Anatol - Das Abenteuer seines Lebens [Enth. Anatol-Zyklus - Anatols Größenwahn. Reprint 2018 ed.] 9783110845204, 9783110050479


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German Pages 201 [204] Year 1964

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Table of contents :
VORWORT
ANATOL
EINLEITUNG
DIE FRAGE AN DAS SCHICKSAL
WEIHNACHTSEINKÄUFE
EPISODE
DENKSTEINE
ABSCHIEDSSOUPER
AGONIE
ANATOLS HOCHZEITSMORGEN
ANATOLS GRÖSSENWAHN
ANHANG
DAS ABENTEUER SEINES LEBENS
Ursprünglicher Schluß zu Anatols Hochzeitsmorgen
Beträchtlich stört mein junges Liebesglück
MATERIALIEN ZUM VERSTÄNDNIS DER TEXTE
Editionsbericht
Zur Entstehungsgeschichte
Gattungsgeschichtliche Einordnung
Zur Analyse der Stücke
Zur Wirkungsgeschichte
Literatur (in Auswahl)
INHALTSVERZEICHNIS
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Anatol - Das Abenteuer seines Lebens [Enth. Anatol-Zyklus - Anatols Größenwahn. Reprint 2018 ed.]
 9783110845204, 9783110050479

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KOMEDia 6

ARTHUR SCHNITZLER ANATOL

KOM E DIÄ D E U T S C H E LUSTSPIELE V O M B A R O C K BIS ZUR

GEGENWART

Texte und Materialien zur Interpretation Herausgegeben von HELMUT A R N T Z E N und KARL

PESTALOZZI

6

1964 WALTER

DE

GRUYTER

& CO. / B E R L I N

V O R M A L S G . J . G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G • J. G U T T E N T A G VERLAGSBUCHHANDLUNG

• G E O R G R E I M E R • K A R L J. T R Ü B N E R

V E I T & COMP.

ARTHUR

SCHNITZLER

ANATOL ANATOL-ZYKLUS — ANATOLS GRÖSSENWAHN DAS ABENTEUER SEINES LEBENS

Texte und Materialien zur Interpretation besorgt von ERNST L. OFFERMANNS

1964 WALTER

DE

GRUYTER

&

CO. / B E R L I N

V O R M A L S G. J . G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G • J. G U T T E N T A G V E R L A G S B U C H H A N D L U N G • G E O R G R E I M E R . K A R L J. T R Ü B N E R V E I T & COMP.

Archiv-Nr. 3609 642 © 1964 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göscben'sche Verlagsbandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Str. 13 Printed in Germany Alle Rcchte der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Anfertigung von Photokopien und Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin 3ü

Nach der farbigen Umschlagzeichnung von Th. Th. Heine zur Einzelausgabe von „Anatol", 1895

VORWORT

Vorliegende Ausgabe hätte in der Dokumentation äußerst lückenhaft bleiben müssen ohne die großzügige Unterstützung von Herrn Professor Heinrich Schnitzler, Wien, dem Sohne des Dichters. Die Möglichkeit der Auswertung und der Veröffentlichung von Texten aus dem Nachlaß und längst verschollenen Drucken ist ihm zu verdanken. Herr Professor Schnitzler nahm überdies die Mühe auf sich, die unveröffentlichten Tagebücher und die unveröffentlichte Autobiographie seines Vaters nach einschlägigen Äußerungen durchzusehen und eine Fülle von Fragen durch wertvolle Mitteilungen, Hinweise und Anregungen zu beantworten. Dafür sei ihm an dieser Stelle ausdrücklich gedankt. — Ferner gilt mein Dank meinem Freunde Dr. Helmut Arntzen, Berlin, für manches diese Edition fördernde Gespräch. E . L . OFFERMANNS

ANATOL

EINLEITUNG Hohe Gitter, Taxushecken, Wappen, nimmermehr vergoldet, Sphinxe, durch das Dickicht schimmernd . . . . . . Knarrend öffnen sich die Tore. — Mit verschlafenen Kaskaden Und verschlafenen Tritonen, Rokoko, verstaubt und lieblich, Seht. . . das Wien des Canaletto, Wien von Siebzehnhundertsechzig . . . . . . Grüne, braune, stille Teiche, Glatt und marmorweiß umrandet, In dem Spiegelbild der Nixen Spielen Gold- und Silberfische . . . Auf dem glattgeschornen Rasen Liegen zierlich gleiche Schatten Schlanker Oleanderstämme; Zweige wölben sich zur Kuppel, Zweige neigen sich zur Nische Für die steifen Liebespaare Heroinen und Heroen . . . Drei Delphine gießen murmelnd Fluten in ein Muschelbecken . . . Duftige Kastanienblüten Gleiten, schwirren leuchtend nieder Und ertrinken in dem Becken . . . . . . Hinter einer Taxusmauer Tönen Geigen, Klarinetten. . . Und sie scheinen den graziösen Amoretten zu entströmen, Die rings auf der Rampe sitzen Fiedelnd oder Blumen windend, Selbst von Blumen bunt umgeben, Die aus Marmorvasen strömen: Goldlack und Jasmin und Flieder . . . . . . Auf der Rampe, zwischen ihnen Sitzen auch kokette Frauen, Violette Monsignori. . . Und im Gras, zu ihren Füßen,

10

Einleitung Und auf Polstern, auf den Stufen: Kavaliere und Abbati. . . Andre heben andre Frauen Aus den parfümierten Sänften . . . . . . Durch die Zweige brechen Lichter, Flimmernd auf den blonden Köpfchen; Scheinen auf den bunten Polstern, Gleiten über Kies und Rasen, Gleiten über das Gerüste, Das wir flüchtig aufgeschlagen. Wein und Winde klettert aufwärts Und umhüllt die lichten Balken. Und dazwischen, farbenüppig Flattert Teppich und Tapete, Schäferszenen, keck gewoben, Zierlich von Watteau entworfen . . . Eine Laube statt der Bühne, Sommersonne statt der Lampen, Also spielen wir Theater, Spielen unsre eignen Stücke, Frühgereift und zart und traurig, Die Komödie unsrer Seele, Unsres Fühlens Heut und Gestern, Böser Dinge hübsche Formel, Glatte Worte, bunte Bilder, Halbes, heimliches Empfinden, Agonien, Episoden . . . Manche hören zu, nicht alle . . . Manche träumen, manche lachen, Manche essen Eis . . . und manche Sprechen sehr galante Dinge . . . . . . Nelken wiegen sich im Winde, Hochgestielte, weiße Nelken, Wie ein Schwärm von weißen Faltern . . . Und ein Bologneserhündchen Bellt verwundert einen Pfau an . . .

Herbst 1892 * d. i. Hugo von Hofmannsthal

Loris*

D I E F R A G E A N D A S SCHICKSAL

ANATOL, M A X , CORA.

Anatols

Zimmer.

MAX. Wahrhaftig, Anatol, ich beneide dich . . . ANATOL

lächelt.

MAX. Nun, ich muß dir sagen, ich war erstarrt. Ich habe ja doch bisher das Ganze für ein Märchen gehalten. Wie ich das nun aber sah,. . . wie sie vor meinen Augen einschlief. . . wie sie tanzte, als du ihr sagtest, sie sei eine Ballerine, und wie sie weinte, als du ihr sagtest, ihr Geliebter sei gestorben, und wie sie einen Verbrecher begnadigte, als du sie zur Königin machtest. . . ANATOL.

J a , ja.

MAX. Ich sehe, es steckt ein Zauberer in dir! ANATOL. I n u n s allen.

MAX. Unheimlich. ANATOL. Das kann ich nicht finden . . . Nicht unheimlicher als das Leben selbst. Nicht unheimlicher als vieles, auf das ,ian erst im Laufe der Jahrhunderte gekommen. Wie, glaub; du wohl, war unseren Voreltern zumute, als sie plötzlich hörten, die Erde drehe sich ? Sie müssen alle schwindlig geworden sein! MAX. Ja . . . aber es bezog sich auf alle 1 ANATOL. Und wenn man den Frühling neu entdeckte 1 . . . Man würde auch an ihn nicht glauben 1 Trotz der grünen Bäume, trotz der blühenden Blumen und trotz der Liebe. MAX. DU verirrst dich; all das ist Gefasel. Mit dem Magnetismus... ANATOL. H y p n o t i s m u s . . .

MAX. Nein, mit dem ists ein ander Ding. Nie und nimmer würde ich mich hypnotisieren lassen. ANATOL. Kindisch! Was ist daran, wenn ich dich einschlafen heiße, und du legst dich ruhig hin.

12

Anatol

MAX. Ja, und dann sagst du mir: »Sie sind ein Rauchfangkehrer«, und ich steige in den Kamin und werde rußig I . . . Nun, das sind ja Scherze . . . Das Große an der Sache ist die wissenschaftliche Verwertung. — Aber ach, allzuweit sind wir ja doch nicht.

ANATOL.

MAX. Wieso . . . ? Nun, ich, der jenes Mädchen heute in hundert andere Welten versetzen konnte, wie bring' ich mich selbst in eine andere ?

ANATOL.

MAX. Ist das nicht möglich? Ich hab' es schon versucht, um die Wahrheit zu sagen. Ich habe diesen Brillantring minutenlang angestarrt und habe mir selbst die Idee eingegeben: AnatolI schlafe ein! Wenn du aufwachst, wird der Gedanke an jenes Weib, das dich wahnsinnig macht, aus deinem Herzen geschwunden sein.

ANATOL.

MAX. Nun, als du aufwachtest? ANATOL.

O,

ich schlief gar nicht ein.

MAX. Jenes Weib . . . jenes Weib ? . . . Also noch immer! ANATOL.

bin toll.

Ja, mein Freund! . . . noch immer! Ich bin unglücklich,

MAX. Noch immer also . . . im Zweifel ? Nein . . . nicht im Zweifel. Ich weiß, daß sie mich betrügt! Während sie an meinen Lippen hängt, während sie mir die Haare streichelt. . . während wir selig sind . . . weiß ich, daß sie mich betrügt.

ANATOL.

MAX. Wahn! ANATOL.

Nein!

MAX. Und deine Beweise ? ANATOL.

Ich ahne es . . . ich fühle es . . . darum weiß ich es!

MAX. Sonderbare Logik! Immer sind diese Frauenzimmer uns untreu. Es ist ihnen ganz natürlich . . . sie wissen es gar n i c h t . . . So wie ich zwei oder drei Bücher zugleich lesen muß, müssen diese Weiber zwei oder drei Liebschaften haben.

ANATOL.

MAX. Sie liebt dich doch ? ANATOL.

untreu.

Unendlich . . . Aber das ist gleichgültig. Sie ist mir

Die Frage an das Schicksal

13

MAX. Und mit wem? Weiß ich's ? Vielleicht mit einem Fürsten, der ihr auf der Straße nachgegangen, vielleicht mit einem Poeten aus einem Vorstadthause, der ihr vom Fenster aus zugelächelt hat, als sie in der Früh' vorbeiging!

ANATOL.

MAX. DU bist ein Narr! Und was für einen Grund hätte sie, mir nicht untreu zu sein? Sie ist wie jede, liebt das Leben, und denkt nicht nach. Wenn ich sie frage: Liebst du mich? — so sagt sie ja — und spricht die Wahrheit; und wenn ich sie frage, bist du mir treu? — so sagt sie wieder ja — und wieder spricht sie die Wahrheit, weil sie sich gar nicht an die andern erinnert — in dem Augenblick wenigstens. Und dann, hat dir je eine geantwortet: Mein lieber Freund, ich bin dir untreu? Woher soll man also die Gewißheit nehmen ? Und wenn sie mir treu ist —

ANATOL.

MAX. Also doch 1 — SO ist es der reine Zufall . . . Keineswegs denkt sie: O, ich muß ihm die Treue halten, meinem lieben Anatol . . . keineswegs . . .

ANATOL.

MAX. Aber wenn sie dich liebt ? ANATOL.

O,

mein naiver Freund! Wenn das ein Grund wäre!

MAX. Nun? ANATOL.

gewiß!

Warum bin ich ihr nicht treu ? . . . Ich liebe sie doch

MAX. Nun ja! Ein Mann! Die alte dumme Phrase! Immer wollen wir uns einreden, die Weiber seien darin anders als wir! Ja, manche . . . die, welche die Mutter einsperrt, oder die, welche kein Temperament haben . . . Ganz gleich sind wir. Wenn ich einer sage: Ich liebe dich, nur dich — so fühle ich nicht, daß ich sie belüge, auch wenn ich in der Nacht vorher am Busen einer andern geruht.

ANATOL.

MAX.

Ja . . . du!

Ich . . . ja! Und du vielleicht nicht ? Und sie, meine angebetete Cora vielleicht nicht ? Oh! Und es bringt mich zur Raserei. Wenn ich auf den Knieen vor ihr läge und ihr sagte: Mein Schatz, mein Kind — alles ist dir im Vorhin verziehen — aber sag' mir die Wahrheit —• was hülfe es mir ? Sie würde lügen wie vorher — und ich wäre soweit als vorher. Hat mich noch keine angefleht:

ANATOL.

14

Anatol

»Um Himmels willen I Sag' mir . . . bist du mir wirklich treu ? Kein Wort des Vorwurfs, wenn du's nicht bist; aber die Wahrheit! Ich muß sie wissen« . . . Was hab' ich drauf getan ? Gelogen . . . ruhig, mit einem seligen Lächeln . . . mit dem reinsten Gewissen. Warum soll ich dich betrüben, hab' ich mir gedacht? Und ich sagte: Ja, mein Engel! Treu bis in den Tod. Und sie glaubte mir und war glücklich! MAX. Nun also! Aber ich glaube nicht und bin nicht glücklich! Ich wär' es, wenn es irgendein untrügliches Mittel gäbe, diese dummen, süßen, hassenswerten Geschöpfe zum Sprechen zu bringen oder auf irgendeine andere Weise die Wahrheit zu erfahren . . . Aber es gibt keines außer dem Zufall.

ANATOL.

MAX. Und die Hypnose ? ANATOL.

Wie ?

MAX. Nun . . . die Hypnose . . . Ich meine das so: Du schläferst sie ein und sprichst: Du mußt mir die Wahrheit sagen. ANATOL.

Hm . . .

MAX. Du mußt. . . Hörst du . . . ANATOL.

Sonderbar! . . .

MAX. ES müßte doch gehen . . . Und nun fragst du sie weiter . . . Liebst du mich ? . . . Einen anderen ? . . . Woher kommst du ? . . . Wohin gehst du? . . . Wie heißt jener andere? . . . Und so weiter. ANATOL. MAX.

Max!

Max!

Nun . . .

D U hast recht! . . . Man könnte ein Zauberer sein! Man könnte sich ein wahres Wort aus einem Weibermund hervorhexen . . .

ANATOL.

MAX. Nun also? Ich sehe dich gerettet! Cora ist ja gewiß ein geeignetes Medium . . . heute abend noch kannst du wissen, ob du ein Betrogener bist . . . oder ein . . . Oder ein Gott! . . . Max! . . . Ich umarme dich! . . . Ich fühle mich wie befreit . . . ich bin ein ganz anderer. Ich habe sie in meiner Macht . . .

ANATOL.

MAX. Ich bin wahrhaftig neugierig . . . ANATOL.

Wieso? Zweifelst du etwa?

Die Frage an das Schicksal

15

MAX. Ach so, die andern dürfen nicht zweifeln, nur du . . . Gewiß! . . . Wenn ein Ehemann aus dem Hause tritt, wo er eben seine Frau mit ihrem Liebhaber entdeckt hat, und ein Freund tritt ihm entgegen mit den Worten: Ich glaube, deine Gattin betrügt dich, so wird er nicht antworten: Ich habe soeben die Uberzeugung gewonnen . . . sondern: Du bist ein Schurke . . .

ANATOL.

MAX. Ja, ich hatte fast vergessen, daß es die erste Freundespflicht ist — dem Freund seine Illusionen zu lassen. ANATOL.

Still doch . . .

MAX. Was ist's ? Hörst du sie nicht? Ich kenne die Schritte, auch wenn sie noch in der Hausflur hallen.

ANATOL.

MAX. Ich höre nichts. ANATOL.

Coral CORA

draußen.

ANATOL. CORA

Guten Abend I O du bist nicht allein . . .

Freund Maxi

hereintretend.

ANATOL. CORA

Wie nahe schon I . . . Auf dem Gange . . . Öffnet die Tür.

Guten Abend! Ei, im Dunkeln? . . .

Ach, es dämmert ja noch. Du weißt, das liebe ich.

ihm die Haare streichelnd.

ANATOL.

Mein kleiner Dichterl

Meine liebste Coral

Aber ich werde immerhin Licht machen . . . Du erlaubst. Sie ^findet die Kerken in den Leuchtern an.

CORA.

Max.

ANATOL MAX.

Ist sie nicht reizend ?

Ohl

Nun, wie geht's ? Dir Anatol — Ihnen, Max ? — Plaudert ihr schon lange ?

CORA.

ANATOL. CORA.

Eine halbe Stunde.

So. Sie legt Hut und Mantel ab. Und worüber ?

ANATOL. Uber dies und jenes.

MAX. Über die Hypnose. O schon wieder die Hypnose I Man wird ja schon ganz dumm davon.

CORA.

Anatol

16 ANATOL.

Nun . . .

Du, Anatol, ich möchte, daß du einmal mich hypnotisierst.

CORA.

ANATOL.

Ich . . . Dich . . . ?

Ja, ich stelle mir das sehr hübsch vor. Das heißt, — von dir.

CORA.

ANATOI.. Danke.

Von einem Fremden . . . nein, nein, das wollt' ich nicht.

CORA.

ANATOL.

dich.

Wann ?

CORA.

ANATOL. CORA.

Nun, mein Schatz . . . wenn du willst, hypnotisiere ich

Jetzt 1 Sofort, auf der Stelle.

J a ! Gut 1 Was muß ich tun?

Nichts anderes, mein Kind, als ruhig auf dem Fauteuil sitzen zu bleiben und den guten Willen haben, einzuschlafen.

ANATOL. CORA.

O

ich habe den guten Willen!

Ich stelle mich vor dich hin, du siehst mich an . . . nun . . . sieh mich doch an . . . ich streiche dir über Stirne und Augen. So . . .

ANATOL.

CORA.

Nun ja, und was dann. . .

ANATOL.

Nichts . . . Du mußt nur einschlafen wollen.

wenn du mir so über die Augen streichst, wird mir ganz sonderbar . . .

CORA.

DU,

ANATOL.

müde. CORA.

Nein.

ANATOL. CORA.

Ruhig . . . nicht reden . . . Schlafen. Du bist schon recht

J a ! . . . ein wenig müde.

Ein wenig, ja . . .

. . . Deine Augenlider werden dir schwer . . . sehr schwer, deine Hände kannst du kaum mehr erheben . . .

ANATOL. CORA

leise. Wirklich.

ihr weiter über Stirne und Augen streichelnd, eintönig. Müd' . . . ganz müd' bist du . . . nun schlafe ein, mein Kind . . . Schlafe. Er wendet sich zu Max, der bewundernd zusieht, macht eine siegesbewußte Miene. Schlafen . . . Nun sind die Augen fest geschlossen . . . Du kannst sie nicht mehr öffnen . . .

ANATOL

Die Frage an das Schicksal CORA

17

will die Augen öffnen.

E S geht nicht . . . Du schläfst . . . Nur ruhig weiterschlafen . . . So . . .

ANATOL.

MAX will etwas fragen.

Du . . .

Ruhig. Zu Cora. . . . Schlafen . . . fest, tief schlafen. Er steht eine Weile vor Cora, die ruhig atmet und schläft. So . . . nun kannst du fragen.

ANATOL.

MAX. Ich wollte nur fragen, ob sie wirklich schläft. D U siehst doch . . . Nun wollen wir ein paar Augenblicke warten. Er steht vor ihr, siebt sie ruhig an. Große Pause. Cora I . . . Du wirst mir nun antworten . . . Antworten. Wie heißt du ?

ANATOL.

ODRA.

Cora. Cora, wir sind im Wald.

ANATOL.

. . . im Wald . . . wie schön! Die grünen Bäume . . . und die Nachtigallen.

CORA.

O

Cora . . . Du wirst mir nun in allem die Wahrheit sagen . . . Was wirst du tun, Cora?

ANATOL. CORA.

Ich werde die Wahrheit sagen.

Du wirst mir alle Fragen wahrheitsgetreu beantworten, und wenn du aufwachst, wirst du wieder alles vergessen haben I Hast du mich verstanden?

ANATOL.

CORA.

Ja.

Nun schlafe . . . ruhig schlafen. Zu Max. Jetzt also werde ich sie fragen . . .

ANATOL.

MAX. DU, wie alt ist sie denn? ANATOL. CORA.

Neunzehn . . . Cora, wie alt bist du ?

Einundzwanzig Jahre.

MAX. Haha. ANATOL.

Pst . . . das ist ja außerordentlich . . . Du siehst daraus . . .

MAX. O, wenn sie gewußt hätte, daß sie ein so gutes Medium ist I Die Suggestion hat gewirkt. Ich werde sie weiterfragen. — Cora, liebst du mich . . . ? Cora . . . liebst du mich ?

ANATOL. CORA.

JAL

ANATOL

triumphierend.

2 KOMEDIA VI

Hörst du's ?

18

Anatol

MAX. Nun also, die Hauptfrage, ob sie treu ist. ANATOL.

Cora! Sieb umwendend. Die Frage ist dumm.

MAX. Warum? ANATOL. MAX.

SO

kann man nicht fragen 1

. . . ?

ANATOL.

Ich muß die Frage anders fassen.

MAX. Ich denke doch, sie ist präzis genug. ANATOL.

Nein, das ist eben der Fehler, sie ist nicht präzis genug.

MAX. Wieso? Wenn ich sie frage: Bist du treu, so meint sie dies vielleicht im aller weitesten Sinne.

ANATOL. MAX.

Nun ?

Sie umfaßt vielleicht die ganze . . . Vergangenheit . . . Sie denkt möglicherweise an eine Zeit, wo sie einen anderen liebte . . . und wird antworten: Nein.

ANATOL.

MAX. Das wäre ja auch ganz interessant. Ich danke . . . Ich weiß, Cora ist andern begegnet vor mir . . . Sie hat mir selbst einmal gesagt: Ja, wenn ich gewußt hätte, daß ich dich einmal treffe . . . dann . . .

ANATOL.

MAX. Aber sie hat es nicht gewußt. ANATOL.

Nein . . .

MAX. Und was deine Frage anbelangt. . . Ja . . . Diese Frage . . . Ich finde sie plump, in der Fassung wenigstens.

ANATOL.

MAX. Nun, so stelle sie etwa so: Cora, warst du mir treu, seit du mich kennst? Hm . . . Das wäre etwas. Vor Cora. Coral Warst du . . . Auch das ist ein Unsinn!

ANATOL.

MAX. Ein Unsinn I? Ich bitte . . . man muß sich nur vorstellen, wie wir uns kennenlernten. Wir ahnten ja selbst nicht, daß wir uns einmal so wahnsinnig lieben würden. Die ersten Tage betrachteten wir beide die ganze Geschichte als etwas Vorübergehendes. Wer weiß . . .

ANATOL.

Die Frage an das Schicksal

19

MAX. Wer weiß . . . ? Wer weiß, ob sie nicht mich erst zu lieben anfing, — als sie einen andern zu lieben aufhörte ? Was erlebte dieses Mädchen einen Tag, bevor ich sie traf, bevor wir das erste Wort miteinander sprachen ? War es ihr möglich, sich da so ohne weiteres loszureißen? Hat sie nicht vielleicht tage- und wochenlang noch eine alte Kette nachschleppen müssen, m ü s s e n , sag' ich.

ANATOL.

MAX.

Hm.

Ich will sogar noch weitergehen . . . Die erste Zeit war es ja nur eine Laune von ihr — wie von mir. Wir haben es beide nicht anders angesehen, wir haben nichts anderes voneinander verlangt, als ein flüchtiges, süßes Glück. Wenn sie zu jener Zeit ein Unrecht begangen hat, was kann ich ihr vorwerfen? Nichts — gar nichts.

ANATOL.

MAX. DU bist eigentümlich mild. Nein, durchaus nicht, ich finde es nur unedel, die Vorteile einer augenblicklichen Situation in dieser Weise auszunützen.

ANATOL.

MAX. Nun, das ist sicher vornehm gedacht. Aber ich will dir aus der Verlegenheit helfen. ANATOL.

— ?

MAX. DU fragst sie, wie folgt: Cora, seit du mich liebst . . . bist du mir treu ? ANATOL.

Das klingt zwar sehr klar.

MAX. . . . Nun? ANATOL. MAX.

Ist es aber durchaus nicht.

OH!

Treu I Wie heißt das eigentlich: treu ? Denke dir . . . sie ist gestern in einem Eisenbahnwaggon gefahren, und ein gegenübersitzender Herr berührte mit seinem Fuße die Spitze des ihren. Jetzt mit diesem eigentümlichen, durch den Schlafzustand ins Unendliche gesteigerten Auffassungsvermögen, in dieser verfeinerten Empfindungsfähigkeit, wie sie ein Medium zweifellos in der Hypnose besitzt, ist es gar nicht ausgeschlossen, daß sie auch das schon als einen Treubruch ansieht.

ANATOL.

MAX. Na höre I Um so mehr, als sie in unseren Gesprächen über dieses Thema, wie wir sie manchmal zu führen pflegten, meine vielleicht

ANATOL.

20

Anatol

etwas übertriebenen Ansichten kennenlernte. Ich selbst habe ihr gesagt: Cora, auch wenn du einen andern Mann einfach anschaust, ist es schon eine Untreue gegen mich! MAX.

Und sie ?

Und sie, sie lachte mich aus und sagte, wie ich nur glauben könne, daß sie einen andern anschaue.

ANATOL.

MAX. Und doch glaubst du — ? E S gibt Zufälle — denke dir, ein Zudringlicher geht ihr abends nach und drückt ihr einen Kuß auf den Hals.

ANATOL.

MAX.

Nun — das . . .

ANATOL.

Nun — das ist doch nicht ganz unmöglich!

MAX. Also du willst sie nicht fragen. ANATOL.

O doch . . . aber . . .

MAX. Alles, was du vorgebracht hast, ist ein Unsinn. Glaube mir, die Weiber mißverstehen uns nicht, wenn wir sie um ihre Treue fragen. Wenn du ihr jetzt zuflüsterst mit zärtlicher, verliebter Stimme: Bist du mir treu . . . so wird sie an keines Herrn Fußspitzen und keines Zudringlichen Kuß auf den Nacken denken — sondern nur an das, was wir gemeiniglich unter Untreue verstehen, wobei du noch immer den Vorteil hast, bei ungenügenden Antworten weitere Fragen stellen zu können, die alles aufklären müssen. -— ANATOL.

Also du willst durchaus, daß ich sie fragen soll . . .

MAX. Ich ? . . . Du wolltest es doch! ANATOL.

Mir ist nämlich soeben noch etwas eingefallen.

MAX. Und zwar . . . ? ANATOL.

Das Unbewußte!

MAX. Das Unbewußte? ANATOL. MAX.

Ich glaube nämlich an unbewußte Zustände.

So.

Solche Zustände können aus sich selbst heraus entstehen, sie können aber auch erzeugt werden, künstlich, . . . durch betäubende, durch berauschende Mittel.

ANATOL.

MAX. Willst du dich nicht näher erklären . . . ?

Die Frage an das Schicksal ANATOL.

Zimmer.

21

Vergegenwärtige dir ein dämmeriges, stimmungsvolles

MAX. Dämmerig . . . stimmungsvoll . . . ich vergegenwärtige mir. ANATOL.

In diesem Zimmer sie . . . und irgendein anderer.

MAX. Ja, wie sollte sie da hineingekommen sein? Ich will das vorläufig offenlassen. Es gibt ja Vorwände . . . Genug! So etwas kann vorkommen. Nun — ein paar Gläser Rheinwein . . . eine eigentümlich schwüle Luft, die über dem Ganzen lastet, ein Duft von Zigaretten, parfümierten Tapeten, ein Lichtschein von einem matten Glaslüster und rote Vorhänge — Einsamkeit — Stille — nur Flüstern von süßen Worten...

ANATOL.

MAX.

. . .!

ANATOL.

sie!

Auch andere sind da schon erlegen! Bessere, ruhigere als

MAX. Nun ja, nur kann ich es mit dem Begriffe der Treue noch immer nicht vereinbar finden, daß man sich mit einem andern in solch ein Gemach begibt. ANATOL.

Es gibt so rätselhafte Dinge . . .

MAX. Nun, mein Freund, du hast die Lösung eines jener Rätsel, über das sich die geistreichsten Männer den Kopf zerbrochen, vor dir; du brauchst nur zu sprechen, und du weißt alles, was du wissen willst. Eine Frage — und du erfährst, ob du einer von den wenigen bist, die a l l e i n geliebt werden, kannst erfahren, wo dein Nebenbuhler ist, erfahren, wodurch ihm der Sieg über dich gelungen— und du sprichst dieses Wort nicht aus! — Du hast eine Frage frei an das Schicksal! Du stellst sie nicht! Tage- und nächtelang quälst du dich, dein halbes Leben gäbst du hin für die Wahrheit, nun liegt sie vor dir, du bückst dich nicht, um sie aufzuheben! Und warum? Weil es sich vielleicht fügen kann, daß eine Frau, die du liebst, wirklich so ist, wie sie a l l e deiner Idee nach sein sollen — und weil dir deine Illusion doch tausendmal lieber ist als die Wahrheit. Genug also des Spiels, wecke dieses Mädchen auf und lasse dir an dem stolzen Bewußtsein genügen, daß du ein Wunder — hättest vollbringen können. ANATOL.

Max!

MAX. Nun, habe ich vielleicht unrecht ? Weißt du nicht selbst, daß alles, was du mir früher sagtest, Ausflüchte waren, leere Phrasen, mit denen du weder mich noch dich täuschen konntest ?

22

Anatol

rasch. Max . . . Laß dir nur sagen, ich will; ja, ich will sie fragen!

ANATOL MAX.

Ahl

ANATOL.

Aber sei mir nicht böse — nicht vor dir!

MAX. Nicht vor mir? Wenn ich es hören muß, das Furchtbare, wenn sie mir antwortet: Nein, ich war dir nicht treu — so soll ich allein es sein, der es hört. Unglücklich sein — ist erst das halbe Unglück, bedauert werden: Das ist das ganzeI — Das will ich nicht. Du bist ja mein bester Freund, aber darum gerade will ich nicht, daß deine Augen mit jenem Ausdruck von Mitleid auf mir ruhen, der dem Unglücklichen erst sagt, w i e elend er ist. Vielleicht ist's auch noch etwas anderes — vielleicht schäme ich mich vor dir. Die Wahrheit wirst du ja doch erfahren, du hast dieses Mädchen heute zum letzten Mal bei mir gesehen, wenn sie mich betrogen hat! Aber du sollst es nicht mit mir zugleich hören; das ist's, was ich nicht ertragen könnte. Begreifst du das . . . ?

ANATOL.

MAX. Ja, mein Freund, drückt ihm die Hand, und ich lasse dich auch mit ihr allein. Mein Freund! Ihn %ur Tür begleitend. In weniger als einer Minute ruf' ich dich herein! — Max ab.

ANATOL.

steht vor Cora . . . sieht sie lange an. Cora! . . .! Schüttelt den Kopf, geht herum. Cora! — Vor Cora auf den Knien. Cora! Meine süße Cora! — Cora! Steht auf. Entschlossen. Wach' auf . . . und küsse mich!

ANATOL

steht auf, reibt sich die Augen, fällt Anatol um den Hals. Hab' ich lang geschlafen ? . . . Wo ist denn Max ?

CORA

ANATOL.

Anatol!

Max!

MAX kommt aus dem Nebenzimmer.

Da bin ich!

Ja . . . ziemlich lang hast du geschlafen — du hast auch im Schlafe gesprochen.

ANATOL.

CORA.

Um Gottes willen! Doch nichts Unrechtes? —

MAX. Sie haben nur auf seine Fragen geantwortet! CORA.

Was hat er denn gefragt ?

ANATOL. CORA.

Tausenderlei! . . .

Und ich habe immer geantwortet ? Immer ?

Die Frage an das Schicksal ANATOL. CORA.

23

Immer.

Und was du gefragt hast, das darf man nicht wissen? —

Nein, das darf man nicht! Und morgen hypnotisiere ich dich wieder I

ANATOL.

neinl Nie wieder! Das ist ja Hexerei. Da wird man gefragt und weiß nach dem Erwachen nichts davon. — Gewiß hab' ich lauter Unsinn geplauscht.

CORA. O

ANATOL. CORA.

Ja . . . zum Beispiel, daß du mich liebst . . .

Wirklich.

MAX. Sie glaubt es nicht! Das ist sehr gut! Aber schau . . . das hätte ich dir ja auch im Wachen sagen können!

CORA.

ANATOL.

Mein Engel! Umarmung.

MAX. Meine Herrschaften . . . adieu! — ANATOL. MAX.

gehst schon?

Ich muß.

ANATOL. CORA.

DU

Sei nicht böse, wenn ich dich nicht begleite. —

Auf Wiedersehen!

MAX. Durchaus nicht. Bei der Tür. Eines ist mir klar: Daß die Weiber auch in der Hypnose lügen . . . Aber sie sind glücklich — und das ist die Hauptsache. Adieu, Kinder. Sie hören ihn nicht, da sie sich in einer leidenschaftlichen Umarmung umschlungen halten. Vorhang.

WEIHNACHTSEINKÄUFE ANATOL, GABRIELE.

Weibnachtsabend sechs Uhr. Leichter Schneefall. In den Straßen ANATOL. GABRIELE.

Wiens.

Gnädige Frau, gnädige Frau . . .! Wie ? . . . Ah, Sie sind's!

Ja! . . . Ich verfolge Sie! — Ich kann das nicht mit ansehen, wie Sie all diese Dinge schleppen! — Geben Sie mir doch Ihre Pakete!

ANATOL.

GABRIELE.

Nein, nein, ich danke! — Ich trage das schon selber!

Aber ich bitte Sie, gnädige Frau, machen Sie mir's doch nicht gar so schwer, wenn ich einmal galant sein will — GABRIELE. Na •— das eine da . . .

ANATOL.

Aber das ist ja gar nichts . . . Geben Sie nur . . . So . . . das . . . und das . . . GABRIELE. Genug, genug — Sie sind zu liebenswürdig!

ANATOL.

ANATOL. GABRIELE.

schneit.

Wenn man's nur einmal sein darf — das tut ja so wohl! Das beweisen Sie aber nur auf der Straße und — wenn's

. . . Und wenn es spät abends — und wenn es zufällig Weihnachten ist •— wie ?

ANATOL.

E S ist ja das reine Wunder, daß man Sie einmal zu Gesicht bekommt! ANATOL. Ja, ja . . . Sie meinen, daß ich heuer noch nicht einmal meinen Besuch bei Ihnen gemacht habe — GABRIELE.

GABRIELE.

Ja, so etwas Ähnliches meine ich!

Gnädige Frau — ich mache heuer gar keine Besuche •— gar keine I Und — wie geht's denn dem Herrn Gemahl ? — Und was machen die lieben Kleinen? —

ANATOL.

Weihnachtseinkäufe

25

Diese Fragen können Sie sich schenken! — Ich weiß ja, daß Sie das alles sehr wenig interessiert 1

GABRIELE.

E S ist unheimlich, wenn man auf so eine Menschenkennerin trifft I

ANATOL.

Sie — kenne ichl

GABRIELE.

Nicht so gut, als ich es wünschte!

ANATOL.

Lassen Sie Ihre Bemerkungen! J a — ?

GABRIELE.

Gnädige Frau — das kann ich nicht!

ANATOL.

Geben Sie mir meine Päckchen wieder I

GABRIELE.

Nicht bös' sein — nicht bös' sein!! — Ich bin schon wieder brav . . . Sie gehen schweigend nebeneinander her.

ANATOL.

Irgend etwas dürfen Sie schon reden!

GABRIELE.

Irgend etwas — ja — aber Ihre Zensur ist so strenge . . .

ANATOL.

Erzählen Sie mir doch was. Wir haben uns ja schon so lange nicht gesehen . . . Was machen Sie denn eigentlich ? —

GABRIELE.

Ich mache nichts, wie gewöhnlich!

ANATOL.

GABRIELE.

Gar nichts!

ANATOL. GABRIELE.

GABRIELE.

Wer?!

ES

ist wirklich schad' um Sie!

Na . . . Ihnen ist das sehr gleichgültig 1

ANATOL.

ANATOL.

Nichts ?

Wie können Sie das behaupten ? —

Warum verbummle ich mein Leben ? — Wer ist schuld ? —

GABRIELE.

Geben Sie mir die Pakete! —

Ich habe ja niemandem die Schuld gegeben . . . Ich fragte nur so ins Blaue . . .

ANATOL.

GABRIELE.

Sie gehen wohl immerfort spazieren?

Spazieren! Da legen Sie so einen verächtlichen Ton hinein! Als wenn es was Schöneres gäbe! —• Es liegt so was herrlich Planloses in dem Wort! — Heut paßt es übrigens gar nicht auf mich — heut bin ich beschäftigt, gnädige Frau — genau so wie Sie! —

ANATOL.

GABRIELE. ANATOL.

Wieso ?! Ich mache auch Weihnachtseinkäufe! —

26

Anatol

GABRIELE.

Sie! ?

Ich finde nur nichts Rechtes I — Dabei stehe ich seit Wochen jeden Abend vor allen Auslagefenstern in allen Straßen! — Aber die Kaufleute haben keinen Geschmack und keinen Erfindungsgeist.

ANATOL.

Den muß eben der Käufer haben! Wenn man so wenig zu tun hat wie Sie, da denkt man nach, erfindet selbst — und bestellt seine Geschenke schon im Herbst. —

GABRIELE.

Ach, dazu bin ich nicht der Mensch I — Weiß man denn überhaupt im Herbst, wem man zu Weihnachten etwas schenken wird? — Und jetzt ist's wieder zwei Stunden vor Christbaum — und ich habe noch keine Ahnung, keine Ahnung — I

ANATOL.

Soll ich Ihnen helfen ?

GABRIELE.

Gnädige Frau . . . Sie sind ein Engel — aber nehmen Sie mir die Päckchen nicht weg . . .

ANATOL.

GABRIELE. ANATOL. GABRIELE. ANATOL.

Nein, nein . . . Also Engel I darf man sagen. — Das ist schön — Engel! — Wollen Sie gefälligst schweigen? Ich bin schon wieder ganz ruhig I

Also — geben Sie mir irgendeinen Anhaltspunkt . . . Für wen soll Ihr Geschenk gehören ?

GABRIELE. ANATOL. GABRIELE.

. . . Das ist . . . eigentlich schwer zu sagen . . . Für eine Dame natürlich ? I

Na, ja — daß Sie eine Menschenkennerin sind, hab' ich Ihnen heut schon einmal gesagt 1

ANATOL.

GABRIELE.

Aber was . . . für eine Dame ? -— Eine wirkliche Dame ?!

. . . Da müssen wir uns erst über den Begriff einigen 1 Wenn Sie meinen, eine Dame der großen Welt, — da stimmt es nicht vollkommen . . .

ANATOL.

GABRIELE. ANATOL. GABRIELE. ANATOL.

Also . . . der kleinen Welt ? . . . Gut — sagen wir der kleinen Welt. — Das hätt' ich mir eigentlich denken können . . .! Nur nicht sarkastisch werden I

Ich kenne ja Ihren Geschmack . . . Wird wohl wieder irgendwas von der Linie sein — dünn und blond!

GABRIELE.

Weihnachtseinkäufe ANATOL.

Blond — gebe ich Zu . . .

27

I

. . . Ja, ja . . . blond . . . es ist merkwürdig, daß Sie immer mit solchen Vorstadtdamen zu tun haben — aber immer!

GABRIELE.

ANATOL.

Gnädige Frau — m e i n e Schuld ist es nicht.

Lassen Sie das — mein Herrl — Oh, es ist auch ganz gut, daß Sie bei Ihrem Genre bleiben . . . es wäre ein großes Unrecht, wenn Sie die Stätte Ihrer Triumphe verließen . . .

GABRIELE.

Aber was soll ich den tun — man liebt mich nur da draußen . . .

ANATOL.

GABRIELE.

Versteht man Sie denn . . . da draußen ?

Keine Ideel — Aber, sehen Sie . . . in der kleinen Welt werd' ich nur geliebt; in der großen — nur verstanden —• Sie wissen ja . . .

ANATOL.

Ich weiß gar nichts . . . und will weiter nichts wissen! — Kommen Sie . . . hier ist gerade das richtige Geschäft . . . da wollen wir Ihrer Kleinen was kaufen . . .

GABRIELE.

ANATOL.

Gnädige Frau! —

Nun ja . . . sehen Sie einmal . . . da . . . so eine kleine Schatulle mit drei verschiedenen Parfüms . . . oder diese hier mit den sechs Seifen . . . Patschuli . . . Chypre . . . Jockey-Club — das müßte doch was sein — nicht?!

GABRIELE.

ANATOL.

Gnädige Frau — s c h ö n ist das nicht von Ihnen!

Oder warten Sie, hier . . . I — Sehen Sie doch . . . Diese kleine Brosche mit sechs falschen Brillanten — denken Sie — sechs! — Wie das nur glitzertI — Oder dieses reizende, kleine Armband mit den himmlischen Berloques . . . ach, — eins stellt gar einen veritablen Mohrenkopf vorl — Das muß doch riesig wirken . . . in der Vorstadt! . . .

GABRIELE.

Gnädige Frau — Sie irren sich! Sie kennen diese Mädchen nicht — die sind anders, als Sie sich vorstellen . . .

ANATOL.

Und da . . . ach, wie reizend! — Kommen Sie doch näher — nun — was sagen Sie zu dem Hut! ? — Die Form war vor zwei Jahren höchst modern! Und die Federn — wie die wallen — nicht!? Das müßte ein kolossales Aufsehen machen — in Hernais ?!

GABRIELE.

Gnädige Frau . . . von Hernais war nie die Rede . . . und übrigens unterschätzen Sie wahrscheinlich auch den Hernalser Geschmack . . .

ANATOL.

Anatol

28

Ja . . . es ist wirklich schwer mit Ihnen — so kommen Sie mir doch zu Hilfe — geben Sie mir eine Andeutung —

GABRIELE.

Wie soll ich das . . . ? I Sie würden ja doch überlegen lächeln — jedenfalls 1

ANATOL.

Oh nein, o nein! — Belehren Sie mich nur . . .! Ist sie eitel — oder bescheiden? — Ist sie groß oder klein? — Schwärmt sie für bunte Farben . . . ?

GABRIELE.

Ich hätte Ihre Freundlichkeit nicht annehmen sollen! Sie spotten nur!

ANATOL.

O nein, ich höre schon zu! — Erzählen Sie mir doch was von ihr!

GABRIELE. ANATOL.

GABRIELE. ANATOL. GABRIELE. ANATOL.

Ich wage es nicht — Wagen Sie's nur! . . . Seit wann . . . ? Lassen wir das! Ich bestehe darauf! — Seit wann kennen Sie sie? Seit — längerer Zeit!

Lassen Sie sich doch nicht in dieser Weise ausfragen . . .! Erzählen Sie mir einmal die ganze Geschichte . . .!

GABRIELE. ANATOL.

Es ist gar keine Geschichte!

Aber, wo Sie sie kennengelernt haben, und wie und wann, und was das überhaupt für eine Person ist — das möcht' ich wissen!

GABRIELE.

Gut — aber es ist langweilig — ich mache Sie darauf aufmerksam!

ANATOL.

Mich wird es schon interessieren. Ich möchte wirklich einmal was aus dieser Welt erfahren! — Was ist das überhaupt für eine Welt ? — Ich kenne sie ja gar nicht! ANATOL. Sie würden sie auch gar nicht verstehen! GABRIELE.

GABRIELE.

Oh, mein Herr!

Sie haben eine so summarische Verachtung für alles, was nicht Ihr Kreis ist! — Sehr mit Unrecht.

ANATOL.

Aber ich bin ja so gelehrig! — Man erzählt mir ja nichts aus dieser Welt! •— Wie soll ich sie kennen ?

GABRIELE.

Aber . . . Sie haben so eine unklare Empfindung, daß — man dort Ihnen etwas wegnimmt. Stille Feindschaft!

ANATOL.

Weihnachtseinkäufe

29

Ich bitte — mir nimmt man nichts weg — wenn ich etwas behalten will.

GABRIELE.

Ja . . . aber, wenn Sie selber irgendwas nicht wollen . . . es ärgert Sie doch, wenn's ein anderer kriegt ?

ANATOL.

GABRIELE.

OH—!

Gnädige Frau . . . Das ist nur echt weiblich! Und da es echt weiblich ist — ist es ja wahrscheinlich auch höchst vornehm und schön und tief . . .! GABRIELE. W O Sie nur die Ironie herhaben! I

ANATOL.

W O ich sie herhabe ? — Ich will es Ihnen sagen. Auch ich war einmal gut — und voll Vertrauen — und es gab keinen Hohn in meinen Worten . . . Und ich habe manche Wunde still ertragen — GABRIELE. Nur nicht romantisch werden!

ANATOL.

Die ehrlichen Wunden — ja! — Ein »Nein« zur rechten Zeit, selbst von den geliebtesten Lippen — ich konnte es verwinden. — Aber ein »Nein«, wenn die Augen hundertmal »Vielleicht« gesagt — wenn die Lippen hundertmal »Mag sein!« gelächelt, — wenn der Ton der Stimme hundertmal nach »Gewiß« geklungen — so ein »Nein« macht einen —

ANATOL.

GABRIELE. ANATOL.

SO

Spötter! GABRIELE. ANATOL.

Wir wollten ja was kaufen! ein Nein macht einen zum Narren . . . oder zum

. . . Sie wollten mir ja . . . erzählen —

Gut — wenn Sie durchaus etwas erzählt haben wollen . . .

GABRIELE.

Gewiß will ich es I . . . Wie lernten Sie sie kennen . . . ?

Gott — wie man eben jemand kennenlernt! — Auf der Straße — beim Tanz — in einem Omnibus — unter einem Regenschirm — GABRIELE. Aber — Sie wissen ja •— der spezielle Fall interessiert mich. Wir wollen ja dem speziellen Fall etwas kaufen I

ANATOL.

Dort in der . . . »kleinen Welt« gibt's ja keine speziellen Fälle — eigentlich auch in der großen nicht . . . Ihr seid ja alle so typisch! GABRIELE. Mein Herr 1 Nun fangen Sie an •—

ANATOL.

Es ist ja nichts Beleidigendes — durchaus nicht! Ich bin ja auch ein Typus!

ANATOL.

30

Anatol Und was für einer denn ?

GABRIELE.

. . . Leichtsinniger Melancholiker!

ANATOL. GABRIELE. ANATOL. GABRIELE. ANATOL.

. . . U n d . . . u n d ich ?

Sie ? •— ganz einfach: Mondäne I So . . .! und s i e l ? Sie . . . ? Sie . . d a s süße Mädll

Süßl Gleich »süß«? — Und ich — die »Mondäne« schlechtweg —

GABRIELE. ANATOL. GABRIELE.

Mädl!

Böse Mondäne — wenn Sie durchaus wollen . . . Also . . . erzählen Sie mir endlich von dem . . . süßen

Sie ist nicht faszinierend schön — sie ist nicht besonders elegant — und sie ist durchaus nicht geistreich . . .

ANATOL.

GABRIELE.

Ich will ja nicht wissen, was sie n i c h t ist —

Aber sie hat die weiche Anmut eines Friihlingsabends . . . und die Grazie einer verzauberten Prinzessin . . . und den Geist eines Mädchens, das zu lieben weiß!

ANATOL.

Diese Art von Geist soll ja sehr verbreitet sein . . . in Ihrer kleinen Welt! . . .

GABRIELE.

Sie können sich da nicht hineindenken! . . . Man hat Ihnen zu viel verschwiegen, als Sie junges Mädchen waren — und hat Ihnen zu viel gesagt, seit Sie junge Frau sind! . . . Darunter leidet die Naivität Ihrer Betrachtungen —

ANATOL.

Aber Sie hören doch — ich will mich belehren lassen . . . Ich glaube Ihnen ja schon die »verzauberte Prinzessin«! — Erzählen Sie mir nur, wie der Zaubergarten ausschaut, in dem sie ruht —

GABRIELE.

Da dürfen Sie sich freilich nicht einen glänzenden Salon vorstellen, wo die schweren Portieren niederfallen — mit Makartbuketts in den Ecken, Bibelots, Leuchttürmen, mattem Samt . . . und dem affektierten Halbdunkel eines sterbenden Nachmittags.

ANATOL.

GABRIELE.

soll . . .

Ich will ja nicht wissen, was ich mir n i c h t vorstellen

Also — denken Sie sich — ein kleines dämmeriges Zimmer — so klein — mit gemalten Wänden — und noch dazu etwas zu licht — ein paar alte, schlechte Kupferstiche mit ver-

ANATOL.

Weihnachtseinkäufe

31

blaßten Aufschriften hängen da und dort. — Eine Hängelampe mit einem Schirm. — Vom Fenster aus, wenn es Abend wird, die Aussicht auf die im Dunkel versinkenden Dächer und Rauchfänge ! . . . Und — wenn der Frühling kommt, da wird der Garten gegenüber blühn und duften . . . Wie glücklich müssen Sie sein, daß Sie schon zu Weihnachten an den Mai denken I

GABRIELE.

ANATOL.

Ja — d o r t bin ich auch zuweilen glücklich!

Genug, genug! — Es wird spät . . . wir wollten ihr was kaufen! . . . Vielleicht etwas für das Zimmer mit den gemalten Wänden . . .

GABRIELE.

ANATOL.

ES

fehlt nichts darin!

Ja . . . ihr! — das glaub' ich wohl 1 — Aber ich möchte Ihnen — ja Ihnen I das Zimmer so recht nach Ihrer Weise schmükken!

GABRIELE.

ANATOL. GABRIELE. ANATOL. GABRIELE. ANATOL. GABRIELE. ANATOL.

Mir ?

Mit persischen Teppichen . . . Aber ich bitte Sie •— da hinaus! Mit einer Ampel von gebrochenem, rotgrünem Glas . . . ? H m I

Ein paar Vasen mit frischen Blumen? Ja . . . aber ich will ja i h r was bringen —

Ach ja . . . es ist wahr — wir müssen uns entscheiden — sie wartet wohl schon auf Sie ?

GABRIELE.

ANATOL.

Gewiß 1

Sie wartet? — Sagen Sie . . . wie empfängt sie Sie denn? — A N A T O L . Ach — wie man eben empfängt. — GABRIELE.

GABRIELE.

Sie hört Ihre Schritte schon auf der Treppe . . . nicht

wahr? ANATOL. GABRIELE. ANATOL.

Ja . . . zuweilen . . . Und steht bei der Türe ? Ja!

Und fällt Ihnen um den Hals — und küßt Sie — und sagt . . . Was sagt sie denn . . . ?

GABRIELE.

32

Anatol

Was man eben in solchen Fällen sagt . . .

ANATOL.

Nun . . . zum Beispiel!

GABRIELE.

Ich weiß kein Beispiel!

ANATOL. GABRIELE.

Was sagte sie gestern?

Ach — nichts Besonderes . . . das klingt so einfältig, wenn man nicht den Ton der Stimme dazu hört . . . 1

ANATOL.

Ich will ihn mir schon dazu denken: Nun — was sagte

GABRIELE.

sie?

. . . »Ich bin so froh, daß ich dich wiederhab' I«

ANATOL. GABRIELE. ANATOL.

»Ich bin so froh« — wie ? I

»Daß ich dich wiederhab' I« . . .

GABRIELE. ANATOL.

. . . Das ist eigentlich hübsch — sehr hübsch I — Ja . . . es ist herzlich und wahr!

Und sie ist. . . immer allein ? — Ihr könnt euch so ungestört sehen I? —

GABRIELE.

Nun ja — sie lebt so für sich — sie steht ganz allein — keinen Vater, keine Mutter . . . nicht einmal eine Tante!

ANATOL.

GABRIELE. ANATOL.

Und Sie . . . sind ihr alles . . . ? . . . Möglich! . . . Heute . . . Schweigen.

. . . E S wird so spät — sehen Sie, wie leer es schon in den Straßen ist . . .

GABRIELE. ANATOL.

Oh — ich hielt Sie auf! — Sie müssen ja nach Hause. —

Freilich — freilich! Man wird mich schon erwarten i — Wie machen wir das nur mit dem Geschenk . . . ?

GABRIELE. ANATOL.

Oh — ich finde schon noch irgendeine Kleinigkeit . . .!

Wer weiß, wer weiß! — Und ich habe mir schon einmal in den Kopf gesetzt, daß ich Ihrer . . . daß ich dem . . . Mädel — was aussuchen will . . .!

GABRIELE.

ANATOL.

Aber, ich bitte Sie, gnädige Frau I

. . . Ich möchte am liebsten dabei sein, wenn Sie ihr das Weihnachtsgeschenk bringen I . . . Ich habe eine solche Lust bekommen, das kleine Zimmer und das süße Mädl zu sehen! — Die weiß ja gar nicht, wie gut sie's hat I

GABRIELE.

ANATOL.

. . .!

Weihnachtseinkäufe GABRIELE.

spät . . . ANATOL.

33

Nun aber, geben Sie mir die Päckchen I — Es wird so Ja, jal Hier sind sie — aber . . .

Bitte — winken Sie dem Wagen dort, der uns entgegenkommt . . .

GABRIELE. ANATOL.

Diese Eile mit einem Mal ? 1

Bitte, bitte! Er winkt. Ich danke Ihnen . . .! Aber was machen wir nun mit dem Geschenk . . . ? Der Wagen hat gehalten; er und sie sind stehengeblieben, er will die Wagentüre öffnen.

GABRIELE.

GABRIELE. ANATOL.

Warten Sie! — . . . Ich möchte ihr selbst was schicken! Sie . . . ?! Gnädige Frau, Sie selbst . . .

Was nur ? 1 — Hier . . . nehmen Sie . . . diese Blumen . . . ganz einfach, diese Blumen . . .! Es soll nichts anderes sein als ein Gruß, gar nichts weiter . . . Aber . . . Sie müssen ihr was dazu ausrichten. —

GABRIELE.

ANATOL.

Gnädige Frau — Sie sind so lieb —

Versprechen Sie mir, ihr's zu bestellen . . . und mit den Worten, die ich Ihnen mitgeben will —

GABRIELE. ANATOL. GABRIELE.

Gewiß. Versprechen Sie's mir? —

ANATOL.

Ja . . . mit Vergnügen! Warum denn nicht!

GABRIELE

hat die Wagentür geöffnet.

ANATOL.

Nun . .. ?

So sagen Sie ihr . . .

Sagen Sie ihr: »Diese Blumen, mein . . . süßes Mädl, schickt dir eine Frau, die vielleicht ebenso lieben kann wie du, und die den Mut dazu nicht hatte . . .«

GABRIELE.

Gnädige . . . Frau! ? Sie ist in den Wagen gestiegen Der Wagen rollt fort, die Straßen sind fast menschenleer geworden. Er schaut dem Wagen lange nach, bis er um die eine Ecke gebogen ist . . . Er bleibt noch eine Weile stehen; dann sieht er auf die Uhr und eilt rasch fort.

ANATOL.

Vorhang.

3 KOMEDIA VI

EPISODE ANATOL, M A X , BIANCA.

Maxens Zimmer, im ganzen dunkel gehalten, dunkelrote Tapeten, dunkelrote Portieren. Im Hintergrunde, Mitte, eine Tür. Eine zweite links vom Zuschauer. In der Mitte des Zimmers ein großer Schreibtisch; eine Lampe mit einem Schirm steht darauf; Bücher und Schriften liegen auf demselben. Rechts vorn ein hohes Fenster. Im Winkel rechts ein Kamin, in welchem ein Feuer lodert. Davor %wei niedere Lehnsessel. Zwanglos daneben gerückt ein dunkelroter Ofenschirm. MAX sit^t vor dem Schreibtisch und liest, seine Zigarre rauchend, einen Brief. »Mein lieber Maxi Ich bin wieder da. Unsere Gesellschaft bleibt drei Monate hier, wie Sie wohl in der Zeitung gelesen haben. Der erste Abend gehört der Freundschaft. Heute abend bin ich bei Ihnen. Bibi . . .« Bibi . . . also Bianca . . . Nun, ich werde sie erwarten. Es klopft. Sollte sie es schon sein . . . ? Herein I tritt ein, ein großes Paket unter dem Arm tragend, düster. Guten Abend!

ANATOL

MAX. Ah — was bringst du ? ANATOL.

Ich suche ein Asyl für meine Vergangenheit.

MAX. Wie soll ich das verstehen? ANATOL MAX.

hält ihm das Paket

entgegen.

Nun ?

Hier bringe ich dir meine Vergangenheit, mein ganzes Jugendleben: Nimm es bei dir auf.

ANATOL.

MAX. Mit Vergnügen. Aber du wirst dich doch näher erklären? ANATOL.

Darf ich mich setzen ?

MAX. Gewiß. Warum bist du übrigens so feierlich ? ANATOL

hat sich niedergesetzt•

Darf ich mir eine Zigarre anzünden ?

Episode

35

MAX. Da I Nimm, sie sind von der heurigen Ernte. ^ündet sich eine der angebotenen Zigarren an. Ah — ausgezeichnet ! MAX auf das Paket deutend, welches Anatol auf den Schreibtisch gelegt hat. Und . . .? ANATOL

Dieses Jugendleben hat in meinem Haus kein Quartier mehrl Ich verlasse die Stadt.

ANATOL. MAX.

Ah!

Ich beginne ein neues Leben auf unbestimmte Zeit. Dazu muß ich frei und allein sein, und darum löse ich mich von der Vergangenheit los.

ANATOL.

MAX. Du hast also eine neue Geliebte. Nein — ich habe nur vorläufig die alte nicht mehr . . . rasch abbrechend und auf das Paket deutend — bei dir, mein lieber Freund, darf ich all diesen Tand ruhen lassen.

ANATOL.

MAX. Tand, sagst du —I Warum verbrennst du ihn nicht? ANATOL.

Ich kann nicht.

MAX. Das ist kindisch. nein: Das ist so meine Art von Treue. Keine von allen, die ich liebte, kann ich vergessen. Wenn ich so in diesen Blättern, Blumen, Locken wühle -— du mußt mir gestatten, manchmal zu dir zu kommen, nur um zu wühlen — dann bin ich wieder bei ihnen, dann leben sie wieder, und ich bete sie aufs neue an.

ANATOL. O

MAX. DU willst dir also in meiner Behausung ein Stelldichein mit alten Geliebten geben . . . ? kaum auf ihn hörend. Ich habe manchmal so eine Idee . . . Wenn es irgendein Machtwort gäbe, daß alle wieder erscheinen müßten! Wenn ich sie hervorzaubern könnte aus dem Nichts! MAX. Dieses Nichts wäre etwas verschiedenartig. ANATOL

ANATOL.

Ja, ja . . . denke dir, ich spräche es aus, dieses Wort . . .

MAX. Vielleicht findest du ein wirksames . . . zum Beispiel: Einzig Geliebte! Ich rufe also: Einzig Geliebte . . .! Und nun kommen sie; die eine aus irgendeinem kleinen Häuschen aus der Vorstadt, die andere aus dem prunkenden Salon ihres Herrn Gemahls — eine aus der Garderobe ihres Theaters —

ANATOL.

36

Anatol

MAX. Mehrere! ANATOL.

Mehrere — gut . . . Eine aus dem Modistengeschäft —

MAX. Eine aus den Armen eines neuen Geliebten — Eine aus dem Grabe . . . Eine von da — eine von dort — und nun sind sie alle da . . .

ANATOL.

MAX. Sprich das Wort lieber nicht aus. Diese Versammlung könnte ungemütlich werden. Denn sie haben vielleicht alle aufgehört, dich zu lieben — aber keine, eifersüchtig zu sein. ANATOL.

Sehr weise . . . Ruhet also in Frieden.

MAX. Nun heißt es aber einen Platz für dieses stattliche Päckchen zu finden. D U wirst es verteilen müssen. Reißt das Paket auf; es liegen zierliche, durch Bänder zusammengehaltene Päckchen zutage.

ANATOL. MAX.

Ah!

ANATOL.

Es ist alles hübsch geordnet.

MAX. Nach Namen ? nein. Jedes Päckchen trägt irgendeine Aufschrift: Einen Vers, ein Wort, eine Bemerkung, die mir das ganze Erlebnis in die Erinnerung zurückrufen. Niemands Namen — denn Marie oder Anna könnte schließlich jede heißen.

ANATOL. O

MAX. Laß lesen. Werde ich euch alle wieder kennen ? Manches liegt jahrelang da, ohne daß ich es wieder angesehen habe.

ANATOL.

MAX eines der Päckchen in die Hand nehmend, die Aufschrift »Du reizend Schöne, Holde, Wilde, Laß mich umschlingen deinen Leib; Ich küsse deinen Hals, Mathilde, Du wundersames süßes Weib!« . . . Das ist ja doch ein Name —? Mathilde!

lesend.

Ja, Mathilde. — Sie hieß aber anders. Immerhin habe ich ihren Hals geküßt.

ANATOL. MAX.

Wer war sie ?

ANATOL.

genügt.

Frage das nicht. Sie hat in meinen Armen gelegen, das

MAX. Also fort mit der Mathilde. — Übrigens ein sehr schmales Päckchen.

Episode ANATOL.

37

Ja, es ist nur eine Locke darin.

MAX. Gar keine Briefe ? Oh — von derl Das hätte ihr die riesigste Mühe gemacht. Wo kämen wir aber hin, wenn uns alle Weiber Briefe schrieben! Also weg mit der Mathilde.

ANATOL.

MAX wie oben. »In einer Beziehung sind alle Weiber gleich: Sie werden impertinent, wenn man sie auf einer Lüge ertappt.« ANATOL.

Ja, das ist wahr!

MAX. Wer war die ? Ein gewichtiges Päckchen! ANATOL.

Lauter acht Seiten lange Lügen! Weg damit.

MAX. Und impertinent war sie auch ? ANATOL.

Als ich ihr drauf kam. Weg mit ihr.

MAX. Weg mit der impertinenten Lügnerin. Keine Beschimpfungen. Sie lag in meinen Armen; — sie ist heilig.

ANATOL.

MAX. Das ist wenigstens ein guter Grund. Also weiter. Wie oben. »Um mir die böse Laune wegzufächeln, Denk' ich an deinen Bräutigam, mein Kind. Ja dann, mein süßer Schatz, dann muß ich lächeln, Weil's Dinge gibt, die gar zu lustig sind.« ANATOL lächelnd. Ach ja, das war sie. MAX. Ah, — was ist denn drin ? ANATOL.

Eine Photographie. Sie mit dem Bräutigam.

MAX. Kanntest du ihn ? Natürlich, sonst hätte ich ja nicht lächeln können. Er war ein Dummkopf.

ANATOL.

MAX ernst. Er ist in ihren Armen gelegen; er ist heilig. ANATOL.

Genug.

MAX. Weg mit dem lustigen süßen Kind samt lächerlichem Bräutigam. Ein neues Päckchen nehmend. Was ist das? Nur ein Wort? ANATOL.

Welches denn?

MAX. »Ohrfeige.« Oh, ich erinnere mich schon. MAX. Das war wohl der Schluß ? ANATOL.

Anatol

38 ANATOL.

Oh nein, der Anfang.

MAX. Ach so! Und hier . . . »Es ist leichter, die Richtung einer Flamme zu verändern, als sie zu entzünden.« — Was bedeutet das ? Nun, ich habe die Richtung der Flamme verändert: Entzündet hat sie ein anderer.

ANATOL.

MAX. Fort mit der Flamme . . . »Immer hat sie ihr Brenneisen mit.« Sieht Anatol fragend an. Nun ja; sie hatte eben immer ihr Brenneisen mit'— für alle Fälle. Aber sie war sehr hübsch. Übrigens hab' ich nur ein Stück Schleier von ihr.

ANATOL.

MAX. Ja, es fühlt sich so an . . . Weiterlesend. »Wie hab' ich dich verloren?« . . . Nun, wie hast du sie verloren? Das weiß ich eben nicht. Sie war fort — plötzlich aus meinem Leben. Ich versichere dir, das kommt manchmal vor. Es ist, wie wenn man irgendwo einen Regenschirm stehen läßt und sich erst viele Tage später erinnert . . . Man weiß dann nicht mehr wann und wo.

ANATOL.

MAX. Ade Verlorene. Wie oben. »Warst ein süßes, liebes Ding —« ANATOL

gern.«

träumerisch fortfahrend.

»Mädel mit den zerstochenen Fin-

MAX. Das war Cora — nicht ? ANATOL.

Ja — du hast sie ja gekannt.

MAX. Weißt du, was aus ihr geworden ist? Ich habe sie später wieder getroffen — als Gattin eines Tischlermeisters.

ANATOL.

MAX. Wahrhaftig! Ja, so enden diese Mädel mit den zerstochenen Fingern. In der Stadt werden sie geliebt und in der Vorstadt geheiratet. . . 's war ein Schatz!

ANATOL.

MAX. Fahr wohl —! Und was ist das? . . . »Episode« — da ist ja nichts darin? . . . Staub! das Kuvert in die Hand nehmend. eine Blume!

ANATOL

Staub — ? Das war einmal

MAX. Was bedeutet das: Episode ? Ach nichts; so ein zufälliger Gedanke. Es war nur eine Episode, ein Roman von zwei Stunden . . . nichts 1 . . . Ja, Staub!

ANATOL.

Episode

39

— Daß von so viel Süßigkeit nichts anderes zurückbleibt, ist eigentlich traurig. — Nicht ? MAX. Ja, gewiß ist das traurig . . . Aber wie kamst du zu dem Worte ? Du hättest es doch überall hinschreiben können ? Jawohl; aber niemals kam es mir zu Bewußtsein wie damals. Häufig, wenn ich mit der oder jener zusammen war, besonders in früherer Zeit, wo ich noch sehr Großes von mir dachte, da lag es mir auf den Lippen: Du armes Kind — du armes Kind —!

ANATOL.

MAX. Wieso? Nun, ich kam mir so vor, wie einer von den Gewaltigen des Geistes. Diese Mädchen und Frauen — ich zermalmte sie unter meinen ehernen Schritten, mit denen ich über die Erde wandelte. Weltgesetz, dachte ich, — ich muß über euch hinweg.

ANATOL.

MAX. Du warst der Sturmwind, der die Blüten wegfegte . . . nicht ? Ja! So brauste ich dahin. Darum dachte ich eben: Du armes, armes Kind. Ich habe mich eigentlich getäuscht. Ich weiß heute, daß ich nicht zu den Großen gehöre, und was gerade so traurig ist, — ich habe mich darein gefunden. Aber damals!

ANATOL.

MAX. Nun, und die Episode ? Ja, das war eben auch so . . . Das war so ein Wesen, das ich auf meinem Wege fand.

ANATOL.

MAX. Und zermalmte. Du, wenn ich mir's überlege, so scheint mir: Die habe ich wirklich zermalmt.

ANATOL.

MAX.

Ahl

Ja, höre nur. Es ist eigentlich das Schönste von allem, was ich erlebt habe . . . Ich kann es dir gar nicht erzählen.

ANATOL.

MAX. Warum ? Weil die Geschichte so gewöhnlich ist als nur möglich . . . Es ist . . . nichts. Du kannst das Schöne gar nicht herausempfinden. Das Geheimnis der ganzen Sache ist, daß ich's erlebt habe.

ANATOL.

MAX.

Nun — ?

Also da sitze ich vor meinem Klavier . . . In dem kleinen Zimmer war es, das ich damals bewohnte . . . Abend . . . Ich

ANATOL.

40

Anatol

kenne sie seit zwei Stunden . . . Meine grün-rote Ampel brennt — ich erwähne die grün-rote Ampel; sie gehört auch dazu. M A X . Nun ? A N A T O L . Nun! Also ich am Klavier. Sie — zu meinen Füßen, so daß ich das Pedal nicht greifen konnte. Ihr Kopf liegt in meinem Schoß, und ihre verwirrten Haare funkeln grün und rot von der Ampel. Ich phantasiere auf dem Flügel, aber nur mit der linken Hand; meine rechte hat sie an ihre Lippen gedrückt . . . MAX. Nun? ANATOL. Immer mit deinem erwartungsvollen »Nun« . . . Es ist eigentlich nichts weiter . . . Ich kenne sie also seit zwei Stunden, ich weiß auch, daß ich sie nach dem heutigen Abend wahrscheinlich niemals wiedersehen werde — das hat sie mir gesagt —, und dabei fühle ich, daß ich in diesem Augenblick wahnsinnig geliebt werde. Das hüllt mich so ganz ein — die ganze Luft war trunken und duftete von dieser Liebe . . . Verstehst du mich? Max nickt. — Und ich hatte wieder diesen törichten göttlichen Gedanken: Du armes, — armes Kindl Das Episodenhafte der Geschichte kam mir so deutlich zum Bewußtsein. Während ich den warmen Hauch ihres Mundes auf meiner Hand fühlte, erlebte ich das Ganze schon in der Erinnerung. Es war eigentlich schon vorüber. Sie war wieder eine von denen gewesen, über die ich hinweg mußte. Das Wort selbst fiel mir ein, das dürre Wort: Episode. Und dabei war ich selber irgend etwas Ewiges . . . Ich wußte auch, daß das »arme Kind« nimmer diese Stunde aus ihrem Sinn schaffen könnte — gerade bei der wüßt' ich's. Oft fühlt man es ja: Morgen früh bin ich vergessen. Aber da war es etwas anderes. Für diese, die da zu meinen Füßen lag, bedeutete ich eine Welt; ich fühlte es, mit welch einer heiligen unvergänglichen Liebe sie mich in diesem Momente umgab. Das empfindet man nämlich; ich lasse es mir nicht nehmen. Gewiß konnte sie in diesem Augenblick nichts anderes denken als mich — nur mich. Sie aber war für mich jetzt schon das Gewesene, Flüchtige, die Episode. MAX. Was war sie denn eigentlich ? A N A T O L . Was sie war — ? Nun, du kanntest sie. — Wir haben sie eines Abends in einer lustigen Gesellschaft kennengelernt, du kanntest sie sogar schon von früher her, wie du mir damals sagtest. MAX. Nun, wer war sie denn ? Ich kenne sehr viele von früher her. Du schilderst sie ja in deinem Ampellicht wie eine Märchengestalt.

Episode

41

Ja — im Leben war sie das nicht. Weißt du, was sie war — ? Ich zerstöre jetzt eigentlich den ganzen Nimbus.

ANATOL.

MAX. Sie war also — ? lächelnd.

ANATOL

Sie war — vom — vom —

MAX. Vom Theater-—? Nein — vom Zirkus. MAX. Ist's möglich! ANATOL. Ja — Bianca war es. Ich hab' es dir bis heute nicht erzählt, daß ich sie wiedertraf — nach jenem Abend, an dem ich mich um sie gar nicht gekümmert hatte. ANATOL.

MAX.

Und du glaubst wirklich, daß dich Bibi geliebt hat — ?

Ja, gerade diel Acht oder zehn Tage nach jenem Feste begegneten wir uns auf der Straße . . . Am Morgen darauf mußte sie mit der ganzen Gesellschaft nach Rußland. MAX. Es war also die höchste Zeit.

ANATOL.

Ich wüßt' es ja; nun ist für dich das Ganze zerstört. Du bist eben noch nicht auf das wahre Geheimnis der Liebe gekommen. MAX. Und worin löst sich für dich das Rätsel der Frau ?

ANATOL.

ANATOL.

In der Stimmung.

MAX. Ah — du brauchst das Halbdunkel, deine grün-rote Ampel . . . dein Klavierspiel. ANATOL. Ja, das ist's. Und das macht mir das Leben so vielfältig und wandlungsreich, daß mir eine Farbe die ganze Welt verändert. Was wäre für dich, für tausend andere dieses Mädchen gewesen mit den funkelnden Haaren; was für euch diese Ampel, über die du spottest! Eine Zirkusreiterin und ein rot-grünes Glas mit einem Licht dahinter! Dann ist freilich der Zauber weg; dann kann man wohl leben, aber man wird nimmer was erleben. Ihr tappt hinein in irgendein Abenteuer, brutal, mit offenen Augen, aber mit verschlossenem Sinn, und es bleibt farblos für euch! Aus meiner Seele aber, ja, aus mir heraus blitzen tausend Lichter und Farben drüber hin, und ich kann empfinden, wo ihr nur — genießt! MAX. Ein wahrer Zauberborn, deine »Stimmung«. Alle, die du liebst, tauchen darin unter und bringen dir nun einen sonderbaren Duft von Abenteuern und Seltsamkeit mit, an dem du dich berauschest.

42 ANATOL.

Anatol Nimm es so, wenn du willst.

MAX. Was nun aber deine Zirkusreiterin anbelangt, so wirst du mir schwerlich erklären können, daß sie unter der grün-roten Ampel dasselbe empfinden mußte wie du. ANATOL.

fühlte I

Aber ich mußte empfinden, was sie in meinen Armen

MAX. Nun, ich habe sie ja auch gekannt, deine Bianca, und besser als du. ANATOL.

Besser ?

MAX. Besser; weil wir einander nicht liebten. Für mich ist sie nicht die Märchengestalt; für mich ist sie eine von den tausend Gefallenen, denen die Phantasie eines Träumers neue Jungfräulichkeit borgt. Für mich ist sie nichts Besseres als hundert andere, die durch Reifen springen oder kurzgeschürzt in der letzten Quadrille stehen. ANATOL.

So . . . so . . .

MAX. Und sie war nichts anderes. Nicht ich habe etwas übersehen, was an ihr war; sondern du sahst, was nicht an ihr war. Aus dem reichen und schönen Leben deiner Seele hast du deine phantastische Jugend und Glut in ihr nichtiges Herz hineinempfunden, und was dir entgegenglänzte, war Licht von d e i n e m Lichte. Nein. Auch das ist mir ja zuweilen geschehen. Aber damals nicht. Ich will sie ja nicht besser machen, als sie war. Ich war weder der erste, noch der letzte . . . ich war —

ANATOL.

MAX. Nun, was warst du? . . . Einer von vielen. Dasselbe war sie in deinen Armen wie in denen der anderen. Das Weib in seinem höchsten Augenblick! Warum hab' ich dich eingeweiht? Du hast mich nicht verstanden.

ANATOL.

MAX. O nein. Du hast mich mißverstanden. Ich wollte nur sagen, du magst den süßesten Zauber empfunden haben, während es ihr dasselbe bedeutete wie viele Male zuvor. Hatte denn für sie die Welt tausend Farben ? ANATOL.

DU

kanntest sie sehr gut ?

MAX. J a ; wir begegneten uns häufig in der lustigen Gesellschaft, in welche du einmal mit mir kamst. ANATOL.

Das war alles ?

Episode

43

MAX. Alles. Aber wir waren gute Freunde. Sie hatte Witz; wir plauderten gern miteinander. ANATOL.

Das war alles ?

MAX. Alles . . . ANATOL.

. . . Und dennoch . . . sie hat mich geliebt.

MAX. Wollen wir nicht weiterlesen . . . Ein Päckchen in die Hand nehmend. »Wüßt' ich doch, was dein Lächeln bedeutet, du grünäugige . . .« . . . Weißt du übrigens, daß die ganze Gesellschaft wieder hier eingetroffen ist ?

ANATOL.

MAX. Gewiß. Sie auch. ANATOL.

Jedenfalls.

MAX. Ganz bestimmt. Und ich werde sie sogar heute abend wiedersehen. ANATOL.

Wie ? Du ? Weißt du, wo sie wohnt ?

MAX. Nein. Sie hat mir geschrieben; sie kommt zu mir. ANATOL

vom Sessel auffahrend.

Wie ? Und das sagst du mir erst jetzt ?

MAX. Was geht es dich an ? Du willst ja — »frei und allein« sein! ANATOL.

Ach

was!

MAX. Und dann ist nichts trauriger als ein aufgewärmter Zauber. ANATOL.

DU

meinst — ?

MAX. Ich meine, daß du dich in acht nehmen sollst, sie wiederzusehen. ANATOL.

Weil sie mir von neuem gefährlich werden könnte ?

MAX. Nein — weil es damals so schön war. Geh nach Hause mit deiner süßen Erinnerung. Man soll nichts wiedererleben wollen. Du kannst nicht im Ernst glauben, daß ich auf ein Wiedersehen verzichten soll, das mir so leicht gemacht wird.

ANATOL.

MAX. Sie ist klüger als du. Sie hat dir nicht geschrieben . . . Vielleicht übrigens nur, weil sie dich vergessen hat. ANATOL.

Unsinn.

MAX. DU hältst es für unmöglich ? ANATOL.

Ich lache darüber.

44

Anatol

MAX. Nicht bei allen trinkt die Erinnerung von dem Lebenselixier Stimmung, das der einen ihre ewige Frische verleiht. Oh — jene Stunde damals! MAX. Nun? A N A T O L . E S war eine von den unsterblichen Stunden. ANATOL.

MAX. Ich höre Schritte im Vorzimmer. ANATOL.

Sie ist es am Ende.

MAX. Gehe, entferne dich durch mein Schlafzimmer. ANATOL.

Daß ich ein Narr wäre.

MAX. Geh — was willst du dir denn den Zauber zerstören A N A T O L . Ich bleibe. Es klopft. MAX. Geh! Gehe rasch! A N A T O L schüttelt den Kopf. MAX. So stelle dich hierher, daß sie dich wenigstens nicht sieht — hierher . . . Er schiebt ihn Kamin hin, so daß er durch den Schirm gedeckt ist. A N A T O L sich an den Kaminsims lehnend. Meinetwegen. Es

lassen.

gleich teilweise klopft.

MAX. Herein! eintretend, lebhaft. Guten Abend, lieber Freund; da bin ich wieder. MAX ihr die Hände entgegenstreckend. Guten Abend, liebe Bianca, das ist schön von Ihnen, wirklich schön! B I A N C A . Meinen Brief haben Sie doch erhalten? Sie sind der allererste — der einzige überhaupt. MAX. Und Sie können sich denken, wie stolz ich bin.

BIANCA

Und was machen die anderen ? Unsere Sachergesellschaft ? Existiert sie noch? Werden wir wieder jeden Abend nach der Vorstellung beisammen sein ? MAX ist ihr beim Ablegen behilflich. Es gab aber Abende, wo Sie nicht zu finden waren. B I A N C A . Nach der Vorstellung ? BIANCA.

MAX. Ja, wo Sie gleich nach der Vorstellung verschwanden. lächelnd. Ach ja . . . natürlich . . . Wie schön das ist, wenn einem das so gesagt wird — ohne die geringste Eifersucht! Man muß auch solche Freunde haben wie Sie . . .

BIANCA

45

Episode MAX.

Ja, ja, das muß man. Die einen lieben, ohne einen zu quälen!

BIANCA.

MAX. Das ward Ihnen selten! BIANCA

den Schatten Anatols gewahrend.

ANATOL

tritt hervor, verbeugt sich.

Sie sind ja nicht allein.

MAX. Ein alter Bekannter. BIANCA

das Lorgnon %um Auge führend.

ANATOL

näher tretend.

Ah . . .

Fräulein . . .

MAX. Was sagen Sie zu der Überraschung, Bibi? etwas verlegen, sucht augenscheinlich in ihren Erinnerungen. wahrhaftig, wir kennen uns ja . . .

BIANCA

ANATOL.

Ah,

Gewiß — Bianca.

BIANCA.

Natürlich — wir kennen uns sehr gut . . .

ANATOL

erregt mit beiden Händen ihre Rechte fassend.

BIANCA.

WO

Bianca . . .

war es nur, wo wir uns trafen . . . wo nur . . . ach ja!

MAX. Erinnern Sie sich . . . BIANCA.

Freilich . . . Nicht wahr . . . es war in St. Petersburg . . . ?

rasch ihre Handfahren lassend. Es war . . . nicht in Petersburg, mein Fräulein . . . Wendet sich %um Gehen.

ANATOL

ängstlich zu Max. leidigt ?

BIANCA

Was hat er denn ? . . . Hab' ich ihn be-

MAX. Da schleicht er davon . . . Anatol ist durch die Tür im Hintergrunde BIANCA.

verschwunden.

Ja, was bedeutet denn das?

MAX. Ja, haben Sie ihn denn nicht erkannt ? BIANCA. Erkannt . . . ja, ja. Aber ich weiß nicht recht, wo und wann? MAX. Aber, Bibi, es war Anatol! BIANCA.

Anatol —? . . . Anatol . . .?

MAX. Anatol — Klavier — Ampel . . . so eine rot-grüne . . . hier in der Stadt — vor drei Jahren . . . sich an die Stirn greifend. Wo hatte ich denn meine Augen ? Anatol! Zur Tür hin. Ich muß ihn zurückrufen . . . Die Tür

BIANCA

46

Anatol

öffnend. Anatol! Hinauslaufend, AnatolI Anatol!

hinter der S%ene, im

MAX steht lächelnd da, ist ihr bis %ur Tür nachgegangen.

Stiegenhaus.

Nun ?

eintretend. Er muß schon auf der Straße sein. Erlauben Sie! Rasch das Fenster öffnend. Da unten geht er. MAX hinter ihr. Ja, das ist er. BIANCA

BIANCA

ruft.

Anatol!

MAX. Er hört Sie nicht mehr. leicht auf den Boden stampfend. Wie schade . . . Sie müssen mich bei ihm entschuldigen. Ich habe ihn verletzt, den guten, lieben Menschen.

BIANCA

MAX. Also Sie erinnern sich doch seiner? Nun, gewiß. Aber . . . er sieht irgend jemandem in Petersburg zum Verwechseln ähnlich.

BIANCA.

MAX beruhigend.

Ich werde es ihm sagen.

Und dann: Wenn man drei Jahre an jemanden nicht denkt, und er steht plötzlich da — man kann sich doch nicht an alles erinnern. MAX. Ich werde das Fenster schließen. Eine kalte Luft kommt herein. Schließt das Fenster. BIANCA.

BIANCA.

Ich werde ihn doch noch sehen, während ich hier bin?

MAX. Vielleicht. Aber etwas will ich Ihnen zeigen. Nimmt Kuvert vom Schreibtisch und hält es ihr hin. BIANCA.

das

W a s ist d a s ?

MAX. Das ist die Blume, die Sie an jenem Abend Abend trugen. BIANCA. Er hat sie aufbewahrt?

an j e n e m

MAX. Wie Sie sehen. BIANCA.

Er hat mich also geliebt ?

MAX. Heiß, unermeßlich, ewig Päckchen.

wie alle diese. Deutet auf die

Wie . . . alle diese! . . . Was heißt das ? Sind das lauter Blumen ?

BIANCA.

MAX. Blumen, Briefe, Locken, Photographien. Wir waren eben daran, sie zu ordnen.

47

Episode BIANCA

in gereiztem

Tone. In verschiedene Rubriken.

MAX. Ja, offenbar. BIANCA.

Und in welche komme ich ?

MAX. Ich glaube . . . in diese I Wirft das Kuvert in den Kamin. BIANCA.

Oh 1

MAX für sich. Ich räche dich, so gut ich kann, Freund Anatol . . . Laut. So, und nun seien Sie nicht böse . . . Setzen Sie sich zu mir her, und erzählen Sie mir etwas aus den letzen drei Jahren. Jetzt bin ich gerade aufgelegt 1 Wenn man so empfangen wirdl MAX. Ich bin doch Ihr Freund . . . Kommen Sie, Bianca . . . Erzählen Sie mir was!

BIANCA.

BIANCA

denn?

läßt sich auf den Fauteuil neben dem Kamin niederhieben.

MAX sich gegenüber von ihr niederlassend. lichen« in Petersburg. BIANCA.

Was

Zum Beispiel von dem Ȁhn-

Unausstehlich sind Sie 1

MAX. Also . . . BIANCA

ärgerlich.

Aber was soll ich denn erzählen.

MAX. Beginnen Sie nur . . . Es war einmal . . . nun . . . Es war einmal eine große, große Stadt . . . BIANCA verdrießlich. Da stand ein großer, großer Zirkus. MAX. Und da war ferner eine kleine, kleine Künstlerin. Die sprang durch einen großen, großen Reif . . . Lacht leise. MAX. Sehen Sie . . . Es geht schon 1 Der Vorhang beginnt sich sehr langsam z" senken. In einer Loge . . . nun . . . in einer Loge saß jeden Abend . . . BIANCA.

BIANCA.

Ach! MAX.

In einer Loge saß jeden Abend ein schöner, schöner . . .

Nun . . . Und . . . ? Der Vorhang ist gefallen.

DENKSTEINE ANATOL, EMILIE.

Emiliens Zimmer, mit maßvoller Eleganz ausgestattet. Abenddämmerung. Das Fenster ist o f f e n , Aussiebt auf einen Park; der Gipfel eines Baumes, kaum noch belaubt, ragt in die Fensteröffnung. . . . Ah . . . hier find' ich dich —! Und vor meinem Schreibtisch . . . ? Ja, was machst du denn? Du stöberst meine Laden durch? . . . Anatol!

EMILIE.

Es war mein gutes Recht — und ich h a t t e recht, wie sich soeben zeigt.

ANATOL.

EMILIE. ANATOL. EMILIE.

Nun — was hast du gefunden — ? Deine eigenen Briefe . . . ! Wie ? — Und das hier — ? Das hier — ?

Diese zwei kleinen Steine . . . ? Der eine ein Rubin, und dieser andere, dunkle ? — Ich kenne sie beide nicht, sie stammen nicht von mir . . .!

ANATOL.

EMILIE.

. . . Nein . . . ich hatte . . . vergessen . . .

Vergessen? . . . So wohl verwahrt waren sie; da in dem Winkel dieser untersten Lade. Gesteh es doch lieber gleich, statt zu lügen wie alle . . . So . . . du schweigst? . . . Oh, über die wohlfeile Entrüstung . . . Es ist so leicht zu schweigen, wenn man schuldig und vernichtet ist . . . Nun aber will ich weitersuchen. Wo hast du deinen anderen Schmuck verborgen?

ANATOL.

EMILIE. ANATOL. EMILIE. ANATOL. EMILIE.

Ich habe keinen anderen. Nun — Er beginnt die Laden

aufzureißen.

Such nicht . . . ich schwöre dir, daß ich nichts habe. Und dieses hier . . . warum dieses hier? Ich hatte unrecht . . . vielleicht . . .!

Denksteine

49

Vielleicht! . . . Emilie! Wir sind an dem Vorabend des Tages, wo ich dich zu meinem Weibe machen wollte. Ich glaubte wahrhaftig alles Vergangene getilgt . . . Alles . . . Mit dir zusammen hab' ich die Briefe, die Fächer, die tausend Nichtigkeiten, die mich an die Zeit erinnerten, in der wir uns noch nicht kannten . . . mit dir zusammen habe ich all das in das Feuer des Kamins geworfen . . . Die Armbänder, die Ringe, die Ohrgehänge . . . wir haben sie verschenkt, verschleudert, sie sind über die Brücke in den Fluß, durchs Fenster auf die Straße geflogen . . . Hier lagst du vor mir und schwurst mir . . . »Alles ist vorbei — und in deinen Armen erst hab' ich empfunden, was Liebe ist . . .« Ich natürlich habe dir geglaubt . . . weil wir alles glauben, was uns die Weiber sagen, von der ersten Lüge an, die uns beseligt . . .

ANATOL.

EMILIE.

Soll ich dir von neuem schwören ?

Was hilft es ? . . . Ich bin fertig . . . fertig mit dir . . . Oh, wie gut du das gespielt hast! Fieberisch, als ob du jeden Flecken abwaschen wolltest von deiner Vergangenheit, bist du hier vor den Flammen gestanden, als die Blätter und Bänder und Nippes verglühten . . . Und wie du in meinen Armen schluchztest, damals, als wir am Ufer des Flusses lustwandelten und jenes kostbare Armband in das graue Wasser hinabwarfen, wo es alsbald versank . . . wie du da weintest, Tränen der Läuterung, der Reue . . . Dumme Komödie! Siehst du, daß alles vergebens war? Daß ich dir dennoch mißtraute ? Und daß ich mit Recht da herumwühlte ? . . . Warum sprichst du nicht? . . . Warum verteidigst du dich nicht? . . .

ANATOL.

EMILIE.

Da du mich doch verlassen willst.

Aber wissen will ich, was diese zwei Steine bedeuten . . . warum du gerade d i e s e aufbewahrt hast ?

ANATOL. EMILIE.

ANATOL. EMILIE. ANATOL. EMILIE.

Du liebst mich nicht mehr . . . ? Die Wahrheit, Emilie . . . die Wahrheit will ich wissen! WOZU,

wenn du mich nicht mehr liebst.

Vielleicht steckt in der Wahrheit irgend etwas — Nun was ?

Was mich die Sache . . . begreifen macht . . . Hörst du, Emilie, ich habe keine Lust, dich für eine Elende zu halten I

ANATOL. EMILIE.

ANATOL.

Du verzeihst mir ? Du sollst mir sagen, was diese Steine bedeuten!

4 KOMEDIAVI

50 EMILIE.

Anatol Und dann willst du mir verzeihen — ?

Dieser Rubin, was er bedeutet, warum du ihn aufbewahrst —

ANATOL. EMILIE.

ANATOL.

— Und wirst mich ruhig anhören? . . . Jal . . . Aber sprich endlich . . .

. . . Dieser Rubin . . . er stammt aus einem Medaillon . . . er ist . . . herausgefallen . . .

EMILIE.

ANATOL.

Von wem war dies Medaillon?

Daran liegt es nicht . . . Ich hatte es nur an einem . . . bestimmten Tage um — an einer einfachen Kette . . . um den Hals.

EMILIE.

ANATOL.

Von wem du es hattest —!

Das ist gleichgültig . . . ich glaube, von meiner Mutter . . . Siehst du, wenn ich nun so elend wäre, als du glaubst, so könnte ich dir sagen: Darum, weil es von meiner Mutter stammt, hab' ich es aufbewahrt — und du würdest mir glauben . . . Ich habe aber diesen Rubin aufbewahrt, weil er . . . an einem Tage aus meinem Medaillon fiel, dessen Erinnerung . . . mir teuer ist . . .

EMILIE.

ANATOL.

. . . Weiter!

Ach, es wird mir so leicht, wenn ich dir's erzählen darf. — Sag, würdest du mich auslachen, wenn ich eifersüchtig wäre auf deine erste Liebe ?

EMILIE.

ANATOL.

Was soll das ?

Und doch, die Erinnerung daran ist etwas Süßes, einer von den Schmerzen, die uns zu liebkosen scheinen . . . Und dann . . . für mich ist der Tag von Bedeutung, an welchem ich das Gefühl kennenlernte, welches mich — dir verbindet. Oh, man muß lieben g e l e r n t haben, um zu lieben, wie ich dich liebe! . . . Hätten wir uns beide zu einer Zeit gefunden, wo uns die Liebe etwas Neues war, wer weiß, ob wir aneinander nicht achtlos vorübergegangen wären? . . . Oh, schüttle den Kopf nicht, Anatol; es ist so, und du selbst hast es einmal gesagt —

EMILIE.

ANATOL.

Ich selbst — ?

Vielleicht ist es gut so, so sprachst du, und wir mußten beide erst reif werden für diese Höhe der Leidenschaft!

EMILIE.

Ja . . . wir haben immer irgendeinen Trost solcher Art bereit, wenn wir eine Gefallene lieben.

ANATOL.

Denksteine

51

Dieser Rubin, ich bin ganz offen mit dir, bedeutet die Erinnerung an den Tag . . .

EMILIE.

ANATOL.

SO

sag's . . . sag's . . .

— Du weißt es schon . . . ja . . . Anatol. . . die Erinnerung an j e n e n Tag . . . Ach . . . ich war ein dummes Ding . . . sechzehn Jahre!

EMILIE.

ANATOL.

Und er zwanzig — und groß und schwarz! . . .

unschuldig. Ich weiß es nicht mehr, mein Geliebter . . . Nur an den Wald erinnere ich mich, der uns umrauschte, an den Frühlingstag, der über den Bäumen lachte . . . ach, an einen Sonnenstrahl erinnere ich mich, der zwischen dem Gesträuche hervorkam und über einen Haufen gelber Blumen glitzerte —

EMILIE

Und du verfluchst diesen Tag nicht, der dich mir nahm, bevor ich dich kannte?

ANATOL.

Vielleicht gab er mich dir . . . ! Nein, Anatol . . . wie immer es sei, ich fluche jenem Tage nicht und verschmähe auch, dir vorzulügen, daß ich es jemals tat . . . Anatol, daß ich dich liebe wie keinen je — und so wie du nie geliebt worden — du weißt es ja . . . aber wenn auch jede Stunde, die ich je erlebte, durch deinen ersten Kuß bedeutungslos geworden, — jeder Mann, dem ich begegnete, aus meinem Gedächtnis schwand — kann ich deswegen die Minute vergessen, die mich zum Weibe machte?

EMILIE.

ANATOL.

Und du gibst vor, mich zu lieben — ?

Ich kann mich der Gesichtszüge jenes Mannes kaum erinnern; ich weiß nicht mehr, wie seine Augen blickten —

EMILIE.

Aber daß du in seinen Armen die ersten Seufzer der Liebe gelacht hast . . . daß von seinem Herzen zuerst jene Wärme in das deine überströmte, die das ahnungsvolle Mädchen zum wissenden Weibe machte, das kannst du ihm nicht vergessen, dankbare Seele! Und du siehst nicht ein, daß mich dies Geständnis toll machen muß, daß du mit einem Male diese ganze schlummernde Vergangenheit wieder aufgestört hastl . . . Ja, nun weiß ich's wieder, daß du noch von anderen Küssen träumen kannst als von den meinen, und wenn du deine Augen in meinen Armen schließest, steht vielleicht ein anderes Bild vor ihnen als das meine!

ANATOL.

Wie falsch du mich verstehst I . . . Da hast du freilich recht, wenn du meinst, wir sollten auseinandergehen . . .

EMILIE.

ANATOL. 4*

Nun — wie denn soll ich dich verstehen . . . ?

52

Anatol

Wie gut haben es doch die Frauen, die lügen können. Nein . . . ihr vertragt sie nicht, die Wahrheit . . . ! Sag mir nur eines noch: Warum hast du mich immer darum angefleht? »Alles würde ich dir verzeihen, nur eine Lüge nicht I . . .« Noch hör' ich es, wie du's mir sagtest . . . Und ich . . . ich, die dir alles gestand, die sich vor dir so niedrig, so elend machte, die es dir ins Angesicht schrie: »Anatol, ich bin eine Verlorene, aber ich Hebe dich . . .!« Keine von den dummen Ausflüchten, die die andern im Munde führen, kam über meine Lippen. — Nein, ich sprach es aus: Anatol, ich habe das Wohlleben geliebt, Anatol, ich war lüstern, heißblütig — ich habe mich verkauft, verschenkt — ich bin deiner Liebe nicht wert . . . Erinnerst du dich auch, daß ich dir das sagte, bevor du mir das erste Mal die Hand küßtest ? . . . Ja, ich wollte dich fliehen, weil, ich dich liebte, und du verfolgtest mich . . . du hast um meine Liebe gebettelt. . . und ich wollte dich nicht, weil ich mich den Mann nicht zu beflecken getraute, den ich mehr, den ich anders — ach, den ersten Mann, den ich liebte . . .! Und da hast du mich genommen, und ich war dein! . . . Wie hab' ich geschauert. . . gebebt . . . geweint . . . Und du hast mich so hoch gehoben, hast mir alles wieder zurückgegeben, Stück für Stück, was sie mir genommen hatten . . . ich ward in deinen wilden Armen, was ich nie gewesen: rein . . . und glücklich . . . du warst so groß . . . du konntest verzeihen . . . Und jetzt . . .

EMILIE.

ANATOL.

. . . Und j e t z t . . . ?

Und jetzt jagst du mich eben wieder davon, weil ich doch nur bin wie die andern —

EMILIE.

ANATOL.

Nein . . . nein, das bist du nicht.

mild. Was willst du also . . . Soll ich ihn wegwerfen . . . den Rubin . . . ?

EMILIE

Ich bin nicht groß, ach nein . . . sehr, sehr kleinlich . . . wirf ihn weg, diesen Rubin . . . Er betrachtet ihn. Er ist aus dem Medaillon gefallen . . . er lag im Grase — unter den gelben B l u m e n . . . ein Sonnenstrahl fiel darauf . . . da glitzerte er hervor... Langes Schweigen. — Komm, E m i l i e , . . . es dunkelt draußen, wir wollen im Park Spazierengehen . . .

ANATOL.

EMILIE. ANATOL. EMILIE. ANATOL.

Wird es nicht zu kalt sein . . . ? Ach nein, es duftet schon vom erwachenden Frühling . . . Wie du willst, mein Geliebter! Ja — und d i e s e s Steinchen . . .

Denksteine Ach dies . . .

EMILIE. ANATOL.

Ja, dieses schwarze da — was ist's mit d e m — was i s t ' s . . . ? Weißt du, was das für ein Stein ist . . . ?

EMILIE. ANATOL.

Nun



mit einem stolzen begehrlichen Blick. Ein schwarzer Diamant I

EMILIE ANATOL EMILIE

53

erhebt sich. Ah I

immer den Blick auf den Stein geheftet. Selten!

mit unterdrückter Wut. Warum . . . hm . . . warum hast du den . . . aufbewahrt?

ANATOL

nur immer den Stein ansehend. Den . . . der ist eine Viertel Million wert I . . .

EMILIE

ANATOL

schreit auf. Ah 1 . . . Er wirft den Stein in den Kamin.

schreit. Was tust du! 1 . . . Sie bückt sich und nimmt die Feuerzange, mit der sie in der Glut herumfährt, um den Stein bervor^usucben.

EMILIE

sieht sie, während sie mit glühenden Wangen vor dem Kaminfeuer kniet, ein paar Sekunden an, dann ruhig. Dirne! Er geht.

ANATOL

Vorhang.

ABSCHIEDSSOUPER

ANATOL, M A X , A N N I E , EIN K E L L N E R .

Ein Cabinet particulier bei Sacher. Anatol, bei der Türe stehend, eben dem Kellner Befehle. Max lehnt in einem Fauteuil.

erteilt

MAX. Na — bist du nicht bald fertig — ? ANATOL.

. . . Gleich, gleich! — Also alles verstanden ? — Kellner ab.

MAX wie Anatol in die Mitte des Zimmers zurückkommt. sie gar nicht kommt! ?

Und — wenn

Warum denn »gar nicht«! — Jetzt ist's zehn Uhr! — Sie kann ja überhaupt noch gar nicht da sein I

ANATOL.

MAX. Das Ballett ist schon lange aus! Ich bitte dich — bis sie sich abschminkt — und umkleidet! — Ich will übrigens hinüber — sie erwarten!

ANATOL.

MAX. Verwöhne sie nicht! ANATOL.

Verwöhnen?! — Wenn du wüßtest . . .

MAX. Ich weiß, ich weiß, du behandelst sie brutal . . . Als wenn das nicht auch eine Art von Verwöhnen wäre. Ich wollte was ganz anderes sagen! —• Ja . . . wenn du wüßtest . . .

ANATOL.

MAX. SO sag's endlich einmal . . . ANATOL.

Mir ist sehr feierlich zumute!

MAX. Du willst dich am Ende mit ihr verloben — ? ANATOL.

O

nein — viel feierlicher I

MAX. Du heiratest sie morgen ? — Nein, wie du äußerlich bist! — Als wenn es keine Feierlichkeiten der Seele gäbe, die mit all diesem Tand, der uns von dem Draußen kommt, gar nichts zu tun haben.

ANATOL.

Abschiedssouper

55

MAX. Also — du hast einen bisher ungekannten Winkel deiner Gefühlswelt entdeckt — wie? Als wenn sie davon etwas verstände ! ANATOL.

DU

Endel MAX.

rätst ungeschickt . . . Ich feiere ganz einfach . . . das

Ah!

ANATOL.

Abschiedssouper I

MAX. Na . . . und was soll ich dabei — ? ANATOL.

Du sollst unserer Liebe die Augen zudrücken.

MAX. Ich bitte dich, mach keine geschmacklosen Vergleiche! ANATOL.

MAX.

Ich verschiebe dieses Souper schon seit acht Tagen —

Da wirst du heute wenigstens guten Appetit haben . . .

. . . Das heißt . . . wir soupieren jeden Abend miteinander . . . in diesen acht Tagen — aber — ich fand das Wort nicht, das rechte! Ich wagte es nicht . . . du hast keine Ahnung, wie nervös das macht!

ANATOL.

MAX. Wozu brauchst du mich eigentlich?! Soll ich dir das Wort soufflieren — D U sollst für alle Fälle da sein — du sollst mir beistehen, wenn es notwendig ist — du sollst mildern — beruhigen — begreiflich machen.

ANATOL.

MAX. Möchtest du mir nicht Zuerst mitteilen, warum das alles geschehen soll — ? ANATOL.

Mit Vergnügen! . . . Weil sie mich langweilt!

MAX. So amüsiert dich also eine andere — ? ANATOL. MAX.

Ja

. . . !

So . . . so . . .!

ANATOL.

Und was für eine andere!

MAX. Typus ? I ANATOL.

Gar keiner! . . . Etwas Neues — etwas Einziges!

MAX. Nun ja . . . Auf den Typus kommt man ja immer erst gegen Schluß . . . Stelle dir ein Mädchen vor — wie soll ich sagen . . . dreiviertel Takt —•

ANATOL.

56

Anatol

MAX. Scheinst doch noch unter dem Einfluß des Balletts zu stehen! Ja . . . ich kann dir nun einmal nicht helfen . . . sie erinnert mich so an einen getragenen Wiener Walzer — sentimentale Heiterkeit . . . lächelnde schalkhafte Wehmut . . . das ist so ihr Wesen . . . Ein kleines, süßes, blondes Köpferl, weißt du . . . so . . . na, es ist schwer zu schildern I . . . Es wird einem warm und zufrieden bei ihr . . . Wenn ich ihr ein Veilchenbukett bringe, steht ihr eine Träne im Augenwinkel . . .

ANATOL.

MAX. Versuch's einmal mit einem Bracelet! . . . O mein Lieber — das geht in dem Fall nicht — du irrst dich — glaub mir . . . Mit der möcht' ich auch h i e r nicht soupieren . . . Für die ist das Vorstadtbeisel, das gemütliche — mit den geschmacklosen Tapeten und den kleinen Beamten am Nebentischl — Ich war die letzten Abende immer in solchen Lokalen mit ihr!

ANATOL.

MAX. Wie ? •— Du sagtest doch eben, daß du mit Annie — Ja, so ist's auch. Ich mußte die letzte Woche jeden Abend zweimal soupieren: Mit der einen, die ich gewinnen — und mit der anderen, die ich loswerden wollte . . . Es ist mir leider noch keines von beiden gelungen . . .

ANATOL.

MAX. Weißt du was? •— Führe einmal die Annie in so ein Vorstadtbeisel — und die Neue mit dem blonden Köpferl zum Sacher . . . dann wird's vielleicht gehen! Dein Verständnis für die Sache leidet darunter, daß du die Neue noch nicht kennst. Die ist die Anspruchslosigkeit selbst I — Oh, ich sage dir — ein Mädel — du solltest sehen, wenn ich eine etwas bessere Sorte Wein bestellen will . . . was die treibt I

ANATOL.

MAX. Träne im Augenwinkel — wie ? Sie gibt es nicht zu — unter gar keiner Bedingung; unter gar keiner Bedingung I . . .

ANATOL.

MAX. Also du trinkst Markersdorfer in der letzten Zeit — ? Ja . . . vor Zehn — dann natürlich Champagner . . . So ist das Leben I

ANATOL.

MAX. Na . . . entschuldige . . . das Leben ist nicht so! Denke dir nur, der Kontrast! Ich hab' ihn jetzt aber zur Genüge ausgekostet I — das ist wieder einer jener Fälle, wo ich fühle, daß ich im Grunde eine enorm ehrliche Natur bin —

ANATOL.

Abschiedssouper MAX.

57

Soi . . . Ah!

Ich kann dieses Doppelspiel nicht länger durchführen . . . Ich verliere alle Selbstachtung . . .!

ANATOL.

MAX. DU I — Ich bin's, ich, ich . . . mir mußt du ja keine Komödie vorspielen 1 Warum — nachdem du eben da bist. . . Aber im Ernst. . . ich kann nicht Liebe heucheln, wo ich nichts mehr empfinde I

ANATOL.

MAX. DU heuchelst nur dort, wo du noch etwas empfindest . . . Ich habe es Annie aufrichtig gesagt, gleich — gleich, ganz zu Anfang . . . wie wir uns ewige Liebe schwuren: Weißt du, liebe Annie — wer von uns eines schönen Tages spürt, daß es zu Ende geht — sagt es dem andern rund heraus . . .

ANATOL.

MAX. Ah, das habt ihr in dem Augenblick ausgemacht, wo ihr euch ewige Liebe schwurt . . . sehr gutl Ich habe ihr das öfter wiederholt: — Wir haben nicht die geringsten Verpflichtungen gegeneinander, wir sind frei! Wir gehen ruhig auseinander, wenn unsere Zeit um ist — nur keinen Betrug — das verabscheue ich I . . .

ANATOL.

MAX. Na, da wird's ja eigentlich sehr leicht gehen — heute I Leicht! . . . Jetzt, wo ich es sagen soll, trau' ich mich nicht . . . Es wird ihr ja doch weh tun . . . Ich kann das Weinen nicht vertragen. — Ich verlieb' mich am Ende von neuem in sie, wenn sie weint — und da betrüg' ich dann wieder die andere I

ANATOL.

MAX. Nein, nein — nur keinen Betrug — das verabscheue ich! Wenn du da bist, wird sich das alles viel ungezwungener machen! . . . Von dir geht ein Hauch von kalter, gesunder Heiterkeit aus, in der die Sentimentalität des Abschiedes erstarren mußl . . . Vor dir weint man nicht! . . .

ANATOL.

MAX. Na, ich bin da für jeden Fall — das ist aber alles, was ich für dich tun kann . . . Ihr zureden ? — Nein, nein . . . das nicht — es wäre gegen meine Uberzeugung... du bist ein zu lieber Mensch... Schau, lieber Max — bis zu einem gewissen Grade könntest du das doch vielleicht auch . . . Du könntest ihr sagen, daß sie an mir doch nicht so besonders viel verliert.

ANATOL.

MAX. Na •— das ginge noch — ANATOL.

Daß sie hundert andere findet •— die schöner — reicher —

MAX. Klüger —

Anatol

58 ANATOL.

Nein, nein, — bitte — keine Übertreibungen —

Der Kellner öffnet die Tür. Annie tritt ein, im Regenmantel, den sie umgeworfen hat, weißer Boa; die gelben Handschuhe trägt sie in der Hand, breiten auffallenden Hut nachlässig aufgestülpt. ANNIE. ANATOL.

Oh — guten Abend! Guten Abend, Annie I . . . Entschuldige —

Auf dich kann man sich verlassen I Sie wirft den Regenmantel ab. — Ich schaue mich nach allen Seiten um — rechts — links — niemand da —

ANNIE.

ANATOL.

— Du hast ja glücklicherweise nicht weit herüber 1

Man hält sein Wort! — Guten Abend, Max! — Zu Anatol. Na — auftragen lassen hättest du unterdessen schon können . . .

ANNIE.

ANATOL

umarmt sie. Du hast kein Mieder ?

Na — soll ich vielleicht grande toilette machen — für dich ? — Entschuldige —

ANNIE.

Mir kann's ja recht sein — du mußt Max um Entschuldigung bitten!

ANATOL.

Warum denn ? — den geniert's sicher nicht — der ist nicht eifersüchtig! . . . Also . . . also . . . essen — Der Kellner klopft. Herein! — Heut klopft er. — Sonst fällt ihm das nicht ein! Der Kellner tritt ein.

ANNIE.

ANATOL. ANNIE. ANATOL.

Servieren Sie! — Kellner ab. DU

warst heut nicht drin —?

Nein — ich mußte

Du hast nicht viel versäumt! — Es war heut alles so schläfrig . . .

ANNIE.

MAX. Was war denn für eine Oper vorher? Ich weiß nicht . . . Man set^t sich Tische. . . . Ich kam in meine Garderobe — dann auf die Bühne — gekümmert hab' ich mich um nichts . . . um nichts I . . . Im übrigen hab' ich dir was zu sagen, Anatol!

ANNIE.

ANATOL.

So, mein liebes Kind ? — Was sehr Wichtiges — ?

Ja, ziemlich! . . . Es wird dich vielleicht überraschen . . . Der Kellner trägt auf. . . .

ANNIE.

ANATOL.

Da bin ich wirklich sehr neugierig! . . . Auch ich . . .

Abschiedssouper

59

Na . . . warte nur . . . für den da ist das nichts —

ANNIE.

%um Kellner. Gehen Sie . . . wir werden klingeln I Kellner ab. .. . Na, also . . .

ANATOL

— Ja . . . mein lieber A n a t o l . . . es wird dich überraschen . . . Warum übrigens! Es wird dich gar nicht überraschen — es darf dich nicht einmal überraschen . . .

ANNIE.

MAX. Gage-Erhöhung ? ANATOL.

Unterbrich sie doch nicht . . .!

Nicht war — lieber Anatol . . . Du sag, sind das Ostender oder Whitestable ?

ANNIE.

ANATOL.

Jetzt redet sie wieder von den Austern! Ostender sind es I

Ich dachte es . . . Ach, ich schwärme für Austern . . . Das ist doch eigentlich das einzige, was man täglich essen kann!

ANNIE.

MAX. Kann ?! — Sollte! Muß!! Nicht wahr! Ich sag's ja!

ANNIE. ANATOL.

Du willst mir ja was sehr Wichtiges mitteilen — ?

Ja . . . wichtig ist es allerdings — sogar sehr I — Erinnerst du dich an eine gewisse Bemerkung?

ANNIE.

Welche — welche ? — Ich kann doch nicht wissen, welche Bemerkung du meinst!

ANATOL.

MAX. Da hat er recht! Nun, ich meine die folgende . . . Warte . . . wie war sie nur — Annie, sagtest du . . . wir wollen uns nie betrügen . . .

ANNIE.

ANATOL. ANNIE.

J a . . . ja . . . n u n !

Nie b e t r ü g e n ! . . . Lieber gleich die ganze Wahrheit sagen . . .

ANATOL. ANNIE. ANATOL.

Ja . . . ich meinte . . . Wenn es aber zu spät ist ? — Was sagst du ?

Oh, — es ist nicht zu spät! — Ich sag's dir zu rechten Zeit — knapp zur rechten Zeit . . . Morgen wäre es vielleicht schon zu spät!

ANNIE.

ANATOL.

Bist du toll, Annie ?!

MAX. Wie?

60

Anatol

Anatol, du mußt deine Austern weiteressen . . . sonst red' ich nichts . . . gar nichts!

ANNIE.

ANATOL.

Was heißt das? — »Du mußt« — 1 Essen 11

ANNIE. ANATOL.

Du sollst reden . . . ich vertrage diese Art von Späßen

nicht I Nun — es war ja abgemacht, daß wir's uns ganz ruhig sagen sollten, — wenn es einmal dazu k o m m t . . . Und nun kommt es eben dazu —

ANNIE.

ANATOL. ANNIE.

Das heißt ?

Das heißt: Daß ich heut leider das letzte Mal mit dir soupiere!

ANATOL. ANNIE. ANATOL.

DU ES

wirst wohl die Güte haben, dich — näher zu erklären!

ist aus zwischen uns — es muß aus sein . . .

Ja . . . sag



MAX. Das ist ausgezeichnet. Was finden Sie daran ausgezeichnet? •— Ausgezeichnet — oder nicht — es ist nun einmal so!

ANNIE.

Mein liebes Kind — ich hab' noch immer nicht recht verstanden . . . Du hast wohl einen Heiratsantrag erhalten . . . ?

ANATOL.

Ach wenn's das wäre! — Das wäre ja kein Grund, dir den Abschied zu geben.

ANNIE.

ANATOL.

Abschied zu geben! ?

Na, es muß ja heraus. — Ich bin verliebt — Anatol — rasend verliebt!

ANNIE.

ANATOL. ANNIE.

Und darf man fragen, in wen ? . . . Sagen Sie, Max — was lachen Sie denn eigentlich?

MAX. ES ist zu lustig! Laß ihn nur . . . Wir zwei haben miteinander zu sprechen, Annie 1 — Eine Erklärung bist du mir wohl schuldig . . .

ANATOL.

Nun — ich gebe sie dir ja . . . Ich habe mich in einen andern verliebt — und sage es dir rund heraus, — weil das zwischen uns so ausgemacht war . . .

ANNIE.

ANATOL. ANNIE.

Ja, . . . aber, zum Teufel — in wen ?! Ja, liebes Kind — grob darfst du nicht werden!

61

Abschiedssouper

Ich verlange . . . ich verlange ganz entschieden . . .

ANATOL.

Bitte, Max — klingeln Sie — ich bin so hungrig 1

ANNIE.

Das auch nochl — Appetit!! Appetit während einer solchen Unterredung!

ANATOL.

MAX ein.

Anatol.

Sie soupiert ja heute zum e r s t e n m a l ! Kellner tritt

Was wollen Sie?

ANATOL. KELLNER.

Es wurde geklingelt!

MAX. Servieren Sie weiter! Während der Kellner

abräumt.

Ja . . . die Catalini geht nach Deutschland . . . das ist abgemacht . . .

ANNIE.

MAX. So . . . und man läßt sie ohne weiteres gehen? ANNIE.

sagen.

Na . . . ohne weiteres — das kann man eigentlich nicht

steht auf und geht im Zimmer hin und her. Wo ist denn der Wein ?! — Sie! . . . Jean!! — Sie schlafen heute, wie es scheint!

ANATOL

KELLNER.

Ich bitte sehr — der Wein . . .

Ich meine nicht den, der auf dem Tische steht — das können Sie sich wohl denken! — Den Champagner meine ich I — Sie wissen, daß ich ihn gleich zu Anfang der Tafel haben will! Kellner ab.

ANATOL.

ANATOL.

. . . Ich bitte endlich um Aufklärung!

Man soll euch Männern doch nichts glauben, gar nichts — rein gar nichts! — Wenn ich denke, wie schön du mir das auseinandergesetzt hast: Wenn wir fühlen, daß es zu Ende geht — so sagen wir es uns und scheiden in Frieden —

ANNIE.

ANATOL.

Jetzt wirst du mir endlich einmal — Das ist nun — sein Frieden!

ANNIE.

Aber, liebes Kind — du wirst doch begreifen, daß es mich interessiert — wer —

ANATOL. ANNIE

schlürft langsam den Wein. Ah . . .

ANATOL. ANNIE. ANATOL.

Trink aus . . . trink aus 1 Na, du wirst wohl noch so lange — Du trinkst sonst in einem Zug —

62

Anatol

Aber, lieber Anatol — ich nehme nun auch von dem Bordeaux Abschied — wer weiß, auf wie lange I

ANNIE.

Zum Kuckuck noch einmall — Was erzählst du da für Geschichten I . . .

ANATOL.

Nun wird's wohl keinen Bordeaux geben . . . und keine Austern . . . Und keinen Champagner 1 Der Kellner kommt mit dem nächsten Gang. — Und keine Filets aux truffes I — Das ist nun alles vorbei . . .

ANNIE.

MAX. Herrgott — haben Sie einen sentimentalen Magen! Da der Kellner serviert. — Darf ich Ihnen herausgeben ? — ANNIE.

Ich danke Ihnen sehr! So . . .

ANATOL

zündet sich eine Zigarette an.

MAX. Ißt du nicht mehr ? Vorläufig nicht! Kellner ab. . . . Also, jetzt möcht' ich einmal wissen, wer der Glückliche ist!

ANATOL.

Und wenn ich dir schon den Namen sage — du weißt ja dann nicht mehr — A N A T O L . Nun — was für eine Sorte Mensch ist er ? — Wie hast du ihn kennengelernt ? — Wie sieht er aus — ? ANNIE.

ANNIE. ANATOL. ANNIE. ANATOL. ANNIE.

Hübsch — bildhübsch! — Das ist freilich alles . . . Nun — es scheint dir ja genug zu sein . . . Ja — da wird's keine Austern mehr geben . . . Das wissen wir schon . . . . . . Und keinen Champagner!

Aber, Donnerwetter — er wird doch noch andere Eigenschaften haben, als daß er dir keine Austern und keinen Champagner zahlen kann —

ANATOL.

MAX. Da hat er recht — das ist ja doch eigentlich kein Beruf . . . Nun, was tut's — wenn ich ihn liebe ? — Ich verzichte auf alles — es ist etwas Neues — etwas, was ich noch nie erlebt habe.

ANNIE.

MAX. Aber sehen Sie . . . ein schlechtes Essen hätte Ihnen Anatol zur Not auch bieten können! — Was ist er ? — Ein Kommis ? — Ein Rauchfangkehrer — ? — Ein Reisender in Petroleum —

ANATOL.

ANNIE.

Ja, Kind — beleidigen lasse ich ihn nicht!

Abschiedssouper

63

MAX. SO sagen Sie doch endlich, was er istl ANNIE.

Ein Künstler I

Was für einer ? — Wahrscheinlich Trapez ? Das ist ja was für euch — Aus dem Zirkus — wie ? Kunstreiter ?

ANATOL. ANNIE.

Hör auf zu schimpfen! — Es ist ein Kollege von mir . . .

Also — eine alte Bekanntschaft? . . . Einer, mit dem du seit Jahren täglich zusammen bist — und mit dem du mich auch wahrscheinlich schon längere Zeit betrügst!

ANATOL.

Da hätt' ich dir nichts gesagt I — Ich habe mich auf dein Wort verlassen — drum gesteh' ich dir ja alles, bevor es zu spät ist!

ANNIE.

Aber — verliebt bist du schon in ihn — weiß Gott, wie lange ? — Und im Geiste hast du mich längst betrogen! —

ANATOL. ANNIE.

ANATOL.

Das läßt sich nicht verbieten! Du bist eine . . .

MAX. Anatol!! ANATOL.

. . . Kenne ich ihn ? —

Na — aufgefallen wird er dir wohl nicht sein . . . er tanzt nur im Chor mit . . . Aber er wird avancieren —

ANNIE.

ANATOL. ANNIE. ANATOL.

Seit wann . . . gefällt er dir — ? Seit heute abend! Lüge nicht!

Es ist die Wahrheit! — Heut hab' . . . ich gefühlt, daß es meine Bestimmung ist . . .

ANNIE.

ANATOL. ANNIE.

Ihre Bestimmung!... Hörst du, Max — ihre Bestimmung!! Ja, so was ist auch Bestimmung!

Hörst du — ich will aber alles wissen — ich habe ein Recht darauf! . . . In diesem Augenblicke bist du noch meine Geliebte! . . . Ich will wissen, seit wann diese Dinge schon vorgehen . . . wie es begonnen . . . wann er es gewagt —

ANATOL.

MAX. Ja . . . das sollten Sie uns wirklich erzählen . . . Das hat man nun von der Ehrlichkeit! . . . Wahrhaftig — ich hätte es machen sollen, wie die Fritzel mit ihrem Baron — der weiß heut noch nichts — und dabei hat sie schon seit drei Monaten die Bandlerei mit dem Leutnant von den Fünferhusaren!

ANNIE.

Amtol

64 ANATOL.

Wird auch schon drauf kommen, der Baron!

Schon möglich I Du aber wärst mir nie darauf gekommen, nie! — Dazu bin ich viel zu gescheit . . . und du viel zu dumm! Schenkt sich ein Glas Wein ein.

ANNIE.

ANATOL.

Wirst du aufhören zu trinken!

Heute nicht! — Einen Schwips — will ich kriegen! — Es ist sowieso der letzte . . .

ANNIE.

MAX. Auf acht Tage! Auf ewig! — Denn beim Karl werd' ich bleiben, weil ich ihn wirklich gern hab' — weil er lustig ist, wenn er auch kein Geld hat — weil er mich nicht sekkieren wird — weil er ein süßer, süßer — lieber Kerl ist! —

ANNIE.

Du hast dein Wort nicht gehalten! — Schon längst bist du in ihn verliebt! — Das ist eine dumme Lüge, das von heute abend!

ANATOL.

ANNIE.

So glaub's mir meinethalben nicht!

MAX. Na, Annie . . . erzählen Sie uns doch die Geschichte . . . Wissen Sie — ganz — oder gar nicht! — Wenn Sie schon in Frieden auseinandergehen wollen — so müssen Sie ihm das doch noch zuliebe tun, dem Anatol . . . ANATOL.

Ich erzähle dir dann auch was . . .

Na . . . angefangen hat's halt so . . . Kellner tritt ein. . . .

ANNIE.

ANATOL.

Erzähle nur — erzähle nur . . . Setzt sich

ihr.

Das sind vielleicht jetzt vierzehn Tage . . . oder länger, da hat er mir ein paar Rosen gegeben — beim Ausgangstürl . . . Ich hab' lachen müssen! — Ganz schüchtern hat er dabei ausgeschaut—

ANNIE.

ANATOL.

Warum hast du mir nichts davon erzählt —

Davon ? — Na, da hätt' ich viel zu erzählen gehabt! Kellner ab.

ANNIE.

ANATOL.

Also weiter — weiter I

. . . Dann ist er bei den Proben immer so merkwürdig um mich herumgeschlichen — na — und das hab' ich bemerkt — und anfangs hat's mich geärgert — und dann hat's mich g'freut —

ANNIE.

ANATOL.

Höchst einfach . . .

Abschiedssouper

65

Na . . . und dann haben wir gesprochen — und da hat mir alles so gut an ihm gefallen —

ANNIE.

ANATOL.

Worüber habt ihr denn gesprochen? —

Alles mögliche — wie s' ihn aus der Schul' hinausg'worfen haben — und wie er dann in eine Lehr' hätte kommen sollen — na — und wie das Theaterblut in ihm zu wurl'n ang'fangen h a t . . .

ANNIE.

ANATOL.

So . . . und von alledem hab' ich nie etwas gehört . . .

Na . . . und dann is heraus'kommen, daß wir zwei, wie wir Kinder waren, zwei Häuser weit voneinander g'wohnt haben — Nachbarsleut' waren wir —

ANNIE.

ANATOL. ANNIE. ANATOL.

AH!!

Nachbarsleute! — Das ist rührend, rührend!

Ja . . . ja . . . Trinkt. . . . Weiter!

Was soll's denn weiter sein? — Ich hab' dir ja schon alles gesagt I Es ist meine Bestimmung — und gegen meine Bestimmung . . . kann ich nichts tun . . . und . . . gegen . . . meine Bestimmung . . . kann . . . ich . . . nichts . . . tun . . .

ANNIE.

ANATOL. ANNIE.

Vom heutigen Abend will ich was wissen — Na . . . was denn — Ihr Kopf sinkt herab.

MAX. Sie schläft ja ein — Weck sie auf! — Stelle den Wein aus ihrer Nähe! . . . Ich muß wissen, was es heute abend gegeben hat — Annie — Annie!

ANATOL.

Heut abend . . . hat er mir g'sagt — daß er — mich — gern — hat!

ANNIE.

ANATOL.

Und du —

Ich hab g'sagt — daß es mich freut — und weil ich ihn nicht betrügen will — so sag' ich dir: Adieu —

ANNIE.

Weil du i h n nicht betrügen willst 1! — Also nicht meinetwegen •— ? . . . Seinetwegen 1 ?

ANATOL. ANNIE.

Na, was denn! — Dich hab ich ja nimmer gern!

Na, gut! — Glücklicherweise geniert mich das alles nicht mehr . . .!

ANATOL. ANNIE.

So! ?

Auch ich bin in der angenehmen Lage — auf deine fernere Liebenswürdigkeit verzichten zu können!

ANATOL.

5 KOMEDIA VI

66

Anatol

ANNIE.

SO . . .

SO!

ANATOL. Ja . . . ja! — Schon längst liebe ich dich nicht mehr! . . . Ich liebe eine andere! ANNIE. Haha . . . haha . . . ANATOL. Längst nicht m e h r ! — Frag nur den Max! — Bevor du gekommen bist — hab' ich's ihm erzählt! ANNIE.

. . . So . . . so . . .

ANATOL. Längst nicht m e h r ! . . . Und diese andere ist tausendmal besser und schöner . . . ANNIE.

So . . . so . . .

ANATOL. . . . Das ist ein Mädel, f ü r das ich tausend Weiber wie dich mit Vergnügen hergebe — verstehst du — ? ANNIE

lacht.

ANATOL. Lache nicht! — Frage den Max — ANNIE.

ES

ist doch zu komisch! — Mir das jetzt einreden zu

wollen — E S ist wahr, sag' ich dir — ich schwöre dir, daß es wahr ist! — Längst hab' ich dich nicht mehr lieb! . . . Ich hab' nicht einmal an dich gedacht, während ich mit dir zusammen war — und wenn ich dich geküßt habe, so meinte ich die andere! — Die andere 1 — Die andere! —

ANATOL.

ANNIE. N a — so sind wir quitt! ANATOL.

SO ! — D u g l a u b s t ?

ANNIE. Ja •— quitt! Das ist ja ganz schön! ? — Quitt sind wir nicht — o nein — durchaus nicht! — Das ist nämlich nicht ein u n d dasselbe . . . was du erlebt hast . . . u n d i c h ! . . . Meine Geschichte ist etwas weniger — unschuldig . . .

ANATOL. SO

ANNIE. . . . Wie ? — Ernster werdend. ANATOL. Ja . . . meine Geschichte hört sich ein wenig anders an — ANNIE. Wieso ist deine Geschichte anders — ? ANATOL. N u n — ich — i c h habe dich betrogen — ANNIE steht auf.

W i e ? — W i e ?!

ANATOL. Betrogen hab' ich dich — wie du's verdienst —- T a g f ü r Tag — Nacht f ü r Nacht — Ich kam v o n ihr, wenn ich dich traf — u n d ging zu ihr, wenn ich dich verließ —

Abschiedssouper

67

. . . Infam . . . Das ist . . . infam!! Geht %um Kleiderständer, wirft Regenmantel und Boa um.

ANNIE.

Man kann sich bei euresgleichen nicht genug eilen — sonst kommt ihr einem zuvor! . . . Na, zum Glück hab' ich keine Illusionen . . .

ANATOL.

ANNIE.

Da sieht man es wieder! — J a ! ! Ja . . . sieht man es, nicht wahr? Jetzt sieht man es!

ANATOL.

Daß so ein Mann hundertmal rücksichtsloser ist als ein Frauenzimmer —

ANNIE.

Ja, man sieht'S! — So rücksichtslos war ich . . . ja!

ANATOL.

hat nun die Boa um den Hals geschlungen und nimmt Hut und Handschuhe in die Hand, stellt sich vor Anatol hin. — J a . . . rücksichtslos! — D a s . . . hab' ich dir doch nicht gesagt! Will gehen.

ANNIE

Wie ?! Ihr nach.

ANATOL.

MAX. SO laß sie! — Du wirst sie doch nicht am Ende aufhalten! — »Das«! — du . . . Daß du . . . A N N I E bei der Türe. rücksichtslos kann ANATOL.

hast du mir nicht gesagt? — Was!? — Daß daß — Nie hätte ich es dir gesagt . . . nie! . . . So nur ein Mann sein —

KELLNER

kommt mit einer Creme.

ANATOL.

Gehn Sie zum Teufel mit Ihrer Creme!

ANNIE.

— Oh —

. . . Wie I ? Vanillencreme!! . . . So! —

ANATOL.

DU

wagst es noch! —

MAX. Laß sie doch! — Sie muß ja von der Creme Abschied nehmen — für ewig —! Ja . . . Mit Freuden! — Vom Bordeaux, vom Champagner — von den Austern — und ganz besonders von dir, Anatol —! Plötzlich, von der Türe weg, mit einem ordinären Lächeln, geht sie %ur Zigarettenschachtel, die auf dem Trumeau steht, und stopft sich eine Handvoll Zigaretten in die Tasche. Nicht für mich! — Die bring' ich ihm! Ab.

ANNIE.

ANATOL

ihr nach, bleibt bei der Türe stehen . . .

MAX ruhig.

Na . . . siehst du . . . es ist ganz leicht gegangen! . . . Vorhang.

5*

AGONIE ANATOL, M A X , E L S E .

Anatols Zimmer. Beginn der Abenddämmerung. Das Zimmer Weile leer, dann treten Anatol und Max ein.

ist eine

MAX. So . . . nun bin ich richtig noch mit dir da heraufgegangen! ANATOL.

Bleib noch ein wenig.

MAX. Ich denke doch, daß ich dich störe? Ich bitte dich, bleibe! Ich habe gar keine Lust,allein zu sein — und wer weiß, ob sie überhaupt kommt!

ANATOL. MAX.

AH!

ANATOL.

Siebenmal unter zehn warte ich vergebens I

MAX. Das hielte ich nicht aus! Und manchmal muß man die Ausreden glauben — ach, sie sind sogar wahr.

ANATOL.

MAX. Alle siebenmal? Was weiß ich denn! . . . Ich sage dir, es gibt nichts Entsetzlicheres, als der Liebhaber einer verheirateten Frau zu sein!

ANATOL.

MAX. Oh doch . . . ihr Gatte war' ich zum Beispiel weniger gern I Nun dauert das schon — wie lange nur — ? — Zwei Jahre — ach was! — mehr! — Im Fasching waren es schon so viel — und das ist nun der dritte »Frühling unserer Liebe« . . .

ANATOL.

MAX. Was hast du denn! bat sich noch mit Überzieher und Stock in einen Fauteuil geworfen, der am Fenster steht. — Ach, ich bin müde, — ich bin nervös, ich weiß nicht, was ich will . . .

ANATOL

MAX. Reise ab! ANATOL.

Warum?

MAX. Um das Ende abzukürzen!

Agonie ANATOL.

69

Was heißt das •— das Ende! ?

MAX. Ich habe dich schon manchmal so gesehen — das letzte Mal, weißt du noch, wie du dich so lange nicht entschließen konntest, einem gewissen dummen Ding den Abschied zu geben, das deine Schmerzen wahrhaftig nicht wert war. ANATOL.

DU

meinst, ich liebe sie nicht mehr . . . ?

MAX. Oh! Das wäre ja vortrefflich . . . in dem Stadium leidet man nicht mehrl . . . Jetzt machst du was viel Ärgeres durch als den Tod — das Tödliche. D U hast so eine Manier, einem angenehme Dinge zu sagen! — Aber du hast recht — es ist die Agonie I

ANATOL.

MAX. Sich darüber aussprechen, hat gewiß etwas Tröstliches. Und wir brauchen nicht einmal Philosophie dazul — Wir brauchen gar nicht ins große Allgemeine zu gehen; — es genügt schon, das Besondere sehr tief bis in seine verborgensten Keime zu begreifen. ANATOL.

Ein recht mäßiges Vergnügen, das du mir da vorschlägst.

MAX. Ich meine nur so. — Aber ich habe dir's ja den ganzen Nachmittag angesehen, schon im Prater unten, wo du blaß und langweilig warst wie die Möglichkeit. ANATOL.

Sie wollte heute hinunterfahren.

MAX. DU warst aber froh, daß uns ihr Wagen nicht begegnete, weil du gewiß jenes Lächeln nicht mehr zur Verfügung hast, mit dem du sie vor zwei Jahren begrüßtest. steht auf. Wie kommt das nur! — Sag mir, wie kommt das nur — ? — Also steht mir das wieder einmal bevor — dieses allmähliche, langsame, unsagbare traurige Verglimmen? — Du ahnst nicht, wie ich davor schaudere —!

ANATOL

MAX. Drum sage ich ja: Reise ab! — Oder habe den Mut, ihr die ganze Wahrheit zu sagen. ANATOL.

Was denn ? Und wie ?

MAX. Nun, ganz einfach: Daß es aus ist. Auf diese Arten von Wahrheit brauchen wir uns nicht viel zugute tun; das ist ja doch nur die brutale Aufrichtigkeit ermüdeter Lügner.

ANATOL.

MAX. Natürlich! Lieber verbergt ihr es mit tausend Listen voreinander, daß ihr euch nicht mehr dieselben seid, die ihr wart,

70

Anatol

als mit einem raschen Entschluß auseinanderzugehen. Warum denn nur? — Weil wir es ja selbst nicht glauben. Weil es mitten in dieser unendlichen ödigkeit der Agonie sonderbare täuschende, blühende Augenblicke gibt, in denen alles schöner ist als je zuvor . . .! Nie haben wir eine größere Sehnsucht nach Glück als in diesen letzten Tagen einer Liebe — und wenn da irgendeine Laune, irgendein Rausch, irgendein Nichts kommt, das sich als Glück verkleidet, so wollen wir nicht hinter die Maske sehen . . . Da kommen dann die Augenblicke, in denen man sich s c h ä m t , daß man alle die Süßigkeiten geendet glaubte — da bittet man einander so vieles ab, ohne es in Worten zu sagen. — Man ist so ermattet von der Angst des Sterbens — und nun ist plötzlich das Leben wieder da — heißer, glühender als je — und trügerischer als je! —

ANATOL.

MAX. Vergiß nur eines nicht: Dieses Ende beginnt oft früher, als wir ahnen! — Es gibt manches Glück, das mit dem ersten Kuß zu sterben begann. — Weißt du nichts von den schwer Kranken, die sich für gesund halten bis zum letzten Augenblick — ? Zu diesen Glücklichen gehöre ich nicht! — Das steht fest! — Ich bin stets ein Hypochonder der Liebe gewesen . . . Vielleicht waren meine Gefühle nicht einmal so krank, als ich sie glaubte — um so ärger! — Mir ist manchmal, als werde die Sage vom bösen Blick an mir wahr . . . Nur ist der meine nach innen gewandt, und meine besten Empfindungen siechen vor ihm hin.

ANATOL.

MAX. Dann muß man eben den Stolz seines bösen Blickes haben. Ach nein, ich beneide ja doch die andern! Weißt du — die Glücklichen, für die jedes Stück Leben ein neuer Sieg ist! — Ich muß mir immer vornehmen, mit etwas fertig zu werden; ich mache Haltestellen, — ich überlege, ich raste, ich schleppe mit — ! Jene andern überwinden spielend, im Erleben selbst; . . . es ist für sie ein und dasselbe.

ANATOL.

MAX. Beneide sie nicht, Anatol — sie überwinden nicht, sie gehen nur vorbei! Ist nicht auch das ein Glück — ? — Sie haben wenigstens nicht dieses seltsame Gefühl der Schuld, welches ja das Geheimnis unserer Trennungsschmerzen ist.

ANATOL.

MAX. Welcher Schuld denn? —

Agonie

71

Hatten wir nicht die Verpflichtung, die Ewigkeit, die wir ihnen versprachen, in die paar Jahre oder Stunden hineinzulegen, in denen wir sie liebten? Und wir konnten es nie! niel — Mit diesem Schuldbewußtsein scheiden wir von jeder — und unsere Melancholie bedeutet nichts als ein stilles Eingeständnis. Das ist eben unsere letzte Ehrlichkeit! — MAX. Zuweilen auch unsere erste . . .

ANATOL.

ANATOL.

Und das tut alles so weh. —

MAX. Mein Lieber, für dich sind diese lang dauernden Verhältnisse überhaupt nicht gut . . . Du hast eine zu feine Nase — ANATOL.

Wie soll ich das verstehen?

MAX. Deine Gegenwart schleppt immer eine ganze schwere Last von unverarbeiteter Vergangenheit mit sich . . . Und nun fangen die ersten Jahre deiner Liebe wieder einmal Zu vermodern an, ohne daß deine Seele die wunderbare Kraft hätte, sie völlig auszustoßen. — Was ist nun die natürliche Folge -— ? — Daß auch um die gesundesten und blühendsten Stunden deines Jetzt ein Duft dieses Moders fließt — und die Atmosphäre deiner Gegenwart unrettbar vergiftet ist. A N A T O L . Das mag wohl sein. MAX. Und darum ist ja ewig dieser Wirrwarr von Einst und Jetzt und Später in dir; es sind stete, unklare ÜbergängeI Das Gewesene wird für dich keine einfache starre Tatsache, indem es sich von den Stimmungen loslöst, in denen du es erfahren — nein, die Stimmungen bleiben schwer darüber liegen, sie werden nur blässer und welker — und sterben ab. Nun ja. Und aus diesem Dunstkreis kommen die schmerzlichen Düfte, die so oft über meine besten Augenblicke ziehen. — Vor denen möchte ich mich retten.

ANATOL.

MAX. Ich bemerke zu meinem größten Erstaunen, daß keiner davor sicher ist, einmal etwas Erstgradiges sagen zu müssen 1 . . . So hab' ich jetzt etwas auf der Zunge: Sei stark, Anatol — werde gesund! A N A T O L . Du lachst ja selbst, während du's aussprichst! . . . Es ist ja möglich, daß ich die Fähigkeit dazu hätte! — Mir fehlt aber das weit Wichtigere — das Bedürfnis! — Ich fühle, wieviel mir verlorenginge, wenn ich mich eines schönen Tages »stark« fände! . . . Es gibt so viele Krankheiten und nur eine Gesundheit —! . . . Man muß immer genau so gesund wie die andern — man kann aber ganz anders krank sein wie jeder andere!

72

Anatol

MAX. Ist das nur Eitelkeit ? ANATOL. Und wenn? — Du weißt schon wieder ganz genau, daß Eitelkeit ein Fehler ist, nicht — ? . . . MAX. Ich entnehme aus alledem einfach, daß du nicht abreisen willst. ANATOL. Vielleicht werde ich abreisen — ja, gut! — Aber ich muß mich damit ü b e r r a s c h e n — es darf kein Vorsatz dabei sein, — der Vorsatz verdirbt alles I — Das ist ja das Entsetzliche bei diesen Dingen, daß man — den Koffer packen, einen Wagen holen lassen — ihm sagen muß — zum Bahnhof! MAX. Das besorge ich dir alles 1 Da Anatol rasch %um Fenster gegangen und hinausgesehen hat. — Was hast du denn ? — A N A T O L . Nichts . . . MAX. . . . Ach ja . . . ich vergaß ganz. — Ich gehe schon. ANATOL. . . . Siehst du — in diesem Momente ist mir wieder — ? MAX.

. . .

Als betete ich sie anl MAX. Dafür gibt es eine sehr einfache Erklärung, die nämlich: Daß du sie wirklich anbetest — in diesem Augenblick! ANATOL. Leb wohl, also — den Wagen bestelle noch nicht I MAX. Sei nicht gar so übermütig I — Der Triester Schnellzug geht erst in vier Stunden ab — und das Gepäck läßt sich nachschicken— ANATOL. Danke bestens! MAX an der Türe. Ich kann unmöglich ohne Aphorisma abgehen! A N A T O L . Bitte? MAX. Das Weib ist ein Rätsel I ANATOL.

ANATOL.

Ohl!!

MAX. Aber ausreden lassen! Das Weib ist ein Rätsel: — So sagt man! Was für ein Rätsel wären wir erst für das Weib, wenn es vernünftig genug wäre, über uns nachzudenken ? ANATOL. Bravo, bravo I MAX verbeugt sich und gebt ab. ANATOL eine Weile allein, gebt im Zimmer hin und her; dann set^t er sieb wieder zum Fenster, raucht eine Zigarette. Die Töne einer Geige klingen aus dem oberen Stockwerk herab — Pause — dann hört man Schritte

Agonie

73

im Korridor . . . Anatol wird aufmerksam, steht auf, legt die Zigarette in einen Aschenbecher und gebt der eben eintretenden, tief verschleierten Else entgegen. ANATOL. Endlich 1 — E S ist schon spät . . . ja, ja I Sie legt Hut und Schleier ab. — Ich konnte nicht früher — unmöglich I —

ELSE.

Hättest du mich nicht verständigen können? — Das Warten macht mich so nervös I — Aber — du bleibst — ?

ANATOL. ELSE.

Nicht lange, Engel — mein Mann —

ANATOL ELSE.

wendet sich verdrossen ab.

Schau — wie du wieder bist 1 — Ich kann doch nichts dafür 1

Nun ja — du hast ja recht! — Es ist schon einmal so — und man muß sich fügen . . . Komm mein Schatz — hierher! . . . Sie treten %um Fenster. E L S E . Man könnte mich sehen! —

ANATOL.

E S ist ja dunkel — und der Vorhang hier verbirgt uns! Es ist so ärgerlich, daß du nicht lange bleiben kannst! — Ich habe dich schon zwei Tage nicht gesehen 1 — Und auch das letzte Mal waren es nur ein paar Minuten I

ANATOL.

ELSE.

Liebst du mich denn — ?

Ach, du weißt es ja — du bist alles, alles für mich! . . . Immer mit dir zu sein —

ANATOL. ELSE.

Ich bin auch so gerne bei dir! —

Komm . . . Zieht sie neben sich auf den Fauteuil. — Deine Hand! Führt sie an die Lippen. . . . Hörst du den Alten da oben spielen ? •— Schön — nicht wahr — ? E L S E . Mein Schatz!

ANATOL.

ANATOL. ELSE.

Ach ja — so mit dir am Comosee . . . oder in Venedig —

Da war ich auf meiner Hochzeitsreise —

ANATOL

mit verbissenem Ärger.

Mußtest du das jetzt sagen ?

Aber ich liebe ja nur dich I Habe nur dich geliebt! Nie einen andern — und gar meinen Mann —

ELSE.

die Hände faltend. Ich bitte dich! — Kannst du dich denn nicht wenigstens sekundenlang unverheiratet denken ? — Schlürfe doch den Reiz dieser Minute — denke doch, wir zwei sind allein auf der Welt . . . Glockenschläge.

ANATOL

74 ELSE.

Anatol

Wie spät — ?

Else, Else — frage nicht! — Vergiß, daß es andere gibt — du bist ja bei mir!

ANATOL. ELSE

£örtlich. Hab' ich nicht genug für dich vergessen? — Mein Schatz — ihr die Hand küssend.

ANATOL. ELSE.

Mein lieber Anatol —

ANATOL ELSE

weich.

deutet durch eine Handbetvegung und lächelnd an, daß sie gehen muß.

ANATOL. ELSE.

meinst ?

DU

mußt ?

Ja.

ANATOL.

ihr. ELSE.

DU

Ich muß fort!

ANATOL. ELSE.

Was denn schon wieder, Else — ?

Mußt — ? Jetzt — jetzt — ? — So geh! Entfernt sich von

Man kann mit dir nicht reden —

Man kann mit mir nicht reden! Im Zimmer hin und her. — Und du begreifst nicht, daß mich dieses Leben rasend machen muß? — E L S E . Das ist mein Dank!

ANATOL.

Dank, Dank! — Wofür Dank? — Hab' ich dir nicht ebenso viel geschenkt wie du mir ? — Lieb' ich dich weniger als du mich? — Mache ich dich weniger glücklich als du mich? — Liebe — Wahnsinn — Schmerz —1 Aber Dankbarkeit? — Wie kommt das dumme Wort her ? —

ANATOL.

Also gar keinen — kein bißchen Dank verdiene ich von dir ?— Ich, die dir alles geopfert ?

ELSE.

Geopfert ? — Ich will kein Opfer — und war es eines, so hast du mich nie geliebt.

ANATOL.

Auch das noch ? . . . Ich liebe ihn nicht — ich, die den Mann für ihn verrät — ich, ich — liebe ihn nicht!

ELSE.

ANATOL. ELSE.

Das hab' ich doch nicht gesagt 1

O, was hab' ich getan!

vor ihr stehenbleibend. O, was hab' ich getan! — Diese herrliche Bemerkung hat eben noch gefehlt! — Was du getan hast? Ich will es dir sagen . . . du warst ein dummer Backfisch

ANATOL

Agonie

75

vor sieben Jahren — dann hast du einen Mann geheiratet, weil man eben heiraten muß. — Du hast deine Hochzeitsreise gemacht . . . du warst glücklich . . . in Venedig — ELSE.

Niemals! —

Glücklich — in Venedig — am Comosee — es war jedoch auch Liebe — in gewissen Momenten wenigstens.

ANATOL.

ELSE.

Niemals!

W i e ? — Hat er dich nicht geküßt — nicht umarmt? — Warst du nicht sein Weib? — Dann kamt ihr zurück — und es wurde dir langweilig — selbstverständlich — denn du bist schön — elegant — und eine Frau — ! Und er ist ganz einfach ein Dummkopf! — Nun kamen die Jahre der Koketterie . . . ich nehme an, der Koketterie allein! — Geliebt hast du noch keinen vor mir, sagst du. Nun, beweisen läßt sich das nicht — aber ich nehme es an; weil mir das Gegenteil unangenehm wäre.

ANATOL.

ELSE.

Anatol! Koketterie! Ich! —

Ja . . . Koketterie! Und was das heißt, kokett sein? Lüstern und verlogen zugleich!

ANATOL.

ELSE.

Das war ich? —

Ja . . . du! — Dann kamen die Jahre des Kampfes — du schwanktest! — Soll ich niemals meinen Roman erleben? — Du wurdest immer schöner — dein Mann immer langweiliger, dümmer und häßlicher . . .! Schließlich mußte es kommen — und du nahmst dir einen Liebhaber. Dieser Liebhaber bin zufällig ich!

ANATOL.

ELSE.

Zufällig . . . du!

Ja, zufällig ich — denn, wäte ich nicht — so wäre eben ein anderer dagewesen! — Du hast dich in deiner Ehe unglücklich gefühlt oder nicht glücklich genug — und wolltest geliebt sein. Du hast ein bißchen mit mir geflirtet, hast von der grande passion gefaselt — und eines schönen Tages, als du eine deiner Freundinnen betrachtetest, die im Wagen an dir vorbeifuhr, oder vielleicht eine Kokette, die in einer Loge neben euch saß, da hast du dir eben gedacht: Warum soll ich nicht auch mein Vergnügen haben! — Und so bist du meine Geliebte geworden! Das hast du getan! — Das ist alles — und ich sehe nicht ein, warum du große Phrasen brauchst für dieses kleine Abenteuer.

ANATOL.

ELSE.

Anatol — Anatol! — Abenteuer?! —

ANATOL.

Ja!

76 ELSE.

Anatol Nimm zurück, was du gesagt — ich beschwöre dichl —

Was hab' ich denn da zurückzunehmen — was ist's denn anderes für dich — ?

ANATOL. ELSE.

DU

ANATOL. ELSE.

Nun — so muß ich gehen! Geh — ich halte dich nicht. Pause.

ANATOL. ELSE.

glaubst das wirklich — ? JA!

DU

schickst mich weg ? —

Ich — schicke dich weg — Vor zwei Minuten sagtest du ja — »Ich muß fort!«

ANATOL. ELSE.

Anatol — ich muß es ja —! Siehst du's denn nicht ein —

ANATOL ELSE.

entschlossen.

Else!

Was denn ?

ANATOL.

Else — du liebst mich — ? So sagst du —

Ich sage es — Um Himmels willen — was für Beweise verlangst du denn eigentlich von mir — ?

ELSE.

Willst du es wissen — ? Gut! — Vielleicht werde ich dir glauben können, daß du mich liebst . . . ELSE. Vielleicht ? — Das sagst du heute!

ANATOL.

ANATOL.

Du liebst mich —?

Ich bete dich an — ANATOL. SO — bleibe bei mir! ELSE. W i e ? — ANATOL. Fliehe mit mir — Ja ? — mit mir — in eine andere Stadt — in eine andere Welt — ich will mit dir allein sein! ELSE.

ELSE.

Was fällt dir denn ein —?

Was mir »einfällt« — ? Das einzig Natürliche — ja! — Wie kann ich dich denn nur fortgehen lassen — zu ihm — wie habe ich es nur jemals können ? — Ja — wie bringst du es denn eigentlich über dich — du! die mich »anbetet«! — Wie? Aus meinen Armen weg, von meinen Küssen versengt, kommst du in jenes Haus zurück, das dir ja fremd geworden, seit du mir gehörst? — Nein — nein — wir haben uns so darein gefunden — wir haben nicht daran gedacht, wie ungeheuerlich es ist! Es ist ja unmöglich, daß wir so weiterleben können Else, Else, du kommst mit

ANATOL.

Agonie

77

mir! — Nun . . . du schweigst — Else I — Nach Sizilien . . . wohin du willst — übers Meer meinetwegen —- Else! ELSE.

Was redest du nur?

Niemand mehr zwischen dir und mir — übers Meer, Else! — und wir werden allein sein —

ANATOL. ELSE.

Übers Meer — ? Wohin du willst! . . . Mein liebes, teures . . . Kind . . .

ANATOL. ELSE.

Zögerst du — ?

ANATOL. ELSE.

Schau, Liebster — wozu brauchen wir denn das eigentlich — ?

Was? Das Wegreisen — es ist ja gar nicht nötig . . . Wir können uns doch auch in Wien beinahe so oft sehen, als wir wollen.

ANATOL. ELSE.

Beinahe so oft, als wir wollen. — Ja ja . . . wir . . . haben's gar nicht nötig . . . ELSE. Das sind Phantastereien . . . A N A T O L . . . . Du hast recht . . . Pause. ANATOL.

ELSE.

. . . Bös -— ? Glockenschläge.

ANATOL. ELSE.

DU

Nun — so geh doch . . .

ANATOL. ELSE.

Auf morgen — ich werde schon um sechs Uhr bei dir seinl . . . Wie du willst!

ANATOL. ELSE.

DU

ANATOL. ELSE.

küssest mich nicht — ? O ja . . .

Ich werde dich schon wieder gutmachen . . . morgen! —

ANATOL ELSE

mußt gehen!

. . . Um Himmels willen — so spät ist es geworden . . .!

begleitet sie %ur Türe. Adieu!

bei der Türe. Noch einen Kuß!

ANATOL.

Warum nicht — da! Er küßt sie ; sie geht.

wieder zurück ins Zimmer. Nun habe ich sie mit diesem Kuß zu dem gemacht, was sie zu sein verdient . . . zu einer mehr! Er schüttelt sich. Dumm, dumm . . .!

ANATOL

Vorhang.

ANATOLS HOCHZEITSMORGEN ANATOL, M A X , ILONA, FRANZ

(Diener).

Geschmackvoll eingerichtetes Junggesellen^immer: die Türe rechts führt ins Vorzimmer; die Türe links, zu deren Seiten Vorhänge herabfallen, ins Schlafgemach. kommt im Morgenanzug auf den Zehenspitzen aus dem Zimmer links und macht die Türe leise zu- Er setzt sich auf eine Chaiselongue und drückt auf einen Knopf; es klingelt.

ANATOL

FRANZ

links.

erscheint von rechts und geht, ohne Anatol zu bemerken, zur Türe

merkt es anfangs nicht, läuft ihm dann nach und hält ihn dann Zurück, die Türe zu öffnen. Was schleichst du denn so? Ich habe dich gar nicht gehört I

ANATOL

Was befehlen Euer Gnaden ?

FRANZ. ANATOL.

Den Samowar! Jawohl. Ab.

FRANZ.

Leise, du DummkopfI Kannst du nicht leiser auftreten? Geht auf den Fußspitzen zur Türe links, öffnet sie ein wenig. Sie schläft 1 . . . Noch immer schläft sie I Schließt die Türe.

ANATOL.

FRANZ

kommt mit dem Samowar.

Zwei Tassen, gnädiger Herr?

Jawohl! Es läutet. . . . Sieh hinaus I Wer kommt denn da in aller Frühe ? Franz "b-

ANATOL.

Ich bin heute entschieden nicht in der Stimmung zum Heiraten. Ich möchte absagen. F R A N Z ö f f n e t die Türe rechts, durch die Max hereintritt. ANATOL.

MAX herzlich. ANATOL.

Mein lieber Freund I

Pst . . . Stille 1 . . . Noch eine Tasse, Franz!

MAX. Es stehen ja schon zwei Tassen dal

Anatols Hochzeitsmorgen

79

Noch eine Tasse, Franz — und hinaus. Fran% ab. So . . . und jetzt, mein Lieber, was führt dich um acht Uhr morgens zu mir her ?

ANATOL.

MAX. Es ist zehn 1 Also was führt dich um zehn Uhr morgens zu mir her?

ANATOL.

MAX. Meine Vergeßlichkeit. Leiser . . .

ANATOL.

MAX. Ja warum denn eigentlich ? Bist du nervös ? Ja, sehr!

ANATOL.

MAX. Du solltest aber heute nicht nervös sein. Was willst du also?

ANATOL.

MAX. DU weißt, ich bin heute Zeuge bei deiner Hochzeit; deine reizende Cousine Alma ist meine Dame! ANATOL

tonlos. Zur Sache.

MAX. Nun — ich habe vergessen, das Bukett zu bestellen, und weiß in diesem Augenblicke nicht, was für eine Toilette Fräulein Alma tragen wird. Wird sie weiß, rosa, blau oder grün erscheinen ? ANATOL

ärgerlich.

Keinesfalls grün!

MAX. Warum keinesfalls grün? ANATOL.

Meine Cousine trägt nie Grün.

MAX pikiert.

Das kann ich doch nicht wissen!

wie oben. machen.

ANATOL

Schrei nicht sol Das läßt sich alles in Ruhe ab-

MAX. Also du weißt gar nicht, was für eine Farbe sie heute tragen wird? ANATOL.

Rosa oder Blau!

MAX. Das sind aber ganz verschiedene Dinge. ANATOL.

Ach, Rosa oder Blau, ist ganz gleichgültig!

MAX. Aber für mein Bukett ist das durchaus nicht gleichgültig 1 ANATOL.

stecken.

Bestelle zwei; das eine kannst du dir dann ins Knopfloch

MAX. Ich bin nicht hergekommen, um deine schlechten Witze anzuhören.

80

Anatol

ANATOL.

machen!

Ich werde heute um zwei Uhr einen noch schlechteren

MAX. DU bist recht gut aufgelegt an deinem Hochzeitsmorgen. ANATOL.

Ich bin nervös!

MAX. DU verschweigst mir etwas. ANATOL.

Nichts!

ILONAS STIMME

aus dem Schlafzimmer.

Anatol!

MAX sieht Anatol überrascht an. Entschuldige mich einen Augenblick. Geht %ur Türe des Schlafzimmers und verschwindet einen Moment in demselben ; Max sieht ihm mit weit offenen Augen nach ; Anatol küßt Ilona bei der Türe, ohne daß es Max sehen kann, schließt die Türe und tritt wieder Max.

ANATOL.

MAX entrüstet. ANATOL.

So was tut man nicht!

Höre, lieber Max, und dann urteile.

MAX. Ich höre eine weibliche Stimme und urteile: Du fängst früh an, deine Frau zu betrügen! Setze dich nieder und höre mich an, du wirst gleich anders reden.

ANATOL.

MAX. Niemals. Ich bin gewiß kein Tugendspiegel; aber so was . . .! ANATOL.

Du willst mich nicht anhören ?

MAX. Erzähle! Aber rasch; ich bin zu deiner Trauung eingeladen. Beide sitzen. ANATOL

traurig.

MAX ungeduldig.

Ach ja! Also.

Also . . . Also gestern war Polterabend bei meinen zukünftigen Schwiegereltern.

ANATOL.

MAX. Weiß ich; war dort! Ja richtig, du warst dort. Es waren überhaupt eine Menge Leute dort I Man war sehr aufgeräumt, trank Champagner, sprach Toaste . . .

ANATOL.

MAX. Ich auch . . . auf dein Glück 1 Ja, du auch . . . auf mein Glück! Drückt ihm die Hand. Ich danke dir.

ANATOL.

MAX. Tatest du bereits gestern.

Anstois Hochzeitsmorgen ANATOL.

81

Man war also sehr lustig bis Mitternacht . . .

MAX. Ist mir bekannt. ANATOL.

Einen Augenblick kam es mir vor, als wäre ich glücklich.

MAX. Nach deinem vierten Glas Champagner. traurig. Nein — erst nach dem sechsten . . . es ist traurig, und ich kann es kaum begreifen.

ANATOL

MAX. Wir haben genug davon gesprochen. Auch jener junge Mensch war dort, von dem ich sicher weiß, daß er die Jugendliebe meiner Braut war.

ANATOL.

MAX. Ach, der junge Ralmen. Ja — so eine Art Dichter glaub' ich. Einer von denen, die dazu bestimmt scheinen, zwar die erste Liebe von so mancher, doch von keiner die letzte zu bedeuten.

ANATOL.

MAX. Ich zöge vor, du kämest zur Sache. Er war mir eigentlich ganz gleichgültig; im Grunde lächelte ich über ihn . . . Um Mitternacht ging die Gesellschaft auseinander. Ich nahm von meiner Braut mit einem Kusse Abschied. Auch sie küßte mich . . . kalt . . . Während ich die Stiege hinunterschritt, fröstelte mich.

ANATOL.

MAX.

Aha . . .

Beim Tore gratulierte mir noch der und jener. Onkel Eduard war betrunken und umarmte mich. Ein Doktor der Rechte sang ein Studentenlied. Die Jugendliebe, der Dichter mein' ich, verschwand mit aufgestecktem Kragen in einer Seitengasse. Einer neckte mich. Ich würde nun gewiß vor den Fenstern der Geliebten den Rest der Nacht spazierenwandeln. Ich lächelte höhnisch . . . Es hatte zu schneien begonnen. Die Leute zerstreuten sich allmählich . . . ich stand allein . . .

ANATOL.

MAX bedauernd.

Hm . . .

wärmer. Ja, stand allein auf der Straße — in der kalten Winternacht, während der Schnee in großen Flocken um mich wirbelte. Es war gewissermaßen . . . schauerlich.

ANATOL

MAX. Ich bitte dich — sage endlich, wohin du gingst? ANATOL MAX.

groß.

Ich mußte hingehen — auf die Redoute 1

AHL

ANATOL.

DU

staunst, wie — ?

6 KOMEDIA VI

82

Anatol

MAX. N u n kann ich mir das Folgende denken. ANATOL. D o c h nicht, mein Freund kalten Winternacht —

als ich so dastand in der

MAX. Fröstelnd . . .! ANATOL. Frierend! D a kam es wie ein gewaltiger Schmerz über mich, daß ich v o n n u n an kein freier Mann mehr sein, daß ich meinem süßen, tollen Junggesellenleben Ade sagen sollte für immerdar I Die letzte Nacht, sagte ich mir, in der du nach Hause k o m m e n kannst, ohne gefragt zu werden: W o warst du . . . ? Die letzte Nacht der Freiheit, des Abenteuerns . . . vielleicht der Liebe 1 MAX.

Oh! —

ANATOL. Und so stand ich mitten im Gewühl. U m mich herum knisterten Seiden- und Atlaskleider, glühten A u g e n , nickten Masken, dufteten die weißen glänzenden Schultern — atmete und tollte der ganze Karneval. Ich stürzte mich in dieses Treiben, ließ es u m meine Seele brausen. Ich mußte es einsaugen, mußte mich darin baden! . . . MAX. Zur Sache . . . Wir haben keine Zeit. ANATOL. Ich werde so durch die Menge hindurch geschoben, und nachdem ich früher meinen Kopf berauscht, berausche ich n u n meinen Atem mit all den Parfüms, die u m mich wallen. Es strömte auf mich ein, wie nie zuvor. Mir, ja mir ganz persönlich gab der Fasching ein Abschiedsfest. MAX. Ich warte auf den dritten Rausch . . . ANATOL. E r kam . . . der Rausch des Herzens . . .! MAX. Der Sinne! ANATOL. Des Herzens . . .! N u n ja, der Sinne: . . . Erinnerst du dich an Katharine . . . ? MAX laut. O h , an Katharine . . . ANATOL.

Pst . . .

MAX auf die Schlafstubentür deutend. Ach . . . ist sie es ? ANATOL. Nein — sie ist es eben nicht. Aber sie war auch dort — und dann eine reizende brünette Frau, deren N a m e ich nicht nenne . . . u n d dann die kleine blonde Lizzie v o m T h e o d o r — aber der T h e o d o r war nicht dort — u n d so weiter. Ich erkannte sie alle trotz ihrer Masken — an der Stimme, am Gang, an irgend-

Anatols Hochzeitsmorgen

83

einer Bewegung. Aber sonderbar . . . Gerade eine erkannte ich nicht gleich. Ich verfolgte sie oder sie mich. Ihre Gestalt war mir so bekannt. Jedenfalls trafen wir immerfort zusammen. Beim Springbrunnen, beim Büfett, neben der Proszeniumsloge . . . immerfort 1 Endlich hatte sie meinen Arm, und ich wußte, wer sie war! Auf die Schlafzimmertür deutend. Sie. MAX. Eine alte Bekannte ? ANATOL. Aber Mensch, ahnst du es denn nicht ? D u weißt doch, was ich ihr vor sechs Wochen erzählt habe, als ich mich verlobte . . . das alte Märchen: Ich reise ab, bald k o m m e ich wieder, ich werde dich ewig lieben. MAX. Ilona . . . ? ANATOL.

Pst . . .

MAX. Nicht Ilona . . . ? ANATOL. Ja — aber eben darum still! D u bist also wieder da, flüstert sie mir ins Ohr. Ja, erwidere ich schlagfertig. Wann gekommen ? — Heute abend. — Warum nicht früher geschrieben ? — Keine Postverbindung. — W o denn ? — Unwirtliches D o r f . — Aber jetzt . . . ? — Glücklich, wieder da, treu gewesen. — Ich auch — ich auch — Seligkeit, Champagner und wieder Seligkeit. — MAX. U n d wieder Champagner. ANATOL. Nein — kein Champagner mehr. — Ach, wie wir dann im Wagen nach Hause fuhren . . . wie früher. Sie lehnte sich an meine Brust. N u n wollen wir uns nie wieder trennen — sagte sie . . . MAX sieht auf. Wach auf, mein Freund, und sieh, daß du zu E n d e kommst. ANATOL. »Niemals trennen«

Aufstehend. Und heute um zwei

Uhr heirate ich! MAX. Eine andere. ANATOL. N u n ja; man heiratet immer eine andere. MAX auf die Uhr schauend. Ich glaube, es ist die höchste Zeit. Bezeichnende Bewegung, Anatol möge Ilona entfernen. ANATOL. Ja, ja, ich will sehen, ob sie bereit ist. Zur Türe, bleibt davor stehen, wendet sich Max. Ist es nicht eigentlich traurig ? MAX. Es ist unmoralisch. ANATOL. Ja, aber auch traurig. 6*

84

Anatol

MAX. Geh endlich. Tür des

ANATOL

Nebenzimmers.

steckt den Kopf heraus, tritt, in einen eleganten Domino heraus. Es ist ja nur Max!

ILONA

MAX sich verbeugend.

gehüllt,

Nur Max.

Anatol. Und du sagst mir gar nichts. — Ich dachte, es sei ein Fremder, sonst wäre ich schon längst bei euch gewesen. Wie geht es Ihnen, Max? Was sagen Sie zu diesem Schlingel?

ILONA

MAX.

Ja, das ist er.

Sechs Wochen weine ich um ihn . . . Er war . . . wo warst du nur ?

ILONA.

mit einer großen Handbemegung.

ANATOL

Dort wo

Hat er Ihnen auch nicht geschrieben? Aber jetzt hab' ich ihn wieder. Seinen Arm nehmend. . . . Jetzt gibt es keine Abreise mehr . . . keine Trennung. Gib mir einen Kuß!

ILONA.

ANATOL.

Aber . . .

Ach, Max gilt nichts. Küßt Anatol. Aber du machst ja ein Gesicht! . . . Nun werde ich euch den Tee einschenken und mir auch, wenn's erlaubt ist.

ILONA.

ANATOL.

Bitte . . .

MAX. Liebe Ilona, ich kann leider die Einladung, mit Ihnen zu frühstücken, nicht annehmen . . . und ich begreife auch nicht . . . macht sich mit dem Samowar nicht?

ILONA

schaffen.

Was begreifen Sie

MAX. Anatol sollte eigentlich auch . . . ILONA.

Was sollte Anatol — ?

MAX ZU Anatol. ILONA.

Du solltest eigentlich schon

Was sollte er?

MAX. Du solltest schon in Toilette sein! Ach, seien Sie doch nicht lächerlich, Max; wir bleiben heute zu Hause; wir rühren uns nicht fort . . .

ILONA.

ANATOL. ILONA.

Liebes Kind, das wird leider nicht möglich sein . . .

Oh, das wird schon möglich sein.

ANATOL.

Ich bin eingeladen . . .

Anatols Hochzeitsmorgen ILONA

den Tee einschenkend.

85

Sage ab.

MAX. Er kann nicht absagen. Ich bin zu einer Hochzeit geladen.

ANATOL.

MAX macht ihm ermunternde

Zeichen.

Ach, das ist ganz gleichgültig.

ILONA.

Das ist nicht ganz gleichgültig — denn ich bin sozusagen Kranzelherr. ILONA. Liebt dich deine Dame? MAX. Das ist doch eigentlich Nebensache. ILONA. Aber ich liebe ihn, und das ist die Hauptsache . . . Reden Sie nicht immer drein! ANATOL. Kind . . . ich muß fort. ANATOL.

MAX. Ja, er muß fort — glauben Sie ihm — er muß fort. Auf ein paar Stunden mußt du mir Urlaub geben.

ANATOL.

Jetzt setzt euch gefälligst . . . Wieviel Stück Zucker, Max ?

ILONA.

MAX. Drei. Anatol.

ILONA ANATOL.

ES

Du . . . ?

ist wirklich die höchste Zeit.

Wieviel Stück?

ILONA.

Du weißt ja . . . immer zwei Stück —

ANATOL.

Obers, Rum?

ILONA.

Rum — das weißt du ja auch!

ANATOL.

Rum und zwei Stück Zucker. Zu Max. Der hat Prinzipien!

ILONA.

MAX. Ich muß gehen I leise. Du lassest mich allein?

ANATOL ILONA.

Sie werden Ihren Tee austrinken, Max I

ANATOL.

Kind, ich muß mich jetzt umkleiden —1

Um Gottes willen — wann ist denn die unglückselige Hochzeit ? MAX. In zwei Stunden.

ILONA.

ILONA. MAX.

Sie sind wohl auch geladen ? Ja!

86 ILONA.

Anatol Auch Kranzelherr?

ANATOL. ILONA.

ANATOL.

DU

kennst ihn nicht.

Wie heißt er denn? Es wird doch kein Geheimnis sein.

ILONA. ANATOL. ILONA.

Ja . . . er auch.

Wer heiratet denn eigentlich?

Es ist ein Geheimnis.

Wie ?

ANATOL.

Die Trauung findet im geheimen statt.

Mit Kranzelherren und Kranzeidamen? Das ist ja ein Unsinn!

ILONA.

MAX. Nur die Eltern dürfen nichts wissen. ILONA

ihren Tee schlürfend, ruhig. Kinder, ihr lügt mich an.

MAX. O ich bitte. Weiß Gott, wo ihr heute geladen seid! . . . Aber daraus wird nichts — Sie können natürlich hingehen, wo Sie wollen, lieber Max — der da aber bleibt.

ILONA.

Unmöglich, unmöglich. Ich kann bei der Hochzeit meines besten Freundes nicht fehlen.

ANATOL. ILONA

Z» Max.

Soll ich ihm den Urlaub geben ?

MAX. Beste, beste Ilona — Sie müssen — ILONA.

In welcher Kirche findet denn diese Trauung statt?

ANATOL. ILONA.

unruhig. Warum fragst du?

Ich will mir die Geschichte wenigstens ansehen.

MAX. Das geht aber nicht . . . ILONA.

Warum denn?

Weil diese Trauung in einer ganz . . . in einer ganz unterirdischen Kapelle stattfindet.

ANATOL. ILONA.

ES

ANATOL.

führt doch ein Weg hin ?

Nein . . . das heißt — ein Weg führt natürlich hin.

Ich möchte deine Dame sehen, Anatol. Ich bin nämlich eifersüchtig auf diese Dame. — Man kennt Geschichten von Kranzelherren, die ihre Damen nachher geheiratet haben. Und, verstehst du, Anatol — ich will nicht, daß du heiratest.

ILONA.

Anatols Hochzeitsmorgen

87

MAX. Was würden Sie denn tun, . . . wenn er heiratete ? ILONA

ganz ruhig. Ich würde die Trauung stören.

ANATOL.

— So —

?

MAX. Und wie denn das ? Ich schwanke noch. Wahrscheinlich großer Skandal vor der Kirchentüre.

ILONA.

MAX. Das ist trivial. Oh, ich würde schon eine neue Nuance finden.

ILONA.

MAX. Zum Beispiel? Ich käme gleichfalls als Braut angefahren — mit einem Myrtenkranz — das wäre doch originell ?

ILONA.

MAX. Äußerst. . . Steht auf. Ich muß jetzt gehen . . . Adieu, Anatol! steht auf, entschlossen. Entschuldige, liebe Ilona; aber ich muß mich jetzt umkleiden — es ist die höchste Zeit.

ANATOL

FRANZ

tritt ein mit einem Bukett.

Die Blumen, gnädiger Herr.

Was für Blumen?

ILONA.

sieht Ilona mit einem erstaunten und etwas vertraulichen Gesicht an. Die Blumen, gnädiger Herr.

FRANZ

Du hast noch immer den Franz ? Franz ab. Du wolltest ihn doch hinauswerfen ? MAX. Das ist manchmal so schwer.

ILONA.

ANATOL

hat das in Seidenpapier eingewickelte Bukett in der Hand. Laß sehen, was du für Geschmack hast!

ILONA.

MAX. Das Bukett für deine Dame ? ILONA

schlägt das Seidenpapier

^urück.

Das ist ja ein Brautbukett!

Mein Gott, jetzt hat man mir das unrichtige Bukett geschickt . . . Franz, Franz! Rasch ab mit dem Bukett.

ANATOL.

MAX. Der arme Bräutigam wird seines erhalten. ANATOL

wieder eintretend.

Er läuft schon, der Franz. —

MAX. Und jetzt müssen Sie mich entschuldigen — ich muß gehen. ANATOL

ihn zur Türe begleitend.

MAX. Gestehen.

Was soll ich tun?

Anatol

88 ANATOL.

Unmöglich.

MAX. Nun, jedenfalls komme ich wieder zurück, sobald ich kann — ANATOL.

Bitte dich — ja!

MAX. Und meine Farbe . . . ANATOL.

Blau oder Rot

ich habe so eine Ahnung

Leb wohl — MAX. Adieu, IlonaI ins Zimmer

ANATOL ILONA

Leise. In einer Stunde bin ich wieder dal zurück.

stürmt in seine Arme. mechanisch.

ANATOL

Endlich! Oh wie glücklich ich bin. —

Mein Engel!

Wie kalt du bist.

ILONA.

Ich sagte doch soeben: Mein Engel. Aber mußt du denn wirklich fort zu dieser dummen Hoch-

ANATOL. ILONA.

zeit?

ANATOL.

In allem Ernst, Schatz, ich muß.

Weißt du, ich kann dich ja in deinem Wagen bis zur Wohnung deiner Dame begleiten . . .

ILONA.

Aber was fällt dir ein. Wir wollen uns heute abend treffen; du mußt doch heute ins Theater.

ANATOL. ILONA.

Ich sage ab.

Nein, nein, ich werde dich abholen. — Jetzt muß ich den Frack anziehen. Sieht auf die Uhr. Wie die Zeit vergeht. Franz, Franz! ILONA. Was willst du denn? ANATOL.

dem eintretenden Franz• Haben Sie in meinem Zimmer alles vorbereitet? F R A N Z . Der gnädige Herr meinen den Frack, die weiße Krawatte — ANATOL

ANATOL.

N u n ja —

Ich werde sofort ms Schlafzimmer. ANATOL geht hin und her. Du — Ilona — also heute abend — nach dem Theater — nicht — ? FRANZ.

Ich möchte so gerne heute mit dir zusammenbleiben. Sei doch nicht kindisch — ich habe doch auch — Verpflichtungen, du siehst es ja einl

ILONA.

ANATOL.

Anstois Hochzeitsmorgen ILONA.

89

Ich liebe dich, weiter sehe ich nichts ein. Das ist aber durchaus notwendig.

ANATOL.

aus dem Schlafzimmer gnädiger Herr. Ab.

FRANZ

kommend.

Es ist alles vorbereitet,

Gut. Geht ins Schlafzimmer, spricht hinter der Türe weiter, während Ilona auf der S^ene bleibt. Ich meine, es ist durchaus notwendig, daß du das einsiehst.

ANATOL.

ILONA.

DU

ILONA.

Warum gehst du nur? Fängst du schon wieder an ? Ich muß.

ANATOL. ILONA.

Also heute abend. Ja. Ich werde dich an der Bühnentüre erwarten.

ANATOL. ILONA.

kleidest dich also wirklich um ?

Ich kann doch nicht so zur Hochzeit gehen. —

ANATOL.

Verspäte dich nur nicht! Nein — warum sollte ich mich denn verspäten ?

ANATOL.

Oh erinnere dich nur; einmal wartete ich eine ganze Stunde nach dem Theater.

ILONA.

ANATOL.

SO

? Ich erinnere mich nicht. Pause.

geht im Zimmer umher, schaut die Decke, die Wände an. Anatol, du hast ja da ein neues Bild.

ILONA

Ja, gefällt es dir ?

ANATOL. ILONA.

Ich verstehe ja nichts von Bildern. Es ist ein sehr schönes Bild.

ANATOL. ILONA.

Hast du das mitgebracht?

ANATOL. ILONA.

Du,

Wieso ? Woher ?

Nun, von deiner Reise.

Ja, richtig, von meiner Reise. Nein, übrigens, es ist ein Geschenk. Pause.

ANATOL. ILONA.

DU,

nervös. Was denn?

ANATOL ILONA.

Anatol.

WO

ANATOL.

warst du eigentlich?

Ich habe dir's schon gesagt.

90

Anatol Nein, kein Wort.

ILONA. ANATOL. ILONA.

ANATOL.

ANATOL.

ANATOL.

Ja, ununterbrochen. Ich wollte dich nicht betrüben.

DU,

ANATOL.

Anatol, du wolltest mich sitzenlassen.

Lächerlich.

Nun; einmal hast du es ja schon versucht.

ANATOL. ILONA.

Ja, Hasen habe ich geschossen.

Warum hast du mir nicht Adieu gesagt?

ANATOL.

ILONA.

Ich war nicht in Böhmen, nur in der Nähe —

Sechs Wochen lang?

ILONA.

ILONA.

In der Nähe von Böhmen war ich.

Ach so, du warst wohl zur Jagd geladen.

ANATOL.

ILONA.

hab' ich es wieder vergessen!

Was hast du denn in Böhmen zu tun gehabt?

ILONA.

ILONA.

Gestern abend habe ich dir's gesagt.

SO

Versucht — ja; aber es ist mir nicht gelungen.

Wie ? Was sagst du ?

ANATOL.

doch.

Nun ja; ich wollte mich von dir losreißen; du weißt es

Was für ein Unsinn; du kannst dich ja gar nicht von mir losreißen I

ILONA.

ANATOL. ILONA.

Ha ha 1

Was sagst du?

ANATOL.

Ha ha, habe ich gesagt.

Lache nur nicht, mein Schatz; du bist mir auch damals wieder zurückgekehrt.

ILONA.

ANATOL. ILONA.

ANATOL. ILONA. ANATOL

Nun ja — damals!

Und diesmal auch — du liebst mich eben. Leider.

Wie — ?

schreiend.

Leider!

91

Anatols Hochzeitsmorgen

D U , du bist sehr couragiert, wenn du in einem anderen Zimmer bist. Ins Gesicht sagst du mir das nicht.

ILONA.

ö f f n e t die Tür, steckt den Kopf heraus.

ANATOL ILONA

Leider.

zur Türe hin. Was heißt das, Anatol ?

wieder hinter der Türe. so weitergehen kann!

Das heißt, daß das doch nicht ewig

ANATOL ILONA.

Wie ?

E S kann nicht so weitergehen, sage ich; es kann nicht ewig währen.

ANATOL.

ILONA. Jetzt lache ich: Ha ha. ANATOL. ILONA

Wie ?

reißt die Tür auf.

Ha ha.

ANATOL. Zumachen! Die Tür wieder

geschlossen.

ILONA. Nein, mein Schatz, du liebst mich und kannst mich nicht verlassen. ANATOL. G l a u b s t d u ?

ILONA. I c h w e i ß es. ANATOL. D u w e i ß t es ?

ILONA. I c h f ü h l e es. D U meinst also, daß ich in alle Ewigkeit dir zu Füßen liegen werde.

ANATOL. ILONA.

DU

wirst nicht heiraten — das weiß ich.

D U bist wohl toll, mein Kind. Ich liebe dich — das ist ja recht schön — aber für die Ewigkeit sind wir nicht verbunden.

ANATOL.

ILONA. Glaubst du, ich gebe dich überhaupt her ? ANATOL. Du wirst es doch einmal tun müssen. ILONA. Müssen ? Wann denn ? ANATOL. Wenn ich heirate. an die Tür trommelnd. Schatz ?

ILONA

ANATOL ILONA

höhnisch.

erregter.

Und wann wird denn das sein, mein

O bald, mein Schatz! Wann denn ?

92

Anatol

Höre auf zu trommeln. In einem Jahr bin ich längst verheiratet.

ANATOL. ILONA.

Ich könnte übrigens auch in zwei Monaten heiraten.

ANATOL. ILONA.

Ja — jetzt — in diesem Augenblicke wartet eine.

Also in zwei Monaten?

ILONA.

Mir scheint, du zweifelst . . .

ANATOL.

lacht. Lache nicht — ich heirate in acht Tagen!

ANATOL. ILONA

lacht noch heller auf. Lache nicht, Ilona!

ANATOL. ILONA

sinkt lachend auf den Divan. bei der Türe, im Frack heraustretend.

ANATOL ILONA

Heute, mein Schatz.

steht auf

ANATOL. ILONA.

Anatol, hör auf zu spaßen!

ist Ernst, mein Kind, ich heirate heute.

bist verrückt, nicht ?

Franz 1

kommt.

ANATOL. ILONA

ES

DU

ANATOL. FRANZ

Heute.

ihn ansehend. Wann — ?

ANATOL. ILONA

Lache nicht!

lachend. Wann heiratest du ?

ANATOL. ILONA

wartet wohl schon eine!

ES

ANATOL.

ILONA

Narr!

DU

Gnädiger Herr — ?

Mein Bukett! Franz ab.

steht drohend vor Anatol.

Anatol . . . 1

bringt das Bukett. ILONA sich umwendend, stürmt mit einem Schrei auf das Bukett zu, Anatol nimmt es Franz ras[h aus der Hand; Franz geht, lächelnd, langsam ab. FRANZ

ILONA.

Ah 11 — Also wirklich.

ANATOL. ILONA

Wie du siehst.

will ihm das Bukett aus der Hand reißen.

93

Anatols Hochzeitsmorgen

Was treibst du denn? Er muß sich vor ihr flüchten; sie läuft ihm rings durch das Zimmer nach.

ANATOL.

Elender, Elender!

ILONA.

MAX tritt ein, mit einem Rosen-Bukett in der Hand, bleibt betroffen bei der Türe stehen. ANATOL hat sich auf einen Sessel geflüchtet, hält sein Bukett hoch in die Luft. Hilf mir, Maxi MAX eilt auf Ilona sie zurückhaltend; sie wendet sich zu ihm, windet ihm das Bukett aus der Hand, wirft es zu Boden, zertritt es. MAX. Ilona, Sie sind ja toll. Mein Bukett! Was soll ich denn tun! ILONA

in heftiges Weinen ausbrechend, sinkt auf einen Stuhl.

verlegen, suchend, auf dem Sessel. Sie hat mich gereizt . . . Ja, Ilona, jetzt weinst du . . . — natürlich . . . Warum hast du mich ausgelacht . . . Sie höhnte mich verstehst du, Max . . . Sie sagte,. . . ich getraue mich nicht zu heiraten . . . nun . . . heirate ich begreiflicherweise — aus Opposition. Will vom Sessel heruntersteigen. ILONA. D U Heuchler, du Betrüger.

ANATOL

steht wieder auf dem Sessel.

ANATOL

MAX hat sein Bukett aufgehoben. Mein Bukett 1 ILONA. Ich habe das seine gemeint. Sie verdienen es aber auch nicht besser. — Sie sind mitschuldig. immer auf dem Sessel. Jetzt sei vernünftig.

ANATOL

Ja — das sagt ihr immer, wenn ihr eine toll gemacht habt! Aber nun werdet ihr was sehen! Das wird eine nette Hochzeit werden! Wartet nur . . . Steht auf. Adieu unterdessen!

ILONA.

vom Sessel heruntergesprungen.

ANATOL ILONA.

ANATOL. MAX. ILONA.

Wohin — ?

Wirst es schon sehen. |

Wohin?

Laßt mich nur!

und M A X ihr den Ausgang verstellend. Sie — Ilona — was willst du — ? ILONA. Laßt mich! . . . Laßt mich gehen.

ANATOL

ANATOL.

Sei gescheit — beruhige dich —!

Ilona — was wollen

Anatol

94

Ihr laßt mich nicht hinaus. — Wie . . . Rennt im Zimmer herum, wirft das Teegeschirr in Wut vom Tisch herunter.

ILONA.

und

ANATOL

MAX

ratlos.

Nun frage ich dich — hat man es notwendig, zu heiraten, wenn man so s e h r geliebt wirdl

ANATOL.

ILONA

sinkt gehrochen auf den Divan; sie weint. Pause. Nun beruhigt sie sich.

ANATOL.

MAX. Wir müssen gehen . . . und ich ohne — Bukett. — FRANZ

kommt.

Der Wagen, gnädiger Herr. Ab.

Der Wagen . . . Der Wagen — was mach' ich nur. Zu Ilona, hinter sie tretend, sie auf das Haar küssend. Ilona! —

ANATOL.

MAX von der anderen Seite. Ilona — Sie weint still, mit dem Schnupftuche vor dem Gesicht, weiter. Geh du jetzt nur und verlasse dich auf mich. — Ich muß wirklich gehen — aber wie kann ich . . .

ANATOL. MAX.

Geh . . . Wirst du sie entfernen können?

ANATOL.

MAX. Ich werde dir während der Trauung zuraunen . . . »Alles in Ordnung«. ANATOL.

Ich habe eine Angst — 1

MAX. Geh jetzt nur. Ach . . . Er wendet sich zum Gehen, auf den Zehenspitzen wieder zurück, drückt einen leisen Kuß auf das Haar Ilonas, geht rasch.

ANATOL.

MAX setzt rieh gegenüber von Ilona, die noch immer, das Taschentuch vor das Gesicht haltend, weint. Sieht auf die Uhr. Hm, hm. ILONA

um sich schauend, wie aus einem Traum erwachend.

Wo ist er . . .

MAX nimmt sie bei den Händen. Ilona . . . ILONA

aufstehend.

Wo ist er . . .

MAX ihre Hände nicht loslassend. ILONA.

Sie würden ihn nicht finden.

Ich will aber.

MAX. Sie sind doch vernünftig, Ilona, Sie wollen ja keinen Skandal . . . ILONA.

Lassen Sie mich —

Anatols Hochzeitsmorgen

95

MAX. Ilona! ILONA.

WO

findet die Trauung statt ?

MAX. Das ist nebensächlich. ILONA.

Ich will hin; ich muß hin!

MAX. Sie werden es nicht tun . . . Was fällt Ihnen denn ein! ILONA.

O dieser Hohn! . . . Dieser Betrug!

MAX. ES ist nicht das eine, nicht das andere — es ist eben das Leben I ILONA.

Schweigen Sie — Sie — mit Ihren Phrasen.

MAX. Sie sind kindisch, Ilona, sonst würden Sie einsehen, daß alles vergeblich ist. ILONA.

Vergeblich — ?!

MAX. ES ist ein Unsinn . . .! ILONA.

Unsinn! —

P

MAX. Sie würden sich lächerlich machen, das ist alles. ILONA.

Wie — auch noch Beleidigungen!

MAX. Sie werden sich trösten! ILONA.

Oh wie schlecht Sie mich kennen!

MAX. Ja, wenn er nach Amerika ginge. ILONA.

Was heißt das ?

MAX. Wenn er Ihnen wirklich verloren wäre! ILONA.

Was bedeutet das ?

MAX.

Die Hauptsache ist — daß nicht Sie die Betrogene sindl

ILONA.

. . .!

MAX. Zu Ihnen kann man zurückkehren, jene kann man verlassen! Oh . . . wenn das . . . mit einem wilden, freudigen Ausdruck in der Miene.

ILONA.

MAX. Sie sind edel . . . Ihr die Hand drückend. Rächen will ich mich . . . darum freue ich mich über das, was Sie sagten.

ILONA.

MAX. Sie sind eine von denen, »welche beißen, wenn sie lieben«. ILONA.

Ja, ich bin eine von denen.

96

Anatol

MAX. Nun kommen Sie mir ganz großartig vor. — Wie eine, die ihr ganzes Geschlecht an uns rächen möchte. ILONA.

Ja . . . das will ich . . .

MAX aufstehend. Ich habe eben noch Zeit, Sie in Ihre Wohnung zu führen. Für sich. Sonst geschieht doch noch ein Unglück. — Ihr den Arm reichend. Nun nehmen Sie Abschied von diesen Räumen! Nein, mein lieber Freund — nicht Abschied. Ich werde wiederkehren!

ILONA.

MAX. Nun glauben Sie sich einen Dämon — und sind eigentlich doch nur ein Weib I Auf eine mißmutige Bewegung Ilonas. Das ist aber auch gerade genug . . . Ihr die Türe öffnend. Darf ich bitten, mein Fräulein ? — sich noch einmal vor dem Hinausgehen umwendend, mit Großartigkeit. Auf Widersehen! . . . Ab mit Max.

ILONA

Vorhang.

affektierter

ANATOLS GRÖSSENWAHN Personen ANATOL MAX BARON DIEBL M U S I K E R FLIEDER BERTA ANNETTE

Die Gartenseite eines freundlichen Gasthofes, dessen Front den größten Teil des Hintergrundes einnimmt. Eine breite Terrasse läuft der ganzen Front des Gasthofes entlang ; zu derselben führen von der Szene, die einen Garten vorstellt, %wei Treppen hinauf. Im Hintergrund, soweit derselbe nicht durch das Haus gedeckt ist, eine anmutige Hügellandschaft, die eben in Dämmerung Zu versinken beginnt. — Während die eine Seite des Hauses in die Kulisse gerückt ist, steht die andere frei — und an dieser Seite läuft eine Pappelallee, die direkt an dem Gitter des Gartens vorüberführt. Auf der Terrasse stehen, ebenso wie im Garten, einzelne Tische mit Stühlen, die alle leer sind. Anatol und Max sitzen an einem der Tische, die auf der Terrasse stehen, Zigaretten rauchend. ANATOL. Erinnerst du dich noch, mein lieber Max, wie wir das letztemal da saßen? MAX. Das ist schon lange her, glaub' ichl Ja . . . Ich brauchte damals zufällig diese Dekoration . . . mit ihrer Anspruchslosigkeit und Milde . . . ich brauchte diese Landstraße mit den trivialen Pappeln . . . diese Wiesen da drüben, mit ihrem lauen Grün . . . die nahen Hügel, die im Abendrot verschwimmen . . .

ANATOL.

MAX. Und heute ? ANATOL.

willen —

Heute lieb' ich diesen Hintergrund um seiner selbst

7 KOMEDIA VI

98

Anatol

MAX. Deine letzte Liebe ? ANATOL. Nein . . . nur eine neue Art von Liebe, die eben jetzt an die Reihe kommt, die Liebe für die Dinge als Dinge — MAX.

?

ANATOL. Für die Natur als Natur . . . für die Hügel als Hügel . . . für die Zigarren als Zigarren . . . für den persischen Diwan als Diwan . . ., während ich ja bisher an den Dingen nur ihre Beziehungen zu den Menschen liebte. MAX. Also mit uns Armen bist du fertig ? ANATOL. O nein! Meine Freunde — dich ganz insbesondere — lieb' ich noch immer. MAX. Glaub doch das nicht! Ich bin immer nur für die Stichwörter dagewesen. ANATOL. Wenn es so war . . . das ändert sich jetzt, mein Lieber. Ich fürchte, auch das ist ein Zeichen nahenden Alters. Ich interessiere mich in der letzten Zeit auffallend für die Meinungen anderer. MAX.

Ah!

ANATOL. Ich kann zuhören, ich werde aufmerksam . . . MAX. Hast du mich darum nach so langer Zeit wieder aufgesucht ? ANATOL. Ich hatte ein so tiefes Bedürfnis, wieder mit dir zu reden! Mir ist, als hätte ich dir ein Testament vorzuplaudern! MAX. Ach geh . . . was ist das für eine neue Pose! Sentimentalitäten! ANATOL. Nein . . . es ist so ernst . . . das Ende, mein Lieberl Mein Herz setzt seinen letzten Willen auf! MAX. Macht's dich melancholisch ? ANATOL. Nein, o nein. — Ich will nicht mehr geliebt werden — ich will nicht. MAX. Na, du würdest dich drein zu ergeben wissen. ANATOL.

Nein . . . ich will nicht meine letzte Illusion verlieren!

MAX. Welche denn? ANATOL. Daß die Jungen von uns nichts zu fürchten haben! Das ist eine von denen, die ich mir mühsam erhalten habe. MAX. DU hast sie ja nie gehabt, diese Illusion! Glaube doch das nicht! Immer warst du ein Virtuose der Eifersucht!

Anatols Größenwahn

99

Mag ja wohl sein! Ich redete so ins Blaue . . . es fiel mir nur ein . . . 1 Hast du übrigens etwas dagegen, wenn ich das Gegenteil von dem behaupte, was ich vor einer Minute sagte ?

ANATOL.

MAX. Oh, ich erwartete es! Zuweilen möcht ich doch wieder geliebt werden! Daß alles aus ist, mein lieber Max, das ist ja ganz einfach, nicht wahr —

ANATOL.

MAX. Ist deine Sehnsucht noch immer nicht müde ? Wie könnte sie's sein ? Ich habe nur die Kunst verstanden, mit einem ganz geringen Aufwand von äußeren Ereignissen möglichst viel zu erleben . . . und daher kommt es, daß mir zu mancher Zeit meine ganze Vergangenheit so armselig — und manchmal wieder so merkwürdig reich erscheint . . .

ANATOL.

MAX. Unsere entsetzliche Gewohnheit, immerfort Maße haben zu wollen! Ein Unrecht, du hast Recht! Und auf die Erinnerung kann man sich gewiß nicht verlassen . . . sie lügt, sie hat L a u n e n . . . und dann, was wissen wir eigentlich selbst von unsern Abenteuern? Wir und die Frauen — wir sind eben mit unserer Sehnsucht auf ganz verschiedenen Wegen! Ich fragte jede: Hast du keinen geliebt vor mir? — Jede fragte mich: Wirst du keine lieben nach mir ? . . . Wir wollen immer ihre erste Liebe bedeuten, sie immer unsere letzte!

ANATOL.

MAX.

Ja . . . ja!

Da habe ich neulich das kleine Mädel gesehen, die Annette, weißt du, die mit dem Violinspieler herumläuft . . . Reizend, sag ich dir . . .

ANATOL.

MAX.

Nun, und ?

Dieser Flieder ist jung, liebenswürdig, begabt und ich . . . nun alles mögliche andere, aber keinesfalls mehr jung, fast grau . . .

ANATOL.

MAX. Nun, was ist's mit der Annette ? ANATOL. MAX.

Sie kokettiert!

Na ?

Mit mir . . . ich bitte dich, mit mir! Es ist verstimmend! Sie geht mit dem jungen Menschen spazieren, weißt du, so an seinem Arm hängend, in der Art ganz junger Frauen . . . mit verzückten, stupiden, unmoralischen Augen. Ich komme vorüber und . . . die Augen hören auf, verzückt zu sein, sie fixieren mich,

ANATOL.

7*

100

Anatol

sie sind nicht mehr stupid, sondern süß und schlau . . . nur unmoralisch bleiben sie . . . MAX. Wieso du mir nur plötzlich von Annette erzählst ? E S fuhr mir so durch den Sinn. Ich denke, wie es gar keine Möglichkeit gibt, sich sicher zu fühlen I Wir wissen nämlich, wenn wir eine Frau noch so gut kennen, doch immer nur, wie sie uns liebt, nie . . . wie sie einen anderen lieben könnte 1 Darum ist es auch keine Gewähr, wenn uns eine mit Tränen im Auge in hinschmelzender Zärtlichkeit anschwärmt, was uns so oft vertrauensselig macht . . . Sie betet vielleicht zugleich einen andern an, als eine ganz andere . . . leichtsinnig, graziös und wild . . .

ANATOL.

MAX. DU denkst also, die kleine Annette spielt dem Flieder gegenüber die Sentimentale ? Spielt ? — Ist!! — Die Weiber bilden sich ja selbst nur ein, daß sie Komödie spielen, weil sie sich verwundern, bald so, bald anders zu sein. Es ist häufig gar keine Spur einer Komödie dabei. — Sie lügen nicht einmal so oft, als wir glauben . . . die Wahrheiten wechseln nur für sie mit jeder Minute . . .

ANATOL.

MAX. Wie still es hier ist I Das tut wirklich wohl! Ja, es tut einem förmlich leid, daß man nichts zu verwinden hat! Das wäre der rechte Abendfrieden, über manchen Schmerz hinwegzukommen!

ANATOL.

MAX. Wer ist denn je über einen richtigen weggekommen? Ach, über jeden! Das ist so banal, sooft habe ich's erlebt, daß ich schließlich auch ein Mißtrauen gegen meinen Schmerz bekam! Es war mein letzter und tiefster!

ANATOL.

MAX. SO wird der Trost selbst wieder Schmerz . . . Ist's etwa nicht wahr? Denke doch, was ein einsamer Spaziergang, eine Stunde der Überlegung, ein Gedicht, mit dem man sich etwas von der Seele schrieb, zuweilen vermochte!

ANATOL.

MAX. Oh, mit der Einsamkeit scheint es nun für uns vorbei . . . hörst du ? ANATOL.

. . . ?

MAX schaut übers Geländer. Wagenrollen. Da biegen sie auch schon um die Ecke und rasen her, direkt her! ANATOL.

Wieviel Wagen sind es denn?

Anatols Größenwahn

101

MAX. Zwei . . . drei . . . Herrgott, die rasen aber! Da kommt noch einer über die Kreuzung . . . Gerade zu uns her? Wagenrollen, Pferdegetrappel

ANATOL.

MAX. Herren und Damen. Ah, sieh dochl Sie winken mit dem Taschentuch I Bekannte ? Die Wagen fahren über die Landstraße vorbei und halten an der imaginären Hinterfront des Hauses. Aus einem der Wagen klingt es herauf; Guten Abend, meine Herren!

ANATOL.

ANATOL.

Guten Abend 1 Wer ist's denn ?

MAX. Der eine war der Baron Diebl. Ah, in dem letzten Wagen . . . sieh doch, Berta! ANATOL.

Wie ? 1 Amüsiert sich die noch immer ?

MAX. Noch immer I Und wenn ich denke, daß sie das seit zwanzig Jahren tutl ANATOL.

Damals war sie sechzehn!

MAX. ES ist doch gut, daß man nicht in die Zukunft sehen kann. ANATOL.

Warum?

MAX Wenn dir damals dieses Bild erschienen wäre! Auf die Straße deutend. Ach Gott . . . diese Bilder bleiben uns nicht erspart, sie sind nur nicht so präzise! — Hast du im übrigen die andern Weiber ausgenommen?

ANATOL.

MAX. Nicht ganz genau. ANATOL.

Der Lärm I

MAX. Na, zu uns kommen sie wohl nicht! Sie werden sich in den Salon setzen, und dann stören sie uns nicht weiter! ANATOL.

Der Baron Diebl . . . der lebt!

MAX. Kommst du zuweilen mit ihm und seiner Gesellschaft noch zusammen ? O nein, ich habe nie viel mit ihnen verkehrt. Die machen mich nervös, diese Leute! Weißt du, wenn man betrunken ist, dann unterhält man sich mit ihnen. Aber ich war nie betrunken . . .

ANATOL.

MAX. In ihrer Weise sind sie gewiß sehr glücklich!

Anatol

102

tritt ein. Guten Abend, grüß euch Gott! Ich habe euch schon von der Straße aus erkannt!

BARON DIEBL

ANATOL.

Guten Abend!

MAX. Guten Abend! BARON DIEBL. ANATOL.

Man muß ja nicht eben!

BARON DIEBL. ANATOL.

WO

steckst du denn eigentlich ? Verreist gewesen ?

Hier gewesen!

BARON DIEBL. ANATOL.

Also da muß man heraus, um dich zu entdecken!

Also Eremit geworden?

Eremit geblieben!

O H ! Zu Max. Was sagst du, lieber Freund — er ist es geblieben! Er meint nämlich, er war es immer.

BARON DIEBL.

MAX. Ja, ich hab' es verstanden! Da muß ich aber bitten! Tu doch nicht so! Warst einmal sehr fidel, aber sehr! Bist es gewiß noch immer!

BARON DIEBL.

ANATOL.

Ich war nie fidel.

BARON DIEBL. ANATOL.

SO

! Nun, da hast du heut Gelegenheit, es zu werden!

Zu gütig!

BARON DIEBL.

kannte !

Ja, ihr beide! Ihr trefft Bekannte, fast lauter Be-

Du bist wirklich zu liebenswürdig — aber wir sind eben daran, uns auf den Heimweg zu machen.

ANATOL.

Heimweg ?! Macht euch doch nicht lächerlich! Ihr werdet euch amüsieren wie die Götter! Denkt euch, wer da ist! Abgesehen von Berta . . . denn die ist immer da. Also hört nur: Juliette! Ihr kennt sie doch ?

BARON DIEBL.

MAX. Die Französin? Ja, denkt euch, und er — ihr Er — macht eine Reise um die Welt! Was, die hat's bequem!

BARON DIEBL.

MAX. Ach Gott, die Weiber betrügen einen auch, während man nach Weidlingau fährt . . . Ah, sehr gut . . . da hast du recht! Zu Anatol. Er meint nämlich, die Frauen benützen jede Gelegenheit!

BARON DIEBL.

ANATOL.

Ja, ja, ich hab's verstanden!

Anatols Größenwahn

103

D U hast ja nicht gelacht! Über einen Witz lacht man doch! Also, was sagte ich . . . Juliette! Ja, dann Rosa, welche fürchterlich stolz geworden ist. Mein Verdienst, daß sie überhaupt mitkam! Du fragtest mich nicht, warum sie stolz geworden ?

BARON DIEBL.

ANATOL.

Nein . . .

BARON DIEBL

MAX.

BARON DIEBL.

Zacken! MAX.

Max.

Du auch nicht ?

O ja. Warum ist Rosa so fürchterlich stolz geworden? Man weiß nicht . . . man vermutet nur: sehr viele

Oh.

Ja, nichts weiter davon! Dann ist Fräulein Hanischek mit — ganz neu — wird eben erst lanciert!

BARON DIEBL.

MAX. Fräulein Hanischek?! Das ist ja greulich! Ist nur vorläufig ihr Kosename. Sie heißt nämlich so! Nun will aber der Zufall, daß ihr Vorname noch ärger ist. Ratet einmal. Na . . .

BARON DIEBL.

ANATOL.

Wie soll man denn einen Vornamen erraten ?

Barbara! Und dabei hat sie noch keinen nom de guerre . . . Heute dürfte sie getauft werden . . .

BARON DIEBL.

MAX noch gan% erschrocken.

Barbara! Barbara!!

Ja, was sagt ihr? Barbara! Möchte nur die Liebhaber kennen, die sich bisher mit dem Namen behelfen mußten! Und denkt euch, der arme Fritz Walten, der sie jetzt hat . . . dem ist noch kein anderer Name eingefallen, dem armen Teufel! Er muß sie noch immer Barbara nennen! Nun, fragt ihr mich gar nicht, wer noch da ist ?

BARON DIEBL.

MAX. Ja, bitte sehr, wer ist denn noch da ? BARON DIEBL. ANATOL.

Laune.

Zuerst sagt mir, ob ihr kommen wollt.

Was mich anbelangt, lieber Baron, mir fehlt wirklich die

Wie ? Und das soll ich wirklich glauben, daß dir zu so was überhaupt die Laune fehlen kann ?

BARON DIEBL.

Aber ist es denn gar so unbegreiflich, daß man gerade einmal nicht in der Stimmung ist ?

ANATOL.

BARON DIEBL.

Ah, blasiert!

104

Anatol

Ich habe keine Lust, mich zu unterhalten, mir fehlt dein Talent zum Lustigsein.

ANATOL.

BARON D I E B L .

Wie lustig hab' ich dich schon gesehen 1

Da hast du mich mißverstanden. Jedenfalls hab' ich meine Lustigkeit gehabt . . . und nicht die der andern!

ANATOL.

BARON D I E B L . ANATOL.

Na, 's is jeder lustig, wie er kann.

Ja, und für die eure da unten bedank' ich mich bestens I

Ah, wir sind dir vielleicht nicht genug fein mit den Frauenzimmern . . .

BARON D I E B L . ANATOL.

Was sind sie euch denn überhaupt?

Wenn man dich so reden hört, so möchte man glauben, daß du ganz andere Weiber geliebt hast als wir gewöhnlichen Menschen . . .

BARON D I E B L .

Gewiß . . . denn ich war es, der sie liebte! Oder meinst du wirklich, daß ich dasselbe Leben führte wie ihr, wie du? Du meinst, daß unsere Abenteuer dieselben waren, weil sie von außen gleich aussahen? Du und deinesgleichen . . . ihr sucht in jedem Weib die Kokotte . . . ich hab' in jeder Kokotte das Weib gesucht 1

ANATOL.

BARON D I E B L .

brauchte . . . ANATOL.

Und daß du dich häufig geirrt hast I

BARON D I E B L .

anbetet I ANATOL.

Daraus folgt nur, daß ich nicht so lange zu suchen

Und du jedesmal . . . wie jeder, der die Frauen

Ich bete sie nicht an!

MAX. O ja! Du betest das an, was du in sie hineinträgst. Es ist Künstlereitelkeit! ANATOL.

nicht!

Darum begreifen mich auch die Dilettanten der Liebe

BARON D I E B L .

uns! ANATOL.

Nun, so übe doch deine Künstlerschaft heute unter

Das kann man nicht immer . . .

Vielleicht gibt es doch eine, die dich heute interessieren könnte. MAX. Das Fräulein Hanischek ?! BARON D I E B L .

Anatols Größenwahn

105

O neinl Etwas ganz Besonderes . . . ein Mädchen, jung und schön wie eine Göttin! Heut das erste Mal unter unsl MAX. Allein ? BARON D I E B L . O nein . . . mit ihm . . . mit Flieder 1

BARON D I E B L .

ANATOL.

Mit w e m ?1

BARON D I E B L . ANATOL.

Mit dem Flieder von der Oper.

Ach, Annette ?

Ja. Er . . . eifersüchtig wie ein Narr — zum Totlachen — sie . . . entzückend, naiv beinahe I

BARON D I E B L . ANATOL.

Grüße sie von mir 1

Also auch das zieht nicht? Ja, womit soll man dich denn eigentlich locken? Sag, Max, ist er etwa ernstlich verliebt? Zu Anatol. Oder sehnst du dich nach etwas ganz Wunderbarem, Unberührtem . . . nach einer, die noch nichts, gar nichts vom Leben und der Liebe weiß ? Hab' ich nicht recht, Max ? Na warte 1 Das nächste Mal bringen wir dir eine Jungfrau mitl

BARON D I E B L .

ANATOL.

Nicht nötig. Ich mache mir meine Jungfrauen selber!

BARON D I E B L .

haben! ANATOL.

Oh, das dürfte manchmal seine Schwierigkeiten

Ist das nicht der einzige Ehrgeiz in der Liebe ?

MAX. Nein, nur der einzige unerfüllbare! ANATOL.

Die andern alle zu Vergessenen machen, zu nie Gewesenen.

Ja, aber denke, wenn diese Mühe nicht einmal notwendig ist . . . MAX. Wenn man nichts, gar nichts zu verzeihen hat . . . BARON D I E B L .

ANATOL.

Man hat immer etwas zu verzeihen.

MAX. Auch wenn man der erste ist? ANATOL. Ja, daß es vielleicht ein anderer hätte sein können! Ja man hat dort, wo man der erste ist, vielleicht noch mehr zu verzeihen als in andern Fällen . . . sich selbst! BARON D I E B L . Mit dem Herren werden wir heute nicht fertig. ANATOL.

Laß dich nicht stören, Max!

MAX. Willst du hier allein bleiben ? Noch eine Weile. Vielleicht findest du mich noch, wenn du heraufkommst.

ANATOL.

106

Anatol

MAX Baron Diebl. Nun, da will ich auf ein paar Augenblicke mit dir gehen. BARON DIEBL.

Anatol!

Auf Wiedersehen also, mein melancholischer

Adieu 1 Baron Diebl und Max ab.

ANATOL.

fändet sich eine Zigarre an, sieht über das Terrassengeländer in die Dämmerung hinaus — dann nimmt er Hut und Stock und will gehen. Die Türe öffnet sich und Annette tritt auf die Terrasse.

ANATOL

ANNETTE. ANATOL. ANNETTE. ANATOL.

Herr Anatol! . . . ?

Oh, Sie wollten fortgehen? Fräulein Annette, Sie sind es ?

Ja, es ist Fräulein Annette! Man hat mich um Sie geschickt . . .

ANNETTE.

ANATOL. ANNETTE. ANATOL. ANNETTE. ANATOL.

Sie sind also wirklich hier mit diesen Leuten ? Ja, der Baron hat es Ihnen doch gesagt! Freilich, freilich . . . Und warum sind Sie denn so traurig? Traurig ?

Warum wollen Sie nicht zu uns? Es ist so hübsch! Wenn Sie dabei wären, wäre es noch viel hübscher!

ANNETTE.

ANATOL. ANNETTE.

Ich begreife eigentlich gar nicht, daß Sie da sind! Wieso ?

Ich verstehe nicht, wie man sich mit seinem Glück unter Leute . . . und noch dazu, nein, nein, wie man sich überhaupt unter Leute mischen kann . . .

ANATOL.

ANNETTE.

wie er! ANATOL.

Wie . . . das verstehen Sie nicht? Da sind Sie ja geradeso Wieso ?

Er versteht es eigentlich auch nicht. Sie glauben nicht, wie ungern er mit mir unter Leute geht!

ANNETTE.

ANATOL. ANNETTE.

AH!

Immer möchte er mit mir allein sein . . .

Anatols Größenwahn ANATOL.

107

Das ist ja nur selbstverständlich!

Ja, wissen Sie, zuweilen gehe ich recht gerne mit ihm spazieren, denn ich liebe die Natur . . .

ANNETTE.

ANATOL. ANNETTE.

SO !

Oh, sehr!

Aber Sie haben auch die Menschen gern, wie? Lustige Gesellschaft, wo man singt und trinkt!

ANATOL.

ANNETTE. ANATOL. ANNETTE. ANATOL. ANNETTE.

O

ja . . . das hab' ich eigentlich noch lieber.

Und weiß er das? Er muß es ja wissen. Sagen Sie's ihm ? Was sollte ich ihm sagen ?

Nun, so etwa: Mein Freund, ich hab' dich sehr lieb, aber die Einsamkeit macht mich sehr traurig . . . und ich will lustig sein. A N N E T T E . Ja, sehen Sie, wenn ich ihm das so geradeheraus sagte, würde es ihn kränken . . . er ist so eifersüchtig auf alles! Ich darf manchmal nicht einmal lachen!

ANATOL.

ANATOL.

Nun, so tun Sie's jetzt, wo er Sie nicht hören kann.

ANNETTE.

Ja . . . aber jetzt bin ich gar nicht dazu aufgelegt.

ANATOL. ANNETTE.

erst . . . ANATOL.

SOOO !

Und gerade wenn ich's bin, darf ich nicht! Neulich Nun, was stocken Sie denn?

Ich bleibe zu lange bei Ihnen, man wird ungeduldig werden . . .

ANNETTE.

Aber erzählen Sie doch. Zieht sie neben sich auf die Bank, hält ihre Hand, sie sieht ihn an, lächelt dann kokett. Nun, was gab es neulich ?

ANATOL.

Nun, neulich einmal hätte ich so gerne gelacht . . . ohne es zu dürfen . . . da sprach er so lange und so komisch, die Tränen kamen ihm dabei . . .

ANNETTE.

ANATOL.

Nun?

Aber denken Sie — ein Mann, der weint. Das darf er nicht ein zweites Mal tun.

ANNETTE.

Anatol

108 ANATOL.

Sie haben es ihm gesagt?

ANNETTE.

ging . . .

O nein, ich habe einfach das Lachen verbissen, so gut es

ANATOL.

Mein liebes Kindl

ANNETTE

kokett.

Gefällt Ihnen meine Hand gar so gut ?

Sie lieben ihn eigentlich nicht sehr innig . •. . so tief, wie er wahrscheinlich geliebt werden möchte . . . das sollten Sie ihm klarmachen . . .

ANATOL.

ANNETTE. ANATOL. ANNETTE.

Küssen Sie mir die Handl Warum denn . . . ? SO

lassen Sie sie also aus . . .

küßt ihre Hand. Annette lacht leise. Kleine Pause. müßten Sie ihm sagen . . .

ANATOL

ANNETTE.

Ja, da

Was denn . . .

Daß das nicht die Liebe ist, welche er verlangt, daß Sie ihn nicht so lieben können . . .

ANATOL.

ANNETTE. ANATOL.

Aber da wäre er ja unglücklich I Wie gutl

Ich liebe ihn ja . . . aber Rührung will ich keine haben, nein, nein, keine Rührung! Springt auf. Nein . . . ich vergesse ganz, warum ich hergekommen binl Sie sollen ja mit hinunter!

ANNETTE.

Mein liebes Kind, so gerne ich mit Ihnen da allein plaudere . . .

ANATOL.

ANNETTE. ANATOL. ANNETTE. ANATOL. ANNETTE. ANATOL. ANNETTE. ANATOL. ANNETTE ANATOL.

Wir können auch unten allein plaudern. Oh, was würde er sagen? Wir werden schon leise sprechen. Das würde ihn kaum beruhigen . . . Kommen Sie hinunter, ja? Was Sie für zärtliche Augen haben, wenn Sie bitten . . . Nicht wahr, man kann mir nicht widerstehen ? Vielleicht doch! plötzlich mit aufgehobenen Händen. Aber Kind!

Kommen Sie!

Anatols Größenwahn ANNETTE

ihm

ANATOL.

Was fällt Ihnen denn ein ?

ANNETTE.

Füßen, ganz plötzlich.

109

Anatol, kommen Sie I

Man wird doch ein bißchen Komödie spielen dürfen! Gut, daß Sie's wenigstens eingestehen.

ANATOL. ANNETTE.

Wenn es aber Wahrheit wäre ? Ich bitte Sie, stehen Sie auf!

ANATOL.

aufstehend. Und ich führe Sie mit mir hinunter . . . und Sie setzen sich neben mich . . . und . . .

ANNETTE

Ich merke etwas I Sie wollen mich dazu benützen, um ihn eifersüchtig zu machen . . .

ANATOL.

ANNETTE.

Warum denn? Glauben Sie nicht, daß Sie mir gefallen? Sie sind ein bißchen zu sehr kokett, Annette!

ANATOL.

Das sagen Sie, weil Sie mir nicht glauben. Nimmt eine Blume von ihrer Brust, küßt sie und gibt sie dem Anatol. Auch Koketterie ? In diesem Moment erscheinen Baron Diehl, Flieder und Berta.

ANNETTE.

Nun, was ist's, Annette ? Wir wollten einen gewinnen und verlieren noch eine dazu I ANNETTE. Ich glaube, es hilft nichts. BARON D I E B L .

FLIEDER.

Wahrscheinlich hast du noch nicht alles versucht 1

ANATOL.

Herr Flieder! Oh . . . Berta!!

Ja, ich bin's. Und ich bitte dich, komm zu uns I Wirst du es mir abschlagen ?

BERTA.

ANATOL. BERTA.

SO

viel Liebenswürdigkeit, so viel Güte!

Ja . . . alte Liebe rostet nicht!

ANATOL.

stehen!

Ich komme, ich komme . . . ich kann nicht mehr wider-

Willst du meinen Arm nehmen ? Die andern gehen voraus.

BERTA.

ANATOL.

Einen Augenblick, Berta! Ich muß dich etwas fragen!

BERTA.

Ja . . . was hast du denn, mein alter Anatol?

ANATOL.

Wie lange schon habe ich dich nicht gesprochen! Weißt du noch wann ?

BERTA.

110 ANATOL.

Anatol Das letzte Mal war vor Jahren und Jahren . . .

BERTA. Aber, was fällt dir einl ANATOL. Nun ja . . . freilich haben wir uns gesehen . . . auch gesprochen . . . ja, ja . . . aber waren wir auch wirklich wir zwei ? BERTA.

Wieso ?

ANATOL. Wir haben geplaudert wie gute Bekannte, die ihr ganzes Leben lang aneinander vorübergegangen sind . . . es war uns ja beiden aus dem Gedächtnis entschwunden, was wir uns einmal gewesen sind . . . BERTA. Oh, ich weiß es noch sehr gut . . . ANATOL. DU erinnerst dich noch? BERTA. Aber Närrchen . . . ich habe noch nie jemanden vergessen! ANATOL. Wie jung, wie jung waren wir damals! Und ich weiß nicht, wie es k o m m t . . . mir ist, als sähe ich dich heute wieder das erste Mal nach unserm letzten K u ß ! . . . In dieser ganzen langen Zeit, die dazwischen liegt. . . was ist eigentlich mit dir geschehen ? BERTA. Na, es ist mir ganz gut gegangen. ANATOL. Ich habe dich freilich da und dort wiedergefunden . . . aber was ist mit dir geschehen? Weißt du, daß mir kaum jemals eingefallen ist, wenn ich dir begegnete . . . das . . . das war einmal meine Geliebte . . . BERTA. Sehr schmeichelhaft! ANATOL. Eigentlich ist's ja g u t . . . denn ich habe dich ganz ernstlich angebetet . . . BERTA. O h , ich weiß, ich weiß! ANATOL. Steht sie auch plötzlich wieder so klar vor dir, diese ferne Zeit? BERTA. Oh, ich weiß noch alles . . . ANATOL.

AH!

BERTA. Zum B e i s p i e l . . . warte nur . . . wie du mir Fensterpromenade gemacht hast I ANATOL. AH! D u denkst noch daran ? BERTA.

J a , es w a r s o k o m i s c h !

ANATOL. H m . . . es ist dir wohl manches komisch vorgekommen, damals . . .

Anatols Größenwahn BERTA.

O

nein, du warst so süß! Ach, geh doch! Nun wollen wir uns einmal alles sagen!

ANATOL. BERTA.

111

Alles . . . ? Ja, alles! Ich habe dich noch so viel zu fragen!

ANATOL. BERTA.

Ja, ich verstehe dich gar nicht . . . heute fällt dir das ein?

Ich sagte dir ja schon: Ich sehe dich heute das erste Mal wieder und mir ist, als wären wir damals geschieden, ohne daß alles ausgesprochen war . . . In deinen Augen gab es so viele Rätsel . . . auch dein Lächeln war so seltsam . . . und dann . . .

ANATOL.

BERTA.

Nun, was denn noch?

ANATOL. BERTA.

DU

warst so schnell getröstet . . .

N u n ja . . .

Wie?

ANATOL.

doch auch! Ich bitte dich . . . daß es einmal aus sein mußte, das haben wir doch beide gewußt . . .

BERTA.

DU

ANATOL.

DU

wußtest es ?

Nun, was denkst du eigentlich? Man glaubt euch Herren vielleicht so ohne weiteres alles, was ihr einem vorerzählt?

BERTA.

Aber damals . . . damals, wo du noch fast ein Kind warst...

ANATOL. BERTA.

Ach Gott, gescheit war ich immer . . .

Und wenn wir uns ewige Liebe schwuren . . . da wußtest du es immer, daß das eigentlich . . .

ANATOL.

Na — und du? Du hast mich vielleicht heiraten wollen?

BERTA.

Aber wir haben uns doch angebetet!

ANATOL.

Na na . . . aber deswegen verliert man ja doch nicht gleich den Verstand . . .!

BERTA.

ANATOL.

J a , ja . . .

Gehen wir jetzt hinein?

BERTA.

Ich bitte dich . . . es ist so schön da . . . diese Abendluft ist so mild . . .

ANATOL. BERTA.

Ah! Hast du das noch immer an dir ?

ANATOL. BERTA.

Was denn? Na, daß du so poetisch bist.

Anatol

112

Weil ich die Luft milde finde ?

ANATOL.

Siehst du, wie ich noch alles weiß . . . Du hast mir ja auch manchmal Gedichte gebracht . . . ANATOL. So . . . daran denke ich gar nicht mehr! BERTA.

Eines hab ich einmal mit der Flora zusammen gelesen . . . Du denkst noch an die blonde Flora? Lacht.

BERTA.

Warum lachst du denn ?

ANATOL.

Sie deklamierte es . . . weißt du . . . ganz pathetisch und machte deine Augen dazu . . .

BERTA.

ANATOL. BERTA. ANATOL. BERTA. ANATOL. BERTA.

Meine Augen ? Ja . . . die bedeutungsvollen, großen! So . . . ich mache so bedeutungsvolle Augen? Oh, aus denen konnte man alles mögliche herauslesen! Auch Eifersucht ? Warum fragst du das ?

Hm . . . ich denke nämlich ganz zufällig an einen Abend, wo wir zusammen im Theater waren . . .

ANATOL. BERTA.

Das waren wir ja oft!

Nun, ich denke an einen ganz bestimmten, es war bei einer Operette, und neben uns saß ein eleganter Herr, mit graumeliertem Vollbart, der dich anstarrte . . .

ANATOL.

BERTA. ANATOL. BERTA. ANATOL. BERTA. ANATOL. BERTA. ANATOL. BERTA. ANATOL.

Was? Er starrte dich an, wie jemanden, den man kennt . . . Ah, dieser Franzose war das . . . der Große. Ja, ja, ein Franzose! Du hast ihn gekannt ? Ja . . . nein! Ja, ja! Damals hast du mir das nicht gesagt! Na ja, damals. Du warst ja so eifersüchtig! Ja, weil er dich immer anstarrte 1 Nun, was kann ich denn dafür? Woher kanntest du ihn ?

Anatols Größenwahn

113

Was weiß denn ich ? Was willst du denn eigentlich von mir ? Ich denke einen alten Freund zu treffen, und nun wird er grob wie ein Geliebterl

BERTA.

Antworte mir lieber. Ich weiß mich an jenen Abend noch zu genau zu erinnern . . . wie du mich beruhigen wolltest, weiß ich noch! Die Worte hab' ich noch im Ohrl

ANATOL.

Die Worte ?

BERTA.

Und den Blick, mit dem du mir sagtest: Ach, auf den Greis da bist du jetzt auch schon eifersüchtig I

ANATOL. BERTA

lacht. Und er war gar nicht so alt! Also angelogen, einfach angelogen hast du mich damals ?

ANATOL. BERTA

zornig.

ANATOL.

. . . ?

Ihr lockt sie uns ja heraus, die Lügen, ihr zwingt uns ja

BERTA.

dazu!

Ich habe dich immer beschworen, nur die Wahrheit zu

ANATOL.

sagen! BERTA.

Ja, mit deinen WortenI Aber im Blick liegt es, im Blick! Was liegt im Blick ?

ANATOL. BERTA.

Man muß es ja, man muß es ja!

Nun, das: Lüg mich an . . . lüg mich an! Was für ein Unsinn!

ANATOL.

Siehst du, wie recht ich habe ? Noch heute würdest du mir dankbar sein, wenn ich's täte!

BERTA.

Also jenen Franzosen kanntest du ?

ANATOL. BERTA.

DU

hast's ja gemerkt.

Und wenn ich dir sagte: Du bist kokett, so wurdest du impertinent!

ANATOL. BERTA.

stehen! ANATOL. BERTA.

Einem Menschen wie dir kann man doch nichts eingeWeil ich dich wohl zu sehr gequält habe ?

Ja, das hast du, aber ich hab' mir nichts draus gemacht!

Und dein ernstes Gesicht, die Tränen, wenn ich dir Vorwürfe machte ?

ANATOL. BERTA.

So, ich hab' geweint ?

8 KOMEDIAVI

Anatol

114

Tränen, an die man sich nicht erinnert, können nicht echt gewesen sein I

ANATOL.

D U wurdest ja so zärtlich, wenn ich traurig war, das kannte ich schon an dirl ANATOL. Und darum . . . BERTA.

Nun, ist das etwa auch schlecht von mir, daß ich dich zärtlich haben wollte ?

BERTA.

Also kokett, verlogen, eine Komödiantin . . . das alles bist du gewesen?

ANATOL. BERTA.

ANATOL.

DU

hast es mir schon tausendmal gesagt, schon damals!

Ja, nur daß ich's nicht geglaubt habe!

Aber, Schatz! Nicht wahr, schön war's damals doch . . . und darum hab' ich dir deine Langweile gern verziehen! ANATOL. Wie ? Langweilig war ich auch ? BERTA.

Nun ja, weißt du . . . es hat so Momente gegeben . . . Du hast solche Launen gehabt! Und dann hast du dir den Kopf zerbrochen über lauter alte Geschichten . . . und über alles hast du gleich hundertmal reden müssen . . . Manchmal war es ganz verdreht, ganz verrückt . . .

BERTA.

ANATOL. BERTA. ANATOL.

So . . .!!

Oh, manchmal auch sehr schön, o ja, sehr poetisch . . . Das meiste aber langweilig und lächerlich!

Oh, was du meintest, hab' ich schon gewußt, immer . . . auch wenn's ein Unsinn war.

BERTA.

Also diese eigentümlichen, träumerischen Blicke, aus denen mir ein süßes Einverständnis entgegenzuträumen schien, es war nichts . . . als Fremdheit?

ANATOL.

BERTA. ANATOL. BERTA. ANATOL.

DU

redest ja noch immer so . . .

. . . die ewige, verständnislose, leichtfertige Fremdheit . . . Das hast du immer gesagt, daß ich dich nicht verstehe! Und habe nicht einmal daran geglaubt!

Ich hab' dich ganz gut verstanden! Was ihr Männer euch nur einbildet, daß man euch nicht versteht . . . Baron Diebl und Max kommen.

BERTA.

Anatols Größenwahn

115

Da drunten beginnt's lustig zu werden! Jetzt eben handelt es sich um die Taufe des Fräulein Hanischekl

BARON D I E B L .

Ah, da muß ich hinunter, ich habe einen so reizenden Namen für sie ausgedacht . . . A N A T O L . Noch einen Augenblick, Berta! BERTA.

BERTA. ANATOL. BERTA.

Nun, rasch, rasch! Gehl Narr! Mit Baron Diebl ab.

MAX. Was wolltest du denn? Eine letzte Frage an sie stellen, die sie mir heute sicher beantwortet hätte.

ANATOL.

MAX. Was hattest du denn mit ihr zu sprechen? Denke dir, ich bekam plötzlich so Lust, mir von Berta unsere Liebesgeschichte erzählen zu lassen! Sie hat mich damals ausgelacht, mit andern kokettiert, mich kaum verstanden, wahrscheinlich auch betrogen . . .

ANATOL.

MAX. Nun, was weiter? Diese Person . . . Ja, aber was sie damals zu sein schien! Konnte man's denn ahnen? Welche Kunstfertigkeit in der Verstellung! Und dabei war sie damals . . . ach was, damals . . . bevor sie den ersten Kuß von einem Mann empfangen, war sie es ja! Das Erlebte ist ja so zufällig! Ihr erster Liebhaber darf auf sie nicht stolzer sein als ihr letzter!

ANATOL.

MAX. Nun ja . . . Willst du nun fort ? Aber muß sie denn jetzt die Wahrheit gesprochen haben ? In diesem Weibe haben sich die Erinnerungsbilder mit der Zeit vielleicht verändert, verschoben, verfälscht! Sie hat mich damals vielleicht wirklich verstanden und weiß es heut nicht mehr! '

ANATOL.

MAX. Ja sag, was bist du für ein Grübler! Um dieses Weib, das du seit zwanzig Jahren vergessen, grämst du dich in diesem Augenblick von neuem ? E S ist dumm . . . es ist krank! Aber mein Leichtsinn ist so schwermütig geworden. Ich schleppe alle meine Erinnerungen mit mir herum . . . und an manchem Tage streue ich sie aus . . .

ANATOL.

MAX. Wie einen Sack von Perlen . . . ANATOL.

Und lauter falsche!

116

Anatol

MAX. Wenn aber eine davon echt war ? Was hilft's ihr? Sie muß mit den andern den Ruch des Mißtrauens tragenI Man kennt sie nicht auseinander, unmöglich! Und wer weiß, vielleicht hab' ich einmal das Weib geliebt, das mich wirklich verstanden, und durfte glücklich sein . . . und hab' es nicht gewagt . . . Kommst du mit mir? Sie geben die Treppe hinunter.

ANATOL.

ANNETTE, FLIEDER

rasch hereinstürmend, sieht sich um.

ihr nach. Wohin, wohin ?

ANNETTE.

Bist du schon wieder da ?

FLIEDER.

Ich wußte es ja, es zog dich wieder da herauf!

ANNETTE.

Aber was sprichst du denn ? Zu wem denn ? Was willst du auf der Terrasse ?

FLIEDER. ANNETTE.

Mit dir allein sein! Mit mir?

FLIEDER. ANNETTE. FLIEDER.

Ich wußte es ja, daß du mir folgst! SO ?

Es hat mich früher so geärgert, daß du mich so lange allein ließest! Und wärst du mir nicht gefolgt . . . ich hätte nicht mehr glauben können, daß du mich liebst . . .

ANNETTE.

Weißt du's nun?

FLIEDER. ANNETTE.

Ob ich's weiß . . . mein Geliebter! Ich will dir was sagen, Schatz, gehen wir!

FLIEDER. ANNETTE.

Wie . . . ?

Ja. Kehren wir nicht mehr unter die Menschen zurück, da unten . . . Gehen wir . . . allein . . . zu dir . . .

FLIEDER.

ANNETTE. FLIEDER

Aber jetzt schon ? Zerstreut. Schau, da geht er . . .

sehr ärgerlich.

ANNETTE. FLIEDER.

das? ANNETTE.

Wer denn ?

Nun, Anatol . . . und Max! Was schaust du denn hinaus ? Was interessiert dich denn Man wird doch etwas bemerken dürfen!

Anstois Größenwahn

117

FLIEDER. Aber nicht, wenn ich dir von meiner Liebe spreche! Und gerade diesen Herrn beliebst du zu bemerken! ANNETTE. Am Ende gar eifersüchtig? FLIEDER.

. . . ?

ANNETTE. Aber mein süßes Engerl . . . auf so einen Alten!! Vorhang.

ANHANG

DAS ABENTEUER SEINES LEBENS Lustspiel in einem Aufzuge

Personen ANATOL MAX GABRIELE CORA

Ein einfaches, in freiem Geschmacke eingerichtetes Zimmer, Bücherschrank, Schreibtisch, Kasten, Stühle usw.; Fauteuil nächst dem Schreibtische. — Nur eine Türe im Hintergrunde. MAX vorlesend. — und während er diese Worte sprach, sank sein Haupt zurück — sieht den in die Luft starrenden Anatol an — sank schwer zurück. — Du, Anatol! ANATOL

wie erwachend.

Ach!

MAX. Mir scheint, du hörst nicht einmal zu! ? O doch! — Nur in den allerletzten Augenblicken schweiften meine Gedanken ab. Entschuldige! — Aber jetzt lies nur weiter.

ANATOL.

MAX. Nein. Du bist bereits ermüdet und zerstreut! Wenn ich meine eigenen Novellen vorlese, muß man zuhören! — Auch ist es schon dunkel. —

Das Abenteuer seines Lebens

119

Oh, ich will gleich Licht machen. Zündet einige Kerken an. Aber du mußt weiterlesen. — MAX. Morgen — oder wenn du willst, heute abend noch, jetzt nicht. — Hat dir die Geschichte bisher gefallen ?

ANATOL.

ANATOL.

Recht gut, bis zum Verschwinden der Gräfin. —

MAX. — Der Baronin. — Gut, der Baronin. Man ist sehr gespannt, erwartet das Merkwürdigste. — Und von da an —

ANATOL. MAX.

Nun —

Von da an — habe ich nicht mehr zugehört — ich war woanders. —

ANATOL.

MAX. Darf man fragen, wo ? ANATOL.

Oh, mein Freund — du könntest es erraten!

MAX. Dein Rätsel läßt zwei Lösungen zu — die eine heißt Cora, die andere — Gabriele 1 Du machst einen schlechten Scherz, wenn du die zwei in einem Atem nennst!

ANATOL.

MAX. Nun, dann verstehe ich dich nicht! Weil du alles in Schablonen bringen willst. Weil du dich von dem alten Vorurteil nicht losreißen kannst, daß es nur die Liebe •— du verstehst mich — die Liebe gibt, während es doch tausend Arten von Liebe gibt. —

ANATOL.

MAX.

JA!

Und —

Nun, wenn es so viele Arten von Liebe gibt, warum sollte ein Mensch nicht zwei Arten von Liebe zugleich empfinden können ?

ANATOL.

MAX. Das ist ein hübsches Aphorisma. Wer hat es gesagt? ANATOL.

Ich!

MAX. Also, du wirst mir beweisen, daß du sowohl Cora als Gabriele liebst! ANATOL.

Allerdings!

MAX. Nun?! ANATOL.

Höre! Was ist mir Cora ? —

MAX. Ein Zeitvertreib. —

120

Anhang

Ich bitte mich nicht zu unterbrechen — Cora ist — mein Liebchen 1 Ich bete sie an; sie ist reizend, liebenswürdig, anhänglich, launisch und hat — unter uns — den schönsten Hals, welchen ich jemals geküßt habe. Sie bringt in dieses Stübchen eine Atmosphäre von Leichtsinn und Süßigkeit, die mich entzückt und immer von neuem verführt. — Das Rauschen ihres Kleides, die Musik ihrer Stimme, die Berührung dieser kleinen weißen Hände mit den Nadelstichen an den Fingerspitzen ist ein Bedürfnis meiner Nerven geworden, und alles, wornach meine Sinne verlangen, finde ich bei diesem liebenswürdigen Geschöpf, in dessen Armen ich nicht daran denke, daß diese Lippen das Küssen von einem andern gelernt haben. — Aber auch darin, daß sie manches zu vergessen hat und mich manches muß vergessen machen, liegt ein Teil ihres Zaubers, der mich hinreißt und unsere stillen Abende in ebenso viele Märchen verwandelt, die durch die Macht meiner Empfindung lebendig werden. — MAX. GutI ANATOL. Und nun — Gabriele 1 Was ist mir Gabriele ? MAX. Eine Narrheit! ANATOL. Ich bitte! Gabriele ist das Abenteuer meines Lebens I M A X . Ah! ANATOL. Sie ist die grande passion — durch die ich einmal namenlos glücklich oder elend werden muß. — MAX. Was heißt das eigentlich, grande passion ? ANATOL. Grande passion! Nun, so nennt man's, wenn man sich etwas länger bemühen muß . . . MAX. Und — so lange man noch nicht den Sieg errungen hat. — ANATOL. Oh, du irrst — und wenn du wirklich die Augen eines Poeten hättest — MAX stolz- Ich habe sie! ANATOL. — und es verstehen würdest, mit diesen Augen zu sehen, so hättest du neulich in dem einen Blicke, welchen Gabriele aus ihrer Loge auf mich fallen ließ, der einsam unten saß — MAX. — Einsam, in der ersten Reihe zwischen einem Gardelieutenant und meiner Wenigkeit in einem zum Erdrücken vollen Hause. — ANATOL. Ja, ja, schon gut! — Aus diesem Blicke hättest du sehen müssen, was wir zwei, Gabriele und ich, einander sind. MAX. Also ich gebe zu, daß sie mit dir kokettiert hat. ANATOL.

Das Abenteuer seines Lebens

121

ANATOL. Ruhe I Sie liebt mich — und was mehr ist — sie versteht mich. In dieser jungen Frau sehe ich die Gefährtin meiner Bestrebungen, meiner Ideale — sie erst wird mich zum Dichter machen. MAX. Aber wann ? ANATOL. Nun, dir kann ich es ja sagen.— [Sie wird zu mir kommen! Ohl ANATOL. Siehst dul] 1 . Mansarde — MAX.

A n dem Abend, an welchem sie diese

MAX. — im ersten Stock. ANATOL. — wieder verläßt, werde ich das Abenteuer meines Lebens erlebt haben 1 MAX. Und du glaubst, daß diese unnahbare königliche Frau zu dir kommen wird? ANATOL. Ich weiß es. Ich habe es gefühlt. — Als wir an jenem Abend auf dem Balle in den Redoutensälen miteinander tanzten, fühlte ich ihre Lippen auf meinen Wangen. MAX. Zufällig! ANATOL. Aber man beißt nicht zufällig. Ach so! ANATOL. Dann promenierten wir miteinander. — Werde ich Sie denn nie ungestört sprechen können? fragte ich sie. -— Werde ich Ihnen nicht, fern von diesen fühllosen Menschen, sagen können, wie sehr ich Sie liebe? — Sie sah mich mit ihren tiefen Augen an — Du liebst mich — ?! Du! 1 ? Es war das erste Du — dann sprach sie weiter. Aber man kann mich sehen. Und Sie wissen, mein Mann — ich darauf: Es gibt Orte, verschwiegene Orte, w o Sie niemand sehen kann. — Sie erwiderte: Das hätten Sie mir nicht sagen sollen, Anatol! MAX.

MAX im selben Tone. Denn ich weiß es. ANATOL. Ich bitte dich, Max! — Beim Abschied flüsterte sie mir zu — »Dein«! Nichts als dieses Wort, aber es hat mir alles gesagt, da ich ihr in demselben Momente in die Augen schaute. MAX. Das Abenteuer deines Lebens! — Es ist ein Glück, daß man nur solange daran glaubt, als man es nicht erlebt hat. ANATOL. W a r u m ? 1 [ ] Korrigiertes Exemplar (KE) gestrichen (vgl. Editionsbericht [S. 148] und S. 155).

Anhang

122

MAX. Weil man sonst nach diesem Abenteuer das Leben nicht mehr interessant finden könnte. Wenn wir wirklich die Überzeugung hätten, daß das Schönste vorbei sei, was könnte uns noch an das Dasein fesseln? Männer wie du erwarten das Abenteuer ihres Lebens hundertmal, weil sie es hundertmal erleben; dann nicht befriedigt sind und wieder warten. ANATOL. MAX.

Hübsch! Wer sagt das ?

Ich!

Aber du hast Unrecht und tust mir bitter Unrecht! Meine Leidenschaft für Gabriele empfinde ich als das Gewaltigste, was je über mich hereingebrochen.

ANATOL.

MAX. Kommt heute Cora zu dir ? ANATOL.

Was soll diese Frage ?

MAX. Nichts, als was ihre Worte besagen. ANATOL.

Nun ja I Aber —

MAX. Trotzdem liebst du Gabriele — Gewiß; und nachdem es, wie ich dir bereits erklärt zu haben glaube, tausend Arten von Liebe gibt —

ANATOL.

MAX. Könntest du noch neunhundertachtundneunzig großer und kleiner Schwärmereien in deinem Herzen hegen. ANATOL.

Nun — theoretisch möglich ist das sicherlich.

MAX. Ich werde dir eine Eröffnung machen. ANATOL.

Da bin ich begierig —

MAX. — daß du wohl zwei Launen, aber nicht eine Liebe empfindest. ANATOL. Ich sehe wieder einmal, daß du mein Temperament nicht begreifst. MAX. Das ist's — du bist ein Temperament, kein Charakter; und daran liegt's. — Ein Mensch von Temperament kann schwärmen, kann erregt, vielleicht verliebt sein, aber nur ein Charakter kann lieben! ANATOL. Sehr schön, aber wieder nicht wahr. MAX. Wir werden nicht einig werden, wenn du glaubst, mich einfach mit einer Verneinung widerlegen zu können. Ohl Es fällt mir nicht ein, dich von deinen Ansichten abbringen zu wollen — geh du nur — mache irgendeinem

ANATOL.

Das Abenteuer seines Lebens

123

Backfisch eine Fensterpromenade, verschmähe die anderen Weiber und bilde dir ein, ein Charakter zu sein. MAX. Backfisch oder nicht, das ist gleichgültig. Sicher ist nur, wenn wir e i n e lieben, so sind alle anderen — ANATOL.

gibt aber keine anderen. Pathetisch.

ES

Es gibt Weiberl

MAX. Haha! Du bist köstlich! Mit solchen Prinzipien — erlebt man nicht das Abenteuer seines Lebens! Denn dazu gehört, daß vor uns und um uns die ganze Welt versinkt, daß wir unter Millionen allein sind — daß wir das Brausen des Alltagslebens nicht hören, wie es unaufhörlich über uns hinstürzt. tritt ein — an der Türe. Ich klopfe einmal — zweimal, man ruft nicht »Herein«, man macht mir nicht auf — so muß ich schon selbst — ANATOL ihr entgegen. Cora, liebste Cora! CORA

CORA

küßt ihn auf den Mund.

MAX tritt CORA

DA!

Guten Abend, Max!

ihr, küßt ihr die Hand.

auf Max weisend,

Anatol.

Bleibt er ?

Ich hoffe, er wird uns das Vergnügen seiner Gegenwart nicht entziehen. MAX. Gewiß nicht — oder höchstens für einige Augenblicke. — Aber speist Ihr denn zu Hause ? —

ANATOL.

Ja, Anatol, bleiben wir zu Hause. — Es regnet draußen; wir werden uns das Souper ins Zimmer besorgen lassen — nicht ? ANATOL. Wie du willst, mein Schatz!

CORA.

CORA

Zu Max.

Sie wollen gehen ? —

MAX. Auf eine halbe Stunde! Ich muß nach Hause, um nach Briefen zu sehen, die ich bestimmt erwarte. Auf Wiedersehen! und ANATOL begleiten ihn zur Türe. ab. ANATOL Zu Cora. Du hast noch immer den Schirm in der Hand. — CORA MAX

Er ist ganz naß! Schau! Sie spannt ihn a u f ; Tropfen herunter ; sie stellt ihn lachend aufgespannt in eine Ecke.

CORA.

fallen

Und dein Mantel! Hilf mir! Er ist ihr heim Ablegen des Mantels behilflich und küßt sie. Sie umarmt und küßt ihn. Ach I Sie setzt sich auf das Sofa, während er den Mantel aufhängt. Komm, setz dich zu mir!

ANATOL. CORA.

124

Anhang

ANATOL. CORA.

SO,

da bin ich! Wie lange habe ich dich nicht gesehen!

Seit gestern abend!

Viel zu lange, mein Kind. Ihre Hände fassend. Willst du nicht die Handschuhe ablegen ? —

ANATOL.

knöpfeit die Handschuhe auf, er zieht sie ihr von den Händen. Ist es nicht gescheiter, gleich zu Hause zu bleiben, statt da hinüber ins Gasthaus zu gehen, wo die vielen Leute sind, die rauchen und einen anstarren. •—

CORA

Das Rauchen würde mich weniger genieren, aber das Anstarren ist mir unangenehm.

ANATOL. CORA.

Eifersüchtig?

ANATOL. CORA.

DU

weißt ja, daß ich es bin. —

Ich finde es aber sehr überflüssig. —

Nun, das fehlte noch, daß du selber es für berechtigt hieltest! Reden wir nicht davon. — Was hast du den Tag über getan ?

ANATOL.

Ach, ich habe so viel zu tun. Sieh! Auf ihre weisend. Ganz zerstochen!

CORA.

küßt die

ANATOL

Fingerspitzen

Fingerspitzen.

Ich bin jetzt mit Arbeit überhäuft. Wenn die Abende mit dir nicht wären — ich wüßte kaum, wozu ich auf der Welt bin. —

CORA.

ANATOL. CORA.

ANATOL. CORA.

Mein Schatz!

Nun, wen wollen wir hinüberschicken? WOZU?

Nun, das Souper holen!

ANATOL.

Ja, wen?

Nur nicht um Gotteswillen die Magd deines Herrn Nachbarn, die neulich so liebenswürdig war. Das war ja fürchterlich. Diese Sardinen im ranzigen ö l ; dieses trockene, langweilige Aufgeschnittene, dieses Huhn mit lauter Knochen!

CORA.

ANATOL. CORA.

ANATOL CORA.

Und der Wein!

Sauer! — Schüttelt großartig. AH!

sich.

Ich werde selbst unser Souper holen!

125

Das Abenteuer seines Lebens ANATOL.

Was befehlen das Fräulein?

Ach, laß m i c h doch gehn; Dir wird man auch alles Mögliche anhängen. —

CORA.

Bleiben Sie sitzen, mein Fräulein. Dero Füßchen sollen sich nicht zum zweiten Male einer Durchnässung aussetzen. —

ANATOL.

CORA.

Aber was wirst du bringen?

überlegen lächelnd, abwehrend. Mir hängt man nichts an! Indem er sieb den Mantel ansieht. Decke du unterdessen auf, mein Schatz! Drei Gedecke — vergiß nicht, daß Max kommt 1 Auch richte die Teemaschine — dort oben stehen Zigarren. —

ANATOL

CORA.

Auch Zigaretten ? —

ANATOL.

Auch Zigaretten!

Sol

Ja, die Weingläser!

CORA. D a s W e i n g l a s ! ANATOL. CORA.

Wieso ? —

Das andere Weinglas hast du ja zerschlagen!

Nun, wir werden den Wein aus Wassergläsern trinken, das ist sogar nobler! — Hab' ich sonst noch was vergessen? — Nein! — Adieu, mein Schatz! Küßt sie ; will ab.

ANATOL.

CORA.

Ohne Schirm! Bei d e m Regen!

wieder umkehrend. Haha! Ohne Schirm! — Ernst werdend. Mir fällt eben ein — er steht seit vorgestern im Kaffeehause!

ANATOL

So nimm den meinen! — ANATOL. Den deinen! Sich selbst sowie Cora mit demselben überspannend. Man hört ihren Kuß, ohne ihn %u sehen. Adieu! — Ab. CORA.

bei der Türe. Auf Wiedersehen! — So! Nun, decken wir auf. Aber zuerst die Zigarette! Sie steigt auf einen Sessel und nimmt Zigaretten vom Kasten ; sie steckt eine in den Mund und springt herab. Wo ist denn das Feuer? — Ach, hier! Brennt die Zigarette an ; — indem sie Tischtuch, Teller und die Gedecke auflegt. — Die Zigarette beißt aber tüchtig. Es steht also fest, ich bin in Anatol verliebt. — Und das ist eigentlich etwas sehr Großartiges. Diese Poeten wollen ganz anders geliebt sein, als — die Lieutnants zum Beispiel! Nun das liegt ja alles hinter mir, Gottlob! — Ach, diese Poeten! Es genügt ihnen nicht, daß man sie liebt, man muß auch für sie schwärmen. — Diese Messer sind wieder ganz stumpf — ich muß sie morgen zum Schleifen mitnehmen. — Aber, was tut's? — Ich schwärme ja wirklich für ihn! — Für

CORA

Anhang

126

seinen blonden Kopf, für seine Narrheiten, für seine Ahnungen, selbst für seinen Freund, den kleinen Max. Ein Loch in der Serviette — wahrscheinlich hat er eine brennende Zigarre hineingewickelt in der Zerstreuung. Manchmal glaube ich, ich bin zu lustig für ihn — ich lache, und er wird verstimmt! Oh, es scheint, diese Herren Poeten sehen gerne Tränen in den So! — Der Rauch Augen der Damen, welche sie lieben. der Zigarette steigt ihr in die Augen. Weg mit dir! — Wirft sie zum Kamin. Es klopft. Ein guter Witz von Anatol! Er soll nur klopfen. Es klopft wieder. — Wie für sich. Herein! STIMME GABRIELENS. CORA

fährt zusammen.

GABRIELE. CORA.

Ich bin'S!

Was ist das ?! —

Ich bin's, Anatol, öffnen Sie die Türe!

Eine weibliche Stimme I Wer soll das sein ?!

GABRIELE. I c h b i n ' S ! CORA

mit einem plötzlichen Entschluß.

Herein I

tritt ein, verschleiert, elegant, schwarz; fährt zurückich bitte um Entschuldigung, ich bin falsch gegangen.

GABRIELE

CORA

lauernd.

GABRIELE. CORA.

Keinesfalls, wenn Sie Herrn Anatol suchen!

Also ist dies seine Wohnung ? —

Dieses Zimmer — allerdings. —

GABRIELE. CORA.

Oh,

Er ist nicht zu Hause ? —

Er wird gleich kommen. —

GABRIELE.

SO. —

Sie will gehen.

mit einem plötzlichen Entschluß. Oh, ich bitte nur zu gedulden; man erwartet Sie — wahrscheinlich. —

CORA

GABRIELE.

Mich . . . woher wissen Sie ?

Oh! Zögernd. Ich bin nämlich die Tochter der Hauswirtin Herrn Anstois — und er bat mich, zwei Kuverts aufzulegen.

CORA.

GABRIELE.

rasch. alles. —

CORA

Zwei Kuverts ? — Wie konnte er das wissen ? — Oh, er braucht nichts zu wissen; Herr Anatol ahnt

Er ahnt alles. — Für sich. Ich fühle mich da recht unheimlich. —

GABRIELE.

Das Abenteuer seines Lebens

127

Aber will die Dame nicht Platz nehmen, bis Herr Anatol kommt ?

CORA.

GABRIELE.

Ich will doch lieber wieder gehen!

Oh — bitte — bleiben Sie; — gewiß würden Sie Herrn Anatol auf der Stiege begegnen. —

CORA.

für sich. gegangen ?

GABRIELE CORA.

Er holt das Souper. —

GABRIELE. CORA.

Dieses Mädchen — Laut. Wo ist er denn hin-

Wie ?

Gewiß für Sie und für sich selbst.

Aber meine Liebe, was reden Sie denn? Sicher beruht das alles auf einem Irrtum. — CORA. Oh nein — nur auf einer Ahnung. — Er sagte mir heute: Fräulein Cora, ich weiß gewiß, heute abend kommt sie! — GABRIELE.

halblaut. Was ist das? — Sollte er die paar Worte, die ich neulich hingeworfen, für so bindend gehalten haben?

GABRIELE

CORA.

Und nun sind Sie da, wie er es vorausgeahnt.

für sich. verstand ?

GARBIELE

Verstand er mich früher, als ich mich selbst

Wollen Sie nicht ablegen? Sie nimmt der gedankenvoll dastehenden Gabriele die Mantille ab; für sich. Wie das duftet . . . welch ein Parfüm ? 1 — Ich möchte sie töten!

CORA.

GABRIELE

wendet sich um. Ja, was machen Sie denn ?

auf die Mantille deutend. Ich erlaubte mir! — Oh, Herr Anatol wird glücklich sein, wenn er Sie findet!

CORA

GABRIELE. CORA

Geben Sie mir den Mantel; ich muß fort!

für sich. Was hat sie nur ?

GABRIELE

will %ur Türe. Schritte. —

ist nichts — ich habe nichts gehört — aber im Augenblicke ist er da. — GABRIELE. Ich kann nicht mehr zurück! CORA.

CORA für

ES

sich. Sie zittert. Es ist eine Frau— eine verheiratete Frau...!

hat sich auf ein Fauteuil geworfen. Cora steht hinter ihr.

GABRIELE

Also ich erwarte ihn I

128

Anhang

CORA für

sich. Und ich darf sie nicht erwürgen! —

GABRIELE.

— Fräulein! — Meine Liebe!

Was wünschen Sie ? —

CORA.

GABRIELE.

Herr Anatol wohnt schon lange hier ? —

Oh, schon lange. — Meine Mutter hat ihm vor zwei Jahren das Stübchen vermietet. Ein solider, bescheidener Herr. —

CORA.

GABRIELE CORA.

Ja!

GABRIELE.

U n d S i e ? —•

Ich besorge das Häusliche. —

CORA.

GABRIELE. CORA

wendet sich zu Cora um. So I —

Da habe ich Sie gestört ? —

%um Tisch bin. Ja richtig — im Aufdecken. —

GABRIELE. CORA.

Ecke.

Was machen Sie denn ? — Das sind ja drei Gedecke. —

Oh, wie zerstreut ich bin! Deckt ab, wirft eine Serviette in die

GABRIELE

gereist!

steht auf.

Oh, wäre mein Mann nur nicht nach Paris

beim Tisch Ordnung machend. Was sagten gnädige Frau von Paris ? GABRIELE. Oh, nichts, nichts! Was will die nur? — Alles kommt mir so verdächtig vor. —CORA

für sich. Wenn ich das Glas da nur an die Decke werfen könnte! GABRIELE für sich. Aber ich liebe ihn ja! — Ich liebe ihn! CORA

CORA ZU

Gabriele.

GABRIELE.

Er bleibt etwas lange.

Wie kommt es, daß er selbst das Souper holt ?

Für Sie! — Sie schauen sich beide ins Gesicht und nähern sich einander. GABRIELE fährt zurück. Schritte! —

CORA.

Ja, jetzt wirklich. — Stille; Er ist's! GABRIELE. Er ist's!

CORA.

man hört Schritte und Räuspern.

stößt mit dem Schirm die Türe auf, tritt herein mit Flaschen und Paketen. So, — na, ich danke! Und der Regen dabei! Sieht

ANATOL

Das Abenteuer seines Lebens

129

die %wei Damen, die beiden Seiten der Türe stehen; erstarrt. — Gabriele! — Pause; die %wei Frauen sehen ihn an; er greift sich an den Kopf, wird durch die Pakete behindert. Erlauben Sie, daß ich ablege. — CORA

ist ihm behilflich. Oh, bitte — bitte. —

ANATOL. CORA

legt die Sachen weg.

GABRIELE.

Sie sehen, ich halte mein Wort! —

sieht sich nach Cora um, dann nimmt er Gabrielens Hand und küßt sie. Ich danke Ihnen!

ANATOL

Ich war so frei, Herr Anatol, in Ihrer Abwesenheit die Dame zu empfangen. —

CORA.

Ich danke Ihnen — Zu Gabriele. Ich muß nur meinen Mantel ablegen. — Geht an Cora vorbei, die die Pakete auf den Tisch ausräumt. Du irrst Dich. —

ANATOL.

CORA. Schweigen Sie, Schurke 1 -— Anatol! — Ich weiß nicht, was Ihnen ist! — welch ein Empfang 1

GABRIELE.

Oh, hier bin ich wieder — hier bin ich bei Ihnen. — Küßt ihr die Hand. Setzen Sie sich doch — kommen Sie!

ANATOL.

GABRIELE.

Was haben Sie, AnatolI Sie sind erregt? Ihre Gegenwart, Gabriele! Deine Gegenwart. —

ANATOL. GABRIELE.

Warum entfernt sich dieses Mädchen nicht? Oh, Sie kennen sie nicht, — es ist ein Engel!

ANATOL.

Adieu, mein Herr, hier geht etwas vor, was ich nicht durchblicken kannl

GABRIELE.

Um Gotteswillen, Gabriele, keine Voreiligkeit — Sie sehen ja — mein Stubenmädchen — sozusagen —

ANATOL.

GABRIELE ANATOL

leise. Sie sind verwirrt, mein Herr -— Sie lügen. —•

leise. Gabriele — das schmerzt. —

Gleich bin ich fertig. — Oh, was Herr Anatol alles mitgebracht hat. —

CORA.

ANATOL.

Nun, hören Sie?

Wenn dieses Mädchen wirklich die Tochter Ihrer Hauswirtin ist, warum geht sie nicht endlich ? —

GABRIELE.

9 KOMEDIA VI

Anhang

130

Oh, und wie glücklich wäre ich erst, wenn ich mit Ihnen allein sein könnte. —

ANATOL.

ihm die von ihm ergriffene Hand entziehend. So war es nicht gemeint. •— C O R A . Befehlen Herr Anatol noch irgend etwas ?

GABRIELE

ANATOL

plötzlich lustig. Nein, Sie können gehen. —

%uckt zusammen für sich. Warte nur. — -La«/. Nein, das kann ich nicht, ich muß ja noch Herrn Max erwarten. — G A B R I E L E . Max? Wer ist das wieder? CORA

Um des Himmels willen, Gabriele — nur einen Augenblick Geduld, ich will dem dummen Ding •— Max — Max ist ihr Geliebter, — wahrscheinlich ein Feldwebel — einen Augenblick. Eilt zu Cora. GABRIELE. Oh, wie bitter bin ich gestraft. Sie hängt ihren Mantel um.

ANATOL.

ANATOL

zu Cora. Ich bitte dich, einen Moment Ruhe.

Gehen Sie! Ich werde Ihnen morgen früh Vitriol ins Gesicht gießen! ANATOL. Meinetwegen — obwohl du Unrecht daran tätest; aber jetzt höre — CORA.

GABRIELE

will eben %ur Türe hinaus.

'br. Was tun Sie ? Ich beschwöre Sie — bleiben Sie — Sie mißverstehen meine Aufregung! GABRIELE. Lassen Sie mich — ich gehe! [ANATOL. Erfahren Sie denn, daß ich ein Mann bin. Sperrt die Türe ab. Sie bleiben!

ANATOL

GABRIELE ANATOL

sinkt auf einen Sessel und weint.]1

wieder

Cora. Also hören Sie. —

Schuft! ANATOL. Diese Dame — ich kenne sie kaum — auf einem Balle — ein paar Worte -— die sie falsch verstand. — GABRIELE. [Sie sperren mich ein —] 2 A N A T O L . Gleich — gleich — CORA.

1 [ ] KE . . . Schritte!! — Wenn man mich verfolgt hätte. (Bleibt stehn). 2 [ ] KE — (nervös) Wer kommt denn da über die Treppe ?

Das Abenteuer seines Lebens CORA.

131

Gehn Sie dorthin. -—

Meinetwegen. Geht Gabriele. Ich flehe Sie an — verzeihen Sie mir. — [Ich habe die Türe versperrt, weil ich fürchtete, mein Glück würde wieder von dannen ziehen — und ich wäre so elend gewesen, wie früher. — Wendet sich um; Cora hat sich an den Tisch gesetzt. Ja, ich] 1 liebe Sie — und darin liegt die Erklärung meiner ganzen Verwirrung — nur zufällige Umstände; dieses Mädchen — dort die Türe — Es klopft.

ANATOL.

GABRIELE CORA.

springt auf. Es klopft!

Es klopft! tonlos. Es klopft!

ANATOL

MAX draußen. Nun, was gibt's denn — [macht doch auf!] 2 Stille im Zimmer ; Max klopft immer stärker. [Nun, wollt Ihr aufmachen ?] 3 [geht %ur Türe, für sich. Er hat den Schlüssel stecken lassen, und sie ist doch nicht gegangen. —] 4

CORA

GABRIELE. CORA.

Um Himmels willen, was machen Sie ?

[Ich muß ihm ja aufsperren. —] 5

Anatol, vernichtend. macht auf; Max tritt ein.

GABRIELE ^U

Es ist der Feldwebel. — Cora

MAX. Guten Abend! Sieht sich verwundert um, verbeugt sich vor der fremden Dame. Guten Abend! Zu Cora leise. Was ist das ? CORA

ebenso. Er hat mich betrogen!

MAX für sich. Ach — Gabriele. — Guten Abend! Anatol! — Willst du mich nicht gefälligst vorstellen? — Ich bitte sehr — mit Vergnügen. — Er heißt Max, meine Gnädigste.

ANATOL.

MAX. Ich bin entzückt, einem Zufall die Bekanntschaft zu verdanken — steht auf und kehrt ihm den Rücken. gehen lassen, Anatol ?

GABRIELE

MAX ^uckt die Achseln und geht 1 2 3 4 6

[ [ [ [ [ 9*

Cora.

] KE (bleibt). Ich ] KE gestrichen. ] KE Sagt niemand »Herein« ? ] KE Herein! ] KE Ich will ihm selber öffnen. (Tut es).

Wollen Sie mich jetzt

Anhang

132 ANATOL.

Aber Gabriele I Warum —

GABRIELE.

wohnt. — ANATOL.

Ich bin die Gesellschaft von Feldwebeln nicht ge-

Er ist ja im Zivil. —

E S ist nicht der Geliebte dieses Mädchens; es ist nicht wahr — Sie lügen!

GABRIELE. ANATOL.

Freunde. GABRIELE.

Gut denn — er ist es nicht. Doch es ist einer meiner Ah I

Was kann ich denn dafür, daß er gerade heute abend kommen muß! Er wußte ja ebensowenig, wie ich selbst —

ANATOL.

GABRIELE.

Oh, wie bitter habe ich mich getäuscht. —

sieht Cora mit Max sprechen und merkt, daß Max Cora zu beschwichtigen sucht. Das hab' ich nicht verdient!

ANATOL

Wie ? — Erinnern Sie sich nur, wie Sie mir einen Ihrer Abende schilderten. »Einsam« — sagten Sie — »sitze ich in meiner Stube, vor meinen Büchern, meinen Schriften — ich habe keinen Freund, der mich versteht, kein Mädchen, das mich liebt.« — Dabei sahen Sie mich an . . . Sehen Sie mich nicht so an, mit Ihren falschen Augen. —

GABRIELE.

sieht sich zu wiederholten Malen um. Falsch ? — Ich falsch! — Nun wohl — dies ist ein Freund — dies ist ein Mädchen. — Doch ist es ein Freund, der mich versteht? — Ein Mädchen, das mich liebt? — [Es ist ein Dutzendbekannter — und eine Art von Kammerzofe, die Sie zufällig bei mir finden — den einen, weil er mich besucht; die andere, weil sie aufräumt!] 1 [Begreifen Sie,] 2 daß ich mich unter diesen Leuten einsam fühle —

ANATOL

die von Max mit Mühe bisher zurückgehalten Zweien. Es ist serviert. —

CORA

ANATOL. GABRIELE.

wurde, tritt zu den

So ? — Haben Sie vier Gedecke aufgelegt ? — Wie, Sie glauben, daß ich hier bleiben werde ? —

Ich wage kaum mehr, Sie darum zu bitten. — Fast möchte ich Ihnen vorschlagen, mit mir an einem anderen Orte —

ANATOL. CORA. 1 2

Ach, warum sollen wir nicht alle zusammen speisen?

[ ] KE gestrichen. [ ] KE Begreifen Sie nicht,

Das Abenteuer seines Lebens mit einem plötzlichen Entschluß. nicht alle zusammen speisen ?

GABRIELE

133

Ja, warum sollen wir

— Alle zusammen! Für sich. Keine Rettung mehr! Zu Gabriele. Ich bitte ! — Sie setzt sich ; zu Coro. Ich bitte ! —

ANATOL.

CORA.

Ich danke ! Setzt sich.

A N A T O L ZU

Max.

Ich bitte I Leise. Was sagst du dazu ! —

MAX. DU bist verloren! ANATOL

wütend.

Setz dich!

Die drei sitzen und sehen sich gegenseitig an ; Anatol läßt sich müde auf den Sessel hinfallen. Sitzordnung: Anatol dem Publikum vis-à-vis, rechts von ihm Gabriele, links Cora, den Rücken zum Publikum gekehrt : Max. MAX. Erlaubst du, Anatol, daß ich den Wein einschenke? Schenkt ein. CORA

Zu Max.

So — mir nicht ganz voll, Max. —

Anatol. Dieses sonderbare Stubenmädchen, das mit Ihnen und Ihrem Freund soupiert —

GABRIELE

Zu

Oh, die ist frech ! —

ANATOL.

MAX Gabriele Wein einschenkend. GABRIELE.

Darf ich mir erlauben? —

Weg I — Ich trinke das nicht. —

Oh, Herr Anatol hat sich heute ausgezeichnet! Kalten Rheinlachs! — Sardinen! — Kaviar!

CORA.

MAX. Ich werde vom Lachs nehmen. — CORA.

Geben Sie mir doch auch heraus. —

ANATOL

Zu Gabriele.

Nehmen Sie Lachs, meine Gnädige !

MAX. Vielleicht ziehen Sie die Sardinen vor. — GABRIELE.

Weg damit. —

MAX Zu Anatol. ANATOL.

So sprich doch etwas. —

Meine lieben Gäste !

MAX. Wie, eine Rede ! ? •— Ja, lustig ! — Halte einen Toast ! GABRIELE.

Steht auf und will

fort.

ihr nach. Wie ? Sie wollen fort ? Sie glauben noch immer nicht an mich?

ANATOL

MAX. Außerdem gehen auch jetzt Leute über die Treppe. —

Anhang

134 GABRIELE CORA

kehrt langsam auf ihren Platz zurück.

zu Max.

Lange halte ich das nicht mehr aus; ich ersticke.—

erhebt sich.

ANATOL

Ach!

Ich wurde zu einem Toast aufgefordert. —

MAX. Bravo! — CORA. Füllen Sie mir das Glas, Max. — MAX für sich. Wenn nur wenigstens eine wirklich ginge! Worauf aber, meine Damen, soll ich das Glas erheben?

ANATOL.

— Damen?

GABRIELE.

MAX. Eine unhaltbare Situation! CORA.

Sprechen Sie doch weiter, Herr Anatol!

— Ach, es gibt so viele Dinge, auf die man das Glas erheben kann!

ANATOL.

MAX. Sehr richtig! Da gibt es zum Beispiel die Freiheit, die Brüderlichkeit, die Liebe —

ANATOL.

CORA

1

> erheben sich gleichzeitig.

GABRIELE J ANATOL

rasch.

CORA

Die Liebe!

Und den Haß!

J

> setzen sich rasch.

GABRIELE J

Den Haß!

MAX. Auf den Haß trinkt man nicht. — pathetisch. Wer kann es mir verwehren. — Ich, verehrte Festgenossen 1 trinke auf den — Haß!

ANATOL

MAX. ES ist verrückt, aber ich kann es ihm nicht übelnehmen. — ANATOL

Zu Gabriele.

Vielleicht Sardinen?

Mein Herr, nun ist es zuviel; Ihre Verlegenheit konnte ich Ihnen verzeihen; Ihren Spott nicht. —

GABRIELE.

CORA.

Was will sie ? Bekommt die plötzlich Temperament ? Aber Gabriele! —

ANATOL. CORA Zu MAX.

Max.

Er faßt ihre Hand!

Er muß ja!

GABRIELE

Zu Anatol.

Lassen Sie mich endlich gehen. —

Das Abenteuer seines Lebens CORA

Max.

135

Wo ist ein leerer Teller ? —

MAX. Hier! Wollen Sie vielleicht vom Lachs ? — Geben Sie ihn her — diesen Teller I Steht auf, wirft ihn zu Boden. Da!

CORA.

GABRIELE.

Wie ?

Cora, was tust du?

ANATOL.

D U ! ? — Und Ihre Teller zerbricht sie auch? Ich weiß genug. — C O R A . Ja, Sie wissen alles I GABRIELE.

Aber, meine verehrten Damen — nur einen Augenblick Ruhe, daß ich erklären kann. —

ANATOL.

Hier gibt es nichts zu erklären! — Hören Sie, mein Herr! Ich bin wütend — rasend! Aber nicht etwa, weil ich Sie liebe, sondern weil ich Sie verachte! — Hier ist zufällig etwas, was mich noch an Sie erinnern könnte, Sie nimmt ihr Armband und schleudert es zu Boden, so — da liegt es — Sie werden mich nicht wiedersehen — leben Sie wohl. —

CORA.

Nie wieder?

ANATOL.

die den Mantel umgeworfen und den Regenschirm und Hut in die Hand genommen — drohend. Höchstens einmal! — A N A T O L . Oh! — Für sich. Das Vitriol! — CORA,

GABRIELE.

Weh mir, daß mein Mann nach Paris gereist ist!

MAX tröstend.

Er wird schon wiederkommen!

will hinaus. A N A T O L Z" Max. Ich bitte dich — folge ihr! Vielleicht tut sie sich ein Leid an. — MAX. Hab keine Sorge — aber ich werde sie immerhin begleiten. — CORA

ANATOL.

Rasch, rasch! Leise. Rede ihr wenigstens das Vitriol aus. -—

MAX hat Hut und Überzieher genommen. bald wieder — G A B R I E L E wendet sich entrüstet weg. ANATOL.

Gnädige Frau, ich hoffe

Geh und lasse deine Unverschämtheiten —

MAX rasch ab. G A B R I E L E , die erstarrt dagestanden, sieht sich plötzlich allein mit will rasch weg ; er hält sie %urück. Pause.

Anatol;

136 ANATOL

Anhang affektiert.

GABRIELE.

Endlich sind wir allein!

Sie sollen mich gehen lassen. Nicht, bevor Sie mich gehört haben. —

ANATOL. GABRIELE.

Ich will Sie nicht hören. —•

ANATOL.

Nicht, bevor Sie mir verziehen haben. —

GABRIELE

lacht. Nebenbei sind Sie auch dumm. —

gekränkt. Es scheint, gnädige Frau, Sie haben es darauf abgesehen, mir wehe zu tun. —

ANATOL

erstaunt. Ach, wissen Sie auch — mein Herr — daß ich Sie unbegreiflich finde. —

GABRIELE

Gabriele!

ANATOL.

Wollen Sie mich nun in Frieden ziehen lassen ? —

GABRIELE.

Sie lieben mich, Gabriele, — ich weiß es — Sie werden mich nicht verlassen. —

ANATOL.

Ich Sie lieben ? — Sie ? I —

GABRIELE.

Diese Entrüstung sagt mir mehr, als tausend Worte der Zärtlichkeit mir gestehen könnten. — Ja; ihre Hand fassend— aus dem Beben dieser Fingerspitzen, aus dem Erzittern dieser Lippen, aus dem trunkenen Blick, mit dem Sie mich vernichten wollen und doch nur beglücken können . . .

ANATOL.

will sich ihm entziehen ; in Wut. Sie sind unverschämt — ich will fort.

GABRIELE ANATOL.

Weil Sie mich lieben! Ich möchte Sie töten!

GABRIELE. ANATOL.

Weil Sie mich lieben!

GABRIELE. ANATOL. GABRIELE. ANATOL.

Ich hasse Sie!

Weil Sie mich lieben! Sie sind mir gleichgültig. — Sie irren sich, gnädige Frau, denn Sie beten mich an. —

händeringend. Oh, um dieses Menschen willen wollte ich ihn — ach! — Schüttelt sich.

GABRIELE

Ich bitte sehr, reden wir jetzt nicht von Ihrem Herrn Gemahl — seien Sie gnädig, und hören Sie mir zu. •— Immer ihre Hände haltend.

ANATOL.

Das Abenteuer seines Lebens GABRIELE. ANATOL.

137

Ich täte es nicht, wenn ich nicht müßte — Wissen Sie, wer das Mädchen war, das eben von hier

ging? GABRIELE. ANATOL. GABRIELE.

Ihre Geliebte! Nein Gabriele! -— Es war — meine Vergangenheit! Ah, köstlich I Nun werden Sie gar allegorisch. —

Jeder junge Mensch hat eine Vergangenheit — [mancher sogar mehrere] und ich war nicht besser als die andern. — Das Leben spielt mit uns, Gabriele, aber es spielt sinnreich! Bevor es uns den echten Schatz finden läßt, narrt es uns mit falschen Edelsteinen, die uns gefallen, solange wir Kinder sind! Ja, Gabriele! Mit edlem Freimute gestehe ich es ein — mit mir hat das Leben viel gespielt und mancher falsche Edelstein hat mir gefallen. —

ANATOL.

GABRIELE.

sind. —

Wenn Sie nur wüßten, wie zuwider mir Ihre — Phrasen

Sie wären die große Seele nicht — die Sie sind — wenn Sie mich mißverständen. — Wärmer. Gabriele — vor Ihnen wirrt sich noch alles, was Sie heute gesehen und gehört — und darum verzeihe ich Ihnen, daß Sie mich nicht gleich begreifen. —

ANATOL.

GABRIELE.

Lassen Sie mich, mein Herr. —

ihre Hände festhaltend, sinkt ihr zu Füßen. Gehen Sie nicht — oh, gehen Sie nicht von mir. — Fassen Sie es denn nicht, daß Sie, nur Sie es sind, die ich bis zum Wahnsinn liebe — daß alles, alles, weit, weit hinter mir liegt und daß es nur Schatten sind, die aus einem früheren Nebel in das blühende Jetzt hereinragen. — Es ist nicht leicht, all diese Schatten auf einmal zu verwischen — sie drängen sich hervor, sie pochen auf ihre alte, dunkle Macht; sie möchten sich gerne einbilden, wesenhaft zu sein, wie früher — aber endlich versinken sie vollends. —

ANATOL

GABRIELE.

Du! —

Ihre »Schatten« zerbrechen Teller und sagen Ihnen:

Sie wollen mich nicht verstehen! — Sie wollen mir das Herz zerreißen! Glauben Sie, daß ich — jener hätte so zu Füßen fallen können wie Ihnen? — Es gibt hundert Coras, aber nur eine Gabriele — es gibt hundert Liebeleien, aber nur eine Leidenschaft — das Leben hat tausend Erlebnisse, aber nur ein Abenteuer — und das Abenteuer meines Lebens — Gabriele, bist du!

ANATOL.

1

[ ] KR gestrichen.

138

Anhang

GABRIELE.

Genug, versperren Sie mir nicht länger den Weg.— Gabriele!

ANATOL.

Ich weiß es, daß Sie gut reden können — denn nur durch Ihre Reden haben Sie es ja vermocht, sich in die Tiefe meines Herzens einzuschleichen; Sie haben so geredet, daß man Ihnen glauben mußte. — Wahrhaftig, ich bildete es mir ein, die einzige zu sein. — A N A T O L . Sie sind es. —

GABRIELE.

Oh, ich hätte Ihnen hundert andere Dinge verzeihen können — meinetwegen zehn Ballerinen oder was Sie wollen — aber dieses Mädchen, das bei Ihnen zu Hause ist — das verzeihe ich Ihnen nicht! Auf das Feuer Ihrer Jugend — mein Herr! hatte ich kein Anrecht, doch auf Ihr Herz hatte ich ein Anrecht, da Sie es mir zu Füßen legten. Nun aber haben Sie mich belogen und von alledem, was ich — leider — für Sie empfand, ist nichts, nichts, gar nichts übriggeblieben, als ein wenig Zorn und sehr viel Reue. So! Und wollen Sie mich jetzt gehen lassen ? A N A T O L . Gabriele! .

GABRIELE.

Ich bitte Sie, keine überflüssigen Bemühungen mehr. Und da Sie mich, wie Sie wohl sehen, nicht überzeugen können, daß Sie mich lieben, so beweisen Sie mir wenigstens Ihren Takt, indem Sie nicht länger eine Frau hier zurückhalten, der Sie gleichgültig sind. —

GABRIELE.

ANATOL

will reden.

GABRIELE

macht eine abwehrende

Bewegung.

tritt zurück; weist nach der Türe. Gnädige Frau I Der Weg ist frei I

ANATOL

GABRIELE

geht rasch

Türe, öffnet dieselbe und geht ab.

Pause.

allein, geht im Zimmer hin und her, setzt sich %um Tisch, steht wieder auf; ärgerlich. Oh! —

ANATOL

MAX tritt ein. So, da bin ich. — ANATOL.

Wie ? — Schon zurück ? —

MAX. Frau Gabriele habe ich auf der Stiege getroffen — ich entnehme daraus — ANATOL

wehmütig.

Max!

MAX. War recht ärgerlich. — Ja, ja!

Das Abenteuer seines Lebens ANATOL.

139

— Und Cora?

MAX. Sie entließ mich rasch, da sie sich in einen Wagen setzte, um nach Hause zu fahren. — Es gießt nämlich. — ANATOL.

Ja was sagte sie denn?

MAX. Niemals wiedersehen — und so weiter. Nichts Besonderes. — Vom Vitriol ist sie abgekommen. ANATOL.

Was will sie denn?

MAX. Nur Revanche. — Nun ja — nachdem es mit dir einmal aus ist. — ANATOL.

Ja, ja — ich werde mich totschießen.

MAX set^t sich %um Tisch. Du erlaubst — aber für mich ist ja eigentlich kein Grund vorhanden, nicht zu soupieren. — ANATOL.

Oh, ich bitte. —

MAX. Aber sag, was gab's denn da bei dir noch ? — ANATOL.

Vorbei — verloren. —

MAX. Das Abenteuer deines Lebens! — Haha! — ANATOL.

Lache nicht — mir ist gar nicht scherzhaft zumute. —

MAX. Ach was — komm her — laß uns trinken. — ANATOL

sich langsam ihm nähernd.

Ach!

MAX. Laß uns trinken auf uns selber, auf das, was noch kommen wird, auf lustige Stunden. — Mein lieber Anatol, die Jugend ist das wahre Abenteuer des Menschenlebens — und wir — freue dich doch — wir stehen mitten drin! — ANATOL

müde.

steht heim Tisch, das Glas hat ihm Max in die Hand Meinethalben. — D u ! — Ich verwinde es nicht.

MAX lachend. ANATOL.

gegeben,

Aber Freund!

Heut abend sicher nicht. —

MAX. Aber bald 1 Ich weiß auch nicht, wie ich mich aus dieser Stimmung reißen soll. —

ANATOL.

MAX. Neue Liebe . . . ANATOL

sieht ihn an. Neue Liebe ? —

140

Anhang

MAX. Nun freilich; da nimm das Glas und stoß mit mir an. Es ist ja so einfach, mein Anatol! Du mußt dir eben eine — andere suchen.— die Hand auf seine Schulter legend. E i n e andere? — Trinkt; stellt das Glas heftig nieder, gan% verzweifelt. Zwei!

ANATOL

Der Vorhang fällt

rasch.

Ursprünglicher Schluß zu ANATOLS HOCHZEITSMORGEN (London 1888) öffnet die Türe, Herr Winkler tritt ein. Anatol geht ihm gefaßt entgegen.

FRANZ

ANATOL.

Oh, mein teurer Papa!

WINKLER

fährt beim Wort »Papa«, zusammen.

MAX verbeugt sich und will gehen. WINKLER.

WINKLER. ANATOL

Bleiben Sie. — Es ist mir lieb, wenn Sie bleiben. Wollen Sie nicht Platz nehmen, Papa?

ANATOL.

Sagen Sie nicht immer »Papa«!

für sich. Er weiß —!

WINKLER.

Mein lieber, junger Freund —

MAX. Freund ? •— Sie spannen mich auf die Folter. Reden Sie, Papa.

ANATOL. WINKLER. ANATOL

Sagen Sie mir nicht »Papa« — ich bin es nicht.

angstvoll.

Aber in wenigen Stunden . . .

Niemals I — Sind Sie vorbereitet, das Schlimmste zu hören ? Oh, meine Tochter — meine Tochter! MAX. Ich bitte Sie, erklären Sie sich doch endlich! Sie sehen, Anatol ist ganz außer sich. A N A T O L . Ich bin es, mein Herr!

WINKLER.

MAX. Sprechen Sie, was ist mit Ihrer Tochter? WINKLER. ANATOL.

Ich weiß nicht . . . ich weiß nicht! Wie? . . . was? . . .

Anatols Hochzeitsmorgen (Utspr. Schluß) WINKLER.

141

Ich weiß nicht — sie ist verreist!

MAX. Durchgegangen! WINKLER.

Mein Herr, ein Fräulein von Winkler geht nicht durch!

ANATOL.

Oh! — Gerade heute zu verreisen!

WINKLER.

Heute nacht, mit der Post. Das sieht ja geradeso aus wie eine Flucht vor mir.

ANATOL. WINKLER.

Ich fürchtete gleich, daß Sie es so auffassen würden.

MAX. ES sieht eher aus wie die Flucht zu einem andern. ANATOL

verdüstert.

WINKLER.

Mit einem andern.

Wer sagt Ihnen — Herr Kalmon hat Ihre Tochter entführt.

ANATOL. WINKLER.

Auch das wissen Sie? Meine Ahnung! Meine Ahnung!

ANATOL.

MAX. Wollen Sie meinem Freunde nicht nähere Aufschlüsse geben ? ANATOL.

Ich bitte dringend darum.

WINKLER

Zu Anatol.

ANATOL.

Jawohl, Papa.

WINKLER

spuckt.

ANATOL.

Papa des Herrn Kalmon, ich bin ruhig.

Ich danke Ihnen für Ihre Ruhe.

MAX. Erzählen Sie. Als wenn ich selbst so viel wüßte! Ich weiß nur, daß Sie zu meiner Überraschung um sieben Uhr beim Frühstück fehlte. Sie begreifen: ich hätte heute gern mit ihr gefrühstückt. Ich fragte das Mädchen; meine Tochter war bereits fort. Ich beruhigte mich.

WINKLER.

MAX. Sie beruhigten sich? Wie durften Sie das ?

ANATOL. WINKLER. ANATOL

Ich dachte: sie ist vielleicht zur Beichte gegangen.

lacht bitter.

Nun ja, junge Mädchen sind manchmal so überspannt. Ich wartete.

WINKLER.

MAX. Wie lange ?

142

Anhang

WINKLER.

ES

wurde acht und neun. Ich frühstückte allein.

MAX. Beklagenswerter Vater! Weiter, weiter!

ANATOL.

Die Friseurin kam, sie wartete mit mir. Die Schneiderin kam, sie wartete mit mir und der Friseurin. Schließlich kam die Blumenhändlerin; alle warteten mit mir. Ich spazierte im Zimmer hin und her; ich begab mich ins Stiegenhaus, ich schaute zu irgendeinem Fenster hinaus. Ich hatte den Trost: kommt sie von der einen Seite nicht, so kommt sie von der andern. Sie kam von keiner Seite! Um zehn Uhr ein Telegramm aus Linz. Ich zitterte. Hier ist es, lesen Sie.

WINKLER.

ANATOL.

Ich kann nicht! Max!

MAX liest. »Wir harren Deines Segens im Hotel zum Krebsen. Drahtantwort bezahlt. Alexandra. Kalmon.« ANATOL

bitter.

HA!

MAX. Nun ? Und Ihr Segen ? ANATOL.

Sie haben ihn bereits telegraphisch anweisen lassen ?

MAX. Ich finde das sehr nobel von Herrn Kalmon, daß er Ihren Segen im vorhinein bezahlt. Ah, Herr Kalmon — dieser Schlucker! »Drahtantwort bezahlt« — das ist der Stil meiner Tochter!

WINKLER.

Ich hätte eine traurige Rolle gespielt, wenn ich zu Mittag mit meinem Bukett angerückt wäre — und Fräulein Alexandra hat es nicht für notwendig gefunden, mich persönlich zu verständigen !

ANATOL.

Seien Sie nur nicht gar zu streng. Das arme Kind . . . es konnte freilich nicht an alles denken.

WINKLER.

Und die Hochzeitsgäste? Und das Dinner? Und die Lieferanten ?

ANATOL.

Ich habe mich geflüchtet und kehre erst in später Nachtstunde zurück, packe ein, reise ab.

WINKLER. FRANZ

kommt.

Ein Telegramm.

reißt es ihm aus der Hand. »Liebe Sie nicht, wäre unglücklich geworden, schätze Sie jedoch. Nicht böse sein. Senden Sie mir Verzeihung. Alexandra.«

ANATOL

MAX. Drahtantwort bezahlt ?

Anatols Hochzeitsmorgen (Urspr. Schluß)

143

Nicht einmal das 1

ANATOL.

Mein armer Freund, begreifen Sie, daß ich nichts mehr tun kann ?

WINKLER.

MAX. Dir wird auch nichts anderes übrigbleiben, als ihr die Verzeihung zu senden. Ich ihr verzeihen ? Niemals 1

ANATOL. WINKLER.

Aber ich bitte Sie, was wollen Sie tun ? Noch weiß ich es nicht. Hin und her.

ANATOL.

Max.

WINKLER

Was wird er tun ?

MAX zuckt die Achseln. ANATOL.

Ich werde ihr verzeihen.

WINKLER.

Ich danke Ihnen! Aber Herrn Kalmon werde ich zu finden wissen!

ANATOL. WINKLER.

Sie wollen ihr den Gatten rauben?

MAX. Beruhigen Sie sich, Herr v. Winkler, wie Sie wird auch mein Freund abreisen; man vergißt schnell. Sie werden edel seinl

WINKLER. ANATOL. WINKLER.

Jawohl. Sie verzeihen?

ihm die Hand. Dies für Ihre Tochter und Herrn Kalmon. — Sollte heute nicht Ihr Chateau d'Iquem auf den Tisch kommen ?

ANATOL

WINKLER. ANATOL. WINKLER.

Freilich sollte er. Und Ihr Rheinwein vom Jahre 36? Ja.

Ich fürchte beinahe, Herrn Kalmon zu früh verziehen zu haben. F R A N Z tritt ein. Gnädiger Herr, der Wagen ist bereit. ANATOL.

ANATOL.

Ich bedarf seiner nicht mehr.

Ich will ihn gleich benützen, wenn er schon da steht. — Nun leben Sie wohl, mein Freund.

WINKLER.

ANATOL.

Ziehen Sie in Frieden.

WINKLER

gerührt.

ANATOL.

Nun?

Leben Sie wohl. Ab.

Anhang

144

MAX. Ich finde es ganz charmant, das Fräulein Alexandra auf diese Idee gekommen ist, bevor sie dich geheiratet hat. ILONA

rasch herein. Nun, was gibt's ?

Mein Kind, ich gehe nicht zu der Hochzeit; wir bleiben zusammen.

ANATOL. ILONA.

Wie ?

Ja, noch mehr! Kannst du rasch einen Urlaub nehmen?

ANATOL.

Ohneweiters.

ILONA.

Nun, ich lade dich ein, heute abend mit mir nach Italien zu reisen.

ANATOL. ILONA.

DU

bist ein Engel! — Separatcoupd ?

Schon bestellt.

ANATOL.

MAX. Er denkt an alles! FRANZ

tritt ein. Was willst du, Schlingel ?

ANATOL.

Ich wollte den gnädigen Herrn erinnern — —

FRANZ.

Nichts, nichts! Ich gehe nicht dorthin.

ANATOL.

Also darf ich auspacken ?

FRANZ. ANATOL. ILONA.

Franzi Geben Sie mir dieses Telegramm auf.

ANATOL. ILONA.

Laß sehen!

Nicht neugierig sein!

ANATOL. ILONA.

Durchaus nicht. Ich reise, wie es festgesetzt war.

Aber ich darf doch — ?

DU

ANATOL.

wissen!

bist mißtrauisch.

An wen? Ich wünsche es zu sehen . . . ich wünsche es zu

Ich gab es doch dem Franz zum Aufgeben, es ist also an keinen Nebenbuhler.

ILONA.

ANATOL. FRANZ

Franz — hinaus! Er steht noch immer da.

ah.

Das ist es eben: du willst mich einlullen 1 Entwindet es ihr, liest. Oh! Oh!

ANATOL.

Anatols Hochzeitsmorgen (Urspr. Schluß)

145

MAX. Was gibt'S? Darf man lesen? »Herrn Kalmon, Linz, Roter Krebs. Wir verzeihen Ihnen. Anatol 1 , Ilona.« ANATOL.

hast gehört ?

Jedes Wort!

ILONA.

ANATOL. ILONA.

DU

Und —

?

Und bin dir gar nicht böse.

MAX. Sie sind großherzig I Durchaus nicht. Eine Untreue, in der die Liebe nicht mitspielt, verzeihen wir so schnell. — Gestehe nur: es freut dich ja, daß sie durchgegangen ist.

ILONA.

ANATOL.

Ich könnte sie fast liebgewinnen darum.

MAX. Und das Telegramm? ANATOL. ILONA.

Wird abgeschickt! Man soll es im Roten Krebs erfahren. —

Daß wir glücklich sind!

MAX. Daß Ihr witzig seid. Nein; daß es ein beneidenswerteres Wesen gibt, als das Weib, das betrügt, nämlich den Mann, der sich darüber tröstet.

ANATOL.

UNVERÖFFENTLICHTES GEDICHT VON ANATOL 2 1 7 . V I I . 89

Beträchtlich stört mein junges Liebesglück, Daß dich ein andrer hat vor mir besessen, Ich kann es leider nimmermehr vergessen, Auf jenem andern glühte dieser Blick. Und wenn du deinen süßen Leib allnächtlich In wilden Liebesseufzern schmiegst an mich, Denk ich, auch jener hörte die wie ich, Und du begreifst, mein Kind, das stört beträchtlich. ANATOL.

1 Im Manuskript ist an dieser Stelle irrtümlich aus der Erstfassung »Richard« stehengeblieben (vgl. Editionsbericht). 2 d.i. Arthur Schnitzler (vgl. Editionsbericht [S. 149] u. S. 158)

10 KOMEDIA VI

MATERIALIEN ZUM VERSTÄNDNIS DER

TEXTE

Editionsbericht Der Einakterzyklus Anatol ist in folgenden Ausgaben erschienen 1 : Arthur Schnitzler, Anatol, Berlin 1893. Arthur Schnitzler, Anatol, Einacterzyklus, Mit einer Einleitung von Loris, (Umschlag von Th. Th. Heine), Berlin 1895 2 . Arthur Schnitzler, Anatol, Einakterzyklus. Neue Ausgabe in Großoktav, illustriert von M. Coschell, Berlin 1901. Arthur Schnitzler, Gesammelte Werke in zwei Abteilungen. Zweite Abt.: Die Theaterstücke in vier Bänden, Bd. I, Berlin 1912. Arthur Schnitzler, Gesammelte Werke in zwei Abteilungen, Neuausgabe, Zweite Abt.: Die Theaterstücke in fünf Bänden, Bd. I, Berlin 1922 3 . Arthur Schnitzler, Meisterdramen, Frankfurt a. M. 1955. Österreichisches Theater des X X . Jahrhunderts. Mit einem Vorwort von Oskar Maurus Fontana, München 1961. Arthur Schnitzler, Gesammelte Werke. Die dramatischen Werke, Erster Band, Frankfurt a. M. 1962. Unserer Edition von Anatol liegt der Text der Neuausgabe der Gesammelten Werke von 1922 zugrunde, die als Ausgabe letzter Hand zu gelten hat. 1

Die handschriftlichen Fassungen der Anatol-Einakter, außer »Agonie«, sind im Nachlaß, Mappe 70, erhalten. — Der Nachlaß liegt bei der University Library, Cambridge, England. Kopien des Nachlasses auf Mikrofilm besitzen die University of California, Los Angeles, USA (»Special Collections« der Universitätsbibliothek), Professor Heinrich Schnitzler, Wien, Österreich, und das Arthur-Schnitzler-Archiv der »International Arthur Schnitzler Research Association«, University of Kentucky, Lexington, Ky., USA. 2 Die 32. und bisher letzte Auflage dieser Ausgabe erschien 1927. 3 Im Rahmen der Gesammelten Werke erreichte »Anatol« insgesamt 30 Auflagen.

Editionsbericht

147

Bevor Schnitter sieben seiner Anatol-Einakter als Zyklus in Buchform herausgab, veröffentlichte er fünf von ihnen einzeln in Revuen und Zeitungen 4 : Episode: »An der schönen blauen Donau«, IV. J g . [1889], 18. Heft, S. 424—426. Die Frage an das Schicksal: »Moderne Dichtung«, Monatsschrift für Literatur und Kritik, Hrg. v. E. M. Kafka, Leipzig, Brünn, Wien, I. J g . , 5. Heft, 1. Mai 1890, S. 299—306. Anatols Hochzeitsmorgen: »Moderne Dichtung«, II. J g . , 1. Heft, 1. Juli 1890, S. 431—442. Denksteine: »Moderne Rundschau«, Hrg. v. Dr. J . Joachim und E . M. Kafka, Wien, III J g . , 4. Heft, 15. Mai 1891, S. 1 5 1 — 1 5 4 . Weihnachtseinkäufe: »Frankfurter Zeitung«, 24. Dezember 1891. Für die Buchausgabe wurde keiner der Einakter wesentlich verändert, weder für die Erstauflage, noch für alle späteren. Zwar weisen z. B. der Erstdruck von Die Frage an das Schicksal 40, der von Anatols Hoch^eitsmorgen 53 kleinere Abweichungen gegenüber der Fassung in der Ausgabe letzter Hand auf, stets handelt es sich aber nur um die Beseitigung von Druckfehlern, sprachlichen Flüchtigkeiten und Unebenheiten, unangemessen übersteigerten, veralteten oder zu sehr lokal gefärbten Wendungen. Bemerkenswert ist einzig, daß die beiden Dialogpartner in Weihnachtseinkäufe in der Erstfassung keine Namen tragen, sondern mit »Er« und »Sie« bezeichnet sind. Die wichtigsten Übersetzungen von Anatol sind die ins Englische und Französische 5 : 4 Vgl. Otto P. Schinnerer, Systematisches Verzeichnis der Werke von A. S., Jahrbuch deutscher Bibliophilen und Literaturfreunde, XVIII/XIX. Jg., 1932/33, Berlin—Wien—Leipzig [1933]. 6 Einzelne Szenen waren bereits längere Zeit vor dem Gesatntzyklus in Einzelausgaben, Sammelwerken oder Zeitschriften erschienen : »Questioning the Irrevocable« (»Die Frage an das Schicksal«), übersetzt von W. H. Chambers, in: A. Bates, The Drama, London 1903; »Les Emplettes de Noel« (»Weihnachtseinkäufe«), übersetzt von Henri Albert, L'Idée Libre, III, No. 5—6, 1894; »Un Souvenir« (»Denksteine«), Revue, April 1897; »Souper d'Adieu« (»Abschiedssouper«), übersetzt von Maurice Vaucaire, Paris 1902. — Außer den Übersetzungen ins Englische und Französische gibt es Übertragungen des Gesamtzyklus' ins Tschechische, Polnische, Russische, Jugoslawische, Schwedische und Spanische. Einzelne Einakter wurden ins Dänische, Niederländische, Italienische, Ungarische und Japanische übersetzt.

10*

148

Materialien

Anatol, A Sequence of Dialogues by Arthur Schnitzler. Paraphrased for the English Stage by Granville Barker, London 1 9 1 1 und New York 1 9 1 1 6 . Arthur Schnitzler, Anatol, Living Hours, The Green Cockatoo, translated by Grace Isabel Colbron, introduced by Ashley Dukes (Modern Library of the World's Best Books), New York 1917. Arthur Schnitzler, Reigen, The Affairs of Anatol, and other Plays, translated by Marya Mannes and Grace Isabel Colbron. Introduction by Ashley Dukes, New York 1933. Arthur Schnitzler, Anatole, Traduction de Maurice Rimon et Maurice Vaucaire, Paris 1913. Der Einakter Anaiols Größenwahn wurde von HEINRICH SCHNITZLER aus dem Nachlaß 7 herausgegeben und liegt in folgenden Ausgaben vor: Arthur Schnitzler, Anatols Größenwahn, Ein Akt, Berlin 1932 (unverkäufliches Bühnenmanuskript). Arthur Schnitzler, Meisterdramen, Frankfurt a. M. 1955. Arthur Schnitzler, Gesammelte Werke, Die dramatischen Werke, Erster Band, Frankfurt a. M. 1962. Grundlage unserer Edition von Anatols Größenwahn ist der Text der »Meisterdramen« von 1955. Der fast völlige Verzicht auf den Gebrauch des Apostrophs wurde in Angleichung an die Ausgabe letzter Hand rückgängig gemacht. Der im Anhang unserer Ausgabe abgedruckte Einakter »Das Abenteuer seines Lebens« liegt lediglich als gedrucktes unverkäufliches Bühnenmanuskript vor: Arthur Schnitzler, Das Abenteuer seines Lebens, Lustspiel in einem Aufzuge, Wien 1888. Unser Text beruht auf dieser Vorlage. Streichungen und Korrekturen, die Schnitzler am 24. Juni 1891 in seinem Handexemplar, das im Nachlaß erhalten ist, vornahm, sind in den Fußnoten vermerkt. Der gleichfalls im Anhang wiedergegebene, niemals gedruckte frühere Schluß von Anatols Hoch^eitsmorgen ist im Nachlaß, Mappe 70, in zwei Fassungen vorhanden: 1. »Früherer Schluß zu Anatols Hochzeitsmorgen«, Maschinenschrift, 9 Seiten; 2. »Ursprünglicher Schluß Zu Anatols Hochzeitsmorgen (London 1888)«, Maschinenschrift, 1 1 Seiten. 6 Neuauflagen der amerikanischen Ausgabe erschienen 1917, 1931 und 1934. 7 Zwei Maschinenschriften sind in Mappe 71 und Mappe 229 erhalten.

Zur Entstehungsgeschichte

149

In der i. Fassung heißt Anatol noch Richard, während der spätere Max den Namen Julius führt. Bis auf diese Änderung ist die 2. Fassung eine Abschrift der ersten. Unserem Abdruck liegt die 2. Fassung zugrunde. Das Gedicht »Beträchtlich stört mein junges Liebesglück . . .« aus dem Jahre 1889 erscheint gleichfalls im Anhang dieser Ausgabe erstmalig im Druck. Es gehört zu der Serie der mit »Anatol« unterzeichneten Gedichte, von denen Schnitzler in den Jahren 1889-90 zwölf in der Zeitschrift »An der schönen blauen Donau« veröffentlichte8 und von denen er später nur eines, »Am Flügel«, wiederabdrucken ließ9. In den drei Texten des Anhangs wurde die Orthographie dem gegenwärtigen Stande angeglichen. Zur Entstehungsgeschichte Schnitters Anatol, ein Zyklus lose zusammenhängender Einakter mit unterschiedlich starkem komischem Akzent, bezeichnet eine entscheidende Phase im Auflösungsprozeß des auf ein Absolutes gerichteten, formal geschlossenen klassischen Dramas. Wie alle bedeutenden Dramatiker gegen Ende des 19. Jahrhunderts sieht sich Schnitter genötigt, die überkommenen Darstellungsformen erheblich zu modifizieren, um eine adäquate dramatische Gestaltung der veränderten geistigen Situation überhaupt zu ermöglichen. Der Anatol-Zyklus entspringt einer Bewußtseinslage, für die sich die unbedingte Wertsphäre, die Kontinuität der Person und das Verhältnis des Ichs zur Mitwelt in der Auflösung befinden. Die grundsätzliche Skepsis gegenüber jeder absoluten Wertsetzung und der von ihr abhängigen Identität des Ichs, die dieses Werk bezeugt, tritt, gewiß nicht zufällig, zur selben Zeit und am selben Orte, dem Wien des Fin de siècle, der Metropole europäischer Spätkultur, auch in der Tiefenpsychologie S I G M U N D F R E U D S und im Empiriokritizismus E R N S T M A C H S folgenreich zutage. Der den Österreichern und besonders den Wienern vom Barock her vertraute Gedanke von der Scheinhaftigkeit der Welt, des Lebens als Traum, wie noch in G R I L L P A R Z E R S »Der Traum ein Leben« (1834), gewinnt nun in abgewandelter Form wissenschaftliche Bedeutung, und die spezifisch österreichische Skepsis gegenüber dem festen Realitätscharakter von Ich und Welt verbindet sich mit vielerlei ähnlichen Strömungen zu einer ganz Europa beherrschenden Lebensstimmung. 8 Titel und genauer Druckort bei O. P. Schinnerer, Systematisches Verzeichnis . . ., a. a. O., Nr. 3—11. 8 In: Deutsche Lyrik aus Österreich seit Grillparzer, Berlin 1912, S. 159.

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Materialien

A m tiefsten und nachhaltigsten wird die Auffassung vom Individuum durch F R E U D S Psychoanalyse revolutioniert 10 . Aus dem festen Personkern des Ichs wird eine Ballung verschiedenster Triebregungen, die einem rein kausalen Mechanismus unterliegen und dem gegenüber der Wille ohnmächtig ist. Das vom Unbewußten gespaltene Bewußtsein schiebt sich täuschend vor jenes und verdeckt damit die übermächtigen, eigentlichen Antriebsmomente der Person. Sämtliche Normen moralischer und konventioneller Art werden durch diese Lehre relativiert und aufgehoben, menschliche Gefühle und Tugenden entzaubert und als wertfreie Resultate des Triebmechanismus betrachtet. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt die Erkenntnislehre M A C H S 1 1 . Das Ich stellt für ihn keine substantielle Einheit dar, sondern besteht lediglich aus einem Komplex von Empfindungen und Vorstellungen. Da diese Gedanken, Stimmungen, Gefühle, Erinnerungen heute anders strukturiert sind als gestern, kommt einem solchen Ich als einem bloßen Bündel von Empfindungen und Eindrücken nur eine relative Einheitlichkeit und Beständigkeit zu. Mit der Identität des Ichs schwindet notwendig seine sittliche Verantwortlichkeit. Eine objektive Wirklichkeit, losgelöst von der Empfindung des Ichs gibt es nicht, ebensowenig feste, absolute Wahrheit und Moral, allenfalls der Selbsterhaltung dienende Zweckwahrheiten und -konventionen. Jenseits jeglicher Scheidung von Erscheinung und Wirklichkeit an sich, Schein und Sein, hat jedes Ich-Bewußtsein »seine« Welt. Damit ist notwendig jede wirkliche Kommunikation mit einem Du unmöglich. Da diese Philosophie den Menschen auf 10 Die analytische Psychologie setzt ein mit Breuer und Freuds »Studien über Hysterie«, 1895, und Freuds »Traumdeutung«, 1900. Zu wesentlichen ihrer Ergebnisse gelangte Schnitzler unabhängig von Freud; teilweise nahm er sogar — in seinem Frühwerk bis 1895 — Erkenntnisse Freuds vorweg. Zum Verhältnis Schnitzlers zu Freud vgl. vor allem: S. Freud, Briefe an A. S., Die neue Rundschau, Jg. 1955, S. 95—106 (zwei dieser Briefe, vom 8. 5. 1906 und 14. 5. 1922, auch in: S. Freud, Briefe 187}—1939, Frankfurt a. M. [i960], S. 249t. u. 338t.), sowie Frederick J . Beharriell, Schnitzler's Anticipation of Freud's Dream Theory, Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur, Vol. X L V , 1953, p. 81—99; femer: ders., Freud's Debt to Literature, Psychoanalysis, Journal of Psychoanalytic Psychology, Vol. 4, 1957; Rudolf Lantin, Traum und Wirklichkeit in der Prosadichtung A. S.s, Diss. Köln 1958, bsd. S. 5—13; Heinz Politzer, Diagnose und Dichtung, Forum, IX. Jg., 1962, Heft 101, S. 217—219 und Heft 102, S. 266—270; Herbert I. Kupper und Hilda Rollmann-Branch, Freud und Schnitzler — Doppelgänger, Journal of the American Psychoanalytic Association, VII, 1959, p. 109—126. 11 Vgl. vor allem: Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen, 1886.

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seine Eindrücke reduziert, galt sie der Wiener Schule um 1900, insbesondere H E R M A N N B A H R , als die Philosophie des »Impressionismus«. In diesem geistigen Klima lebte und wirkte als junger Arzt und Schriftsteller Arthur Schnitt/er (1862—1931), der mit der Einaktersammlung Anatol sein dramatisches Schaffen eröffnet und sogleich auf einen ersten Höhepunkt führt. Daß dieses Meisterstück so gar nichts von einem Erstlingswerk an sich hat, liegt wohl mit darin begründet, daß immerhin etwa dreißig ungedruckte Stücke und noch einmal halb so viele Fragmente als Übungsarbeiten vorausgingen 12 . Anatol ist die früheste Dichtung, die der Autor später in seine Gesammelten Schriften aufnahm. Die meisten Anatol-Akte entstanden in den Jahren 1888—91. Arthur Schnitzler, Sohn des angesehenen Wiener Laryngologen und Universitätsprofessors J O H A N N S C H N I T Z L E R , war zu dieser Zeit Aspirant und Sekundärarzt an den Wiener Universitätskliniken für interne Medizin, Psychiatrie und Hautkrankheiten. In diese Jahre fällt auch eine Studienreise nach Berlin und London 1 3 . Vielfach beschäftigte sich Scbnit^ler gerade während seiner Assistentenzeit mit neurologischen und psychiatrischen Fragen und wandte selber erfolgreich Hypnose und Suggestion zu therapeutischen Zwecken an 1 4 . Eine deutliche Spur dieser Tätigkeit zeigt die Anatol-Szene Die Frage an das Schicksal16. In seiner Freizeit führte Schnitter seine schriftstellerischen Arbeiten weiter und weilte häufig unter den Jungwiener Dichtern im Café Griensteidl, zu denen der junge H O F M A N N S T H A L (der unter seinem Pseudonym L O R I S den Prolog zu Anatol schrieb), R I C H A R D B E E R - H O F M A N N , F E L I X S A L T E N , LEOPOLD VON A N D R I A N u n d DÖRMANN

gehörten, damals auch noch

KARL KRAUS,

FELIX

der später die

12 Siehe Otto P. Schinnerer, Schnitzlers »Nachlaß«, The Germanic Review Vol. VIII, 1933, p. 115. 13 Biographische Details gibt am reichhaltigsten und zuverlässigsten Richard Specht, A. S., Berlin 1922. 14 Vgl. Felix Saiten, Aus den Anfängen, Erinnerungsskizzen. In: Jb. dt. Bibliophilen XVIII/XIX, 1932/33, S. 33f. und vor allem Schnitzlers wissenschaftliche Abhandlung »Über funktionelle Aphonie und deren Behandlung durch Hypnose und Suggestion«, Internationale Klinische Rundschau, Wien 1889, die übrigens vier Jahre vor Breuer und Freuds »Uber den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene« erschien, worin von ähnlicher Heilung hysterischer Erkrankungen durch Hypnose berichtet wird. 15 In dieser Szene von 1889 erfolgt wohl, wenn auch nur beiläufig, der früheste ausdrückliche Hinweis auf das Unbewußte im Sinne der Psychoanalyse und das damit gestellte Problem der Entscheidungsfreiheit und Verantwortlichkeit.

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Satire dieses Kreises, »Die demolirte Literatur« (1896), schrieb. Hinzu traten im Frühjahr 1891 H E R M A N N B A H R , der bald zum Wortführer wurde, und später auch P E T E R A L T E N B E R G 1 6 . Bei den Zusammenkünften dieser Gruppe wurde gewiß der eine oder andere ^4«tf/o/-Einakter erstmals vorgelesen und diskutiert 17 . Uber die Entstehungszeit und -umstände der einzelnen AnatolAkte geben einschlägige Aufzeichnungen Schnitters, die sich unveröffentlicht im Nachlaß befinden, Auskunft. Ergänzungen hierzu bieten Hinweise aus Schnitters unveröffentlichter, nur bis 1889 reichender Autobiographie »Leben und Nachklang — Werk und Widerhall« 18 . Die folgende, chronologisch verfahrende Aufstellung ist ein Auszug aus diesen Papieren. 1. Anatols H.och%eitsmorgen. »Begonnen 9. 6. 1888 in London. Wahrscheinlich angeregt durch die Lektüre französischer Dialoge in Halevy 1 9 , die ich in der Bibliothek meines Onkels in WoodwillHall Honor Oak vorfand. Beendet erst in Wien 25. 10. 88«20. »Die ersten Nachmittagsstunden verbrachte ich häufig in meinem behaglichen Zimmer [. . .], setzte die Lektüre französischer Romane und Dialoge fort, die ich in Honor Oak, da mir andere Bücher fehlten, aufgenommen hatte, [. . .] verfaßte einen Einakter, es war das kleine Stückchen, das später Anatols Hochzeitsmorgen betitelt war, obwohl die Hauptfigur in der ersten Fassung Richard hieß und nicht viel besseres vorstellte als den alten französischen Schwankhelden in tausend Ängsten. Der Einfluß der Halevyschen Dialoge, die ich eben kennengelernt hatte, »Monsieur et Madame Cardinal«, ist darin unverkennbar, aber noch nicht stark genug, um aus dem Hoch^eitsmorgen, wenigstens der Form nach, eine annehmbare Komödie zu machen. Dies empfand ich selbst so sehr, daß ich mir die Aufführung dieses Stückes lange Zeit hindurch, auch schon nach dem Erfolg 16

Vgl. Specht, a. a. O., S. 31 ff. Felix Saiten behauptet (a. a. O., S. 44), der ganze Anatol-Zyklus sei im »Griensteidl«, in Schnitzlers Wohnung oder Beer-Hofmanns Bibliothek »Szene für Szene, je nach ihrem Entstehen« vorgelesen und besprochen worden. Da sich in Schnitzlers Tagebüchern keinerlei Hinweise auf solche Vorlesungen finden, muß die Angabe Saltens etwas zweifelhaft erscheinen. 18 Bei den gen. Aufzeichnungen zu »Anatol« handelt es sich um ein maschinengeschriebenes Einzelblatt, überschrieben »Anatol«, und um fünf paginierte, gleichfalls maschinengeschriebene Blätter unter dem Titel Anatol-Einakter (1—5). 19 Ludovic Halevy (1834—1908), schrieb u. a. die Texte zu Offenbachs Operetten und Bizets »Carmen« (zus. m. H. Meilhac); Autor des Sittenstückes »Froufrou« (1869). 20 Anatol-Einakter, Bl. 4. 17

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der »Liebelei« verbat.« 21 Vom Herbst des gleichen Jahres berichtet Schnitt)er: »Den Hoch^eitsmorgen hatte ich gefeilt und mit einem neuen Schluß versehen . . ,« 22 . 2. Episode. »Geschrieben 30.10.—20.11.1888.« 2 3 In der genannten Autobiographie Schnitters heißt es, er habe »einen neuen Einakter geschrieben, Episode betitelt, den ersten, in dem die Figur des Anatol, wie hoch oder niedrig man sie menschlichkünstlerisch bewerten mag, und die eigentümliche Atmosphäre der Anatoi-Szenen, ob man sich in ihr behage oder nicht, mit Deutlichkeit zu spüren ist.« 21 3. Die Frage an das Schicksal. »Vom 26. 8. 89—30. 8. 8g [. . .] Anregung durch die damalige Beschäftigung mit dem Hypnotismus. Praktische Versuche an der Poliklinik.« 25 4. Denksteine. »24. 6.—26. 6. 90.«26 5. Agonie. »29. 10.—10. 1 1 . 90.« 27 6. Abschiedssouper. »21. und 23. 1 1 . 91. Schrieb ich zum Teil im Griensteidl rasch und gut gelaunt.« 28 7. Weihnachtseinkäufe. »24. 1 1 . 91.« 2 9 Fünf dieser sieben Einakter wurden bereits vor der Buchveröffentlichung einzeln abgedruckt 30 ; Abschiedssouper und Agonie erschienen erstmals bei der Herausgabe des Gesamtzyklus' in Buchform, um die sich Schnitter zunächst ebenso vergeblich bemühte wie um dessen Aufführung. E r bemerkte selber hierzu: »Das Erscheinen des Buches erst unter Schwierigkeiten. Refus von allen möglichen Verlegern, unter andern S. Fischer: ,Von dramatischen Plaudereien verspreche ich mir kein Geschäft'. Endlich übernimmt das Bibliographische Bureau in Leipzig die Herausgabe gegen 500 Mark, die ich mir von Wilhelm König ausleihe.« 31 Ende 1892 wird das Buch unter dem Erscheinungsjahr 1893 ausgeliefert. Von der 2. Auflage an (1895) übernimmt der S. Fischer Verlag diese Ausgabe. 21

Aus der unveröffentlichten Autobiographie. Ebd. — Abdruck der ursprünglichen Fassung im Anhang dieser Ausgabe. 23 Anatol-Einakter, Bl. 2. 24 Aus der unveröffentlichten Autobiographie. 26 Anatol-Einakter, Bl. 2. 26 Ebd., Bl. 4. 27 Ebd. 28 Ebd., Bl. 2. 29 Ebd. 30 Siehe Editionsbericht, S. 147. 31 Anatol-Einakter, Blatt 5. 22

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Schnitter hat nicht alle 1892 abgeschlossen vorliegenden Stücke der Analol-Setie in die Buchausgabe aufgenommen. In den genannten Aufzeichnungen »^4»a/o/-Einakter« heißt es mit Bezug auf diese Kennzeichnung: »Wenn der Ausdruck als Sammelname gestattet ist, gelte als erster der »Treue« betitelte (Anfang der 80 er Jahre).« 32 »Treue« erschien niemals im Druck und wurde auch nie gespielt, ist aber im Nachlaß erhalten 33 . V o n den Personen, Emil, Richard und Emma, deuten die beiden Männergestalten insofern auf die Anatol-Figur voraus, als sie jeweils einen seiner Wesenszüge in eindeutiger, verfestigter Form zeigen, die in der weitaus differenzierteren Anaiol-Gestzlt dialektisch vereint erscheinen: Emil verkörpert dessen skeptische, Richard seine illusionistische Seite. Emil betrügt voller Skrupel seinen Freund Richard mit dessen Geliebter Emma, ohne daß Richard trotz zwingender Indizien den geringsten Argwohn hegt. Die Sprache dieser unerheblichen Szene wirkt noch ausgesprochen steif und gestelzt. Von der späteren Meisterschaft des Dialogs ist kaum etwas spürbar. Der Einakter »Das Abenteuer seines Lebens«, in dem erstmals die Figuren Anatol und Max auftreten, steht der Eigenart und Qualität des Anatol-Zyklus' schon wesentlich näher 34 . Schnitter selbst schrieb später in der Erinnerung an dieses Stück: »,Das Abenteuer seines Lebens' 1886; ließ es auf Betreiben Lothars 35 drucken 36 . Als ich es unter hunderten anderer Dramolets und Dramen in Eirichs Verzeichnis lese, ein unverhältnismäßiges Gefühl literarischer Wichtigkeit, wie kaum später bei anderen Gelegenheiten.« 37 In Schnitzlers Autobiographie findet sich ferner nach der Skizzierung des Inhalts folgende Bemerkung: »Aus diesem an sich keineswegs unfruchtbaren Einfall, dessen Erlebnisquellen nicht erst erforscht werden müssen, hatte ich freilich nichts gemacht als eine leere, ungeschickte, ziemlich witzlose Posse, deren Dialog öfters klingt wie eine steife Ubersetzung aus dem Französischen. Schon tragen Held und Vertrauter die Namen Anatol und Max; von dem allerdings auch in den späteren 32

Ebd. Bl. 1. Mappe 71. Abdruck des Textes im Anhang dieser Ausgabe. 35 Rudolf Lothar (geb. 1865, nach 1933 in der Emigration verschollen), erfolgreicher Wiener Dramatiker; u. a. »König Harlekin« (1900). 36 Das Abenteuer seines Lebens. Lustspiel in einem Aufzuge. Gedrucktes Bühnenmanuskript, bei O. F. Eirich, Wien 1888. — Der Druck erfolgte auf eigene Kosten. 37 Anatol-Einakter, Bl. 1. 33

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Einaktern nur stellenweise angenehm wirkenden Geist und der bescheidenen Poesie der beiden Figuren ist noch wenig zu verspüren, wenn sich auch Max als Dichter vorstellt und es an Aphorismen nicht mangelt, die zuweilen ihrer eigenen Schiefheit zu spotten scheinen.«38 Zu diesem Urteil warSchnit^lerspätestens 1891 gelangt, alsereiner Aufführung dieses Stückes beiwohnte 39 . Kein Wunder, daß er dann diese erste eigentliche Anatol-Szcne, in der die Eigenart der späteren Akte deutlich vorgebildet, aber nirgends zur Vollendung ausgereift ist, nicht in den Zyklus aufnahm, wenngleich er auch nach dem Erscheinen des Stückes als Theatermanuskript die Buchveröffentlichung betrieb. Im Herbst 1888 nämlich plante er, »Das Abenteuer seines Lebens«, die Neufassung von Anatols Hochzeit¡morgen, den gerade entstandenen Einakter Episode und den Einakter »Erinnerungen« unter dem Gesamttitel »Treue« — ohne den diesen Titel führenden frühen Einakter — herauszugeben. Wegen der abschlägigen Antwort S. F I S C H E R S , der die Sammlung nicht einmal kennenzulernen wünschte, unterblieb die Veröffentlichung 40 . Offenbar hat Schnit%ler die Aufnahme von »Das Abenteuer seines Lebens« in den yl«a/o/-Zyklus immerhin erwogen, da er im Juni 1891, als bereits fünf der sieben Stücke fertiggestellt waren, »Das Abenteuer seines Lebens« erneut prüfte, eine Reihe von Korrekturen anbrachte und sein durchgesehenes Handexemplar mit der Aufschrift »Corrigirte Ausgabe, 24. 6. 91« versah. A m selben 24. Juni 1891 hatte Schnitter mit der Niederschrift des Einakters Anatols Größenwahn, auch »Perlen« genannt, begonnen, der im August abgeschlossen vorlag 4 1 . Es ist möglich, daß der Verleger P I E R S O N , mit dem Schnitter damals in Verhandlungen stand, einen anderen Schluß-Einakter anstelle von Anatols HochXeitsmorgen angeregt hatte. Schnitt/er hielt Anatols Größenwahn für mißlungen und nahm auch dieses Stück nicht in die Buchausgabe auf. Erst Ende 1896, als O S C A R B L U M E N T H A L am Berliner Lessingtheater fünf Stücke des Zyklus' geschlossen mit F R I E D R I C H M I T T E R 38

Aus der unveröffentlichten Autobiographie. Näheres zu dieser Aufführung im Abschnitt Zur Wirkungsgeschichte, S. i8jf. 40 Lt. unveröffentlichter Autobiographie. — Bei dem Einakter »Erinnerungen« handelt es sich um eine vom 22. 2.—22. 3. 1888 erfolgte Neubearbeitung eines bereits ein paar Jahre zuvor verfaßten Dialogs, die ihrerseits Vorstufe des Einakters »Die Stunde des Erkennens« in »Komödie der Worte« von 1915 ist. Eine lockere Beziehung zu den AnatolStücken ist lediglich durch das Treue-Problem gegeben, während Personen, Dialog und Stimmung dieser Szene in keiner Weise an »Anatol« erinnern. 41 Lt. Tagebucheintragung vom 24. 6. und 18. 8. 1891. 39

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in der Titelrolle aufführen wollte, nahm Schnitter den unveröffentlichten Schluß-Akt wieder hervor. M I T T E R W U R Z E R hatte ein anderes Schluß-Stück, »Anatols Tod«, mit der Bemerkung gewünscht: »Warum soll so ein Roué nicht sterben?« 42 . Schnitter schlug Anatols Größenwahn vor, M I T T E R W U R Z E R gefiel allerdings diese Szene nicht. Die Uraufführung des Zyklus' scheiterte dann ohnehin am baldigen Tode des Schauspielers (13. 2. 1897). Der bedeutende Einakter Anatols Größenwahn wurde dann erst 1932 als unverkäufliches Bühnenmanuskript aus dem Nachlaß herausgegeben. Die erste Bufchveröffentlichung erfolgte in dem Auswahlband »Meisterdramen«, 1955. Schnitters Nachlaß enthält noch einige dramatische Entwürfe zum ^«a/oZ-Komplex. Neben dem bereits genannten ursprünglichen Schluß von Anatols Hochzeitsmorgen fand sich ein Dialog-Fragment, »Süßes Mädel«, geschrieben am 14. und 15. März 1892, das unlängst veröffentlicht wurde 43 . Fritzi, ein Wiener Mädel, gelangt in einem fingierten Ballgespräch mit Anatol, bei dem sie sich in die Rolle eines wohlbehüteten Fräuleins der Gesellschaft versetzt, zu schmerzlicher Erkenntnis ihrer eigenen menschlichen und gesellschaftlichen Situation. Fritzi kann als Vorstudie zur Christine in »Liebelei« gelten. Das Anatol-iAA dieser Szene ist das gleiche wie in den übrigen Stücken. Eines der im Nachlaß vorhandenen zahlreichen unvollendeten Dramen Schnit^lers, »Zug der Schatten«, an dem der Autor bis in seine letzten Lebensjahre arbeitete, reicht — charakteristisch für Schnitters Arbeitsweise — in seinen ersten Entwürfen bis in die Anatol-Periode zurück. Der erste, undatierte Plan, eine Inhaltsangabe, in der der spätere Richard noch Anatol heißt, lautet: » Anatol hat ein Verhältnis mit Minni, deren früheren Geliebten er kennt. Dieser weiß nichts davon. Anatol muß sich nun von Rudolf immer von den Freuden jenes Verhältnisses erzählen lassen. Wahnsinnig vor Eifersucht, hört er, wie Minni damals die selben Liebesworte sprach als jetzt. Auch daß sie sich umbringen würde, wenn er sie verläßt. E r verläßt Minni, die sich nun aber wirklich tötet.« Zwei Varianten sind angefügt: »Oder er verläßt sie, lernt ihren künftigen Liebhaber kennen und will ihn quälen, wie Rudolf ihn gequält.« und: »Rudolf heiratet. A m Hochzeitstag nimmt er Anatol unter dem WURZER

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Lt. Tagebucheintragung vom 3. 12. 1896. A. S., Süßes Mädel. Eine bisher unveröffentlichte Anatol-Szene, Forum, IX. Jg., Heft 101, Wien, Mai 1962, S. 220—222. 43

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Arm und spricht von Minni. ,So sehr wird mich keine mehr lieben . . Nun erst verläßt er sie und sie tötet sich.«44 Die Nachlaßmappe »Dramatische Pläne«45 enthält eine kurze undatierte Notiz zu einem Stück »Das letzte Souper« und die Mappe »Pläne« acht flüchtige Exposés, die jedes den Kern einer oder mehrerer Anatol-Szenen bilden. Einer dieser Entwürfe, die bis auf einen früheren aus den Neunziger jähren stammen, lautet: »Ein Gegenstück zu Anatol. Mizzi. Szenen aus dem Liebesleben eines Wiener Mädels. Eventuell eine Szene, wo beide zusammen sind.«46 Der bemerkenswerteste Entwurf zu einem Anatol-Stück aber, der sich im Nachlaß fand, ist die erste, flüchtige Skizzierung einer dreiaktigen musikalischen Komödie, »Anatol als Operettenstoff«, von 1909. Es muß erstaunen, den Dichter siebzehn Jahre nach der Herausgabe des Einakterzyklus' wiederum — oder immer noch — mit dem Stoffe beschäftigt Zu sehen, ein Zeichen, daß dessen Problematik für ihn keineswegs abgetan war 4 7 . Das Exposé zeigt den Versuch, den Bedeutungsgehalt der A na/o/-Einakter in einer äußersten Straffung und Komprimierung auf eine dreiaktige Handlung zu bringen, die in den Zeitraum einer Nacht, vom Polterabend Anatols bis zu seinem Hochzeitsmorgen zusammengedrängt ist. Es handelt sich im Grunde um eine Umarbeitung von Anatols Hoch^eitsmorgen, wobei die hauptsächlichen Geschehnisse der übrigen Akte eingearbeitet und die ursprüngliche Schlußfassung des HochZeitsmorgen mitverwendet werden. Der Entwurf, nur notdürftig durchstrukturiert und offenbar nie wieder aufgegriffen, zeigt eine Reihe von offenen Widersprüchen. So werden die Ereignisse des Gesamtzyklus' teilweise als geschehen vorausgesetzt, ohne ausdrücklich erinnert zu werden, teilweise aber auch abgewandelt oder repetiert oder aber durch andere Geschehnisse ersetzt. Kurz das Gerüst der Handlung, ohne die zahlreichen bereits mitnotierten Nebenstränge und Details 48 : Anatol ist verlobt mit Fellah, die sich aber in den Dichter Calmon verliebt hat. (Diese beiden Figuren — Fellah allerdings unter 44 Aus dem Nachlaß, Mappe 225: »Zug der Schatten. Pläne und Manuskripte«. (Maschinenschrift; lediglich der letzte Satz der 2. Variante ist ein handschriftlicher Zusatz.) 45 Nachlaß, Mappe 212. 16 Nachlaß, Mappe 216. 47 Möglich, daß vor allem die Vorbereitung der Uraufführung des Anatolzyklus' am Deutschen Volkstheater Wien, die damals bereits im Gange war, die Aufmerksamkeit Schnitzlers wieder auf den Anatol-Stoff gelenkt hatte. 48 Zur Interpretation dieses Entwurfs vgl. S. 175. dieser Ausgabe.

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dem Namen Alexandra — entstammen der ursprünglichen Schlußfassung des Hochzeitsmorgen.) Auf dem Polterabend »treffen eine Menge früherer Flammen Anatols zusammen«, und zwar sämtliche sieben Frauen der sieben Einakter des Zyklus': Cora, »das süße Mädel, das eventuell indessen einen Handwerker, Buchhalter, Klavierspieler geheiratet hat«, Gabriele, »die von Anatol vergeblich angebetet wurde«, Bianca, »die Anatol nicht erkennt«, Emilie, jetzt verheiratet, Annie, »die jetzt Barfußtänzerin sein könnte«, Else und Ilona, »seine letzte Geliebte«. Zur Feier des Abends wird ein Cabarett veranstaltet. »Die Stimmung des Aktes. Anatol entschlossen zu heiraten, nicht aus Geldrücksichten, sondern weil ihm nur das fehlt. ,Auch die Ehe kann ein Abenteuer sein, vielleicht das interessanteste'. Im Laufe des Abends aber befällt ihn immer heftiger die Angst vor dem, was ihm bevorsteht.« — Der zweite A k t : eine an den Abend anschließende »Redoute (Narrenabend)«. (Es ist Karneval.) Zusammentreffen und Verabredung mit Ilona. Dann aber erscheint Gabriele. »Er vergißt alles, er will mit ihr fort, in die Welt. [. . .] Fellah erkennt Anatol, dadurch wird es Calmon leicht, sie zum Durchgehen zu bestimmen. [. . .] Anatol müßte auch nachträglich von Elses Mann gefordert werden, der immer verspätet die Liebhaber seiner Frau entdeckt.« — Dritter Akt: »Bei Anatol. Morgen. [. . .] Ilona kommt, etwas angeheitert, zum Diener: Machen Sie auf. [. . .] Ilona geht ins Nebenzimmer, schlummert ein. Dann erst Gabriele mit Anatol. Nur einen Augenblick. Sie will gehen. Endlich ist er daran, sie ins Schlafzimmer zu ziehen. E s ist versperrt. [. . .] E r klopft. Was hat das zu bedeuten? E r bricht die Türe ein. Da liegt eine Frau. Gabriele stürzt davon. So wache wenigstens auf. Sie wacht nicht auf. Jetzt wird es Morgen. Max kommt mit seinem Bouquet. Endlich wacht Ilona auf. Ha, zur Hochzeit. Elenderl Dann eventuell der Gemahl Eisens mit der nachträglichen Forderung. Nun kommt entsetzt und geängstigt der Vater Fellahs: Meine Tochter ist fort mit Herrn Calmon. Verzeihen Sie mir. E s war ein Traum. Nun, Ilona, so reise ich mit dir.« 49 Schließlich birgt Schnitzlers Nachlaß noch den Plan zu einer Anatol-Novelle aus den Neunzigerjahren und zwei mit »Anatol« unterzeichnete Gedichte, »Beträchtlich stört mein junges Liebesglück . . .«, entstanden am 17. 7. 1889 50 , und »Sie«, entstanden im August desselben Jahres. 49

Anatol als Operettenstoff, 27. 2. 1909; aus dem Nachlaß. Abdruck dieses im Heine-Ton verfaßten Gedichts, das die Wesensart der Anatol-Gestalt besonders treffend spiegelt, im Anhang dieser Ausgabe. Schnitzlers Anatol-Gedichte können wegen seiner — freilich nicht vor60

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Gattungsgeschichtliche Einordnung Aus der veränderten Auffassung vom Ich erwächst in Schnitters Anatol eine adäquate Form des Dramas, die sich von den überkommenen Mustern sehr deutlich abhebt. Mit der Auflösung der Ich-Identität besteht das Leben eines Individuums nicht mehr in einer kontinuierlichen Entwicklung der in seiner unveränderlichen Substanz gelegenen Möglichkeiten, sondern in einer Aneinanderreihung weitgehend voneinander unabhängiger episodischer Lebensmomente, die von einer befristeten Empfindung, einer Impression, einer Stimmung getragen sind und sich mit diesen wandeln. Und so, wie sich das Leben eines Menschen aus »Episoden« zusammensetzt, reiht eine dramatische Dichtung, die ein solches Leben darstellt, eine Folge episodischer Szenen aneinander. Mit dem Schwinden des kontinuierlichen Individuums, des einheitlichen Charakters, wird das geschlossene, psychisch-kausal motivierte, linear verlaufende mehraktige Drama problematisch, ja unmöglich. Wo kein Ich-Kontinuum, dort kein Handlungs-Kontinuum. Die angemessene dramatische Gestaltung eines episodischen Lebens leistet am ehesten der Einakter oder, in einer Reihung von Szenen, die nicht auseinander entwickelt werden, sondern statisch nebeneinander stehen, der locker gefügte Einakter-Zyklus. Neben der Desintegration des Ichs ist es seine Vereinzelung, die eine Krise des traditionellen Dramas heraufführt, der eine Reihe von Dramatikern gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der Form des Einakters zu begegnen suchen: S T R I N D B E R G , Z O L A , M A E T E R LINCK, HOFMANNSTHAL, WEDEKIND U . a. So auch Schnitter. P. S Z O N D I weist u. a. am Beispiel S T R I N D B E R G S und M A E T E R L I N C K S nach, daß nach der Veränderung des Grundverhältnisses des Ichs zur Mitwelt, der Störung des »zwischenmenschlichen Bezuges« 51 , in dessen Wiedergabe das klassische Drama wesentlich bestanden hatte, der Einakter diejenige dramatische Form sei, die Theater trotz Vereinzelung und Vereinsamung des Menschen möglich mache; das bedeute freilich »die Ersetzung der Kategorie der Handlung durch die der Situation«52. Der dramatische Gegensatz verlagert sich aus dem zwischenmenschlichen Bereich ins Innere eines Ichs, das dann als zentrale und isolierte Gestalt ohne schicksalhaft-äußere Kämpfe, ja ohne wirkliche Begegnungen in der erlittenen Situation der Unfreiheit, der Skepsis, der Trauer, die zu keinerlei Handlung und Entwicklung mehr führt — M A E T E R L I N C K S behaltlosen — zeitweiligen Selbstidentifizierung mit der Anatol-Figur nicht völlig eindeutig als Rollengedichte bestimmt werden. »Anatol« ist hier auch Pseudonym für den Autor. 51 Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas, Frkf. a. M. 1959, S. 12. 52 Ebd., S. 48.

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»drame statique« — sich selbst ausspricht 53 . Auch die vielgeriihmte Konversation in Anatol hat ja wenig mehr zu schaffen mit dem klassischen dramatischen Dialog als dem Medium der Auseinandersetzung eines Ichs mit einer metaphysischen, sittlichen oder sozialen Gegenwelt, sie ist vielmehr weitgehend ein, freilich häufig unterbrochener, Monolog des »Helden«. Neben den Frauen, die als Gesprächspartner zufällig und austauschbar sind, fungiert selbst Max, der über seine Rolle auch selber sehr wohl Bescheid weiß, meist als der bloße Zuhörer, vor dem sich Anatol ausspricht und der mit knappen Einwürfen dessen Aussprache weitertreibt, mitunter allerdings als klärender Kommentator, entlarvender Bewußtmacher, aber auch dies eher im Sinne eines alter ego. E r ist nie der ebenbürtige Widerpart, der Gegenspieler im Sinne dramatisch-zwischenmenschlicher Spannung. Vom episch-monologischen Drama, wie Anatol, ist es dann nur noch ein unbedeutender Schritt zur monologischen Novelle in der Art des »Leutnant Gustl«. S T R I N D B E R G S Weg führt vom Einakter zum Stationendrama. Die einzelnen Szenen markieren Stationen der inneren Entwicklung. Zwischen den von Szene zu Szene wechselnden Mitgestalten und der Hauptfigur stellt sich auch hier keine Wechselbeziehung her. Nicht die Aussprache mit ihnen treibt das Stück voran, sondern die Dynamik der subjektiv-inneren Entwicklung des Helden. Wenn Schnitter mehrere Einakter mit derselben zentralen Figur zu einem Zyklus zusammenfügt, könnte man zunächst eine ähnliche Intention vermuten. Aber obwohl beide Autoren als Verfechter einer subjektiven Dramatik durchaus miteinander verwandt sind, zeigt bereits die beinahe beliebige Vertauschbarkeit und Reduzierbarkeit der Akte des Anatol, daß es nicht um einen Weg mit Stationen geht, sondern um Ausschnitte aus einem Leben, das keineswegs in Stadien zu einem Ziele hin verläuft, folglich auch keine markanten Kehren aufweist, sondern allenfalls Zustandsnuancen bietet. Nicht Entwicklung oder gar Steigerung bestimmen den dramatischen Vor63 Vgl. die treffende Charakteristik und den unberechtigten Tadel Hermann Bahrs: »Man dramatisiert Zustände, indem man Menschen in sie bringt, die sich ihnen widersetzen, dort wo sich die Menschen mit ihnen entzweien, fängt das Drama erst an. Aber seine [d. i. Schnitzlers] Menschen, die nichts wollen, sitzen unbeweglich in ihren Zuständen drin, wie Chamäleons, die immer die Farbe ihrer Umgebung haben; so kann man sie nicht sehen, sie bleiben grau, traurige, aber nicht tragische Personen, und er scheint nicht zu wissen, daß der Mensch erst, wenn er sich aus seinem Boden löst, von den anderen abhebt und seine eigene Farbe annimmt, daß er im Streite und durch die Tat erst dramatisch wird. Das hat er noch zu lernen.« (Wiener Theater [1892—1898], Bln. 1899; hier zit. n. H. Kindermann, Hermann Bahr, Wien 1954, S. I42f.).

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gang, sondern das Prinzip der Iteration. Nicht nur sind die einzelnen Akte des Zyklus' in sich statisch strukturiert, der ganze Zyklus ist es in seiner ständigen Variation des sich im Inneren des Helden vollziehenden dialektischen Wechselspiels von Illusionierung und Entlarvung, das zwar ständig im Gange ist, aber niemals von der Stelle kommt. In der Typenkomödie des 18. Jahrhunderts wurden menschliche Laster und Schwächen verlacht und korrigiert mit dem Blick auf eine absolute Wertsphäre, für die Glaube, Vernunft oder das innere Gefühl bürgten. Mit der Romantik ist der Bruch vollzogen, und es sind hinfort lediglich immanent-relative Wertsetzungen, an denen moralisches Versagen gemessen werden kann. Von zwei Lebensmöglichkeiten, die im dramatischen Konflikt gegeneinanderstehen, ist die eine die relativ wahrere, beide aber sind zeitbezogen und ohne absolute Eindeutigkeit. Während aber nun die naturalistische Komödie, z. B. G . H A U P T M A N N S , das Individuum noch in der aktiven Auseinandersetzung mit den Mächten der Gesellschaft zeigt, gewinnt um die gleiche Zeit der Typus der völlig passiven Dramenfigur Bedeutung, die lediglich leidend den gegebenen Weltzustand hinnimmt, ihn allenfalls, mehr klagend als anklagend, formuliert. So schreibt B. B L U M E : »Noch bei Ibsen werden Zustände, deren Brüchigkeit durchschaut wird, bekämpft; bei Schnitter werden sie glossiert. Wer zu degoutiert ist, um mitzuspielen, wird Zuschauer« 54 . Indessen bewahrt der Rückzug auf das eigene Ich nicht vor aller Auseinandersetzung. Zwar letztes Residuum eines relativ wahren Lebens, bleibt doch die individuelle Existenz, die ja nicht beziehungslos und isoliert vom korrumpierten Weltzustand verharren kann, ständig dessen Wirkungen und Adaptionsversuchen ausgesetzt. Wo der Kampf aufgehört hat, droht die Überwältigung, es sei denn, der permanente Protest wird durchgehalten, auch gegen die Versuchung der eigenen Person, sich dem allgemeinen Zustande anzupassen. So wird denn in den subjektiven Einakterkomödien des A.natol-Zyklus' weder moralisches Unvermögen an einem unbedingten Sittengesetz gemessen und belacht, wodurch sich das Gesetz bewähren würde, noch wird von einer eigenen, festgegründeten individuellen Position von zumindest relativer Wahrheit aus der unwahre Weltzustand bekämpft, vielmehr trägt das Individuum selbst in seinem Innern eine Spannung aus zwischen relativer Wahrheit und der Lüge. Die Komik in Anatol gründet in der Spannung zwischen einer illusionären und einer wahrhaftigen Lebensform. Statt absoluter Wahrheit ist es die individuelle WahrM B. Blume, Das nihilistische Weltbild Arthur Schnitzlers, Diss. Stuttgart 1936, S. 53.

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haftigkeit, die als letzte sittliche Forderung empfunden wird. Komisch wirkt alsdann jedesmal das Ausweichen, die Flucht in die Illusion und, als Entsprechung, ihre Entlarvung, genau: die ständige dialektische Verknüpfung von Illusion und Wirklichkeit. — Hält man nach Vorläufern des modernen Einakters Ausschau, so findet man die statisch strukturierte Kurzszene und die für die Einakterfolge charakteristische Reihungstechnik bereits in den Passionsspielen und Totentänzen des späten Mittelalters, den Fastnachtsrevuen aus der Zeit des H A N S S A C H S , den »Historien« S H A K E S P E A R E S und seiner Vorläufer, den Stücken von L E N Z , in G O E T H E S »Faust« und B Ü C H N E R S »Woyzeck« 55 . Wesentliche Strukturmerkmale des modernen Einakters erscheinen besonders deutlich im deutschen Melodrama vorgebildet, das zumeist ein Monodrama ist und seine Blütezeit in den 70 er Jahren des 18. Jahrhunderts hatte 56 . Titelgestalt ist in der Regel ein in die Vereinzelung geratenes Individuum, zumeist eine nur noch passiv das Schicksal hinnehmende leidende Frau, die, längst zum Tode entschlossen, ein letztes Mal in der Erinnerung an die Zeit vor dem Unheil ihre Klage hinausruft. Die Monologe haben teils lyrischen, teils epischen Charakter. A n die Stelle dramatischer Konflikte und Aktionen ist die Reflexion getreten, aber eine solche, die meist nicht zu neuer Handlung führt, sondern lediglich letzte Klarheit über die eigene hoffnungslose Situation schafft und in das Erlöschen der eigenen Existenz einmündet. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt dann allmählich eine Blütezeit des Einakters ein, dessen Verbreitung bei stetig sinkendem Niveau im Laufe des Jahrhunderts ständig zunimmt. Von künstlerischer Bedeutung sind nur wenige, darunter in Frankreich die Proverbes dramatiques, vor allem von L E C L E R C Q und D E M U S S E T , in Österreich Possen N E S T R O Y S und Komödien B A U E R N FELDS. 55 Vgl. H. Vriesen, Die Stationentechnik im neueren deutschen Drama, Diss. Kiel 1934. — Entgegen den gen. Werken handelt es sich bei Dichtungen wie J. E. Schlegels »Die stumme Schönheit«, Lessings »Philotas«, Goethes »Die Geschwister« und bei den ungezählten Schäferspielen nach dem Muster von Goethes »Die Laune des Verliebten«, einaktigen Stücken aus der Mitte und der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, eher um Kurzformen des traditionellen, ganz auf Entwicklung und durchgängiger Aktion gegründeten Dramas. 56 Das deutsche Melodrama geht auf ein französisches Vorbild zurück, Rousseaus »Pygmalion« (1762), setzt mit Johann Christian Brandes' »AriacLne auf Naxos« (177}) ein und hat seinen Höhepunkt in Goethes »Proserpina« (1778). Vgl. I. Raffelsberger, Das Monodrama in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Diss. Wien 1954.

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Aber nicht nur von der deutschen und französischen Einakterkomödie führt eine Linie zu Schnitters Anatol. Dramaturgischen und gehaltlichen Lehrstoff boten ebenso die mehraktigen Lustspiele und Possen der genannten deutschen Autoren und nicht zuletzt das französische Konversationsstück des 19. Jahrhunderts. Ein wohl durch B A U E R N F E L D vermittelter Einfluß ging auf den frühen Schnitzler von der Bühnengewandtheit A U G U S T V O N K O T Z E B U E S (1761—1819) aus, seinem Talent einer effektsicheren Dramaturgie und witzigen Dialogführung und seinem Gespür für Atmosphärisches. So gibt K O T Z E B U E Z . B. den Wiener Lokalkolorit in »Die beiden Klingsberg« (1801) vortrefflich, einem Stück, das auf E D U A R D V O N B A U E R N F E L D (1802—1890) eingewirkt hat, dem in seinen Gesellschaftsstücken aus der Welt des liberalen Großbürgertums mit ihren gelösten, pointenreichen und doch sparsamen Dialogen erstmals die später für Schnitzlet so charakteristische Mischung von Wiener und Pariser Wesensart gelingt. Bei B A U E R N F E L D gibt es auch bereits den exzentrischen Lebemann, der aber bezeichnenderweise — wie Baron Hohenberg in »Krisen« (1852) — schließlich zum bürgerlichen Leben einlenkt, ein »kleines Gütchen« ankauft und den Zustand der »Einfachheit«, »Natur« und »Wahrheit« gewinnt. Die Krisen erscheinen noch als private, als temporär und sekundär. Wichtig wurden für Schnitzler auch die Possen J O H A N N N E S T R O Y S (1801—1862), in denen abgrundtiefe Skepsis und Melancholie zu einer exzessiven Lebenslust in einem spannungsreichen Gegensatz stehen, darin den Zauberspielen F E R D I N A N D R A I M U N D S (1790—1836) verwandt, der freilich der Unerträglichkeit des Daseins in der Illusion des Märchens glaubt entkommen zu können, während die Posse N E S T R O Y S , deren Eklats die ständigen Kurzschlüsse in einer verkommenen Welt satirisch nachzeichnen, die Wirklichkeit in einer kritischen Haltung, die vom tadelnden Verlachen bis zum hoffnungslosesten Zynismus reicht, zu bestehen sucht. Beide Positionen finden sich, in ständigem Widerstreit miteinander begriffen, in der dramatischen Struktur von Anatol wieder. Aus der nichtdramatischen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts dürften für den jungen Schnitzler am folgenreichsten die melancholische Ironie H E I N E S , aus der des späteren 19. Jahrhunderts die weltmännische Skepsis M A U P A S S A N T S gewesen sein. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts beginnen Einakterlustspiele französischer und deutscher Provenienz die Bühnen der europäischen Großstädte, so auch die Wiens, zu überfluten. Teilweise ist hier die dramatische Kurzform bereits Ausdruck eines impressionistischen Lebensgefühls und Kunstempfindens, meist jedoch führten rein kommerzielle Überlegungen zu der gefälligen, ii»

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Vielfalt und Abwechslung versprechenden Kurzform des Dramas. Nur stellvertretend seien für den französischen Einakter — häufig eine Fortführung der Bluette und des Proverbe — die Namen HENRI MONNIER, OCTAVE FEUILLET u n d GEORGE COURTELINE,

für

den Wiener Einakter S I E G M U N D S C H L E S I N G E R und J U L I U S R O S E N genannt. Vor allem aber feierten während der Lehrjahre des jungen Schnitzer die mehraktigen französischen Konversationsstücke von sehr unterschiedlichem Niveau auf den Wiener Bühnen, gerade auch im Hofburgtheater, Triumphe. Die erfolgreichsten Salonkomödien und Sittendramen, die auf den Szenenaufbau, die Figuren, den Dialog und die Atmosphäre von Anatol einigen Einfluß gehabt haben mögen, stammen von Autoren wie S A R D O U , D U M A S - F I L S , P A I L L E R O N , A U G I E R , O H N E T , M E I L H A C , H A L É V Y U. a .

Schnitter selbst hat einmal in einem Interview Anatol eine reine »Lesefrucht« genannt, die in »gerader Linie« von den französischen Novellen und Komödien abstamme, die er in den 80 er Jahren gelesen habe 57 . Den Einfluß der Dialognovellen von H A L É V Y , »Monsieur et Madame Cardinal«, auf Anatols Hocb^eitsmorgen hebt er in seiner Autobiographie hervor 58 . In dem genannten Interview äußerte er ferner, er habe nicht die geringste Absicht gehabt, mit Anatol zur österreichischen Komödienliteratur etwas Originales und Bedeutsames beizutragen und habe dem Helden seinen Namen in der Erinnerung an gewisse gefällige Pariser Komödien gegeben 59 . Trotz Schnitters eigener, wohl zu bescheidener Herleitung ist Anatol mehr als eine bloße Übertragung des Esprits und der witzigen Frechheit und Frivolität der französischen Boulevardkomödie ins Wienerische. Seiner ganzen Struktur nach setzt mit dieser Einakterfolge in der österreichischen Dramatik etwas völlig Neues ein. Dieser Zyklus muß als das erste Zeugnis des modernen öster57 Leipziger Abendpost v. zo. 1 1 . 1925. In Auszügen abgedruckt bei O. P. Schinnerer, The Early Works of A. S., Germanie Review, Vol. IV, 58 192g, p. 195. Vgl. S. 152. 69 Vgl. Schinnerer, a. a. O. Dieser nennt im Anschluß an Arnold, Das moderne Drama, Straßburg 1912, S. 237 als Vorläufer Schnitzlers die Franzosen Lavedan, Dormay, Marni und den Italiener Bracco. Für »Anatol« aber kommt von diesen allenfalls Maurice Donnay mit »Eux« (1889) und Jean Marni mit »Amour coupable« (1889) in Frage. Schinnerer nennt ferner die Dialoge der Gyp, »Autor du marriage« (1883). Fr. Kainz weist außerdem hin auf Paul Hervieu, den Italiener Marco Praga, sowie auf Henri Monniers »Scènes populaires« (1830—62) (Nagl-Zeidler-Castle, Deutsch-österr. Lit.-Gesch., Bd. IV, Wien 1937, S. 1750). — Der Name »Anatole« ließ sich nachweisen in der Szene »La Grande Dame« in den genannten »Scènes populaires« von Monnier. Dort trägt ihn ein junger Lebemann. Ferner stand am 1. 3. 1883 auf dem Spielplan des Theaters an der Wien das Stück eines gewissen Poirson, »Berangère et Anatole«.

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reichischen Theaters gelten und stellt den Anschluß an die Entwicklung des modernen europäischen Dramas her. Z u r A n a l y s e der Stücke schreibt 1894 mit dem Blick auf die AnatolGestalt: »Der Mensch des Schnitter ist der österreichische Lebemann. Nicht der große Viveur, der international ist und dem Pariser Muster folgt, sondern die wienerisch bürgerliche Ausgabe . . ,« 60 . Aber dieser unstete, unnaive, feinnervige und melancholische, leichtsinnige und schwermütige Spättypus mit seiner halbwahren Lebensproblematik hebt sich klar ab von der Suite der mittelmäßigen Flaneurs à la Baron Diebl, die die Wiener Salons und Cafés des Fin de siècle bevölkerte. A.natol ist in seiner aristokratischen, metaphysischen und sozialen Vereinzelung, mit seinem Ennui, seiner kultivierten Morbidezza, der Selbstinszenierung und -Stilisierung eines nervösen Ästhetizismus die wienerische Spielart des Dandys, genauer, seiner nihilistischen Verfalls- und Endform, des décadents, völlig unheroisch freilich, bürgerlicher, gemütlicher als die westeuropäischen Muster. In diesem Typus kulminiert einstweilen der Nihilismus, denn die impressionistische Lebensform des Anatol ist Folge und Ausdruck des allgemeinen Wertzerfalls, in dem sich die traditionelle metaphysische, sittliche und gesellschaftliche Ordnung, aber auch die geschlossene Personalität des Individuums zersetzt hat. Der Impressionismus wiederholt mit dem chaotischen Verfließen von Innen und Außen in einem Prozeß ständigen Wandels der das Ich konstituierenden Lebensmomente und der Welt, die nichts weiter ist als dessen Eindruck, die Situation des Barock in ungeahnter Zuspitzung. Die Scheinhaftigkeit und Unbeständigkeit einer von den launischen Wechselfällen der Fortuna regierten, aus der Ordnung geratenen Welt hatte auch im Barock zur Lebensform des sich an den Augenblick und seine Reizfülle verlierenden Abenteurers verlockt 601 . Aber die absolute Wertsphäre als verbindliches Richtmaß war intakt geblieben und hatte Rettung ermöglicht. Jetzt aber steht das Ich ohne jede Begrenzung völlig orientierungslos in dem unheimliche«, aber auch berauschenden Leben, jener dunklen und gewaltigen Macht, die N I E T Z S C H E und B E R G S O N verkündeten, und die sich dem Menschen in verführerischen Augenblicken der Steigerung in ihrer Ganzheit und Fülle glückhaft zu erschließen schien. HERMANN

BAHR

60 Hermann Bahr, Studien zur Kritik der Moderne, Frankfurt a. M. 1894, S. 82. 60a Auf die Verwandtschaft der Anatol-Welt mit dem Rokoko, der Spätphase des Barock, weisen die Einleitung von Loris und die Umschlagzeichnung zur Einzelausgabe von Th. Th. Heine.

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Diese Offenbarung des Lebens als eine Möglichkeit absoluten Glücks, die ihn zum Gott macht, sieht Anatol im Abenteuer der Liebe. In diesen lebendigen, unsterblichen Stunden glaubt er das Gefängnis seiner Vereinzelung zu sprengen und teilzuhaben an der ungeteilten und ewigen Ganzheit des Lebens, erlöst von aller Beschränkung des individuellen Daseins in seiner psychisch-gesellschaftlichen Bedingtheit. Der Ungestüm, mit dem diese Entgrenzung ersehnt und betrieben wird, erscheint bei Anatol freilich bereits gebrochen. Ihm ist nicht der unreflektierte und unkomplizierte Enthusiasmus gewisser Abenteurer H O F M A N N S T H A L S (»Der Abenteurer und die Sängerin«, »Cristinas Heimreise«) zu eigen, vielmehr stört tiefe Skepsis die Unmittelbarkeit des Erlebens. Z u oft hat Anatol erfahren müssen, daß das große Abenteuer, das Ewigkeit verhieß, sehr rasch allen Glanz verlor und in Schalheit und Überdruß endete, daß jedes neue Leben alsbald wieder in der Agonie verging. Also steht mir das wieder einmal bevor — dieses allmähliche, langsame, unsagbare traurige Verglimmen ? — Du ahnst nicht, wie ich davor schaudere — ! (69), klagt Anatol gegenüber Max. Beide wissen, daß es das Tödliche ist, das Anatol hier erlebt, denn jedes Verlöschen einer Liebe ist Hinweis auf die Vergänglichkeit überhaupt, ist Sterben. Dies ständige Entgleiten des Lebens entspringt der Diskontinuität, der Gespaltenheit und Unbeständigkeit des impressionistischen Menschen, dessen Eigenart, Ansichten und Wünsche immer neuem Wandel unterworfen sind. Der alternde Anatol grübelt: Ich denke, wie es gar keine Möglichkeit gibt, sich sicjier zu fühlen! Wir wissen nämlich, wenn wir eine Frau noch so gut kennen, doch immer nur, wie sie uns liebt [. . .]. Sie betet vielleicht zugleich einen andern an, als eine ganz andere . . . Max wirft ein, dann spiele sie also eine zweite Rolle. Darauf Anatol: Spielt ? — Ist!! — Die Weiber bilden sich ja selbst nur ein, daß sie Komödie spielen, weil sie sich verwundern, bald so, bald anders zu se'nEs ist häufig gar keine Spur einer Komödie dabei. — Sie lügen nicht einmal so oft, als wir glauben . . . die Wahrheiten wechseln nur für sie mit jeder Minute . . . (100) Das gilt für den Menschen schlechthin. Max bedeutet Anatol, der plötzlich eine ihm gleichgültig gewordene Geliebte wieder anzubeten wähnt: Dafür gibt es eine sehr einfache Erklärung, die nämlich: Daß du sie wirklich anbetest — in diesem Augenblick! (72) Mit den Augenblicksempfindungen, den Impressionen, wandelt sich das Ich samt seinen Wahrheiten: Anatol: Hast du übrigens etwas dagegen, wenn ich das Gegenteil von dem behaupte, was ich vor einer Minute sagte ? Max: Oh, ich erwartete es! (99) Aber nicht nur Beständigkeit und Gewißheit bleiben dem impressionistischen Menschen versagt, er gelangt auch nicht zur

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wahren Vereinigung mit dem Du. So, wie er sich selber in der Wandlung entgleitet, so auch dem anderen und dieser ihm. Auch das Erlebnis der Liebesvereinigung ist daher Täuschung und Selbsttäuschung. Der alte Anatol gesteht es sich ein: auch im scheinbar innigsten Einverständnis war nichts als Fremdheit. Das Ich, so deutet es Max bereits in Episode an, projiziert seine Empfindung in sein Gegenüber; das Du erschließt ihm nicht die gesteigerte Wirklichkeit, denn dieses Du ist ja in diesem Augenblick sein eigenes Produkt und lediglich Medium der Selbststeigerung und des Selbstgenusses, und zwischen den scheinbar gemeinsam Erlebenden bleibt, wie es Anatol später ausdrückt: die ewige, verständnislose . . . Fremdheit. (114) Mangelnde Naivität, ein überwaches Bewußtsein, permanente Selbstbeobachtung und eine nervöse Hypochondrie, die selbst d i e Gefühle zersetzt, die einen Anflug von Wahrheit haben, und das Nichtvergessenkönnen verwehren dieser problematischen Abenteurernatur das erlösende Erlebnis. Reflexion verdirbt bereits im vorhinein ein jedes Abenteuer, das die Ganzheit und Fülle des Lebens aufschließen soll: Anatol: . . . Das Episodenhafte der Geschichte kam mir so deutlich Bewußtsein. Während ich den warmen Hauch ihres Mundes auf meiner Hand fühlte, erlebte ich das Gan^e schon in der Erinnerung. Es war eigentlich schon vorüber. (40) Der impressionistischen Lebensform und dem Glück, das von ihr im Abenteuer erwartet wird, widerstreitet ferner das Unvermögen, vergessen zu können, jenes Mitschleppen alles Vergangenen, das nach N I E T Z S C H E die Unmittelbarkeit des Lebens verstellt. Alles frühere Erleben ist weder in Vergessenheit gesunken, noch einer kontinuierlichen Person integriert, es hat sich, etwa im Sinne von F R E U D S Verdrängung, zur unverarbeiteten Last gehäuft. Diese Vergangenheit beginnt nun zu vermodern, und die Folge ist — so Max zu Anatol — : daß auch um die gesundesten und blühendsten Stunden deines Jetzt ein Duft dieses Moders fließt — und die Atmosphäre deiner Gegenwart unrettbar vergiftet ist. (71) Diese sentimentalische Gebrochenheit läßt Anatol das Glück jener Gesunden, Naiven, Nicht-Reflektierenden ersehnen, für die jedes Stück Leben ein neuer Sieg ist, die spielend im Erleben selbst überwinden, die keine Erkenntnis und damit keine Ernüchterung bedrängt, nicht der Blick ins Nichts. Denn das ist es vor allem, was Anatol,

der ja fortwährende Selbstbeobachtung und -Zergliederung

treibt, spürt und mitunter zu wissen wagt: Was zunächst als Fülle der Wandlung erschien, als immer neue zur Totalität sich fügende Offenbarungen des Lebens im Abenteuer, das ist in Wahrheit die Leere der Wiederholung, entsprungen dem vergeblichen Wunsche,

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die Einsamkeit zu überwinden, ist Flucht vor der Vergänglichkeit, ist die Angst des Sterbens. (70) Diese Einsichten, die Anatol nie ganz abtun kann, machen ihn zum Melancholiker und heben ihn von den unkomplizierten, gut gelaunten und albernen Roués um ihn her ab, denen er verstimmt entgegenhält: Ich war nie fidel! Es ist die Grundempfindung des Ennuis und der Trauer, mitunter wohl auch des Zynismus' und der Verzweiflung, in der er diesem Leben ohne objektive Ideen, Bindungen und Gesetze in einer entgötterten Welt Vereinzelter begegnet. Aus dem Bewußtsein völliger Ungesichertheit und ständigen Wandels erwächst als ein leiserer Begleitton zu der schwermütigen Klage der Ausdruck der Sehnsucht nach Festigkeit, Beständigkeit, Treue, der auch in den scheinbar frivolsten Szenen nicht ganz schweigt. Die Nichtigkeit des Lebens macht für Anatol und seinesgleichen jede planvolle Tätigkeit sinnlos, denn Arbeit entspringt dem Verlangen nach Verwirklichung von Werten. Die Vereinzelung und Unfähigkeit zur Gemeinschaft stilisiert er zu einer Attitüde des Aristokratismus' des Leidens, die, als ästhetische Formung des eigenen Ichs, Trost ist. Wenn Anatol als seine Maxime ausspricht: Ich mache nichts, wie gewöhnlich ! (25), so meint das wohl nicht bloße Bummelei, sondern es ist hier, wenn auch nur entfernt, noch etwas vom stoizistischen Aristokratentum des klassischen Dandys spürbar, von dem O. M A N N sagt: »Der wahre Dandy realisiert nicht. Er wird . . . betonen, daß er nichts wolle und nichts mehr verachte, als ein nützlicher Mensch zu sein. Da die Menschen zu sehr im Begriff sind, bloß nützlich zu werden, Kraftsummen und berechenbare Faktoren in einem wirtschaftlichen Getriebe, wünscht sein Sondergefühl seine Würde als Kulturwesen, als Selbstwert unangetastet; und indem er in dieser Welt nicht realisiert, protestiert er gegen deren fortschreitende Entseelung.« 61 Wenn Anatol ferner bekennt, ihm fehle das Bedürfnis, gesund und stark zu werden, wie es ihm Max ironisch anrät, und fortfährt: Es gibt so viele Krankheiten und nur eine Gesundheit — ! . . . Man muß immer genau so gesund sein wie die andern — man kann aber ganz "»ders krank sein wie jeder andere! (71), so spricht sich darin nicht bloße Eitelkeit aus. Vielmehr bekundet sich hier ein Empfinden, daß gegenüber der platten Gesundheit der Masse die Krankheit als letztverbliebenes principium individuationis einzig noch einen Rest humanen Lebens in der nivellierten, zur Banalität, Versachlichung 61 Otto Mann, Der moderne Dandy. Ein Kulturproblem der Moderne, Heidelberg 1962, S. 44.

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und Funktionalisierung entarteten Gesellschaft verbürge. Nach dem, was im Namen der Gesundheit geübt wurde, weiß man, daß sie, wie auch der reine Aktivismus, ohne geistiges Wertsystem in der Barbarei endet. Und dennoch ist Anatols Haltung zum größten Teil Pose und entspringt weit weniger heroischem Trotz als dem Wunsche, die wahre Lage zu verschleiern. Anatol sieht nur in seltenen Momenten klar. Nirgends hat er seine Situation wirklich auf sich genommen. All sein Sinnen, Sprechen und Handeln besteht in kaum etwas anderem als dem Versuch, die Erkenntnis des Nichts zu verdecken, sich der vernichtenden Wahrheit zu entziehen. Anatols Leben ist eine fortgesetzte Flucht in die Illusion. Obgleich seine intellektuellen Kräfte, meist gegen seinen Willen, fortwährend auf kritische Bewußtmachung gerichtet sind, gelingt es ihm häufig genug, seine Klarsicht zu trüben und aus der schwer erträglichen Leere und Langeweile der Wirklichkeit in eine selbstverfertigte Scheinwelt zu entkommen. Medium dieser forcierten Selbsttäuschung, dieses halbbewußten Selbstbetrugs ist die Stimmung, die K I E R K E G A A R D als das Element einer ästhetischen Existenzweise in ihrem Zusammenhang mit der impressionistischen Lebensform beschrieben hat: »In der Stimmung ist die Persönlichkeit [. . .] zugegen, aber sie ist dämmernd zugegen. Wer ästhetisch lebt, der sucht nämlich, so sehr es nur möglich ist, in der Stimmung ganz und gar aufzugehn, er sucht sich ganz in ihr zu bergen, so daß in ihm nichts übrig bleibt, das nicht mit in die Stimmung hineingebeugt werden könnte, denn solch ein Rest wirkt stets störend, und ist ein Fortdauerndes, das ihn zurückhalten möchte. Je mehr also die Persönlichkeit in der Stimmung hindämmert, um so mehr ist das Individuum dem Augenblick hingegeben, und dies wiederum ist der zutreffendste Ausdruck für die ästhetische Existenz: sie ist im Augenblick.« 62 In den von der »Stimmung« getragenen »zusammenhanglosen Einzelerlebnissen« ( K I E R K E G A A R D ) weicht Anatol der Wirklichkeit aus, die in der Stimmung gleichsam aufgelöst wird, und taucht ein in die Illusion der lebendigen Stunden und weigert sich, die Wahrheit, selbst da, wo sie erreichbar wäre, anzunehmen, weil ihm seine Illusion doch tausendmal lieber ist als die Wahrheit. (21) Die Stimmungen, deren Anatol bedarf, damit zumindest zeitweise die entlarvende Reflexion aussetze, sind nun auch keineswegs ursprünglich, sie sind manipuliert. Die grün-rote Ampel, Symbol des süßen und illusio62 Sören Kierkegaard, Entweder/Oder, Zweiter Teil, übers, v. Emanuel Hirsch, Düsseldorf [1957], S. 244f.

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nären Stimmungszaubers, Halbdunkel, leises Klavierspiel usw. sind die atmosphärischen Voraussetzungen für das Gelingen des Arrangements, für das Aufkommen des »halben, heimlichen Empfindens« (Vorspruch von L O R I S ) . Eine solche unsterbliche Stunde ist Trug. Starrgläubig aus Furcht vor der Ernüchterung, hält Anatol die Erinnerung an solche Episoden scheinbar gesteigerten Lebens wach. Aber die Erinnerungen weigern sich, fester, sicherer Besitz zu sein. Denn auch die Erinnerungen färben sich nach der jeweiligen Stimmungslage. So vermag die Stimmung ein längst vergangenes Erlebnis in das Licht traumhafter Verzauberung zu rücken, aber ebenso, den Argwohn gegenüber der Echtheit zu wecken in dem ständigen Wechselspiel von Selbsttäuschung und Selbstentlarvung. Da jedoch der halbbewußte Wille zur Illusion vorwaltet, ist die beherrschende Attitüde Anatols die Pose, die ständig gegen die Wirklichkeit, deren Erkenntnis tödlich wäre, anspielt. Sein Leben ist auf Fiktionen gegründet, ist: Komödie. — Einen wirklichen Gegenspieler hat Anatol nicht. Selbst Max fungiert vornehmlich als dramaturgische Hilfsfigur. Als ständiger Gesprächspartner ermöglicht er die bühnengemäße, pseudodialogische Fassung von dessen permanentem Monolog. Freilich ist er vom Dramatischen her, wenn nicht Antagonist, so doch immerhin der wichtigste Mitspieler Anatols, und zwar auf dessen Lebensbühne, als ein Stück lebendiger Dekoration. Er figuriert als Zuhörer, Kommentator, mitunter sogar als Bewußtmacher, vor allem aber: er souffliert (55) und gibt die Stichwörter (98). Eine gewisse Souveränität befähigt ihn zum Inspizienten, der den reibungslosen Ablauf der Lebenskomödie Anatols besorgen soll. Diese von seinem Freunde stets bewunderte Souveränität rührt daher, daß er, sich — klarsichtiger und weniger anfällig für Täuschungen, aber nicht skeptischer als Anatol in seinen depressiven Phasen — in der Welt, so wie sie ist, eingerichtet hat. Er leidet nicht, wie sein Freund, und ist so eine in sich völlig unproblematische Figur. Wenn die Frauengestalten im Anatol63 bis auf wenige nur sehr umrißhaft gezeichnet sind, so weist das auf ihre Bedeutungslosigkeit in einem dramatischen System, in dem es .schicksalhafte Begegnungen', wirkliche Ich-Du-Beziehungen nicht mehr gibt. Etwas blaß skizziert wirken so die Porträts der oberflächlichen Zirkustänzerin Bianca, der mondänen, konventionellen und frivolen Else, der begehrlichen Emilie, der temperamentvoll-kapriziösen, etwas theatralischen Ilona, der leichtlebigen, unsentimentalen, teils ver63 Zur Charakterisierung der Frauen vgl. Richard Specht, a. a. O. S. 53 und Georgette Boner, Arthur Schnitzlers Frauengestalten, Diss. Zürich 1950, S. i6ff.

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logenen, teils brutal offenen Berta und des koketten, verspielten kleinen Biests Annette. Eine kräftigere Kontur zeigen die reizvolleren Figuren der munteren, selbstsüchtig-gutartigen, genußfrohen und ein wenig ordinären Annie und der Mitgefühl erweckenden Gabriele, die, in der bürgerlichen Konvention eingefangen, einem anderen, wahreren Leben zunächst mit Spott, dann mit Neugier und schließlich in Trauer und Sehnsucht gegenübersteht. — Das berühmte säße Mädel tritt in Anatol nicht selbst auf. Einen Widerschein ihres Liebreizes vermittelt indessen Anatols Charakterisierung in den Weihnachtseinkäufen. Als eine ihrer Schwestern könnte Cora gelten, das Mädel mit den zerstochenen Fingern, das später einen Tischlermeister in der Vorstadt heiratet und das einmal auf die Mitteilung Anatols, sie habe in der Hypnose gesagt, daß sie ihn liebe, antwortet: Aber schau . . . das hätte ich dir ja auch im Wachen sagen können! (23) — Für den impressionistischen Menschen ist die Außenwelt nur dann bewußt akzeptiertes Lebensmedium, wenn sie seiner Stimmung korrespondiert und diese womöglich steigert. Die natürliche Welt der Dinge, der Tages- und Jahreszeiten wird nicht im ganzen angenommen, sondern selektiv. Wie aus einem Arsenal von Requisiten holt sich Anatol für seine Selbstinszenierung die passenden Versatzstücke hervor und stattet damit die Bühne seines manipulierten Scheinlebens aus. E r sucht stets gewisse Landschaften, Straßen und Räume zu ganz bestimmten Zeiten auf, weil er diese oder jene Dekoration gerade braucht (97). Um sein Leben vor der tödlichen Wirklichkeit zu bewahren, gilt es, stets für eine gedämpfte Szenerie melancholischer Schönheit zu sorgen, in die das Weh nicht grell und unverstellt einbrechen kann, wo die Lust am Schönen die Trauer mildert, von ihr aber den herben Einschlag empfängt, der sie für eine Weile vor Schalheit schützt und dem geschmacksfeinen, halbwahren Empfinden Anatols genießbar macht. Die seiner Lebensstimmung angemessene Tageszeit ist der Abend, vor allem die Zeit des Ubergangs vom Tag zum Dunkel. In sieben der acht Akte herrscht Abenddämmerung oder -dunkel, in den achten (Hoch^eitsmorgen) ist bezeichnenderweise der Bericht über abendliche und nächtliche Geschehnisse eingelassen. Vier der Akte spielen zur Herbst- oder Winterzeit, bei den übrigen ist die Jahreszeit nicht klar auszumachen. Landschaft, Natur werden kaum erwähnt bis auf einen abendlichen herbstlichen Park und eine anmutige Hügellandschaft, die eben in Dämmerung ^u versinken beginnt. (97) Alle Wohnräume sind dunkel gehalten. Die Szenenanweisung von Episode gibt dreimal den Farbwert Dunkelrot an. Handelt es sich hier auch um Maxens Zimmer, so zeigt sich doch anderwärts auch Anatols Vorliebe für dunkle Farben. Besonders das zu Rot und Grün gebrochene und gedämpfte Licht mit seinem besonderen Stimmungswert schätzt

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er hoch: eine Farbe . . . verändert ihm die gan^e Welt (41), wandelt sie also zur ersehnten Phantasmagorie. Für die ästhetizistische, impressionistische Lebenssicht hat das »schöne« Arrangement des ausgewählten Akzidentellen offensichtlich den — nicht immer bewußten — Zweck, den Abgrund, der durch das Schwinden substantieller Totalität entsteht, zu verdecken. Mit der impressionistischen Kunstauffassung steht es ja ähnlich. Aber gerade im Moment der Auswahl der Lebensdekoration und dem Charakter der einzelnen Requisiten bekundet sich deutlich genug die Ahnung, das halbbewußte »Wissen vom Ende« (B. BLUME).



Auch in der Sprache des Anatol bekundet sich deutlich eine impressionistische Weltsicht. Das ständige Unterbrechen und Abbrechen der Rede, die trotz einer verhaltenen Insistenz kaum je entschieden zuzugreifen wagt und dort, wo es einmal geschieht, sogleich resignierend zurückweicht (wie am Schluß des folgenden Beispiels), geben der Unsicherheit, dem Unentschiedenen, dem Tastenden und Zögernden einer relativistischen und skeptischen Lebensanschauung Ausdruck, zeugen aber auch von der Scheu, ja Furcht, sich dem überall lauernden Nichts zu stellen: A N A T O L . Ich sagte dir ja schon: Ich sehe dich heute das erste Mal wieder und mir ist, als wären wir damals geschieden, ohne daß alles ausgesprochen war . . . In deinen Augen gab es so viele Rätsel. . . auch dein Lächeln war so seltsam . . . und dann . . . B E R T A . Nun, was denn noch ? ANATOL. DU warst so schnell getröstet . . . BERTA.

Nun

ja

. . .

Wie? BERTA. DU doch auch! Ich bitte dich . . . daß es einmal aus sein mußte, das haben wir doch beide gewußt . . . A N A T O L . DU wußtest es? B E R T A . Nun, was denkst du eigentlich? Man glaubt euch Herren vielleicht so ohne weiteres alles, was ihr einem vorerzählt? A N A T O L . Aber damals . . . damals, wo du noch fast ein Kind warst . . . B E R T A . Ach Gott, gescheit war ich immer . . . ANATOL. Und wenn wir uns ewige Liebe schwuren . . . da wußtest du es immer, daß das eigentlich . . . B E R T A . Na — und du? Du hast mich vielleicht heiraten wollend A N A T O L . Aber wir haben uns doch angebetet! BERTA. Na ja . . . aber deswegen verliert man ja doch nicht gleich den Verstand . . . ! ANATOL.

ANATOL.

J a , ja

. . .

(111)

Ein elliptischer Satzbau — mehrere Aposiopesen —, mangelnde Verknüpfung der Satzteile, das Ausweichen vor der ausdrücklichen

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Bezeichnung grammatikalisch-logischer Unterordnung und A b hängigkeit — Parataxe und Vermeidung des Daß-Satzes nach einem Verbum dicendi —, das alles ist, zusammen mit einem weiteren Stilzug, der Verbarmut, genaue Spiegelung einer Sicht, für die sich Individuum und Welt auf isolierte, aneinandergereihte Gedankenund Empfindungsmomente reduziert haben, und für die weder die Welt noch die Sprache als ihr Abbild auch nur einen Rest von Transparenz auf ein Substantielles hin besitzen. Sprach- und Seinsskepsis fallen hier zusammen. Selbst die Struktur des einzelnen Satzes steht in dieser Sprache schon in der Auflösung; und neben den gliedarmen, einfachen Kurzsatz treten sehr häufig verblose, offene Wortgruppen: G A B R I E L E . Und sie ist. . . immer allein? — Ihr könnt euch so ungestört sehen ! ? — ANATOL. Nun ja — sie lebt so für sich — sie steht ganz allein — keinen Vater, keine Mutter . . . nicht einmal eine Tante! GABRIELE. Und Sie . . . sind ihr alles . . . ? A N A T O L . . . . Möglich! . . . Heute . . . ( 3 2 ) Besonders aber zeigt sich die Auflösung des Satzes dort, wo das Individuum in der Stimmung soweit mit seiner Umwelt verschmilzt, daß es mit seinen Eindrücken völlig identisch wird, die dann in der Reihung von bloßen Substantiven mit Attribut ihren sprachlichen Ausdruck finden: ANATOL. [ . . . ] Nun — ein paar Gläser Rheinwein . . . eine eigentümlich schwüle Luft, die über dem Ganzen lastet, ein Duft von Zigaretten, parfümierten Tapeten, ein Lichtschein von einem matten Glaslüster und rote Vorhänge — Einsamkeit — Stille — nur Flüstern von süßen Worten . . . (21) Ausdruck der Zersetzung des festumrissenen logischen Sprachund Weltgefüges ist auch die häufige Verschleifung der Konjunktion »und«64, die in der impressionistischen Sprache, ihrer logischen Ordnungsfunktion weitgehend entkleidet, die assoziativgereihten Eindrucks- und Gedankenfolgen lose aneinanderfügt, ohne sie wirklich miteinander zu verbinden: MAX. Unsere entsetzliche Gewohnheit, immerfort Maße haben wollen ! A N A T O L . Ein Unrecht, du hast Recht! Und auf die Erinnerung kann man sich gewiß nicht verlassen . . . sie lügt, sie hat Launen . . . und dann, was wissen wir eigentlich selbst von unsern Abenteuern? (99) Eine genaue Differenzierung der Sprache in Anatol zeigt, daß zwei voneinander sehr verschiedene Sprachschichten vorliegen, die 64 Vgl. Luise Thon, Die Sprache des deutschen Impressionismus, München 1928.

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allerdings meist ineinandergeschoben erscheinen, der Stil der Causerie und der einer grüblerischen Selbstaussprache. A m Beispiel der gewichtigeren Akte wie Episode, Agonie und Anatols Größenwahn läßt sich am ehesten zeigen, wie aus der Plauderei, die ganz im Bereich des Konventionellen verharrt, allmählich die episch-monologische Reflexion Anatols erwächst. Episode etwa setzt im Sprachton der Causerie ein, einem unbeschwerten Parlando hingetupfter Bemerkungen, beiläufiger Einwände, ironischer Repliken, Aperçus und unangestrengter Pointen, bis dann mit dem Stichwort Episode die besonnene Diktion der nur von knappen Einwürfen des Gesprächspartners unterbrochenen Selbstaussage Anatols anhebt, die auf Bewußtmachung gerichtet ist, meist zugleich aber auch schon wieder auf Verschleierung des eben Bewußtwerdenden. Im Stadium der Ungewißheit zeigt diese Sprache eine bohrende Umständlichkeit, spürt genau dem Detail nach, stellt sich fortwährend selber Fragen; und auch die häufigen Parallelismen und der nicht seltene Versuch, Erkenntnisse als Sentenzen auf eine Formel zu bringen, bezeugen die Bemühung um ein klares Bewußtsein der eigenen Situation; so etwa in Anatols Größenwahn : A n a t o l . [. . .] IVir und die Frauen — wir sind eben mit unserer Sehnsucht auf ganz verschiedenen Wegen! Ich frage jede: Hast du keinen geliebt vor mir ? — Jede fragte mich: Wirst du keine lieben nach mir ? . . . Wir wollen immer ihre erste Liebe bedeuten, sie immer unsere letzte! (99) Meist mündet die Grübelei in neue Illusion ein. So schneidet Anatol in Episode jäh alle Reflexion kurzerhand ab und statuiert lapidar: Es war eine von den unsterblichen Stunden. (44) Am Ende des ganzen Zyklus' schließlich formuliert sich der Zwiespalt Anatols, das Hin und Her zwischen Illusion und Trauer treffend in der knappen Antithese: Aber mein Leichtsinn ist so schwermütig geworden. ( 1 1 5 ) Im Vergleich mit der traditionellen Komödie erweist sich deutlich der epische, monologische Charakter des Anatol. Denn den dramatischen Dialog im Sinne fortwährender Auseinandersetzung gibt diese Sprache gerade nicht. In ihrem Ineinander von konventionellem Parlieren und dem Bemühen um klärende Erkenntnis in der monologischen Selbstreflexion ist sie genauer Ausdruck der Situation der Hauptfigur: ihrer egozentrischen Isolierung ebenso wie ihrer mannigfachen inneren Widersprüchlichkeit, vor allem ihrem ständigen, ungeklärten Schwanken zwischen leichtsinniger Hingabe ans Leben und schwermütiger Grübelei und dem ständigen Umschlagen des einen in das andere. — Trotz lockerer Fügung bildet die Einaktersammlung Anatol — zusammen mit dem Einakter Anatols Größenwahn — ein Ganzes. Erweis, daß auch der Autor selber den Zyklus als eine Einheit ansah,

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ist u. a. sein Entwurf »Anatol als Operettenstoff« 65 , der den Plan verrät, die einzelnen Einakter zu einer geschlossenen dreiaktigen Komödie zu verdichten und damit auch die zentrale Anaiol-Ptohlematik in äußerster Intensivierung und Pointierung in einer Art von Extrakt herauszupräparieren, das Analol-Prob\cm in nuce, anhand eines Lebensausschnittes von der Dauer einer einzigen Nacht vorzuführen: Anatols diskontinuierliche Persönlichkeit, die ihm das Leben zu einer Abfolge isolierter Episoden werden läßt, deren ängstigende Vergänglichkeit durch die turbulente Permanenz ständigen neuen Abenteuers verdeckt werden soll; sein Versuch, Einsamkeit und Langeweile mittels der Fülle immer neuer Beziehungen zu überwinden; wie er sich aber dabei in seinem Verhalten zu Welt und Du gerade nicht von deren Wesentlichem bestimmen läßt, sondern durch die impressionistische Nuance der jeweiligen Situation oder Stimmung, woraus sich die Austauschbarkeit aller Relationen des Ichs ergibt; wie Anatol schließlich, die mittlere Linie der Klarsicht immer nur kurze Zeit behauptend, Depressionen oder schöner Täuschung erliegt. Diese Problematik erscheint in den einzelnen Akten des Zyklus' mannigfach entfaltet, wobei aber die Grundstruktur der Dialektik von Illusion und Wirklichkeit ständig wiederkehrt, in der die Komik der einzelnen Szenen gründet. Sogleich der erste Akt, Die Frage an das Schicksal, spielt das Hauptthema an und deckt die Wahrheitsfurcht Anatols auf, für den sich Glück nur noch in der Lüge verwirklicht, als ein Scheinglück, als Illusion, die den Abgrund der Seelenlosigkeit, vor dem Anatol schaudert, einzig verdeckt. Wie alle Akte des Zyklus' ist auch der erste auf eine entlarvende und Zugleich komische Pointe hingearbeitet. Die ungeschickten Ausweichmanöver vor der Wahrheit, das Sichfestklammern an der tröstlichen Ungewißheit im Angesicht der Wahrheit, gipfelnd im Verzicht auf sie, bewirken Komik. In Weihnachtseinkäufe steht Anatol zwischen der Welt erstarrter bürgerlicher Konvention und der des Abenteuers der kleinen Welt. E r schwankt zwischen Illusion und Klarsicht. Von der Scheinsicherheit des spätbürgerlichen Gesellschaftssystems hat er sich, entgegen Gabriele, emanzipiert. Letzte Spuren von Freiheit, Liebe, Wahrheit findet er in der kleinen Welt des süßen Mädels. Aber auch diese Sphäre erscheint seltsam zwiespältig, und Anatols Verhältnis zu ihr ist es auch. Einerseits figuriert die schlichte Stube des herzigen Wiener Mädels als ein Ort des Glücks — Gabriele nennt ihn, freilich nicht ohne Spott, Zaubergarten — jenseits aller metaphysischen, gesellschaftlichen, psychischen Unordnung; aber dieses Paradies ist 66

Zum Inhalt dieses nachgelassenen Entwurfs vgl. S. 157f.

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auch nur eines auf Zeit, u n d Anatol ist sich darüber nicht im unklaren. E r nimmt in diesem Akt eine ironische Position ein, in der sich unkritische Hingabe an die Illusion und distanzierte Reflexion in der Schwebe halten. Folglich wirkt auch in dieser Szene die mitunter spürbare Selbstironie Anatols am überzeugendsten, während sie sonst meist als reine Pose die eigene Unsicherheit u n d Zwiespältigkeit notdürftig genug kaschiert. Anatols Ironie wäre ferner als eine Gebärde der Unentschiedenheit zu umschreiben, die zwar dem Leiden an einer durch Konvention entstellten Welt entspringt, in der aber der Gestus der Anpassung und der der A b w e h r einander widerstreiten. — K o m i k schafft in diesem A k t die K o n frontierung des Weltmannes mit der kleinen Welt, der Stätte seiner Triumphe, die Gabriele spöttisch vollzieht, die aber in dem Maße sich mit Trauer versetzt, als in der Frau die Sehnsucht nach dieser wahreren Welt durchbricht. Die Idylle verdrängt allmählich die Komik, die aber gegen Ende der Szene wieder leise wirksam wird in der Diskrepanz der zu augenblicklicher Aufrichtigkeit erschütterten bürgerlichen Dame und des eben hierdurch verblüfften u n d verwirrten Anatol, der der Gemütsbewegung Gabrielens kaum zu folgen vermag. Der Schluß ist bezeichnend: das Erlebnis der Wahrhaftigkeit bei einem Menschen, der dem bürgerlichen System, also der Lüge, viel ausschließlicher verhaftet ist als er selbst, zwingt ihn zur Besinnung, die er aber sehr bald, wie stets und ohne irgendwelche Konsequenzen zu ziehen, abbricht. Der Einakter Episode ist wieder ganz auf die Demaskierung des dem Scheine erliegenden Anatol abgestellt. Episode meint den zwar flüchtigen, aber vermeintlich ganz v o n gesteigertem Dasein erfüllten Augenblick, die unsterbliche Stunde, die unverlierbar in der Erinnerung fortlebt. D a ß dieses Erlebnis, bereits während es geschieht, v o n der Reflexion zersetzt wird, da Anatol seine Abenteuer manipuliert und damit im vorhinein zerstört, schafft einige Komik, die freilich alles andere als befreiend wirkt. Die eigentlich komische Struktur dieser Szene liegt indessen auch hier wieder in der D e k u vrierung des Illusionisten, der der gnadenlosen Leere der Wirklichkeit in der ästhetischen Fiktion glaubt begegnen zu können. Der Akt Denksteine zeigt abermals Anatols Unvermögen, der Wahrheit standzuhalten, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Sein scheinbarer Wahrheitsfanatismus in dieser Szene ist n u r die Folge kläglicher Besorgtheit u m den Bestand der Illusion, die es ständig abzusichern gilt. Die Wahrheit wird nicht ertragen, die Lüge aber nur solange, als sie nicht ganz offenkundig ist. So steht Anatol, u m Haltung bemüht, zwischen einer halben Sehnsucht nach Wahrheit und ängstlicher Wahrheitsscheu und rettet sich schließlich in die W u t und in die theatralische Attitüde, die Pose, die ihn als Herren

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der Situation ausweisen soll, ihn aber nur um so mehr bloßstellt als den unechten Komödianten, der sich der Wirklichkeit nicht stellt, sondern sie zu überspielen sucht und so auch am Ende d i e s e r Szene der Lächerlichkeit preisgegeben ist. Das Stück mit der reinsten Lustspielwirkung ist Abschiedssouper. Das Jonglieren mit zwei Liebschaften und die überraschende Parallelität der Situation Anatols und Annies, die beide wegen einer neuen Liebelei einer vom anderen loszukommen trachten, ohne beim andern eine gleiche Absicht zu gewärtigen, diese an Pointen, überraschenden Wendungen, schlagfertigen Repliken und Situationskomik reiche Szene verläuft in gelöster, operettenhafter Heiterkeit, bis der Umschwung des dramatisch zugespitzten Endes abermals die ernste, traurig-komische Aufdeckung der Schwäche Anatols, des düpierten Betrügers und selbstbetrügerischen Komödianten bringt — und dies just in dem Augenblick, da er von sich meint: Na, %um Glück haV ich keine Illusionen . . .« (67). In Agonie entwickelt Schnitter, wie aus dem Bewußtsein des Sterbens der Wille zur Illusion erwächst. Anatol selbst ist es, der bekennt, daß man ermattet von der Angst des Sterbens nicht hinter die Masken sehen (70) wolle und lieber weiterlüge. Trotz, oder gerade wegen dieser Einsicht treibt er den halbbewußten Selbstbetrug weiter. — So ernst der Gegenstand des Gesprächs mit Max in dieser Szene ist, ein komisches Moment bleibt stets gegenwärtig in den mannigfachen Diskrepanzen, die den Abenteurer, der sich durch die das Abenteuer zersetzende Reflexion ja förmlich selber aufhebt, in einem ständigen Komik erzeugenden Selbstwiderspruch erscheinen lassen. Der Abenteurer, der, statt unmittelbar im Leben aufzugehen, hypochondrisch in stetiger Selbstbeobachtung grübelt, nicht vergessen kann, melancholisch ist, sich selber auch halb durchschaut und dadurch behindert, ist eine komische Figur. — Der ganze Akt zeigt besonders eindringlich das ständige Ineinander von rationaler Klarsicht und sentimentaler Verschwommenheit, entlarvender Skepsis und verdeckender Illusion. Trotz seiner Einsichten sucht Anatol noch in der Agonie nach dem Glück, haarscharf sich an der Grenze bewußter Fiktion bewegend, wenn er den R e i z Sekunden- oder minutenlanger g l ü c k h a f t e r E i n d r ü c k e , isoliert

und gleichsam präpariert, auszukosten trachtet. Selbst die gründliche Entlarvung seiner Partnerin hindert ihn nicht, im nächsten Augenblick mit ihr übers Meer reisen und ein utopisches Paradiesesglück gewinnen zu wollen. — Bemerkenswert ist auch hier das Verhalten Anatols gegen Schluß des Aktes. Episode und Abschiedssouper enden in der sprachlosen Konsterniertheit des überspielten Spielers. A m Ende von Die Frage an das Schicksal steht die Flucht in die Halbgewißheit der Illusion, am Ende von Denksteine die 11 komedia vi

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Flucht in die Scheinsicherheit der theatralischen Gebärde. Auch in Agonie rettet sich Anatol aus dem inneren Widerstreit von Wirklichkeit und Schein, Wahrhaftigkeit und Lüge in die Pose, anstatt den Gegensatz auszutragen. Der handfeste Possencharakter von Anatols Hoch^eitsmorgen, der dem Einakter seine nie versagende Bühnenwirkung sichert, könnte zu einer Unterschätzung dieses Schlußstückes der Anatol-Setie verleiten. Die besondere Bedeutung dieser Szene liegt darin, daß Schnitzer dem Zwang des traditionellen Komödienschemas nicht erliegt — wie noch die meisten seiner Zeitgenossen — und in einer Parodie der alle Konflikte und Probleme lösenden Lustspiel-Hochzeit die Unwahrhaftigkeit dieser dramatischen Struktur in ihrer ahistorischen Verfestigung entlarvt. — Die Komik des Stückes liegt darin, daß der Abenteurer heiratet. Die Unvereinbarkeit einer auf Beständigkeit gegründeten Institution und der impressionistischen Lebensform führt zu heilloser Komplikation. Der Entschluß zur Ehe, entstanden aus der momentanen Eingebung, auch die Ehe könne »ein Abenteuer sein, vielleicht das interessanteste«66 und sie gewähre eine neue Aussicht auf ein vielleicht festeres Glück, erweist sich sehr rasch als ein episodischer Einfall, eine Laune. Am Hochzeitsmorgen ist Anatol nicht in der Stimmung %um Heiraten (78), da eine neue Affäre bereits begonnen hat. Aus dem Dilemma rettet er sich schließlich — ein ängstlich-ratloses Ach auf den Lippen — abermals durch die Flucht, diesmal in die Lüge seiner Hochzeit. Am Ende der Szene und damit am Schlüsse des Zyklus' erscheint zwar die Ehe, jedoch nicht als eine mögliche Lösung, sondern als die absurdeste der Illusionen, und Max gibt einen Ausblick auf das weitere zwiespältige Abenteurerleben des für immer in Vereinzelung lebenden Anatol mit seiner Abfolge von Episoden im Mechanismus der Wiederholung67. Zwischen der Handlung von Anatols Größenwahn und der der übrigen Stücke liegt ein Einschnitt von etwa zwanzig Jahren. Anatol ist jetzt der alternde Abenteurer, ein Umstand, der das Traurig-Komische seiner Existenz noch steigert. In dieser Szene wiederholt sich ein letztes Mal das Wechselspiel von Skepsis und Illusion. Anatols Größenwahn steht indessen nicht als Schlußstück im Sinne des traditionellen Dramas. So, wie die einzelnen Akte Ausschnitte aus einem nach dem Prinzip der Iteration verlaufenden, entwicklungslosen Dasein geben, ist auch der letzte Akt nicht zwingend der letzte. — Die Benennung dieser Szene deutet an, daß 66

Anatol als Operettenstoff, vgl. S. 158. Die völlige Austauschbarkeit der Partner des Abenteuers wird in der ursprünglichen Schlußfassung und im Operettenentwurf besonders deutlich. 67

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der Held bis zum Ende in der Illusion verharrt, in seinen Abenteuern wirklich das Leben ganz und unverstellt genossen zu haben und damit auch der reinen Idee der Liebe nahegewesen zu sein. Das ist ja die eigentliche Bedeutung des Größenwahns, wenngleich sie Schnitter nur behutsam anklingen läßt: der Versuch des impressionistischen Menschen, in der Abenteurerexistenz das verlorene Absolute zurückzugewinnen. Das notwendige Scheitern dieses nur halbbewußten Strebens in einer Welt ohne Transzendenz ist alsdann stets komisch und traurig zugleich, nicht jedoch tragisch, denn unausweichlich ist diese Situation nicht, worauf ja auch die Komik mit ihrem Einschlag von satirischer Kritik unausgesetzt hinweist in ihrer Forderung nach Wahrhaftigkeit. — Komik und Trauer tragen als gemeinsamer Grundton alle Szenen, vor allem auch die letzte, die deutlich Resumeecharakter trägt. Auch hier zeigt sich Anatol zunächst als ein Mann von illusionsloser Klarsicht. Er bezweifelt die objektive Verläßlichkeit der Erinnerungen, konstatiert die Relativierung und Desintegration der Persönlichkeit mit all ihren Folgen und äußert folgerichtig sein Mißtrauen gegen alle menschlichen Gefühle überhaupt, auch gegen die eigenen. Von dieser Skepsis rührt die Trauer her als ein Grundzug seines Wesens. Beides verschließt ihm zunehmend das zugleich bezweifelte und ersehnte Erlebnis und läßt ihn für den unkomplizierten Abenteurer, Baron Diebl, zugleich Verachtung und Neid empfinden. Aus der Gegensätzlichkeit seines Gefühls entsteht dann die erneute Verunklärung des Blicks: die größenwahnsinnige Selbsttäuschung. Deren letzte Entlarvung folgt sogleich in der Begegnung mit einer früheren Geliebten, Berta, die das gemeinsame Abenteuer schonungslos als verlogene Komödie demaskiert und A.natol entgegenschleudert, er habe die Lüge gefordert, die Täuschung begehrt. In die Trauer Anatols aber, die er nun in der Einsicht ewiger Fremdheit zwischen Mensch und Mensch empfindet und die ihn all seinen Erinnerungen mißtrauen läßt, mischt sich aufs neue die trügerische Hoffnung, vielleicht habe Berta damals anders empfunden, als sie heute wähne. In der Enttäuschung regt sich bereits wieder die Illusion, wenngleich die letzten Worte Anatols in diesem letzten Akte resigniert die Ununterscheidbarkeit der wahren und falschen Empfindungen beklagen. Der auf Eindruck und Stimmung reduzierte Mensch, dessen substantia in der Auflösung steht, verfällt mehr und mehr in Unsicherheit, Schwermut und Trauer. Mit diesem Ausblick aber ist das Stück noch nicht zu Ende. Die Schlußpointe besteht darin, daß die Anatol-Komödie — auf die Struktur des »Reigen« vorausdeutend — in neuer Besetzung von neuem anhebt, worin sich das Exemplarische der Titelgestalt an12«

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zeigt. In deutlicher Analogie zu der kurz zuvor erinnerten Eifersucht Anatols auf einen älteren Nebenbuhler, die sich nach zwanzig Jahren als berechtigt herausstellt, steht die Eifersucht Flieders auf Anatol. Der letzte Satz des Stückes ist eine Lüge Annettes-, und Flieder wird ihr glauben, wie Anatol Berta damals geglaubt hat, weil ihm die Illusion doch tausendmal lieber ist als die Wahrheit. So geht denn das lustig-grauenvolle Spiel in der Welt weiter: die traurige Komödie des Lebens als Komödie. Zur

Wirkungsgeschichte

Die erste bedeutende Rezension, die sich den ^4«a/o/-Zyklus vornahm, entstammt der kritischen Feder von K A R L K R A U S 6 8 . Sie nimmt sich, verglichen mit späteren Äußerungen von K R A U S über Schnitter 69 , recht wohlmeinend aus. E r schrieb 1893 in M. G . C O N R A D S »Die Gesellschaft« u. a.: »Arthur Schnitter gehört zu den bedeutendsten Talenten Jungösterreichs. Ehrliche Realisten gibt es allerdings sehr wenige bei uns. Auch Schnitter, der es doch wahrhaftig nicht nötig hätte, kokettiert bisweilen sehr gerne mit den bei uns leider so stark vertretenen »Dekadenten«, die gar stolz sind — auf die schwachen Nerven, die sie haben oder auch nicht haben. Schnitt ler hat es, wie gesagt, bei seinem wirklichen Talent nicht nötig, nach diesen neurotisch »überwindenden« Kaffeehausdekadenzmodemen hinüberzuschielen. Diesmal, beim Anatol, hat er stark geschielt. [. . .] Anatol kehrt — originell, aber auch etwas monoton! — in allen Szenen wieder. Natürlich ist er nur ein Pseudonym für 68 Die erste anerkennende Besprechung in der Tagespresse schrieb Robert Hirschfeld am 1. 1. 1893 in der Wiener Sonn- und Montagszeitung. Einzelne Urteile aus den verschiedensten Blättern stellte Schinnerer zusammen: The Early Works of Arthur Schnitzler, a. a. O., p. 153, note 1. — Eine scharfe Attacke erfuhr das Werk durch Florentine Gallini, eine österreichische Journalistin und Schriftstellerin, die unter ihrem Pseudonym Bruno Waiden Schnitzlers »Anatol« »kruden Zynismus« vorwarf, »der sich in der Schlußszene zum Höhepunkt des Anwidernden potenziert«. (Wiener Abendpost, 3. August 1893. Vgl. auch Nagl-ZeidlerCastle, Deutsch-österreichische Literaturgeschichte, Bd. IV, Wien 1937, Seite 2071.) Schnitzler selbst berichtet hierzu: »Im Sommer 93 treffe ich den jetzigen Hofrat Loebl von der Wiener Abendpost, der mich fragt: .Haben Sie schon die Kritik über Anatol... gelesen ?' (Von Bruno Waiden). Ich: ,Nein. Bin ich verrissen?' Er: .Verrissen? Vernichtet!'« (AnatolEinakter, Blatt 5.) 69 Vgl. Die demolierte Literatur, Wien 2 i897, Seite 18.

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Arthur Schnitter. Zumeist ist sein Freund Max bei ihm, den ich auch kenne, und immer eine andere Dame [. . .] Also, Erlebnisse eines »Dekadenten«, Nuancen, Episoden, traurig und lustig, Schnurren und Ernst. Viel Witz, viel Satire; der Dialog sehr fein, sehr natürlich. Für den Gesamteindruck sind Loris' Worte die entschiedene Formel. »Halb und heimlich« und ohne A u f regung, wie wenn es sich vor Licht und Lärm scheute, so im raschen, ich möchte sagen, Gleichgültigkeitsstil der Dramen Strindbergs und, wie sich die jungen Italiener ausnehmen, wenn sie das Spiel der Duse protegiert. Mir als Nichtdekadenten hat natürlich das fünfte Stückchen am besten gefallen, und ich mache kein Hehl aus der aufrichtigen Freude, die ich an diesem Abschiedssouper hatte, gleich damals, als mir es ein Freund Schnitters [. . .] vorlas. Das ist eine tolle, köstliche, prächtige Komödie, ein kleines Kabinettstück flotter Realistik. E r versteht es, in so engem Rahmen wahrhaftige Menschen zu schaffen. Realismus des Lustspiels 1 Für mich ist dieses Abschiedssouper ein Seitenstück zur »Cavalleria rusticana« des Giovanni Verga. Es ist ein echtes Bühnenstück, nur müssen auch die Darsteller, besonders die Darstellerin der Annie, was können. Dann ist dem Prachtlustspiel der Erfolg sicher. Schnitter ist hier wieder der liebe, herzige Kerl, als welchen ich ihn in seinem trefflichen Schauspiel »Das Märchen« und — und auch sonst kennen gelernt habe. Bin neugierig, ob sich unsere Theaterleiter zu diesem Einakter entschließen werden. Lustig und wahr zu sein, — dazu haben es die deutschen Schwänkefabrikanten nie bringen können, und die französischen auch nicht: letztere sind nur lustig, erstere gewöhnlich keins von beiden. Drum beherrschen sie unsere Bühnen. Einmal sollte man es versuchen, nur einmal, zum kosten: man lasse ausländische Frivolität und inländische, von alten Spaßen lebende Philistrosität beiseite und gönne einem Dichter das Wort!« 70 ALFRED KERR meldete sich 1896 mit einem ausführlichen, teilweise sehr persönlich getönten, in impressionistischer Manier gehaltenen Loblied auf Anatol, seine »höllische Süße und . . . himmlische Bitterkeit.. .« Die wesentlichen Partien seien hier abgedruckt: »Wie oft hab ich den Anatol [. . .] vorgenommen, wie oft bin ich in diese witzig-süße Flut getaucht und habe geschwelgt in lachendem Entzücken. Ja, ich kann sagen: ich fraß dieses Buch. 70 Die Gesellschaft, Monatsschrift für Literatur, Kunst und Sozialpolitik, Jg. "1893, Erstes Quartal, Leipzig, S. io9f.

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Und alles, was dem elenderen Teil unserer selbst, dem Kritiker, widersprach, das fraß ich schließlich mit. Nicht bloß der Zauber eigener Erinnerungen, die nicht weit zurücklagen, wirkte; es wirkte in diesen Szenen die Gegenwart eines träumerischen, seltenen Kenners, die Nähe eines sehr geistvollen Empfinders. Die sieben Szenen, aus denen der Anatol besteht, sind sieben Szenen. Mögen sie miteinander durch dieselbe Sphäre verbunden sein: das Buch als was Organisches zu fassen, wäre Torheit und steifleinen. Sie schwebten heran, wie ein leiser Zufall sie entstehen ließ, und allenfalls mag nachträglich eine Abrundung, eine Vervollständigung den Schein des planvoll Angelegten erweckt haben. In der Mitte ein leichtsinniger Melancholiker; hinter ihm, neben ihm, vor ihm Weiberchen. Nur diese eine Seite des Lebens wird ins Auge gefaßt; an dieser einen Seite nur einige Seiten. Aber wie es geschieht: das ist unvergeßlich. Ich weiß, daß viele Köpfe, — und nicht die schlechtesten, die wir haben, — dieser Kunst unschlüssig, ja achselzuckend gegenüberstehn; ich fühlte, wie sie auch dem reifsten Werk dieses jungen Meisters nur widerwilligen Beifall und halb zweifelnd schenkten. Sie hegen eine Verachtung so durchsichtiger, leichtgewebter, flüchtig entschwebender, entgleitender Episodenpoesie. Aber mag Schnitter nicht mit wuchtigen Akzenten und nicht als ein Promethide kommen: er gibt nachdenkliche Lebensausschnittchen, auch er hält aus dem allgemeinen Dahinrauschen der Erscheinungen bald ein ironisches, bald ein gedankenvolles Seelenbild fest, das nur durch eines wahren Dichters Hand dem Strom entrissen werden kann. Daß man doch in Deutschland noch immer zu wenig Ehrfurcht vor den Grazien hat, die so oft »leider ausgeblieben« sind. Von der besonderen Art der Schnitzlerschen Grazie, von der besonderen Art entzückender Feinfühlsamkeit haben Gewaltigere unter den Heutigen keine Ahnung. Was niemand erwerben kann, erhielt er im Schlaf. Jawohl, es gibt Tiefere: aber sie können nicht das, was er kann. [. . .] Endlich wieder 1 Er gibt ein Bild, ein einziges Wort, das eine Stimmung heraufzaubert, statt diese Stimmung schweißtriefend und langwierig zu malen. Er ist ein Dichter, kein Ausarbeiter. [. . .] Der Mann, der durch alle sieben Situationen geht, ist ein Verfallsmensch. Töricht, dem Dichter einen Vorwurf daraus zu machen. Als ob wir nicht in gewissen Verhältnissen alle Verfallsmenschen wären. Die trübe Grazie, mit der Anatol (weit mehr ein Verwöhnter, denn ein Verkommener) seine süßen Mißgeschicke duldet, hebt ihn über die matten, glanzäugigen Selbstquäler vom Stamme Bourget. Was jene mit gekniffenen Schwänzen beweinen, das »umklingelt er mit leiser Torenschelle«, mit Heyse

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zu sprechen. Den Zweifel allerdings und die Reflexion hat dieser Zärtling mit ihnen gemein. [. . .]« 71 Achtzehn Jahre dauerte es, bis der Buchveröffentlichung des y4«ö/o/-Zyklus' die Uraufführung folgte. Allerdings wurden vier der sieben Einakter bereits in den Neunzigerjahren und später auch die übrigen drei, einzeln oder zu zweien miteinander gekoppelt, auf deutschen und ausländischen Bühnen gespielt. Die erste Aufführung eines v4«a/o/-Stückes und die erste Aufführung eines Schnitzlerschen Werkes überhaupt war die aus einem Irrtum entstandene Inszenierung des ersten, nicht in den Zyklus aufgenommenen ^«¡z/oZ-Einakters »Das Abenteuer seines Lebens«. Schnit^ler selbst berichtet: »Im Jahre 91 erhält mein Vater einen Brief und bringt ihn, als offenbar für mich bestimmt, auf die Poliklinik: Sehr geehrter Herr Professor. Ich erlaube mir Ihnen mitzuteilen, daß nächstens durch meine Schauspielschule eines Ihrer reizenden Lustspiele zur Aufführung gelangt — etc. mit Einladung zu einer Prohe. Professor Friedrich, der Schreiber dieses Briefes, im ganzen ziemlich übel berüchtigt, etwas enttäuscht, als ich bei der Prohe erscheine. Aufführung zuerst im Rudolfsheimer Theater'2 bei Schwender73, zusammen mit anderen Einaktern, einem von dem nachmaligen Librettisten Leo Stein74 und einem von Otto Gross 75 . Die Aufführung wird bald darauf im Josefstädtertheater wiederholt78; ich wohne ihr in einer Loge mit meinen Eltern bei. Unbegreiflich, daß ich damals, nachdem schon einiges literarisch ernst zu nehmendes von mir geschrieben war, die Aufführung dieser ganz unreifen Kleinigkeit gestattete. In der Loge schämte ich mich 71 Alfred Kerr, Die Welt im Drama I, Das neue Drama, Berlin 1917, S. iigft. 72 Im Februar 1891. 73 Karl Schwender sen. eröffnete 1866 zu seinem Vorstadt-Unterhaltungslokal ein Theater, das nach seinem Tode im gleichen Jahre sein Sohn und später dessen Witwe an verschiedene Direktoren verpachteten. Repertoire: klassische Dramen, Possen, Operetten, vor allem Werke von Nestroy und Raimund. 1897 wegen finanzieller Schwierigkeiten geschlossen. 74 Leo Stein (1861—1920), Mitverfasser der Texte zu den Operetten »Wiener Blut«, »Die lustige Witwe«, »Der Graf von Luxemburg«, »Die Czardasfürstin« u. a. 75 Otto Gross (1841— ? ), Redakteur der »Klagenfurter Zeitung«. Schrieb unter dem Pseudonym Otto von Karnow. Weiteres nicht zu ermitteln. Die Identität mit dem von Schnitzler gen. Autor ist nicht eindeutig zu erweisen. 76 Am 13. Mai 1891.

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auch ein wenig. Die Referate in den Zeitungen sehr freundlich, nur ein antisemitischer Kritiker Ottokar Tann-Bergler äußert sich absprechend: ,Schwämmchen drüber'.«" Daß sich die Bühnen zunächst nur zögernd der Anatol-Stücke annahmen, hatte seinen Grund vor allem in der Furcht vor Zensur und Skandal. Bezeichnend für das allgemeine Urteil über Anatol ist der besorgte Ausspruch des berühmten Burgtheaterschauspielers S O N N E N T H A L , der Schnitter durchaus wohlwollend gegenüberstand : »Arthur, wie schade um Deine hübsche Begabung! Du schilderst ja eine Kloake, nichts als Strizzis und Dirnen.« 78 Die erste szenische Darbietung eines Stückes aus dem Zyklus, eine Privataufführung von Die Frage an das Schicksal, veranstaltete J O S E F J A R N O 7 9 , der den Max spielte, im Salon eines Berliner Rechtsanwalts unter Mitwirkung von E M A N U E L R E I C H E R 8 0 {Anatol) und E L S A W E R T H E I M 8 1 {Cord) am 10. i. 1893. J A R N O war es auch, der die erste öffentliche Aufführung eines ^««/»/-Einakters, des Abschiedssoupers, betrieb und das Stück inszenierte, und zwar im Sommer-Theater in Ischl. Die Frage an das Schicksal — diese Szene sollte vorausgehen — hatte man aus Furcht vor der Zensur gestrichen. Premiere war am 14. 7. 1893. Schnitter selbst berichtet: »Abends ich mit Beer-Hofmann in einer Loge. Unter uns ein Herr mit seiner Tochter, der während des Stückes geht: Das is nix für dich.«82 Ein Korrespondent berichtet nach Wien: »Das Publikum war angenehm entrüstet.«83 Im folgenden seien die Uraufführungstermine und -orte der einzelnen v4«a/o/-Stücke zusammengestellt 84 : Die Frage an das Schicksal: erste öffentliche Aufführung: 26.1.1896, Carola-Theater, Leipzig. 77 Anatol-Einakter, Bl. 1—2. Vgl. auch Richard Specht, a. a. O., S. iof. und Schinnerer, a. a. O., Vol. IV, p. i83f. 78 Der Briefwechsel Arthur Schnitzler—Otto Brahm, hrg. u. eingel. v. Oskar Seidlin, Berlin 1953, S. 20. 79 Josef Jarno (1866—1932), Theaterleiter u. Schauspieler, bis 1899 vorwiegend am Residenztheater Berlin, dann (1899—1923) Direktor des Theaters in der Josefstadt in Wien, einem Boulevardtheater, das unter seiner Leitung zu einer literarischen Bühne von Rang wurde. Setzte sich für den noch völlig unbekannten Schnitzler nachdrücklich ein. 80 Emanuel Reicher (1849—1924), einer der ersten entschieden naturalistischen Schauspieler, vor allem unter Otto Brahm. 81 Elsa Wertheim, spätere Gattin von Leo Slezak. 82 Anatol-Einakter, Blatt 3. 83 Ebd. 81 Nach Otto P. Schinnerer, Systemat. Verzeichnis der Werke . . ., a. a. O.

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Weihnachtseinkäufe: 13. 1. 1898, Sofien-Säle, Wien, durch die »Wohltätigkeitsakademie« mit Rudolf Christians (Anatol) und Adele Sandrock (Gabriele). Episode: 26. 6. 1898, Ibsen-Theater, Leipzig. Denksteine: keine genauen Angaben zu ermitteln85. Abschiedssouper: 14. 7. 1893, Stadttheater, Bad Ischl. Agonie: 10. 1. 1916, im Rahmen der »Kriegsfürsorge« durch den Schauspieler und Bildhauer Alexander Jaray im Volksbildungshaus Wiener Urania 86 . Anatols Hoch^eitsmorgen: 13. 10. 1901, Langenbeck-Haus, Berlin, auf einem literarischen Abend des »Herold«, einer geselligwissenschaftlichen Vereinigung 87 . Der aus dem Nachlaß herausgegebene Einakter Anatols Größenwahn erfuhr seine Uraufführung, zusammen mit vier anderen Einaktern 88 Schnitters, am 29. 3. 1932 unter der Regie von H E I N R I C H S C H N I T Z L E R mit L E O P O L D K R A M E R als Anatol am Deutschen Volkstheater Wien. Von den einzelnen Akten des Zyklus war Das Abschiedssouper der bei weitem erfolgreichste 89 . Wie dieser für einen Einakter bemerkenswerte Erfolgszug begann, berichtet Schnitter 85 Schinnerer, der gewissenhafte Bibliograph, erwähnt keine Aufführung. Schnitzler selbst schreibt: »Erste Aufführung czeschisch, wenn ich nicht irre in Prag. Sonst überhaupt nirgends«. (Anatol-Einakter, Bl. 4). In einem Briefe an Otto Brahm vom 4. 8. 1909 heißt es dagegen: ». . . die »Denksteine« . . . haben schon auf kleinen Bühnen sich bewährt«. (Der Briefwechsel A. S.—Otto Brahm, a. a. O., S. 216). Der Deutsche Bühnenspielplan verzeichnet eine Aufführung der »Denksteine« am Kgl. dt. Landestheater Prag am 19. 5. 1912. Vgl. auch Anm. 112. 86 Wahrscheinlich die einzige Aufführung dieses Einakters überhaupt. »Agonie« war bei diesem »Monologe und Szenen« betitelten Wohltätigkeitsabend mit »Episode« und seltsamerweise dem Faust-Monolog und der Ringparabel aus »Nathan der Weise« gekoppelt. 87 Das Stück wurde allerdings schon früher in französischer Ubersetzung in Paris gespielt. Näheres war nicht festzustellen. (Hinweis in Schnitzlers unveröffentlichter Autobiographie.) 88 »Die Gleitenden«, »Die überspannte Person«, »Die Mörderin«, »Halbzwei«. »Die Gleitenden« und »Die Mörderin« sind bisher nicht im Druck erschienen. 89 So verzeichnet der Deutsche Bühnenspielplan für die Spielzeit 1909/1910 für das »Abschiedssouper« 53, für »Die Frage an das Schicksal« 13 Aufführungen, für die übrigen Stücke dagegen keine. In der Spielzeit 1911/12, also bereits nach der Uraufführung des Gesamtzyklus',der i57mal gegeben wird, erscheint »Abschiedsssouper« 44mal. Die Aufführungsziffern für die übrigen Einakter dagegen lauten: »Frage an das Schicksal« 6, »Weihnachtseinkäufe« 6, »Episode« 9, »Denksteine« 1, »Agonie« o, »Hochzeitsmorgen« 7.

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in den genannten Aufzeichnungen zu Anatol. A m 1 3 . 1 . 1 8 9 8 findet in den Sofien-Sälen in Wien eine Wohltätigkeits Veranstaltung mit den Weibnachtseinkäufen (Uraufführung) und dem Abschiedssouper ( R U D O L F C H R I S T I A N S — Anatol, L E O P O L D K R A M E R — Max, A D E L E SANDROCK — Annie, R U D O L F S C H I L D K R A U T — Kellner) statt: »Weihnachtseinkäufe geht in dem großen Saal total verloren. Abschiedssouper langweilt. Ich entferne mich gegen Schluß verstimmt aus der Loge. Auf der Stiege höre ich brausendes Gelächter. Kehre zurück, sehe, daß die Sandrock offenbar dem eintretenden Kellner (Schildkraut) mit dem Finger zufällig in den Creme hineingefahren, sämtliche Darsteller, auch die Zuschauer in der ersten Parkettreihe sind davon angespritzt, daher die ungeheure Heiterkeit, der Erfolg besiegelt. Die Sandrock nimmt das Stück in ihr Repertoire auf, natürlich mit der Nuance, andere Schauspielerinnen folgen ihr, und so wird es schon vor dem Erfolg des Gesamtzyklus' einer der meist gespielten Einakter.« 90 Die eigentliche Uraufführung des gesamten Anatol-Zyklus' erfolgte kurioserweise in tschechischer Sprache, und zwar 1893 in PragSmichow. Sechs oder sieben Aufführungen fanden statt; Näheres ist nicht bekannt 91 . Für Anfang 1897 plante O S C A R B L U M E N T H A L Anatol am Berliner Lessingtheater herauszubringen. Das Vorhaben scheiterte am Tode F R I E D R I C H M I T T E R W U R Z E R S , der für die Titelrolle vorgesehen war. Neue Verhandlungen beginnen erst wieder 1909 mit dem Deutschen Volkstheater in Wien und etwas später mit O T T O B R A H M , dem Direktor des Lessingtheaters Berlin. Gleichzeitig bewirbt sich die »Akademische Bühne«, eine Studentenvereinigung unter der Leitung der nachmaligen Theaterunternehmer A L F R E D und F R I T Z R O T T E R um das Aufführungsrecht, das ihnen Schnitter auf B R A H M S Wunsch verweigert. Wie aus dem Briefwechsel Schnitzlers mit O T T O B R A H M hervorgeht, hatte es bereits 1899 unter der Direktion B L U M E N T H A L S Schwierigkeiten mit der Zensur wegen Anatols Hochzeilsmorgen gegeben, gegen die man nun erneut — diesmal mit Erfolg — ankämpft 92 . Die Premiere wird indessen noch um einige Monate hinausgeschoben. 90

Anatol-Einakter, Bl. 3—4. Vgl. Briefwechsel A. S.—Otto Brahm, a. a. O., S. 209. Wie aus den Briefen Brahms an Schnitzler vom 5. 3. und 24. 3. 1910 hervorgeht, war »Anatols Hochzeitsmorgen« vom Berliner PolizeiPräsidium durch eine »Verfügung vom 9. März 1899 aus sittenpolizeilichen Gründen verboten« worden. Brahm ließ sich nun die ursprüngliche, ungedruckte Fassung mit den abweichenden Schlußpartien zusenden, nahm aber auf Schnitzlers Bitten Abstand von einer Verwendung der alten Schlußfassung und verhandelte mit der Zensur um Freigabe der gedruckten Fassung des Stückes. (Bfw., a. a. O., S. 231). 91

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BRAHM hatte den März 1910 vorgeschlagen, Schnitter aber die Verschiebung auf die nächste Theatersaison gewünscht, da der März, zum Ende der Spielzeit, ein ungünstiger Theatermonat sei 93 . Schließlich findet die Uraufführung des Anatol-Zyklus', außer Denksteine und Agonie94 — Abschiedssouper wurde gegenüber der Buchfassung mit Episode in der Reihenfolge vertauscht — , am 3. Dezember 1910 gleichzeitig am Lessingtheater Berlin und am Deutschen Volkstheater in Wien statt. Die Berliner A u f f ü h r u n g — Inszenierung: EMIL LESSING95 — hatte folgende Besetzung: Anatol Max Cora Gabriele Anni Bianca Ilona Kellner; Frans^

Heinz Monnard Emanuel Reicher Paula Somary Lina Lossen Mathilde Sussin Hilde Herterich Irene Triesch Hermann Hellweger

93 Vgl. Bfw., a. a. O., S. 256. — Auch um größtmögliche Theaterwirkung zeigt sich Schnitzler bemüht. Davon zeugt sein Brief an Brahm vom 14. Aug. 09, in dem er u. a. schreibt: »Die fünf verschiedenen Weiber in den Fünf Szenen erwünsche ich mir nicht von wegen Steigerung der Illusion, sondern nach meiner von Ihnen besser im Gedächtnis behaltenen als anerkannten Theorie, zur Erhöhung des Theaterspaßes, der im letzten und höchsten Sinne auf einer Entfesselung der Ideenassoziationen hinausläuft. Von jeder der fünf weiblichen Figuren soll, wenn irgend möglich, eine neue Kette (der Assoziation) auslaufen, dagegen soll möglichst vermieden sein, daß vielleicht von Szene 4 oder 5 die Assoziationskette statt ins Freie und Neue nach Szene 1 oder 2 oder 3 zurückliefe. Auf der Beobachtung solcher scheinbarer Kleinigkeiten beruht ein nicht geringer Teil aller Theaterwirkung, was ich Ihnen gern in einem längeren und lichtvollen mündlichen Vortrag allem Lächeln zum Trotz auseinandersetzen zu können mir einbilde. Eine andere Art von Theaterwirkung ließe sich erreichen, wenn man alle fünf Weibsen von einer Komödiantin darstellen ließe. Die Freude an der Verwandlungskunst dieser einen würde in diesem Fall das Vergnügen am Wechsel der Gestalten zu ersetzen oder, wenn diese eine ein Genie wäre, zu überbieten vermögen.« (Bfw., a. a. O., S. 218 f.). 94 Die Streichung von »Denksteine« und »Agonie« bei Aufführungen des Zyklus' wurde zur Tradition. Wo im folgenden von Aufführungen des Zyklus' die Rede ist, versteht sich diese Streichung. 96 Zu Emil Lessing vgl. Bfw. A. S.—Otto Brahm, S. 72, Anm. 74, wo O. Seidlin schreibt, die Begabung von Brahms Oberregisseur sei begrenzt gewesen. Aber »trotz Hauptmanns und Schnitzlers Drängen hat sich Brahm nicht entschließen können, sich von ihm zu trennen . . . Lessing war ihm gerade recht: er war ein tüchtiger und praktischer Bühnentechniker, und die eigentliche Regie führte Brahm selbst«.

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In der Wiener Inszenierung spielten unter der Regie von KRAMER

LEOPOLD

als

Anatol Leopold Kramer Max Hans Lackner Cora Käthe Hannemann Gabriele Hedwig Reinau Annie Pepi Glöckner Bianca Paula Müller Ilona Elsa Galafr6s Kellner Felix Pongracz Fran% Hugo Brady B R A H M telegrafiert am 4. Dezember an Schnitter: »Sehr guter Erfolg bei Publikum und Presse, den heutige Aufnahme und Einnahme 5000 bestätigt«96. Das »Zugstück« 97 , so schreibt B R A H M etwas später, »unterhält die Leute sehr, und Ausdrücke wie reizend, entzückend und ähnliche originelle Wendungen durchschwirren die Berliner Lüfte und Salons.«98 In Schnitzlers Tagebuch findet sich unter dem 3. 12. 1910 zur Wiener Uraufführung folgende Eintragung: »Abends Premiere Anatol. Frage wirkte etwas verblaßt, matt; Weihnachtseinkäufe auffallend stark, am besten vielleicht. Abschiedssouper recht gut (aber zu bekannt; von hier an erschien ich vor dem Vorhang), Episode fiel ein wenig ab. Hochzeitsmorgen wurde viel belacht, besonders Kramers Witze. — Der Thronfolger 99 amüsierte sich anscheinend viel besser als beim Medardus100.«. A m 4. Dezember heißt es: »Kritiken sehr günstig«; und am 5. Dezember: »Anatol hat auch in Berlin viel Erfolg. Telegramm von Brahm, 96

Bfw., a. a. O., S. 238. Ebd., S. 239. 98 Ebd., S. 243. 99 Es handelt sich um den 1914 in Serajewo ermordeten Erzherzog Franz Ferdinand, der allerdings eher als amusisch berüchtigt war. — Das Neue Wiener Journal wußte unter dem 4. 12. 1910 zu melden: »Im Deutschen Volkstheater wohnte der gestrigen Premiere des Schnitzlerschen Anatol-Zyklus auch Erzherzog Ferdinand mit seiner Gemahlin, der Herzogin von Hohenberg, in der Hofloge bei. Das wurde im Publikum stark kommentiert, zumal man beim Thronfolger ein besonders starkes Interesse für Schnitzler wahrzunehmen glaubt. Erzherzog Franz Ferdinand war auch bei der Premiere und der darauffolgenden Aufführung des »Jungen Medardus« im Burgtheater anwesend, und es ist auffallend, daß der Erzherzog gegen seine sonstige Gewohnheit diesmal auch einer Premiere im Volkstheater beiwohnte. Er beteiligte sich an dem großen Beifall für Schnitzler überaus lebhaft.« 100 »Der junge Medardus«, Schauspiel v. A. S. Uraufführung: 24. Nov. 1910 am Wiener Burgtheater. 97

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Kritiken. Sehr erfreut. Seltener Fall, daß ein neues Stück, »Medardus«, und die fast 20 Jahre alten Einakter hintereinander so einschlagen. — Viele Briefe, auch von Unbekannten, voll Begeisterung.« 1 0 1 Das Urteil der Berliner Kritik war indessen nicht ganz einhellig. ALFRED KERR freilich feierte Stück und Aufführung uneingeschränkt : »Das Herz geht einem auf, gedenkt man dieses Abends. Wieviel Entzückendes. Wieviel Lachen, wieviel Leisheit, — und wie sehr beides gemischt. [. . .] Das Herz geht einem auf beim lustigen Gedenken dieses Abends. Dieses Lachens; dieser Zauderungen; dieser Ironik; dieses Verstummens; dieser Stöße; dieser Holdheit; dieses Betrugs; dieses Fragens; dieses Zerfließens... [ . . . ] Mit glücklichem Lachen gedenkt man dieses Abends. [. . .]« 102 Dagegen bemerkt S I E G F R I E D J A C O B S O H N , der auch die Aufführung und die Besetzung der Titelrolle mit H E I N Z M O N N A R D rügt und die Darbietung des Gesamtzyklus' überhaupt für verfehlt hält: »Zum Schluß war einem so flau, daß man viel für ein Stück Kommißbrot gegeben hätte. [. . .] Was im Laufe dieses Abends immer mehr ermattet und verdrießt, ist die Einförmigkeit seines Inhalts. Anatol wird fünfmal von derselben Seite gezeigt. Wenn er weiter keine Seite hat? Eben darum reichte es aus, ihn einmal von dieser Seite zu zeigen. E r ist ein homme ä femmes, der vielen Frauen unwiderstehlich ist, und dem alle Frauen unwiderstehlich sind. Was heute schon nicht mehr das ganze Leben der Frau ausmacht, macht noch das ganze Leben dieses Männchens aus. [. . .] Anatöl . . . verrät mit keiner Silbe, ob er eine menschenähnliche Existenz führt, geteilt zwischen die verschiedensten Interessen, eine Existenz, in der die Liebe ihren Platz hat und nicht alles beherrscht. E r kennt nur einen Gesprächsgegenstand: die Liebe. Himmel und Erde bewegen sich für ihn nur um einen Pol: die Liebe. E r ist sich nur des einen Triebs bewußt. Ein Dichter von Schnitters Geist und Kulturgefühl läßt die Geschöpfe seiner Phantasie und die Objekte seiner Beobachtung unaufhörlich das Tier mit den zwei Rücken spielen oder sich zu dieser Beschäftigung rüsten oder sich von ihr erholen oder sich, im besten Fall, vergeblich nach ihr sehnen. Im Laufe eines solchen Abends wird mit keiner Sterbenssilbe angedeutet, daß die Zeit nebenbei noch andere Nöte und Ideen, Strömungen und Ziele hat. Das ist eine Welt, das heißt eine Welt! An sich ist dieses Weltchen sicherlich mit Meisterschaft gezeichnet. In einem sechsten Akt wird 101 102

Aus dem unveröffentlichten Tagebuch. Der Tag, 6. 10. 1910.

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von der Aufrichtigkeit ermüdeter Lügner gesprochen; und wenn Anatol sie auch nicht hat, sondern durchaus nicht müde wird, zu lügen, so ist es doch diese Stimmung von ironischer Wehmut und melancholischer Heiterkeit, die dem Zyklus die psychologische Wahrheit und die künstlerische Einheit gibt. [. . .] Diese Gefahr hat Schnitter, tief, allzu tief in sein Weltchen eingesponnen, ganz und gar übersehen: daß sein Anatol, im Geiste schwach, im Herzen arm, auch als bloßer Liebhaber, als Viveur im oberflächlichsten Sinne kein genügend reizvolles, launenhaftes, schillerndes Exemplar seiner Gattung ist. Nach einer halben Stunde kennt man ihn auswendig; dann wird er immer unerträglicher. Es ist nicht verwunderlich, daß die deutschen Theaterdirektoren sich seit achtzehn Jahren darüber klar sind. Aber es ist sehr verwunderlich, daß der klügste von ihnen sich darüber hat unklar werden können.« 103 Für I S I D O R L A N D A U ist der »ganze Anatol-AhenA«. auch nur eine »hübsche Studie zur Kenntnis von Schnitters E n t w i c k l u n g , nicht als Charakterisierung Schnitters anzusehen«. E r meint: ». . . die immer wieder, immer aufs neue sich wiederholenden Gespräche über das Thema Liebe ermüden . . . [ . . . ] , . . . die maniriert pessimistische Weltanschauung . . . ist nirgends Extrakt von Leben und Erfahrung, sondern überall nur Äußerung genialischer Altklugheit. Ein etwas affektiert müdes Dekadententum geht träg durch diese Szenen. Sie sind das Wiener Gigerltum, auf eine feine sozialphilosophische Formel gebracht, zu einer geistvollen oder witzigen Pointe zugespitzt. Sie atmen den Geist des ehemaligen Wiener Cafe-Stammtisches in Schnitters Verfeinerung.« 104 Durchaus zustimmend äußert sich schließlich A R T H U R E L O E S S E R : »Herr Brahm hat die ebenso einfache wie gescheite Idee gehabt, den ganzen Anatol-Zyklus zu einem Abend zusammenzufassen, und er hat sich den Dank aller notleidenden Theaterbesucher verdient, die einmal lachen wollen, ohne es hinterher zu bereuen. Es gab einen stürmischen Erfolg, von dem auch die Aufführung ihr wohlbemessenes Teil beanspruchen kann.« 105 Die Wiener Kritik lieferte recht wohlmeinende Besprechungen von allerdings sehr unterschiedlicher Qualität 106 . Grund zur Klage 103 Die Schaubühne, hrg. v. S. Jacobsohn, VI. Jg., 2. Bd., Berlin, 1910, S. 1261 f. 104 Beilage des Berliner Börsen-Courier Nr. 567 v. 4. 12. 1910. 105 Vossische Zeitung, 4. 12. 1910. io« Vgl. Neues Wiener Tagblatt, Neues Wiener Journal und Neue Freie Presse, alle vom 4. 12. 1910.

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glaubte einzig die deutschnational gesinnte »Reichspost« zu haben, deren Mitarbeiter schrieb: »Die Büsten von Grillparzer, Schiller und Lessing sind auf der Stirnseite dieses Theaters aufgestellt, das den stolzen Ehrennamen .Deutsches Volkstheater' trägt. Aber der Geist, der in diesem Spielhause herrscht und entscheidet, schwenkt ab und zu ganz auffallend von den Wegen dieser drei ab. Ich kann mit allerbestem Willen nicht einsehen, was so flatterleichte, frivole Unterhaltung wie die heutigen Einakter in einem Theater für das ,deutsche Volk' zu suchen hat.« 107 Die gescheiteste und heute noch gültige Beurteilung des Stückes anläßlich der doppelten Uraufführung gab MAX BURCKHARD108, der etwa ausdrücklich bemerkt, der Zyklus werde außer durch »gemeinsame Gestalten« auch durch »die Idee« zusammengehalten, und der in Anatol u. a. einen Frondeur gegen die »heuchlerische Verlogenheit« bürgerlicher Liebesmoral sieht. Von Anatols Schwermut gibt er folgende eindringliche Explikation: »Was Anatol den Stempel der Melancholie aufdrückt, auch wo er sündigt und scherzhaft ist, das ist nicht ein sittlicher Zwiespalt, in den er gerät. Nicht einmal der Gedanke an das Los, dem vielleicht die Geliebte verfallen wird durch ihre Liebe zu ihm. E s ist der Gedanke an die Vergänglichkeit all' der süßen Freuden, welche die Liebe dem Menschen bringt. An das »Gesetz der Umwertung«, dem wir alle unterliegen, dem Anatol selbst unterliegt und das er so oft schon an sich erlebt hat. Der Gedanke, daß all' das Schöne, dessen er sich jetzt freut oder das ihm bevorsteht, vergeht, daß es ihm einmal nicht mehr so schön erscheinen wird, daß es anders sein wird, als es jetzt ist, daß er wenigstens anders sein wird, als er jetzt ist, anders sehen, anders empfinden wird, so daß er, wenn er darüber raisonnieren wollte, eigentlich zu dem Schlüsse kommen müßte, daß es schon jetzt nicht so schön ist, als es ihn anmutet. Das ist der letzte Grund von Anatols Melancholie. Es ist nicht eine Melancholie aus dem einzelnen Fall und auch nicht eine Melancholie aus der Nichtigkeit und Scheinbarkeit 107

Reichspost v. 4. 12. 1910. Max Burckhard (1854—1912) Ministerialbeamter und Privatdozent f. Privatrecht in Wien, Direktor des Burgtheaters 1890—97, schließlich Rat am Verwaltungsgerichtshof; ästhetische Schriften zum Theater, Romane, Dramen, Essays. B. öffnete der Moderne gegen große Widerstände das Burgtheater. Schnitzler setzte ihm in dem »anarchistischen Hofrat« Dr. Winkler in seinem Drama »Professor Bernhardi« ein Denkmal und widmete das Stück dem Andenken seines kurz zuvor verstorbenen Freundes und Förderers. (Vgl. Bfw. A. S.—Otto Brahm, a. a. O., S. 45, Anm. 27). 108

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der Liebe, sondern eine Melancholie aus der Nichtigkeit und Scheinbarkeit alles Irdischen. Es ist eine Melancholie nicht aus der besonderen Ausnahmenatur Anatols, sondern aus der Natur des Menschen. Des Menschen wenigstens, der wie Anatol Lebenslust und Lebensfreude mit aufmerksamem Schauen und vernünftigem Denken verbindet.« 109 Das Lessingtheater Berlin verzeichnet in der Spielzeit 1910-11 44 Aufführungen; in der folgenden Saison wird das Stück weitere 6mal gespielt. Dies mußte als sehr guter Publikumserfolg gelten. H A U P T M A N N S »Ratten«, uraufgeführt am 13. 1. 1 9 1 1 , die nächste Premiere in diesem Theater, brachte es nur auf 32 Vorstellungen. Vielleicht hätte es bis zum Ende der Spielzeit 1 9 1 0 - 1 1 noch mehr Wiederholungen des Anatol gegeben, wenn nicht seit dem 14. 3. 1 9 1 1 der außergewöhnliche Erfolg von S C H Ö N H E R R S »Glaube und Heimat« -— 76 Vorstellungen — für die letzten zweieinhalb Monate der Saison den Spielplan B R A H M S diktiert hätte 1 1 0 . Das Deutsche Volkstheater Wien bringt es in der ersten Spielzeit auf 35 Aufführungen 1 1 1 . Im Frühjahr 1 9 1 1 übernehmen noch 13 andere deutschsprachige Bühnen das Stück, das es in der Spielzeit 1910-11 auf insgesamt 204, in der Spielzeit 1 9 1 1 - 1 2 auf 157 Aufführungen bringt und sich schließlich auch die Provinz erobert. Bis in die Mitte der zwanziger Jahre hält der Erfolg des Zyklus' unvermindert an 1 1 2 . Es versteht sich, daß das Stück die meiste Resonanz in Wien fand, dessen Theater — abgesehen von der nationalsozialistischen Ära, 109

Fremden-Blatt, Wien, Nr. 533, 4. Dez. 1910, S. 35 f. Angaben lt. Werner Buth, der an einer Dissertation über Brahms Direktion am Lessingtheater arbeitet. 111 Diese und sämtliche folgenden Angaben der Aufführungszahlen sind dem Deutschen Bühnenspielplan, 14. Jg. ff., Leipzig 1911fr. entnommen. 112 Besonders erwähnenswert ist eine Inszenierung im Berliner Theater in der Königgrätzer Straße mitten im Kriege, in der allerdings lediglich »Die Frage an das Schicksal« und »Abschiedssouper«, meist gekoppelt mit »Denksteine« und dem Einakter »Literatur« insgesamt 7omal über die Bühne gingen. Einen Reflex dieser Aufführung vermittelt Alfred Kerrs gereimte Kritik vom 8. Mai 1917, »Ein Schnitzler-Abend (Im Krieg)« (A. Kerr, Die Welt im Drama IV, Eintagsfliegen oder die Macht der Kritik, Berlin 1917, S. 35f.). — Ferner ist die Beliebtheit von »Anatol« bei den Kriegsgefangenenbühnen des Ersten Weltkriegs bemerkenswert, wie ja auch kurioserweise die Uraufführung des »Reigen« im Lagertheater Irkutsk erfolgte. Von »Anatol« weiß man, daß der Zyklus im amerikanischen Offiziersgefangenenlager in Richelieu gegeben wurde. (Dr. Wolfgang Poensgen, Der deutsche Bühnenspielplan im ersten Weltkrieg, Bln. 1934, S. iooff.). 110

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die Schnitter völlig von der Bühne verbannte — immer wieder neue Inszenierungen des Zyklus' herausbrachten 113 . Anatol vermochte auch auf fremdsprachigen Bühnen zu reüssieren. Neben der erwähnten tschechischen Aufführung gab es Inszenierungen in Polen, Rußland, Spanien, Schweden und Jugoslawien; vor allem aber waren die Einakter in den angelsächsischen Ländern recht beliebt und galten dort als das typische Werk Schnitters. Der Gesamtzyklus wurde allerdings seltener gespielt, dagegen sind die Aufführungen einzelner Akte, insbesondere des »Farewell Supper« (Abschiedssouper) vor allem durch Amateurtheater kaum zu zählen. Aufführungen des Zyklus' gab es nach 1910 in London und Chikago 1 1 4 . Besonders erfolgreich war indessen die bereits legendäre Broadwayaufführung mit JOHN BARRYMORE am Little Theatre New York im Jahre 1912 unter der Regie von JOHN FOSTER PLATT115. In Frankreich war Anatol weniger erfolgreich als in den englischsprachigen Ländern, sei es, daß — zumindest auf den ersten Blick — auf Pariser Bühnen Importe dieses Genres überflüssig schienen, sei es, daß die nicht sonderlich glückliche französische Erstaufführung dem Stück seinen Weg versperrte. Das Pariser Théâtre de l'Avenue spielte Anatol 1932 insgesamt i9mal. Die Kritik war zwar nicht 113 So fand die letzte Aufführung der Erstinszenierung von 1910 erst 1924 statt, sogleich aber folgte eine Neuinszenierung von Paul Kalbeck am Theater in der Josef Stadt mit Gustav Waldau. 1932 brachte Franz Hetterich das Stück am Akademie-Theater mit Raoul Asian neu heraus. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte erstmals Karl Eidlitz 1946 am Burgtheater einen Anatol-Einakter auf die Bühne, »Weihnachtseinkäufe«. 1947 folgte »Die Frage an das Schicksal«. Den Zyklus richtete dann Curd Jürgens 1952 für das Akademie-Theater ein, und i960 besorgte Ernst Lothar eine besonders erfolgreiche Einstudierung, gleichfalls am Akademie-Theater, die deshalb bemerkenswert ist, weil sie »Anatols Größenwahn« einbezog, allerdings nicht als Schlußstück, sondern als Auftakt, dem der Zyklus in einer Art Rückblende folgte. 114 Lt. Schinnerer, The Germanic Review, Vol. IV, p. 155. 116 Eine zweite Inszenierung in New York erfolgte 1931 unter Gabriel Beer-Hofmann, dem Sohne Richard Beer-Hofmanns, und Marc Connelly. In den Jahren, in denen man Schnitzler im faschistischen Europa totzuschweigen suchte, gab es in den USA gelegentlich Aufführungen des »Anatol«, so 1940 am Bucks County Playhouse in New Hope, Pennsylvania, mit Louis Calhern unter der Regie von Heinrich Schnitzler, dem emigrierten Sohne des Dichters. Um die gleiche Zeit führte das Theater der University of Washington in Seattle den Zyklus auf, und zwar auf Anregung von Heinrich Schnitzler erstmals unter Einbeziehung des Einakters »Anatols Größenwahn«, der mit dem Titel »Anatol's Megalomania« statt »Anatols Hochzeitsmorgen« das Schlußstück bildete. (Die Angaben über die New Yorker Aufführungen lt. Auskunft der New York Public Library.).

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schlecht, begann sich aber erst recht mit dem Stück auseinanderzusetzen, als es bereits abgesetzt war 1 1 6 . Eine Reihe von Bearbeitungen hat sich Anatol in den USA gefallen lassen müssen. So gibt es eine — freilich völlig mißlungene — Stummfilmversion, die C E C I L B. D E M I L L E 1921 inszenierte117. Spätere Verfilmungspläne in den USA scheiterten stets daran, daß den Produzenten der Stoff zu heikel erschien. Da dieses Werk Schnitters in den Vereinigten Staaten nicht mehr urheberrechtlich geschützt ist, konnten i960 und 1961 zwei Musical-Versionen entstehen, die beide verdientermaßen scheiterten118. Anatol als musikalisches Boulevardtheater, das wirft ein Licht auf das Mißverständnis, dem dieses Werk, ebenso wie der »Reigen«, vom ersten Tage an ausgesetzt war und dem es eigentlich seinen sehr zweifelhaften Erfolg und Ruhm verdankt. Das Publikum war stets geneigt, die skeptisch-grüblerische Seite dieses Stücks, seine tristitia, zu übersehen und sich den Gaumen zu letzen, je nach Kennerschaft, an seiner handfesten Possenkomik oder seinem dekadenten Hautgout, wobei ihm eine auf bloße Bühnenwirksamkeit reduzierte Dramaturgie und Regie häufig genug beflissen sekundiert haben mag. Anstatt Anatol in der Tradition des österreichischen Barock mit seiner Auffassung von der Scheinhaftigkeit irdischer Existenz und vom selbstbetrügerischen fröhlichen Spiel als einer Flucht vor dem Nichts und der Verzweiflung zu sehen, in Schnitzler ferner einen ebenbürtigen Nachfahren der RAIMUND und NESTROY zu gewahren, verfälschte man Werk und Dichter zu Zeugen jener unkomplizierten, trivialen Wiener Lustigkeit, die es nirgends gibt als in walzerseligen Operetten und Filmen und in den Vorstellungen der durch jene geprägten Köpfe 1 1 9 . So stand denn Arthur Schnitter selbst in seinen späteren Jahren dem Weltruhm gerade des Anatol mit sehr gemischten Ge118 Lt. Mitteilung von Mme. Dominique Aucleres, die für die Aufführung unter dem Namen Suzanne Clauser die Ubersetzung von Römon und Vaucaire überarbeitete. 11' Vgl. hierzu Walter Fritz, Arthur Schnitzler und der Film, Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 340, Bl. 20, 12. Dez. 1962. — In der Besetzungsliste des Films figuriert u. a. Gloria Swanson. 118 »Anatol«, adapted from the works of A. S. and Jacques Offenbach. Book and lyrics by Tom Jones und: »The Gay Life«, a musical suggested by A. S.'s Anatol. Book by Fay and Michale Kanin. Lyrics by Howard Dietz. Music by Arthur Schwartz. 119 Dem Entstehen dieser falschen Vorstellung von der Wiener Fröhlichkeit sucht auf die Spur zu kommen der Aufsatz von Henry (d. i. Heinrich) Schnitzler: »Gay Vienna« — Myth and Reality, Journal of the History of Ideas, Vol. XV. No. 1, January 1954, p. 94—118.

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fühlen gegenüber. Dies aber nicht nur wegen des offenkundigen Mißversändnisses, auf das dieses Stück gestoßen war. Einige der Anatol-Szenen hielt er, nicht ganz ohne Grund, für weniger geglückt. In seinen Aufzeichnungen zu Anatol spricht er von einer »begreiflichen Antipathie« gegen Hoch^eitsmorgen120, den er ein andermal eine »dumme Posse« nennt 1 2 1 . An B R A H M schreibt er (4. 8. 09): »Mit den ausgelassenen Stücken [in der geplanten Uraufführung] (Denksteine, Agonie) bin ich wohl einverstanden. Aber daß Sie gerade das ausgelassenste Stück, den YLoch%eitsmorgen, nicht auslassen wollen, freut mich weniger. Mir ist dieses Stück sehr zuwider; es sollte schon manchmal in Berlin aufgeführt werden, ich hab nie meine Einwilligung gegeben . . . Dem Publikum und der Kritik gefällt es übrigens, so mag es denn den Abschluß bilden.« 122 Zugleich bekennt er, daß er Denksteine »natürlich auch nicht mag« 123 . In einem Brief an H U G O V O N H O F M A N N S T H A L vom Sommer 1892 ging Schnitter in seiner Selbstkritik am weitesten —• zu weit — und schrieb: »Haben Sie schon bemerkt, wie miserabel die Agonie ist? — Gut ist nur Frage an das Schicksal und Episode,«124 Noch ungerechter gegen sich selbst ist Schnitters Urteil über den von ihm selbst nie veröffentlichten Schlußakt. y>Anatols Größenwahn ist mißlungen. Dürr und brüchig«, heißt es am 18. 8. 1891 im Tagebuch 1 2 5 . Möglich, daß Schnitzler später seine Einstellung überprüfte, da er den Einakter 1896 ja immerhin zur Aufführung vorschlug. Die äußerst kritische Einstellung des Autors zu seinem ersten bedeutenden Bühnenwerk muß indessen auch aus den biographischen Voraussetzungen verstanden werden. Bis zu einem gewissen Grade hatte sich Schnitter selbst zur Zeit der Entstehung des Anatol mit der Titelfigur identifiziert. Schon der Umstand, daß er bis zu diesen Jahren den Namen des Helden als eigenes Pseudonym für seine frühen Veröffentlichungen benutzte, deutet daraufhin, desgleichen die deutliche Parallelisierung der eigenen Wesensart mit der Anatols in einem Brief an G E O R G B R A N D E S vom 3. 2. 1897: 120

Anatol-Einakter, Bl. 4. Gegenüber seinem Sohne Heinrich, lt. Mitteilg. v. Prof. H. Schnitzler. Briefwechsel A. S.—Otto Brahm, a. a. O., S. 216. 123 Ebd. 124 Der Bf. trägt kein genaues Datum. Er ist in dem demnächst erscheinenden Briefwechsel zwischen Hofmannsthal und Schnitzler enthalten, den Herbert Steiner u. Heinrich Schnitzler im S. Fischer Verlag Frankfurt besorgen. 126 Lt. Mitteilung v. Prof. H. Schnitzler. 121

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Materialien

»Wie kommt es nur, daß Sie mich nach dem Anatol für leichtsinnig hielten, jetzt für ernst? Und doch ist vielleicht beides richtig. Ich bin leichtsinnig in der Art, wie ich in Erlebnisse stürze und schwerlebig durch die Art, wie sie sich meiner bemächtigen. Ich glaube, jeder Mensch hat einen großen Lebensfehler, der ihn abhält sein Wesen zur möglichen Vollendung zu bringen; meine Sünde mag sein, daß ich nicht verstehe, was zu Ende zu leben. Daher befinde ich mich meist in einem Zustand beträchtlicher innerer Schlamperei. Dinge, die lange zu Ende gelebt sind, haben ihren Duft zurückgelassen — und der Duft von todten Sachen ist nie schön, die Blumen auf den Gräbern sind eine traurige Ausflucht. Ich glaube mit dieser unreinlichen, ja fast unmoralischen Art inneren Lebens hängt es auch zusammen, daß ich beinah in jedem Einzelfall gedanklich mit allen Möglichkeiten einer Weiterentwicklung fertig bin — und daß ich den Ereignissen selbst meistens als ein Verblüffter gegenüberstehe.« 126 Der Identifizierung steht freilich ein ebenfalls großes Maß an ironischer Selbstdiagnose und Distanzierung gegenüber, besonders spürbar in Anatols Größenwahn, so daß Anatol, biographisch gesehen, als das Dokument des Prozesses der Selbstfindung des Menschen Arthur Schnitter gelten kann. Mit den Jahren vergrößerte sich der Abstand zu dem Bilde des einstigen Selbst immer mehr, so daß Werk und Figur schließlich, in subjektiver Sicht, nur noch Zeugnis einer längst überwundenen und überdies fragwürdig gewordenen Phase des eigenen Lebens sein konnten 1 2 7 . Eigenartig zwiespältig ist auch die Stellung des jungen H O F M A N N S T H A L zu Anatol. Außer dem bekannteren »Prolog zu dem Buch Anatol« schrieb er den Prolog »Zu einem Buch ähnlicher Art« 1 2 8 , 126 Georg Brandes u. A. S. Ein Briefwechsel, hrg. v. Kurt Bergel, Bern [1956], S. 61 f. 127 In seiner unveröffentlichten Autobiographie nennt Schnitzler gar »Anatol« ein »vielleicht stellenweise unangenehmes, aber doch in vieler Hinsicht charakteristisches Buch«, hervorgegangen aus der »Atmosphäre« einer »verklungenen Zeit«. »Daß diese Atmosphäre«, fährt er fort, »nicht sehr rein und erquicklich war, erkenne ich nicht einmal so sehr an einzelnen Erlebnissen, ja an meiner ganzen Lebensführung in jener Periode, als vielmehr aus dem Ton meiner damaligen Tagebücher, der von AfTektation und sogar von einer gewissen Geckerei sich keineswegs frei zu halten vermag.« 128 Bei dem »Buche ähnlicher Art« handelt es sich um die locker gefügte Szenenfolge »Mimi. Schattenbilder aus einem Mädchenleben« von Bob, d. i. Clara Loeb, ersch. in Neue Deutsche Rundschau, VIII. Jg., April 1897, S. 396—413. — Das Stück ist dem Genre nach entfernt mit »Anatol« verwandt, sein literarischer Wert aber völlig unerheblich.

Zur Wirkungsgeschichte

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in dem das Bewußtsein der Faszination und Gefahr ästhetischer Scheinexistenz unübertrefflich ausgesprochen wird: »[...] Wir haben aus dem Leben, das wir leben, Ein Spiel gemacht, und unsre Wahrheit gleitet Mit unserer Komödie durcheinander Wie eines Taschenspielers hohle Becher — Je mehr ihr hinseht, desto mehr betrogen! Wir geben kleine Fetzen unsres Selbst Für Puppenkleider. Wie die wahren Worte (An denen Lächeln oder Tränen hängen Gleich Tau an einem Busch mit rauhen Blättern) Erschrecken müssen, wenn sie sich erkennen, In dieses Spiel verflochten, halb geschminkt, Halb noch sich selber gleich, und so entfremdet Der großen Unschuld, die sie früher hatten! Ward je ein so verworrnes Spiel gespielt ? Es stiehlt uns von uns selbst und ist nicht lieblich Wie Tanzen oder auf dem Wasser Singen, Und doch ist es das reichste an Verführung Von allen Spielen, die wir Kinder wissen, Wir Kinder dieser sonderbaren Zeit. [. . .]« 129 A m 23. 12. 1893 schrieb H O F M A N N S T H A L an Schnitter: ». . . Ich glaube, ich werde besser nicht über Anatol schreiben. Die Mühe, beinahe Uberwindung, die es mich kostet, macht mich stutzig . . . Ich weiß offenbar zu viel von dem Buch und sehe daher nicht klar. Oder Gott weiß was es sonst ist.« 130 — Den in Anatol unverkennbaren, wenn auch durch den Relativismus einer impressionistischen Lebenssicht geschwächten sittlichen Impuls haben Publikum und Kritiker kaum je beachtet. Dagegen notiert R O B E R T M U S I L um 1920: »Der frühe Schnitter} Das war ein Moralist; gleichgültig von welcher Tiefe 1 3 1 «, und der Theaterhistoriker M A X M A R T E R S T E I G schreibt 1924: »Die graziöse Frivolität, die Schnitter in den Dialogen .Anatole' verriet, zeigt schon ein bemerkenswertes Stück künstlerischer Kultur in der Art und Weise, wie ein tieferes sittliches Empfinden sich in schwermütiger aber ironisch abbrechender Sehnsucht äußert.« 132 129 Hugo v. Hofmannsthal, Die Gedichte u. Lyrischen Dramen, Stockholm 1946, S. 4of. wo Yg] den demnächst erscheinenden Briefwechsel. 131 Robert Musil, Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, hrg. v. A. Frisé, Hamburg [1935], S. 206. 132 Das deutsche Theater im 19. Jahrhundert, Leipzig 1924, S. 686.

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Materialien

Auch F R A N K W E D E K I N D gewahrte in Schnitter einen Dichter, der jenseits aller sozialpolitischen Verbrämung nach den Möglichkeiten humanen Existierens in einer Welt von Scheinwerten suchte 133 . In der Kritik der verlogenen Bürgermoral begegneten sich diese beiden unterschiedlichen Dichternaturen. — Schnitter selbst hat von sich gesagt: »Ich schreibe Diagnosen.« 134 Gewiß hat Schnitter auf einige Zeitgenossen und auf eine Reihe von Autoren der nachfolgenden Generation literarischen Einfluß gehabt, so auf F E L I X S A L T E N , F E L I X D Ö R M A N N , R A O U L A D E R N HEIMER,

ANTON

WILDGANS,

STEFAN

ZWEIG,

HANS

MÜLLER,

selbst auf R O B E R T M U S I L U . a.; nirgends jedoch läßt sich eine direkte Einwirkung von Anatol, sei es seiner dramatischen Struktur, sei es der besonderen Wesensart des »Helden«, nachweisen. Offenbar sind Stück und Titelfigur von einer Originalität, die jede stoffliche oder formale Anknüpfung ausschloß. Einige Gestalten aus dem Werke H U G O V O N H O F M A N N S T H A L S freilich bekunden eine auffallende Nähe zur Analol-Figat. Eher noch als die nicht durch Melancholie und Skepsis angefochtenen Abenteurer in »Der Abenteurer und die Sängerin« (1899) und »Cristinas Heimreise« (1910) können Andrea in »Gestern« (1891), Claudio in »Der Tor und Tod« (1893) und selbst noch Hans Karl Bühl in »Der Schwierige« (1921) als Brüder Anatols gelten 1 3 5 . Entschiedener als Schnitter versucht allerdings H O F M A N N S T H A L über die bloße »Diagnose« zu neuen Wertsetzungen hinauszugelangen. Die Ähnlichkeiten der Anfänge beider Dichter in ihrem Frühwerk liegen wohl nicht in irgend einer Art von Abhängigkeit — allenfalls in einer wechselseitigen — begründet, sondern sind Ausdruck ihrer Zeitgenossenschaft, ihrer Traditions- und Milieugemeinschaft, vor allem aber einer ursprünglichen geistigen und künstlerischen Wesensverwandtschaft. Die eigentümliche Struktur der ^4«a/ö/-Einakterfolge mit ihrem Formprinzip der Iteration hat Schnitter selbst im »Reigen« ein zweites Mal verwandt und zur Vollendung geführt. Auch hier leistet dieses Formprinzip in einer selten erreichbaren Kongruenz von Gestalt und Intention die kritisch-satirische, traurig-komische ERNST

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LOTHAR, ALEXANDER

LERNET-HOLENIA,

Vgl. Richard Specht, A. S., a. a. O., S. 342. 134 Y g j s. Trebitsch, Chronik eines Lebens, Zürich, Stuttgart, Wien [1951], S. 392. 136 Ahnherren dieser problematischen Männergestalten, zu denen aus der Literatur um 1900 ferner Jacobsens Niels Lyhne, eine Reihe von Figuren Herman Bangs und Eduard v. Keyserlings, Th. Manns Tonio Kröger und Rilkes Malte Laurids Brigge gehören, sind Hamlet und Werther.

Literatur

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Enthüllung der illusionistischen Lebens- und Liebeskomödie in ihrer Leere und Monotonie mechanischer Wiederholung. Schnitters Anatol, eine wesentliche Station am Beginn der Entwicklung des modernen Dramas, spiegelt, in Parallele zu den zeitgenössischen Dramen der S T R I N D B E R G , T S C H E C H O W , M A E T E R L I N C K , H O F M A N N S T H A L , W E D E K I N D U . a., in der Problematik der Gattung die Problematik der Zeit. Der Auflösungsprozeß, dem das traditionelle Drama bis hin zu P I R A N D E L L O und über ihn hinaus unterliegt, ist hier bereits klar erkennbar als Folge der Diskontinuität und Vereinzelung des Individuums und der umfassenden Relativierung von Wahrheit und Wirklichkeit überhaupt. Die Wirkung dieses Werkes, wo sie denn gemäß seiner Intention gelang, lag — und liegt — in der Objektivation und Bewußtmachung eines wesentlichen Aspekts der geistigen und künstlerischen Situation der Moderne. Solche Wirkungen entziehen sich freilich zumeist dem konkreten Aufweis. L i t e r a t u r (in Auswahl) Eine Spezialuntersuchung zu Schnitters Anatol liegt nicht vor. Auch wurden bisher sowohl die Einaktertechnik als auch überhaupt das Bühnenschaffen Schnitters auffallend vernachlässigt, während es zahlreiche Arbeiten zum Weltbild und zu den erzählenden Werken gibt. Die gesamte .SVin/'/^/er-Literatur findet sich verzeichnet in den neueren Veröffentlichungen: K Ü R T (Hrsg.): Georg Brandes und Arthur Schnitzler. Ein Briefwechsel, Bern o. J. (1956). und: L A O T I N , R U D O L F : Traum und Wirklichkeit in der Prosadichtung Arthur Schnitzlers. Diss. Köln 1958. BERGEL,

* R I C H A R D : Über Hugo von Hofmannsthal, Göttingen 1958. (Analyse des »impressionistischen Menschen« in den Abhandlungen »Hofmannsthals Anfang: ,Gestern'« und »Hofmannsthals erste Komödie«.)

ALEWYN,

Der Einakterzyklus, Diss. Wien o. J . (1950). (Masch.Schr.) (Recht unkritische, vorwiegend deskriptive Ausbreitung des Materials; sachlich nicht immer zuverlässig.)

APSLER, ALFRED:

Das nihilistische Weltbild Arthur Schnitzlers, Diss. Stuttgart 1936. (Grundlegende, bis heute maßgebende Studie.)

BLUME, BERNHARD:

D.: Die Weise von Anatol, Forum, I X . Jahr, Heft 102, S. 263—265, Wien 1962. (Der Anatol-Typus — ein »Jedermann ohne Erlösung«.)

KLARMANN, ADOLF

Materialien

200

J O S E F : Arthur Schnitzlers Gestalten und Probleme, Zürich — Leipzig—Wien 1921. (Rein immanente Betrachtungsweise; völliger Verzicht auf geistesgeschichtliche Bestimmung.)

KÖRNER,

S O L : Arthur Schnitzler, New York 1932. (Ausführliche Charakterisierung Atiatols als eines »aesthetic epicurean«.)

LIPTZIN,

H E I N Z : Unheldenhafte und heldenhafte Menschen bei den Wiener Dichtern um 1900, Mnemosyne, Heft 2, Bonn 1929. (Interpretation der Anatol-GzstzXt aus der Psychologie von Adler und Jaspers.) M Ü L L E R - F R E I E N F E L S , R E I N H A R T : Das Lebensgefühl in Arthur Schnitzlers Dramen, Diss. Frankfurt 1954 (Masch.-Schr.). (Wichtige Fortführung der Ansätze Blumes. Die Beschränkung auf das Drama erscheint willkürlich, zumal die Relationen zwischen dramatischer Form und Weltsicht nicht untersucht werden.) MERTENS,

Deutsch-österreichische Literaturgeschichte, Bd. IV, Wien 1937. (Friedrich Kainz behandelt Anatol im Abschnitt B. Die Moderne in Österreich. 7. Jung-Österreich und Jung-Wien auf Seite 1749—1752. Sein Gesamturteil: »Bagatellprobleme ohne menschliche Bedeutsamkeit«.)

NAGL-ZEIDLER-CASTLE :

Das Drei-, Zwei- und Einpersonenstück, Diss. Wien 1929. (Masch.-Schr.) (Brauchbare Deskription und Versuch einer poetologischen Bestimmung des Phänomens.) P O L I T Z E R , H E I N Z : Diagnose und Dichtung, Forum, I X . Jahr, Heft 101, S . 217—219, Heft 102, S. 266—270, Wien 1962. (Anatols »tragikomische« Züge, seine »Angst« werden herausgestellt.)

POINTNER LUDWIG :

O T T O P . : The Early Works of Arthur Schnitzler, The Germanic Review, Vol. IV, No. 2, New York 1929. (Ausführliche Hinweise auf »Das Abenteuer seines Lebens« und die Anatol-Gedichte.) S C H I N N E R E R , O T T O P . : Arthur Schnitzler's »Nachlaß«, The Germanic Review, Vol. VII, No. 2, New York 1932. (Zu pauschale Angaben über das v4«a/o/-Material.) S C H I N N E R E R , O T T O P . : Systematisches Verzeichnis der Werke von Arthur Schnitzler, Jahrbuch deutscher Bibliophilen und Literaturfreunde, hrsg. von Hans Feigl, XVIII-XIX. Jg., 1932-33, Berlin—Wien— Leipzig o. J. (1933). (Zuverlässige Angaben über Erstdruck und -aufführung der ^4»