im Zentrum stand jedoch das Werk experimenteller Filmemacherinnen wie Maya Deren, Chantal Akerman, Marguerite Duras oder Yvonne Rainer, in denen die weibliche Ästhetik als subversive Kraft des Anderen verstanden und deshalb 1973 von Claire Johnston als das Gegen-Kino (counter cinema) definiert wurde (vgl. 1999) (Abb. 9). Dies war jedoch schwer mit der aufkommenden strukturalistischen Theoretisierung des ‚Autors‘ zu vereinbaren, der nur als punktuelle Quelle einer vom Text generierten Bedeutung verstanden wurde. Wenn die Ausdruckskraft der weiblichen Schrift in ihrer Biologie liege, würde diese Annahme zu einem neuen Essentialismus führen. So suchte die feministische Filmwissenschaft nach anderen Methoden. Sie nahm Impulse der Soziologie auf und untersuchte die Konstruktion der Geschlechterrollen, der weiblichen und männlichen Stereotypen in diversen nationalen Schulen oder die Repräsentationen der weiblichen Sexualität anhand der Definitionen von Mütterlichkeit oder den Femmes

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Abb. 9   In Meshes of the Afternoon (USA 1943) erkundet Maya Deren wie in Trance ihre Psyche und Körperlichkeit. Die subjektivierte Betrachtung erzeugt eine fragmentarische weibliche Selbstwahrnehmung, die sich vom male gaze des von Männern dominierten Hollywoodkinos ihrer Zeit gezielt abgrenzt. Quelle: Meshes of the Afternoon (USA 1943, © BFI)

fatales sowie der geschlechtsspezifischen Bestimmung von Cyborgs, die durch Donna Haraways erstmals 1985 veröffentlichtem Manifesto für Cyborgs vorangetrieben wurde (vgl. 1995, S. 65–108). Einen großen Raum nahm hier die Erforschung der Beziehungen zwischen Genre und Gender, etwa am Beispiel der gemeinhin männlich (wie Western) und weiblich (wie Musical, Melodrama) zugeordneten Genres, ein. Die Figurenkonstellationen in Film Noirs, Horror-, Action- oder Musikfilmen wurde als Verschleierung gesellschaftlicher Geschlechterordnungen interpretiert (vgl. Kaplan 1982; Tasker 1993). Linda Williams (2004) entwickelte eine Theorie der body genres, zu denen sie aufgrund ihrer Bindung an körperliche Exzesse – wie etwa Trauer, Angst und Erregung – das Melodrama sowie Horror- und Pornofilme zählte. Sie etablierte die Verknüpfung von Genre und Gender über Ur-Fantasien (die Ursprungs-, Kastrations- und Verführungsfantasien), die sie auch als genderspezifische Konstellationen verstand. Aus der politischen Bewegung entstand allmählich eine akademische Disziplin, die die Konzeptualisierung anderer Differenzen (race, class, ethnicity) sowie die Impulse der postkolonialen Theorie und der Queer Studies aufnahm. Nun befindet sich die Disziplin in einer neuen Situation, die Differenzen müssen in einer Welt der frei zu bestimmenden Gender eine Rekonzeptualisierung erfahren. „Donna Haraways Deklaration einer ‚postgendered world‘ als eine Welt, in der Identitäten multipel sind, hat vor allem Sexualität als basale Kategorie des Humanen ausgeklammert“, bemerkte Marie-Luise Angerer (2005, S. 90). Laura Mulveys Analyse der visuellen Repräsentation: die Politik des Blicks Die Entwicklung der feministischen Filmtheorie startete jedoch mit Laura Mulveys Versuch, den visuellen Repräsentationskanon der Hollywoodfilme aus der Perspektive der Filmzuschauerinnen zu analysieren. Ihre Ergebnisse sammelte sie in ihrem 1975 publizierten Aufsatz Visuelle Lust und Narratives Kino (2001). Ein Impuls für ihre Überlegungen fand sie in der klassischen Psychoanalyse: Sie adaptierte nicht nur die Dichotomie zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen für die Analyse der filmischen Form, sondern auch alle psychoanalytisch interpretierten Operationen, die mit dem Blick ver-

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bunden waren – Voyeurismus, Fetischismus, Narzissmus, Identifikation. So verband sie die Erkenntnis der sexuellen Differenz mit den Funktionen des filmischen Sehens. Wie das funktioniert, demonstrierte Mulvey an der geschickten Manipulation der visuellen Lust im Hollywoodkino – der sogenannten Skopophilie: der Schaulust. Die Befriedigung dieser Lust macht andere Leute zu Objekten, indem sie dem kontrollierenden und neugierigen Blick ausgesetzt werden. Diesen Begriff entlehnte sie bei Sigmund Freud, der die Skopophilie in seiner 1905 erschienenen Schrift Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie am Beispiel der voyeuristischen Aktivitäten von Kindern und deren Bedürfnis, das Private und Verbotene zu entdecken (zum Beispiel ihre Neugierde an der Genital- und Körperfunktion), analysierte.

Skopophilie (aus dem Griech.) bedeutet Schaulust; Freud führte den Begriff ein, um die sexuelle Lust zu definieren, die eine Befriedigung beim Betrachten pornografischer Bilder oder nackter Körper verschafft. Laura Mulvey übernahm den Begriff, um die Schaulust zu definieren, die bei der Rezeption von Filmbildern – zumeist Körperbildern – ausgelöst wird. Im Kino ist ein Austausch von Blicken zwischen Filmfiguren und Zuschauendem nicht möglich. Diese Situation macht das Publikum zu Voyeuren und Voyeurinnen, zu machtvollen Subjekten des Blicks. Laura Mulvey übertrug diese oft diskutierte Tatsache in den diegetischen Filmraum und analysierte die Machtkonstellationen, die zwischen dem Träger des Blicks (oft einem Mann) und dem Objekt des Blicks (oft eine Frau) entstehen. Der Blick war in ihrer Interpretation mit Begehren beladen und mit dem visuellen Fetischismus im Film verbunden.

Auf den ersten Blick scheint es keine Verbindung zwischen dem Kino und der verborgenen Welt der geheimen Beobachtung von Unwissenden und ihren unfreiwilligen Opfern zu geben. Was auf der Leinwand wahrzunehmen ist, wird offen gezeigt. Aber da die meisten Hollywoodfilme eine hermetisch abgeschlossene Illusionswelt präsentieren, erfüllt das Kino den ursprünglichen Wunsch nach lustvollem Betrachten. Mulvey nahm auch Erkenntnisse von Jacques Lacan auf und interpretierte mit seiner Theorie den Mechanismus der filmischen Identifikation mit dem faszinierenden Fremden auf der Leinwand, die die Grundlage des Begehrens bildet und das Filmbild als Matrix des Imaginären konstituiert. Filme sehen ist eine lange und zugleich hoffnungslose Liebesbeziehung zwischen Bild und Selbstbild. Das Imaginäre aber ist in diesem Fall das Unbewusste der patriarchalischen Ordnung, es strukturiert die Filmform, kontrolliert die Bilder, den Blick und das Spektakel. Dies sieht Mulvey als die Voraussetzung ihrer genderorientierten Theorie der filmischen Schaulust und spezifiziert für den Film die basale Dichotomie des Männlichen und Weiblichen: Der Mann tritt im Film als aktiver Träger des Blicks auf; die Frau erscheint als passives Objekt des Blicks, als Bild, als visuell perfektes Objekt der voyeuristischen Schaulust, welches das 'Angesehen-werden-

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Wollen' konnotiert. Der männliche Held treibt aktiv die Handlung voran, kontrolliert die Fantasie des Films und tritt so als Repräsentant der Macht hervor – er wird zum Träger des Zuschauerblicks. So zementiert das konstruierte Frauenbild die patriarchalische Ordnung. Die Hollywood-Industrie hat diese Strategie in Narrativen verankert: Die Frau ist ein erotisches Objekt für die Charaktere im Film und zugleich für den Betrachter im Zuschauerraum. So bindet eine Schauspielerin in Gestalt eines Showgirls beide Blicke. Entsprechend den Prinzipien der herrschenden Ideologie kann der Mann nicht zum Sexualobjekt gemacht werden, indem er sich weigert, den Blick auf einen Mann zu richten (Abb. 10). In den Kategorien der Psychoanalyse stellt die weibliche Figur allerdings ein Problem dar: Sie steht für sexuelles Anderssein, für die materielle Evidenz des Kastrationskomplexes, der von hoher Bedeutung für die Organisation der symbolischen Ordnung ist. Ihre Anwesenheit droht, immer wieder eine unbewusste Angst der männlichen Figur (oder des männlichen Publikums) zu wecken. Das männliche Unbewusste hat zwei Möglichkeiten, dieser Angst zu entkommen: auf sadistische oder masochistische Weise. Es kann die Frau entmystifizieren, sie, wie etwa in vielen amerikanischen MainstreamFilmen (zum Beispiel im Film Noir), durch Abwertung, Bestrafung oder Rettung in den Narrativen verankern oder die Kastration ignorieren, indem es die weibliche Figur

Abb. 10   Der male gaze ist ein von Laura Mulvey geprägter Begriff der feministischen Filmtheorie. Er bezeichnet die von Männern dominierten Sehgewohnheiten des klassischen narrativen Hollywoodkinos. Die Kamera nimmt hier die Position des heterosexuellen, männlichen Zuschauers ein. Der male gaze stellt die Frauen im Film als Objekt auf zwei Ebenen zur Schau: zum einen als erotisches Objekt des männlichen Protagonisten im Film, zum anderen als erotisches Objekt für den männlichen Zuschauer, wie hier etwa Grace Kelly in Rear Window. Quelle: Rear Window (Das Fenster zum Hof, USA 1954, © Universal)

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in einen Fetisch umwandelt, wodurch schlagartig eine Verbindung zum Masochismus aufscheint. Die Frau verschafft Lust, doch sichert sie zugleich die Kontrolle. Diese Widersprüche und Ambiguitäten analysiert Laura Mulvey am Beispiel der Filme von Alfred Hitchcock oder Josef von Sternberg, sowie in Michael Powells Peeping Tom (Augen der Angst, GB 1963), einem Film, der die Zuschauenden zwingt, sich mit dem voyeuristischen Blick eines Mörders und Pornofilm-Kameramanns zu identifizieren, der die Objekte seiner Beobachtung durch ein im Kamerastativ verstecktes Messer tötet (Abb. 11). Der Aufsatz löste eine Diskussion aus, und Mulvey korrigierte später einige ihrer Thesen, vor allem um zu erklären, warum auch Frauen die Position männlicher Zuschauer teilen können (1999). Sie griff auf das Konzept der Travestie oder Maskerade zurück, die die Psychoanalytikerin Joan Rivière 1929 entwickelte (1994), um zu zeigen, dass das Weibliche nur ein Mittel sei, um die von der Frau usurpierte Männlichkeit zu verbergen. Das Konzept erfuhr eine Umdeutung, doch die Idee der symbolischen Travestie wurde fest in der feministischen Filmtheorie verankert. Mulveys Text gab auch den Anstoß zu Überlegungen über den homoerotischen Blick, zum Beispiel von Männern auf Männer im Film; auf diese Weise wurden sie ebenfalls zu Objekten der Schaulust. Der Impuls von Laura Mulvey, über Lust, Blick, Repräsentation und Fetischisierung der weiblichen Körper nachzudenken, kann für die Analyse von Blow Up produktiv gemacht werden, obwohl Antonionis Film keineswegs dem HollywoodRepräsentationskanon entspricht (auch wenn er von MGM produziert und verliehen wurde). Interessanterweise ist Mulvey auch auf andere Weise mit Antonioni verbunden: Ihr Ehemann und enger Mitarbeiter Peter Wollen wurde zum Drehbuchautor von Antonionis Film Professione: reporter (Beruf: Reporter, I u. a., 1975) und zwar in demselben Jahr, als Mulvey ihren Text veröffentlicht und das Paar gemeinsam einen Film gedreht hatte: Riddles of the Sphinx (GB 1977). Dieser sollte die patriarchalische Macht

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Abb. 11   In Peeping Tom wird den Zuschauenden der voyeuristische Blick (a) des Kameramanns Mark (b) aufgezwungen. Quelle: Peepting Tom (Augen der Angst, GB 1960, © Astor Pictures)

des männlichen Blicks – und gleichzeitig den Ödipus-Komplex – im Film durch eine weibliche Perspektive ersetzen.

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2.3 Versuch einer Interpretation: Michelangelo Antonionis Blow Up Wie kann Antonionis Film vom Standpunkt der Gender Studies aus analysiert werden? Offensichtlich rücken hier die Geschlechterrollen und deren Repräsentationsstrategien, aber auch die Positionierung des aktiven Blicks und der Lust, die genderorientierte Gestaltung der Erzählweise, des Raums und der Imagination in den Fokus. Bleiben wir zunächst bei der Frage, welche Geschlechterbilder hier inszeniert werden und was sie uns über die Geschlechter-Beziehungen und Körpermoden der damaligen – und vielleicht der heutigen – Zeit sagen. Wir folgen dem Weg eines Modefotografen durch das Swinging London – einer Stadt, die Mitte der 1960er Jahre mit den neuesten Trends in Musik, Mode und Lifestyle assoziiert war. Er beobachtet und fotografiert im Park ein Liebespaar und entdeckt bei der Vergrößerung dieser Bilder, in den blow ups, eine Leiche, die er nachts auch tatsächlich findet. Nun versteht er, warum die mysteriöse Frau aus dem Park die Bilder zurückforderte und ihm dafür sogar ihren Körper anbot. Am nächsten Morgen jedoch sind sowohl die Negative aus seinem Atelier als auch die Leiche aus dem Park verschwunden. Erstens haben wir einen männlichen Helden. Antonioni, der sich in seinen vorherigen Filmen vornehmlich mit Frauenfiguren auseinandersetzte und sie von seiner Lebensgefährtin Monica Vitti verkörpern ließ (Abb. 12), macht nun einen jungen Mann zum Protagonisten und schickt ihn auf die Entdeckungsreise nach einer – wie es scheint unergründlichen – Wahrheit. Die männlichen Figuren sind in Antonionis Filmen ebenso attraktiv wie die weiblichen und werden genauso kunstvoll – in architektonisch gestalteten Kompositionen und schönen Umrahmungen – gefilmt: Francisco Rabal in L’avventura (Die mit der Liebe spielen, I/F 1960), Marcello Mastroianni in La notte (Die Nacht, I/F 1961), Alain Delon in L’eclisse (Liebe 1962, I/F 1962), Tomás Milián in Identificazione di una donna (Identifikation einer Frau, I/F 1983) oder David Hemmings in Blow Up. Sie sind meist an die urbane Umgebung gekoppelt, anders als etwa die Frau aus Blow Up, die von Vanessa Redgrave gespielt wird. Die mysteriöse Unbekannte wird im Park eingeführt und so mit der Natur, etwas Organischem, zusammengebracht. Aber die Natur ist etwas, was dem menschlichen Willen nicht gehorcht, auch wenn der Park von Menschenhand angelegt wurde. Selbst im Interieur des Ateliers wird die Frau auf die Landschaft projiziert, die durch das Fenster zu sehen ist (Abb. 13). Konstruktion der Geschlechterrollen im Film. Die neue Männlichkeit Der junge attraktive Mann, für den der Modefotograf David Bailey als Prototyp gesehen wurde, präsentiert eine neue Männlichkeit. Seine Lockerheit ist kombiniert mit perfekter Motorik, freier Erotik und dem neuen Dresscode. Bailey oder auch die Beatles geben in dieser Zeit die Richtung einer neuen Männermode an und etablieren eine elegante Alternative zu der konservativ-formalen Kleidung: keine Krawatte, kein Anzug, offenes Hemd, lange Haare, legere helle Hose, oft Jeans mit einem Reißverschluss, der auch den

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Abb. 12   Antonionis Zusammenarbeit mit der italienischen Schauspielerin Monica Vitti zwischen 1960 und 1964 führte zu Porträts von Frauen zwischen Ausgelassenheit und Melancholie. Vittis schweifender Blick auf die Welt entzieht sich in diesen Filmen immer wieder Antonionis Kamera. Sie ist gleichzeitig Objekt und Subjekt des Blickes in den Filmen der italienischen Tetralogie. Quelle: (a) L’Avventura (Die mit der Liebe spielen, I/F 1960, © Cino del Duca), (b) La notte (Die Nacht, I/F 1961, © BFI), (c) L'eclisse(Liebe 1962, I/F 1962, © Studiocanal), (d) Il deserto rosso (Die rote Wüste, I/F 1964, © Studiocanal)

Abb. 13   Genderspezifische Definition des Raums: Dem Fotografen gehört die linke Hälfte des Bildkaders mit dem abstrakten Kunstwerk im Hintergrund, einem weißen Kreis im Quadrat als Inbegriff einer rationalen Kultur. Der unbekannten Frau ist in der rechten Hälfte der Fensterrahmen zugeordnet: der Durchblick auf die Wirklichkeit, mit der Natur im Vordergrund – die Natur als ein Phänomen, das sich dem menschlichen Willen nicht beugt. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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Männern erlaubt, sich schnell auszuziehen, um in das erotische Abenteuer einzusteigen. Diese Bekleidung zelebriert den informellen Stil, der einige Jahre zuvor bei James Dean oder Marlon Brando noch als rebellisch und nonkonformistisch angesehen wurde. Die Kleidung betont die Fähigkeit eines jungen biegsamen Körpers, sich schnell zu bewegen und alle möglichen Posen anzunehmen (sich auf den Fußboden setzen oder hinlegen) und sich jedem Milieu anzupassen (der Obdachlosen, der Bohémiens, der Hippies), wie der Fotograf im Film demonstriert. Diese neue Männlichkeit triumphierte im europäischen Kino; sie musste sich nicht länger in athletischen oder kriegerischen Handlungen ausdrücken. Nach den verzweifelten und gebrochenen italienischen Machos – wie in Cronaca di un amore (Chronik einer Liebe, I 1950) und Il grido (Der Schrei, I 1957) – erscheinen bei Antonioni androgyne, melancholische junge Männer wie Alain Delon oder David Hemmings, die zart wie Frauen sind. Die Helden sind nicht mehr Arbeiter und Soldaten, sondern Künstler, Journalisten oder spielende Börsenmakler. Aber in dieser Zeit werden selbst Militäroffiziere anders präsentiert. Der britische Superagent James Bond erscheint 1962 auf der Leinwand und ändert sowohl den alten Business-Look als auch den militärischen Look: Seine Anzüge schränken in keiner Weise die Bewegungsfreiheit ein; sie wurden aus leichtem synthetischem Stoff gemacht, figurbetont, doch etwas luftiger – um die Bewegungen zu erleichtern, und seine Hemden wurden nicht mit Knöpfen, sondern mit Druckknöpfen ausgestattet, damit er sich schnell ausziehen kann (vgl. Cook und Haines 2005, S. 150, 157). In der Kleidung des von David Hemmings verkörperten Fotografen, der inmitten junger attraktiver Frauen steht, sind dieselben Züge betont. Im Film wird stets angezogen, ausgezogen, umgezogen. Doch dieser Striptease ist beruflich, er weckt weder die voyeuristische Neugier noch die erotischen Affekte des Helden oder des Publikums. Wenn sich die Models im Hintergrund ausziehen, hantieren im Vordergrund die Fotografen mit Abzügen und Objektiven, trinken Kaffee und schenken den nackten weiblichen Körpern keine Aufmerksamkeit. Körper und Sex haben einen Marktwert als Bilder, sie können als Tauschangebote fungieren; und darauf deutet nicht nur das Angebot der Unbekannten, ihren Körper gegen Bilder aus dem Park einzutauschen, sondern auch eine stumme Szene im Büro des Fotografen. Beim Betrachten von zwei kichernden jungen Frauen, die Models werden wollen (Jane Birkin und Gillian Hills), lässt er eine Münze zwischen den Fingern gleiten, die durch die Nahaufnahme betont wird. Das Spiel deutet auch auf die Wahl, welche der beiden Lolitas er nehmen soll, die Blonde oder die Brünette, doch weder der Fotograf noch die Zuschauenden interessieren sich dafür. Hängt dieses Desinteresse mit dem Beruf des Mannes zusammen? Er betrachtet Frauen als Bilder, er macht sie zu Bildern. Auf den ersten Blick scheint Blow Up voll und ganz Laura Mulveys Interpretationsschema der asymmetrischen Verteilung der Blicke und der Machtpositionen zu entsprechen. Wir haben einen aktiven Träger des Blicks – den Fotografen, der damit Geld verdient, dass er Frauen zu Bildern macht, zu Objekten, zu schönen Fetischen, die als Ersatz für eine sexuelle Beziehung stehen können (als erotische Bilder, als Mode-

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ikonen, als Vorlagen für Voyeure – einsame Soldaten oder noch einsamere Teenager). Vor seiner Kamera stehen stumme Models, die seinem Willen und seinem Blick ausgeliefert sind. Er kontrolliert ihre Erscheinung, er sperrt sie in den Käfig ein – in das Objektiv seines Fotoapparats, in die Vierecke seiner Bilder. Der Filmarchitekt Assheton Gorton materialisierte diesen metaphorischen gläsernen Käfig im Szenenbild des Ateliers. Der Fotograf verwandelt die Frauen in Stills, und die Models sind bereit, mit ihren Körpern zu bezahlen, um in Bilder verwandelt zu werden. Fetischisierung des weiblichen Körpers  Die Frauenbilder, die der Fotograf produziert und die als Modefetische verkauft werden, sind höchst artifiziell und stören die Sinnlichkeit. Die Erotik ist im Film stets präsent, doch nicht ausgelebt. Zwar ist die Produktion des Bildes eines Models, das vom bekannten Model dieser Zeit, Veruschka von Lehndorff, gespielt wurde, als symbolischer Koitus inszeniert, doch gleichzeitig ersetzt das Bild die sinnliche Vereinigung. Ein möglicher Koitus mit der geheimnisvollen Fremden wird unterbrochen. Selbst der Sex mit zwei Groupies – zwei zwillingsartige junge Frauen in bonbonfarbenen Kleidern – ist kein erotisches Erlebnis, das die Zuschauenden affiziert (obwohl gerade diese Szene und das dort kurz zu sehende Schamhaar dazu führte, dass MGM den Film in einer gekürzten Fassung vorführen musste). Die Lolitas sind attraktiv, doch wirken sie wie Marionetten, nicht wie aufreizende erotisierte Körper, und die Sex-Orgie ähnelt eher einem albernen, destruktiven, ironisch beobachteten Spiel. Der Fotograf kommuniziert mit den Frauen wie mit Bildern, tritt mit ihnen in eine entkörperlichte Interaktion, und diese Bilder werden zu Fetischen. Die Frauen im Film folgen einer neuen Mode, die einen androgynen Körper anpreist. Dieser Körper verliert die typischen biologischen Frauenmerkmale – Brüste, Hüften und Kurven. Es ist ein mädchenhaft-kindlicher, nahezu anorektischer Körper, wie ihn auch Lesley Hornby, die als Twiggy zum bekanntesten Model der Zeit avancierte, im Minirock präsentierte (Abb. 14). Die dürren Models in Blow Up sind in künstliche, pinkfarbene Federn gehüllt, die kurvigen Formen durch geometrische Linien unterdrückt, wie es die Mode dieser Zeit vorgab. In den 1950er Jahren wurde der weibliche Körper noch durch Christian Diors New Look zelebriert und mit organischen floralen, üppigen Formen verbunden. Obwohl die Frauen keine BHs mehr tragen (die Feministinnen betrachten jede Form der Unterwäsche als eine Form der Repression) und die Röcke immer kürzer werden (der Minirock ist eine Londoner Erfindung!), eliminiert die Strumpfhose die erotische Zone – die nackte Haut zwischen Strumpf und Slip – und de-erotisiert die Beine. Die neue Mode abstrahiert und desexualisiert den Frauenkörper: Er ist ein Set aus geometrischen Figuren, wie in Yves Saint Laurents Mondrian-Kollektion aus dem Jahr 1965 oder wie in der Pop Art. Die Künstlichkeit der Frauen ist betont. Auch das Kleid von Sarah Miles, die Patricia, die Frau des Malers verkörpert, ist im Liberty-Stil gestaltet, die die Natur in Punkte verwandelt, wie die abstrakte Malerei ihres Mannes. Diese Mode des Atom-Zeitalters ist von Schutz- und Raumfahrt-Anzügen inspiriert (eine Demonstration von Atom-

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Abb. 14   Die Mode der Swinging Sixties feierte psychedelische Farben und geometrische Muster, beispielsweise im Mondrian-Kleid von Yves Saint Laurent, hier auf dem Cover einer englischen Vogue (a). Bekanntestes Model und Schönheitsideal ihrer Zeit war die Britin Twiggy (b) mit ihrem jungenhaften Körper und ihren androgynen Gesichtszügen. Auch für Blow Up wurden Darstellerinnen und Models in zeitgenössischer Mode eingekleidet, etwa Jennifer Kentrige für Setphotographien (c). Quelle: Vogue Magazin (Ausgabe vom September 1965 © Condé Nast); Pop Models (F 2014, © arte); Chatman, Seymour/Duncan, Paul (Hrsg). 2004. Michelangelo Antonioni – Sämtliche Filme, Köln: Taschen, S. 103

gegnern und -gegnerinnen sehen wir auch im Film), die den Kontakt zur gefährlich kontaminierten, todbringenden Natur meidet. In den Körpern der Blow Up-Models wird die Ähnlichkeit mit Außerirdischen oder Vögeln herausgestellt, ihre Gesichter sind durch Bemalung in Masken verwandelt, wie die der Pfauenfrau. Die Frauen sind monströs – es ist also nicht der Fotograf, sondern die Mode-Macher, die Frauenkörper bereits zu fetischisierten, unorganischen Objekten gemacht haben (Abb. 15). Kostüme sind im Film gleichzeitig Metaphern der Figuren und der stereotypen Rollen, wie Roman Mauer treffend bemerkt: „Veruschkas Schlangenkleid auf der Party korrespondiert mit Thomas Abstreifen seiner Obdachlosen-Verkleidung zu Beginn: Beide ‚häuten‘ sich beständig im professionellen Spiel mit Oberflächen, Texturen und Fotografien. Tritt Veruschka wie eine Femme Fatal auf, so umfängt Patricia das Genre des Melodrams: Eingeschnürt im roten Netzkleid, das ihre Nacktheit betont, aber nicht zeigt, artikuliert sie zugleich Begehren und emotionale Gefangenschaft.“ (Abschn. 1 im Kap. 4) Blow Up ist nicht der erste Film Antonionis, in dem er sich mit der Welt der Mode oder der Produktion von Frauenbildern befasste. In Le amiche (Die Freundinnen, I 1955) eröffnete seine Protagonistin einen Modesalon, in La signora senza camelie (Die große Rolle, I/F 1963) zeigte der Regisseur, wie eine kleine Verkäuferin zum Filmstar, zum schillernden Bild gemacht und dann demontiert wird. Doch diese Filme waren Melodramen, die zwar eine unterkühlte Distanz vermitteln, doch weit entfernt von der ironischen Entfremdung in Blow Up waren. Ist das dem neuen Zeitgeist

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Abb. 15   Die Frauenkörper werden durch die neue Mode abstrahiert und desexualisiert: Sie gleichen einem Gefüge der geraden Linien und geometrischen Flächen; Farben werden kubistisch auf ihnen verteilt – ohne die traditionelle Verführung des Leibes. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

geschuldet, in dem Sex nicht Leidenschaft und Genuss bedeutet, sondern wie eine Sportübung praktiziert wird? Das demonstrieren auch einige andere Filme der Zeit, die in der Welt der Mode angesiedelt sind: John Schlesingers Darling (GB 1965), Will Trempers Playgirl (D 1966), aber auch der experimentelle französische Film Qui êtesvous, Polly Maggoo? (Wer sind sie, Polly Maggoo?, F 1966), gedreht vom Vogue-Fotografen William Klein, in denen der Modemacher den Frauenkörper neu erfindet, in Stahlkonstruktionen presst, in denen sich Männer in ein Bild verlieben, doch das Model keine Beziehung zwischen sich selbst und diesem Bild entdecken kann. Monica Vitti, Antonionis Partnerin und Protagonistin seiner vorherigen Filme, hat auch einen solchen Körper. In einer Einstellung im Film L’eclisse sucht Alain Delon in dem Ausschnitt ihrer Seidenbluse – zusammen mit der Kamera – lange nach einer Andeutung ihres Busens (in der Art von Sophia Loren oder Gina Lollobrigida), doch findet nichts. Ebenso androgyn ist Vanessa Redgraves Körper, was durch männlich anmutende Kleidungsstücke – ein Cowboyhemd, ein Halstuch – zusätzlich betont wird. Es geht also nicht um den Bruch mit dem alten Bild der Weiblichkeit, sondern um etwas anderes. Der Film legt nah, dass die schwindende Erotik damit zusammenhängt, dass der Körper an das Bild (an die Werbung, an die Oberfläche) geknüpft wird. In diesem Augenblick verliert er nicht nur seine Materialität, sondern auch seine Sinnlichkeit. Wir sehen im Film schöne Männer und schöne Frauen, alle sind dem Zeit-Typ angepasst (und eigentlich sehen alle Frauen im Film gleich aus, selbst die Kellnerin im Restaurant ähnelt dem Model Veruschka) und alle sind jung. Das Alter ist nur auf den schwarzweißen Bildern des Fotografen aus dem Doss House zu sehen: ein nackter, alter

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Mann, eine angezogene, alte Frau. Das Alter ist mit der sozialen Misere, der Armut oder mit dem Tod gleichgesetzt: Auch die Leiche im Park ist ein älterer Mann. Die Fantasie des Fotografen wird von einer Unbekannten gereizt, die sich seinem Willen widersetzt, in ein Bild verwandelt zu werden. Antonioni betont in der Darstellung der beiden Körper einen ähnlich androgynen Touch, gleiche nackte Torsi, gleiche männliche Riemen und ähnliche Gesten: Der Fotograf verdeckt seine entblößte Brust genauso wie Vanessa Redgrave. Die Tatsache, dass die Rolle des Fotografen zunächst für Terence Stamp gedacht war, der gerade einen homosexuellen Matrosen in Billy Budd (Die Verdammten der Meere, GB 1961, R: Peter Ustinov) gespielt hatte und zwei Jahre später ein bisexuelles, verführerisches Wesen in Pier Paolo Pasolinis Teorema (Teorema – Geometrie der Liebe, I 1968) spielen wird, deutet auf die Tilgung der biologischen Unterschiede. Die alten Geschlechterrollen – die männlichen Männer, die weiblichen Frauen – sind nur als Gipsabgüsse möglich, die in die Antiquitätenladen verbannt wurden. Der Dialog zwischen dem Fotografen und der Unbekannten über Ehe und Kinder endet mit der Aufnahme eines weiblichen Gipskopfes mit Häubchen, auf das der Fotograf die Asche seiner Zigarette schnippt: Kinder sind aus der Welt dieser Erwachsenen ausgeschlossen. Dem Kind am Tor, das zu Anfang des Films zu sehen ist, schenkt der Fotograf keine Aufmerksamkeit. Ein Kinderwagen in Blow Up (zu sehen durch das Fenster des Antiquitätenladens) wird von einem alten Frauenbild umrahmt: einer verstaubten, kurvigen Statue. Geheimnisse und Erkenntnisse: Frau/Bild/Tod  Sam Rohdie, Autor eines aufschlussreichen Buches über Antonioni, bemerkte, dass in Blow Up “the change from female to male protagonists […] is accompanied by a change from a subjective camera and narration to a rigorously objective camera and objective narrative position” (1990, S. 184). Dieses objektive, männliche Narrativ ist mit der Geschichte von Kreativität, Transformation, Geheimnis und Erkenntnis verbunden. Der Fotograf produziert Frauenbilder, Modebilder. Wir sehen jedoch lediglich ihre Produktion, nicht das Ergebnis. Als Fotos betrachten wir im Film nur seine schwarzweißen Stadtbilder und die aus dem Park. Der Produktionsprozess der Modebilder ist jedoch ambivalent, der Fotograf wirkt grob und aggressiv. Doch nicht sein aggressiver Ton ist mit Gewalt verbunden, sondern die Transformation selbst: Er macht Frauen zu Bildern, das heißt, er zwingt sie dabei aus der Bewegung, die Leben signalisiert, zum Stillstand, der den Tod assoziiert. Gerade in diesem Moment wechselt der Film zum Modus des Fotofilms – zur Montage der Standbilder. So wird der Mythos um einen Künstler, der die tote Natur animiert, umgedreht. Das Sujet ist nicht neu: Edgar Allan Poe hat das bereits im Jahr 1842 innerhalb des Horrorgenres, in der Erzählung Das ovale Bild, verwirklicht. In diesem Rahmen ist es nur logisch, dass der Fotograf nicht in der Lage ist, diese Körper sinnlich zu erfahren. Den Frauen ist ein Platz in der Bilderwelt zugewiesen, sie sind Illusionen und Simulakren. Vielleicht liegt darin der neue Sinn der Weiblichkeit? Aber die Models finden sich in diesem virtuellen Raum zurecht und verstärken mit

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ihren Aussagen die chimärische Natur ihrer Lebenssphäre: Veruschka sagt dem Fotografen, sie würde nach Paris fahren, und als er sie auf der LSD-Party in London antrifft, ist sie davon überzeugt, in Paris zu sein. Und doch sind die Models – diese „birds“, wie der Fotograf sie nennt, – in den gläsernen Käfig des Szenenbilds eingesperrt oder im Glas seiner Linse, was Antonioni nicht nur in diesem Film betont – durch Vitrinen, Spiegel und Reflexe, die in allen seinen Filmen aufdringlich ins Bild rücken. Für den Film I tre volti (Die drei Gesichter einer Frau, GB 1965) ließ er ein Glaslabyrinth konstruieren, in dem sich der männliche Protagonist verliert. Der Kuss durch das Glas zwischen dem Liebespaar in L’eclisse wurde zur Metapher der verhinderten Beziehungen (Abb. 16). Spiegel, Fensterscheiben, Glaswände drängen sich zwischen Männer und Frauen und verhindern den Kontakt. Auch das Telefon tritt bei Antonioni als fragwürdiger Mediator der Kommunikation auf. So inszeniert er den entkörperlichten Kontakt bereits lange bevor die Technik und sozialen Netzwerke die Formen des entkörperlichten Kontakts erweitern, ja nahezu auf die Spitze treiben. Wenn die Geschlechterbeziehungen so abstrakt und entkörperlicht werden, welche Form kann die Erkenntnis annehmen, die sehr viel mit der Sexualität zu tun hat, mit dem Eindringen in das Andere? Wenn in der Bibel steht „Abraham erkannte sein Weib Sarah“, meint dies nicht, dass sie einander kennengelernt haben. Der Prozess der Erkenntnis ist ein traditionell männliches Narrativ. Es wird im Film sehr ungewöhnlich gelöst und mit dem Verständnis des männlichen Blicks verbunden. Unser aktiver Mann ist Träger des Blicks, der Produzent der Bilder. Die zeitgenössische Filmkritik hat in diesem 'Playboy' alle männlichen Sünden entdeckt: Er

Abb. 16   Kuss durch das Glas als Inszenierung eines entkörperlichten, medialen Kontakts in L’eclisse. Quelle: L‘eclisse (Liebe 1962, I/F 1962, © Studiocanal)

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ist ein frauenfeindlicher Typ, oberflächlich, brutal, machohaft, amoralisch. Dabei demonstriert er im Film die Maskerade aller männlichen sozialen Rollen, die er anprobiert und ablegt: Er ist Jäger, Obdachloser, Voyeur, untreuer Ehemann, Künstler, Liebhaber, Sammler, Detektiv, Spieler und Dandy. Während die Frauen unbeweglich und eingesperrt sind, bewegt er sich ständig, ja rastlos durch London. Er navigiert nicht durch den Raum, sondern auch durch seine Fotos, die er von den Räumen und Körpern macht. Er ist ein Narziss mit kindlichem Blick und kindlicher Amoralität (vgl. Brunette 1998, S. 114), der gezwungen ist, die anderen abzubilden. Vielleicht ist seine Aggressivität aus diesem Bruch geboren worden. Die einzige Frau, zu der er möglicherweise eine emotionale Bindung entwickelt hat, ist Patricia, die Frau seines Freundes, der eine Mutterrolle zugewiesen wird. Kein Zufall, dass Antonioni diesen Helden mit einer klassischen Urszene im Freud’schen Sinne konfrontiert. Freud meinte damit den Schock, den das Kind erlebt, wenn es zufällig zum Zeugen eines Geschlechtsakts zwischen seinen Eltern wird, was ein tiefes Trauma und später womöglich Neurosen in ihm auslöse, weil es nicht verstehen könne, was passiert. Es bleibt ein Geheimnis, dass das Kind nicht durchdringen kann, als Verrat empfindet und in dem Moment innerlich zum Mörder (seines Vaters) wird. Antonioni bricht die Urszene ab. Die Kamera und der Blick des Helden gleiten von Patricia und ihrem Ehemann ab. Der Schwenk endet mit dem Bild der Spüle und den Resten des alltäglichen Essens: Brot und Kartoffeln. Ist das ein ironischer Seitenhieb zu dem kitchen sink-Realismus der britischen Schule dieser Zeit? Oder ein ironischer Seitenhieb zu Freud? Antonioni ist nicht bereit, eine psychoanalytische Erklärung für die Gefühllosigkeit seines Protagonisten zu liefern und lenkt unsere Aufmerksamkeit auf ein anderes Sujet, das seine Rastlosigkeit begründet. Wir wissen nicht, ob er Schönheit, den Sinn des Lebens oder die Antwort auf das Geheimnis der Existenz sucht. Zu oft wurde seine Fotokamera mit dem Phallus und einem Instrument der Gewalt von zeitgenössischen Kritikern verglichen, aber sie ist auch ein Instrument der Analyse. Mit dieser Kamera jagt er einem Geheimnis nach, das vielfältig ist. Es ist das Geheimnis der unbekannten Frau und ihrem Begleiter, das plötzlich zum Geheimnis von Leben und Tod wird und im Film nicht gelöst werden kann. Diese Geschichte wird ebenso unterbrochen wie eine mögliche Vereinigung mit der Unbekannten, also der körperlichen Erkenntnis der Frau. Das Geheimnis der Frau ohne Identität wird im Film mit dem Kriminalgeheimnis gekoppelt und generisch kodiert. So fallen das Rätsel des Bildes, des Todes und das Mysterium der Weiblichkeit zusammen. Sind etwa das Bild selbst und das Rätsel des Todes an sich für Antonioni weiblich? Die Subjektivität, die aus einer solchen Wahrnehmung entstehen kann, ist eine imaginäre. Erst wenn die Sprache, die Reflexivität in diesen Prozess eintritt, kann vielleicht eine Lösung gefunden werden, doch die Sprachebene wird vom Regisseur bewusst ausgeklammert und auch der Held verstummt allmählich. Es ist kein Zufall, dass sowohl seine Beziehung zu Veruschka als auch zu der Frau im Park in eingefrorenen Fotofilmen festgehalten wird: Die Parallelität der Verfahren macht die Parallelität der Vorgänge deutlich. Der Protagonist etabliert durch die Kamera seine Beziehungen zur Welt – zu Frauen, zum Sex und zum Tod. Beides ist ein Bild, das bei der Vergrößerung

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so abstrakt wird, dass das Abbild verschwindet und der Fotografie das eigene Objekt der Referenz entgleitet. Auch der Leichnam verschwindet aus dem Park. Der Held kann nicht in das Geheimnis, in die Tiefe des Bildes, eindringen und bleibt auf der Oberfläche. In einer Einstellung betrachtet er den Raum als eine Karte. Das Bild kann nicht betreten werden, also kann auch das Geheimnis nicht gelüftet werden. Diese narrative Besonderheit ist untermauert durch die narzisstische Natur des Fotografen. Er versucht, sich selbst zu verstehen, indem er die Bilder seiner vermeintlichen Doppelgänger betrachtet. Drei solcher Doppelgänger lassen sich im Film ausmachen, einer davon ist die Frau aus dem Park. Sie hat keinen Namen (wie auch der Fotograf nicht), keine Adresse und keine Identifikation. Er erkundet ihren Körper, der seinem Körper ähnlich sieht (Abb. 17). Dass der Fotograf sich gerade für die Frau interessiert, die ihm ähnlich ist, verstärkt seine Positionierung als Narziss: Er verliebt sich in sich selbst. Im Film jedoch tauchen noch andere Doppelgänger des Helden auf. Einer davon ist der Autor der Kurzgeschichte, die Antonioni zum Film machte: Julio Cortázar, der als Obdachloser fotografiert wird und den der Fotograf um die Freiheit beneidet. Das sagt er seinem Verleger beim Lunch im Restaurant, während dieser durch das Album mit den schwarzweißen Abzügen blättert. In dem Moment, als der Verleger auf dieses Alter Ego des Fotografen hinweist, sieht dieser auf der Straße einen Mann, der sein Auto durchsucht. Er sieht ihm verdächtig ähnlich, doch dieser Doppelgänger verliert sich in der Gruppe von Afrikanern und verschwindet, wie die Unbekannte in einer späteren Szene. Wenn die Frau immer mit dem ‚Anderen‘ kodiert ist, das sich ihm nicht öffnet, so löst sich in dieser Szene der Doppelgänger in der Gruppe der kolonialen ‚Anderen‘ auf.

Abb. 17   Die Fantasie des Fotografen wird von einer Unbekannten gereizt, die sich seinem Willen widersetzt, in ein Bild verwandelt zu werden. Antonioni betont Analogien in der Darstellung der beiden Körper und zielt mit der Androgynität auf eine Aufhebung der Geschlechterkonstrukte. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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Allmählich verliert unser Held nicht nur die Frau, sondern auch die Kontrolle über das Bild. Er, der Träger des Blicks, wird am Ende des Films von einem omnipotenten Blick der Kamera ausgelöscht, zum spurlosen Verschwinden gezwungen. Ein omnipotentes Auge steht über ihm, und dieses Auge kontrolliert das Blickfeld und macht den männlichen Helden zum Objekt des Blicks. Dieser Widerspruch (zwischen Potenz und Impotenz) ignoriert nur beim ersten Hinsehen die sich an den Modellen der Gender Studies orientierte Interpretation. Der Blick, der den Protagonisten zum Verschwinden zwingt, ist der Antonionis – der eines Mannes, doch bietet dieser uns eine ungewöhnliche Perspektive auf die bekannte Differenz. Der männliche Blick: Potenz und Impotenz  Wir sehen im Film Blow Up alles – mit wenigen Ausnahmen – aus der Perspektive des Fotografen. Der Film macht die Wahrnehmung, die künstlerische oder die wissenschaftliche, die männliche Wahrnehmung zum Sujet. Antonioni hat diese Beziehung so kommentiert: „I came to know reality by photographing it, a little like in Blow Up; in this sense, I think that it’s my most autobiographical film“ (zit. nach Brunette 1998, S. 11). Gleichzeitig demonstriert der Film eine verlorene Verbindung zwischen dem Blick und dem Objekt, deshalb ist es kein Zufall, dass wir es am Ende mit der Leere zu tun haben – des Objekts (des unsichtbaren Tennisballs) und des verschwundenen Fotografen. Die französische Forscherin MarieClaire Ropars-Wuilleumier meinte, dass diese Negation mit der ambivalenten Natur, ja der negativen Ontologie der Fotografie zusammenhängt, einem Medium, dass das Licht zum Negativ verwandelt, die Zeit anhält, die Gesten einfrieren lässt (vgl. Brunette 1998, S. 111). Der Amerikaner Seymour Chatman interpretiert diese zerbrochene Verbindung psychologisch: Der Fotograf ist immer abgelenkt, sein Blick ist schweifend (vgl. 1986, S. 141 ff.). Er verkörpert die zerstreute Aufmerksamkeit, die bereits Siegfried Kracauer mit dem Begriff „Kult der Zerstreuung“ als einen wesentlichen Zug der Moderne beschrieben hat (1963, S. 311–320). Der italienische Kritiker Lorenzo Cuccu interpretiert den Schluss des Films anders – als eine Reflexion über das Subjekt des Blicks und die Natur des Bildes, die gerade ohne das verschwundene Subjekt, egal welchen Geschlechts, die eigentliche Essenz und die prinzipielle Selbstreflexivität des Films offenbart: The final shot is a gesture by means of which the narrative accomplishes a step beyond the discourse, reopening its disquieting, problematic tension: with this act, the subject of the look [the originator of the film's look, that is, the filmmaker, the camera], cut off from every false pretext, presents itself in a ‘pure state’ and remains alone before the enigma of the green lawn, which now reveals itself to be none other than the specular image of the Look itself. The classic symmetry of the ‘framed’ story/discourse thus transforms itself into an unexhausted circularity, in the reopening en abyme of the enigma, and the reflexion on the image finally achieves its own true target (zit. nach Brunette 1998, S. 125).

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Antonioni war gezwungen, darauf zu antworten: I don't know what reality is like. Reality escapes us, it changes continually. When we think we've reached it, the situation is already something else. I always doubt what I see, what an image shows me, because I ‘imagine’ what's beyond that; and what's behind an image is unknown. The photographer of Blow Up, who is not a philosopher, wants to see more closely. But what happens is that because he enlarges too much, the object itself decomposes and disappears. Therefore, there is a moment in which one seizes reality, but the moment immediately after, it escapes. That is, to some extent, the meaning of Blow Up. It might seem strange for me to say this, but Blow Up was in some ways my neo-realist film on the relation between the individual and reality, even if it has a metaphysical component precisely because of this abstraction of appearances (zit. nach Brunette 1998, S. 125f.).

Der Film löst das Verständnis des Blicks – und des Bildes – aus dem Rahmen der Gender-Perspektive. Dem Blick gelingt mehr, als die Schaulust zu wecken, die Frau in einen visuellen Fetisch zu verwandeln und dadurch eine männliche Dominanz zu etablieren. Der Blick ist an die analytische, selbstreflexive Kamera Antonionis gebunden, die die Dimension der Zeit (der filmischen Erzählung) und des Raumes (wie uns das Ende des Films vorführt) kontrolliert. Der Regisseur, ein männliches Subjekt, installiert einen Blick, eine Welt und ein Objekt, die allesamt eine Illusion erzeugen und nicht nur mit dem Verlangen zu messen sind, sondern mit der Lust an der Erkenntnis. Antonioni bestimmt einen Künstler zum Träger des Blicks und demonstriert, dass es ihm nicht um die Kritik der fetischisierten Repräsentation des weiblichen Abbildes geht oder darum, dass die Fetischisierung einen distanzierten Moment zwischen dem Fotografen und der Realität oder dem Zuschauer und dem Bild einführt oder aber darum, dass das Abbild uns in den Bann der Illusion zieht oder die Lust tötet. Chatman schlägt vor, Blow Up als Antonionis Version von Goethes Faust (1808) zu lesen. Das Können des Fotografen, mehr mit seiner Kamera zu sehen als das menschliche Auge, erweist sich als mephistophelische Gabe. Am Ende zahlt er dafür mit der Paralyse des Willens, mit totaler Desorientierung und vielleicht dem Wahnsinn. Thomas's mastery of technology lures him into a Mephistophelian bargain. He uses his photographic skills to see more than the naked human eye is posed to see. And the price he pays for this vision is, an intensification of the symptoms that Antonioni's characters know too well: distraction, disorientation, paralysis of the will, perhaps even (to interpret the expression on his face at the) doubts about one's own sanity. (1986, S. 150)

Zunächst scheint es so, als würde Blow Up demonstrieren, wie das Modell des male gaze funktioniert, wenn die stummen, passiven Models von dem Fotografen, dem Träger des Blicks, in Bilder verwandelt werden, welche die Lust am Sehen wecken sollten. Doch die genderbezogene Analyse der Körper, Bilder und Blicke im Film offenbaren Geheimnisse und einen Kommentar Antonionis zur menschlichen Erkenntnis – einer Erkenntnis, welche die Sinnlichkeit (das Weibliche) von der Rationalität (dem Männlichen) getrennt hatte. Folgerichtig werden in Blow Up das Weibliche und das Männliche nicht als Opposition gesehen, sondern vielmer als eine unabdingbare Synthese. In diesem

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Sinne ist Antonionis Film ein Plädoyer dafür, die dualen, künstlichen Konstrukte der Geschlechter aufzuheben. Exemplarische Filme 1) Feministische Filme von Regisseurinnen La souriante Madame Beudet (Das Lächeln der Madame Beudet, F 1923, Germaine Dulac) Meshes of the Afternoon (USA 1943, Maya Deren) The Connection (USA 1961, Shirley Clarke) Cléo de 5 à 7 (Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7, F/I 1962, Agnès Varda) I basilischi (Die Basilisken, I 1963, Lina Wertmüller) Sedmikrásky (Tausendschönchen, ČSSR 1966, Věra Chytilová) Neun Leben hat die Katze (BRD 1968, Ute Stöckl) Wanda (USA 1970, Barbara Loden) De cierta manera (In gewisser Hinsicht, CUB 1974, Sara Gómez) Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles (Jeanna Dielman, B/F 1975, Chantal Akerman) Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers (BRD 1977, Helke Sander) Nargess (IRN 1992, Rakhshan Bani-Etemad) Orlando (GB 1993, Sally Potter) Roozi ke zan shodam (The Day I Became a Woman, IRN 2000, Marzieh Meshkini) Mein langsames Leben (D 2001, Angela Schanelec) Et maintenant, on va où? (Wer weiß, wohin? F/LBN 2011, Nadine Labaki) Bande de filles (Mädchenbande, F 2014, Céline Sciamma) Wild (D 2016, Nicolette Krebitz) I Am Not a Witch (GB/F/D/ZMB 2017, Rungano Nyoni) Rafiki (KEN 2018, Wanuri Kahiu) Atlantique (F/SEN/BLG 2019, Mati Diop) 2) Melodramen und melodramatische Heldinnen Broken Blossoms or The Yellow Man and the Girl (Gebrochene Blüten, USA 1919, D. W. Griffith) Devdas (IND 1935, Pramathesh Barua) Stella Dallas (USA 1937, King Vidor) Now, Voyager (Reise aus der Vergangenheit, USA 1942, Irving Rapper) Great Expectations (Geheimnisvolle Erbschaft, GB 1946, David Lean) All That Heaven Allows (Was der Himmel erlaubt, USA 1955, Douglas Sirk) I'll Cry Tomorrow (Und morgen werd’ ich weinen, USA 1955, Daniel Mann) Written on the Wind (In den Wind geschrieben, USA 1956, Douglas Sirk) Angst essen Seele auf (BRD 1974, Rainer Werner Fassbinder) Camila (ARG 1984, Maria Luisa Bamberg)

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Tulitikkutehtaan tyttö (Das Mädchen aus der Streichholzfabrik, FIN/SWE 1990, Aki Kaurismäki) Dà hóng dēnglóng gāogāo guà (Rote Laterne, CH et al. 1991, Zhang Yimou) Bàwáng Bié Jī (Lebewohl, meine Konkubine, CH 1993, Chen Kaige) Mùi đu đủ xanh (Der Duft der grünen Papaya, VIE/F 1993, Tran Anh Hung) The Bridges of Madison County (Die Brücken am Fluß, USA 1995, Clint Eastwood) Todo sobre mi madre (Alles über meine Mutter, SP 1999, Pedro Almodóvar) Sous le sable (Unter dem Sand, F 2000, François Ozon) Dancer in the Dark (DK u. a. 2000, Lars von Trier) Fa yeung nin wa (In the Mood for Love, HK u. a. 2000, Wong Kar-Wai) 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile (4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage, RUM 2007, Cristian Mungiu) La mujer sin cabeza (Die Frau ohne Kopf, ARG et al. 2008, Lucrecia Martel) Lo sono l’amore (Ich bin die Liebe, IT 2009, Luca Guadagnino) Wuthering Heights (Wuthering Heights – Emily Brontës Sturmhöhe, GB 2011, Andrea Arnold) Mustang (TUR/F/D 2015, Deniz Emze Ergüven) Umimachi Diary (Unsere Kleine Schwester, J 2015, Hirokazu Koreeda) Agassi (The Handmaiden, KOR 2016, Park-Chan Wook) Roma (MEX/ZSA 2018, Alfonso Cuarón) Little Women (USA 2019, Greta Gerwig) Portrait de la jeune fille en feu (Porträt einer jungen Frau in Flammen, F 2019, Céline Sciamma) Literaturhinweise zu Gendertheorien Anyiwo, Melissa und Amanda Jo Hobson, Hrgs. 2019. Gender warriors: reading contemporary urban fantasy. Boston: Brill Sense. Bettinger, Elfi und Julika Funk, Hrsg. 1995. Maskeraden. Geschlechterdifferenz in der literarischen Inszenierung. Berlin: Schmidt. Braun, Christina von und Inge Stephan, Hrsg. 2000. Gender Studien. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler. Bronfen, Elisabeth. 1994. Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München: Kunstmann. Bronfen, Elisabeth. 1998. Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne. Berlin: Verlag Volk & Welt. Bronfen, Elisabeth. 1999. Heimweh. Illusionsspiele in Hollywood. Berlin: Volk & Welt. Butler, Judith. 1991. Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith. 1995. Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Berlin-Verlag. Davis, Nick. 2013. The desiring-image. Gilles Deleuze and contemporary queer cinema. Oxford: Oxford University Press.

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3 Theorien der diskursiven Analyse im Vergleich Oksana Bulgakowa und Gregory Mohr The unconscious of the unconscious is cinema […] If psychoanalysis appears as a film theory of the imaginary, then psychoanalytic film criticism would be less like an inventory or an elaboration of psychoanalysis and more like the cipher of an archaeological discovery — the discovery of the cinematicity of the unconscious. (Beller 2002, S. 69f.)

Die Psychoanalyse ist eine breit aufgestellte Disziplin mit zahlreichen sich deckenden, ergänzenden und divergierenden Positionen. Darunter sind Sigmund Freud und Jacques Lacan die Vertreter, auf die ein Großteil der psychoanalytisch gestützten Filminterpretationen zurückgreift. In ihrer Schaffensphase haben sowohl Freud als auch Lacan Teilaspekte ihres Denkens modifiziert, relativiert und revidiert. Beispielsweise basiert ein großer Anteil der Schriften Lacans auf einem dezidiert strukturalistischen Denken, das in seinen späteren Schriften jedoch zunehmend von einem poststrukturalistischen abgelöst wird. Demnach und aufgrund der zahlreichen theoretischen Schriften und der darin vertretenen Positionen kann die vorangegangene psychoanalytische Interpretation nur einige basale Aspekte des psychoanalytischen Denkens abbilden und einen Ausschnitt präsentieren, der aber die grundlegenden Eckpfeiler einbezieht. Gleiches gilt für die gendertheoretische Interpretation, weil sich auch dieses Forschungsgebiet in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend ausdifferenziert hat. Setzt man Gender Studies und Psychoanalyse miteinander in Verbindung, so muss zunächst konstatiert werden, dass ihre Ausgangspunkte vollkommen unterschiedliche sind. Die Gender Studies gehen von sozialen Geschlechterrollen aus und betonen dabei die Konstruiertheit der Männlich-Weiblich-Opposition durch normative Ideale. Sie sind daher in erster Linie gesellschafts-, ideologie- und kulturkritisch ausgerichtet. Der Psychoanalyse wiederum geht es nicht um das kritische Hinterfragen soziokultureller Zustandsbeschreibungen. Sie ist in erster Linie als ein Modell zu verstehen, welches die menschliche Psyche beschreibt und erklärt. Ihre Aussagen sind zunächst darauf ausgerichtet, einen möglichst universellen, kulturunabhängigen Charakter zu besitzen. Nichtsdestotrotz darf Kultur nicht als gänzlich von der Psychoanalyse entkoppelt

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betrachtet werden. Spezifische Teilbereiche der Psychoanalyse beschäftigen sich sehr wohl mit kulturellen Phänomenen und auch Freud selbst hat u. a. mit „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930) eine bedeutende kulturtheoretische Schrift verfasst. Darin erläutert er den Dualismus zwischen psychischen Trieben und der Kultur, die bestrebt sei, große, normativ geprägte, soziale Einheiten zu bilden, was wiederum eine angemessene Triebauslebung behindere. Ebenso wie die Vertreter der Gender Studies sieht Freud in der Kultur die Bildung essentialistischer Einheiten als eine Gefahr, weil sie eine Abweichungsintoleranz befördert. Sowohl die Psychoanalyse als auch die Gender Studies wurden nicht ins Leben gerufen, um Filme zu analysieren. Der (klassischen) Psychoanalyse geht es weniger darum, die sozialen Missstände als Ursache für Neurosen (etc.) zu untersuchen, sondern lediglich die psychopathologischen Phänomene zu therapieren. Obwohl die Psychoanalyse ein breitgefächertes Instrumentarium zur filmwissenschaftlichen Analyse bereitstellt, haben sich ihre Hauptvertretenden nicht mit diesem Medium auseinandergesetzt. Das Zusammenführen von Psychoanalyse und Film oblag vielmehr Vertreterinnen und Vertretern, die ihre geistigen Wurzeln in der Filmtheorie haben (unter anderem Christian Metz). Genderforscherinnen wie Juliet Mitchell und Jane Gallop stützen ihre Theorien auf kritischen Neubewertungen psychoanalytischer Schriften. Laura Mulveys Theorie kann als eine auf feministischer Perspektive basierende, filmwissenschaftliche Revision der Psychoanalyse bezeichnet werden. Die Gender Studies untersuchen die diskursive Konstruktion der biologischen Differenzen, die Kultur, Sprache, Imagination, Subjektivität, Verhaltensmodelle, das Zeit- und Raumempfinden bestimmen. Der Filmwissenschaft geht es jedoch um Textanalyse; und sie hat, um ihr Analysespektrum zu erweitern, einige Ansätze beider Schulen adaptiert, um sich neue Impulse zu holen und um diese in der eigenen Forschung fruchtbar zu machen. Methodisch betrachtet tragen diese Impulse aus der Psychoanalyse und den Gender Studies vor allem dazu bei, diskursive Konstruktionen im Film erfassen zu können. Beide Disziplinen sind ideologiekritische Diskurse, die den Film entweder als Affektmaschine oder als ideologische Waffe betrachten. In den Gender Studies herrschen binäre Oppositionen vor, die etwas einfacher fassbar sind als die triadischen Strukturen der Psychoanalyse. Sowohl Ansätze aus Freuds biologischer Geschlechterdifferenz als auch aus Lacans geschlechtsunspezifischer Subjekt-Theorie wurden von den feministischen Gender Studies für die Analyse von Figurentypen herangezogen. In erster Linie jedoch wurden die Ansätze auf sämtliche visuelle Strategien des Films (Blick, Raumorganisation, Repräsentation), aber auch auf alle Komplexe, die mit dem Blick verbunden waren (Voyeurismus, Fetischismus, Narzissmus, Identifikation) übertragen. Dabei wurde die Geschlechterdifferenz nicht mehr als biologische, sondern ideologische Konstruktionen entlarvt – und politisiert. Die Gemeinsamkeit zwischen Psychoanalyse und feministischen Gender Studies ist die Erforschung der symbolischen Ordnung und des Imaginären. Dabei sind sie sich in ihren Methoden ähnlich. In einer psychoanalytisch orientierten Textinterpretation stehen die Spannungsverhältnisse zwischen Sichtbarem und Verborgenem, zwischen

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Bewusstem und Unbewusstem, zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit im Vordergrund. Die Gender Studies verfolgen die Auslegung dieser Spannungsverhältnisse als Folge geschlechtsspezifischer Dichotomien und hierarchischer Machtverhältnisse. Diese bestimmen beispielsweise Psyche und Sprache und müssen aus der Sphäre des NichtWahrnehmbaren zu Bewusstsein gebracht werden. In diesem Sinne eignen sich beide Disziplinen als Analyseinstrument für filmische Werke, Filmfiguren, Repräsentationspraktiken und Narrative. Beide Disziplinen können aber auch als Zuschauertheorien betrachtet werden, als Theorien eines Kinodispositivs, die sich mit der Rezeptionsseite auseinandersetzen und somit auf eine metapsychologische Rezeptionspraxis rekurrieren und auf einer Ebene der allgemeinen Kulturpraxis anzusiedeln sind. Wenn die Gender Studies jedoch nur auf die Zuschauerinnenidentifikation reduziert werden (auch wenn dies beispielsweise bei Kaja Silverman oder Mary Anne Doane ausdifferenzierter geschieht, vgl. Silverman 1988, 1992; Doane 1985, 1987, 1991), kollabieren die psychoanalytischen Identifikationsdiskurse, die Christian Metz oder Jean-Louis Baudry hervorgebracht haben. Obwohl es in den Ansatzpunkten der beiden Disziplinen eine beachtliche Schnittmenge gibt, existieren gleichermaßen Unterschiede. Sie wirken manchmal nur graduell, mitunter aber auch deutlich und lassen sich am besten aus den divergierenden Momenten der Interpretation eines Films, wie in diesem Fall Blow Up, ableiten. Während die psychoanalytische Interpretation die Realisierung der ödipalen Szenarien im Film aufdeckt, das Verharren in oder das Durchwandern psychoanalytischer Instanzen beschreibt und den Held als voyeuristischen Konstrukteur und in seiner Narziss-Funktion betrachtet und dabei seine Neurosen, seine Triebe und Lust- / Unlustgefühle analysiert, konzentriert sich die genderspezifische Analyse auf die Inszenierung der Körper- und Modebilder und die damit verbundenen soziokulturellen Rollen. Kurzum: Die Psychoanalyse versucht den universellen Charakter psychischer Dispositionen herauszuarbeiten, während die Gender Studies die historische und soziale Dimension offenlegen. Ein Augenmerk der gendertheoretischen Interpretation richtet sich auf die Analyse der Repräsentation von Körpern und Mode. Die Betrachtung der Mode als Ausdruck der Betonung oder Aufweichung der Geschlechterdifferenz, als Merkmal der Desexualisierung oder als Artikulation soziokultureller Entwicklungen strebt dem Universalitätsprinzip der Psychoanalyse entgegen und wird daher in der psychoanalytischen Interpretation vernachlässigt. Zu einem stärkeren Bezugspunkt werden in ihr stattdessen symbolträchtige Objekte (wie Gitarrenhals und Propellerblatt), die in Relation zu psychoanalytischen Kategorien wie dem Begehren gesetzt werden. Einem für den Film zentralen Objekt, der Fotokamera, wird jedoch in beiden Interpretationen die Funktion eines Machtapparates zugeschrieben. In der psychoanalytischen Interpretation werden zwei Urszenen in Blow Up identifiziert und besprochen. Die erste im Park wird als eine Traumatisierung gelesen, die zweite, in der die Nachbarn des Protagonisten involviert sind, wird zur ersten in Bezug gesetzt und die unterschiedliche Reaktion der Hauptfigur als Kennzeichen ihres Wandels beschrieben. Die gendertheoretische Analyse hingegen betrachtet lediglich die zweite

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dieser Urszenen und vermutet darin entweder einen intertextuellen Verweis oder einen ironischen Bruch mit dem psychoanalytischen Szenario. Das Körperverständnis der beiden Forschungsdisziplinen ist ebenfalls ein anderes. Die gendertheoretische Untersuchung legt einen Schwerpunkt auf die Analyse der Körper und bemerkt ihre Androgynisierungen und Fetischisierungen. Für die psychoanalytische Analyse spielen die Körper, wenn überhaupt, nur eine sehr untergeordnete Rolle, weil nicht der sicht- und greifbare Körper, sondern sein abstrakter Kern in Form der Psyche den Nukleus bildet. Obwohl Lacan das Imaginäre und das Symbolische als verschränkte Teile einer unaufhebbaren Trias beschreibt, so ordnet er ihnen dennoch unterschiedliche Prozesse zu, sodass die beiden Instanzen zwar nicht unabhängig voneinander existieren, wohl aber getrennt voneinander betrachtet werden können. Für die Gender Studies hingegen kann die potentiell zu einer Einheit verschmelzende Dichotomie männlich/weiblich als Garant für die Aufhebung der Opposition dienen. Zu weiteren Akzentverschiebungen kommt es bei der Auslegung des in beiden Analysen elementaren Erkenntnisprozesses. In der psychoanalytischen Interpretation wird eine Erkenntnis erst möglich, nachdem die Hauptfigur die Entwicklungsschwelle zur Annahme der symbolischen Ordnung übertritt. Der erste vermeintliche Erkenntnisgewinn durch die Konstruktion einer Geschichte mittels der arrangierten Fotos wird allerdings negiert. Als Resultat bleibt das Infragestellen der Existenz als Erkenntnis. Auch in der gendertheoretischen Analyse wird eine Erkenntnis erst durch die symbolische Ordnung möglich. Hier wird jedoch der Fokus auf die Geschlechterunterschiede gelegt und die Erkenntnis mit einer Objektivität verbunden, die als traditionell männliches Narrativ aufgefasst wird.

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Theorien der Repräsentation Christoph Hesse, Oliver Fahle und Roman Mauer

1 Realismus-Theorien Christoph Hesse Was als Wirklichkeit zu gelten hat, bleibt so mehrdeutig wie der Realismus, der in der Kunst, namentlich seit dem 19. Jahrhundert, eine höchst prominente und in wechselnder Gestalt stets wiederkehrende Rolle spielt. Realismus bedeute in Literatur und Kunst, so ein einschlägiger Lexikoneintrag, „nach populärer Übereinkunft die Darstellung erfahrungsmäßiger Wirklichkeit in ihrer unmittelbaren Erscheinung oder im Durchblick auf ihre treibenden Kräfte u. Bedingungen. Mit ‚Realismus‘ verbindet sich die Konnotation ungeschminkter u. unverhüllter Wahrheit, des Gegensatzes gegen Idealismus, Schönfärberei u. bloßen Schein“ (Hahl 1993, S. 265). In dieser Bedeutung aber tritt der Realismus erst spät hervor, bezeichnenderweise etwa um dieselbe Zeit wie die Fotografie, der ihrerseits künstlerische Absichten zunächst fernliegen. Neu ist am ausdrücklich so bezeichneten Realismus der Bildenden Künste und der Literatur des 19. Jahrhunderts, dass er der Realität äußerst sachlich und beinahe wissenschaftlich, wie ein unbeteiligter Beobachter – oder wie eine Kamera –, zu begegnen sucht, um einen C. Hesse (*)  Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] O. Fahle  Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] R. Mauer  Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Bulgakowa und R. Mauer (Hrsg.), Angewandte Filmtheorie, Film, Fernsehen, Neue Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41089-6_8

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möglichst unmittelbaren und authentischen Eindruck von ihr aufzuzeichnen. Neben der Entwicklung der Fotografie wirkt dabei sicherlich auch die der Wissenschaften, der mit Natur und Technik befassten ebenso wie der allmählich emporkommenden Soziologie, und ganz allgemein die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und der großen Industrie als treibende Kraft. Die sich rasant umgestaltende Gegenwart verlangt von der Kunst bald größere Aufmerksamkeit als antike Vorbilder, und auch andere Konzepte. Maßgeblich ist nicht mehr, wie in der vorangegangenen Klassik und Romantik, die besondere Art der Stilisierung, die nun als idealisierende Verklärung der Realität empfunden wird, sondern das der Wirklichkeit selbst entnommene Material, dessen gelungene künstlerische Bearbeitung sich vor allem darin erweisen soll, dass sie ihm so wenig wie möglich antut. „Dieser allerdings naiv-empiristische Realismusbegriff“, heißt es weiter in jenem Lexikon, „übergeht die Frage nach dem jeweiligen Wirklichkeitsverständnis u. den Normen, die der Wirklichkeitserfahrung vorangehen u. sie prägen“ (Hahl 1993, S. 265).

1.1 Fotografischer und filmischer Realismus Diese Frage nach dem vorangehenden Wirklichkeitskonzept stellt sich in besonderer Weise auch beim Film. Als Kunst vermag er auf diese oder jene Weise zu verfahren (je nachdem, welche Wirklichkeit er in welcher Hinsicht zur Geltung bringen will), als Medium hingegen gehört er einer im technisch präzisen Sinne realistischen, nämlich von der Fotografie begründeten Tradition zu. Ihr verpflichtet bleiben heute sogar noch die computergenerierten Bilder des digitalen Kinos, auf die nie ein Lichtstrahl gefallen ist. Selbst in ihrer Unabhängigkeit von äußeren Eindrücken und in der freien Verfügung über nunmehr rein virtuelle Objekte und Figuren streben sie danach, dem fotografischen Realismus des traditionellen Films zu genügen. Technik und Ästhetik (oder enger gefasst: Stil) sind im Film zumeist schwer auseinanderzuhalten. Analytisch aber bleibt zwischen dem Realismus des Films und einem Realismus im Film zu unterscheiden (vgl. Kirsten 2013): also zwischen dem technisch implementierten Abbildrealismus der Kamera und einem etwa als realistisch zu bezeichnenden Stil, einer intuitiv oder ganz bewusst gewählten Art der Darstellung, die sich jener Technik auf verschiedene Weise bedienen kann, um etwas Wirkliches sichtbar, hörbar, emotional spürbar oder auch intellektuell begreiflich zu machen. Die Möglichkeiten dazu sind durch die gegebenen Bedingungen des Mediums begrenzt, als solche jedoch nicht schon vorgezeichnet. Zum Abbildrealismus des Films zählt die Zentralperspektive. Nicht zufällig behauptet sich in der Kunst der Renaissance, parallel zur schon damals tendenziell globalen Ausweitung des Warenverkehrs und zum Aufstieg der Naturwissenschaften, die Zentralperspektive als adäquate Ansicht der Welt. Mit mathematischer Präzision schafft sie eine Ordnung, die der „Ordnung der visuellen Erscheinung“ (Panofsky 1980, S. 126) entspricht. Gleichwohl bleibt diese Perspektive in den Bildenden Künsten nur eine Konvention, wenn auch eine aus den eben angedeuteten Gründen sehr überzeugende und

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überaus mächtige, scheinbar naturgegebene. Erst die fotografische Kamera, indem sie die zentralperspektivische Sicht in ihrer Apparatur fest installiert, erhebt sie tatsächlich zu einem Naturgesetz visueller Darstellung, das jedweder konventionellen oder individuellen Entscheidung des Künstlers vorausgesetzt ist (und selbst nur durch Tricks außer Kraft gesetzt werden kann). Die Analogie zwischen Kamera und menschlichem Auge ist offenkundig. Eher selten wird hingegen hervorgehoben, dass Menschen gewöhnlich mit zwei Augen sehen, also über eine stereoskopische Sicht verfügen, eine höchst unruhige Sicht zudem, die nur Eindrücke und keine Bilder kennt, nur ein vage umgrenztes Sichtfeld hat und keinen Rahmen. Ungeachtet dessen bleibt das Bild des vielgerühmten Kamera-Auges dem Realitätseindruck, den der Blick menschlicher Augen aufschnappt, eng verwandt (Abb. 1). Ist das fotografisch produzierte Abbild der Wirklichkeit auch nicht diese selbst, so ist es immerhin ein Abbild, das auf der analogen Aufzeichnung von Lichtstrahlen und nicht primär auf konventionellen Zeichensystemen beruht. Dieser Unterschied ist medientheoretisch zunächst bedeutsamer als jeder Hinweis darauf, dass auch die fotografische Wiedergabe der Realität eine Darstellung bleibt, in der sich kulturelle Konventionen und politische Interessen geltend machen, die die Bedeutung des scheinbar naturbelassen Aufgenommenen mitbestimmen. Mit dem fotografischen Abbild beginnt eine neue Zeit in der Geschichte der Darstellung von Wirklichkeit. „Zur symbolischen Fixierung von Symbolischem“, so drückt es Friedrich Kittler aus, „tritt die technische Aufzeichnung von Realem in Konkurrenz.“ Dieses muss „nicht mehr immer erst in Elemente einer abzählbaren Zeichenmenge (Buchstaben, Ziffern, Noten) transponiert werden“ (2003, S. 278), man kann es nun analog zu den physikalisch messbaren Vorgängen in der Wirklichkeit direkt aufzeichnen

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Abb. 1   In der Idee des Kino-Auges (kinoglaz) verschmilzt Dziga Vertov optische Apparatur und menschliches Organ (a) und schafft einen Topos, der sich bis in die transhumanen Bilderwelten des zeitgenössischen Science-Fiction-Genres verfolgen lässt. In der ersten Folge der Animationsserie Ghost In The Shell: Stand Alone Complex (b) offenbart die Detailaufnahme einer Iris ein von der Firma Carl Zeiss gefertigtes Linsensystem. Quelle: Tschelowek s kinoapparatom (Der Mann mit der Kamera, SU 1929, © absolut medien); Ghost In The Shell: Stand Alone Complex (J 2002, © Plaion Pictures)

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lassen (wenngleich noch nicht adäquat benennen, wie die hier weiterhin gebräuchlichen Schriftmetaphern ‚Aufzeichnung‘ und ‚Fotografie‘ beweisen). Was die bildliche Wiedergabe anlangt, so genügen dazu optische Geräte und chemische Mittel, hinfällig jede subjektive Anstrengung, deren es sonst bedarf, um dies oder jenes in der Welt entweder seinem sichtbaren Eindruck gemäß nachzuzeichnen oder durch Symbole darauf zu verweisen. Was vormals eine handwerkliche oder künstlerische Leistung von Menschen verlangte, geht nun an Apparate über, die solche Leistungen ganz automatisch und womöglich ohne jede menschliche Absicht vollbringen. So verwandelt sich, nach einer Unterscheidung Georg Simmels, eine subjektive Kultur in eine objektive (vgl. 1983), in diesem Fall eine in technischen Apparaten vergegenständlichte. Jede Kamera, wie sie heute auch ein Anfänger mühelos handhaben kann, hat allein in ihrem Objektiv mehr als 500 Jahre Kunstgeschichte aufgespeichert. Die Entwicklung der filmischen Abbildung Schon bevor die Gebrüder Lumière ihre ersten Filme vorstellten, gab es verschiedene Apparaturen, um Vorgänge für die Nachwelt festzuhalten. Eadweard Muybridge entwickelte 1878 bereits das sogenannte Zoopraxiskop, das Bilder durch Chronofotografie (= Hochgeschwindigkeitsfotografie) herstellen und wiedergeben konnte. Mithilfe einer Glühlampe und eines scheibenförmigen, sich drehenden Stroboskops werden dabei Einzelaufnahmen in rascher Abfolge nacheinander an eine Wand projiziert. Darauf folgte die chronofotografische Flinte 1883 von Étienne-Jules Marey, der im Gegensatz dazu seine belichteten Aufnahmen auf einer einzigen Platte festhielt. Zehn Jahre später stellte William K.L. Dickson das Kinetoskop und ein Jahr später den Kinetographen vor: eine erste Filmkamera und das dazugehörige Abspielgerät. Es funktioniert aber erst einmal nur für einzelne Rezipienten, die isoliert durch ein Okular schauen mussten, um das vorbeilaufende Filmpositiv sehen zu können, welches angestrahlt wird. Auch wenn auf eine Person beschränkt, brachte die Erfindung in den USA erste Kinetoskop-Salons hervor, die interessierte Zuschauer besuchen konnten, um sich die kurzen Filme anzusehen. Im Jahr 1895 angekommen, dem Jahr, in dem die Bilder offiziell das Laufen lernten, brachten die Brüder Skladanowsky aus Deutschland das Bioskop hervor, welches aber aufgrund von Mängeln in der Projektion – ihre Technik verzichtete auf Perforationslöcher und ermöglichte somit keine Wiedergabe von Aufnahmen im gleichmäßigen Abstand – nie ein größeres Publikum erreichen konnte. Dies konnten die LumièreBrüder schließlich mit dem Kinematographen bewerkstelligen, der die Mängel anderer Apparaturen dieser Art überbrückte. Die Begeisterung hielt aber nicht lange, da man mit dem Gerät trotz allem erst einmal nur Aufnahmen von etwa einer Minute machen konnte (Abb. 2).

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Abb. 2   Zwei Pionierarbeiten der kinematographischen Technik: Étienne Jules-Mareys chronofotografische Flinte (a) und Eadweard Muybridges Zoopraxisnoscop (b). Quelle: La Nature (Ausgabe 464, 1882, © Louis Poyet); Revue des Sciences (Ausgabe 492, 1882, © Louis Poyet) 

Wie die Fotografie bringt auch der Film ein Abbild der äußeren Welt – sogar eine Serie von Abbildern, die diese in ihrer Bewegung in der Zeit erscheinen lassen – geradezu unvermeidlich hervor. Während in Bildhauerei oder Malerei einiges Geschick aufgewendet werden muss, um die sichtbare Wirklichkeit in ihren Werken wiedererkennbar zu machen, müsste man sich beim Film hingegen einiges einfallen lassen, um genau dies völlig zu vermeiden. Werke, die rein gar nichts Gegenständliches darstellen, im genauen Sinne des Wortes nichts aufnehmen, bleiben in der Filmgeschichte exzentrische Ausnahmen. Noch schwieriger allerdings bleibt es, und zwar gerade weil der Film die sichtbaren Eindrücke der Wirklichkeit ganz automatisch hereinlässt, etwa die in ihr waltenden Kräfte darzustellen, die nicht sichtbar sind. Dziga Vertovs um 1926 formulierte Einladung: „filmt uns unversehens und so, wie wir sind!“ (1973, S. 44), würde der ihm politisch nahestehende Brecht zurückweisen mit dem berühmt gewordenen Hinweis aus dem Jahr 1931, „daß weniger denn je eine einfache ‚Wiedergabe der Realität’ etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht“ (1992, S. 469). Die Abwendung von solcherart äußerlichem Realismus, wie man sie seit Beginn des 20. Jahrhunderts in den Bildenden Künsten sowohl wie in der Literatur verfolgen kann, ist sicherlich nicht nur der Dominanz der auf diesem Gebiet uneinholbaren optischtechnischen Medien geschuldet. Sie hat auch mit historischen Erfahrungen zu tun – etwa der überwältigenden Ohnmacht der Einzelnen in Anbetracht einer unüberschaubar gewordenen Realität oder der von Georg Lukács einst so getauften „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (1988, S. 32) –, die mittels einer möglichst genauen Abbildung der Welt offenbar nicht zulänglich zum Ausdruck zu bringen sind. Über eine gelungene Darstellung der Wirklichkeit entscheidet nicht vorweg deren maßstabsgetreue Reproduktion.

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Die Bühnenstücke und Romane Samuel Becketts oder die Filme Alain Resnais‘, die man nach konventionellen Kriterien gewiss nicht realistisch nennen würde, sind von wirklicher geschichtlicher Erfahrung vielleicht noch stärker durchdrungen als ein dem äußeren Eindruck der Wirklichkeit verpflichtetes Werk. Der nach heutigem Verständnis hochabstrakte, gleichsam magische Realismus des Mittelalters ereilt unversehens noch die scheinbar vollends entzauberte Welt. Eine Realität wie die der modernen Gesellschaft, nämlich deren Produktionsverhältnisse, auf die Brecht mit der „Funktionale“ anspielt, kann man vielleicht begreifen, mit einem optischen Gerät aber bekommt man sie nicht geradewegs zu fassen. Der begrifflose und seiner eigenen Technik gemäß naivempiristische Film, der die augenblicklich sichtbare Wirklichkeit in ihrer Lebendigkeit mühelos einfangen kann, muss sich andererseits raffinierter stilistischer Mittel bedienen, um selbst einen Eindruck der Verhältnisse zu geben, in denen die sichtbaren Dinge und Personen sich in Wirklichkeit befinden. Ähnliches gilt auch für das psychische Innenleben, zu dem der, nach Kracauers Formulierung, zur Errettung der äußeren Wirklichkeit bestimmte Film allenfalls auf Umwegen vordringen kann. Dazu bemerkt, aus entgegengesetzter Richtung, Marcel Proust in den 1910er Jahren: „Einige verlangten, der Roman solle uns etwas wie einen kinematographischen Ablauf der Dinge vor Augen führen. Diese Auffassung war absurd. Nichts entfernt weiter von dem, was wir in Wirklichkeit wahrgenommen haben, als eine solche kinematographische Schau“ (2000, S. 3967).

1.2 Der Realismus von und in Blow Up Von den bisher erst angedeuteten Unwägbarkeiten des Realismus legt Michelangelo Antonionis Film Blow Up (GB/I/USA 1966) exemplarisch Zeugnis ab. Er liefert ein in vielerlei Hinsicht frappierend realistisches Porträt einer Welt, deren Wirklichkeit allerdings in mancher Hinsicht ebenso frappant unwirklich erscheint, was der Film auf wiederum sehr realistische Weise vor Augen führt. Das betrifft zunächst die fotografische Aufnahme selbst, das zentrale Thema der Handlung. Der Film zeigt einen Londoner Fotografen bei der Arbeit, die hauptberuflich darin besteht, hübsche Frauen in hübschen Kleidern für Modemagazine abzulichten; eine im genauen Sinne des Wortes oberflächliche Arbeit, die es ganz darauf absieht, den schönen Schein umso schöner scheinen zu lassen. Neben seinem sogenannten Brotberuf verfolgt er eigene künstlerische Ambitionen. Er sucht nach Motiven für einen Bildband über das wirkliche London, das sich so leicht allerdings nicht zu erkennen gibt (Abb. 3). Im heute längst legendären Swinging London der 1960er Jahre scheinen Wirklichkeit und Schein mitunter schwer auseinanderzuhalten; ein Eindruck, den Antonioni dadurch zu bekräftigen sucht, dass er gelegentlich einige der in den Straßen vorgefundenen Fassaden mit einem aufreizenden Anstrich versehen lässt. Die Fotografie als Beweisstück: Indexikalität Über die Aufnahmen Eugène Atgets, eines französischen Fotografen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, schreibt Walter Benjamin in den 1930er Jahren, sie begännen, „Beweisstücke im historischen

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Abb. 3   Einerseits erledigt der Fotograf seine Arbeit, die oberflächliche Welt der Mode und ihrer Models glamourös abzulichten (a), andererseits wandert er durch die desolaten Straßen eines anderen Londons, das neben der bekannten Swinging City existiert (b). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

Prozeß zu werden. Das macht ihre verborgene politische Bedeutung aus“ (1974, S. 485). Antonionis Blow Up führt dem Publikum das Gegenteil vor Augen. Was die Fotografien zu beweisen scheinen, bleibt letztlich in ihrem eigenen Material verborgen. Der Prozess – hier kein historischer, sondern ein technischer, nämlich einer der fotochemischen Entwicklung und optischen Vergrößerung – lässt die Beweisstücke, die er selbst zutage fördert, ebenso bald wieder verschwinden und damit die Bedeutung der Bilder unklar erscheinen. Der Begriff der Entwicklung, der im Fotolabor die chemische Prozedur bezeichnet, die ein Bild erst sichtbar macht, ist hier durchaus auch semantisch zu verstehen. Mit der Entwicklung der Fotografien und deren fortschreitender Vergrößerung entwickelt sich zugleich die Bedeutung der Aufnahmen, die in diesem Prozess zunächst hervortritt und sich dann darin verliert. Täter und Opfer, die der Fotograf durch die virtuelle Annäherung an das auf dem Bild Festgehaltene vage zu erkennen meint, geben sich nach weiterer Annäherung nicht etwa genauer, sondern als solche gar nicht mehr zu erkennen. Dazu passt, dass auch das reale Objekt, dessen er sich an Ort und Stelle zuvor noch versichern konnte, am Ende verschwunden bleibt. Im Unterschied zu Zeichnungen oder Gemälden und selbstverständlich auch zu geschriebenen Texten kann eine Fotografie mit einigem Recht als Beweisstück angesehen werden; ungeachtet der Frage, ob sie auch kriminologisch oder juristisch als solches in Betracht käme. »Le propre de toute image est d‘être image de quelque chose« („Das Wesen eines jeden Bildes besteht darin, ein Bild von etwas zu sein“), sagt Jean Mitry (2001, S. 54). Für das fotografische Bild gilt dies im strengen Sinne (experimentelle Verfahren, bei denen nichts aufgenommen, sondern der Film selbst manuell bearbeitet wird, mögen hier außer Acht bleiben). Wenn auch der Fotograf entscheiden muss, was er wie aufnehmen möchte, bleibt doch die im genauen Wortsinn als solche zu begreifende Aufnahme ein optisch-chemischer Prozess: Lichtstrahlen werden durch Linsen gebündelt und ihr Eindruck auf einem Film festgehalten. Auch der Ausdruck Objektiv, der jene Linsenkombination bezeichnet, durch die das Licht in die Kamera fällt, sei dabei ganz buchstäblich zu nehmen, meint André Bazin in seiner 1945 verfassten Ontologie des

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fotografischen Bildes (vgl. 2004b, S. 37). Wo sonst Künstler die Wirklichkeit beschreiben oder malen und ihr somit einen unweigerlich subjektiven Ausdruck verleihen, wird ihr optischer Eindruck hier objektiv aufgezeichnet; woran grundsätzlich auch die Tatsache nichts ändert, dass ein Subjekt, z. B. eine Fotografin, das Objektiv einrichtet und damit den Einfall der Lichtstrahlen manipulieren kann. Dadurch allein, dass diese selbst und niemand sonst das Bild in der Kamera konturiere, bezeuge die fotografische Aufnahme die reale Existenz des Aufgenommenen. Was darauf zu sehen ist, müsse einmal vor der Kamera tatsächlich vorhanden gewesen sein, es könne nicht wie in Literatur oder Malerei ganz der Phantasie entspringen. Das fotografische Bild ist nicht Entwurf, sondern primär Abbild – oder wie Bazin es ausdrückt: ein „Fingerabdruck“ (ebd., S. 39) der objektiven Realität. Mag ein solcher auch eine unzweideutig exakte Identifikation der jeweiligen Person erlauben, so sieht ein fotografisches Bild dem darauf Abgebildeten immerhin auf Anhieb sehr viel ähnlicher als jener Abdruck einem Finger. In einer Theorie der Zeichen wäre die Fotografie sowohl ikonisch als auch indexikalisch aufzufassen (symbolisch vornehmlich in sehr besonderen Fällen und ansonsten nur in weiterem Betracht; vgl. Peirce 1983, S. 64–67). Das heißt, die Beziehung zwischen dem fotografisch Bezeichnenden und dem damit Bezeichneten basiert zum einen auf visueller, in diesem Fall sogar optisch exakter Ähnlichkeit und zum anderen auf einem Verweis nicht nur auf das Bezeichnete, was entgegen populärem Missverständnis in der Semiotik nur ein gedankliches Konzept darstellt, sondern auf den realen Referenten des Zeichens; ein Verweis auf etwas nicht nur Mögliches oder Wahrscheinliches, wie etwa bei der Windhose auf einem Straßenverkehrsschild, die auf zu erwartenden Wind aufmerksam machen soll, sondern auf etwas Wirkliches, zumindest wirklich Gewesenes. Gleichwohl bleibt das aufs reale Objekt verweisende – oder Bazin zufolge gar dessen gewesene Existenz beweisende – Abbild von jenem selbst verschieden. Das gilt in gewissem Sinne sogar dort, wo beide materiell identisch sind, nämlich bei der altägyptischen Kunst der Mumifizierung, die Bazin gleich zu Beginn seines Essays über das fotografische Bild anführt, um das in der Nachahmung der Wirklichkeit (hier sogar der Konservierung ihrer leibhaftigen Präsenz) zum Ausdruck kommende Bedürfnis „nach Schutz vor der Zeit“ (2004b, S. 33) zu veranschaulichen. Denn der so über die Zeit hinweg aufbewahrte Körper unterscheidet sich von der Person, der er einst zugehörte, allemal dadurch, dass er tot ist. Bei der Fotografie würde wohl niemand mehr „an die ontologische Identität von Modell und Portrait“ (ebd., S. 34) glauben, da das Abbild, wie ähnlich es dem Abgebildeten immer sehen mag, von diesem materiell verschieden ist. Es repräsentiert, wie Mitry sagt, nur die äußerlich erscheinende Form des Objekts ohne dessen Stofflichkeit und Ausdehnung; „[…] c’est dire d’une autre manière que l’image du réel n’est pas la réalité mais seulement son image; je puis m’asseoir sur une chaise, mais je ne puis m’asseoir sur l’image d’une chaise“ (“[…] das heißt mit anderen Worten, dass das Bild der Wirklichkeit nicht diese selbst, sondern nur ihr Bild ist; ich kann mich auf einen Stuhl setzen, aber ich kann mich nicht auf das Bild eines Stuhls setzen“) (Mitry 2001, S. 55). Was es mit diesem Unterschied auf sich hat, zeigt sich drastischer als beim Bild eines Stuhls (oder einer Pfeife) in der Pornografie, die selbst bei profundester Detailgenauig-

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keit der Abbildung ganz unkörperlich bleibt. Ähnliches gilt auch für die Darstellung von Gewalt, die nur aufgrund dieses spezifischen Mangels dem Zuschaur überhaupt erträglich ist und ihm dadurch wiederum besonders genießbar werden kann (vgl. Kracauer 1993, S. 92 u. 395). Das Abbild besitzt vielmehr seine ganz eigene Materialität, wie Blow Up anhand eines missglückten Beweises vor Augen führt. Mit der Substanz des darauf Aufgenommenen hat es nichts zu schaffen. Wer es immer genauer unter die Lupe zu nehmen sucht, in der Hoffnung, Genaueres über das abgebildete Objekt zu erfahren, wird letztlich enttäuscht. Anstelle jenes Objekts offenbart sich bloß noch das Material des fotografischen Films, das in äußerster Konsequenz auf nichts als sich selbst verweist und sonst nichts und niemandem in der Welt mehr ähnlich sieht. Die indexikalische Qualität der Fotografie wird dennoch in Blow Up keineswegs bestritten. Die Leiche, die er auf dem Bild zu erkennen meint, findet der Fotograf ja im Park auch vor. Genau dieser Zusammenhang erweist sich als entscheidend: Denn ohne die tatsächlich vorhandene Leiche bleibt das einzig erhaltene Foto – eine unbeabsichtigte Aufnahme aus großer Distanz, die keinerlei Ähnlichkeit mit jenem Objekt aufweist – ohne Referenz und damit bedeutungslos. Die schemenhaften Umrisse, die es zeigt, wären eher dem vergleichbar, was die Informationstheorie Rauschen nennt, ihrerseits keine Zeichen mehr, da eine irgend durchsichtige Beziehung zwischen einem Bezeichnenden und einem Bezeichneten nicht mehr gegeben ist (Abb. 4). Das Zufällige als Wirklichkeitsgarant Über die Aufnahme der unvermuteten Wirklichkeit abseits des Liebespaars entscheidet der bloße Zufall, jedenfalls keine Absicht.

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b

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Abb. 4   Das Sezieren einer Fotografie mit dem Ziel der Aufdeckung einer verborgenen Wahrheit bildet eine Konstante im Kriminalgenre, selbst in Zukunftsentwürfen wie Blade Runner. Hier kann der Protagonist Frank Deckard nicht nur unendlich in die Tiefe der Fotografie vorstoßen (a+b), sondern gar deren Zweidimensionalität aufheben und hinter die Gegenstände blicken (c). Das gefundene Indiz gibt die Maschine als Polaroid-ähnliche Fotografie heraus (d). Diese Möglichkeit einer hyperrealen Tiefe im analogen Filmmaterial wird in Antonionis Film angezweifelt. Quelle: Blade Runner (USA 1982, © Warner)

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Unbeabsichtigtes, zumal Unbewusstes, kann sich freilich auch in Werken der Malerei oder Literatur niederschlagen. In Blow Up besucht der Fotograf, noch ehe er sich in jenen Park begibt, einen Freund, der ihm ein Bild zeigt, das er als Kind gemalt habe. Ein Durcheinander, sagt er, dem er lange Zeit keine Bedeutung beigemessen habe. Nun aber sei ihm etwas daran aufgegangen, das er selbst noch nicht genau zu benennen wisse, eine rätselhafte, doch sich unabweisbar aufdrängende Bedeutung, „like a clue in a detective story“. Eine ähnliche Erfahrung wird auch der Fotograf bald machen. In seinem Fall aber ereignet sich das Zufällige, wenn man so sagen darf, selbst nicht ganz zufällig. Auch hat es nicht primär subjektive Gründe, sondern ist vielmehr ein nur schwer zu tilgender Bestandteil der Wirklichkeit, die der Kamera objektiv gegenübersteht. Anders als der Malerei ist der Fotografie das Festhalten eines augenblicklich Zufälligen geradezu wesentlich. Ihre gemeinhin gerühmte Beweis- oder Überzeugungskraft rührt sicherlich vor allem daher, dass sie ein objektives Abbild der Wirklichkeit darstellt. Ihre Faszination aber verdankt sie ebenso dem Zufall, der hier eine entscheidende Rolle spielen kann und irgendeine Rolle fast unvermeidlich auch spielt, das heißt der unverhofften Aufnahme einer nicht vorab subjektiv geordneten Wirklichkeit. Die Entdeckung, die der Fotograf beim Studium seiner Aufnahmen macht, könnte man in Roland Barthes‘ Diktion als das punctum der Fotografie bezeichnen, „jenes Zufällige an ihr, das mich besticht“ (1985, S. 36). Dies gilt umso mehr für den Film, der die sichtbare Wirklichkeit nicht nur in einem Augenblick fotografisch einfängt, sondern sie in ihrer zeitlichen Dauer aufnimmt und mit der Wiedergabe ihrer Bewegung auch einen durchaus neuen, von der Fotografie qualitativ verschiedenen Realitätseindruck erzeugt. Die Erfindung des Kinos hat man in Frankreich vor über hundert Jahren schon treffend kommentiert mit den Worten: La vie est prise sur le vif (zu Deutsch etwa „Das Leben wird auf frischer Tat ertappt“). Durch die Wiedergabe der sichtbaren Wirklichkeit in bewegten Bildern wird der Eindruck des Lebendigen nicht mehr wie noch in der Fotografie über alle Zeit hinweg stillgestellt; vielmehr erscheinen die aufgenommenen Menschen und Dinge in dem Augenblick, da sie als bewegte und ebenso flüchtige Erscheinungen auf die Leinwand projiziert werden, wie zu neuem Leben erweckt. An die Stelle des Gewesenen tritt das Gegenwärtige. Wenn die Fotografie als ein Medium der Verewigung bezeichnet werden kann, so der Film als eines steter Aktualisierung. Wie Barthes erkennt auch Kracauer im Zufälligen einen „Wesenszug der KameraRealität“ (1993, S. 97), der aber erst im Film wirklich zur Geltung komme. Da dieser dazu tendiere, „physisches Sein in seiner Endlosigkeit einzufangen“, besitze er „eine – der Fotografie versagte – Affinität zum Kontinuum des Lebens oder ‚Fluß des Lebens‘ […], der natürlich identisch mit abschlußlosem, offenem Leben ist“ (ebd., S. 109). Indem sie etwas sichtbar macht, was sonst womöglich nie gesehen worden wäre, bahnt die Filmaufnahme einen Zugang zur Wirklichkeit, der allen anderen Künsten bisher versperrt blieb. Eine filmische Darstellung beruht ebenso sehr auf einem unwillkürlichen Eindruck der Wirklichkeit wie auf künstlerischem Ausdruck. „Le film représente et en même temps signifie“ („Der Film repräsentiert und er bedeutet zugleich“) (Morin 1965,

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S. 169), doch was immer er zu bedeuten haben mag, erwächst aus dem, was er zeigt (oder zu hören gibt). Bisweilen haben sogar solche „Gebilde ein Befreiendes, die ihre Technik nicht gänzlich beherrschen und darum ein Unbeherrschtes, Zufälliges tröstlich durchlassen“ (Adorno 1997, S. 353). Auch bei einer sehr genau vorbereiteten Aufnahme zu einem Spielfilm kann es passieren, dass etwas von solcher ungestellten Wirklichkeit Eingang in den Film findet (Abb. 5). Während Schriftsteller sich bei der Beschreibung auf das ihrer Ansicht nach Wesentliche beschränken können – zum Beispiel: eine Frau und ein Mann flanieren durch einen Park –, müssen Filmemacher ein konkretes Bild zeigen, mit einer bestimmten Frau und einem bestimmten Mann in einem bestimmten Park. Die vorgefundene Wirklichkeit, auf die sie sich bei der Aufnahme einlassen, werden sie kaum jemals in solchem Maße beherrschen können wie gute Schriftsteller ihre Worte. Gute Filmemacher zeichnen sich Kracauer zufolge denn auch gerade dadurch aus, dass sie noch in einer weithin kontrollierten Inszenierung etwas von der unkontrollierten Wirklichkeit wirken lassen. Selbst bei einer Atelieraufnahme, bei der zufällige Begebenheiten im Hintergrund weitgehend ausgeschlossen werden können, bleibt noch mit spontanen Regungen der Darsteller zu rechnen. Vom eigentümlichen Realismus des Films legt nicht nur das von Kracauer zitierte „Zittern der vom Wind erregten Blätter“ (1993, S. 11) Zeugnis ab (Abb. 6), das schon die Zeitgenossen der Gebrüder Lumière an deren Filmen bewundert hätten, sondern nicht an letzter Stelle auch der sichtbare Mensch, den Béla Balázs in seinem gleichnamigen Essay aus den 1920er Jahren als größte Errungenschaft des Films preist. Wirklich sichtbar mache ihn erst die filmische Großaufnahme seines Gesichts, auf dem Theater sei er nur als eine Figur von weitem zu sehen, mithin sei sein lebendiges Angesicht dem Publikum bisher verborgen geblieben. Die „Gebärdensprache“, schreibt Balázs, sei „die eigentliche Muttersprache der Menschheit“ (2001, S. 18). Nicht nur das bewusste Mienenspiel, auch jede unwillkürliche Zuckung der Gesichtsmuskeln, der Augen und Mundwinkel zeichne der Film unerbittlich auf. Dabei stört es Balázs offenbar ebenso

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Abb. 5   Thomas entdeckt ein zufällig aufgenommenes Detail in der Fotografie, welches das Material gerettet hat (a). Mit dem Ziel, die unverfälschte Wirklichkeit einzufangen, hatte er sich in den Büschen versteckt und das Paar anvisiert, genau wie der Mörder, den er dort nun sieht (b). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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Abb. 6   Thomas bewundert das „Zittern der vom Wind erregten Blätter“, ein Beispiel für unkontrollierte Wirklichkeit und den Realismus, der dem Medium Film laut Siegfried Kracauer inhärent ist. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

wenig wie das Publikum, dass der Film „alle Wirklichkeiten aufnehmen [kann] – außer der leibhaftigen Präsenz des Schauspielers“ (Bazin 2004c, S. 183). Georg Lukács bemerkt schon 1913, dass die Projektionen auf der Leinwand „eben nur Bewegungen und Taten von Menschen sind, aber keine Menschen. Dies ist kein Mangel des ‚Kino‘, sondern seine Grenze, sein principium stilisationis“ (1972, S. 143). Dies muss sehr zu seinem Verdruss auch der Soldat Michelangelo in Jean-Luc Godards Les Carabiniers (F 1963, Die Karabinieri) erfahren, als er bei seinem ersten Kinobesuch an die Leinwand herantritt, in der Hoffnung, aus spitzem Winkel von oben einen Blick in die Wanne werfen zu können, in der die dort gezeigte Dame gerade ein Bad nimmt (Abb. 7). Filmische Konventionen und sprachliche Zeichen  Was immer man sich unter einem erklärtermaßen realistischen Film idealerweise vorstellen mag: Merkwürdig erscheint, dass zwar einerseits die große Mehrheit der Filme als durchaus realistisch empfunden wird – soweit es Spielfilme sind, betrifft das nicht unbedingt ihre Handlung und die handelnden Figuren, wohl jedoch ganz allgemein den Modus der visuellen Darstellung –, andererseits das irreduzibel Realistische der Filmaufnahme zumeist aber in Formen präsentiert wird, die ihrerseits nicht in derselben Weise als realistisch gelten können. Die Rede ist von Verfahren filmischer Darstellung, die anders als die Aufnahme selbst nicht unmittelbar der äußeren Wirklichkeit entnommen sind. Würde tatsächlich der Film „sich blind der Darstellung des alltäglichen Lebens überlassen“, vermutet Adorno, „so entstünde ein den Sehgewohnheiten des Publikums fremdes, diffuses, nach außen unartikuliertes Gebilde. Der radikale Naturalismus, den die Technik des Films nahelegt, würde jeglichen Sinnzusammenhang an der Oberfläche auflösen und in den äußersten Gegensatz zum vertrauten Realismus geraten“ (1994, S. 186). Ob die spezi-

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Abb. 7   Das Begehren der Zuschauer und die (Un)Durchlässigkeit der Leinwand: Während dem erotisierten Zuschauer in Jean-Luc Godards Les Carabiniers kein Eindringen möglich ist (a), passiert in Woody Allens The Purple Rose Of Cairo das Gegenteil. Hier steigt das von einer Zuschauerin geliebte Filmidol aus der Leinwand (b); im Übergang zwischen Schwarzweiß-Projektion und farbigem Kinosaal wird die flache Erscheinung zu einem Körper, der die natürliche Trennung zwischen Illusion und Wirklichkeit in Frage stellt. Quelle: Les Carabiniers (Die Karabinieri, F 1963, © Studiocanal); The Purple Rose Of Cairo (USA 1985, © MGM)

fisch filmische Artikulation in einem anderen als metaphorischen Sinne als Sprache zu verstehen sei, mag man bezweifeln; die Semiotik hat es jedenfalls längst aufgegeben, sie nach linguistischem Modell streng als solche zu konzipieren. Unstrittig ist hingegen, dass der Film in seiner Geschichte etliche Konventionen der Darstellung hervorgebracht hat, die mit der Ästhetik der Filme auch das Verständnis des Realismus im Film prägen. Konventionen sind selbstredend keine Naturgesetze, sondern mehr oder minder verbindliche Normen. Fraglich indessen, wie und warum sie entstanden sind und weshalb sie so weithin akzeptiert werden. Warum zum Beispiel hat sich bereits in den 1910er Jahren der Schuss-Gegenschuss als ein Verfahren zur Darstellung vorzugsweise von Dialogszenen etabliert und mit nur erstaunlich wenigen Modifikationen bis zum heutigen Tag erhalten? Der gewöhnlichen menschlichen Wahrnehmung entspricht diese Art der Montage (wie die Montage überhaupt) sicherlich nicht. Wenngleich solch eine genuin filmische Konstruktion allenfalls einige Aspekte jener Wahrnehmung berücksichtigt, so gibt sie jedoch die entscheidenden Verhältnisse zwischen den Figuren im Raum auf geradezu sparsame Art realistisch wieder. Es bedarf auch keiner großen Anstrengung, sie zu verstehen. Durchaus denkbar, dass der Schuss-Gegenschuss sich gegenüber anderen an seiner Stelle möglichen Verfahren, etwa einer langen Einstellung mit bewegter Kamera, als ein besonders praktikables, vielleicht auch ökonomisch rentables erwiesen hat, denn solche außerkünstlerischen Zwänge spielen in der Filmproduktion eine oft sogar noch wichtigere Rolle als originär ästhetische Überlegungen. David Bordwell, der jenes Verfahren exemplarisch erörtert, bestreitet, dass filmische Konventionen, wie sprachliche Zeichen, völlig arbiträr und somit nichts als Konventionen ohne Bezug zur physischen Realität seien. Er nimmt vielmehr an, dass sie sich zu einem beträchtlichen Teil an den

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„psychophysical capacities“ (1996, S. 91) des Publikums orientierten, also zumindest tendenziell auch realistisch seien. Um Genese und Geltung stilistischer Konventionen im Film zu begreifen, dürfe man diese weder einfach als Nachahmung natürlicher Vorgänge noch als rein willkürliche Konstruktionen auffassen, die mit der sichtbaren Wirklichkeit und ihrer sogenannten natürlichen Wahrnehmung nichts zu tun hätten. Als man in den 1960er Jahren beginnt, den Film, wie die gesprochene und geschriebene Sprache, als ein System von Zeichen zu entschlüsseln, das aus der Relation der Zeichen zueinander und nicht primär aus deren Beziehung zu einer außerfilmischen Realität zu verstehen sei, gilt insbesondere der Realismus der seither klassisch genannten Filmtheorie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als naiv und ideologisch suspekt. Was der Film zeige, sei mitnichten die objektive Realität, sondern eine kulturellen Konventionen und womöglich auch politischen Interessen entsprechende Konstruktion, die sich als solche behaupte. Wie und warum dies allerdings im Film so verblüffend überzeugend gelingt – offenbar auf andere Weise als bei einem geschriebenen Text –, kann eine derart abstrakt formulierte Theorie der Zeichen ihrerseits nicht überzeugend erklären. Nicht nur erweist sich, wie Roland Barthes schon 1963 andeutet, die „analogical (and moreover, continuous) expression of reality“ (1992, S. 277), die der Film darstellt, als ein den diskreten Einheiten der Semiotik schwer zugängliches Terrain. Auch der weit darüber hinausgehende Anspruch, „jede Spontaneität auf Konvention, jedes Faktum der Natur auf Faktum der Kultur, jede Analogie auf Übereinstimmung in den Codes, jeden Gegenstand auf Zeichen, jeden Referenten auf Bedeutung und damit Wirklichkeit auf Gesellschaft zu reduzieren“ (Eco 1971, S. 71), erscheint auf sympathische Weise vermessen. Wenngleich auch das filmische Bild, wie eine Bleistiftzeichnung auf Papier, nur eine visuelle Repräsentation seines Gegenstands gemäß bestimmten Kriterien darstellt, die für dessen Wiedererkennen relevant sind, so bleibt doch der fundamentale Unterschied nicht gering zu achten, dass der Film einen augenblicklichen optischen Eindruck des Gegenstands selbst aufzeichnet – ihn in Wirklichkeit gar nicht zeichnet, sondern geradezu mechanisch fixiert. Wer dies zugesteht, spricht damit noch lange kein entlastendes Wort über die gesellschaftliche Wirklichkeit, die die meisten Filme in Ausschnitten repräsentieren oder zu repräsentieren meinen, in welcher Absicht auch immer. Einem Verständnis der spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten des Films aber kommt man damit näher als mit einem begrifflichen Apparat, der sich zur Beschreibung jedweder Kommunikation eignen soll (als welche man übrigens den Film als Kunst grob missverstünde). Realismus, darin zumindest dürften in der heutigen Filmtheorie die meisten einig sein, meint weder eine authentische Reproduktion der Wirklichkeit in ihrem Sosein noch deren ideologische Rechtfertigung. Gegen den oben formulierten Anspruch der Semiotik, den alle im weitesten Sinne konstruktivistischen Theorien des Films in gewissem Umfang teilen, bliebe daran zu erinnern, dass die im Film repräsentierte Wirklichkeit selbst eine durchaus gesellschaftliche ist. Nicht nur verschafft der Film „dem zur Subjektivität fremden Objekt mehr an Eigengeltung als die ästhetisch autonomen Verfahrungsarten“; auch dort, „wo er die Objekte, wie es ihm möglich ist, auflöst und modifiziert, ist die Auflösung nicht voll-

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ständig. Sie erlaubt daher auch keine absolute Konstruktion; die Elemente, in die zerlegt wird, behalten etwas Dinghaftes, sind keine reinen Valeurs“ (Adorno 1997, S. 357). Statt das Dinghafte selbst zwanghaft aufzulösen, wäre genau diese fast archaisch anmutende Qualität des sonst so modern erscheinenden Films gegenüber den anderen Künsten hervorzuheben: Kraft dieser Differenz ragt die Gesellschaft ganz anders, weit unmittelbarer vom Objekt her, in den Film hinein als in avancierte Malerei oder Literatur. Das im Film Irreduzible an den Objekten ist an sich gesellschaftliches Zeichen, wird es nicht erst durch die ästhetische Realisierung einer Intention. Die Ästhetik des Films ist darum immanent, vermöge ihrer Stellung zum Objekt, mit Gesellschaft befaßt. (ebd. 1997, S. 357)

Realismus im Film  Wenn schon über den Realismus des Films als Medium bis heute gestritten wird, so gilt das umso mehr für den Realismus im Film. Die Frage, was einen bestimmten Film als besonders realistisch ausweise, wie man sich also einen dezidiert realistischen Stil vorzustellen habe, lässt sich mit allgemeinen theoretischen Überlegungen kaum bündig beantworten. Dazu müsste man sich eine ganze Reihe von Filmen vornehmen und jeden einzelnen von ihnen daraufhin untersuchen. Allgemein lässt sich bloß feststellen, dass Erscheinungsbild und Bedeutung des Realismus nicht nur von der historischen Veränderung der Wirklichkeit selbst, sondern auch von deren jeweils vorherrschender Auffassung abhängen, die sich damit ebenfalls ändern kann. Eine bestimmte Art der Darstellung wird nicht zu allen Zeiten als gleichermaßen realistisch wahrgenommen. Jedes filmische Stilmittel, einschließlich des Spiels der Darsteller, erlaubt unterschiedliche Verwendungen, die den Konventionen der Zeit gemäß als mehr oder weniger realistisch empfunden werden können. Eine Montagesequenz wie die auf der Treppe von Odessa in Eisensteins Bronenosez Potjomkin (Panzerkreuzer Potemkin, SU 1925) kann ebenso realistisch wirken wie die langen, bis in die Tiefe des Raums hinein scharf gestochenen Einstellungen des Kameramanns Gregg Toland aus Citizen Kane (USA 1941), die Bazin zu einem allseits gültigen Vorbild filmischen Realismus erklärt (vgl. 1980, S. 120 ff.; vgl. Abb. 8). Im Vergleich zur ungeschnittenen Einstellung mag man der Montage prinzipiell misstrauen, da sie sich mehr auf Assoziationen in den Köpfen der Zuschauer als auf das im Bild selbst Gezeigte verlasse, wie Bazin sagt (vgl. 2004a, S. 91), doch als weniger realistisch muss sie darum nicht angesehen werden. Ähnliches gilt etwa für das Verhältnis der feststehenden zur bewegten Kamera. Die womöglich realistische Wirkung eines filmischen Verfahrens lässt sich nicht vorab festlegen, sie hängt von dessen konkreter Verwendung ab. Selbst ein stereoskopischer Film muss aufgrund seiner scheinbar dreidimensionalen Abbildung der Verhältnisse im Raum nicht als realistischer aufgefasst werden. Als ebenso bedeutsam wie Gewohnheiten der außerfilmischen Wahrnehmung der Wirklichkeit erweisen sich bei der Beurteilung des Realismus im Film die durch ihn selbst geschaffenen Konventionen. Das kann man zumal an Genrefilmen beobachten, die dafür ganz eigene Maßstäbe errichten. Was den durch einschlägige Filmerfahrung

328 Abb. 8   Verschiedene Stilmittel des filmischen Realismus: (a) das Verfahren der Tiefenschärfe, das der Kameramann Gregg Toland auch bei William Wylers The Little Foxes einsetzt (Quelle: The Little Foxes/Die kleinen Füchse, USA 1941, © RKO Radio Pictures), (b) die Verwendung von Originalschauplätzen wie in Paisà (Quelle: Paisà,  I 1946, © Organizzazione Film Internazionali); (c) der Versuch, ungeschönt das Leben einer bestimmten Generation zu zeigen, hier die britische Arbeiterklasse in Tony Richardsons Kurzfilm (Quelle: Momma Don’t Allow GB 1956, © British Film Institute)

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begründeten Erwartungen an das jeweilige Genre entspricht, kann ohne weiteres als realistisch wahrgenommen werden, ohne dass dazu die außerfilmische Wirklichkeit zum Vergleich herangezogen würde. Erstaunlich, nebenbei, wie wenig sogar eine völlig unrealistische Musik aus dem Off den Realitätseindruck selbst eines Dokumentarfilms stören muss. Bei der Beurteilung der Handlung und der handelnden Figuren in einem Spielfilm werden Glaubwürdigkeit und Plausibilität innerhalb der filmischen Fiktion gemeinhin höher bewertet als etwaige Übereinstimmungen mit der dem Publikum aus seinem Alltag vertrauten Wirklichkeit. Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Noch allgemeiner könnte man sagen, kein Medium sei imstande, die Wirklichkeit als Ganzes wiederzugeben. Jedes einzelne stellt dafür nur jeweils spezifische Kanäle bereit. Die des Films erlauben eine instantane Aufnahme sichtbarer Bewegung und hörbarer Geräusche und Stimmen, und diese besondere Fähigkeit hat sich bis heute erhalten. Ihre realistische Wirkung kann sie selbst dort entfalten, wo eine elektronische Simulation die Aufnahme ersetzt, dabei jedoch wirkliche Eindrücke, Gegenstände und Bewegungen nachahmt (vgl. Richter 2008). Nur können die Bilder eines digitalen Kinos, das jene äußeren Eindrücke suspendiert, darum freilich nicht mehr als Zeugnis einer historischen Realität betrachtet werden. In dieser Hinsicht ähnelt das vollständig digitalisierte Kino eher der Malerei als dem herkömmlichen Film. Anders als beim Dokumentarfilm, dessen Glaubwürdigkeit gerade auf jener Beweiskraft beruht, muss das Verschwinden einer vorfilmischen Realität für den Spielfilm allerdings keinen Verlust bedeuten. Ob eine dargebotene Landschaft irgendwo auf der Welt wirklich existiert oder am Bildschirm virtuell erzeugt wird, kann für die Funktion ihrer Darstellung im fiktionalen Film ganz unerheblich bleiben (Abb. 9). Michelangelo Antonioni und der Realismus Als ein realistischer Filmkünstler gilt von ferne auch Michelangelo Antonioni, zumindest sagt man das über sein frühes, bis etwa Mitte der 1960er Jahre entstandenes Werk. Seine künstlerische Abkunft aus dem Kino des italienischen Neorealismus steht außer Frage. Strittig bleibt aber, inwieweit die Filme, die ihn selbst bald berühmt gemacht haben – Il grido (Der Schrei, I/USA 1957), L’avventura (Die mit der Liebe spielen, I/FR 1960), La notte (Die Nacht, I/FR 1961) und L’eclisse (Liebe 1962, I/FR 1962) – in einem mehr als handgreiflich technischen Sinne als realistisch zu bezeichnen wären. Die Wirklichkeit, die sie mit zum Teil fast schmerzhafter Geduld vor Augen führen, mag auch dem Publikum manchmal so unwirklich erscheinen wie den Figuren, die sich darin nicht zurechtfinden und auch einander nur mehr wie fensterlose Monaden begegnen. Vor diesem Hintergrund könnte man Blow Up, ungeachtet aller neuen Erfahrungen, die dieser nicht mehr in Italien, sondern in England gedrehte Film verarbeitet, auch als eine Art Reflexion jener Werke betrachten. Der Realismus, den man in den früheren Filmen Antonionis realisiert finden mag oder nicht, wird hier zum ersten Mal selbst thematisiert. Insbesondere die oben angesprochene reale Referenz der Aufnahme spielt in diesem Film eine entscheidende Rolle. Der Fotograf, so könnte man es mit einem Begriff aus der Dokumentarfilmtheorie von Bill Nichols bezeichnen, tritt der Wirklichkeit im Modus des Beobachters gegenüber (vgl. Nichols

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Abb. 9   Mitte der 2000er Jahre eröffnen digitale Bilder dem Kino ein Spektrum neuer Optionen: einerseits die Möglichkeit einer beinah hyperrealen Aufzeichnung der äußeren Wirklichkeit durch die immense Lichtempfindlichkeit und Unmittelbarkeit des digitalen Bildsensors, etwa der Thomson Viper, prominent demonstriert durch Kameramann Dion Bebe (a) in Miami Vice (b); andererseits durch eine computerbasierte und teils kamera-lose Konstruktion, wie mithilfe der Simulcam, einem Motiontracker, der das später herzustellende filmische Bild simuliert, statt es aufzuzeichnen, eingesetzt von James Cameron (c) für die phantastische Welt in Avatar (d). Quelle: Miami Vice (USA 2006, © Universal); Avatar (Avatar – Aufbruch nach Pandora, USA/NZ 2009, © 20th Century Fox)

1991, S. 38 ff.). Was ihm jedoch unverhofft misslingt, da eine der Personen, denen er nachstellt, ihn bei seiner kaum verborgenen Arbeit ihrerseits beobachtet und daraufhin interveniert. Blow Up ist indes mehr als eine Kriminalgeschichte mit einer sogar ziemlich spannenden Handlung (worauf Antonioni sonst kein allzu großes Gewicht legt) und auch mehr als ein filmisch gestalteter Diskurs über die Fotografie. Die hier implizit gestellten Fragen nach dem Realismus und der Wirklichkeit, der er nachspürt, richten sich nicht nur auf den technischen Aspekt der fotografischen Aufnahme und ihrer Bearbeitung, sondern ebenso auf die soziale Realität, von der der Film und sein Protagonist, der unversehens zum Detektiv berufene Fotograf, sich ein Bild zu machen suchen. Mit derselben Treue zum Detail wie die grauen Vorstädte in den Filmen des italienischen Neorealismus, dem Antonioni inzwischen entwachsen ist (wenngleich er dessen behutsam distanzierenden Stil nie ganz aufgegeben hat), wird hier das London einer neuen Epoche vorgeführt: nicht nur das farbenfrohe Swinging London, bespielt von der Musik Herbie Hancocks, auch die heruntergekommenen Gegenden der einstigen Hauptstadt des britischen Empire sowie die plump herausragenden Neubauten, zumeist Bürogebäude, wie sie zu jener Zeit in etlichen Städten ohne Rücksicht auf deren Bewohner errichtet werden. Die neue Epoche, deren äußere Kennzeichen Blow Up wie im Vorbei-

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gehen zur Schau stellt, ist geprägt einerseits von einer ökonomischen Prosperität, welche die Leiden des Krieges sowie die Entbehrungen der Nachkriegsjahre scheinbar vergessen macht, andererseits vom lautstarken Auftreten einer Jugend, die nach einem anderen Leben verlangt als dem, das Eltern, Schule und Staat ihr nach hergebrachter Tradition diktieren. Der Film gibt schon vor dem späterhin zum Mythos verklärten Jahr 1968 auch einen sehr ahnungsvollen Eindruck davon, wie der Protest dieser Jugend, noch ehe er seinen Höhepunkt erreicht, sich bereits in jene Kanäle ergießt, deren Ströme die Kulturindustrie bald dankbar auffängt, um aus der gescheiterten Revolte immerhin ein lukratives Geschäft zu machen. Als hätten sie das geahnt, zertrümmern die Yardbirds bei ihrem im Film gezeigten Konzert ihre Instrumente. Sehr realistisch ist auch die Darstellung der von der Protestbewegung erst zaghaft tangierten Geschlechterrollen (Abschn. 2 im Kap. 7 „Theorien der diskursiven Analyse“): der männliche Fotograf als Herr über seine weiblichen Modelle, die ihrerseits begierig darauf sind, als solche gebraucht zu werden. Die von Horkheimer und Adorno einst beargwöhnte „Photographie des sturen Daseins“ muss dieses Dasein selbst keineswegs stur legitimieren, es kann „die nackte Lüge von seinem Sinn“ (1987, S. 174) ebenso bloßstellen. Dass auch die Welt des buntbeschwingten London eine ähnlich trostlose ist wie die der früheren Filme Antonionis, zuletzt die eher abstoßend gefärbte in Il deserto rosso (Die rote Wüste, I 1964), diesen Verdacht drängt einem spätestens das pantomimische Tennisspiel ohne Ball, jedoch mit angedeutetem Ton, auf, das wie in einem Käfig stattfinde. Der aus dem Park enttäuscht wieder abziehende Fotograf beobachtet die Szene zunächst ungläubig, ehe er dann selbst daran teilnimmt, indem er den nicht vorhandenen Ball, gestisch einsammelt und zurückspielt. Diese Welt, deren Unwirklichkeit zumindest latent Thema seines gesamten Werks ist, wird Antonioni am Ende seines darauffolgenden Films Zabriskie Point (USA 1968) in die Luft jagen. Schon der Titel Blow Up, den man naheliegenderweise auch genau so verstehen kann, nimmt die Explosion vorweg. In dieser zumeist kaum beachteten Bedeutung erinnert er unwillkürlich an eine Auffassung filmischen Realismus, die Walter Benjamin bald vierzig Jahre zuvor in seither unübertroffenen Worten zum Ausdruck gebracht hat. Der Film nämlich, heißt es da, sei das einzige Prisma, in welchem dem Menschen die unmittelbare Umwelt, die Räume, in denen er lebt, seinen Geschäften nachgeht und sich vergnügt, sich faßlich, sinnvoll, passionierend auseinanderlegen. An sich selber sind diese Büros, möblierten Zimmer, Kneipen, Großstadtstraßen, Bahnhöfe und Fabriken häßlich, unfaßlich, hoffnungslos traurig. Vielmehr: sie waren und sie schienen so, bis der Film war. Er hat diese ganze Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern wir weite, abenteuerliche Reisen unternehmen. (1977, S. 752)

Eine solcherart explosive Kraft wächst dem Film jedoch nicht schon dadurch zu, dass die Kamera die sichtbare Wirklichkeit im Prozess der Aufnahme in einzelne Bilder zerstückelt, die anschließend der Projektor zu einer filmischen Realität wieder zusammenfügt. Ein Realismus, der darauf zielt, die Wirklichkeit nicht nur abzubilden, sondern

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die Kerkerwelt, als die sie sich zu erkennen gibt, zu sprengen, muss einen bestimmten Zugang zu ihr suchen. Das Medium allein bietet dafür keine Gewähr. Zu jeder Zeit muss jeder Film selbst zusehen, dass er nicht unversehens zum Blindgänger wird. Exemplarische Filme Thema: Der Filmische Realismus und seine Bewegungen im Laufe der Filmgeschichte • Sowjetisches Montagekino (ca. 1924–1930): Padenije dinastii Romanowych (Der Fall der Dynastie Romanow, SU 1927, Esfir Schub) • Neue Sachlichkeit (ca. 1925–1932): Berlin – Alexanderplatz (D 1931, Phil Jutzi) • Sozialistischer Realismus (ca. 1934–1956): Chapaev (Tschapajew, SU 1934, Sergej Wassijew, Georgi Wassiljew) • Poetischer Realismus (ca. 1934–1939): Toni (F 1935, Jean Renoir) • Britische Dokumentarfilmbewegung (ca.  1929–1945): Spare Time (GB 1939, Humphrey Jennings) • Italienischer Neorealismus (ca. 1943–1954): Roma città aperta (Rom, offene Stadt, I 1945, Roberto Rossellini) • Neorealismus in Indien: Pather Panchali (Apus Weg ins Leben: Auf der Straße, IND 1955, Satyajit Ray) • Direct Cinema (ca. 1958–1970): Primary (USA 1960, Robert Drew/Richard Leacock/ Albert Maysles/D. A. Pennebaker) • British New Wave (ca. 1959–1963): Saturday Night and Sunday Morining (Samstagnacht und Sonntagmorgen, GB 1960, Karel Reisz) • Nouvelle Vague (ca. 1958–1968): Le Signe du Lion (Im Zeichen des Löwen, F 1959, Éric Rohmer) • Cinema Novo (ca. 1955–1972): Vidas secas (Vidas secas – Nach Eden ist es weit, BRA 1963, Nelson Pereira dos Santos) • Iranische Neue Welle (ab 1964): Davandeh (Der Läufer, IR 1985, Amir Naderi) • US-Independentfilm der 1980er: Stranger than Paradise (USA/BRD 1984, Jim Jarmusch) • Cinéma Beur (ca. 1985–1996): Le Thé au Harem d‘Archimède (Tee im Harem des Archimedes, F 1985, Mehdi Charef) • Dogma-Bewegung (ca. 1998–2002): Festen (Das Fest, DK 1999, Thomas Vinterberg) • Neuer Realismus in den USA (ab 2000) Winter’s Bone (USA 2010, Debra Granik) • Neue Rumänische Welle (ab 2005): 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile (4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage, RO 2007, Cristian Mungiu) • Langzeitdokumentation im Spielfilm: Boyhood (USA 2014, Richard Linklater)

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Literaturhinweise zu Realismus-Theorien Bazin, André. 2004. Die Entwicklung der Filmsprache. In Was ist Film?, hrsg. Robert Fischer, 90–109. Berlin: Alexander Verlag. Begemann, Christian, Hrsg. 2011. Realismus. Das große Lesebuch. Frankfurt a.M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag. Casetti, Francesco. 2009. Der Stil als Schauplatz der Verhandlung. Überlegungen zum filmischen Realismus und Neo-Realismus. Montage/av. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation, Vol 18. Nr 1. 129-139. Kappelhoff, Hermann. 2015. The Politics and Poetics of Cinematic Realism. New York: Columbia University Press. Hallam, Julia und Margaret Marshment. 2000. Realism and popular cinema. Manchester: Manchester University Press. Herman, Luc. 2008. Literaturtheorien des Realismus. In Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hrsg. Ansgar Nünning, S. 638-40, Stuttgart: Metzler. Kirsten, Guido. 2013. Filmischer Realismus. Marburg: Schüren. Kracauer, Siegfried. 1993. Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lange, Christiane und Nils Ohlsen, Hrsg. 2010. Realismus. Das Abenteuer der Wirklichkeit. München: Hirmer. Marszale, Magdalena und Dieter Mersch, Hrsg. 2016. Seien wir realistisch. Neue Realismen und Dokumentarismen in Philosophie und Kunst. Zürich: Diephanes. Müller, Uwe. 2004. Der intime Realismus des Michelangelo Antonioni. Norderstedt: Books on Demand GmbH. Pischel, Christian. 2021. Indexikalität und Filmischer Realismus. In Handbuch Filmtheorie, hrsg. Groß, Bernhard/Morsch, Thomas. Wiesbaden: Springer VS, S. 323-344. Röhrl, Boris. 2003. Kunsttheorie des Naturalismus und Realismus. Historische Entwicklung, Terminologie und Definitionen. Hildesheim: Olms. Thanner, Veronika, [u.a.], Hrsg. 2018. Die Wirklichkeit des Realismus. Paderborn: Wilhelm Fink.

2 Poststrukturalismus Oliver Fahle Der Poststrukturalismus ist eine philosophische Strömung, die sich ab Mitte der 1960er Jahre in Frankreich verbreitete und deren einflussreichste Vertreter Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Roland Barthes, Michel Foucault und Jacques Lacan sind. Es handelt sich nicht um eine einheitliche Bewegung, selbst die Bezeichnung „Poststrukturalist“ würden einige der genannten Denker nicht umstandslos für sich annehmen. Dennoch weisen sie eine Reihe von Ähnlichkeiten im philosophischen Zugang auf, auch wenn die thematischen und methodischen Schwerpunkte durchaus unterschiedlich sind. Explizit

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und umfassend zum Film geäußert hat sich nur Gilles Deleuze mit seiner außerordentlich einflussreichen Filmphilosophie in den Bänden Kino 1: Das Bewegungs-Bild (1989) und Kino 2: Das Zeit-Bild (1991). Deleuze hat überragende Bedeutung nicht nur für die Philosophie des Poststrukturalismus, sondern für die theoretische Auseinandersetzung mit dem Film überhaupt. Eine poststrukturalistische Filmtheorie im eigentlichen Sinne gibt es nicht, es lassen sich jedoch entsprechende Zugänge entwickeln, wenn die Bereitschaft besteht, den Film als philosophisches und philosophierendes Medium zu begreifen. Blow Up ist zudem ein Film, der dem Poststrukturalismus nahesteht. Er gilt als eines der wichtigsten und meistbesprochenen Werke der filmischen Moderne der 1960er Jahre, die sich durch Selbstreflexivität, den experimentellen Umgang mit filmischen Mitteln und vor allem durch Medienbewusstsein auszeichnet (vgl. Glasenapp 2012; Kappelhoff 2019). Blow Up versteht sich selbst als Film, dessen Bedeutungen durch Interpretation nicht vollständig erfasst werden können. Er stellt sich vielmehr als teilweise loses Gefüge von Bildern und Tönen dar, das die Aufmerksamkeit auf die Operationen des visuellen und akustischen Materials lenkt. Damit eignet sich der Film besonders gut für die poststrukturale Analyse, da diese ein Bewusstsein für das Tun von Sprache, Schrift und Bildern voraussetzt. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind diese philosophischen Ansätze auch in überragender Weise in die Gründung der Disziplin der Medienwissenschaft in den 1990er Jahren eingeflossen, welche ihrerseits die Medienbedingtheit des Sprechens, Schreibens und Zeigens und damit aller kulturellen Äußerungen präzise ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt hat (Pias et al. 1999, Mersch 2006). Poststrukturalismus und Medientheorie sind also eng verklammert und Blow Up zählt zu den Werken, die diese Verbindung explizit filmisch thematisierten und offenlegten. Im folgenden Kapitel soll es zunächst um die Entstehung/Entwicklung des Poststrukturalismus aus dem Strukturalismus gehen. Der Strukturalismus richtete seinen Blick auf die Sprache und Zeichen als Bedeutungsträger von Kultur und steht für die Denkbewegung, an die poststrukturalistische Philosophen und Philosophinnen kritisch anschließen, indem ihr Fokus die dynamischen Differenzierungsleistungen von Zeichen ins Zentrum stellte. Im Rahmen dieses Textes können nur einige, allerdings wesentliche philosophische Positionen und ihre Anwendung für die filmische Analyse zur Sprache kommen. Herausgehoben wird dabei zunächst Gilles Deleuze, der sich mehrmals konkret auf Blow Up und Michelangelo Antonioni bezieht und eine explizit poststrukturalistisch inspirierte Filmphilosophie entworfen hat. Mit Jacques Derridas (1976) Dekonstruktion und Michel Foucaults Diskursbegriff werden im Anschluss zwei weitere sehr einflussreiche Philosophien ins Zentrum gerückt und für die Analyse von Blow Up fruchtbar gemacht. Auch wenn die poststrukturalistische Filmanalyse entlang einiger zentraler Autoren exemplifiziert wird, so handelt es sich doch weder um eine vollständige Einführung in den Poststrukturalismus noch in das Werk der genannten Autoren. Es soll vielmehr aufgezeigt werden, inwiefern sich in Blow Up poststrukturalistisches Denken manifestiert und welche filmanalytischen Resultate sich mit einer solchen Herangehensweise erzielen lassen. Die Ausführungen zielen also auf

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Weiterführung und nicht auf Abschließung. Der analytische Teil schließt mit dem Übergang zur Postmoderne, in dem mit Jean-François Lyotard einer ihrer zentralen Denker in den Blick genommen wird. Hier werden das Verhältnis von Poststrukturalismus und Postmoderne, die trotz einiger Berührungspunkte nicht gleichgesetzt werden können, und die Frage, inwiefern Blow Up als postmoderner Film betrachtet werden kann, behandelt.

2.1 Strukturalismus Der Poststrukturalismus gilt als kritischer Anschluss an den seit den 1930er Jahren verbreiteten Strukturalismus. Dieser hatte seine Wurzeln vor allem in der Sprachwissenschaft und wirkte als geisteswissenschaftliche Grundlagentheorie in verschiedene Disziplinen hinein, etwa in Ethnologie, Psychoanalyse oder Marxismus. Das Fundament legte der Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure in seinen Vorlesungen zur allgemeinen Sprachwissenschaft in den Jahren 1906–1911 (vgl. 2016), der die phonetische Sprache nicht mehr über die außersprachlichen Bedeutungen begriff, sondern als System interner Abgrenzungen. Wörter erhalten dabei ihre Funktion über den phonetischen Unterschied zu anderen Wörtern (die Distinktion etwa von „Haus“ und „Maus“ beruht auf einem phonetischen Unterschied). Sprache versteht man daher nicht, indem man Wörter äußeren Dingen zuordnet, also das Wort „Haus“ in referentielle Beziehung zu einem außersprachlichen Haus setzt, sondern indem die sogenannte „langue“ verstanden wird, das Sprachsystem, das die abstrakte Ordnung dieser Differenzen darstellt. Des Weiteren unterscheidet de Saussure zwischen dem Signifikant und dem Signifikat, also dem Bezeichnenden (das Lautbild „Haus“) und einem Vorstellungsbild, das man sich davon macht. Beide gemeinsam bilden das Zeichen und gehören daher zusammen. Entscheidend ist, dass der Zusammenhang von Signifikant und Signifikat arbiträr, also nicht logisch oder selbstverständlich ist (Abb. 10). Das Lautbild „Haus“

Abb. 10   Das semiotische Dreieck nach Ferdinand de Saussure. (© Heberling/Maisenbacher)

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könnte auch etwas anderes bezeichnen als das, was wir uns darunter vorstellen (anders ist es etwa mit einem konkreten Bild von einem Haus, woran deutlich wird, dass es sich hier zunächst um eine Sprachtheorie handelt). Gerade weil dieser Zusammenhang beliebig ist, unterliegt er auch Veränderungen. Sprache wandelt sich, was wiederum durch Mediengebrauch leicht festgestellt werden kann. Daher unterscheidet de Saussure zwischen der langue, dem abstrakten, als niemals von irgendjemandem komplett beherrschbarem Sprachsystem, das aber dem konkreten und angewendeten Sprachgebrauch, der parole (gelegentlich auch: language), zu Grunde liegt. Der Strukturalismus ist ein wichtiger Schritt für die Linguistik, geht aber über die Sprachwissenschaft hinaus und ist beteiligt am sogenannten linguistic turn, der die kulturelle Bedingtheit der Sprache betont und so auch für die Philosophie und die Geisteswissenschaften ausschlaggebend war. Die zentrale These des strukturalistisch inspirierten und von de Saussure entscheidend geprägten linguistic turn liegt darin, dass die Sprache nun ein organisierendes System ist, innerhalb dessen sich das Subjekt bewegt und das seinen Sprach- und Handlungsspielraum begrenzt und bestimmt. Anders gesagt: Nicht mehr das Subjekt verleiht den Wörtern Bedeutungen, sondern die langue organisiert die Möglichkeiten von Ausdruck und Bedeutung, die vom Subjekt gesprochen werden können. Oliver Simons formuliert daher zu Recht: „Die langue ist allgemeiner noch als eine Grammatik oder das Wörterbuch, sie ist das apriori der Sprache, dessen Regeln einem jeden Subjekt eingeschrieben sind.“ (2009, S. 14) Diese Voraussetzungen der Schrift de Saussures wurden zur Grundlage nicht nur des Strukturalismus, sondern auch des Poststrukturalismus. Vertretende des Strukturalismus behaupteten im Anschluss an de Saussure (bei dem dieser Begriff übrigens gar keine Rolle spielte), dass einzelne Wissensfelder, ähnlich der langue, als umfassende Systeme organisiert sind, in denen einzelne Teile nur in Abgrenzung von anderen erklärt werden können. In der mit „Das wilde Denken“ erstmals 1962 publizierten Ethnologie von Claude Lévi-Strauss, die als geisteswissenschaftliche Grundlagenströmung bis weit in die Philosophie hinein populär war, waren dies etwa die Begriffe des Heißen und Kalten und der Natur und Kultur (vgl. 1973, S. 270). Aber auch darüber hinaus ist eine Kultur in binäre Gegensatzpaare, wie etwa die von Gut/Böse, Frau/Mann, Das Eigene/Das Fremde unterteilbar und die individuellen Objekte und Phänomene erklären sich jeweils kulturspezifisch innerhalb dieser Differenzen, die auf eine stabile und allem zu Grunde liegende Struktur verweisen. Die Abhängigkeit der Subjekte von ihnen vorausgehenden sprachlichen und kulturellen Strukturen ist von den Poststrukturalisten aufgenommen und weitergeführt worden. In dem Dokumentarfilm Derrida (USA 2002), der sich mit der Person Jacques Derridas beschäftigt, gibt es zu Beginn eine Interviewszene, in der Derrida darum bittet, zunächst etwas zur Befragungssituation sagen zu dürfen. Er legt dar, dass dieses Gespräch nicht außerhalb der konkreten audiovisuellen Aufnahmebedingungen, die es formen und hervorbringen, gesehen werden kann. Es geht Derrida also darum, dass seine Aussagen nicht als authentische Worte eines philosophischen Autors verstanden werden, sondern als Äußerungen, die in einem konkreten Kontext entstehen, der sie mit

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Abb. 11   Der Philosoph Jacques Derrida stellt in dem Dokumentarfilm Derrida (USA 2002) fest, dass seine Interviewaussagen von den Bedingungen der Aufnahmesituation geformt werden und das Konstrukt einer Person ergeben. Quelle: Derrida (USA 2002, © Zeitgeist Films)

anderen Aussagen verbindet (Abb. 11). Dies lässt sich durchaus im strukturalen Sinne verstehen: Nicht die konkrete individuelle Sinneinheit, die Person Jacques Derrida, spricht hier, sondern dieser ist selbst nur eine Konstruktion und innerhalb der kulturellen, akademischen und audiovisuellen Strukturen entzifferbar. Strukturalismus und Poststrukturalismus sind sich also darüber einig, dass es zeichenhafte und systemhafte Strukturen gibt, die alle Äußerungen unter Bedingungen setzen.

2.2 Poststrukturalismus: Deleuze, Derrida, Foucault Der Poststrukturalismus geht jedoch in einem entscheidenden Aspekt über den Strukturalismus hinaus, indem er die stabilen strukturalen Äußerungsbedingungen selbst dynamisiert und versucht, Bewegung und Transformation zu denken. Ein Text, aber auch ein Bild-Tongefüge, wie es der Film ist, sind nicht auf ein Setting von binären Äußerungsfiguren allein zurückzuführen, sondern sie bleiben selbst wandelbar und stehen auf keiner fest etablierten Grundlage, sei diese eine Struktur oder ein System von Sinn und Bedeutung. Poststrukturalistische Denkweisen verstehen sich daher auch als Verfahren der konkreten philosophischen Lektüre und Dekonstruktion von Texten, Bildern und Tönen, und verweisen auf die heterogenen materialen Äußerungsformen, auf denen sie beruhen, die auch von „Interpretationen“ nicht ruhig gestellt und letztgültig geklärt werden können. Damit sind sie aber auch Medientheorien, denn Medien sind nicht ein für allemal (vor)gegeben, sondern sie konstituieren sich erst im Rahmen der von ihnen selbst geschaffenen Äußerungswege als wandelbare Bedeutungssysteme, denen selbstreflexive und über sie hinausweisende Momente stets eingeschrieben sind. Poststrukturalistische Theorien entziehen sich damit der verallgemeinerbaren Darstellung, es geht ihnen „um Effekte der Streuung“, wie es Friedrich Kittler ausdrückt:

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„Die poststrukturalistischen Programme sind nicht geschrieben, um referierbar zu werden. Wirksamer ist es, sie ins Spiel zu bringen“ (1980, S. 12). Blow Up kann als Organisation der filmischen Beobachtung, der Verschiebung von Materialitäten und Medien (Fotografie, Malerei, Film selbst) verstanden werden und ist daher ein hoch geeignetes Objekt, um poststrukturalistische Vorgehensweisen zu erproben. Die optische Situation (Deleuze) Blow Up gehört zu den Filmen, welche jene klassische Narration massiv in Frage stellen, die sich in Hollywood zwischen 1920 und 1940 etablierte und im Wesentlichen durch folgende Eigenschaften auszeichnet: Sie folgt einer relativ festgefügten Dramaturgie, die bereits lange vor dem Film etabliert ist, und je nach Sichtweise fünf oder sieben Akte umfassen kann. In beiden Modellen herrschen ein logischer, dramaturgischer Aufbau und eine gewisse Schematisierung der Erzählung vor. Raum und Zeit sind kohärent konstruiert, das Handeln der Protagonisten und Protagonistinnen ist psychologisch motiviert und nachvollziehbar. Klassisch narrative Filme setzen im Allgemeinen alle filmischen Mittel dafür ein, eine geschlossene fiktionale Realität zu entwerfen, die als Diegese bezeichnet wird. Dazu trägt etwa die Motiviertheit von Zeitsprüngen, ebenso wie das sogenannte continuity editing bei, das eine kontinuierliche Raumvorstellung in der kognitiven Konstruktion des Films ermöglicht (vgl. beispielhaft und zur Übersicht: Bordwell 1985, Krützen 2015). Gilles Deleuze argumentiert, dass dieses Erzählmodell während und nach dem Zweiten Weltkrieg in eine Krise gerät. Deleuze nennt fünf Eigenschaften, die den modernen Film kennzeichnen. Dies ist zum einen der Zerfall des Ganzen, welches das Aktionsbild (die klassische Narration) prägte, in anschlussarme, fragmentierende Situationen, die nicht mehr in eine Gesamthandlung eingebettet werden können. Zweitens sind die Verbindungen zwischen den Bildern, die sich etwa in der Montage des continuity editing ausdrückten, schwächer geworden. Bilder folgen auf andere, ohne dass dies kausal, zeitlich oder räumlich motiviert sein muss. Drittens konstatiert das Bewegungs-Bild, dass die Protagonisten und Protagonistinnen mangels Einbettung in ganzheitliche Handlungs-, Erzähl- und Sinnzusammenhänge zunehmend orientierungsund ziellos herumstreifen. An die Stelle des raumzeitlichen Universums tritt der beliebige Raum (der Großstadt), der sich nicht mehr als homogene Struktur, sondern als individuelle Spatialität konstituiert (Abb. 12). Viertens behauptet Deleuze, dass Bilder zunehmend als Klischees wahrgenommen werden. Das heißt zum einen, dass die bedeutungstragenden dramaturgischen Elemente des Films, wie Konflikt, Abenteuer, Kampf, Liebe und Romantik nur noch in stereotype und berechenbare Bilder gekleidet werden können; zum anderen bedeutet es, dass Film und andere Medien wie Werbung, Radio und Fernsehen mechanische und wiederholende Handlungsabläufe hervorbringen. Fünftens schließlich behauptet Deleuze, dass viele Filme mit dem Verdacht des Komplotts oder der Verschwörung agieren, das heißt, dass Handlungszusammenhänge eben nicht mehr offen zutage treten oder aufgelöst werden und Subjekten und Handlungen zugeschrieben werden können. Vielmehr wird ihnen

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Abb. 12   Das Umherstreifen – die balade – wie sie Gilles Deleuze als Merkmal des Nachkriegskinos benennt, gehört zu Antonionis konstanten Motiven. Immer wieder lässt er seine Figuren durch diverse städtische Räume laufen, oft ohne Ziel und scheinbar nur um der reinen Bewegung willen.  Quelle: (a) Il deserto rosso (Die rote Wüste, I 1964, © Studiocanal); (b) L’Eclisse (Liebe 1962, I/F 1962, © Studiocanal); (c) L‘Avventura (Die mit der Liebe spielen, I/F 1960, © Cino del Luca); (d) Professione Reporter (Beruf, Reporter, USA u. a. 1975, © MGM)

unterstellt, von anderen Mächten gelenkt zu werden, die nicht vom Einzelnen durchschaut werden (1989, S. 264–289). Diese Krise des Aktionsbildes ist eine Krise der Erzählung, welche ihrerseits eine Art Struktur dafür bereitstellt, filmische Handlung zu vollziehen und zu denken. Diesem System wird der Boden entzogen und durch die von Deleuze sogenannten optischen und akustischen Situationen ersetzt (vgl. 1991, S. 11–40). Diese sind zunächst Bilder, die nicht mehr handlungsaffin sind, die also nicht für Aktion, Kausalität und Psychologie stehen. Sie verweisen auf die partikularisierenden Situationen und den Bruch der sensomotorischen Zusammenhänge (damit ist gemeint, dass ein Protagonist oder eine Protagonistin so handelt, wie es nach kausalen und psychologischen Maßstäben zu erwarten wäre). Die optischen und akustischen Situationen halten vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, mit dem italienischen Neorealismus und dem modernen Film ab den 1950er Jahren, Einzug. Blow Up ist ein Film, der sehr stark mit diesen optischen und akustischen Situationen operiert. Dies beginnt damit, dass weder Psychologie noch Motivationslagen der Protagonisten und Protagonistinnen erläutert werden. Im klassischen Erzählfilm muss der – meistens männliche – Protagonist zwei Probleme lösen: eines, das die Arbeit betrifft, ein anderes, das die Liebe angeht. Beide koinzidieren oftmals und werden zugleich einem (oftmals) befriedigenden Ende zugeführt. Blow Up hat mit dem Fotografen Thomas auch einen männlichen Protagonisten, den Liebe

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allerdings wenig interessiert, bestenfalls als vorüberziehende erotische Attraktion. Seine Arbeit als Fotograf jedoch schon. Anders als in klassischen Filmen ist die Arbeit jedoch nicht nur ein Mittel, um Schwierigkeiten zu überwinden und zum Ziel zu gelangen, sondern sie beherrscht den Fotografen und den Film und findet keine harmonische Auflösung. Thomas wird wie eine optische Situation vom Film erfasst, ohne hintergründige Motivation, vereinzelt, ohne direkten Kontakt mit der Außenwelt. Aufschlussreich dafür ist die Begegnung mit der geheimnisvollen Fremden, die er einige Male im Park fotografiert hatte und die den Fotofilm zurückerlangen möchte. In diesem Dialog geht es kein einziges Mal um die Frage, warum sie die Fotos haben möchte (Abb. 13). Es reicht die Anspielung auf die oben erwähnte konspirative Situation (ein Betrug? Ein Mord? Oder nur das Recht am eigenen Bild?). Daraus erwachsen zahlreiche mögliche Andeutungen, die sich aber zu keiner Gewissheit verdichten. Alles bleibt vage, ineinander verschoben, ohne klare Zielstellung. Charakteristisch für die beiläufigen optisch-akustischen Situationen sind die Szenen mit dem Propeller, den Thomas aus einer Laune heraus kauft, und der Gitarre, die er bei einem Rockkonzert erobert. Beide Objekte müssen zunächst unbedingt in den Besitz von Thomas gelangen, den momenthaft eine obsessive Leidenschaft zur Erlangung dieser Dinge überfällt – nur um sie danach einfach fallen zu lassen. Sie leben nur aus der Situation heraus, ohne jede Dauer und Nachhaltigkeit. Diese Momenthaftigkeit und Beiläufigkeit des Handelns ist aber nicht nur ein wesentlicher Aspekt der oftmals leerlaufenden Narration, sondern bestimmt auch die Medialität der Fotografie: ihre Tendenz zur Zusammenhanglosigkeit, zur Stummheit und zur Unfähigkeit, aus sich selbst heraus Sinn zu generieren. Thomas bewegt sich gleichsam auf der Ebene des Signifikanten, dem

Abb. 13   Als die Frau aus dem Park Thomas besucht und den Film verlangt, erfährt das Publikum nicht, wieso sie eigentlich so dringend die Fotos haben möchte. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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der Zusammenhang zur Situation (Signifikat), aber auch zum Referenten (Außenwelt) nicht wegen, sondern durch die Fotografie verloren gegangen ist. Die optische Situation charakterisiert daher nicht nur den Protagonisten, sondern den gesamten Film, denn jeder Bezug auf konkrete Zuordnung der Zeichen diffundiert und setzt ein offenes Verhältnis des Bildes zu dem, was es bezeichnen könnte, frei. Es wird deutlich, inwiefern es hierbei nicht nur um die Bedeutung der Fotografie als Medium geht, sondern es zeigt sich ebenso, dass die materialen Bedingungen der Fotografie in die Struktur des Films einfließen. So ist die stockende, partikularisierende, umherirrende und (im Sinne der klassischen Narration) wenig zielführende Handlung ein Effekt, der eintritt, wenn die einzelnen Bilder und Impressionen das Ganze und den Zusammenhang des filmischen Erzählens blockieren. Dies eröffnet in Blow Up die Möglichkeit einer grundlegenden Reflexion über die Zeichenhaftigkeit der Welt. Was sind visuelle und akustische Zeichen eigentlich? Dies soll im Folgenden mit Rückgriff auf Jacques Derrida und das Prinzip der Dekonstruktion deutlich werden. Die ursprüngliche Differenz der Zeichen (Derrida)  Nachdem Thomas seine Bilder im Park geschossen hat und durch den insistierenden Besuch der geheimnisvollen Fremden misstrauisch geworden ist, entwickelt er die Negative. Diese geben ihm Hinweise auf eine mögliche Konstellation, gar auf ein Verbrechen, das er durch die Zusammenstellung einiger Fotografien räumlich und zeitlich zu ordnen versucht. Er vergrößert die Fotografien, um die von diesen ermittelten Zeichen genauer zu dekodieren, um dem tatsächlichen Geschehen und der Wahrheit der Ereignisse auf den Grund zu gehen. Die Rekonstruktion durch die Fotografien erfolgt nachträglich. Erst aufgrund der visuellen Zeichen, die Thomas von den Fotografien geliefert werden, ist er überhaupt in der Lage, eine Geschichte zu rekonstruieren. Damit ist er im paradoxen Zustand der ursprünglichen Verspätung angelangt, den Jacques Derrida als grundlegendes Problem der Philosophie und als explizite poststrukturalistische Fragestellung erkannt hat. Denn was für Thomas gilt, das gilt für alle Formen der Erkenntnis, nämlich, dass sie immer zu spät kommt, weil es erst die Zeichen sind, die uns auf die Spur der Wahrheit bringen (vgl. Derrida 1979, S. 137–143). Doch die Zeichen sind selbst nicht das Ursprüngliche, sie sind das Abgeleitete, das, was danach kommt und aus diesem Grund immer substantiell vom Ursprung (und der Wahrheit) getrennt bleibt (vgl. Fahle 2008, S. 239–247). Blow Up ist damit nicht nur Medienkritik, sondern aktualisiert eine philosophische und mithin poststrukturalistische Problematik. Woher wissen wir überhaupt etwas über die Welt, wie konstituieren sich Wahrnehmung und Wissen? Dies kann nur über Zeichen bzw. Zeichensysteme geschehen, seien dies sumerische Schrifttafeln, handgeschriebene und mit Kommentaren versetzte Texte aus den Klöstern des Mittelalters, Zeichnungen und Gemälde, aber ebenso gedruckte Texte, Fotografien sowie graphische, phonetische oder technische Aufzeichnungen jeder Art. Mit der Standardisierung von Schrift und durch technische Wiedergabe von Bildern nimmt der Glaube an die Repräsentationsfunktion von Wort und Bild zu. Diese stehen für Wahrheiten, die durch Textexegesen und hermeneutische Interpretationsverfahren, durch genaue Rekonstruktionen der sinn-

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gebenden Kontexte ermittelt werden können. Wie aber kann transzendentale Erkenntnis – also das Wissen über das So-Sein der Dinge – denn beschaffen sein, wenn es von den Zeichen abhängt, die jeweils konkreten historischen Situationen und medialen Bedingungen entspringen? Wissen, dass eigentlich an den Ursprung der Dinge gelangen soll, ist doch auf die Vermittlung durch Zeichen angewiesen, die sich genau dadurch auszeichnen, dass sie dieses von ihrem Ursprung abkoppeln und entfernen? Denn die Funktion der Zeichen ist es ja gerade, nicht identisch mit dem Ursprungsgeschehen zu sein, sondern diese auf irgendeine Art wiederzugeben, „wieder-zu-holen“, zu repräsentieren. Der eigentliche Sinn, der frei von jeder historischen Berührung sein müsste, lässt sich nur nachträglich erschließen, durch das von ihm selbst abgeleitete Zeichen. Mit anderen Worten: Die Ableitung, das Sekundäre, kommt vor der eigentlichen Bedeutung. Damit der Ursprung überhaupt erkennbar wird, muss sich etwas von diesem Ursprung unterscheiden – das Abgeleitete des Ursprungs. Dieses aber macht den Ursprung erst erkennbar, sodass dieser eben nur als Ableitung der Ableitung erkennbar ist. „Es gibt also eine Art der Verspätung und Umkehrung, welche einen Ursprung aus dem folgen lässt, was doch aus ihm folgen soll“ (Dreisholtkamp 1999, S. 44). In der Zeichentheorie de Saussures heißt dies, dass der Signifikant, der auf das Signifikat verweisen soll – etwa das Lautbild der phonetischen Sprache oder die visuellen Zeichen einer Fotografie – vor das Signifikat tritt. Bedeutungen sind also abhängig von ihren materialen Signifikanten, die diese erst hervorbringen. Daher genau rührt in Blow Up das epistemologische Problem von Thomas. Er glaubt, er könne die Realität mit der Fotografie einfangen, er gibt sich dem Wahrheitsgehalt des Mediums vollkommen hin. Umso irritierender ist es, wenn er erkennen muss, dass die Realität rätselhaft bleibt und er ihr eben nicht ganz auf die Spur kommt. Ein kurzer enthusiastischer Moment, in dem er einen Freund anruft und glaubt, einen Mord entdeckt zu haben, schlägt um in Frustration und Bedeutungslosigkeit. Zwar sucht er die Stelle im Park noch einmal auf, an der das Verbrechen hätte geschehen sein sollen, doch merkwürdigerweise bleibt auch diese Überprüfung der Situation unklar. Die Wiederholung zur Kontrolle des Realitätsgehalts der Zeichen führt eigentlich nur zu neuen Zeichengebilden, aus denen Thomas im Folgenden nicht mehr herausfindet. Mit Derrida verbindet sich damit eine Absage an jene Interpretationen von Texten und Aussagen, welche die Wahrheit, also eine ursprüngliche Intention von Autorenseite oder die Realität ‚hinter’ den Zeichen aufsuchen wollen. Die philosophische Praxis der Dekonstruktion führt hingegen in die Verweisstruktur der Zeichen selbst hinein: Infolgedessen musste man sich wohl eingestehen, dass es kein Zentrum gibt, dass das Zentrum nicht in Gestalt eines Anwesenden gedacht werden kann, dass es keinen natürlichen Ort, daß es kein fester Ort ist, sondern eine Funktion, eine Art von Nicht-Ort, worin sich ein unendlicher Austausch von Zeichen abspielt (...) Es ist dies auch der Augenblick, da infolge der Abwesenheit eines Zentrums oder eines Ursprungs alles zum Diskurs wird – vorausgesetzt man kann sich über dieses Wort verständigen –, das heißt zum System, in dem das zentrale originäre oder transzendentale Signifikat niemals absolut, außerhalb eines

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Systems der Differenzen präsent ist. Die Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens bis ins Unendliche. (Derrida 1989, S. 424)

Zum einen wird diese materiale Ebene des Zeichens in Blow Up geradezu überbetont. Die Aufblähung der Fotografie führt nur zu weiteren zeichenhaften Gebilden, die sich der Abstraktion annähern, wie es ja im Folgenden auch mit Blick auf das abstrakte Gemälde eines Freundes betont wird bei Thomas Besuch in dessen Atelier. „Je länger man hinsieht, desto mehr Bedeutungen offenbaren sich“, sagt die Freundin des Malers. Mit anderen Worten: Der genaue Blick auf den Signifikanten führt nur weiter weg vom Signifikat und demontiert den Versuch, an eine ursprüngliche Bedeutung zu gelangen. Zum anderen nimmt der Film diese dekonstruktive Dynamik im weiteren Verlauf auf. So ist der Tote im Park selbst nur ein weiteres Zeichen, das nicht in Evidenz überführt wird, was durch die unnatürliche Beleuchtung und das im Off hervorspringende Klicken eines Fotoapparats – eine akustische Situation, die sich nicht genau verorten lässt – ironisch untermalt wird. Dass Zeichen sich momenthaft mit Bedeutung aufladen können, aus denen dann gleichsam die Luft herausgelassen wird, zeigt sich erneut einleuchtend in der Szene, bei der sich Thomas auf einem Konzert der Band Yardbirds einfindet. Das Publikum sitzt versteinert auf seinen Plätzen, bis der Sänger der Band anfängt seine Gitarre zu zertrümmern. Alle rennen diesem zum Fetisch hoch gejubelten Gerät hinterher, das – einmal erobert – bedeutungslos und als Schrott fallen gelassen wird: Ein Paradebeispiel dafür, dass die Gitarre keineswegs ein natürliches Zeichen ist, wie Derrida betonen würde, sondern eingewoben ist in den Austausch der Zeichen (Abb. 14). Eine Gitarre mutiert innerhalb von Minuten vom Musikgerät, das Klänge erzeugt, zum Fetisch, der Begehren steuert, und danach zu Müll, der nur im Weg herumliegt. Besser kann die Materialität der Zeichen nicht auf den Punkt gebracht werden (und natürlich ihre Austauschbarkeit und Entwertung in der modernen Gesellschaft). Am Ende des Films akzeptiert Thomas dann zögerlich, dass die Repräsentationen (und die Realität) nicht auf natürlichen Signifikanten beruhen, sondern auf Konstruktionen, wenn er das Spiel der Pantomime annimmt, wobei es eine großartige Pointe des Films ist, dass das Zeichen durch die Geste weitgehend an Materialität verliert. Zeichen kehren wieder an den Ort zurück, von dem sie aus anthropologischer Perspektive vielleicht ihre Entfaltung erst begonnen haben: zum menschlichen Körper. Vielfalt der Diskurse (Foucault) Derrida hatte im obigen Zitat angekündigt, dass in Abwesenheit eines transzendentalen Signifikanten oder eines Ursprungs alles zum Diskurs werden könne. Damit sollte deutlich werden, dass Diskurse – verstanden als Aussagen, die Wahrheit beanspruchen – normalerweise zeichenhaft geregelt und normiert sind, etwa in unverbrüchlichen Verbindungen von Signifikant und Signifikat oder Zeichen und Referent. Es ist jedoch der Verdienst von Michel Foucault, dem Begriff des Diskurses einen genauen Platz in der historischen und gesellschaftlichen Analyse zu geben und damit an die meistens verborgenen Regeln zu rühren, die Aussagen steuern und Praktiken als selbstverständlich erscheinen lassen (vgl. 1998). Diskurse sind also

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Abb. 14   Die feste und sinnstiftende Verbindung des Signifikanten (Zeichenträger) zu seinem Signifikat (Bedeutung) wird von Jacques Derrida in Frage gestellt, indem er auf seine Materialität hinweist. Blow Up vollzieht diesen Akt der Dekonstruktion nach: beim Konzert der Yardbirds, als eine E-Gitarre binnen weniger Minuten vom Musikinstrument zum Fetisch des Publikums wird, um schlussendlich als Müll auf der Straße zu landen. Der Vorgang verdeutlicht, dass die ursprüngliche Bedeutung der Gitarre als Musikinstrument nicht absolut ist, es also kein transzendentales Signifikat gibt. Denn diesem Objekt werden kurzzeitig neue Bedeutungen zuteil, bevor der Wegwurf schließlich die Bedeutungslosigkeit des Materiellen verbildlicht. (© Heberling/Maisenbacher)

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Aussagen oder Aussagegefüge, die verschiedene, heterogene gesellschaftliche Kräfte bündeln. Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen. (ebd. 1998, S. 11)

Foucault bezeichnet etwa den Diskurs um Vernunft und Wahnsinn als ein solches Diskursgefüge. Klassischerweise begegnete die Gesellschaft dem Wahnsinn mit Ausgrenzung und Einschließung, mit Tabu und Verbot. Doch selbst wenn dies nicht mehr gilt, Wahnsinn etwa als Krankheit untersucht und behandelt wird, greifen immer noch mehr oder weniger klare Grenzziehungen, die durch epistemische Aussagen und institutionelle Wissensapparate, die als Dispositive bezeichnet werden können, ständig neu definiert werden. Der Diskurs (Wissen) und das Dispositiv (Praxis) sind die beiden Korsettstangen, in denen sich Subjekte mit dem Willen zum Wissen und zur Wahrheit äußern, in denen sich richtige und falsche Praktiken voneinander unterscheiden lassen, durch die sich aber keine transzendentale Wahrheit mehr festmachen lässt, sondern ein Kampf um Wissen und Macht. Dabei grenzt sich Foucault von klassischen Theorien ab, die Macht vor allem als die zwischen Herrschenden und Beherrschten oder zwischen Dominanz und Unterwerfung begreifen. Macht ist vielmehr eine vielfältig von – durchaus heterogenen – Wissensstrategien durchzogene Verteilung von ineinander verflochtenen Herrschafts- und Beherrschungsszenarien. Der Grund dafür, daß die Macht herrscht, daß man sie akzeptiert, liegt ganz einfach darin, daß sie nicht nur als nein-sagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man muss sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht und nicht so sehr als negative Instanz, deren Funktion in der Unterdrückung besteht. (1978, S. 35)

In Blow Up ist der vom Begehren gesteuerte Diskurs und das Dispositiv der Fotografie zunächst in verschiedenen Ausformungen präsent. Als Enthüllung der Realität und damit der Wahrheit und als ästhetischer Diskurs der technischen Moderne wird er von Thomas ebenso in Szene gesetzt, wie als mächtiges Dispositiv, das sich nicht zuletzt in der Wohnung, dem Studio und der Dunkelkammer zeigt, in denen die verschiedenen Begehrensströme fließend ineinander überwechseln und sich – und die Macht des Subjekts Thomas – bestärken. Als Genderdiskurs wird er geradezu paradigmatisch vorgeführt: Thomas beschimpft seine auf weibliche Moderoboter reduzierte Models, dominiert sein Vorzeigemodell Veruschka, in dem er sich auf sie setzt und ihr Befehle erteilt (Abschn. 2 im Kap. 7 „Theorien der diskursiven Analyse“). In klassischer Perspektive (ver)sichert sich Thomas so seine(r) Männlichkeit über die scheinbare

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Beherrschung des Macht/Wissens- oder Dispositiv/Diskurs-Komplexes. Dispositiv und Diskurs zeigen jedoch genauso die andere Seite und widerstehen den zunächst eindeutigen Zuschreibungen. So ist die fotografische Session mit Veruschka eine durchaus reversible Situation, denn auch ihr Begehrenskörper wird auf diese Weise lustvoll produziert (Abb. 15). Dominanz und Unterdrückung wechseln öfter die Seiten und die Register, etwa wenn das Studio im Liebesspiel mit den beiden jüngeren Models teilweise zusammenfällt, oder wenn im erotischen Angebot der Fremden, welche die Negative zurückerhalten möchte, ein labyrinthisches Versteckspiel im Atelier inszeniert wird. Doch nicht allein Frauen, sondern die Fotografie ist das für Thomas deutlich größere Begehrensobjekt. Der Wille zum Wissen und zur Wahrheit hat den simplen sexuellen Wunsch längst abgelöst, was eine wunderbare Einlösung der foucaultschen Diskurstheorie und des Willens zum Wissen darstellt. Der erotisch aufgeladene, fotografisch besetzte Wille zur Wahrheit durchzieht eben auch die das Dispositiv prägende architektonische Struktur. Thomas ist ein technisch versierter Fotograf, aber all seine Aktivitäten im Studio, in den Requisiten und in der Dunkelkammer sind lustvoll besetzt. Macht und Begehren zirkulieren durch die Fotografie und fließen in seinen Handlungen zusammen, in denen die anderen Subjekte (Frauen) kaum Beachtung finden, sondern nach Druckabfall von Thomas abrupt beiseitegeschoben werden. Liebevoll hingegen werden die Bilder entwickelt und aufgehängt, sie sind Elemente der Erkenntnis, aber auch Trophäen und Eroberungen, die sich der Schaulust darbieten. Es ist dann jedoch auch nur die Fotografie, die eine Unterbrechung dieser Willens- und Machtbewegungen bewirken kann. Die Gefahr, die durch die Einebnung

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Abb. 15   Das Fotoshooting als Wechselspiel von Dominanz und Begehren (a–d). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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und Bändigung des Diskurses gebannt werden soll, liegt – Derrida hat es für unsere Argumentation bereits vorweggenommen – in der Wucherung der Diskurse. Was wäre, wenn die Kontrolle des Diskurses entgleiten würde? Er würde, so Foucault, nicht verschwinden, sondern im Gegenteil, durch diesen Einbruch des Ereignisses wuchern, die „den Augenblick zersplittern und das Subjekt in eine Vielzahl möglicher Positionen und Funktionen zerreißen“ (1998, S. 37) könnte. Foucault charakterisiert drei Kennzeichen, welche die Angst vor dem Kontrollverlust markieren: die Infragestellung des Willens zur Wahrheit, die Sichtbarwerdung des Ereignischarakters des Diskurses und die Aufgabe der Souveränität des Signifikanten. Die eigentliche Krise von Thomas entsteht in der Entdeckung, dass die Fotografie selbst rätselhaft werden kann und nicht mehr uneingeschränkten Zugang zur Realität darstellt. Die Körnigkeit des hoch aufgelösten Bildes löst nicht nur im buchstäblichen Sinne die Souveränität des Signifikanten auf, sondern sie steht auch für den Einbruch des Ereignisses, das stumme Wissen der Fotografie, den Einbruch des Außen (vgl. Fahle 2015), das in seiner Abbildungsfunktion normalerweise verschwindet, nun aber hervortritt und damit Wissen, Begehren und Macht entkoppelt und ihre Zirkulationen unterbricht. Ist das Diskursgefüge, das den Subjekten ihren festen Platz zuwies, einmal unterbrochen, irrt dieses herum, ortlos und „entbunden“. Und auch hier kommt dem abschließenden pantomimischen Spiel eine Schlüsselrolle zu. Es ist ja tatsächlich still, es entzieht dem Signifikanten die Macht, da es direkt an die körperliche Aussage gebunden ist und keine veräußerlichte oder veräußerlichende, keine institutionelle oder apparative Wahrheit zulässt.

2.3 Postmoderne Postmodernes (Nicht-)Wissen (Lyotard)  Poststrukturales Denken ist nicht umstandslos mit der Postmoderne gleichzusetzen. Jenes hat dieser jedoch durchaus den Boden bereitet, indem sich zahlreiche postmoderne Positionen unter Zuhilfenahme poststrukturalistischer Argumente artikulieren (vgl. Welsch 1988). Essenziell für beide ist die Ablehnung von zentral zu bestimmenden Letztinstanzen, seien diese nun in Sprache, Bedeutung oder Strukturen zu finden. Eine Kontinuität zu poststrukturalen Auffassungen ist in den – auch für die Charakterisierung der Postmoderne überhaupt als zentral zu bezeichnenden – Ideen Jean-François Lyotards zu finden (2012). Lyotards im Jahre 1979 für die Regierung Quebecs verfasster Bericht zu den philosophischen Folgen der neuen Informationsgesellschaft  liefert nebenbei eine bis heute gültige Definition der Postmoderne, die Lyotard vor allem als das Ende der großen Narrative begreift. In die Krise geraten die für die Moderne prägenden Meta-Erzählungen, wie etwa die Emanzipation und Selbstbestimmung des Subjekts, der Glaube an die vom Konsens geprägte Demokratie, sowie der technische und ökonomische Glaube an den Fortschritt (vgl. 2012, S. 23). Interessanter als diese bereits vor Lyotard etwa in der Nachkriegsphilosophie analysierten Krisenerscheinungen der Moderne ist die zukünftige Ausrichtung, die

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selbiger angesichts einer zunehmend von Informationstechniken bestimmten Kultur in den Blick nimmt. Wenn nämlich die Berufung auf Subjekt, Konsens und Fortschritt wegfällt , dann entstehen Legitimationsprobleme, die, so Lyotard, nur dann zu lösen sind, wenn man bereit ist, die radikalen Heterogenitäten innerhalb von Kulturen, aber auch zwischen ihnen, zu akzeptieren. Die Meta-Erzählungen verschwinden daher zunehmend zu Gunsten von einzelnen Sprachspielen, die nicht mehr als letzte Sinndomänen begriffen werden, sondern deren Aufeinandertreffen als Knotenpunkte von Konflikt und Aushandlung bestehen, ohne dass ihre Unterschiede wegdiskutiert werden können. Entscheidend für die Moderne war die Suche nach einer einheitlichen Sprache, in der Verständigung (Konsens) oder Einheit – und sei sie in größtmöglicher Purifizierung oder Abstraktion – ermöglicht werden konnte. Doch Sprache beruht nicht auf Einheitlichkeit, sondern auf der Produktion von Unterschieden. In Anlehnung an Ludwig Wittgenstein folgert Lyotard, dass es in der Alltagssprache Familien von Sätzen gibt, „die Operatoren und Regeln gehorchen, die nicht ineinander übersetzbar sind. Übersetzbar sind Sprachen (z. B. kann das Französische ins Deutsche übersetzt werden), aber ein Satz, der etwas vorschreibt, kann nicht unmittelbar in einen Satz übersetzt werden, der etwas beschreibt“ (Lyotard 2012, S. 105). Diese grundlegende sprachphilosophische Position betrifft auch Fragen der Kultur, seien sie künstlerischer, sozialer oder wissenschaftlicher Natur. Diese sind heterogene Äußerungsweisen, die nicht auf einen beherrschenden Diskurs zurückführbar sind. Das Wissen um die Verstricktheit in Sprachspielen und Diskursgefügen charakterisiert die Postmoderne und findet auch Resonanz in der Ästhetik. So weisen Leslie Fiedler und Umberto Eco auf die Durchmischung der Äußerungsweisen von Kunst und Populärkultur hin, sowie auf den offenen Umgang mit Stilen, Ikonografien und Narrativen, der aus den puristischen Künsten der Moderne ein postmodern-eklektizistisches Spiel mit Zitaten macht (vgl. Eco 1987; Fiedler 1988). Lyotards Charakterisierung der Postmoderne ist also durchaus im Geiste des Poststrukturalismus verfasst, indem sie auf die Differenzen und Unvereinbarkeiten der Diskurse und Äußerungen verweist, dabei jedoch Kultur und Ästhetik einen herausragenden Platz einräumt, worauf Wolfgang Welsch hinweist: Das Ende der jeweils einen großen Erzählung ist die Ermöglichung einer Vielfalt begrenzter und heterogener Sprachspiele bzw. Handlungsformen und Lebensweisen. Die Zustimmung zu dieser Multiplizität, ihre Verbuchung als Chance und Gewinn, macht das „Postmoderne“ am postmodernen Bewußtsein aus. Daher setzt Lyotard entschieden auf die Vielfalt und Inkommensurabilität der Sprachspiele (wobei der Begriff des Sprachspiels Handlungsweisen und Lebensformen einschließt). Es kommt ihm auf die Ausbildung von Diversität an, die nicht mehr durch generalistische Einheitsstrategien vereinnehmbar ist, sondern als originäre Vielfalt entsteht und anerkannt werden muß. Verstehen und Konsens gibt es nur innerhalb der Sprachspiele, nicht über sie hinweg. Es gibt keine Metasprache, die sie alle befaßte, und keinen Sprecher, der sie alle beherrschte. Die Sprachspiele sind polymorphdivers, darin liegt ihre Stärke, und dieser gilt es zuzuarbeiten. (1988, S. 27)

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Ist Blow Up also ein postmoderner Film? Dem wäre eher nicht zuzustimmen, denn zu eindeutig ist seine Verortung in der filmischen Moderne der 1960er Jahre (vgl. Deleuze 1991; Fahle 2015). Anders als Filme der 1980er Jahre, etwa von David Lynch oder der französischen Regisseure Luc Besson, Leos Carax und Jean-Jacques Beineix, setzt Antonioni nicht auf das Zitat und die Mischung der Stile und auf eine, die postmoderne Ästhetik bestimmende, von der Werbeästhetik beeinflusste, popkulturelle intermediale Sprache (vgl. Eder 2009) (Abb. 16). Dennoch aber weist Blow Up bereits auf die postmoderne Inkommensurabilität von Äußerungsweisen hin. Dies ist etwa sichtbar, wenn Thomas mit seiner Geliebten über das abstrakte Gemälde ihres Mannes diskutiert. Ihre bereits zitierte Aussage zur Deutungsvielfalt des Abstrakten – dem auch das technische Medium der Fotografie unterliegt, wenn man es durch seine materiale Seite betrachtet – weist auf eine ungewollte Konsequenz der Moderne hin: Indem sie die Kunst zu ihren ganz eigenen Ausdrucksmöglichkeiten zurückführt, wird sie zugleich offen für zahlreiche Sprachspiele, die im abstrakten Bild verborgen, aber eben nicht verschwunden sind. Das Gemälde ist zwar noch abstrakt, also modern, verweist aber bereits auf die Perspektivenvielfalt, welche die Postmoderne charakterisieren wird (Abb. 17). Zugleich öffnet sich durch die hier offensichtlich angedeutete Parallele zur Körnigkeit der Fotografie ein intermediales Feld, das populärkulturelle Medien und abstrakte Künste einander annähert und vor allem die durch Clement Greenberg, dem wichtigsten Vertreter modernistischer Kunstästhetik der 1950er und 1960er Jahre, proklamierte Formspezifik der modernen Künste durchkreuzt (vgl. 2009). Technisch-populäre Ästhetik und klassische Künste, wie die Malerei, sind nur an verschiedenen Enden eines Diskursfeldes angesiedelt und treten unweigerlich miteinander in Kontakt, auch wenn sie als unterschiedliche Medien, ganz im Sinne Lyotards, nicht ineinander überführbar sind und heterogene Sprachen bleiben.

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Abb. 16   Ab den 1980er Jahren entstand im französischen Kino eine eigene Ausprägung der filmischen Postmoderne, z. B. in Jean-Jacques Beineix‘ Diva (a) oder Luc Bessons Nikita (b). Die von der Hochglanz-Werbeästhetik geprägten Bildwelten des cinéma du look standen stellenweise in Kontrast zu den Modernisierungswellen der 1960er Jahren, auch wenn ihr Spiel mit Zitaten durch die Nouvelle Vague (insbesondere den Filmen von Jean-Luc Godard) vorbereitet wurde. Quelle: Diva (F 1981, © Studiocanal); Nikita (F/I 1990, © Studiocanal)

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Abb. 17   Ein abstraktes Gemälde weckt das Interesse des Fotografen und kann als Verweis auf die Deutungsvielfalt moderner Kunst gelesen werden. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

Dabei exploriert Blow Up auch eine Konsequenz, die nach Lyotard aus der postmodernen Situation erwächst: Ich würde sagen, daß letztlich die Sprache nicht mit sich kommuniziert: sie kann Sätze erzeugen, die nicht in andere Sätze übersetzbar sind (...) Angesichts des Bestrebens, die Sprache auf die wahre Information zu reduzieren, wodurch alle Sätze übersetzbar werden sollen, gibt es wohl – beim Fehlen von Legitimationserzählungen – nur noch eine Möglichkeit: für eine Arbeit an der Nicht-Kommunizierbarkeit, der Nicht-Mitteilbarkeit zu kämpfen, nämlich für die Artikulation von möglichen neuen Sätzen. (2012, S. 105)

Lyotard setzt sich hier von zwei Positionen ab: vom Gesellschaftsvertrag der Aufklärung, der Subjektzentrierung und Sinnobjektivierung behauptet, zum einen; von den Folgen einer zunehmenden Informatisierung der Gesellschaft, die alle Äußerungen technisch übersetzbar und kommunizierbar machen soll, zum anderen. Zwar geht es in Blow Up noch nicht um die Durchsetzung der Kultur mit elektronischen Medien, aber doch schon darum, dass verschiedene technische Medien, wie etwa Film und Fotografie, in Konkurrenz zueinander stehen. Während die Fotografie den Mord festhalten könnte, könnten die Bewegungsbilder und die Narration des Films die Geschichte dazu erzählen. Doch beide kommen nicht zur Vollendung und verbleiben auf der Ebene eines prekären Wissens. Blow Up zeigt also gerade im Einsatz verschiedener Medien eine Form der Verweigerung der Kommunikation. In diesen scheint sich ohnehin das ästhetische Vermögen des Films abzuspielen, bezieht man Lyotards Text „L’acinéma“ mit ein, in dem er das künstlerische Vermögen des Films gerade an seinen äußersten Enden aufsucht, nämlich in der „äußersten Immobilisierung oder Mobilisierung“ (1982,

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S. 38). Die Konzentration auf Sprachverweigerung auf der einen Seite und auf die Heterogenität der Sprachspiele auf der anderen, findet sich aber auch auf der Drogenparty und erneut in der Pantomime. Während Thomas versucht, seine Erkenntnisse an Freunde weiterzugeben, gerät er auf eine Party, deren Teilnehmende sich in der Vernebelung der Drogen gar nicht mehr für die vermeintliche Realität, insofern sie als Repräsentation verstanden werden kann, interessieren. Im abschließenden Spiel der Pantomime hingegen steht die Erfindung von Kommunikation im Vordergrund, die Artikulation von neuen Sätzen, auch wenn diese nicht im Medium der phonetischen Sprache, sondern als Geste daherkommen. Die Geste gehört zu den Formen der Kommunikationen, deren Codierung im konkreten Akt jederzeit neu geschaffen werden muss. Der gestische Kommunikationszusammenhang ist also nicht von vornherein diskursiv geordnet, sondern bedarf der Stiftung von Beziehungen, die nicht in gleicher Weise vorausgesetzt werden kann, wie das bei Texten und Bildern oftmals der Fall ist. Das Aussetzen und die Erschaffung von Sprachspielen steht hier im Zentrum und mithin ihre Übersetzung und Verhandelbarkeit, ihre Vielfalt, die sowohl Lyotard als auch Wolfang Welsch immer wieder als das zentrale Elemente postmoderner Weltaneignung bezeichnen.

2.4 Abschluss: Poststrukturalismus und Filmanalyse Seit den 1960er Jahren setzen sich Filme immer gezielter mit den eigenen materialen Bedingungen, den Produktionsprozessen und dem Einfluss von Medien wie Schrift, Bild, Ton, aber auch Fernsehen, Video und den Digitalitäten auseinander. Dies spielt poststrukturalen Filmanalysen zu, die genau diese Vermittlungsebenen in allen Bereichen der kulturellen Äußerungen beobachten, vor allem in Texten und Literatur, aber auch in Bildern und Tönen. Ein besonders wichtiger Fokus liegt dabei auf dem Verhältnis der materialen und medialen Bedingungen, die reflexiv in den Film ein- und diesen nicht selten auch unterwandern einerseits, und der Narration andererseits, die den Film als Welt diegetisch zusammenhält. Poststrukturalistische Theorien zielen dabei auf den Aspekt oder Moment, welcher der Sinnproduktion vorausgeht und erblicken ihn im Außen des Films, wie etwa Roland Barthes, für den – nicht unähnlich der Position Lyotards – der Sinneffekt des Films im Fotogramm liegt, das ja gerade nicht sichtbar und unzugänglich für Filmzuschauende ist (Barthes 1990, S. 47–66). Sogenannte mind game movies (Elsaesser 2009, S. 237 ff.) bauen Welten, die zwischen verschiedenen Medienebenen zirkulieren – wie zum Beispiel Memento (USA 2001), Swimming  Pool (F 2003), Caché (F 2005), Inception (USA 2010), HER (USA 2014) – und dennoch narrative Plausibilität für sich beanspruchen. Ähnlich wie in Blow Up, der zwar einen narrativen Faden auslegt, Raum und Zeit jedoch nur noch lose koppelt, der Figuren nicht mehr (nur) psychologisiert und das Subjekt in eine verwirrende Vielfalt von Bild- und Tongefügen entlässt, versetzen viele gegenwärtige Filme ihre Protagonist*innen in mediale Umgebungen, in denen die (Des)Orientierungen

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der Subjekte zum eigentlichen narrativen Zweck werden. Dabei werden nicht nur die Hauptfiguren mit Medien konfrontiert, sondern auch Medien mit anderen Medien, die jeweils eigene Dispositive und auch Erzählwelten hervorbringen, wie es etwa in Caché der Fall ist. Die optischen und akustischen Situationen (Deleuze), die Vermittlungsebenen und „Verspätungen“ der Zeichen (Derrida), die Dispositionen und Diskurse (Foucault) und die Sprachspiele (Lyotard) nehmen also eher zu, doch sie werden in den besten Beispielen durch die narrativen Mittel des Films auch zusammengehalten und in eine (diegetische oder sonstwie logische) Welt integriert. Die poststrukturalistische Filmanalyse beobachtet hierbei besonders die materialen und medialen Vernahtungen, die zugleich die Risse, Brüche und künstlichen Operationen charakterisieren, durch die narrative filmische Welten zusammengehalten werden. Exemplarische Filme Thema: Selbstreflexive Filme der 1950er-1970er Jahre La Ronde (Der Reigen, F 1950, Max Ophüls) Singin’ in the Rain (Du sollst mein Glücksstern sein, USA 1952, Stanley Donen/Gene Kelly) Rear Window (Das Fenster zum Hof, USA 1954, Alfred Hitchcock) Peeping Tom (Augen der Angst, GB 1960, Michael Powell) The Connection (USA 1961, Shirley Clarke) Le Mépris (Die Verachtung, F/I 1963, Jean-Luc Godard) 8½ (Achteinhalb, I/F 1963, Federico Fellini) A Hard Day’s Night (Yeah Yeah Yeah, GB 1964, Richard Lester) Film (USA 1965, Alan Schneider) Pierrot le fou (Elf Uhr nachts, F 1965, Jean-Luc Godard) Persona (S  1966, Ingmar Bergman) Nayak (Der Held, IND 1966, Satyajit Ray) Trans-Europ-Express (F/B 1966, Alain Robbe-Grillet) Week End (Weekend, F 1967, Jean-Luc Godard) Ningen Johatsu (A Man Vanishes, J 1967, Shōhei Imamura) Memorias del Subdesarrollo (Erinnerungen an die Unterentwicklung, KUB 1968, Tomás Gutiérrez Alea) Sad Song of Yellow Skin (CAN 1970, Michael Rubbo) Tôkyô sensô sengo hiwa (The Man Who Left His Will On Film, J 1970, Nagisa Ōshima) W.R – Misterije organizma (WR – Mysterien des Organismus, JUG 1971, Dušan Makavejev) La Nuit américaine (Die amerikanische Nacht, F/I 1973, François Truffaut) Touki Bouki (SEN 1973, Djibril Diop Mambéty) The Holy Mountain (Montana Sacra – Der Heilige Berg, MEX/USA 1974, Alejandro Jodorowsky) F for Fake (F/IR/BRD 1973, Orson Welles)

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Mogholha (The Mongols, IRN 1973, Parviz Kimiavi) Iracema: Uma Transa Amazônica (BRA 1975, Jorge Bodansky, Orlando Senna) Nickelodeon (USA 1976, Peter Bogdanovich) Daguerréotypes (F 1976, Agnès Varda) Annie Hall (Der Stadtneurotiker, USA 1977, Woody Allen) Les Rendez-vous d’Anna (Annas Begegnungen, BLG et al. 1978, Chantal Akerman) Iskanderija... lih? (Alexandria...warum?, EGY 1979, Youssef Chahine) Literaturhinweise zum Poststrukturalismus Angermüller, Johannes. 2007. Nach dem Strukturalismus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich. Bielefeld: Transcript. Barthes, Roland. 1988. Das semiologische Abenteuer. Frankfurt: Suhrkamp. Bossinade, Johanna. 2000. Poststrukturalistische Literaturtheorie. Stuttgart: Metzler. Brunette, Peter und David Willis. 1989. Screen/Play. Derrida and Film Theory. Princeton: Princeton University Press. Brunette, Peter und David Willis. 1994. Deconstruction and the visual arts. Art, media, architecture. Cambridge: Cambridge University Press. Culler, Johnathan D. 1999. Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbeck: Rohwolt. Deleuze, Gilles. 1989. Kino 1. Das Bewegungs-Bild. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Deleuze, Gilles. 1991. Kino 2. Das Zeit-Bild. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Derrida, Jacques. 1976. Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Derrida, Jacques. 1979. Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dreisholtkamp, Uwe. 1999. Jacques Derrida. München: Beck. Dux, Günther. 2017. Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte (4. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS. Fahle, Oliver/Elisa Linseisen. 2020. Immanenz- und Prozessphilosophie (Gilles Deleuze). In Schlüsselwerke der Medienwissenschaft, hrsg. Ivo Ritzer. Wiesbaden: Springer, S. 21-38. Fahle, Oliver. 2021. Von der filmischen Moderne zum Postmodernismus. In Handbuch Filmtheorie, hrsg. Groß, Bernhard/Morsch, Thomas. Wiesbaden: Springer VS, S. 345362. Foucault, Michel. 1998. Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M.: Fischer Kuhn, Gabriel. 2005. Tier-Werden. Schwarz-Werden. Frau-Werden. Eine Einführung in die politische Philosophie des Poststrukturalismus. Münster: Unrast. Lyotard, Francois. 2012. Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien: Passagen. Münker, Stefan; Roesler, Alexander. 2000. Poststrukturalismus. Stuttgart: Metzler. Punday, Daniel. 2003. Narrative after deconstruction. Albany: State of New York University Press. Stam, Robert und Robert Burgoyne. 1992. New Vocabularies in Film Semiotics. Structuralism, Post-Structuralism, and beyond. London: Routledge.

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Weisenbacher, Uwe. 1993. Moderne Subjekte zwischen Mythos und Aufklärung. Differenz und offene Rekonstruktion. Pfaffenweiler: Centaurus. Welsch, Wolfgang. 2008. Unsere Postmoderne Moderne (7. Aufl.). Berlin: Akademie Verlag.

3 Theorien der Repräsentation im Vergleich Roman Mauer Theorien des Realismus und Poststrukturalismus fragen nach Möglichkeiten und Formen der (medialen) Repräsentation von Wirklichkeit. Der Weg zum Postrukturalismus beginnt bei der Linguistik und führt über die Semiotik und den Strukturalismus. Letztere haben in den 1960er Jahren daran mitgewirkt, Realismus-Theorien abzulösen. Doch jüngere Veröffentlichungen – zum Beispiel zu André Bazin und Siegfried Kracauer – zeigen, dass sich die Filmtheorie im Zuge der Digitalisierung wieder verstärkt für Realismus-Theorien interessiert (u. a. Dudley et al. 2011; Kirsten 2013; Aitken 2016; Aitken 2020). Das Phänomen scheint durch poststrukturalistische Herangehensweisen nicht endgültig geklärt zu sein. Zum zweiten erweist sich, dass der Realismus als Stil bis heute floriert und in diversen Kinematographien der Welt immer wieder aufs Neue junge Filmbewegungen inspiriert hat (vgl. Hesse et al. 2016, S. 314). Die Wirklichkeit nüchtern und unverfälscht darstellen – so einleuchtend diese erste Erklärung des Begriffs „Realismus“ klingen mag, so komplex entfaltet sich das Phänomen bei genauerer Betrachtung. Welche Bedingungen und Konzepte liegen der Wahrnehmung von Wirklichkeit und ihrer medialen Repräsentation überhaupt zugrunde? Die aufklärerische Utopie der sachlichen Wirklichkeitserfassung scheint keine andere Errungenschaft besser einzulösen als das Medium der Fotografie. Ihr Aufkommen markiert – wie Christoph Hesse mit Georg Simmel feststellt (Abschn. 1) – den Umbruch von der „subjektiven“ zur „objektiven“ Kultur. Als „Realismus des Films“ bezeichnet man daher, dass ein apparativ begründeter Realismus den Medien Fotografie und Film innewohnen. Davon abzugrenzen bleibt der „Realismus im Film“: stilistische Verfahren (wie natürliches Licht, Handkamera, Laiendarstellende etc.), die zum Einsatz kommen, um beim Publikum den Eindruck von Authentizität zu verstärken. Auch wenn Christoph Hesse auf Differenzen zwischen Kamera und menschlichem Auge aufmerksam macht, so bleibt der Abbildrealismus des Mediums derart frappierend, dass es gezielter Verfremdungstechniken bedarf (Unschärfe, Zeitlupe, Doppelbelichtung etc.), um ihn abzuschwächen und etwa Träume zu visualisieren. Ungeachtet des Abbildrealismus des Mediums stellt sich zu Beginn des 20. Jahrhundert die Frage, ob man mit der Darstellung einer visuellen Oberfläche die Wirklichkeit auch in ihrer Tiefe abbildet. Die Frage stellt sich umso dringlicher angesichts einer modernen Welt- und Großstadterfahrung, die sich chaotischen Eindrücken, komplexen Strukturen und unsichtbaren Mechanismen ausgeliefert sieht. Seit der Avantgarde der 1920er Jahre ringt die Kunst mit diesem Problem

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und sucht einem erweiterten Wirklichkeitsbegriff gerecht zu werden, der Absurdität, Relativität und Unwägbarkeit der Moderne genauso darstellen will wie das psychische Innenleben ihrer Bewohner*innen. Als Reflexion dieser Fragen mag Blow Up gelten: das realistische Porträt einer sich entziehenden Wirklichkeit. Es erscheint nur konsequent, dass Michelangelo Antonioni, der im Ableben des Italienischen Neorealismus’ debütierte, in Blow Up die Prämissen des Realismus  untersucht, indem er die Fotografie ins Zentrum des Films rückt. Auch wenn er die Nutzung des Mediums nicht per se dem Realismus verpflichtet sieht (man denke an die künstlichen Mode-Shootings), so liegen doch die tieferen Ambitionen des Fotografen in der Suche nach der sozialen Realität (im Obdachlosenasyl) und der zufälligen Alltagswirklichkeit (im Park), die er der Umgebung verkleidet oder versteckt entreißen muss. Dass diese dokumentierte Alltagswelt zwar Wirklichkeit, nicht aber automatisch Wahrheit darstellen muss, wird von Antonioni im Anschluss problematisiert: Halten die Fotos tatsächlich das Treffen eines Liebespaars fest oder aber einen Mordvorgang? Um der Wirklichkeit auf den Grund zu gehen, bedarf es mehrerer Bilder (hier neigt die Fotografie zum Film), die Thomas in einen Zusammenhang bringen muss: Denn ein Foto des Mordes gibt es nicht; dieses Bild wird erst über die Montage im Bewusstsein der Betrachtenden provoziert. Zum Kern des Problems und der Frage nach der Beweiskraft der Bilder stößt Antonioni vor, wenn er das Foto abfotografieren und vergrößern lässt. In der Zeichentheorie nach Charles Sanders Peirce wäre die analoge Fotografie nicht nur als ikonisches Zeichen aufzufassen, welches seine Beziehung zum Bezeichneten über Ähnlichkeit erzielt (wie die Malerei), sondern auch als indexikalisches Zeichen, das in einer ursächlichen Verbindung zum Bezeichneten steht, weil die vom Gegenstand reflektierten Lichtstrahlen dessen Abbild direkt in das Negativ eingraben. Doch in Blow Up sieht auf dem vergrößerten Abzug eine Leiche nur, wer sie dort sehen will: Erst das der Wahrnehmung zugrunde liegende Schema formt die chaotischen Eindrücke zum bedeutungsvollen Muster. Die Vergrößerung führt mitnichten zu einer Annäherung an die Wirklichkeit (und ihrer Aufklärung), sondern offenbart die materielle Struktur des Mediums (das Fotokorn), die sich zwischen die Betrachtenden und die Wirklichkeit schiebt als unüberwindbare, ontologische Grenze. Dennoch negiere Blow Up nicht die indexikalische Qualität der Fotografie, wie Christoph Hesse hervorhebt (Abschn. 1), schließlich finde der Fotograf anfangs die Leiche im Park auch vor. Ohne diese Referenz bliebe die abfotografierte Vergrößerung bedeutungslos, ein – informationstheoretisch gefasstes – Rauschen. Im Gegensatz zu den terminierten Mode-Shootings war es Zufall, dass der Fotograf dem Liebespaar begegnet ist und dass er im Foto die Indizien für den Mord entdeckt hat. Das Zufällige ist ein weiterer Wirklichkeitsgarant, den Realismus-Theorien hervorheben. Es kommt bei der Fotografie in doppelter Weise zum Tragen: Zum einen kann die Augenblicksfotografie über das spontane Festhalten auf ungestellte Wirklichkeit zugreifen, zum anderen erfasst sie in ihrer Totalität auch ungeplante Details, die der Fotograf erst im Nachhinein entdecken mag (als punctum im Sinne Roland Barthes‘). Der Film erweitert die Möglichkeiten, weil das Zeitmedium, wie Siegfried Kracauer betont, auch das offene Kontinuum des Lebens einfangen kann und ungeplante

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Bewegungsdetails einsammelt, worauf die Kamera in Blow Up verweist, wenn sie wiederholt den Wind in den Blättern der Bäume aufnimmt. Hingegen beruht Realismus im Film nicht unbedingt auf einer äquivalenten Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern auf ästhetischen Konventionen, die auch pragmatischen, mitunter ökonomischen Überlegungen folgen können und sich historisch wandeln. Ein filmisches Stilmittel kann als mehr oder weniger realistisch wahrgenommen werden, abhängig von den ästhetischen Normen einer Zeit, ihren Wirklichkeitsauffassungen sowie den filmischen Konventionen (zum Beispiel der Genres), die losgelöst von der außerfilmischen Realität Plausibilität und Akzeptanz beim Publikum steuern. In Blow Up ist Antonionis Bemühen spürbar, die soziale Realität Londons in den 1960er Jahren widerzuspiegeln: sowohl der farbenfrohen Swinging City als auch der ärmlichen Gegenden, sowohl der ökonomischen Prosperität als auch der Protestkultur der Jugend. Somit ist Blow Up beides: kritische Reflexion über den Abbildrealismus von Film und Fotografie, zugleich realistisches Porträt einer aufgewühlten Epoche. Eine Umbruchszeit waren die 1960er Jahre auch für den Film (der eine Modernisierung durchlebte) und für die Filmtheorie (die ihre Verwissenschaftlichung begann). Die Idee, den Film als Text zu verstehen, seine visuellen und akustischen Elemente als Zeichen zu deuten, führte dazu, dass semiotische und strukturalistische Betrachtungen des Mediums die Realismus-Theorien Bazins oder Kracauers zurückdrängten, zum Teil gar als naiv abtaten. Der Poststrukturalismus, der sich in den 1960er Jahren parallel zum Strukturalismus entwickelte und ihn in kritischer Form weiterführte, bietet dabei Denkweisen an, die – wie Oliver Fahle zeigen konnte (Abschn. 2) – mit den Besonderheiten von Blow Up intensiv kommunizieren. Denn Blow Up thematisiert die filmische Organisation von Wahrnehmung, lockert gezielt das narrative Gewebe, um Bilder und Töne auszustellen und auf selbstreflexive Weise den Zusammenhang von Materialität und Medien, Sprache, Schrift und Bild zu thematisieren. Der Weg zum Poststrukturalismus beginnt bei der Linguistik. Zentrale Thesen der Linguistik nach Ferdinand de Saussure sind, dass (1) Sprache nicht über die Beziehung zur Wirklichkeit zu verstehen sei, sondern über die Beziehung der Zeichen untereinander, (2) dass ein Zeichen aus Signifikant (dem Lautbild) und Signifikat (dem Vorstellungsbild) bestehe und die Verbindung der beiden auf beliebigen Festlegungen beruhe, (3) dass ein überzeitliches Sprachsystem (langue) von dem historisch sich wandelnden Sprachgebrauch (parole) unterschieden werden müsse. Der Strukturalismus überträgt dieses linguistische Modell nun auf andere kulturelle Phänomene: Die Bräuche eines Volkes (Claude Lévi-Strauss), das Unbewusste (Jacques Lacan), die Mode (Roland Barthes) oder der Film (Christian Metz) werden als Zeichensysteme verstanden, die den Subjekten vorläufig sind und ihre Äußerungen strukturieren. Der Poststrukturalismus nun stellt die Überzeitlichkeit und Festigkeit dieser abstrakten Systeme infrage. Gerade weil Zeichen durch willkürliche Festlegungen und relationale Ordnungen entstehen würden und nicht durch die natürliche Verbindung zur Wirklichkeit, seien Bedeutungsstrukturen historisch veränderlich und gebunden an ihre materiellen und medialen Äußerungsformen. Damit setzten sie einen Prozess der Interpretation in Gang, der zu keiner letztgültigen Deutung (einem transzendentalen Signifikat) führen kann.

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Nach Gilles Deleuze gerät im Zuge des Zweiten Weltkrieges das klassische Erzählen in die Krise. Das ehemals vorherrschende Aktionsbild (mit kausal, psychologisch motivierten Handlungen) wird nun im modernen Film zurückgedrängt durch optische und akustische Situationen: voraussetzungslose Momentaufnahmen. Diese prägen Blow Up genauso wie die fünf Eigenschaften, die nach Deleuze den modernen Film charakterisieren: 1) der Zerfall der Gesamthandlung, 2) die Schwächung der Bild-Verbindungen, 3) das Umherstreifen der Protagonisten, 4) das Ausstellen von Stereotypen, 5) die Vermutung einer Verschwörung. Im Medium der Fotografie sieht Oliver Fahle solche Tendenzen der Fragmentierung repräsentiert. Diese gehen in die Struktur des Films Blow Up ein und führen zu seiner umherirrenden Erzählweise, wie Oliver Fahle schreibt: „Thomas bewegt sich gleichsam auf der Ebene des Signifikanten, dem der Zusammenhang zur Situation (Signifikat), aber auch zum Referenten (Außenwelt) nicht wegen, sondern durch die Fotografie verloren gegangen ist.“ (Abschn. 2) Begegnet man Blow Up mit den Theorien Jacques Derridas, so erscheint der Film als Reflexion über die Zeichenhaftigkeit der Welt. Wie kann Wissen über Wirklichkeit entstehen, wenn Wissen stets auf die Vermittlung durch Repräsentanten (Zeichen) angewiesen ist? Die Erkenntnis versucht vergeblich, hinter das Netz der Repräsentationen vorzudringen und bleibt doch darin eingeschlossen. Wie der Fotograf in seiner Rekonstruktion der Park-Szene kommt die Erkenntnis immer zu spät, da sie nicht mit dem Ursprung, sondern nur mit der Ableitung konfrontiert ist (Paradox der ursprünglichen Verspätung nach Derrida). Die mangelnde Evidenz und willkürliche Bedeutung der Zeichen führt Antonionis Film mehrfach vor. Letztlich muss der Fotograf einsehen, dass es keine feste, überzeitliche Bedeutung gibt (das transzendentale Signifikat), sondern nur ein nahezu unendliches Spiel der Signifikanten, die auf Konstruktionen beruhen (wie das Pantomimenspiel). Mit den Theorien Michel Foucaults sehen wir Aussagensysteme (Diskurse) und ihre institutionellen Wissensapparate (Dispositive) nicht aus einer Suche nach Wahrheit, sondern aus dem Willen zur Macht entstehen, die sprachliche Ordnungen, Ein- und Ausschluss festlegt und den gesamten Gesellschaftskörper durchdringt. In Blow Up sind der Diskurs des Begehrens und das Dispositiv der Fotografie eng miteinander verknüpft. Im Fotostudio (dem Refugium des Dispositivs) und im Umgang mit seinen Models und Angestellten (ver)sichert sich Thomas „seine(r) Männlichkeit über die scheinbare Beherrschung des Macht/Wissens- oder Dispositiv/Diskurs-Komplexes.“ (Abschn. 2) Letztlich scheint für Thomas die Fotografie das eigentliche Begehrensobjekt zu sein, mit der er Macht ausübt und durch das er zur Wahrheit vordringen will. Doch die Macht über den Diskurs entgleitet dem Fotografen, als er entdeckt, dass ihm die Fotografie keinen gesicherten Zugang zur Realität mehr öffnet. Folglich werden „Wissen, Begehren und Macht entkoppelt“, wie Oliver Fahle schreibt. Fortgeführt werden die poststrukturalistischen Argumente in der Postmoderne. Jean-François Lyotard sieht jene für die Moderne prägenden Meta-Erzählungen (Emanzipation des Subjekts, Fortschritt von Vernunft und Technik) in der Krise und ersetzt durch den Partikularismus inkommensurabler Sprachspiele. Postmoderne Ästhetik bildet das ab: in der Durchmischung von Kunst und Populärkultur, in dem

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offenen Umgang mit Stilen, Ikonografien und Narrativen, im eklektizistischen Spiel mit Zitaten. Für Oliver Fahle ist Blow Up kein postmoderner Film, da er in der filmischen Moderne der 1960er Jahre verankert sei und nicht Stile mische, Zitate referiere oder eine von der Werbeästhetik beeinflusste Sprache aufnehme. Dennoch aber weise Blow Up bereits auf die postmoderne Inkommensurabilität von Äußerungsweisen hin und öffne ein intermediales Feld, das populärkulturelle Medien und abstrakte Künste einander annähere. Zwar geht es in Blow Up noch nicht um die Durchsetzung der Kultur mit elektronischen Medien, aber doch schon darum, dass verschiedene technische Medien, wie etwa Film und Fotografie, in Konkurrenz zueinander stehen und auf eine Form der Kommunikations-Verweigerung zusteuern. Das medienkritische Repräsentationsproblem im Zentrum des Films Blow Up lässt sich mit poststrukturalistischen Modellen erkenntnisreich herausarbeiten. Doch Realismustheorien werden damit nicht obsolet. Christoph Hesse bringt es auf den Punkt: Die mechanisch entstehenden Bilder von Fotografie und Film, die eine verblüffende Übereinstimmung mit dem Wahrgenommenen aufweisen, lassen sich nur bedingt mit sprachlichen Zeichen vergleichen. Was ein sprachliches Zeichen bedeutet, muss gelernt werden, weil seine Bedeutung auf einer gesellschaftlichen Festlegung beruht. Was ein fotografisches Zeichen zeigt, kann – wenn der Gegenstand universal ist – nahezu sofort erkannt werden, von einem Kind in jeder Kultur. Dieser verblüffende Effekt lässt sich mit einer sprachwissenschaftlich fundierten Theorie der Zeichen nicht hinreichend erklären: „Wenngleich auch das filmische Bild, wie eine Bleistiftzeichnung auf Papier, nur eine visuelle Repräsentation seines Gegenstands gemäß bestimmter Kriterien darstellt, die für dessen Wiedererkennen relevant sind, so bleibt doch der fundamentale Unterschied nicht gering zu achten, dass der Film einen augenblicklichen optischen Eindruck des Gegenstands selbst aufzeichnet – ihn in Wirklichkeit gar nicht zeichnet, sondern geradezu mechanisch fixiert.“ (Abschn. 1)

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Theorien der Intermedialität und Medienkultur Bernd Kiefer, Lucas Curstädt und Ivo Ritzer

1 Intermedialität und Intertextualität Bernd Kiefer und Lucas Curstädt Blow Up (GB/I/USA 1966) basiert auf der Kurzgeschichte Teufelsgeifer des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar, die 1958 erschienen ist. Sie handelt von einem Amateurfotografen, der durch Aufnahmen, die er macht, in eine halluzinatorische Geschichte gerät. Antonionis Film erzählt von einem Fotografen, der im Verhältnis von Fotografie, Realität und Wahrnehmung jede Orientierung verliert. Übersetzt bedeutet der Titel des Films gleich zweierlei. Erstens wird darunter die technische wie materielle Vergrößerung einer Fotografie verstanden. Davon handelt Antonionis Film im weitesten Sinne: Es geht um Arten der Fotografie, um den Akt und um die Gesten des Fotografierens und des Fotografiert-Werdens. Zugleich fragt Blow Up, ob die indexikalischen Medien Fotografie und Film überhaupt die Fähigkeit besitzen, Realität zu registrieren, ob sich also im Modus der medialen Reproduktion ein Pfad zur Realität offenbart: Ist die Fotografie in der Lage, Realität im Sinne des ihr Nahekommens buch-

B. Kiefer (*)  Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] L. Curstädt  Universität Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] I. Ritzer  Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 O. Bulgakowa und R. Mauer (Hrsg.), Angewandte Filmtheorie, Film, Fernsehen, Neue Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41089-6_9

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stäblich zu vergrößern? Wenn der namenlos bleibende Protagonist im Film mit seinen Abzügen experimentiert, versucht er genau dies: der diffus gewordenen Realität – und ihrer Wahrheit – auf die Spur zu kommen. Zweitens bedeutet blow up auch: etwas in die Luft sprengen, etwas zur Explosion bringen. Um diese Übersetzung mit Antonionis Film in Einklang zu bringen, lohnt sich ein Blick auf das Buch des britischen PopHistorikers Jon Savage, das den bemerkenswerten Titel 1966 – The Year the Decade Exploded (2015) trägt und damit jenes Jahr porträtiert, in dem Antonionis Film nicht nur in London gedreht wurde, sondern auch seine Premiere feierte. Das Buch erschien 2015, gewissermaßen im Vorgriff auf den 50. Jahrestag dieser Explosion. Aber was ist 1966 in London – zumindest im übertragenen Sinne – explodiert?

1.1 1996 – Das Jahr, in dem die Dekade explodierte Da wäre zunächst die Musik: die der Beatles, der Rolling Stones und die der Yardbirds und anderer Bands. Gegen Ende des Jahres 1966 tritt mit Pink Floyd zudem eine Band auf, die den Versuch unternimmt, das Publikum in einer Verbindung aus psychedelischer Musik, Lightshow sowie Dia- und Film-Projektionen in neue, halluzinatorische Zustände des Bewusstseins zu führen. Unerwähnt darf natürlich die Mode nicht bleiben: Die inzwischen legendäre Carnaby Street wird gleichsam öffentlicher Laufsteg, der Ort, an dem die neueste und extravaganteste Kleidung eine Verbindung mit einem neuen PopLifestyle eingeht und dadurch die Haute Couture in Paris recht schnell alt aussehen lässt (Abb. 1). Hier werden Modefotografen zu Stars. Vor allem David Bailey, dessen Arbeit zwischen exquisiten Modeaufnahmen, sozialer Fotografie und Celebrity-Portraits changiert, wäre hier zu nennen. Kaum verwunderlich, dass Bailey zum Vorbild für Antonionis Fotografen wird. Bailey fotografiert das sich verändernde London – auf der einen Seite Porträts von Mick Jagger, auf der anderen Seite Fotografien der Lebensumstände der Menschen am unteren Rand der Gesellschaft – und kann dadurch den Niedergang des alten, proletarischen Londons und seine Metamorphose in eine neue, glänzende Medienwelt aufzeichnen. Bailey wurde zum Dokumentaristen jenes explosiven Wandels und zum involvierten Zeitzeugen. Wie wichtig Bailey für Antonioni war, zeigt sich darin, dass der Regisseur ihn selbst dazu ausersehen hatte, die Hauptrolle in Blow Up zu spielen. Bailey lehnte ab, David Hemmings als professioneller Schauspieler übernahm. Es ist aber auch die Literatur zu nennen. Da sind vor allem die Theaterstücke, die neue ‚Typen‘ auf die Bühne katapultieren: angry young men, zornige, junge Männer, die ihren Platz in der Gesellschaft verlangen. Explodiert ist auch der britische Film, der um 1960 seine New Wave, seine neue Welle erlebte und ganz neue Figuren und andere Wirklichkeiten entdeckt als die, die das britische Kino bis dahin gezeigt hatte. So basiert Tony Richardsons Film Look Back in Anger (Blick zurück im Zorn, GB 1958) auf dem gleichnamigen Stück von John Osborne. Zu denken ist auch an Lindsay Andersons Film If (GB 1968) aus dem Jahre 1968, der vom Kampf einer heranwachsenden Generation gegen die patriarchalischen Institutionen handelt – im Notfall auch mit Waffen und Granaten (Abb. 2).

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Abb. 1   Englische Popkultur um 1966: Das Debütalbum Piper At The Gates Of Dawn (1967) kündigt das halluzinatorische Programm von Pink Floyd bereits in seiner Covergestaltung an (a): über die Multiplikation und Fragmentierung der Bandmitglieder wie bei einem Blick durch ein Kaleidoskop. Als Epizentrum der jüngsten Modebewegungen präsentiert sich die Londoner Carnaby Street (b). Bis heute eilt der Mythos der Swingin‘ Sixties den dort beheimateten Boutiquen voraus. Quelle: Coverartwork Pink Floyd, Piper At The Gates Of Dawn (1967, © EMI); The National Archives UK, © The National Archives

1.2 Intermedialität als Explosion In seinem Buch über das Werk von Michelangelo Antonioni spricht Matthias Bauer von einem „Wechselspiel von Mode, Musik und Malerei, Fotografie und Kinematografie in der kreativen Szene von Swinging London in diesem Jahr“ (Bauer 2015, S. 383). Dieser Moment der Um- und Aufbruchsstimmung, dieses explosive Gemisch inmitten von London, wird in Antonionis Film sichtbar. Um es zu erfassen, wird hier das Konzept der Intermedialität herangezogen: das Phänomen des Wechsel- und Zusammenspiels der drei Medien Fotografie, Film und Literatur. Marshall McLuhan initiierte die Intermedialitätsforschung, als er in Understanding Media (1964), ohne den Begriff der Intermedialität zu benutzen, sie nicht nur als Konvergenz von Medien, sondern als ihre Konfrontation und Reibung verstand: „Durch Kreuzung oder Hybridisierung von Medien werden gewaltige neue Kräfte und Energien frei, ähnlich wie bei der Kernspaltung oder der Kern-Fusion“ (McLuhan 1994, S. 84). Im Anschluss daran spricht der Medientheoretiker von einer ästhetischen Bombe, die ungeheure Wirkungspotenziale freisetze: Um genau diese Verbindung mehrerer Medien zur (explosiven) Konstruktion oder Dekonstruktion von Realität, Wahrnehmung und Wahrheit geht es. Blow Up also als Explosion der Intermedialität. Im Band Einführung in die Intermedialität stößt man schnell auf die Vermutung seines Autors Jörg Robert, dass in der medien- und textwissenschaftlichen Intermedialitätsforschung eine gewisse Ermüdungserscheinung zu konstatieren sei (Robert 2014, S. 17). Über Jahrzehnte hinweg gab es interdisziplinäre Forschungsprojekte und zahlreiche Tagungen, einige Bände sind zur Theorie der Intermedialität erschienen. Doch

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Abb. 2   Reißerisch bewarben diese abgebildeten Posterdesigns jene Filme der britischen neuen Welle, die parallel zu den Modernisierungsschüben des Kinos in Europa und Asien aufkam: Look Back in Anger (a, 1958) und If (b, 1968). Quelle: CineMaterial, © Paramount, © Warner

Intermedialität wurde in Einzelfällen bisher nur erprobt, zumindest scheint sich bis dato die große Theorie der Intermedialität noch nicht herausgebildet zu haben, was sicherlich, wie Robert bemerkt, damit zusammenhängt, dass sich die einzelnen Disziplinen schwerlich auf einen Begriff des Mediums einigen können. Die „grundlegende Differenzstruktur“ (Spielmann 1998, S. 36) zwischen den Medien, so Yvonne Spielmann, ist grundlegender Hemmstoff eines möglichen Generalnenners und zugleich nicht zu verleugnender Motor der Intermedialität. Werner Wolf definiert Intermedialität – und diese Bestimmung des Begriffs, die er im Jahr 1998 gab, wird immer wieder fast identisch zitiert – als „eine intendierte, in einem Artefakt nachweisliche Verwendung oder Einbeziehung wenigstens zweier konventionell als distinkt angesehener Ausdrucks- oder Kommunikationsmedien“ (Wolf 1998, S. 238). Distinkt meint hier in der Tat das strikt Getrennte, denn nur dieses, so paradox es auch klingen mag, lässt sich fusionieren und hybridisieren. Im Fall von Blow Up sind das die beiden Medien Literatur und Fotografie, die im Film zusammenkommen. Der Begriff der Intermedialität hängt aufs Engste mit dem der Intertextualität zusammen. Darunter versteht man die in einem Text nachweisliche Einbeziehung

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mindestens eines weiteren Textes, also die „effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text“ (Genette 1993, S. 10). Häufig sind es mehrere, oft sind es sehr viele Texte, die in einem Text nachgewiesen werden können und untereinander in einem Spannungs- und Wechselverhältnis stehen. Die Intertextualitätsforschung selbst nahm ihren Ausgang von Schriften französischer Literaturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen: Julia Kristeva, Gérard Genette und Roland Barthes haben Theorien der Intertextualität entwickelt. Die vielleicht bekannteste Definition stammt von Barthes aus dem Jahr 1968. Er schreibt in Der Tod des Autors: „Der Text ist ein Geflecht von Zitaten, die aus den tausend Brennpunkten der Kultur stammen“ (Barthes 2005, S. 61). Blow Up ist ein solcher Filmtext mit zahlreichen Anspielungen und vielen Verweisen auf jene Kultur in London im Jahr 1966: auf die Situation in der Musik (in Blow Up tritt die Band Yardbirds auf, und der Gitarrist Jeff Beck zerschlägt dort auf eindrückliche Art und Weise seine Gitarre) und auf die Kunst in vielfältigen Erscheinungsformen, von der Pop Art bis hin zum abstrakten Expressionismus (Abschn. 2 im Kap. 4 „Theorien der Gestaltungsanalyse: Narration, Bild und Ton“). Natürlich aber spielt in Blow Up das Medium der Fotografie eine Rolle. Es wird zur Reflexion darüber genutzt, was die fotografischen Medien in einer Mediengesellschaft noch leisten können. In ihrem im Jahr 2002 erschienenen Buch mit dem schlichten Titel Intermedialität schließt Irina Rajewski sehr eng an die eben gegebene Definition dessen an, was wir Intermedialität nennen. Damit seien laut Rajewski „Mediengrenzen überschreitende Phänomene" gemeint, die „mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren“ (Rajewski 2002, S. 13), wobei es hier um den Prozess der Bedeutungskonstitution geht: Wenn ein oder zwei als distinkt wahrgenommene Medien in einem anderen auftauchen, ist es entscheidend, in welchen Prozess der Bedeutungskonstitution diese Fusion in dem Medium, in unserem Beispiel dem Film, mündet, in dem Fotografie und Literatur einbezogen sind. Dieser Prozess kann jene explosiven Kräfte freisetzen, von denen McLuhan spricht, und zu einer neuen Konstitution der Wahrnehmung führen. Irina Rajewski beschreibt Intermedialität grundlegend als „Medienwechsel" (ebd., S. 16). Mit einem solchen Medienwechsel haben wir es zu tun, denn Blow Up kann als Literaturadaption begriffen werden. Als weiteres Charakteristikum nennt Rajewski die „Medienkombination“ (ebd., S. 19), und wenn wir von Film sprechen, haben wir es immer mit einer Kombination mehrerer Medien zu tun. Entscheidend ist nun, wie Rajewski die intermedialen Bezüge bestimmt: Hier findet das „Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt (…) eines konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums“ (ebd.) statt. Das ist es, worauf es in Blow Up ankommt. Joachim Paech, der sich in Deutschland wie kein anderer mit dem Film als einem intermedialen Medium beschäftigt hat, bezeichnet die Darstellung der einen Kunstform in einer anderen (Literatur im Film) – also den Transformationsvorgang – als „Behälterwechsel“ und betont, dass sich immer Interferenzen, also Brüche beim Medienwechsel, ergeben (Paech 1998, S. 15). Durch das, was Paech

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die „zusammengesetzte Struktur des Mediums ‚Film‘“ (Paech 1994, S. 2) nennt, ist der Film somit das Medium, das eine große „‚intermediale‘ Offenheit“ (ebd.) besitzt. Der Film als Gesamtkunstwerk, als das er in der frühen Filmtheorie oft gesehen wurde, kann viele andere Medien integrieren, auf sie verweisen und dadurch ganz eigene, andere Bedeutungen konstituieren. Der russische Formalist Boris  M. Ejchenbaum hat dies bereits in der Frühphase des 20. Jahrhunderts als „Synkretismus“ bezeichnet und als das Charakteristikum des Films ausgewiesen (2005, S. 186). Blow Up ist ein solcher Film von großer intermedialer Offenheit, ein synkretistischer Film.

1.3 Die Literaturvorlage: Julio Cortázars Teufelsgeifer Zunächst soll auf den literarischen Text eingegangen werden, der dem Drehbuch und dem Film zugrunde liegt. Es geht um die Frage der Literaturverfilmung unter dem Aspekt der Intermedialität. Zu ihrem Buch Literaturverfilmungen hat Anne Bohnenkamp eine Einleitung verfasst, die das Problem der Literaturadaptionen unter diesem Aspekt wie folgt begreift: Intermedialität wird als „bewusste, intendierte Verwendung oder Einbeziehung wenigstens zweier konventionell als distinkt angesehener Medien“ (Bohnenkamp 2005, S.  21)  verstanden. Intermedial ist demnach eine Beziehung zwischen Medien, wenn sie das multimediale Nebeneinander medialer Zitate und Elemente in ein konzeptionelles Miteinander überführt, dessen ästhetische Brechungen und Verwerfungen neue Dimensionen eröffnen. Es geht also nicht nur um das Nebeneinander von distinkt wahrgenommenen Medien in einem anderen Medium, sondern um ein Miteinander, um ein Interagieren, um ein Wechselspiel dieser Medien in einem anderen Medium; es geht darum, welche Brechungen und Verwerfungen unter Umständen im Prozess der Bedeutungskonstitution auftreten oder von aktiven Zuschauenden und Interpretierenden verzeichnet werden können. Es geht um Spannungen und Reibungen, die sich tektonisch entladen und wie bei jeder Verschiebung tut sich eine neue, höhere Ebene auf. In diesem Sinne ist für Bohnenkamp eine Literaturverfilmung immer „intermediale Übersetzung“ (ebd., S. 23), die durchaus mit dem Text so umgehen kann, dass im neuen Medium auch Brechungen und Verwerfungen gegenüber dem Ursprungsmedium entstehen können. Antwort, Echo oder Fortsetzung kann eine Literaturverfilmung sein – der Film kann Antworten auf Fragen geben, die ein literarischer Text stellt oder eine neue Sprache zur Beantwortung der alten Fragen finden; er kann ein Echo verzeichnen – unter Umständen mit einer erheblichen zeitlichen Verzögerung –, er kann aber auch eine Fortsetzung des literarischen Textes sein oder, genauer, eine Fortführung der Problematik, die ein literarischer Text bearbeitet. Das Original wird nicht ersetzt, sondern um neue Aspekte ergänzt, es wird weitergeführt oder, wie Bohnenkamp sagt: Es wird weitergespielt (ebd., S. 26). Kräfte werden freigesetzt und erlangen hybride Eigenschaften (Abb. 3).

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Abb. 3   Intermediale Analogien werden bereits beim Betrachten des Filmplakats von Blow Up  (a) und dem Buchumschlag der Erstausgabe von Las Armas Secretas (b, Quelle: © Editorial Sudamericana) erkennbar. Auf dem Buchumschlag gewährt die Leinwand des Malers einen Blick auf die künstlerische Interpretation des Sujets (der Kathedrale Notre Dame in Paris), während das Filmplakat sowie die darauf abgebildete Kamera des Fotografen den Einblick in die künstlerische Adaption des Models verweigert. (Quelle: CineMaterial, © MGM u.a)

Wenn man sich die Relation von Blow Up und der Erzählung Teufelsgeifer von Julio Cortázar vor Augen führt, ist der Film sicherlich eine Antwort auf die Frage, die der Schriftsteller fast zehn Jahre vor Antonionis Film stellt: Die Frage, was eine Fotografie an Realität enthält und was der Akt der Interpretation einer Fotografie ist, die Frage, ob mit der Erfindung der analogen Fotografie die Realität auf dem Fotopapier so gewiss ist, „wie das, was man berührt“ (Barthes 1985, S. 97). Unter den Bedingungen der Mediengesellschaft wird das, was in Cortázars Text zum Problem wird, von Antonioni weiter-gespielt. Doch was war es, was Michelangelo Antonioni, der Zeit seines Lebens stark an den Künsten, an Literatur, Malerei und Architektur interessiert war, an dieser Erzählung des in Paris lebenden argentinischen Schriftstellers so faszinierte? Teufelsgeifer erschien erstmals im Jahr 1958, die deutsche Übersetzung ist in einem Sammelband mit Erzählungen von Cortázar mit dem Titel Die

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geheimen Waffen enthalten, welcher 1981 veröffentlicht wurde. Die ersten Sätze der Erzählung lauten wie folgt: Nie wird man wissen, wie das erzählt werden muss – ob in der ersten Person oder in der zweiten, indem man sich der dritten Person des Plurals bedient oder fortwährend Formen erfindet, die sich dann als nicht brauchbar erweisen. (S. 65)

Teufelsgeifer ist eine Erzählung über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Erzählens selbst, eine Erzählung über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, eine Wirklichkeit zu fingieren. Wie soll man erzählen – in der ersten, in der zweiten oder in der dritten Person, im Plural oder im Singular, langsam oder schnell? Teufelsgeifer selbst wird im permanenten Wechsel von erster Person Singular und dritter Person erzählt, und einen ähnlichen Erzählgestus finden wir auch in Blow Up (Abschn. 1 im Kap. 4 „Theorien der Gestaltungsanalyse: Narration, Bild und Ton“). Zwar sehen wir den Fotografen, der im Zentrum der Filmhandlung steht und den wir meist Thomas nennen, obgleich er im Film nie mit diesem Namen angesprochen wird. Wir sehen, wie er fotografiert, und wir sehen, was er fotografieren will – wir sehen den Akt und die Gesten des Fotografierens, aber zugleich versetzt uns Antonionis Kamera immer wieder in die Position der Beobachtenden dieses professionellen Voyeurs. Wir sehen, wie er sieht, wie er agiert und interpretiert, jedoch stets aus einer Distanz, also in einer gewissen (nicht technisch gemeinten) Unschärfe und somit unsicheren Position (Abb. 4). Die Figur Roberto Michel, Protagonist der Erzählung Teufelsgeifer, ist Übersetzer und Amateurfotograf und lebt in Paris. Von diesem Mann heißt es: „Michel wusste, dass der Fotograf immer gleichsam eine Permutation seiner persönlichen Art, die Welt zu betrachten, durch eine andere bewirkt, die ihm die Kamera hinterlistig aufzwingt.“ (S. 68) Es ist die Apparatur, die die persönliche Sicht des Fotografen „permutiert“ (eine Permutation ist eine Umstellung, eine Vertauschung): Das, was Fotografierende – oder auch der Kinematografierende hinter der Filmkamera – aus ihrer Perspektive abbilden wollen, wird durch die Apparatur immer neu geordnet, und auf hinterlistige Art und Weise, wie Cortázar schreibt, wird etwas anderes als das Intendierte sichtbar.

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Abb. 4   Antonionis Bildaufbau erzeugt einen merklichen Abstand zum Protagonisten Thomas; mehrfach werden ganze Handlungsabläufe in langen Einstellungen und Totalen fotografiert. David Hemmings kehrt der Kamera dabei den Rücken zu (a+b). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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In der Erzählung geschieht diese Permutation bei einer entscheidenden Begegnung an einem Sonntag am Quai de Bourbon in Paris. Roberto Michel beobachtet einen etwa 14-jährigen Jungen, der sich mit einer weit älteren blonden Frau trifft. Zunächst hält Michel die beiden für – es ist naheliegend – Mutter und Sohn, dann aber wird ihm im Verhalten der beiden, das nichts Familiäres zu haben scheint, deutlich, dass es sich vielleicht doch um ein Paar handeln könnte: ein merkwürdiges, auffälliges Paar, ein halbwüchsiger Junge und eine weit ältere Frau, die sich dort zu einem Rendezvous treffen. Der Beobachter Michel fotografiert noch nicht, schaut aber genau hin und erfindet nun eine Biografie des Jungen; er imaginiert, wer dieser Junge, der sich hier mit einer Frau trifft, sein könnte. Michel reflektiert aber auch, dass „alles Beobachten“, wie es heißt, „von Irrtum strotzt“ (S. 70). So wie die Kamera den subjektiven Blick des Fotografen permutiert, so ist schon die nicht vom Apparat aufgezeichnete Wahrnehmung und Beobachtung eines Sachverhaltes etwas, das Irrtum einschließt. Plötzlich fällt Michel eine weitere Person auf: Ein Mann mit einem grauen Hut beobachtet das Tun des Jungen und der Frau. Nun beginnt Michel, wie es im Text heißt, „irreale Fabrikationen“ (S. 75) zu erstellen, denn er bringt diese Dreierkonstellation in eine Geschichte – vor allem macht er jetzt ein Foto. Dieses Foto stellt einen Moment in der Zeit für immer still, ist aber unzuverlässiges Testat dieser ‚irrealen Fabrikation‘, ein trügerischer Beweis. Wie später in Blow Up wird die Frau von Michel diesen Film verlangen, wie in Blow Up wird der Fotograf diese Bitte nicht erfüllen (Abb. 5): Der Junge flieht, und der Mann mit dem grauen Hut gesellt sich zu der Frau. Michel verlässt den Ort des Geschehens. Es vergehen mehrere Tage, bis er die Fotos entwickelt, darunter auch jenes mit der Frau und dem Jungen. Er vergrößert das Foto, im Text heißt es „so groß fast wie ein Plakat“ (S. 77), er pinnt das Foto an die Wand, und plötzlich sieht er die Geschichte – zusammengesetzt aus seiner Interpretation und der angeblichen Beweiskraft des Bildes: Sie, die ältere Frau, ist der Lockvogel, sie verführt den Jungen und führt ihn dem Mann mit dem grauen Hut zu, der sich des Jungen vielleicht sogar mit Gewalt bemächtigen wird. Es ist ein perverses Szenario, das Michel nun plötzlich im simplen Foto, an einem Sonntagnachmittag am Quai de Bourbon in Paris aufgenommen, sieht. Aber diese ‚irreale Fabrikation‘ wird noch gesteigert, denn je intensiver er dieses Foto anschaut, umso stärker scheint das Bild in Bewegung zu geraten, scheint lebendig zu werden, es öffnet sich, es zieht ihn vielleicht in die Geschichte hinein, und er entwickelt eine Halluzination, in der das Foto das Leben wird, das Leben zu einer Fotografie zu werden scheint. Dann ist sein Alltag wieder grau und eintönig, wie er vorher war, weshalb Michel immer wieder aufbrechen wird, um Fotos zu machen. Das Fotografieren ist sein Versuch der Identitätsstiftung. Zurück zur Frage, was Antonioni an diesem Text von Cortázar wohl interessiert hat: Es ist das Wechselspiel von Subjektivität und Realität, ein Wechselspiel, dessen Permutationen weitgehend bestimmt werden durch eine Apparatur, durch eine Kamera; es ist zudem die Relation von Realität und Fotografie, die Cortázar thematisiert und problematisiert; es ist aber auch das Wechselspiel von Wahrnehmung, Imagination, Fabrikation und schließlich Halluzination, was dieser kurze Text, der eine Erzählung

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Abb. 5   Intermedialität bezeichnet mehr als die pure Adaption von inhaltlichen und stilistischen Aspekten der Vorlage, sondern auch eine Interpretation dieser innerhalb des ästhetischen Spielraums des Sekundärmediums. Antonioni nimmt hierzu konzeptionelle Modifizierungen im Sinne der Erzählung vor (der Junge wird zum Mann) und nutzt dabei gleichzeitig die Möglichkeiten des Mediums Film, um die bereits von Cortázar im Teufelsgeifer gestellte Frage nach dem Realitätsgehalt der Fotografie auf eine weitere Ebene zu transportieren, was mit ästhetischen und dramaturgischen Brechungen einhergeht (Thomas hat den Mörder nie als reale Person wahrgenommen). (© Heberling/Maisenbacher)

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über das Erzählen ist, vorstellt. Er ist eine Art Vorwort für eine moderne Medientheorie, die davon ausgeht, dass Medien Ereignisse produzieren und nicht nur Beobachter sind, die Ereignisse dokumentieren. Am Ende von Teufelsgeifer steht die Einsicht: Es gibt keine Wirklichkeit an sich, es gibt nur die Realität der Beobachtenden.

1.4 Antonionis Werk und die Moderne Michelangelo Antonioni lebte fast ein ganzes Jahrhundert. Er wurde im Jahr 1912 geboren, er starb im Jahr 2007. Er hat die Ära der Moderne, der Spätmoderne und der Postmoderne erlebt, und er gilt als der große Modernist des italienischen Kinos. Seine Wurzeln liegen nicht im Neorealismus, sondern in der Absetzungsbewegung vom Neorealismus in den 1950er Jahren, und die Filme, die Antonioni um 1960 machte, vor allem die Trilogie L’avventura (Die mit der Liebe spielen, I 1960), La notte (Die Nacht, I 1961) und L’eclisse (Liebe 1962, I 1962) zeigen diesen Modernismus auf eine damals Viele verstörende Art und Weise. Denn Antonioni bricht mit den Traditionen des narrativen Films: Er entdramatisiert das Geschehen hin zur lakonischen Beobachtung, seine Erzählweise ist offen, elliptisch, fragmentarisch; die Filme stellen stets mehr Fragen, als sie Antworten bieten. Antworten müssen die Zuschauenden selbst finden. Die Erzählung, aus der dann Blow Up entsteht, war sicherlich faszinierend für ihn, weil sie das Subjekt in eine Beziehung zur Realität stellt, die durch die Apparatur vermittelt wird, einer Apparatur wie jener, mit der Antonioni sich als Künstler ausdrückt – dem fotografischen Apparat, der Kamera. Die Realität aber ist flüchtig und brüchig – und in gewisser Weise stimmt Antonioni in Blow Up einem Gedanken Kracauers zu: Die Realität, so der Theoretiker, sei nach dem Zweiten Weltkrieg so unerfahrbar geworden, dass sie nur noch durch die Spiegelfunktion (vgl. Kracauer 2005, S. 468) der Kamera reflektiert werden könne. Auf einen ersten Blick könnte man die Figur des Thomas in Einklang mit dieser These bringen, da er das Interface der Apparatur benötigt, um Bedeutung zu fabrizieren. Doch die Intention scheint sich beim zweiten Blick ins Gegenteil zu verkehren: Die Realität ist zwar unerfahrbar, aber das Drama um Verführung (Teufelsgeifer) oder Mord (Blow Up) findet nicht in der Realität, sondern nur vor der Kamera und einzig in der Halluzination des Kameramanns statt. Dieser ist nicht mehr Beobachter von Ereignissen, sondern ihr Produzent. Der Film, der unmittelbar vor Blow Up entstand – Il deserto rosso (Die rote Wüste, I 1964) – ist Antonionis erster Farbfilm, Blow Up wird sein zweiter sein. In Il deserto rosso macht er Wahrnehmung direkt zum Thema. Um das Publikum über das, was es sieht, und das, was die Protagonistin dieses Films sieht, zur Reflexion anzuregen, verfremdete Antonioni die Realität am Drehort durch artifizielle Farben (Abb. 6). Wenn er also 1963/64, vielleicht auch schon früher, Julio Cortázars Erzählung Teufelsgeifer liest, dann ist ihm dieses Problem der Realitätswahrnehmung bereits vertraut.

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Abb. 6   Für die Farbdramaturgie wurden in Il deserto rosso ganze Sets neu gestrichen sowie die Einrichtung der angestrebten Atmosphäre angepasst, wie die Vorhänge und Pflanzen im grünen Zimmer (a). Das Gestaltungsverfahren fand auch im französischen Kino der 1960er Anwendung, u. a. in Pierrot le fou (b) von Jean-Luc Godard oder Le Bonheur (c) von Agnès Varda. Quelle: Il deserto rosso (Die rote Wüste, I/F 1964, © Studiocanal); Pierrot le fou (Elf Uhr nachts, F 1965, © Studiocanal); Le Bonheur (Glück aus dem Blickwinkel des Mannes, F 1965, © Mubi)

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Von den offenen Erzählungen Antonionis ist seit der Trilogie von 1960 bis 1962 immer wieder die Rede. Sein Interpret Seymour Chatman spricht sogar von einer Suche Antonionis nach den Geheimnissen des offenen Textes (Chatman 1985, S. 39). Chatman stützt sich auf den Theoretiker des offenen Kunstwerks, auf den italienischen Zeichentheoretiker und Philosophen Umberto Eco. Eco veröffentlichte im Jahr 1962, also genau zu jener Zeit, in der Antonionis mit der klassischen Erzählweise brechenden Filme entstehen, ein Werk mit dem Titel Opera Aperta (Das offene Kunstwerk). Eco spricht mit Blick auf das offene Kunstwerk von einer „Poetik des Andeutens“ (Eco 1977, S. 37), die wir auch in Blow Up finden. Vor allem sieht Eco das offene Kunstwerk als eines, welches die Bewegung innerhalb der Struktur betone. In Blow Up ist dies natürlich die Relation zwischen dem Individuum und der Realität, die in Bewegung gerät. Um Antonioni, der immer wieder als ein sehr genauer, präziser Analytiker seiner Arbeit hervorgetreten ist, zu zitieren: „In Blow Up, I said, I do not know what reality is. Reality escapes us, changes constantly; when we believe we have grasped it, the situation is already otherwise.” (zit. nach Chatman 1985, S. 141) Roland Barthes hat Antonioni einen kurzen Text gewidmet, der den Titel Weisheit des Künstlers trägt. Barthes nennt Antonioni einen Künstler, der der Moderne gegenüber offen sei, und die Erfahrung der Moderne, so Barthes, ist die des „Schwanken(s) des Sinns“ (1984, 67). Es ist die Krise des Sinns in der Moderne, nicht nur die Krise der Relation von Individuum und Realität, sondern die immer weniger zu beantwortende Frage, was denn eigentlich der Sinn bestimmter Ereignisse, der Sinn bestimmter Situationen sei. Diese Krise des Sinns, so Barthes, verschärft sich so sehr, dass sie in Blow Up auch den Kern der Identität von Ereignissen betrifft: Es wird immer unerfindlicher, was eigentlich ein Ereignis ist oder, anders gesagt und schon auf die ästhetische Struktur des Filmes bezogen, was eigentlich ein Ereignis ist, das medial re/produziert wurde.

1.5 Thomas/Fotograf Im Jahr 2014 widmete sich eine Ausstellung Antonionis Blow Up und der Fotografie. Der Herausgeber des Katalogs, Walter Moser (2014, S. 6–21), verzeichnet in seiner Einleitung mehrere Gründe dafür, warum dieser Film auch für die Fotografiegeschichte bedeutend ist. Es dürfte wohl kaum einen anderen Film geben, bei dem so viele Fotografierende am Set waren. Vom ersten bis zum letzten Tag wurden die Dreharbeiten fotografiert, sie sind also umfassend fotografisch dokumentiert. Es ist bemerkenswert, wie Medienwechsel und Medienaufzeichnung nicht nur das Sujet des Films durchdringen, sondern selbst die Produktion des Films begleiten. Vor allem hatte Antonioni sich bereits vor den Dreharbeiten intensiv über die Fotografenszene in London informiert. Er schickte sogar Fragebögen an für ihn interessante Fotografen, um etwas über ihre Arbeit und über ihr Verhältnis zu dem, was sie foto-

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grafieren, zu erfahren. Besonders arbeitete Antonioni mit dem Fotografen Don McCullin zusammen, dessen Sozialfotografien in Blow Up auch zu sehen sind. Blow Up eröffnet klassisch mit einem Vorspann. Wir lesen, dass die Story des Filmes von Michelangelo Antonioni stammt, dass das Drehbuch von Antonioni und Tonino Guerra verfasst wurde und dass es von der Erzählung Julio Cortázars inspiriert ist. Auch wird erwähnt, dass der britische Dramatiker Edward Bond an den englischen Dialogen mitarbeitete. Die Schrift dieses Vorspanns ist allerdings, und darauf hat Matthias Bauer (Bauer 2015, S. 384) hingewiesen, in einer diaphanen, in einer durchsichtigen Schriftart gestaltet. In den Buchstaben sehen wir bewegte Bilder, im Modus des DurchSchimmerns verbirgt sich ein Hinweis auf die kaum mehr greif- und wahrnehmbare Realität, die der Film zum Thema haben wird. Zugleich sehen wir Szenarien, die auf ein Shooting hinweisen. Jeder der einzelnen Buchstaben wird zu einer eigenen Leinwand, auf der wir dem Film bereits folgen können. Hintergrund der Schrift ist ein Rasen, ein foreshadowing der Lokalität, jenes Rasens im Maryon-Park, in dem Thomas die Fotos machen und eine Leiche sehen wird, die dann wieder verschwindet. Es ist auch der Park, in dem er am Ende des Films den Anarcho-Clowns begegnet und ihrem Tennisspiel eine Zeit lang zuschauen wird. In der Schrift des Vorspanns wird bereits ein Prozess deutlich, der den Film als intermediales Werk kennzeichnet: Aus der Schrift wird ein Bild, aus dem Text von Julio Cortázar wird der Film Antonionis: ein Behälterwechsel, der zugleich die Interferenzen zwischen Bild und Schrift sichtbar werden lässt (Abb. 7). Zunächst führt uns Blow Up in London in eine Welt am Rand der Gesellschaft. Der Fotograf, den wir erst nach dieser Sequenz als solchen kennenlernen werden, v­ erlässt

Abb. 7   Die durchsichtige Schriftart des Filmtitels im Vorspann als thematischer Verweis auf eine kaum mehr wahrnehmbare Realität. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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das Asyl, in dem er die Nacht mit Obdachlosen verbracht hat, die er, so müssen wir annehmen, heimlich fotografierte. Das Publikum muss zunächst die Hauptfigur des Films identifizieren (vielleicht wird es das bis zum Ende nie wirklich schaffen). Der Film spielt insofern mit den Regeln des klassischen Kinos, als er die Fokalisierung, also die Informationsweitergabe, so (zer)streut, dass Trugschlüsse entstehen können: Was ist wahrnehmbar, was ist wahr? In weiteren Einstellungen wird deutlich, dass Thomas offenbar von einigen dieser Männer aus dem Asyl angehalten wird, vielleicht sogar bedroht wird, das Fotografieren zu unterlassen. Seine Arbeiten zeigt er später dem Verleger eines Buches, das er offenbar plant. Thomas‘ nächste Station ist seine Wohnung, die zugleich Set für Fotoshootings ist. Sozialfotografie und Modefotografie werden schon zu Beginn des Films als zwei Gesten der Fotografie charakterisiert, die denkbar unterschiedlicher nicht sein könnten. Der Sozialfotograf will mit seinen Aufnahmen eine Realität bezeugen – eine, die durchaus hässlich ist, eine, in der sich Dinge zeigen, die auf Ablehnung der Betrachtenden stoßen können –, er will bestätigen, dass diese Realität vorhanden ist, dass sie wahrzunehmen ist, dass sie vielleicht sogar verändert werden muss. Keine Geste der Fotografie setzt so sehr den Glauben an eine abbildbare Realität voraus wie die Sozialfotografie, etwa die berühmten Aufnahmen, die Walker Evans und Dorothea Lange in den 1930er Jahren in der Ära der Depression vom Elend in den USA machten, Fotografien, die das Bild dieser Epoche prägten. Die Modefotografie hingegen will etwas anderes: Modefotografie testiert keine Realität, belegt keine, sondern schafft einen schönen Schein und ist am ehesten um Ästhetizismus bemüht. In dieser Welt, in der Thomas Fotograf ist, wird Sein vollständig zu Design und Design zur Agenda des fröhlichen Konsums (Abb. 8). Man kann die unterschiedlichen Gesten des Fotografierens schon zu Beginn des Films auf diese Weise bestimmen: Im Asyl, wo wir Thomas nie zu Gesicht bekommen, nimmt er die Haltung der Mimikry ein. Wenn wir ihn sehen, wie er dieses Asyl verlässt, ist er unrasiert, seine Kleidung ist heruntergekommen wie die der anderen Männer; er hat versucht, sich anzupassen, um nicht aufzufallen. Er stiehlt gewissermaßen Fotografien, er stiehlt eine Realität, er tritt als Fremdkörper in eine Sphäre ein und entnimmt ihr etwas Essenzielles, nämlich das Elend, um dieses als Zeichen nicht nur ästhetisierend erfahrbar werden zu lassen, sondern es zur Reproduktion freizugeben. Weil er bezeugen will, kann er kein Zeuge dieser Realität sein, denn dieser tut dies nur widerwillig. Im Fotostudio kommt es im Gegensatz dazu bei einem Shooting mit dem Model Veruschka von Lehndorff zu einer erotisch-sexuellen Performance, ja sogar zu einer körperlichen Annäherung von Fotograf und Model. Wo der Protagonist Mark Lewis in Michael Powells Peeping Tom (Augen der Angst, GB 1960) mit seiner Kamera Todesangst aufzeichnen will, da geht es Thomas um Lust und Sexualität. Dazu setzt er sich sogar mit der Kamera in der Hand auf Veruschka, wenn sie am Boden liegt, und fordert sie auf, ihm „mehr zu geben“, mehr zu zeigen. Diese Performance ist die Simulation eines Koitus, anschließend zieht sich der Fotograf sogar auf eine Couch zurück, voll-

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Abb. 8   Zwei fotografische Anliegen: einerseits die Schilderung gesellschaftlicher Zustände in der Sozialfotografie, berühmt durch die Fotografien von Dorothea Lange (a) und Walker Evans (b), andererseits die Modefotografie, in der perfekte Bildwelten eigens für die Bewerbung von Produkten und damit verbundener Lebensstile mithilfe der Kamera und Models geschaffen werden (c+d). Quelle: Museum of Modern Art, © Franklin D. Roosevelt Library Public Domain Photographs; Metropolitan Museum of Art, © Walker Evans Archive; Vogue Magazin (Ausgabe vom September 1966), © David Bailey/Condé Nast

ständig erschlafft wie nach einer starken sexuellen Erregung. Bei der Inszenierung des Shootings mit Veruschka ließ sich Antonioni von den Gesten, die der Fotograf David Bailey vollzog, inspirieren, während er mit einem Model arbeitete, Gesten, die denen eines Toreros ähneln, der sich während einer Corrida einem Stier nähert: das rote Tuch als Fotoapparat. In einem weiteren Shooting mit gleich fünf Models tritt Thomas mit einer anderen Geste des Fotografen auf. Er ist autoritär bis verächtlich, er zwingt den Models seine

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Vorstellungen auf, ist mit deren Umsetzung nicht zufrieden. Wichtig ist, wie Antonioni diese fünf Frauen inszeniert: Sie sind stumm, unter ihrer Schminke gleichen sie Puppen, und schließlich lässt der Fotograf sie wie Requisiten im Studio stehen, weil sie ihm nicht das geben, was er braucht – eine wenigstens vage Illusion von Leben, aus der er den schönen Schein schöpfen kann. Später wird es im Park zu einer weiteren Geste des Fotografierens kommen. Thomas macht zunächst einfache Schnappschüsse. Dann sieht er ein Paar, das er beobachtet und dann fotografiert. Antonioni inszeniert ihn nun wie einen Jäger, der in der Natur des Parks auf Raubzug geht – zu hören sind hier nur der Wind in den Bäumen, das Gezwitscher der Vögel und das Klicken seines Fotoapparats: Betrachtet man die Bewegungen eines mit einem Fotoapparat versehenen Menschen (beziehungsweise eines mit einem Menschen versehenen Fotoapparates), dann gewinnt man den Eindruck eines Lauerns: Es ist die uralte, pirschende Geste des paläolithischen Jägers in der Tundra. (Flusser, 1997a, S. 31)

Thomas bewegt sich in diesem Park wie ein Jäger auf der Suche nach einem Objekt, das er Bild werden lassen kann, das er erbeuten kann. Antonioni gestaltet diese Begegnung des Fotografen mit dem Paar im Park durch die Kamera und die Montage zu einem eigenartigen Wahrnehmungsraum. Er besteht aus deutlich voneinander getrennten Regionen: die, in der sich das Paar unbeobachtet fühlt, die, in der sich wiederum der Fotograf unbeobachtet fühlt, und einer dritten Region, die autonom von der Filmkamera als eigentlicher Enunziator des Geschehens geformt wird. Sie vollzieht Schwenks und verändert ihre Position, eröffnet somit eine Wahrnehmung auf das Paar und den Park, die nicht die von Thomas sein kann. Der Eindruck durch diese Kamerabewegungen ist folglich der, dass da noch jemand blickt, dass da noch jemand ist, der nicht sichtbar wird und im Außerhalb verbleiben muss. In diesem Wahrnehmungsraum vollzieht sich die Geste des Fotografierens als „eine Jagdbewegung, bei der Fotograf und Apparat zu einer unteilbaren Funktion verfließen. Die Jagd nach neuen Sachverhalten, nach noch nie vorher gesehenen Situationen, nach Unwahrscheinlichem“ (ebd., S. 37a): Die Filmapparatur, also Carlo Di Palmas Kamera, wird aber das, was der Fotograf zu sehen glaubt, was er fotografiert zu haben scheint, permutieren, verändern. „Der Mann mit seinem Apparat“, schreibt Flusser, „befindet sich nur für uns, die wir ihn beobachten, im Mittelpunkt der Situation, jedoch nicht für sich selber. Er glaubt sich außerhalb der Situation, denn er beobachtet sie“ (1997b, S. 104b). Der Fotograf im Park findet eine Situation, die er aus Gründen, die wir nicht kennen, fotografiert, aber er bleibt außerhalb, oder er glaubt sich außerhalb der Situation (Abb. 9). Die Fotokamera fungiert wie ein Schlüsselloch: Durch dieses kann Thomas alles sehen und wähnt sich zugleich den Blicken entzogen. Die Kamera scheint ein verbergender Apparat für Thomas zu sein, der ihn vom Jäger zum Voyeur werden lässt. Als Voyeur ist es für ihn kennzeichnend, dass er nicht Teil der Situation ist und dass er nicht bemerkt wird. Allerdings beobachtet die Filmkamera Thomas beim Beobachten, und sie eröffnet die Möglichkeit, dass noch eine andere, unsichtbar beobachtende Instanz anwesend ist, die sich nicht im Bild materialisieren

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Abb. 9   Der Jäger und seine Waffe inmitten seines Reviers innerhalb des von Antonioni etablierten Wahrnehmungsraums. Es geht darum den Blicken der Anderen zu entgehen, ohne dabei selbst an Übersicht einbüßen zu müssen (a+b). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

kann. Die verbergende Funktion des Schlüssellochs, welche die Fotokamera für Thomas zu haben scheint, wird allerdings paradox. Er glaubt, er könne mit der Fotokamera sein körperliches Ich, also das Ich, welches sich im Park befindet und gesehen werden kann, von dem sehenden Ich, also dem Ich, das fotografiert, abspalten. Diesen Glauben enthüllt die Filmkamera als Irrtum, in dem sie Thomas nicht nur in einen Wahrnehmungsraum stellt, in welchem er doch von den fotografierten Paar erblickt wird, sondern in dem vielleicht auch eine weitere, unsichtbar bleibende Instanz ihn wahrnimmt. Später, wenn Thomas die Fotografien entwickelt, vollzieht sich, indem er die eigenen Bilder nun interpretiert, eine bemerkenswerte Veränderung der Gesten. Die Geste des Fotografen, der zum Voyeur wird, wird nun zu der des Zeugen, der, ohne es zu wollen, durch seinen Akt des Fotografierens Beweise für ein Verbrechen besitzt. Allerdings macht Thomas niemals Anstalten, das vermeintlich fotografierte Verbrechen zu melden. Der Mord als Delikt interessiert ihn in keinster Weise. Thomas ist ein Voyeur und ein Zeuge, der desinteressiert ist an dem, was er fotografiert und bezeugen könnte. Desinteressiert an den Obdachlosen im Nachtasyl, desinteressiert an den Models, die er fotografiert, desinteressiert am Koitus, der nur simuliert wird. Desinteressiert im Grunde auch an dem, was er dann tatsächlich glaubt, in seinen Fotografien entdeckt zu haben. Der Voyeur und der Zeuge bilden also zwei Gesten, die für den Fotografen Thomas ohne Konsequenzen bleiben. Wenn Marshall McLuhan mit seiner Annahme Recht hat, dass die Fotografie und die von ihr geschaffene visuelle Welt „Sicherheitszonen der Gefühllosigkeit“ sind (1994, S. 309), dann wäre Thomas als Fotograf die menschgewordene Kamera. Thomas wird gezeigt, wenn er fotografiert und wenn er sich der Telekommunikation hingibt – er besitzt ein Funktelefon im Auto, wir sehen ihn ständig beim Telefonieren. Es entsteht so der Eindruck, dass Thomas sich immer nur dann sicher fühlt, wenn er einerseits fotografiert, also einen Apparat als Interface zwischen Wahrnehmung und Außenwelt positioniert, oder andererseits, wenn er durch Telekommunikation sich die Außenwelt auf Distanz hält: Er ist von seinen Prothesen (vgl. Freud 2009, S. 221 f.) nicht mehr zu

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trennen. Alles, was für ihn Welt ist und was er von der Welt sieht, was sich in ihr bewegt, jener ur-phänomenologische Standpunkt also, ordnet sich dem Aspekt der Fotogenität unter. Egal was er sieht, egal ob Elend oder Mord, die Haltung dieses Voyeurs scheint ethisch indifferent zu sein – und zwar aufgrund der Kamera. Der Fotograf Thomas kommuniziert aus der Ferne und distanziert sich von der Unmittelbarkeit der Erfahrung. Ein weiterer Aspekt fällt auf, nämlich der, dass Antonioni seinen Fotografen als einen Konsumenten von Alkohol und Drogen zeigt – Betäubungsmitteln, die die Wahrnehmung der Realität, das Bewusstsein also, in einer Realität situiert zu sein, verändern können. Die Halluzination über und die Fabrikation von Realität spielt also eine Rolle und verbindet Blow Up noch einmal mit Cortázars Erzählung. Denn Thomas ist auch Thomas der Lügner. Als die Frau aus dem Park die Negative verlangt, unterbricht ein Telefonanruf ihr Gespräch – und er behauptet der Frau gegenüber, dass am anderen Ende der Leitung seine Ehefrau sei, mit der er gemeinsame Kinder habe. Er erfindet sich eine Biografie, von der er dann aber im weiteren Gespräch zugibt, dass nichts von dem, was er eben ausführte, wahr sei. Thomas distanziert sich nicht nur von der Realität; es ist möglich, dass er sogar Einzelheiten der Geschichte halluziniert, wobei die Motivation unklar bleibt. Indifferenz, Voyeurismus und Zeugenschaft – zumindest der Glaube, als Fotograf etwas bezeugt zu haben, und die Frage, was es eigentlich ist, das er bezeugt hat – bestimmen die Figur des Fotografen.

1.6 To blow up Ohne Zweifel ist die berühmteste Sequenz in Blow Up die, in der Thomas die Fotos aus dem Maryon-Park entwickelt, vergrößert und dann wie ein Detektiv die Indizien, die die Fotos für ihn zu zeigen scheinen, zu entziffern versucht. Zunächst bedient er sich dabei einer Lupe, das klassische Instrument nicht nur von Fotografierenden, sondern auch von Detektiv*innen, um kleinste Details auf den durch die Vergrößerung immens grobkörnig gewordenen Fotografien erkennen zu können. Dann projiziert er die Fotos an eine Leinwand, er erstellt gewissermaßen aus den unbewegten Bildern einen kleinen Film, vergrößert sie, pinnt sie an die Wand, und dann geschieht etwas sehr Entscheidendes: Während der Fotograf vor diesen Bildern an der Wand steht, schwenkt Antonionis Kamera die Fotos ab und bewegt sich dabei hin und her. Der Fotograf macht weitere Vergrößerungen, er berührt die Fotografien sogar mit der Hand, um sich zu vergewissern, ob das, was er zu sehen scheint, auch tatsächlich da ist. Er stellt über die Fotografie, so könnte man sagen, einen Versuch her, die Realität, die abgebildet ist, zu ‚berühren‘. Wieder nimmt er die Lupe und markiert gar mit einem Stift einen Bildausschnitt, den er weiter vergrößert. Über die Fotografien, die er vergrößert und die er genau analysiert, will er der Realität nähertreten, die hinter der Oberflächenstruktur der Bilder liegt – und der einzige Weg scheint in der technischen Vergrößerung des Materials zu liegen, die dem Ziel nur zuwiderlaufen kann.

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Der Kameraschwenk markiert im Film selbst die wesentliche Differenz zwischen den beiden Medien Fotografie und Kinematografie: Die Fotografie ist das unbewegte Bild – durch den Schwenk der Kamera, durch die innere Montage der Szene, wird aus dieser Abfolge unbewegter Bilder nun eine kleine Erzählung, eine Erzählung dessen, was sich möglicherweise im Park ereignete und fotografiert wurde. Die Filmkamera geht also über das am Einzelbild sogar mit der Lupe nicht genau zu Erkennende hinaus, sie schafft Erzählung durch Bewegung, durch die Kreation eines Bewegungsbildes. Sie (er)schafft eine Interpretation der Ereignisse, von denen Roland Barthes behauptete, dass in der Ära der Moderne, im ‚Schwanken‘ des Sinns, sogar deren Identität infrage gestellt werde. Wenn Thomas also im Studio mit seinen Fotografien arbeitet, dann wird er vom Fotografen zum Wahrnehmenden, zum Zuschauer, und die Zuschauenden des Films beobachten ihn dabei, wie er zuschaut, wie er allmählich aus den Bildern eine Geschichte und eine Interpretation der Geschichte erzeugt. Dies ist ungemein anstrengend, denn Thomas' Gesicht ist plötzlich schweißnass. Er ist innerlich erregt, er nähert sich, so glaubt er, einem Geheimnis. Die körperliche Reaktion scheint ein Effekt des kinematografischen Bewegungsbilds zu sein, den das Publikum kennt, wenn es einen Thriller oder Horrorfilm sieht. Thomas ist mitten im ‚Kino seiner Fotografien‘. Eine weitere Vergrößerung des Ausschnittes wird hergestellt, und nun unterbleibt der Kameraschwenk. Eine Montage von Einzelbildern, wie im klassischen Erzählmuster im Nacheinander dessen, was im Park dort geschah, versucht eine Geschichte zu entwickeln. Eine Realität wurde Bild, die Fotografien scheinen diese Realität zu belegen. In seinem Buch über die Fotografie, das den Titel Die helle Kammer trägt, versucht Roland Barthes im Jahr 1980, das zu bestimmen, was er das „Noema", das Wesen der Fotografie nennt, und er kommt zu einer seither vielzitierten Bestimmung: „Der Name des Noemas der Photographie sei also: „Es-ist-so-gewesen“ oder auch: Das Unveränderliche.“ (1985, S. 87) Für Barthes ist klar, dass eine jede Fotografie (und er schreibt noch im Zeitalter der analogen Fotografie) etwas beglaubigt, was im Moment, in dem der Auslöser betätigt wurde, tatsächlich einmal in Realpräsenz vor der Kamera sichtbar war. Die Fotografie ist das Bestimmte, sie ist die „unbeschränkte, blinde und gleichsam unbedarfte Kontingenz“ (ebd., S. 12) und dadurch, wie er sagt, ihren Referenten immer im Gefolge. Das, was das Bild zeigt, war also tatsächlich einmal präsent. „Das Wesen der Photographie“, so schreibt Barthes weiter, „besteht in der Bestätigung dessen, was sie wiedergibt“ (ebd., S. 95), oder: „Jegliche  Photographie ist eine Beglaubigung von Präsenz“ (ebd., S. 97). Das ist genau das, was Thomas in jenem Moment, in dem er seine Fotos detektivisch untersucht, zu glauben scheint: Was er fotografiert hat, ist tatsächlich da gewesen, da die Kamera objektiv arbeitet. Was die Fotos zeigen, lässt sich zu einer Geschichte zusammenfügen, und diese Geschichte lässt für ihn nur einen Schluss zu. Aber dieses "Es-ist-so-gewesen" der Fotografie, von dem Barthes spricht, steht in dem Moment, in dem das Foto betrachtet wird, im Kontrast dazu, dass das, was im Foto da ist, eben nicht mehr da ist – es ist anwesend, aber als Körper nicht mehr präsent: Das Foto zeigt eine

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Leiche, es zeigt den Tod. Jacques Derrida hat in der Auseinandersetzung mit Roland Barthes‘ Theorie der Fotografie in seinem Buch „Die Tode von Roland Barthes“ ausgeführt, dass Barthes‘ Bestimmung der Fotografie – das Noema, das „Es-ist-sogewesen“ – etwas Gespenstisches hat: Das Foto zeugt von einer gespenstischen Kraft, von der Anwesenheit eines eigentlich längst Abwesenden, von einem „gespenstischspektrale(n) Erscheinen“ (1987, S. 35). Die detektivische Spurensuche des Fotografen wird erst durch ein Intermezzo mit zwei jungen Frauen unterbrochen, die offenbar von ihm als Models entdeckt und fotografiert werden wollen. Mit ihnen hat er Sex, aber er fotografiert sie nicht, jagt sie dann einfach aus dem Haus und kehrt in sein Studio zurück, um sich wieder mit den Fotos zu beschäftigen. Nun aber mit einem ganz wesentlichen Unterschied, denn Thomas bedient sich seiner Fotokamera, fotografiert eine dieser Fotografien noch einmal und stellt von diesem Foto eine Vergrößerung her. Auf der grobkörnigen Vergrößerung, also auf dem Foto eines Fotos, das allein schon deshalb die Konturen der Realität ins Grobkörnige auflöst, glaubt er nun, die Leiche zu entdecken. Doch diese Realität ist die einer zweiten Ebene, hyperreal im Sinne Baudrillards, weil sie nur aus einem bereits bestehenden Bild der ‚Realität‘ besteht, selbst aber keinen Bezug zur Realität mehr hat (vgl. 1982a, S. 112 f.). Die Fotografie einer Fotografie in der schon pointillistischen Auflösung der Realität, die Thomas für ein Testat, für einen Beweis eines Mordes hält, ist somit in der Tat genau das, was Derrida vom barthes’schen Noema sagt: Sie ist gespenstisch-spektral. Nachts dann, im Park, wo Thomas sich versichern will, dass die Leiche da ist, sehen wir ihn ohne Fotoapparat – er hat die Apparatur nicht dabei, die ihm bis dahin immer als Interface diente. Wir sehen in der Tat die Leiche des älteren Mannes, den wir zu Beginn des Films mit der Frau im Park sahen. Nun liegt sie da im Mondlicht und ähnelt einer Puppe, wie die Models, die Thomas fotografierte. Thomas berührt sogar kurz das Gesicht, so wie er vorher die Fotografie berührte, um sich der Realität zu versichern. Als er sich dann nach einem Besuch bei seinem Verleger erneut in den Park bewegt, ist die Leiche verschwunden – es bleibt offen, ob sie tatsächlich je mehr war als eine gespenstische Erscheinung. Am Morgen danach trifft Thomas im Park die Gruppe der maskierten Männer und Frauen, die in einer Art Happening durch die Stadt zieht und Pantomime aufführt. Im Park ist es die Pantomime eines Tennisspiels, und der Fotograf beobachtet sie. Höchst irritierend ist es, als die Kamera plötzlich dem imaginären Ballwechsel in einer Bewegung folgt, vergleichbar mit der, die wir zuvor in Thomas’ Studio gesehen haben, als die Kamera die Einzelbilder im Schwenk filmte. Die Kamerabewegung im Park, die einem nichtexistierenden Ball folgt, lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums auf jene Kamerabewegung, die die Vergrößerung der Fotos abtastete. Jetzt aber wird eine Realität von der Kamera geschaffen, von der wir sehen, dass sie nicht existent ist. Es ist, als hätte sich Antonionis Kamera von der Wahrnehmung des Fotoapparats und der des Fotografen losgesagt und zeige nun nicht mehr das, was Thomas halluziniert, sondern das, was wirklich da ist: nichts. Sie folgt dem Ball schließlich sogar, als er aus dem Spiel

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geschlagen wird. Es könnte sich aber auch die Perspektive des Fotografen geändert haben: Er läuft auf die Wiese, um diesen Ball zu holen, er hebt ihn auf, wirft ihn ins Spiel zurück – und weiß um dessen Nicht-Existenz, weiß um die fragmentierte Realität seiner Außenwelt und die Tatsache, dass seine Kamera und er selbst nur solche instabilen Fragmente verzeichnen können. Das Spiel mit dem Ball, den es nicht gibt, wäre ein Eingeständnis der Möglichkeit des Irrtums. Als das Tennisspiel neu in Gang kommt, hören wir auf der Tonspur nun sogar die Geräusche eines Ballwechsels. Die Irritation ist perfekt: Realität und Fiktion, Existenz und Nicht-Existenz, Wahrnehmung und Halluzination verschränken sich unentwirrbar und bilden eine Schranke, die den Zugang zur Wahrheit blockiert. Der Film wird beschlossen von einer Totalen, in der wir aus der Vogelperspektive auf Thomas herabblicken. Plötzlich verschwindet seine Gestalt aus dem Film, und es erscheint „The End“. Blow Up, der uns im intermedialen Spiel von Literatur, Fotografie und Film die Realität als etwas zeigte, was vielleicht nur im halluzinierenden Akt der Interpretation ‚Realität‘ genannt werden kann, entzieht seinem Publikum nicht nur den Glauben, dass es etwas wie Wirklichkeit geben könnte – der Film entzieht uns sogar den Protagonisten, entzieht uns den Helden, lässt den Menschen im Bild verschwinden. Schlussbemerkung. In seinem Buch Die Künste des Kinos kommt der Philosoph Martin Seel mit Blick auf Blow Up zum Schluss, „(…) dass weder die Fotografie noch der Film (…) der in ihnen aufscheinenden oder von ihnen erfundenen Wirklichkeit habhaft werden“ können (2013, S. 80). Was Realität ist, löst sich sogar im Wechselspiel der beiden Medien auf. Am Ende tritt der Fotograf ins Spiel der Simulation der Realität ein. Er tritt ein in das universale Medienzeitalter, in dem der Mensch keine Trennung mehr von seinen medialen Prothesen vornehmen kann. Der Weg dorthin führt über die Literatur (die Schrift und den Text) und die Fotografie (das unbewegte Bild) hin zum filmischen Bewegtbild. Vilém Flusser war der Auffassung, dass die Herrschaft der technischen Bilder nicht nur die Schrift, also den Text auflöst, so wie es sich zu Beginn des Films im Vorspann vollzieht, wenn die Buchstaben für die Bilder durchsichtig werden. Flusser war der Ansicht, dass sich im „Universum der technischen Bilder“ etwas vollzieht, was er „eine Mutation unserer Erlebnisse, Erkenntnisse, Werte und Handlungen, eine Mutation unseres In-der-Welt-Seins“ (1992, S. 9) nennt. Antonioni ist radikaler. Er lässt den Menschen verschwinden, wenn Thomas sich ins Nichts auflöst. Exemplarische Filme 1. Medienreflexive Filme • Musical: Applause (Applaus, USA 1929, Rouben Mamoulian); Moulin Rouge! (Moulin Rouge, USA/GB/AUS 2001, Baz Luhrmann), Once (IRL 2006, John Carney) • Film: C’est arrivé près de chez vous (Mann beißt Hund, BLG 1992, Rémy Belvaux et al.), Making of, le dernier film (Making of – Kamikaze, TUN et al. 2006, Nouri Bouzid), Wandafuru Raifu (After Life – Nach dem Leben, J 2003, Hirokazu Koreeda), Sennen joyû (Millenium Actress, J 2001, Satoshi Kon)

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• Theater: All About Eve (Alles über Eva, USA 1950, Joseph L. Mankiewicz), Kumonosu-jō (Das Schloss im Spinnwebwald, J 1957, Akira Kurosawa), Dogville (DK et al. 2003, Lars von Trier), Den-en ni shisu (Pastoral: To Die In The Country, J 1974, Shūji Terayama) • Gedicht: Зepкaлo (Der Spiegel, SU 1975,  Andrej Tarkovskij) • Literatur: Mishima: A Life in Four Chapters (Mishima – Ein Leben in vier Kapiteln, USA/J 1985, Paul Schrader), Suraj Ka Satvan Ghoda (IND 1992, Shyam Benegal) • Radio: Radio Days (USA 1987, Woody Allen), Tune in Tomorrow… (Julia und ihre Liebhaber, USA 1990, Jon Amiel), Aakashavaani (IND 2021, Ashwin Gangaraju) • Ars Acustica als Film: Blue (F 1993, Derek Jarman), 11′09″01 – September 11 (Segment: Mexiko, F 2002, Alejandro González Iñárritu) • Fernsehen: Network (USA 1976, Sidney Lumet), Videodrome (USA/CDN 1983, David Cronenberg), The Truman Show (Die Truman Show, USA 1998, Peter Weir), The Host (KOR 2006, Bong Joon-Ho) • Malerei: Caravaggio (GB 1986, Derek Jarman), Girl with a Pearl Earring (USA/ LU 2003, Peter Webber), Nran Guyne (Die Farbe des Granatapfels, UDSSR 1969, Sergej Paradschanow) • Computerspiel: Gamer (USA 2009, Mark Nevldine u. Brian Tayloir), Hardcore Henry (USA/RUS 2015, Ilya Naishuller), Scott Pilgrim vs the World (Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt, UK et al. 2010, Edgar Wright), Sucker Punch (USA 2011, Zack Snyder), Wreck-It Ralph (Ralph Reichts, USA 2012, Rich Moore) 2. Medienreflexive Adaptionen • Theater: La Ronde (Der Reigen, F 1950, Max Ophüls), gleichnamige Vorlage (1900) von Arthur Schnitzler; Smoking/No Smoking (F 1993, Alain Resnais), Vorlage: Intimate Exchanges (1982) von Alan Ayckbourn • Literatur: Journal d′un Curé de Campagne (Tagebuch eines Landpfarrers, F 1951, Robert Bresson), gleichnamige Vorlage (1936) von Georges Bernanos; Naked Lunch (CAN/GB 1991, David Cronenberg), frei nach der gleichnamigen Vorlage (1959) von William S. Burroughs • Gedicht: Poem (D 2003, Ralf Schmerberg), Vorlage: diverse deutsche Gedichte; Howl (Howl – Das Geheul, USA 2010, Rob Epstein/Jeffrey Friedman), gleichnamige Vorlage (1955) von Allen Ginsberg • Comic: Sin City (USA 2005, Robert Rodriguez, Frank Miller), gleichnamige Vorlage (1991–92) von Frank Miller; 300 (USA 2005, Zack Snyder), gleichnamige Vorlage (1998) von Frank Miller, Lynn Varley: Speed Racer (USA u. a. 2008, Wachowski-Schwestern), gleichnamige Vorlage 1966–68 von Tatsuo Yoshida • Malerei: Die Mühle und das Kreuz (PL 2011, Lech Majewski), Vorlage: Die Kreuztragung Christi (1564) von Pieter Bruegel des Älteren; Shirley – Visions of Reality (Shirley – Der Maler Edward Hopper in 13 Bildern, AUS 2013, Gustav

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Deutsch), Vorlage: diverse Gemälde von Edward Hopper; Loving Vincent (PL/GB 2017, Dorota Kobiela, Hugh Welchman), Vorlage: diverse Gemälde von Vincent Van Gogh; Yume (Akira Kurosawas Träume, J/USA 1990), Vorlage: diverse Gemälde von Vincent van Gogh • Computerspiel: Doom (USA et al. 2005, Andrzej Bartkowiak), Silent Hill (USA/F 2006, Christophe Gans), Uncharted (USA 2022, Ruben Fleischer) Literaturhinweise zur Intermedialität Bloom, Harold. 1975. A Map of Misreading. New York: Oxford University Press. Bloom, Harold. 1997. The Anxiety of Influence: A Theory of Poetry (2. Aufl.). Oxford: Oxford University Press. Broich, Ulrich und Manfred Pfister, Hrsg. 1985. Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: Niemeyer. Genette, Gérard. 1993. Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Haupts, Tobias/Kay Kirchmann, Jens Ruchatz. Hrsg. 2014. Medienreflexion im Film: Ein Handbuch. Bielefeld: transcript Verlag. Helbig, Jörg, Hrsg. 1998. Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin: Schmidt. Higgins, Dick. 1984. Horizons, The Poetics and Theory of the Intermedia. Carbondale: Southern Illinois University Press. Prümm, Karl. 1988. Intermedialität und Multimedialität. Eine Skizze medienwissenschaftlicher Forschungsfelder. In Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft, hrsg. Volker Bohn [u.a.], 195–200. Berlin: Ed. Sigma. Robert, Jörg. 2014. Einführung in die Intermedialität. Darmstadt: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft). Spielmann, Yvonne. 1998. Intermedialität. Das System Peter Greenaway. München: Wilhelm Fink. Stocker, Peter. 1998. Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien. Paderborn: Schöningh.

2 Medienkultur- und Poptheorie Ivo Ritzer Blow Up (GB/I/USA 1966), das sei ein Film über „das von der Pop-Kultur und dem Mode-Glamour geprägte ‚Swinging-London’ der mittsechziger Jahre“, so Bernd Kiefer (2002, S. 40) in seinem maßgeblichen Porträt von Michelangelo Antonioni. Kiefers Einschätzung kann paradigmatisch stehen für einen common sense in der Forschung zu

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Antonioni und Blow Up. Sie geht allerdings durch ihren genuin filmwissenschaftlichen Fokus kaum auf eben jenes, „von der Pop-Kultur und dem Mode-Glamour geprägte ‚Swinging-London’ der mittsechziger Jahre“ ein. Erst ein breiter angelegter medienkulturwissenschaftlicher Zugang ermöglicht es, die Signifikanz dessen zu erfassen, was durch Blow Up zentral ins Spiel gebracht wird: eine komplexe Diskursivierung spätmoderner Urbanität, in der das Leben durch Medien der Popkultur bestimmt ist. Mit Rockmusik und Jugendbewegung beginnen sich ab den frühen 1950er Jahren kulturelle Formationen zu etablieren, die als Pop zu bezeichnen sind und neben der musikalischen Artikulation bald auch spezifische Lebensformen implizierten: Popkultur. Diese Popkultur ist nicht identisch mit populärer Kultur, als musikzentrierte Form von Subkultur bildet sie vielmehr einen ihrer Bestandteile. Rockmusik als Partikel populärer Kultur wird bestimmt von einem Phänomen kultureller Vergemeinschaftung. Als „a way we experience our feelings and passions, a way, we identify ourselves“ (Street 1997, S. 167) ist ihm unmittelbar eine politische Dimension eigen. Für genau diese Dimension interessieren sich Medienkulturwissenschaft und Poptheorie. Das Dispositiv des Pop zeichnet sich dabei von Beginn an durch eine individualistische Sensibilität ebenso aus wie durch einen antibürgerlichen Gestus. Mit Ansätzen der Poptheorie ist es so zu verstehen als Repräsentation und Gestaltung von sozialen Konstellationen, als „affecting our perceptions and actions about politics“ (Combs 1984, S. 3). Es bringt zum einen kulturelle Wirklichkeiten hervor, zum anderen kann es diese aber auch transformieren. Das bedeutet, Popkultur besitzt nicht nur symbolische Funktion, sondern explizit handlungspraktische Relevanz. Wird Pop in seinem Fokus auf eine „ganze Palette von Pubertäts-, Jugend- und Lebensbewältigung“ (Höller 2001, S. 12) zunächst der so genannten ‚Hochkultur’ gegenübergestellt und als Waffe im Klassenkampf behauptet, herrscht heute weitgehend Ernüchterung, zeigt die Entwicklung seit den späten 1960er Jahren, mithin seit Antonionis Blow Up doch, dass mit Pop weniger Revolution zu machen ist als Geld. Pop als Garant von Authentizität und Transgression, als ein „Medium der Rebellion“ weicht einer Kultur von „Konsum, Party, Profit, Unterhaltung, Lifestyle, Mainstream“ (Chlada und Kleiner 2003, S. 344). Pop ist mithin zu historisieren als symbolische Form und kulturelle Praktik, die zum einen das Potenzial besitzt, mit ihrer Aggressivität eine Veränderung der Gesellschaftsordnung zu implizieren und zum anderen durch ihre Sinnlichkeit bereits die Ahnung einer befreiten Gesellschaft zu evozieren. Mit dem Scheitern der Rockmusik als Medium einer vermeintlichen Revolution im Zuge der Aufbruchstimmung nach 1968 geht jedoch die unleugbare Erkenntnis einher, dass systemkritische Pop-Kultur offenbar nur differente Warenstrukturen etikettiert und damit vermeintlich Widerständisches egalisiert. Sie scheint vielmehr Teil des Problems zu sein, als dessen Lösung sie einst aufgetreten ist (Abb. 10). Was tun, „wenn wir keinen Horizont der Emanzipation haben, wo leisten wir Widerstand?“, das ist freilich bereits eine Frage, die Jean-François Lyotard (1985, S. 69) keine

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Abb. 10   Frühe Logos der BBC-Musiksendung Top Of The Pops (1964–2006), die sich als Sprachrohr der britischen Jugendkultur verstand und inmitten der musikalischen Revolution der 1960er Jahre Aufstieg und Kommerzialisierung des Rock’n’Roll begleitete (a+b). Quelle: BBC, (© BBC Television)

zwanzig Jahre nach Blow Up etwas ratlos zurücklässt, weil keine lebbare Zukunft mehr zu existieren und jede Hoffnung auf Veränderung gescheitert scheint. Alle kritischen Impulse sind für Lyotard in Ineffektivität versandet, a priori zum Scheitern verurteilt gegenüber einer ebenso omnipräsenten wie omnipotenten Macht des kapitalistischen Status quo. Wo Widerstand leisten – für Pop wie Poptheorie ergibt sich mithin dasselbe Problem, mit dem auch der kritisch motivierte Ansatz der Medienkulturwissenschaft und seinem primären Anspruch einer „Kritik der Macht“ (Winter 2001) zu kämpfen hat. Die Medienkulturwissenschaft richtet den Fokus auf alltägliche Praktiken und Tendenzen der populären Gegenwartskultur und untersucht deren Mechanismen der Machtkonstitution. Insbesondere zeitgenössische Objekte aus den audiovisuellen Medien kommen dabei zur Sprache. Im Folgenden gilt es entsprechend, einige der zentralen Ansätze von Medienkulturwissenschaft und Poptheorie herauszustellen und exemplarisch auf Antonionis Blow Up zu beziehen, insbesondere auf die zentrale Sequenz des Clubauftritts der frühen Rockgruppe The Yardbirds (Abb. 11). Die Medienkulturwissenschaft und die Poptheorie nutzen einen eklektischen Ansatz als Meta-Paradigma und beziehen sich dabei auf verschiedene Paradigmen wie die Kritische Theorie im deutschen, die Cultural Studies im britischen und die Medienontologie im französischen Kontext. Im Rahmen dieser Perspektiven wird Blow Up im Folgenden einer kritischen Analyse unterzogen und erweist sich als besonders geeigneter Gegenstand für die Untersuchung: als Affirmation und simultane Dekonstruktion von Popkultur, die jene „Welt hektischer-schriller Oberflächlichkeit, in der Sein vollständig zu Design geworden ist,“ (Kiefer 2002, S. 40) gleichsam konstituiert wie subvertiert.

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Abb. 11   Die Inszenierung von Authentitzität und Rebellion, die den Bühnenauftritt in Blow Up bestimmt, zeigt sich auch in anderen Vermarktungsbereichen der Popmusikbranche. So posieren die Bandmitglieder der Yardbirds schroff, herausfordernd oder unbeeindruckt auf diesem Promofoto. Von links nach rechts: Jeff Beck, Jim McCarty, Chris Dreja, Jimmy Page, Keith Relf. Quelle: Repertoire Records, © Gered Mankowitz

2.1 Kritische Theorie und Cultural Studies Antonionis Inszenierung des Auftritts der Yardbirds in Blow Up bringt bereits anno 1966 sowohl Glanz als auch Elend von Popkultur auf den Punkt. Zum einen ist da das utopische Versprechen der Rockmusik in der Konstitution von Subkultur durch sonischen Exzess: die Vorstellung einer befreiten Gesellschaft, die durch Vielfalt Würde erhält, das heißt: "dem Heterogenen Gerechtigkeit widerfahren" (Adorno 1970, S. 285) lässt. Zum anderen jedoch separiert Antonioni das Kollektiv von Musikern, die sich und ihre Instrumente bis zur (Selbst)Zerstörung verschwenden, von einem Publikum, das beinahe regungslos der exzessiven Performance beiwohnt (Abb. 12). Diese radikale Trennung von Produzenten und Konsumenten lässt sich lesen als Reflexion jenes nahtlosen Übergangs vom kritisch-dissidenten „Pop I“ zum affirmativkonsensuellen „Pop II“ (vgl. Diederichsen 1999, S. 272 ff.): von einem konfrontativen Impetus zu einer Verherrlichung der Unterhaltung, die einerseits evident macht, dass die kulturindustrielle Konstellation durch kreativen Konsum wohl nicht zu untergraben ist und andererseits klarstellt, dass Pop keinen archimedischen Standpunkt einnehmen kann, von dem aus kapitalistische Ökonomie systematisch zu überwinden wäre. Die traditionelle marxistische Polarität von Innen und Außen scheint durch mangelnde Effektivität popkulturellen Protests aufgehoben. Theodor W. Adorno und die Kritische Theorie freilich adressieren das Problem bereits lange zuvor:

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Abb. 12   Differenz zwischen Performance (a) und Publikum (b). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

Die Alternative, Kultur insgesamt von außen, unter dem Oberbegriff der Ideologie in Frage zu stellen, oder sie mit den Normen zu konfrontieren, die sie selber auskristallisierte, kann die kritische Theorie nicht anerkennen. Auf der Entscheidung: immanent oder transzendent zu bestehen, ist ein Rückfall in die traditionelle Logik. (1976, S. 25)

Für Adorno tragen sowohl Transzendenz als auch Immanenz das Stigma von Totalität und Repression, denn erstere beziehe einen gesellschaftsfernen Standpunkt und letztere verfestige die sozioökonomische Verdinglichung. Kulturindustrie darf im adornitischen Sinne nicht als bloßes Kulturmonopol begriffen werden, sondern sie adressiert vielmehr die Funktion kultureller Produktion im Spätkapitalismus per se. Eine Alternative zur Totalität der Kulturindustrie scheint schlichtweg nicht zu existieren. Denn einerseits nähren auch Praktiken subkultureller Herkunft kapitalistische Strukturen, indem sie auf einem Nischenmarkt neue Subjektivitäten schaffen, die gleichfalls als Konsumierende wie Produzierende an der Verwertung von Waren beteiligt sind. Andererseits wird die

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Dichotomie zwischen Nische und Mainstream von der Kulturindustrie selbst gespeist, wenn sie auf artifizielle Weise eine distinktive Konkurrenz von kulturellen Feldern generiert, deren hierarchische Struktur im Wechselspiel von Tradition und Innovation entscheidend zur Fortexistenz der kulturindustriellen Konfiguration beiträgt. Kulturelle Dissidenz fungiert demnach als produktiver Motor eines konformitätsstiftenden Marktes. Wenn Adorno eine dialektische Kritik einfordert, dann wäre mithin nach Praktiken von Pop zu fragen, die an der Kulturindustrie teilhaben und zugleich nicht Teil davon sind. Nur als dialektische Negation ließe er sich aus Perspektive der Kritischen Theorie für einen emanzipatorischen Diskurs retten. Die Yardbirds könnten durchaus in solch einer Negation situiert werden. Sie bleiben zur Vergemeinschaftung zwar angewiesen auf mediale Kanäle (und deren Warencharakter), partizipieren aber nicht unmittelbar an kulturindustriellen Strukturen: In Blow Up performen sie nicht nur einen nie veröffentlichen Song – „Stroll On“, eine Adaption des Stücks „Train Kept A Rollin‘“, wiederum Cover-Version eines klassischen afroamerikanischen Blues-Standards –, auch die Besetzung der Yardbirds mit den beiden Lead-Gitarristen Jeff Beck und Jimmy Page ist eine, die es auf Tonträger niemals zu hören gab. In einer spezifisch postkolonialen – und durchaus problematischen, weil sehr essentialisierenden Volte – scheint bei Antonioni jedoch nur ein Schwarzer im Publikum ‚authentischen’ Zugang zu den Yardbirds zu besitzen. Sein Tanz, inmitten statischer Weißer, stellt eine Verifikation her zwischen dem von der britischen Band appropriierten Blues und afrikanischer Erfahrung. Wo die Kritische Theorie der Frankfurter Schule von einer dialektischen Negation ausgeht, beziehen sich die angelsächsischen Cultural Studies auf emergente Strukturen. Mit dem Begriff der Emergenz rekurrieren sie primär auf Überlegungen von Raymond Williams, der mit Antonio Gramsci die Komplexität von Kulturen definiert sieht durch die mehrdimensionale Überlagerung und dynamische Interaktion sozialer wie kultureller Prozesse. Für Williams darf sich der analytische Blick auf die historische Situation einer bestimmten Epoche nie in der bloßen Bestandsaufnahme einer dominanten Ideologie erschöpfen, vielmehr hat er sich stets auch zu richten auf all jene Tendenzen, die sich in den hegemonialen Machtmomenten nicht subsumieren lassen. Williams und die Cultural Studies betonen eine Existenz von peripheren und marginalen Kräften außerhalb des Zentrums, deren Potential in der Artikulation von differenten, devianten Positionen liegt. Sie sprechen daher neben dominanten auch von residualen und emergenten Elementen, wobei das Residuale jene Bereiche zu fassen versucht, die als Tradition aus der Vergangenheit in die Gegenwart reichen, während das Emergente neue kulturelle Bedeutungen adressiert, die nur schwer zu beschreiben, weil noch nicht ausartikuliert sind: [N]ew meanings and values, new practices, new significances and experiences, are continually being created. […] There is a simple theoretical distinction between alternative and oppositional, that is to say between someone who simply finds a different way to live and wishes to be left alone with it, and someone who finds a different way to live and wants to change the society in its light. This is usually the difference between individual and small-group solutions to social crisis and those solutions which properly belong to political

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and ultimately revolutionary practice. But it is often a very narrow line, in reality, between alternative and oppositional. A meaning or a practice may be tolerated as a deviation, and yet still be seen only as another particular way to live. But as the necessary area of effective dominance extends, the same meanings and practices can be seen by the dominant culture, not merely as disregarding or despising it, but as challenging it. (Williams 2005, S. 42)

Für Williams und die Cultural Studies geht es mithin um mediale Formen, die als Präfigurationen kultureller Veränderung fungieren. Wo residuale Kräfte nicht in direkter Opposition zur dominanten Ordnung stehen und in diese integriert werden können, obliegt es den emergenten Kräften, neue Strukturen zu schaffen. Fredric Jameson, US-amerikanischer Theoretiker zwischen Kritischer Theorie und Cultural Studies, hat entsprechend in seinen Ausführungen das politische Potential von Populärkultur konkretisiert. Wie Jameson eindrucksvoll zeigen kann, lassen sich utopische Momente überall und in jeder, auch noch so kapitalistisch überformten Gesellschaftsform lokalisieren. Dabei kommt gerade dem Raum des Populären entscheidende Bedeutung zu. Jameson argumentiert, dass utopische Potentiale stets gegen in der Massenkultur ebenfalls omnipräsente Ideologeme opponieren und dabei deren exploitative Herr-Knecht-Dialektik zu untergraben verstehen. Mithin existieren für Jameson in jedem Artefakt populärer Kultur zwei konträre Tendenzen: zum einen das ideologische Bewusstsein bezüglich einer vermeintlichen Natur der sozialen Relationen, zum anderen die Utopie hinsichtlich der unrealisierten Möglichkeiten des verdinglichten gesellschaftlichen Lebens. „To reawaken, in the midst of a privatized and psychologizing society, obsessed with commodities and bombarded by the ideological slogans of big business“, konstatiert Jameson, „some sense of the ineradicable drive towards collectivity that can be detected, no matter how faintly and feebly, in the most degraded works of mass culture just as surely as in the classics of modernism“ (1992, S. 34). Selbst in den kapitalistisch überformtesten Waren wirken folglich widerständige Kräfte, die als Enklave in ihre Fiktion eingelassen sind. Jameson wendet sich so verdientermaßen gegen einen reduktiven Vulgärmarxismus, dem Produkte populärer Kultur nur als Gegenstände eines universellen Verblendungszusammenhangs erscheinen können, das in den Konsumierenden nichts als falsches Bewusstsein zu produzieren vermag. Mit Jameson jedoch wird es möglich, in Popkultur nicht lediglich ideologische Manipulation und Gleichschaltung der Masse zu lokalisieren, sondern stattdessen vielmehr ein Potential an Utopie aufzuspüren, das eine Überwindung von Unterordnung verspricht: The works of mass culture cannot be ideological without at one and the same time being implicitly or explicitly Utopian as well: they cannot manipulate unless they offer some genuine shred of content as a fantasy bribe to the public about to be so manipulated. (1992, S. 29)

Notwendigerweise muss die populäre Utopie damit auf mehr oder weniger schwere Fragen immer mehr oder weniger einfache Antworten finden. Gerade in ihrer stets

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simplifizierenden Zuspitzung aber liegt die besondere Qualität der Utopie: Sie macht überdeutlich, welche Missstände im Gegebenen es zu überwinden gilt. Eben ihre Kritik ex negativo zeichnet die Utopie für Jameson dabei auf genuine Weise aus. In Kontrast zum stereotypen Idyll entwirft sie nicht das Bild einer besseren Welt, sondern adressiert vielmehr denjenigen Malus im sozialen Gefüge, der auf dem Weg in eine bessere Zukunft beseitigt werden muss. Ihre spezifische Leistung ist mithin das konstitutive Moment der Negativität, durch welches ideologische Begrenzungen des Bestehenden umso nachhaltiger transparent zu Tage treten können. Auch wenn es der Utopie für Jameson also konträr zum Idyll nicht möglich ist, die Zukunft positiv zu skizzieren, reflektiert sie durch ihre Negativität dennoch unweigerlich das (noch) Unmögliche und transzendiert gerade dadurch die Begrenzungen des Heute. In diesem Sinne partizipiert das Swinging London von Blow Up zweifellos an der „ästhetisierten Oberfläche“, die Bernd Kiefer nicht zufällig an „Hochglanzmagazine und ihre Warenästhetik erinnert“, zugleich aber wird dieser Entwurf einer „Welt, die nur noch schön sein will“, die allein „auf ihre Sichtbarkeit, auf ihre Ausstellbarkeit als Modus ihrer Existenz angewiesen“ (2002, S. 40) ist, unweigerlich auch kritisch gewendet. Gerade im Auftritt der Yardbirds blitzt ein Jenseits der Ästhetisierung auf: eine neoromantische Verschwendung in der Musik, die den Gitarrenvirtuosen Jeff Beck als Zeremonienmeister hat und schließlich im radikalen Rauschen der Rückkoppelungen gipfelt (Abb. 13). Für die Rezipienten und Rezipientinnen von Blow Up – wenn schon nicht das apathische Publikum der Diegese – kann sich mithin ein Potenzial an Wunscherfüllung realisieren, das dezidiert utopistische Perspektiven vorgibt. Der scheinbaren Flucht vor

Abb. 13   Verschwendung im Rauschen der Rückkoppelungen: Zeremonienmeister Jeff Beck. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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dem Alltag steht in Form musikalischer Gegenwelten eine Erfüllung von Wünschen und Sehnsüchten gegenüber, die unbedingt ernst genommen werden will. Denn in seiner Formulierung von Alternativen zum Bestehenden transgrediert Pop immer auch die für ihn konstitutiven Produktionsgrundlagen einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Wie Richard Dyer in seinem wegweisenden Aufsatz zum Hollywood-Musical gezeigt hat, liegt eben in der symbolischen Wirkung von Pop als lustvoll erlebtes Vergnügen seine besondere Wirkmächtigkeit: Two of the taken-for-granted descriptions of entertainment, as ‚escape‘ and as ‚wishfulfilment‘, point to its central thrust, namely, utopianism. Entertainment offers the image of ‚something better‘ to escape into, or something we want deeply that our day-to-day lives don’t provide. Alternatives, hopes, wishes – these are the stuff of utopia, the sense that things could be better, that something other than what is can be imagined and maybe realised. (2002, S. 20)

Obwohl also Unterhaltung aus oppressiven politisch-ökonomischen Zusammenhängen hervorgehen mag, heißt dies nicht zwangsläufig, dass Unterhaltung das kapitalistische Sinnsystem ungebrochen reproduziert. Stattdessen eröffnet sie vielmehr stets Spielräume semantischer Zuschreibungen, die sich als widerständige Alternativen zum Bestehenden quer gegenüber dem Status quo positionieren. Aus dieser Perspektive wird die Aushandlung der Lesart einer Fiktion zwischen Produktion und Rezeption zum konstitutiven Prozess von Popkultur generell – erst durch ihn wird die Macht über das Unterhaltungsprodukt, seiner interpretatorischen Lektüre und seiner sozialen Handlungsimplikationen entschieden. In der Popkultur sucht das Subjekt daher freiwillig nach der Befriedigung von Bedürfnissen, die ihm außerhalb der Fiktion generell oder zumindest temporär nicht erfüllt werden können. Das Rezipieren der Fiktion verspricht durch Projektion von Wünschen in der Unterhaltung demzufolge eine Kompensation des Mangels und macht aus dem utopistischen Bedürfnis zugleich ein materielles. So referenziert Pop immer tatsächliche soziale Mängel ebenso wie er ein tatsächliches Desiderat formuliert, das durch ihre Intervention symbolisch ausgeglichen wird. Deshalb kann Popkultur nie außerhalb sozialer Kontexte stattfinden, obgleich sie im Sozialen doch Möglichkeitshorizonte eines Anderen eröffnen. Popkultur ist zwar nicht außerhalb von Macht zu denken, artikuliert kein Anderswo jenseits von Macht im Sinne einer machtfreien Gesellschaft. Dennoch bringt sie sich im Zentrum der Macht selbst als deren Alternative zur Geltung. Im Sinne der uneingelösten Versprechen kapitalistischer Regime setzt sie an Leerstellen an und füllt diese mit dem zur Verfügung stehenden Material: „entertainment provides alternatives to capitalism which will be provided by capitalism“ (ebd. 2002, S. 27). Demzufolge muss die Utopie der Unterhaltung notwendigerweise an den Bedürfnissen ihrer Rezipienten und Rezipientinnen ansetzen und dabei das Moment der Differenz zwischen dem Existenten und dem Potentiellen anführen: „To be effective, the utopian sensibility has to take off from the real experiences of the audience. Yet to do this, to draw attention to the gap between what is and what could be, is, ideologically

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speaking, playing with fire“ (ebd. 2002, S. 27). Das Paradox der Popkultur liegt also in ihrer simultanen Affirmation wie Subversion dominanter Machtrelationen. Worauf Dyer besonderen Wert legt, ist dabei die Bedeutung von Unterhaltung als spezifischer Form der Codierung von Affekten. Im Gegensatz zu einer konventionellen hermeneutischen Interpretation richtet sich sein Interesse nicht so sehr auf den geplanten Entwurf utopischer Welten, sondern vielmehr auf deren emotionale Grundierung: Entertainment does not, however, present models of utopian worlds as in the classic utopias of Thomas More, William Morris, et al. Rather the utopianism is contained in the feelings it embodies. It presents, head-on as it were, what utopia would feel like rather than how it would be organized. It thus works at the level of sensibility, by which I mean an affective code that is characteristic of, and largely specific to, a given mode of cultural production. (ebd. 2002, S. 20)

Das bedeutet, Unterhaltung mag nicht im philosophischen Sinne an der Konstruktion von Utopien operieren. Jedoch aber vermag sie über affektive Konstellationen und der daraus resultierenden erhebenden Atmosphäre eine Ahnung davon zu vermitteln, wie es sich anfühlen könnte, in einer besseren und gerechteren Welt zu leben. Über das Angebot intensiver Erfahrungen von Überfluss, Energie oder Gemeinschaft werden Imagination und Gefühlswelt der Rezipienten und Rezipientinnen sinnlich stimuliert, um damit eine als defizitär und fragmentiert erfahrene Alltäglichkeit zu überschreiten. Dies bringt Dyer in einer ingeniösen Volte seiner Argumentation dazu, sich nicht auf die von Audiovision entworfenen Narrativen sondern auf deren nicht-referentielle Zeichen zu fokussieren, mithin eben das, was sich der sprachlichen Repräsentation entzieht, nichtsdestotrotz jedoch wiederum als dessen Voraussetzung funktioniert. Denn gerade dort lokalisiert er das eigentliche utopistische Potential: This code uses both representational and, importantly, non-representational signs. There is a tendency to concentrate on the former, and clearly it would be wrong to overlook them – stars are nicer than we are, characters more straightforward than people we know, situations more soluble than those we encounter. All this we recognize through representational signs. But we also recognize qualities in non-representational signs – colour, texture, movement, rhythm, melody, camerawork – although we are much less used to talking about them. (ebd. 2002, S. 20)

Die große Herausforderung für den analytischen Blick liegt also in der elementaren Bedeutung einer medialen Performanz mittels Elementen wie Farbe, Textur, Bewegung, Rhythmus oder Melodie, durch welche die Rezeption der Subjekte gelenkt wird. Sie ist es, die rezeptionsseitige Aufmerksamkeit weckt und damit ein genuin ästhetisches Erfahren utopistischer Gratifikation bedingt. Wenn also ein zentrales Element von Pop in dem Aufzeigen der Möglichkeit einer anderen Welt liegt und dieses Aufzeigen in seiner nicht-referentiellen Performanz entsteht, dann muss eine fundierte Reflexion von Pop gerade das komplexe Spiel der Zeichen jenseits ihrer bloßen Repräsentanz anzugehen wissen. In diesem Sinne verfolgen die Yardbirds in Blow Up eine Strategie ästhetischer

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Abb. 14   Irreduzibler Eigenwert der Performanz. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

Negativität, die weder referentiell noch repräsentativ arbeitet, sondern vielmehr in der Betonung des Materials selbst ihr Telos findet. So wie sich Blow Up im Fokus auf Mode und Werbung generell als eine Apotheosis der „Oberfläche der Welt“ (Kiefer 2002, S. 40) lesen lässt, rückt auch die Performance der Yardbirds eben das materielle Moment kultureller Praxis ins Zentrum. Als autonome mediale Vermittlungsinstanz produziert ihr Auftritt einen irreduziblen Eigenwert, der vor und jenseits aller Symbolisierung sich zur Erscheinung bringt. Seine Ästhetik ist somit weniger bezogen auf prozessuale Kommunikation von Inhalten, vielmehr tritt ihre punktuelle Ereignishaftigkeit als performativer Akt ins Zentrum (Abb. 14).

2.2 Popanalyse und Medienontologie In Kontrast zu den neomarxistisch inspirierten Ansätzen von Kritischer Theorie und Cultural Studies steht im Rahmen medienkulturwissenschaftlicher Zugänge, was Gilles Deleuze und Félix Guattari 1980 in den „Tausend Plateaus“ als Projekt der „Pop-Analyse“ (2002, S. S. 40) vorgestellt haben. Ihr, sowohl der Kritischen Theorie wie auch den Cultural Studies gegenüber situiertes Gesellschaftsmodell, geht von ebenso alinear wie undialektisch organisierten Plateaus aus, die es im Sinne einer mikropolitischen Beschreibung soziokultureller Strukturen zu erfassen gilt. Deleuze und Guattari denken dabei nicht geschichtlich, sondern geographisch, sie gehen aus von einer nichthierarchisch organisierten Struktur sozialer Schichten, die in sich selbst vibrieren, ausfransen und letztlich keinerlei Kontrolle unterliegen. Immer entgeht ihnen etwas an Leckstellen, die nicht zu schließen sind. So wie Gesellschaft stets nur als Provisorium existieren kann, wird sie ständig durch molekulare Strömungen infrage gestellt. „Es

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heißt zu unrecht“, sagen Deleuze und Guattari, vor allem mit Blick auf den traditionellen Marxismus, „daß eine Gesellschaft durch ihre Widersprüche definiert wird. Das stimmt nur im großen und ganzen [sic]. Aus der Sicht der Mikropolitik wird eine Gesellschaft durch ihre Fluchtlinien definiert, die molekular sind. Immer fließt oder flüchtet etwas, das den binären Organisationen entflieht, dem Resonanzapparat, der Übercodierungsmaschine entgeht“ (2002, S. 294 f.). Die oppositionelle Politik der Mikroebenen produziert fortwährend nicht zu nivellierende, nicht-signifikante Brüche in der dominanten Kultur, wodurch eine Binarität zwischen Mainstream und Minderheit keine Relevanz besitzt. Vielmehr erscheinen alle kulturellen Felder in ständigen Prozessen des Austausches und der Umschichtung begriffen. Sie bringen folglich permanent Fluchtlinien hervor, die Räume der Differenz eröffnen. Ihr Potential ist es daher, durch produktives Chaos zu deterritorialisieren: „Deshalb kann man niemals einen Dualismus oder eine Dichotomie konstruieren“ (ebd., S. 19). Stattdessen durchläuft bei Deleuze und Guattari eine temporär formierte Polarität von Mainstream und Subkultur (auf der Makroebene) im Moment seiner Konstitution bereits die eigene Dekonstruktion durch molekulare Linien der Deterritorialisierung (auf der Mikroebene). Der Popanalyse geht es mithin um die Bildung von Konsistenzebenen, das heißt Deleuze und Guattari wollen Linien von Intensitäten bündeln, die sich im sozialen Raum bewegen. Für sie existiert „ebensowenig eine Struktur wie eine Genese. Es gibt nur Verhältnisse von Bewegung und Ruhe, von Schnelligkeit und Langsamkeit, […] nur Diesheiten, Affekte, Individuationen ohne Subjekt, die kollektive Gefüge bilden“ (ebd., S. 362). Deshalb ist das Ziel der Popanalyse von Deleuze und Guattari eine Mobilisierung der Gefüge und flottierenden Mehrwerte der Zeichen: ein Nomadisieren auf den Kompositionsebenen und permanentes In-Bewegung-Bleiben. Eben diese Fokussierung von nicht zielgerichteten Intensitäten kann insbesondere der YardbirdsSequenz von Blow Up sicherlich attestiert werden. Programmatisch kulminiert Antonionis Inszenierung in einer Rückkoppelungsorgie, die Jeff Beck an Gitarre und Verstärker perpetuiert, bis der Musiker schließlich sein Instrument gar selbst zerstört. Klänge und ihre Verbindungen sind hier nicht mehr explizierend oder gar erkenntnisstiftend eingesetzt, die Yardbirds setzen vielmehr auf den dekonstruktiven Effekt der Redundanz, im Rahmen dessen auch Text und Gesang – „Stroll On“ – nur als weitere Klangelemente fungieren, die im Rauschen der Rückkoppelungen verschwinden. Statt des Inhaltes apostrophieren sie den Ausdruck, und der soll nicht auditiv wirken, sondern körperlich affizieren. Er wirkt viszeral statt konzeptuell, will nicht interpretiert werden, sondern zielt vielmehr direkt auf das Fleisch. Anstelle eines Teils wird das Ganze adressiert, die Vibrationen des Trommelfells gehen über in Schwingungen des Leibes. Ein nicht fixierbares Rauschen der Klänge entsteht, das allen Sinn straucheln lässt. Die Performance der Yardbirds arbeitet daran, autosignifizierend zu operieren, das heißt auf eine Signifikantenkette ohne Signifikant oder besser: einer Leerstelle als Signifikat zu setzen. Diese Leerstelle steht für sich sich selbst oder für andere Leerstellen und bleibt dabei in permanentem Fluss begriffen. Im Rauschen entfalten sich die materiellen Signifikanten, ohne einem Zwang zum Signifikat zu unterliegen. Ihre Inkommensurabilität und Opazität zerschlägt jede linguistische Kohärenz,

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bringt das leere Bedeuten ebenso zur Geltung wie die Bedeutung der Leere. Als Rauschen des Sinns konstituiert Pop einen amorphen Raum des Hörens, jenseits diskursiver Kommunikation: als vorbegrifflich, das heißt rituell organisierter Sound (Abb. 15). Im Modell der Popanalyse von Deleuze und Guattari ist – durchaus im Akkord mit Michel Foucault (1978) – noch immer eine Differenz zwischen Macht und Oppression vorausgesetzt. Konträr dazu stellt die Medienontologie von Jean Baudrillard, explizit gegen Adorno, Foucault wie Deleuze gerichtet, die Existenz oppressiver Machtstrukturen als disziplinierende wie auch pastorale Kraft auf radikale Weise infrage. Für Baudrillard manifestiert Macht sich nur dort, wo ihr eine imaginative Präsenz zukommt, das heißt, wo an ihr Dasein geglaubt wird. Ansonsten sei sie abwesend und konstituiere gerade dadurch den perfekten Diskurs. Die bei Adorno, Foucault wie Deleuze und

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Abb. 15   Viszerale Performance als Straucheln des Sinns (a+b). Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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Foucault noch hypostasierte Omnipräsenz der Macht, gegen die Widerstand zu leisten wäre, wird bei Baudrillard zum Simulakrum, das sich die virtualisierten Subjekte selbst generieren. Macht existiert nur noch, um ihr Verschwinden in den medialen Maschinen zu kaschieren: Die Macht hat sich nicht immer für die Macht gehalten, und das Geheimnis der großen Politiker war zu wissen, daß es die Macht nicht gibt, daß sie nur ein Simulationsraum ist wie der perspektivische Raum in der Renaissancemalerei. Wenn die Macht verführt, dann geschieht das, weil sie ein Trugbild ist […], weil sie sich in Zeichen verwandelt und auf Zeichen hin entwirft. (Baudrillard 1982a, b, S. 72)

An die Stelle einer Omnipräsenz der Macht tritt für Baudrillard eine radikale Immanenz der Zeichen, die sich nur noch auf sich selbst beziehen und keine Referenten mehr besitzen. Baudrillard konstatiert eine durch mediale Codes generierte Simulation, die in ihrer Totalität eine letztlich intransitorische Medienkultur evoziert. In der Simulation koaleszieren Aktuelles und Virtuelles miteinander, sodass es mit Baudrillard zu einer universalen „Agonie des Realen“ (1978a) kommt. Denn das Simulacrum der Welt nimmt eine Aufhebung aller Referenten beziehungsweise ihrer künstlichen Reanimation in neuen Zeichensystemen vor: „In Wirklichkeit ist das große Medium das Modell. Das Mediatisierte ist nicht das, was durch die Presse, über das Fernsehen und das Radio läuft – sondern das, was von der Zeichen/Form mit Beschlag belegt, als Modell artikuliert und vom Code reguliert wird“ (Baudrillard 1978b, S. 99). Differenzen zwischen medialem Raum und extramedialem Raum können demnach nur noch simuliert werden. Baudrillard erkennt eine radikale „Referenzlosigkeit der Bilder“ (1978a, S. 10), womit er auch eine Differenz zwischen ‚Wahrem’ und ‚Falschem’ als simulierte Scheindifferenz ausweist. Wirklichkeiten werden nach Baudrillard immer erst durch technologische Medien konstatiert und konstituiert. Diese mediale Entwicklung macht die Trennung von Medien und ihren Referenten sinnlos. Die Simulation umschließt mithin den gesamten Raum der Repräsentation: „Es geht nicht mehr um die Imitation, die Verdoppelung oder um die Parodie“, erklärt Baudrillard: „Es geht um die Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen“ (1978a, S. 9). Baudrillard argumentiert damit aus einer Perspektive der Posthistoire, anders als etwa Arnold Gehlen (1971) jedoch nicht aufgrund einer anthropologischen, sondern medienontologischen Matrix. Denn für ihn sind es audiovisuelle Massenmedien, die Wirklichkeit nur noch als Inszenierung erscheinen lassen. Medien simulieren Realität über das Einziehen der Differenz zwischen Wirkung und Ursache: Vor allem die modernen Medien haben jedem Ereignis, jeder Erzählung und jedem Bild einen Simulationsraum mit grenzenloser Flugbahn eröffnet. Jedes Faktum, jedes politische, historische oder kulturelle Merkmal erhält bei seiner Verbreitung durch die Medien eine kinetische Energie, die es für immer einem eigenen Raum entreißt [...]. Natürlich hat das Konsequenzen für die Geschichte. Damit ist der ‚Récit’, die Erzählung, unmöglich geworden, bedeutet er doch definitionsgemäß (re-citatum), daß ein Sinn zurückverfolgt werden kann. (1990, S. 69)

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Durch eine Beschleunigung der medialen Zirkulation wird einerseits schon die Möglichkeit zur Schreibung von Geschichte negiert. Andererseits offerieren die Massenmedien einem simulativen Zugang zu Historie, wenn sie ihr Publikum kontextuell zu einer Vergangenheit situieren, die längst nicht mehr direkt erfahren werden kann. Geschichte hat den Raum gewechselt und findet lediglich noch medial als ihr eigenes Double statt. Für Baudrillard resultiert daraus eine Form von Hyperrealität, die auch existentiellste Erfahrungen inkludiert. Hyperreal meint dabei keineswegs irreal: Zur Disposition steht nicht Historie, sondern deren Selbstzweck und Ziellosigkeit. Hyperrealität ist kein Ersatz für Realität, sie erscheint vielmehr realer als das Reale. Exakt davon handelt das Narrativ von Blow Up: Antonionis Protagonist glaubt Realität allein dort zu erkennen, wo seine Kamera aufzeichnen kann. Realität ist für ihn immer nur das, was er zum einen zu fotografieren und zum anderen dann zu manipulieren vermag. Als aber das ‚Aufblasen’ der Realität einmal keine Klarheit mehr bringen will, ja die gesamte Detektion im vermeintlichen Mordfall erfolglos bleibt, da handelt der Fotograf nur konsequent – im Pantomimenspiel der finalen Sequenz überantwortet er sich ganz dem Simulationsprinzip (Abb. 16). Blow Up, darin ist sich die filmwissenschaftliche Forschung einig, nimmt am SchauPlatz des Swinging London eine Diagnose „der medialen Spätmoderne“ (Kiefer 2002, S. 40) per se vor. In dieser späten Moderne, die Kiefer unkreditiert mit Baudrillard als die „Ära der Simulation von Wirklichkeiten“ (ebd.) begreift, kann kein verlässlicher Rekurs auf Subversion von Macht außerhalb massenmedialer Kontexte mehr statt-

Abb. 16   Der Protagonist im Simulationsprinzip. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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finden. In der Medienontologie wird Macht zu einem Signifikanten ohne Signifikat, sie implodiert und kehrt als Halluzination ihrer selbst wieder: als bloßer Machteffekt. So wie das Zeichen sich vom Objekt löst, driftet die Macht ab vom ‚Realen’. In Baudrillards Modell sozialer Konstellation existiert keine Erfahrung mehr, die Pop mobilisieren könnte. Stattdessen herrscht eine in ihrer Heterogenität völlig homogene Welt, die nur noch Ereignisse aneinanderreiht, das bereits Bekannte wiederholt: Proklamationen von Dissidenz ebenso wie ein Versprechen auf Veränderung. So wird noch einmal durchgespielt, was an großen Erzählungen seit der Romantik die Moderne bestimmt hat, ein Spiel der Differenzen reproduziert, das längst der Indifferenz gewichen ist. Zeichen zirkulieren, schaffen ein profanes Universum absolut gewordener Nähe, das keine Orientierung mehr leistet, in dem Entfernungen aufgehoben sind und die Ursache der Wirkung nicht mehr vorangeht. Statt einer progressiven Logik der Finalität dominiert aus Baudrillard’scher Perspektive ein Prozess der Aufhebung von Antagonismen, Kontradiktorisches ist kurzgeschlossen in endloser Reduplikation: Establishment und Subkultur, Herrschaft und Pop. Die Rede von der Revolution produziert keine explosive Energie mehr, sie sorgt nur noch für permanente Implosion, utopische Potentiale kollabieren in sich selbst. Privates und Professionelles, Subjekt und Objekt fallen zusammen, Aktiv und Passiv verschränken sich inseparabel, werden vollständig reversibel. In einem solchen System ist alles gleichzeitig wahr und falsch, progressiv und reaktionär. Der Unterschied spielt hier keine Rolle mehr, er hat ausgespielt. Ein denkbar pessimistisches Fazit für alle ästhetische Produktion, inklusive kritischer Kunst: „Auch sie“, so Baudrillard, „hat den Wunsch nach Illusion verloren, hat alle Dinge statt dessen [sic] einer ästhetisch banalen Erhöhung geopfert und ist folglich transästhetisch geworden“ (1996, S. 41). Dennoch, auch wenn Baudrillard den sozialen Status quo auf den ersten Blick durch ein „Ende der Kritik“ (Bolz 1999) oder gar durch ein Ende jeder Möglichkeit von Kritik gekennzeichnet glaubt, so bringt seine apokalyptische, mitunter gar larmoyant durchsetzte Medienontologie auf den zweiten Blick doch interessante Perspektiven auf kritische Strategien des Pop. Baudrillard konstatiert nämlich – ohne Rekurs auf die Utopie einer transzendenten Kritik – in der Sprache des postindustriellen Medienkapitalismus eine zunehmende Tendenz zur Pathologie, eine Krankheit, die eigentlich Mutation ist. Alles Verbale funktioniert hier nicht mehr symbolisch, sondern nur noch als Formel. Seine Viralität gehe dann hervor aus der beschleunigten Zeichenzirkulation, der Molekularisierung sozialer Systeme. Je komplexer deren Struktur, je überprotektierter die sozialen Körper, desto höher ihre Anfälligkeit für Viren, die sie selbst mitproduzieren. Es ist gerade das Feld der Massenmedien, die durch ihre rapide Diffusion von Informationen für eine Auflösung von Sinn und Bedeutung sorgen: Statt der entfremdeten Subjekte im Fordismus existieren nur noch fraktale, das heißt objektivierte Subjekte – telematische Menschen, die über integrierte virtuelle Schaltkreise mit sich selbst kurzgeschlossen sind und so im Imaginären leben. Auf Basis dieser neuen soziokulturellen Formation konstituiert sich für Baudrillard jedoch das Potential

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für virale Strategien. Jedes Zeichen neigt daher grundsätzlich dazu, deterritoriale Fluchtlinien zu generieren, da die Beziehung zwischen Zeichen und Realem aufgehoben ist: Das Reale nimmt nicht mehr die Kraft eines Zeichens an, das Zeichen nicht mehr die Kraft eines Sinns. [...] Jedes System erfindet sich ein Gleichgewichts-, Tausch-, Wert-, Kausalitäts- und Finalitätsprinzip, das auf geregelten Gegensätzen beruht: auf dem Gegensatz von Gut und Böse, Wahr und Falsch, dem Gegensatz zwischen dem Zeichen und seinem Referenten, zwischen Subjekt und Objekt – der ganze Raum der Differenz und der Regulierung durch die Referenz, die, solange sie funktioniert, die Stabilität und die dialektische Bewegung des Ganzen gewährleistet. [...] Wenn diese bipolare Relation aber nicht mehr wirksam ist, wenn sich das System selbst kurzschließt, produziert es seine eigene kritische Masse und gibt den Weg frei zu einem exponentiellen Abdriften. (Baudrillard 2002, S. 12)

Baudrillard fordert, Zeichen selbst viral werden zu lassen, das heißt sie fragmentarisch zu organisieren. Die Sprache nähme ohnehin, ob wir nun wollten oder nicht, die Form dessen an, worüber sie referiere, bis Subjekt und Objekt der Kommunikation koinzidierten. So ließen sich dominante Systeme – jenseits von Transzendenz und Immanenz – infizieren. Ihre Metastasierung und Kontamination erfolge dualistisch, nicht dialektisch, d. h. ohne den Horizont einer Zukunftsorganisation, die gemäß einer hegelianischen Eschatologie durch soziale Gegensätze determiniert wäre. Stattdessen bleibe das Kommende zu antizipieren, jeweils operationell zu handeln. Ziel wäre es, einen leeren Raum zu erzeugen: Die Physiker sagen heute, daß es nur einen leeren Raum mit allerlei Virtualitäten gibt. So einen leeren Raum entstehen zu lassen, der aber schwer von Virtualität wie ein schwarzes Loch wäre, das ist mein Versuch. Die Sprache würde dann mit sich selbst in einen Kreislauf geraten, in dem sie sich erschöpft oder an ihre äußerste Grenze gerät. Daraus würde kein Sinn mehr entstehen, wohl aber die katastrophische Virtualität eines Übersinns oder Unsinns, woran jeder seine eigenen Obsessionen oder Phantasmen entzünden könnte. (Baudrillard 1991, S. 91)

Wenn Kulturindustrie selbst den Gebrauchswert der Distinktion als Tauschwert aller Waren offeriert bzw. eine aleatorische Kombination von Zeichen politische Ökonomie nur noch simuliert und daher Sprache selbst weder historische noch negativierende Gewalt weiter transportieren kann, dann vermag kritischer Pop lediglich ungerichtet, ergo: ziellos zu operieren. Antonionis Blow Up könnte in diesem Sinne als ein ungerichteter Aufstand der Zeichen gelesen werden. Die Inszenierung des von Mode und Glamour bestimmten Swinging London – speziell aber auch der Yardbirds als Popmusikformation ohne agitatorisches Programm – ließe sich insofern als erkenntniskritischer Ansatz begreifen, als dass hier eine Form kulturellen Widerstands greift, die sich jenseits des Subversionsmodells der dialektischen Negation befindet. Antonioni und die Yardbirds bemühen sich um eine andere Artikulation resistiver Gesten, die sich an einem Scheideweg der Popgeschichte befinden. In Blow Up geht es um einen Pop, der bereits im Posthistoire angekommen ist. Nach dem durch Antonioni in der Mediengesellschaft

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konstatierten Ende von Geschichte und bürgerlicher Gesellschaft existieren nur noch folgenlose Ereignisse: die nichts mehr verändern und nichts mehr verkünden, die also auf diese Weise ihren Sinn und ihre Bedeutung nurmehr in sich selbst absorbieren. […] Wenn erst einmal der Sinn von Geschichte verlorengegangen und der Punkt der Trägheit überschritten ist, wird jedes Ereignis zur Katastrophe und somit zum reinen, folgenlosen Ereignis. (Baudrillard 1985, S. 19)

Der Zufall löst Ursachen und Wirkungen ab, es bleiben einzelne, reversible Ereignisse, aleatorisch akkumuliert – fatale Bewegungen. Es gibt dann freilich keine verlässliche Perspektive mehr. Das Ende liegt im Anfang, die Wirkung in der Ursache, die Zukunft in der Vergangenheit. Antonioni findet für diese paradoxe Kondition in Blow Up bereits adäquate Bilder und Töne. Entscheidend ist seine Inszenierung des, mit Baudrillard gesprochen, „Nach der Orgie“ und des Nach „der Befreiung aller Wünsche“ (1996, S. 41). Die orgiastische Verschwendung der Yardbirds unter ihrem Hohepriester Jeff Beck gipfelt erst in der Malträtierung und letztlich Destruktion der Gitarre (Abb. 17). Erst dann, mit Vernichtung des Instruments, gerät Leben in das indifferente Auditorium, inklusive des Fotografen. Entfesselt kämpft das Publikum nun plötzlich um die Gitarre, bis der Protagonist das Instrument schließlich an sich reißen kann. Es aber besitzt keinerlei Bedeutung für ihn. Anstatt den ‚auratischen’ Gegenstand als Fetisch zu pflegen, wirft er ihn an der nächsten Straßenecke achtlos zu Boden. In diesem ambivalenten, dialektisch nicht aufzuhebenden Kontrast erst kommt dem Performen der Yardbirds seine volle Signifikanz zu. Antonioni re-perspektiviert es mithin als eine narzisstische Oberflächenapotheose, die ihre eigene Obszönität mitdenkt. Blow Up versieht die Transparenz der Darstellung mit doppelten Anführungszeichen. Damit geht es nicht etwa um eine ‚klassisch moderne’ Kritik des Bestehenden durch Verfremdung, Antonionis Strategie wird die der Verkörperung: Seine

Abb. 17   Orgiastische Dekonstruktion des Instruments. Quelle: Blow Up (GB/I/USA 1966, © MGM u. a.)

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Yardbirds und ihr „Stroll On“-Blues repräsentieren den Medienkapitalismus der Zeichen so hyperbolisch, dass dieser der eigenen Hyperstimulation ins Auge blicken muss. „Stroll On“, das wird hier zum schwarzen Loch des Virtuellen – and on, and on, and on … Exemplarische Filme Thema: Film und Rockmusik 1955–1970 Blackboard Jungle (Die Saat der Gewalt, USA 1955, Richard Brooks) Shake, Rattle and Rock! (USA 1956, Edward L. Cahn) Dragstrip Girl (USA 1957, Edward L. Cahn) Jailhouse Rock (Rhythmus hinter Gittern, USA 1957, Richard Thorpe) Rock All Night (USA 1957, Roger Corman) High School Confidential! (USA 1958, Jack Arnold) Performance (GB 1960, Nicholas Roeg) A Hard Day’s Night (Yeah Yeah Yeah, GB 1964, Richard Lester) Help! (Hi-Hi-Hilfe!, GB 1965, Richard Lester) Don’t Look Back (USA 1967, Donn Alan Pennebaker) Riot on Sunset Strip (Wir…die Wilden vom Sunset Strip, USA 1967, Arthur Dreifuss) Monterey Pop (USA 1968, Donn Alan Pennebaker) Easy Rider (USA 1969, Dennis Hopper) 3 amerikanische LP’s (BRD 1969, Wim Wenders) Woodstock – 3 Days of Peace & Music (Woodstock – 3 Tage im Zeichen von Liebe & Musik, USA 1970, Michael Wadleigh) Gimme Shelter (USA 1970, Albert Maysles, David Maysles, Charlotte Zwerin) Zabriskie Point (USA 1970, Michelangelo Antonioni) Literaturhinweise zur Medienkulturwissenschaft und Poptheorie Anastasiadis, Mario. 2019. Social-Pop-Media. Zur Mediatisierung von Popmusik und digitaler Musikpraxis in sozialen Medien. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Barker, Chris. 2012. Cultural Studies. Theory and Practice (4. Aufl.). Los Angeles: Sage. Fiske, John. 1989. Understanding Popular Culture. Boston: Unwin Hyman. Göttlich, Udo, [u.a.]. Hrsg. 2001. Die Werkzeugkiste der Cultural Studies: Perspektiven, Anschlüsse und Interventionen. Bielefeld: transcript. Hall, Stuart. 1986. Culture, media, language. London: Hutchinson. Hecken, Thomas. 2007. Theorien der Populärkultur: Dreißig Theorien von Schiller bis zu den Cultural Studies. Bielefeld: transcript. Hecken, Thomas und Marcus S. Kleiner. Hrsg. 2017. Handbuch Popkultur. Stuttgart: J.B. Metzler. Heinze, Carsten. 2016. Populäre Jugend- und Musikkulturen im Film: Konzeption und Perspektiven. In Populäre Musikkulturen im Film. Inter- und transdisziplinäre Perspektiven, hrsg. Carsten Heinze und Laura Niebling, S. 3–28. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

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3 Theorien der Intermedialität und Medienkultur im Vergleich Ivo Ritzer und Lucas Curstädt Theorien der Medienkultur gehen von der basalen Hypothese aus, dass Medien in Feldern des Sozialen, der Kunst und mithin des Kulturellen signifikante Einschnitte markieren. Dabei werden Medien zum einen traditionell als Mittel im Sinne der

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etymologischen Dimension verstanden, das heißt als Werkzeuge der Aufzeichnung, Speicherung und Kommunikation begriffen. Zum anderen adressieren sie jedoch gleichwohl auch die determinierende Kraft des Medialen als unhintergehbare Dimension von Kultur, die jede Form von Perzeption, Denken und Wissen einrahmt und maßgeblich bedingt. Dabei geht es einerseits um eine Theorie von Intermedialität der Medien: Bernd Kiefer und Lucas Curstädt haben hier mit Blick auf Blow Up demonstriert, dass crossmediale Verschränkungen Interferenzen erzeugen, man könnte alternativ von Überlagerungserscheinungen sprechen, die bei der Zusammenführung von Einzelmedien wie Fotografie und Film, aber auch Buch, Television und digitale Audiovisionen entstehen. Andererseits geht es – wie Ivo Ritzer in seiner Analyse von Blow Up darlegt – zentral auch um epistemologische Reflexionen, die Medialität zur elementaren Konstante kultureller Existenz erheben. Wohingegen die Paradigmen medienkultureller Forschung über weite Teile des 20. Jahrhunderts sowohl von ideologiekritischer Arbeit neomarxistischer Couleur (Frankfurter Schule, Cultural Studies), wie auch sozialwissenschaftlichen Studien empirischer Ausrichtung (Wirkungsforschung, Inhaltsanalyse) geprägt waren, zeigt sich in jüngerer Zeit eine maßgebliche Rekonfiguration, der es auf die philologisch-analytische Neuorientierung der Frage nach dem Ort des Medialen ankommt, der Kultur erst generiert. Ihre reflexive Leistung richtet sich auf Modi kultureller Semantiken, deren Sinnpotentiale sich im medialen Verbund von Wahrnehmung, Sprache und Denken materialisieren. Medien, so resümiert der Philosoph und Derrida-Schüler Georg Christoph Tholen entsprechend in seinem ebenso programmatischen wie einflussreichen Aufsatz Medienwissenschaft als Kulturwissenschaft, haben simultan als Effekte und zugleich auch als Prädispositionen des Kulturprozesses zu gelten: „Sie verschieben und verändern den jeweiligen Rahmen unseres Wahrnehmens und Fühlens, aber auch Denkens und Wissens“. Denn Medien, so Tholen, „speichern, übertragen und verarbeiten nicht nur Informationen sondern auch Ideen und Ideologien, Werte und Normen. Sie sind nicht nur ein beliebigen Zwecken gegenüber indifferentes Mittel der Kommunikation, sondern Vermittlungsinstanz kultureller Selbst- und Fremdbilder“. In ihrer diskursiven wie dispositiven Qualität als „symbolische Formen der Weltaneignung prägen sie auf entscheidende Weise die kommunikativen, sozialen und ästhetischen Praktiken der postmodernen Gesellschaften – weltweit“ (2003/4, S. 1). Tholen plädiert aufgrund dieser nachhaltigen Prägekraft daher für eine interdisziplinäre Kulturwissenschaft als Medienwissenschaft, die gerade auf das kulturstiftende Moment des Medialen abhebt. Die mediale Bedingtheit von Kultur evolviert dadurch zum zentralen Fokus des Interesses, wobei der historische Blick auf dispositive Strukturen neben der Analyse ästhetischer Verfahren steht. Es sind so die spezifischen Kontexte medialer Kultur, die als Praktiken, Wissensordnungen und Agenturen untersucht werden wollen.

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Wie Tholen zeigt, erweist sich gerade der integrative Blick als besonders produktiv: Kulturwissenschaftliche Untersuchungen etwa über die Modalität der Einbildungskraft und den kategorialen Status der Aisthesis, d.h. über das Verhältnis des Medialen und Imaginären lassen so eine etwa an bloß medientechnische Erfindungen gebundene Grenzziehung zwischen alten und neuen Medien hinter sich, da sie auch unabgegoltene Spielräume des Denkens und der Gestaltung im nicht-funktionalen Umgang mit Maschinen in den Vordergrund stellen. (2003/4, S. 3)

Einerseits leitet sich daraus der Imperativ komparatistischer Perspektiven ab, die ihren Gegenstand intermedial bestimmen als Verbund auch divergenter singulärer Medialitäten. Bernd Kiefers und Lucas Curstädts Analyse von Blow Up antwortet auf eben dieses Desiderat und beschreibt den Film in seinem Spannungsverhältnis von bewegtem und fotografischem Bild. Ein Spannungsverhältnis, welches passend zur kulturellen Situation der Entstehungszeit des Films als explosiv beschrieben wurde. Andererseits stellt die Konstellation des Imaginären mit dem Medialen aber ferner zugleich methodologische Herausforderungen. Ihnen widmet Ivo Ritzer seine Überlegungen zum Film, wenn Fragen nach der Möglichkeit archimedischer Standpunkte im Sinne absoluter epistemologischer Potentiale thematisch werden. Medienwissenschaft als Kulturwissenschaft zu betreiben, das muss folglich nicht zuletzt heißen, sensibel zu sein für Brüche im Konzept vermeintlicher wissenschaftlicher Objektivität, die eine weltanschauliche Neutralität vorgeben. Wo Kulturwissenschaft sich, zumindest soweit man Friedrich Kittlers kritische Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft akzeptiert, mit einer „verlogene[n] wissenschaftliche[n] Unschuld“ (2001, S. 11) tendenziell objektiv und unparteiisch gebiert, ergo sich selbst nicht als eine Form gelebter Kultur ausweist, wettet der medienwissenschaftliche Einsatz innerhalb des kategorialen Rahmens der Kulturwissenschaften gerade auf ein mediales – wenn nicht notwendigerweise: medientechnologisches – Apriori, das der Fiktion jeder unmittelbaren Natürlichkeit zuwiderläuft. Medien sind mithin als Instanzen der Konstruktion jeder Form von Wirklichkeit verstanden, was Kultur letztlich immer zu Medienkultur machen muss. Wer also die Modellierung einer Wirklichkeit in ihrem kulturellen Kontext reflektieren möchte, hat deshalb gerade den Part der Medien in ihrer Genese zu fokussieren. Medienwissenschaft als Kulturwissenschaft sensibilisiert damit für ein Dazwischen der Differenz, das im Medialen selbst eröffnet wird. Nicht zuletzt hiervon handelt Blow Up.

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Theorien der Intermedialität und Medienkultur

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