Ambivalente Bilder: Fotografien und Bildpostkarten aus Südamerika im Deutschen Reich (1880-1930) 9783839443415

How did the people of the German Reich between 1880 and 1930 picture South America? This book provides the first encompa

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German Pages 506 Year 2019

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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Der wissenschaftliche Blick
Der sehnsüchtige Blick
Der historisierende Blick
Fazit und Ausblick
Quellen- und Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis
Danksagung
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Ambivalente Bilder: Fotografien und Bildpostkarten aus Südamerika im Deutschen Reich (1880-1930)
 9783839443415

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Hinnerk Onken Ambivalente Bilder

Histoire  | Band 137

Hinnerk Onken (Dr. phil.) lehrt und forscht an der Leibniz Universität Hannover zur Geschichte Lateinamerikas. Zuvor war er von 2010 bis 2017 an der Universität zu Köln beschäftigt. Für seine Dissertation an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt erhielt er 2011 den renommierten Kulturpreis Bayern.

Hinnerk Onken

Ambivalente Bilder Fotografien und Bildpostkarten aus Südamerika im Deutschen Reich (1880-1930)

Gefördert durch eine Sachbeihilfe der DFG.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildungen: blau: Bildpostkarte »Indios Antropófagos, Rio Pachitea (Perú), No. 154«, Fotografie: Charles Kroehle, 1888, Verlag: Eduardo Polack, Lima, gelaufen 01.05.1906, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1965/702-32, mit freundlicher Genehmigung; rot: Bildpostkarte »Plaza de Congreso – Buenos Aires«, Verlag: J. Cunill, Buenos Aires, gelaufen 1926, aus der Sammlung der SHMH/Altonaer Museum, Hamburg, Inv. Nr. 1969-454,83, mit freundlicher Genehmigung; grün: Fotografie »Der Verfasser mit Ashluslayfreunden« von Carl Moberg (?), 1908/09, aus Nordenskiöld, Erland: Indianerleben: El Gran Chaco (Südamerika), übers. v. Carl Auerbach, Leipzig: Albert Bonnier, 1912 [schwed. 1910: Indianlif i el Gran Chaco (Syd-Amerika)], Tafel 1, Frontispiz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4341-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4341-5 https://doi.org/10.14361/9783839443415 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Einleitung | 7

Fragestellung der Arbeit | 9 Quellen und Literatur | 13 Theoretische Überlegungen und methodische Ansätze | 47 Der wissenschaftliche Blick | 59

Das epistemische System | 60 Anthropologische und ethnografische Bilder | 62 Archäologische Bilder | 99 Weitere wissenschaftliche Bilder: Geologie, Geografie, Botanik, Zoologie | 115 Zwischenfazit | 141 Der sehnsüchtige Blick | 149

Emotion und Raum | 150 Koloniale Fantasien | 152 Auswanderer, Kolonisten und „Auslandsdeutsche“ | 161 Aufsteiger und Aussteiger, Abenteurer und Glücksritter | 176 Bilder vom Scheitern | 204 Erotische Fantasien und sexuelles Verlangen | 213 Zwischenfazit II | 252 Der historisierende Blick | 255

Bildpostkarten und gedruckte Fotografien als Vermittler von „Moderne“ | 255 Blicke in die Vergangenheit I: Landschaften, Gauchos und andere costumbristische Motive | 277 Blicke in die Vergangenheit II: „Verkommene Indios“, keine „edlen Wilden“ | 289 Blicke in die Vergangenheit III: Gefährliche Indigene | 308 Blicke in die Vergangenheit IV oder Vom Verschwinden: Besiegte Indigene | 339 Zwischenfazit III | 361

Fazit und Ausblick | 363 Quellen- und Literaturverzeichnis | 377

Quellenverzeichnis | 377 Literaturverzeichnis | 407 Personenverzeichnis | 493 Dank | 503

Einleitung

„Südamerika ist für die Mehrzahl der gebildeten Europäer noch unbekannter als Afrika und Asien“ beginnt Kasimir Edschmids (1890-1966, eigentlich Eduard Schmid) 1932 veröffentlichtes Buch Südamerika wird photographiert.1 Tatsächlich stand diese Weltregion nicht häufig und wenn, dann meist nur für eine begrenzte Zeit im Fokus des Interesses der deutschen Öffentlichkeit. Nach der „zweiten Entdeckung Amerikas“ durch Alexander von Humboldt (1769-1859), der von Simón Bolívar sogar als „wahrer Entdecker Amerikas“ gepriesen wurde, gab es Anfang des 19. Jahrhunderts in bürgerlichen Kreisen in Europa ein geradezu euphorisches Interesse an der Weltregion, die schon bald vornehmlich aus unabhängigen Republiken (mit der Ausnahme Brasiliens und der Guyanas) bestehen sollte. Humboldt hatte von 1799 bis 1804 gemeinsam mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland (1773-1858) die spanischen Vizekönigreiche Neugranada, Neuspanien und Peru bereist und arbeitete in Paris und Berlin jahrzehntelang an der Veröffentlichung seiner Forschungsergebnisse. Seine Berichte prägten auf lange Zeit sowohl das Südamerikabild in Europa als auch dessen medialen Transfer.2 Doch als die allgemeine Euphorie verflogen war, ließ das öffentliche Inter1

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Edschmid, Südamerika wird photographiert, S. 3. Für weitere Informationen zum nicht ganz unproblematischen Werk und Leben Edschmids s. Kap. 2. Zur Zitierweise ist anzumerken, dass längere Zitate kleiner und mit einzeiligem Abstand gesetzt sind. Englischsprachige Zitate werden anders als spanisch- und französischsprachige Zitate nicht ins Deutsche übersetzt. Aus Gründen der Quellentreue werden weder inhaltliche Veränderungen vorgenommen, noch Fehler beispielsweise der Rechtschreibung korrigiert. Fehler werden durch [sic!] kenntlich gemacht, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um eine falsche Wiedergabe durch den Autor dieser Arbeit handelt. Damit dies aber nicht überhand nimmt, sind davon ausgenommen im 19. und frühen 20. Jahrhundert übliche Schreibweisen oder etwa Bewußtsein (statt Bewusstsein) in vor der Rechtschreibreform entstandenen deutschen Texten. Noch nicht ins Deutsche eingegangene Fremdwörter werden kursiv gesetzt. Gleiches gilt für die Titel von Monografien und Sammelbänden. Die von Edschmid wie auch im Folgenden von mir gewählte männliche Form kann weibliche Personen einbeziehen. Auf konsequente Doppelbezeichnung oder Konstruktionen mit Klammern, Schrägstrich oder Binnen-I sowie Gender Gap oder * wurde aufgrund besserer Lesbarkeit verzichtet. Vgl. dazu z.B. Pratt, Imperial Eyes, S. 111-143 und unter den unzähligen Arbeiten zu Humboldt z.B. die neueren Titel von Rupke, Alexander von Humboldt und Ette, Alexander von Humboldt und die Globalisierung oder Zeuske (Hg.), Humboldt in Amerika. Vgl. zu deutsch-

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esse an Südamerika nach und der Subkontinent geriet bei vielen Europäern wieder weitgehend in Vergessenheit. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in deutschen Medien wieder ausführlicher berichtet: über den Tripel-Allianz-Krieg (1864-1870) zwischen Brasilien, Argentinien und Uruguay auf der einen und Paraguay auf der anderen Seite.3 Auch die Europareisen Domingo Faustino Sarmientos (1811-1888) in den 1840er und vor allem die des brasilianischen Kaisers Dom Pedro II. (1825-1891) in den 1870er Jahren beschäftigten die Zeitungen und sorgten dafür, dass Südamerika für kurze Zeit gewissermaßen en vogue war. Dazu orientierten sich – zumindest rhetorisch – viele 1848er an lateinamerikanischen Vorbildern.4 Im frühen 20. Jahrhundert war es u.a. die Venezuelakrise 1902/03, bei der finanzielle Interessen deutscher Gläubiger und das weltpolitische Interesse des Reiches mit Kanonenbootpolitik vertreten wurden, die den Subkontinent in die deutschen Medien und ins öffentliche Bewusstsein brachte.5 Das wohl bedeutendste und v.a. beständigste Thema, das Medien und Öffentlichkeit während des gesamten Untersuchungszeitraums immer wieder beschäftigte, aber war das der deutschen Auswanderung nach Südamerika.6 So mag zwar Edschmids Satz, sicher nicht zuletzt aus Gründen der Eigenwerbung, etwas überspitzt sein, doch alles in allem dürften insbesondere die deutschen kolonialen Bestrebungen in Afrika, in China und in der Südsee, die deutsche Auswanderung in die USA oder die Erfolge deutscher Expeditionen und Ausgrabungen in Kleinasien, in Nordafrika, im Nahen und Mittleren Osten sowie in Zentralasien die Berichterstattung über „Außereuropa“ im Untersuchungszeitraum tatsächlich mehr beschäftigt haben.7 Trotzdem gab es im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Vielzahl von Menschen, die sich für Südame-

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südamerikanischen Verbindungen außerdem den Forschungsüberblick von Penny, Latin American Connections. Vgl. Domnick, Der Krieg der Tripel-Allianz in der deutschen Historiographie und Publizistik und zeitgenössisch Versen, Reisen in Amerika und der südamerikanische Krieg sowie zum Krieg Whigham, La Guerra de la Triple Alianza. Vgl. Bayly, The Birth of the Modern World, S. 4. Für einen sehr kurzen Überblick der deutschen und europäischen Beschäftigung mit und der Faszination von Lateinamerika vgl. Rupprecht, Die Liebe der Linken zu Lateinamerika. Vgl. zur Venezuelakrise Fiebig-von Hase, Großmachtkonflikte in der Westlichen Hemisphäre; Mitchell, The Danger of Dreams; Zeuske, Trasfondos del conflicto de 1902 und knapp ders., Von Bolívar zu Chávez, S. 322-325 sowie zur Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Auswärtigen Amtes hinsichtlich Südamerikas neuerdings Wroblewski, Moralische Eroberungen als Instrumente der Diplomatie, bes. S. 135-161. Für die Zeit der Weimarer Republik vgl. grundlegend Rinke, „Der letzte freie Kontinent“. S. dazu ausführlich Kap. 2. Susanne Zantop zufolge war das nicht immer so: Im 18. und 19. Jahrhundert sei Südamerika, auf das sich die Kolonialfantasien richteten, für die Menschen im deutschen Sprachraum interessanter gewesen, als z.B. Afrika. In der deutschen Ausgabe ihrer Arbeit über koloniale Fantasien hat Zantop als Beleg eine mehr als 900 Titel umfassende und dabei immer noch unvollständige Bibliografie veröffentlicht. Erfasst sind zwischen 1700 und 1900 in deutscher Sprache erschienene wissenschaftliche und literarische Texte. Von deutschen Lesern ebenfalls rezipierte französische oder englische Arbeiten wurden von ihr nicht berücksichtigt. Vgl. Zantop, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland, S. 262-314. Zum Afrikabild vgl. z.B. Fiedler, Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus.

Einleitung | 9

rika interessierten: Geografen, Geologen, Anthropologen, Ethnologen, Botaniker, Archäologen und andere Wissenschaftler, Kaufleute, Unternehmer und Investoren,8 Schriftsteller oder eben Hunderttausende Auswanderer und ihre Angehörigen. (Zudem waren südamerikanische Erzeugnisse im Alltag vieler Menschen präsent: u.a. Tabak aus der Karibik oder Brasilien, Kaffee aus Brasilien, Kolumbien oder Mittelamerika, Silber aus Peru, Zinn aus Bolivien, Kupfer aus Chile.) Und wie der populäre Reiseschriftsteller Richard Katz (1888-1968) im Vorwort seines 1931 erschienenen Berichts Schnaps, Kokain und Lamas: Kreuz und quer durch wirres Südamerika schrieb, handelte es sich bei Südamerika um einen „Erdteil […], dessen Kenntnis Voraussetzung eines geordneten Weltbilds ist.“9

FRAGESTELLUNG DER ARBEIT Obwohl das Wissen um den Subkontinent in der breiteren Öffentlichkeit offenbar nicht allzu umfassend war, werden sich die Menschen im Deutschen Reich eine Vorstellung von Südamerika gemacht haben. Diese Vorstellung, die aufgrund des begrenzten konkreten Wissens viel Raum für Fantasien und Projektionen bot, wurde durch unterschiedliche Medien vermittelt. Neben den, wie erwähnt, vermutlich eher spärlichen Informationen in Zeitungen und Zeitschriften gaben wissenschaftliche Arbeiten aus unterschiedlichen Disziplinen, Reiseberichte, Länderführer und Handbücher für Auswanderer z.T. detailliert Auskunft über Südamerika, die Geschichte der Länder des Subkontinents, ihre Wirtschaft, Gesellschaft, geografische und klimatische Bedingungen, etc. Viele dieser Publikationen enthielten auch visuelle Darstellungen; sie waren seit den 1880er und 1890er Jahren mit Fotografien oder, v.a. zuvor, mit Lithografien (die oftmals auf Fotografien beruhten) illustriert. Visuelle Medien spielten eine große Rolle bei der Vermittlung und Popularisierung des Wissens um Südamerika und um die dort lebenden Menschen. Dies galt schon seit der frühen Neuzeit, als der Kontinent Ziel der europäischen Expansion wurde. Beispielhaft sei hier auf die 1593 von de Bry herausgegebene illustrierte Ausgabe von Hans Stadens (um 1525-1575) 1557 zuerst erschienener Reisebeschreibung Warhaftige Historia und beschreibung eyner Landschafft der wilden nacketen grimmigen Menschfresser Leuthen in der Newenwelt America gelegen sowie die Arbeiten von Franz Obermeier und anderen zu Bildern unter anderem von Indigenen in der Reiseliteratur und in Einblattdrucken zu Südamerika im 16. und 17. Jahrhundert verwiesen.10 Auch Alexander von Humboldt suchte, wie schon viele Forscher

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1906 gründeten Vertreter der Dresdner Bank, des A. Schaaffhausen’schen Bankvereins und der Darmstädter und Nationalbank in Berlin die Deutsch-Südamerikanische Bank mit Niederlasungen in Hamburg, Argentinien, Brasilien, Chile, Mexiko, Peru, Uruguay und Spanien. 9 Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, S. 5. Vgl. zu Katz z.B. Eckl, Richard Katz. 10 Vgl. Staden, Brasilia sowie ders., Warhaftige Historia und beschreibung und weiter z.B. Egaña Rojas, Lo monstruoso y el cuerpo fragmentado sowie Obermeier, Albert Eckhouts Indianerbilder aus Nordbrasilien; ders., Bilder von Kannibalen, Kannibalismus im Bild; ders., Die frühen illustrierten Einblattdrucke zu Amerika und ders., Bildpublizistik in der

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vor ihm, seine Erkenntnisse und Forschungsergebnisse visuell zu vermitteln und prägte so das Südamerikabild im 19. Jahrhundert.11 Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhundert erhielt diese Bildüberlieferung mit der Einführung der Fotografie neue Impulse. Fotos und ab den 1890er Jahren Bildpostkarten,12 die im Folgenden ausführlich vorgestellt werden, aus Südamerika führten den Menschen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik ein ambivalentes Bild des fremden Kontinents vor Augen, das mit bestehenden Vorstellungen und Projektionen zusammenwirkte, aber auch mit diesen konkurrierte. Die Ambivalenz des Südamerikabildes wird deutlich in den Motiven, denn die Bildmedien zeigten einerseits Eisenbahnen und Bahnhöfe, Stadtansichten, Parlamente, Regierungspaläste, Banken und andere (öffentliche) Gebäude, Häfen, Zoos und Fabriken. Ein ganz anderes Bild zeichneten dagegen Ansichten von Indigenen und Ruinen. Auf den ersten Blick scheinen die Quellen so insgesamt eine bekannte Dichotomie aus Tradition und Moderne, aus Barbarei und Zivilisation zu zeigen. Aber die genauere Untersuchung des Bildes ergibt, dass es nicht dichotomisch war, sondern dass es zwischen den Extremen einen breiten Zwischenraum gab, indem sich hybride Bedeutungen bildeten, deren Sinn je nach Nutzungszusammenhängen oszillierte. Die zentrale Frage, die zu beantworten die vorliegende Arbeit zum Ziel hat, ist die nach den Vorstellungen von Südamerika, welche die visuellen Medien Fotografie und Bildpostkarte vermittelten. Ähnlich fragte zwar auch Mary Louise Pratt in ihrer Arbeit Imperial Eyes: „How has travel and exploration writing produced ‘the rest of the world’ for European readerships […]?“13 Jedoch ist dieses Vorhaben mit seinem Ziel, die visuell vermittelte Vorstellung der Menschen im Deutschen Reich von Südamerika umfassend zu untersuchen, höchst innovativ: Es gibt keine vergleichbaren Arbeiten, weder zur Imagination anderer Weltregionen wie etwa Asien oder Afrika, noch für andere nationale Kontexte, also die Vorstellungen der Menschen in Großbritannien, Frankreich, Italien, den USA oder andernorts von der Welt bzw. fernen und fremden Reiseliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts. Vgl. außerdem mehrere der Beiträge in Kohl (Hg.), Mythen der Neuen Welt sowie zu den de Brys Burghartz, Inszenierte Welten und Schmidt, Reisen in das Orientalische Indien und zu frühneuzeitlichen Bilddrucken allgemein Würgler, Medien in der Frühen Neuzeit. Für die Rolle von Zeichnungen bei der Imagination fremder Weltregionen und ihrer Bewohner vgl. neben den im Folgenden erwähnten Arbeiten auch Rees, Die verzeichnete Fremde oder Sach, „Die Zeichnungen von M. Le Prince sind noch das Beste an Eurem Buch“. 11 Vgl. dazu die Arbeiten von Löschner, Bilder aus Brasilien im 19. Jahrhundert; dies., Vom Chimborazo zum Orinoco; dies., Die Amerikaillustration unter dem Einfluß Alexander von Humboldts und ganz knapp dies., “Ya que soy un inepto en cuestión de colores...”. Vgl. für frühere Visualisierungen, etwa der Ergebnisse von botanischen Forschungsexpeditionen nach Lateinamerika im 18. Jahrhundert, Bleichmar, Visible Empire. 12 Die Bezeichnung Bildpostkarte für illustrierte Postkarten ist umstritten, denn es gibt auch eine um 1890 in Brasilien erfundene und in den 1920er Jahren im Deutschen Reich eingeführte spezielle Form der Postkarte, die so heißt. Dabei handelt es sich um eine Ganzsache, d.h. das Postwertzeichen ist bereits aufgedruckt. In der vorliegenden Arbeit wird die Bezeichnung Bildpostkarte weitestgehend synonym mit der ebenfalls gebräuchlichen Bezeichnung Ansichtskarte verwendet. Sie schließt aber auch Ganzsachen ein. 13 Pratt, Imperial Eyes, S. 5.

Einleitung | 11

Erdteilen. Dazu kommt als eine weitere Herausforderung, dass in der vorliegenden Arbeit visuelle und textuelle Medien integriert werden sollen, um die von William J.T. Mitchell konstatierte Trennung, das unverbundene Nebeneinander von Text und Bild zu überwinden, das viele Studien vor (und auch nach) dem sogenannten (und behaupteten) pictorial, iconic, iconographic oder iconological turn kennzeichnet.14 Auch wenn, wie zu zeigen sein wird, das Bild, das diese Medien dem deutschen Publikum im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vermittelten, ambivalent war – die bildlichen und textlichen Komponenten waren weitestgehend kongruent. Zu letzteren gehören auch zahlreiche Romane, Dramen und Lieder, deren Handlungen in Südamerika angesiedelt waren und die die Fantasie der Leser beflügelten. Die Literaturwissenschaftlerin Susanne Zantop hat in ihrer Arbeit Colonial Fantasies: Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770-1870 gezeigt, dass fiktive Geschichten deutscher Konquistadoren und Kolonisten auf mission civilatrice in Südamerika schon vor der Etablierung des deutschen Kolonialreiches koloniale Fantasien weckten wie befriedigten.15 Und auch Leben und Taten tatsächlicher Eroberer der „Neuen Welt“ waren seit dem 18. und bis ins 20. Jahrhundert Gegenstand literarischer Werke.16 Das Sujet der Entdeckung und Eroberung Amerikas war so wirkmächtig, dass es Auswirkungen auf zeitgenössische koloniale Unternehmungen hatte. Wie der Literaturwissenschaftler Wolfgang Struck analysierte, setzte der Begründer der Kolonie „Deutsch-Ostafrika“, Carl Peters (1856-1918), in seinen Schriften „das Eldorado der neuen mit dem Ophir der alten Welt [gleich …] als Ziel einer Suche, die weniger dem materiellen Gewinn als der ‚Bereicherung‘ der Persönlichkeit dient; so bezieht er sich bereits im Bericht über sein erstes Afrika-Unternehmen auf das Cortes zugeschriebene Motiv, die eigenen Schiffe verbrannt zu haben, um die Expedition auf ein Alles-oder-Nichts, auf Sieg oder Untergang, einzuschwören (wenngleich sich das bei Peters etwas weniger existentiell gestaltet; was er aufs Spiel setzt, ist seine Position gegenüber den Aktionären der DOAG, die er mit seinem eigenmächtigen Handeln hintergeht), also nicht, sich dem fremden Land auszuliefern, sondern, im Gegenteil, die eigene Position zu stabilisieren.“ 17

Zu den z.T. äußerst populären Autoren, die Romane verfassten, deren Schauplätze in Südamerika angesiedelt sind, gehören beispielsweise der erwähnte Kasimir Edschmid 14 Vgl. Mitchell, Iconology: Image, Text, Ideology und zum angeblichen pictorial turn, der Geschichts- und Kulturwissenschaften Anfang der 1990er Jahre erfasst habe, ders., The Pictorial Turn sowie zuletzt Geise et al. (Hg.), Historische Perspektiven auf den Iconic Turn. Für einen früheren gelungenen Versuch der Überwindung vgl. Juneja/Potthast (Hg.), BildGeschichten: Das Verhältnis von Bild und Text. 15 Vgl. Zantop, Colonial Fantasies. Vgl. für noch frühere Vorstellungen von den Amerikas Schülting, Wilde Frauen, fremde Welten; Mahlke, Offenbarung im Westen und Schnurmann, Europa trifft Amerika. 16 Vgl. Detering, Kolumbus, Cortés, Montezuma und grundlegend Greenblatt, Marvelous Posessions sowie Todorov, Die Eroberung Amerikas. Von besonderem Interesse für Schriftsteller wie für Leser waren dabei der Konquistador Cortés und die Eroberung des Aztekenreiches wie der fantastische und um deutsche Protagonisten bereicherte Roman von Perutz, Die dritte Kugel oder Stucken, Die weißen Götter zeigen. 17 Struck, Die Eroberung der Phantasie, S. 22.

12 | Ambivalente Bilder

sowie die Reise- und Abenteuerschriftsteller Friedrich Gerstäcker (1816-1872), Sophie Wörishöffer (1838-1890), Ferdinand Emmerich (1858-1930), Friedrich Wilhelm Mader (1866-1945) und Ernst Friedrich Löhndorff (1899-1976);18 und zwei Romane sowie eine Marienkalendergeschichte Karl Mays (1842-1912) spielen ebenfalls, das wird oft vergessen, in Südamerika.19 Gerade Mays Erzählungen waren für das populäre Wissen um Südamerika von großer Bedeutung, denn der Autor war einer der erfolgreichsten Abenteuerschriftsteller seiner Zeit und seine Veröffentlichungen gehörten zu den meistgelesenen überhaupt. Die in Mays und anderen zeitgenössischen Erzählungen und Romanen vermittelten stereotypen Vorstellungen und „Bilder des Anderen“ 18 Vgl. Wörishöffer, Die Diamanten des Peruaners; Mader, El Dorado; Löhndorff, Blumenhölle am Jacinto; ders., Trommle, Piet! sowie ders., Tropensymphonie. S. zu Löhndorff auch Kap. 2. Gerstäckers Werke werden im Folgenden in der Einleitung und in Kapitel 2 aufgeführt. Ferdinand Emmerich, der offenbar über beträchtliche finanzielle Mittel verfügte, hatte nach dem Ende seines Medizin- und Biologiestudiums in den 1880er Jahren die Welt bereist. In den 1920er Jahren verfasste er zahlreiche Reise- und Abenteuerromane, die nicht nur wegen des Ich-Erzählers stark an die Werke Karl Mays erinnern. Im Unterschied zu diesem hatte Emmerich die Gegenden, an denen seine Geschichten spielen, zwar tatsächlich bereist, die Authentizität des Geschilderten ist jedoch nicht unumstritten. Von den wiederholt aufgelegten Werken der sehr populären zwölfbändigen Reihe „Weltreisen und Forscher-Abenteuer“, die zunächst 1923/25 bei Seydlitz erschien, spielte mehr als die Hälfte in Süd- und Mittelamerika bzw. der Karibik. Vgl. Emmerich, In mexikanischen Urwäldern; ders., Im Reiche des Sonnengottes; ders., Jenseits des Äquators; ders., Durch die Pampas von Argentinien; ders., Im Gran Chaco von Paraguay; ders., Unter den Urvölkern von Südbrasilien; ders., Im Herzen Brasiliens und ders., Auf den Antillen. Nicht in den Amerikas angesiedelt waren ders., Unter den Wilden der Südsee; ders., Streifzüge durch Celebes; ders., Quer durch Hawaii und ders., Neuseeland. Auch die Handlung vieler weiterer Werke Emmerichs war in Südamerika angesiedelt. Vgl. außerdem ders., Der Missionar von Chulpamac und andere Erzählungen; ders., Am Titicacasee; ders., Die Kariben in Guayana; ders., Der Einsiedler von Guayana; ders., Insurgentenkämpfe; ders., An den Ufern des Amazonenstromes; ders., Unter den Indianern in Mato Grosso und ders., Das Rätsel des Orinoko. Auch der 1874 im sächsischen Freiberg geborene Offizier Kurt Wilhelm Schmidt, der nach dem Ersten Weltkrieg zumeist unter dem Pseudonym Victor Helling zahlreiche Jugend- und Abenteuerbücher sowie Kriegsbücher veröffentlichte, siedelte einige seiner Geschichten in Südamerika an. Vgl. Helling, Das Geheimnis der Kazikengräber; ders., Die Kartause am Amazonas und ders., Der Reiter vom Gran Chaco. Vgl. außerdem Heichen, Der Schatz des Inka. 19 Karl Mays zumeist als Jugenderzählung eingestuftes Das Vermächtnis des Inka erschien zunächst 1891/92 in der Zeitschrift Der Gute Kamerad, die erste Buchausgabe erschien – mit Illustrationen – in leicht geänderter Fassung 1895 im Union Verlag. Die Reiseerzählungen Am Rio de la Plata und In den Kordilleren erschienen zunächst zusammen als El Sendador in den Jahrgängen 16 und 17 der Zeitschrift Deutscher Hausschatz in Wort und Bild von 1889 bis 1891. 1894 erschienen die überarbeiteten Buchfassungen als Bände 12 und 13 der Gesammelten Reiseerzählungen im Verlag von Friedrich Ernst Fehsenfeld. Eine illustrierte Ausgabe erschien 1911. Vgl. für eine erste Einordnung z.B. Ilmer, Karl May auf halbem Wege und ausführlich Sudhoff/Vollmer (Hg.), Karl Mays „El Sendador“. Bei der Marienkalendergeschichte handelt es sich um May, Christ ist erstanden! Reiseerzählung von Dr. Karl May.

Einleitung | 13

in Südamerika wirken z.T. bis heute nach oder sogar fort.20 Sehr populär waren auch die seit den 1920er Jahren erscheinenden Romane und Erzählungen von B. Traven (um 1882-1969) oder die 1922 erschienene Abenteuererzählung Der Narr von Mescalero von Curt Neff (Lebensdaten unbekannt).21 Diese Geschichten sind aber in Mexiko (das weitgehend in Nordamerika liegt) angesiedelt und werden daher nicht berücksichtigt, auch wenn das Bild, das sich die Menschen von Südamerika machten, vermutlich nicht strikt von ihrer Vorstellung von Mexiko sowie von Mittelamerika und den karibischen Inseln zu trennen ist. Die Begrenzung auf Südamerika ist vorwiegend praktischen Gründen geschuldet, um die ohnehin schon große Menge an Quellenmaterial nicht noch weiter anwachsen zu lassen, wie es im Falle der Untersuchung von Bildmedien aus ganz Lateinamerika geschehen wäre. Die Unterscheidung von Süd- und Mittelamerika folgt dabei aber ebenso zeitgenössischen wie aktuellen Denkmustern.

QUELLEN UND LITERATUR Wissenschaftler und Fotografen Das erwähnte, in den visuellen Medien (re-)präsentierte ambivalente Südamerikabild des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde unter anderem von Forschern vermittelt, die sich und den Menschen im Deutschen Reich (und in weiteren Ländern Europas) buchstäblich ein, oder besser: ihr Bild von „Land und Leuten“ machten. So wird die Quellenauswahl mitbestimmt dadurch, dass Bildmedien untersucht werden, die sich einem Netzwerk deutscher Südamerikaforscher um Alphons Stübel (1835-1904), Wilhelm Reiß (1838-1908), Hans Hinrich Brüning (1848-1928), Hermann von Ihering (1850-1930), Fritz Regel (1853-1915), Rudolf Hauthal (1854-1928), Paul Ehrenreich (1855-1914), Karl von den Steinen (1855-1929), Max Uhle (1856-1944), Hans Meyer (1858-1929), Wilhelm Sievers (1860-1921), Charles Kroehle (186?-1902), Georg Hübner (1862-1935), Konrad Theodor Preuss (1869-1938), Theodor Koch-Grünberg (1872-1924), Robert Lehmann-Nitsche (1872-1938), Arthur Posnansky (1873-1946), Friedrich Christian Mayntzhusen (1873-1949), Max Schmidt (1874-1950), Walther Schiller (1879-1944), Theodor Herzog (1880-1961), Fritz Krause (1881-1963), Rudolf Lütgens (1881-1972), Walther Penck (1888-1923) und Hans Krieg (1888-1970) sowie den Schweden Erland Nordenskiöld (1877-1932), seinen Cousin Otto Nordenskjöld (1869-1928) und Gustaf Bolinder (1888-1957), von denen viele Arbeiten in deutscher Übersetzung erschienen, zuordnen lassen.22 Insbesondere im ersten Kapitel wird in einer gewissermaßen kollektivbiografischen Fokussierung das Bildmaterial untersucht, das die Forscher produzierten. Die meisten der zu untersuchenden Bilder stammen aus Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Paraguay und Peru, einige aus den angrenzenden Ländern Ecuador und Kolumbien. Dort waren die Forscher tätig. In dieser Arbeit (zumindest bildlich) kaum oder gar nicht vertreten sind dagegen Uruguay und Vene-

20 Vgl. Pagni, Literarische Vermittlungen zwischen Deutschland und Argentinien, bes. S. 230 zu Jaud, Resturlaub. Karl Mays Bücher haben immer noch Millionenauflagen. 21 Neff, Der Narr von Mescalero. 22 Tatsächlich schreiben sich die Nachnamen der beiden Cousins unterschiedlich.

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zuela sowie die Guyanas. Der Untersuchungszeitraum von den 1880er Jahren bis ca. 1930 umfasst zum einen die Zeit, in der die genannten Männer in Südamerika aktiv waren. Zum anderen wurde um 1880 auch die Autotypie entwickelt. Dabei handelte es sich um das erste Verfahren, das mithilfe von Rastern den Druck fotografischer Bilder und damit ihre massenhafte Verbreitung in Büchern, Zeitschriften und etwas später auf Bildpostkarten ermöglichte. Aus der Unmenge des von den Forschern überlieferten visuellen Quellenmaterials wird nur jenes für die Untersuchung herangezogen, das durch Publikation (Monografien, Zeitschriftenaufsätze) die Möglichkeit hatte, die (populär-)wissenschaftliche Öffentlichkeit zu erreichen – die Nachlässe mit ihren zehntausenden Fotos können nicht komplett erarbeitet werden. Allerdings wird mitunter, zur Kontextualisierung oder zum Vergleich, auch auf unpubliziertes fotografisches Material aus den Nachlässen etwa von Lehmann-Nitsche oder Uhle im Archiv des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin oder von Brüning im Archiv des Museums für Völkerkunde in Hamburg zurückgegriffen. Ethnologische und anthropologische, auch geografische, geologische, linguistische und archäologische Arbeiten wurden sowohl von akademisch ausgebildeten Wissenschaftlern wie den Nordenskiölds, Uhle oder Lehmann-Nitsche, als auch von Hobbyforschern wie Brüning verfasst. Die Fotos, die sie illustrieren, stammen entweder von den in fotografischen Belangen mehr (z.B. Erland Nordenskiöld, Brüning) oder weniger (Uhle) begabten Autoren selbst oder wurden diesen von Kollegen zur Verfügung gestellt oder von lokalen Fotografen erworben. Auch bei letzteren handelte es sich zumeist um europäische Einwanderer und häufig um Deutsche oder Deutschsprachige. Ein sehr bekanntes Beispiel hierfür ist der Schweizer Georg Leuzinger (1813-1892), der 1832 nach Brasilien auswanderte, wo er 1840 in Rio de Janeiro die Casa Leuzinger gründete. In den 1860er Jahren erweiterte er das Geschäft und nahm auch Fotografien und Fotoartikel in das Sortiment auf. Leiter der Fotoabteilung wurde Albert Christoph Frisch (1840-1918) (und nicht wie lange vermutet Leuzingers Schwager Franz Keller (1835-1890)). Frisch unternahm 1868 die erste erfolgreiche fotografische Expedition auf dem Amazonas zwischen Manaus und der brasilianisch-peruanischen Grenze. Seine „Indianerfotos“ wurden in der Casa Leuzinger verkauft. Diese Bilder fanden auch in Europa Verbreitung: Sie erschienen etwa im Anthropologisch-ethnographischen Album, das Carl Dammann (1819-1874) für die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte herausgab und sie waren auch die Vorlage für Zeichnungen in Schneiders Typen-Atlas.23 Neben Leuzinger und Frisch waren viele weitere bekannte Fotografen in Brasilien im 19. Jahrhundert Europäer: Der Franzose Victor Frond (1821-1881), von Ende der 1850er Jahre an einige Jahre im politischen Exil in Rio de Janeiro, wo er ein Fotostudio

23 Vgl. Dammann (Hg.), Anthropologisch-ethnographisches Album in Photographien; Schneider (Hg.), Schneiders Typen-Atlas und zu Frisch und Leuzinger Kohl, Amazonasbilder 1868; ders., Commercial Photography from the Upper Amazon and Early Anthropology; ders., Albert Frisch und die ersten global zirkulierenden Amazonasfotografien; ders., Georg Leuzinger (1813-1892), ein Schweizer Kunsthändler in Rio de Janeiro; ders., A. Frisch und die ersten Amazonasfotografien (1867); Franceschi (Hg.), Georges Leuzinger; Kossoy, Dicionário histórico-fotográfico brasileiro; Vasquez, Fotógrafos Alemães no Brasil do Século XIX sowie Pacheco Borges, O clã familiar Georges Leuzinger.

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betrieb, veröffentlichte das erste Buch mit Fotografien aus Brasilien.24 Wenig später veröffentlichte auch der Deutsche Revert Heinrich (Henrique) Klumb (1826?-1886?), der 1852 nach Brasilien gekommen war und in Rio de Janeiro den Titel „Photographo da Casa Imperial“ erhielt, ein Werk mit Fotografien. Ebenfalls mit dem Titel eines „Fotografen des kaiserlichen Hofes“ wurde 1862 der im Elsass geborene August Stahl (1828-1877) ausgezeichnet. Nach Fotos von Stahl und Hermann (Germano) Wahnschaffe (Lebensdaten unbekannt) – auch ihm wurde der Titel verliehen – sowie solchen aus dem Hause Leuzinger wurden viele der Illustrationen im 1868 veröffentlichten Reisebericht des schweizerisch-amerikanischen Naturforschers Louis Agassiz (18071873) gestochen.25 1866 eröffnete der Berliner Albert (Alberto) Henschel (1827-1882) zusammen mit dem ebenfalls aus dem Deutschen Reich stammenden Karl Heinrich (Carlos Henrique) Gutzlaff (Lebensdaten unbekannt) mit der Fotografia Allemã sein erstes Studio in Recife, Pernambuco. Fotostudios in Salvador da Bahia, Rio de Janeiro und São Paulo folgten. 1874 wurde auch Henschel gemeinsam mit seinem neuen Partner, dem in Ludwigslust geborenen Franz Benque (1841-1921), zum kaiserlichen Hoffotografen ernannt.26 Der wohl bekannteste Fotograf der Zeit, Marc Ferrez (18431923), der sein Handwerk in der Casa Leuzinger gelernt hatte und u.a. die Expedition der 1875 gegründeten und vom kanadischen Geologen und Naturforscher Charles Frederick Hartt (1840-1878) geleiteten Imperialen Geologischen Kommission fotografisch begleitete, war dagegen Brasilianer – allerdings der Sohn französischer Einwanderer.27 Die von europäischen Einwanderern in Südamerika eingerichteten Fotostudios befanden sich in der Regel in den (haupt-)städtischen Zentren wie Lima, Quito, La Paz, Montevideo, Asunción, Buenos Aires, Santiago, Valparaíso oder eben Rio de Janeiro, obwohl es auch in manchen kleineren Städten Fotostudios gab, v.a. in Argentinien und Chile. Dort gab es sogar in Punta Arenas mehrere Fotografen und Bildpostkartenproduzenten. Und der aus Kassel stammende Schuster Christian Heinrich Valck (18261899), der 1852 nach Valdivia ausgewandert war und dort 1858 ein Fotostudio eröffnete, gehört zu den Pionieren der Fotografie in Chile. 28 Auch in Arequipa und Cuzco in Peru, in Medellín in Kolumbien oder in Recife, Curitiba und Manaus in Brasilien gab es Fotostudios und Produzenten von Bildpostkarten; und in Porto Alegre beispiels24 Vgl. Frond, Le Brésil pittoresque ou Brasil pitoresco. 25 Vgl. Agassiz, A Journey in Brazil. 26 Vgl. Prussat, Alberto Henschel und die frühe Porträtfotografie in Brasilien und zu Stahl und Klumb z.B. Marocco, Photojournalism in Nineteenth Century Brazil sowie weiterhin Vasquez, Fotógrafos Alemães no Brasil do Século XIX. 27 Vgl. zu Ferrez knapp Prussat, Marc Ferrez (1843-1923) und ausführlich z.B. Turazzi, Marc Ferrez; Instituto Moreira Salles (Hg.), O Brasil de Marc Ferrez; Brizuela, Fotografia e Império (auch zu Klumb) sowie schon älter Vasquez, Fotógrafos pioneiros no Rio de Janeiro. 28 Auch Valcks Söhne Jorge (1852-1933), Fernando (1857-1910) und Enrique (1868-1932) waren Fotografen. Vgl. zur ausgeprägten Regionalisierung der Fotografie in Chile z.B. die Arbeiten über die Fotografen Valck und Roberto Knittel (1876-1958) in Valdivia von Alvarado Pérez/Matthews (Hg.), Los pioneros Valck und dies. (Hg.), Rodolfo Knittel: Fotógrafo y viajero en el sur de Chile sowie weiter Alvarado Pérez et al. (Hg.), Fueginos: Fotografías siglos XIX y XX und Rodríguez Villegas, Fotógrafos en Chile durante el Siglo XIX sowie ders., Fotógrafos en Chile 1900-1950.

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weise betrieb der aus Bérgamo stammende Virgilio Calegari (1868-1937), der 1881 nach Brasilien kam, von 1893 bis 1932 ein Fotostudio. Das Verlangen der ländlichen Bevölkerung nach fotografischen Bildern musste jedoch von über Land reisenden Fotografen gestillt werden.29 Im Vergleich zu den Europäern gab es vergleichsweise wenige nordamerikanische Fotografen in Südamerika. Unter ihnen gehören John Horgan Jr. (1859-1926) aus Scranton, Pennsylvania, der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Ecuador bereiste, der in Lima ansässige Benjamin Franklin Pease (1822-1888) aus Poughkeepsie, New York, über den Keith McElroy geforscht hat,30 der aus Sandusky, Ohio, stammende Harry Grant Olds (1869-1943) und der Kanadier Odber Heffer Bissett (18601945) zu den Bekanntesten. Der Letztgenannte immigrierte 1886 nach Chile, wo er für Félix Leblanc (Lebensdaten unbekannt) arbeitete, den Eigentümer des prestigereichen Fotostudios Garreaud mit Niederlassungen in Santiago, Valparaíso, Talca, Copiapó, La Serena und Concepción.31 Olds kam 1899 zunächst nach Valparaíso, wo er im Fotostudio für Odber Heffer Bissett arbeitete, bevor er sich ein Jahr später in Buenos Aires niederließ. Seine Fotografien wurden in Illustrierten, etwa in La Ilustración Sudamericana oder in Caras y Caretas, und auch in Form von Bildpostkarten veröffentlicht.32 Weil im 19. und frühen 20. Jahrhundert nur relativ wenige Fotografen Einheimische waren und viele, anfangs sogar die große Mehrzahl der Bilder von Europäern produziert wurden, sprechen manche Forscher in Bezug auf die fotografische Repräsentation Südamerikas in dieser Zeit auch von einer „mirada desde afuera“.33 In Lima gab es allerdings schon recht früh, seit Mitte der 1850er Jahre, vermehrt auch einheimische Fotografen, wie z.B. Rafael Castillo, der sein Fotostudio 1874 eröffnete.34 Eine weitere wichtige Ausnahme von der „mirada desde afuera“ sind die Bilder des sehr bekannten peruanischen Fotografen Martín Chambi (1891-1973). Der in Coaza, Puno, geborene Indigene (Quechua) Chambi lernte die Fotografie in den Goldmi29 Vgl. Grandin, Can the Subaltern Be Seen? oder auch Parker/Neal, Los Ambulantes. Erst im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden Kameras und fotografisches Zubehör auch für Angehörige der südamerikanischen Mittel- und noch später auch der Unterschichten erschwinglich und zugänglich. Vgl. James/Lobato, Family Photos, Oral Narratives, and Identity Formation. Zu Fotografen in Arequipa vgl. Villacorta Chávez/Garay Albújar, Un arte arequipeño; für Cuzco s.u.. 30 Vgl. McElroy, Early Peruvian Photography sowie ders., Benjamin Franklin Pease. Benjamin Franklin Pease ist McElroy zufolge von besonderer Bedeutung für die Geschichte der Fotografie in Peru, weil er als einer von wenigen unter zahlreichen in Lima schon früh aktiven Fotografen den technischen Übergang von der Daguerrotypie zur carte de visite und zu papiernen Abzügen meisterte. 31 Das Fotostudio wurde vom französischen Fotografen Pedro Emilio Garreaud (1835-1875) gegründet. Dieser kam 1855 zunächst nach Peru und siedelte zehn Jahre später nach Chile über. 32 Vgl. Priamo, H. G. Olds: Fotografías, 1900-1943. Vgl. allgemein zu Illustrierten in Südamerika Silva Beauregard, Un lugar para exhibir, clasificar y coleccionar. 33 Giordano, Nación e identidad en los imaginarios visuales de la Argentina, Zitat auf S. 1285. 34 Vgl. knapp Retter, Peru und ausführlich McElroy, Early Peruvian Photography sowie Majluf/Wuffarden, El primer siglo de la fotografía.

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nen der US-Amerikanischen Inca Mining Company in Santo Domingo kennen, wohin er seinen Vater zur Arbeit begleitete und wo ihm ein Mitarbeiter der Firma die Technik zeigte. 1908 kam Chambi nach Arequipa und lernte dort im Studio von Max T. Vargas (1874-1959), einem Pionier der peruanischen Fotografie, dessen Fotografien weite Verbreitung fanden, v.a. in Form von Bildpostkarten auch im Deutschen Reich. 35 1917 eröffnete Chambi ein eigenes Studio in Sicuani und 1923 eines in Cuzco, wo er seinen eigenen fotografischen Stil entwickelte. Mit Bildern von Indigenen, ihrer Kultur und Tradition, Kostümen, Ritualen, Handwerk sowie von Ruinen und Landschaften – oft kombiniert mit Visualisierungen von Moderne, wie z.B. dem Flug von Velasco Astete über Cuzco – trug Chambi maßgeblich zur indigenistischen „Cuzco-Schule“ bei.36 Reiseberichte Neben den wissenschaftlichen werden weitere mit Fotos illustrierte zeitgenössische Publikationen zu einzelnen Ländern oder zu Südamerika insgesamt berücksichtigt. Zum einen handelt es sich dabei um Handbücher, die in Anlehnung an Reise- auch als Länderführer bezeichnet werden können. Sie stammen zumeist ebenfalls aus der Feder von Geografen oder Journalisten wie Otto Preusse-Sperber (Lebensdaten unbekannt), Wilhelm Sievers, Otto Bürger (1865-1945) oder Fritz Regel.37 Auch Lehrbücher wie beispielsweise der den außereuropäischen Erdteilen gewidmete dritte Band von E. von Seydlitzsche Geographie für höhere Lehranstalten zählen hierzu.38 Zum anderen gibt es eine große Zahl (fotografisch) illustrierter Reiseberichte, so etwa Schnaps, Kokain und Lamas: Kreuz und quer durch wirres Südamerika von Richard Katz oder eben Kasimir Edschmids Südamerika wird photographiert und sein Glanz und Elend SüdAmerikas: Roman eines Erdteils. Die Fotos, die Glanz und Elend Südamerikas illustrieren und die Edschmids Lebensgefährtin Erna Pinner (1890-1987) teilweise selbst

35 Vgl. zu Vargas Garay Albújar/Villacorta Chávez, Emilio Díaz y Max T. Vargas; Garay Albújar (Hg.), Fotografía Max T. Vargas, Arequipa y La Paz; die unveröffentlichte Magisterarbeit von Buchholz, Die Fotografien und Postkarten des peruanischen Fotografen Max T. Vargas sowie dies., Fotografie ohne Grenzen. 36 Aus der reichen Literatur zu Chambi und der „Cuzco-Schule“ vgl. z.B. Coronado, The Andes Imagined; ders., Toward Agency; Garay Albújar, Martín Chambi, por sí mismo; Trevisan/ Massa, Fotografías cusqueñas atravesando el indigenismo; Benavente García, The Cusco School Photography in Southern Peru; Penhall, The Invention and Reinvention of Martin Chambi; Ranney, New Light on the Cusco School sowie Chambi, Photographs 1920-1950. Wie Chambi hatte auch Juan Manuel Figueroa Aznar, ebenfalls ein wichtiger indigenistischer Fotograf, bei Max T. Vargas gelernt, bevor er 1904 sein Studio in Cuzco eröffnete. 37 Vgl. Sievers, Süd- und Mittelamerika; Lufft, Geschichte Südamerikas; ders., Lateinamerika; Regel, Kolumbien; Preusse-Sperber, Süd- und Mittel-Amerika; ders., Perú; ders., Wegweiser für Argentinien und ders., Unter Ansiedlern, Gauchos und Indianern; Bürger, Kolumbien; ders., Venezuela; ders., Peru; ders., Argentinien; ders., Chile als Land der Verheissung; ders., Brasilien; ders., Paraguay, der Garten Südamerikas und ders., Uruguay sowie Baer, Argentinien oder Schuster, Paraguay. 38 Rohrmann (Hg.), E. von Seydlitzsche Geographie für höhere Lehranstalten.

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aufgenommen und teilweise gesammelt (d.h. wohl v.a. von einheimischen Fotografen erworben) hat, sind z.T. identisch mit denen in Südamerika wird photographiert.39 In der historischen Forschung ist der Nutzen von Reiseberichten umstritten, sagten diese doch viel mehr über den Reisenden, seine Einstellungen, Erfahrungen, Erwartungen und seine eigene Kultur aus und nur wenig oder sogar nichts über die bereiste Gegend und die dort lebenden Menschen. Unabhängig davon, dass eine solche radikale Ablehnung von Reiseberichten als historische Quellen weit über das Ziel hinausschießt,40 speisten sie in jedem Fall die Vorstellung der Leser von der geschilderten Region. Und Reiseberichte waren äußerst populär, denn sie dienten als Projektionsfläche, weckten und befriedigten gleichzeitig Fernweh, Träume und Fantasien. Trotz dieses Raums, den Reiseberichte der Fantasie des Lesers boten, und trotz ihres mitunter recht hohen Anteils an Fiktion, galten sie nicht nur als unterhaltende Abenteuerlektüre, sondern auch als belehrend. Dazu trugen nicht zuletzt die auf Fotografien basierenden Illustrationen in vielen Reiseberichten bei, die das Wissen um die Fremde auch visuell vermittelten. Reiseberichte stellten deshalb eine nicht nur beliebte, sondern in den Augen der meisten Zeitgenossen auch eine sinnvolle Lektüre besonders für die Jugend dar. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass Wilhelm Vallentins (1862-1913) Streifzüge durch Pampa und Kordillere Argentiniens 1908 bei Paetel in Berlin in der „Sammlung belehrender Unterhaltungsschriften für die deutsche Jugend“ erschien.41 39 Vgl. Edschmid, Südamerika wird photographiert sowie ders., Glanz und Elend Süd-Amerikas. Zum einen sind in Südamerika wird photographiert aber mehr Fotos abgebildet, zum anderen unterscheiden sich die Bildlegenden. So wird das Bild einer „Vieh-Abstempelung“ einmal nach Argentinien (Südamerika wird photographiert, S. 31, vermutlich richtig) und einmal nach Chile (Glanz und Elend Süd-Amerikas, vor S. 49) verlegt. Das Buch von Katz, Schnaps, Kokain und Lamas ist einer meiner Favoriten unter den Reiseberichten über Südamerika. Die Praxis, nicht (nur) selbst zu fotografieren, sondern Bilder auch von einheimischen Fotografen und Händlern zu erwerben, beschreibt etwa der Reiseschriftsteller Arthur Rehbein (1867-1952) in einem Bericht über Nordafrika: „Bilder, Bilder, Bilder! [… M]an möchte in einem fort photographieren. Glücklicherweise gibt es gerade in Tunis ganz wundervolle Photostudien (von Lehnert und Landrock) zu kaufen, die alle architektonischen Merkwürdigkeiten und, was noch besser ist, Hunderte von Typen und Volksszenen zeigen.“ Rehbein, Vom Polarstrande zum Wüstenrande, S. 88. 40 Vgl. für eine Würdigung und Verteidigung des Nutzens von südamerikanischen Reiseberichten z.B. Bernecker, Bedeutung und Stellenwert von Reiseberichten; ders./Krömer (Hg.), Die Wiederentdeckung Lateinamerikas (darin bes. Ette, Est-ce que l'on sait oú l'on va?); Whitehead, South America/Amazonia; Gagern, Reisen in die Karibik oder Mörner, Europäische Reiseberichte als Quellen zur Geschichte Lateinamerikas. Vgl. außerdem die regionale Studie von Potthast, Die Mosquitoküste oder der Reiz des Skurrilen. Vgl. allgemein Hulme/ Youngs (Hg.), Cambridge Companion to Travel Writing und Youngs, The Cambridge Introduction to Travel Writing. 41 Vgl. Vallentin, Streifzüge durch Pampa und Kordillere Argentiniens. Vgl. für weitere fotografisch illustrierte Reiseberichte aus Südamerika auch ders., Chubut; ders., Paraguay; ders., Ein unerschlossenes Kulturland und ders., In Brasilien. Der heute wenig bekannte Vallentin war ein deutscher Kapitän, Geograf, Reisender und Abenteurer, der, bevor er von 1903 bis 1905 Südamerika bereiste, auch in Zentral- und Süd-

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Der Erfolg und die Bedeutung des Genres für die Vorstellung von Südamerika werden dadurch deutlich, dass im 19. und frühen 20. Jahrhundert immer mehr Berichte über Reisen nach Südamerika erschienen. Von den bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Reiseberichten wurden viele von Naturforschern verfasst; außerdem befanden sich mehrere Adlige unter den Reisenden und mit der Wienerin Ida Pfeiffer (1797-1858) auch eine Frau.42 Auch Schriftsteller bereisten schon im 19. Jahrhundert den Subkontinent. Friedrich Gerstäcker etwa vermittelte den deutschen Lesern Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur in Romanen und Erzählungen, sondern auch in Reiseberichten seine Eindrücke von Südamerika.43 Reiseberichte über Südamerika (wie auch über andere Weltregionen) waren sehr beliebt und so nahm die Zahl der publizierten Arbeiten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert stark zu. 44 Waren Reiseberichte zuvor nicht oder aufwändig mit Stichen illustriert, waren seit der Einführung der Autotypie Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Reiseberichte fotografisch illu-

afrika, wo er im Burenkrieg auf Seiten der Buren gegen die britische Armee gestanden hatte, gewesen war und darüber publiziert hatte. 42 Vgl. neben den erwähnten Werken von Alexander von Humboldt, die des Prinzen zu WiedNeuwied, Reise nach Brasilien in den Jahren 1815 bis 1817; Spix/Martius, Reise in Brasilien; Poeppig, Reise in Chile, Peru und auf dem Amazonenstrome; Schomburgk, Reisen in Guiana und am Orinoco; Tschudi, Peru und ders., Reisen durch Südamerika; Schomburgk, Reisen in Britisch-Guiana; Pfeiffer, Eine Frauenfahrt um die Welt (Bd. 1); dies., Meine zweite Weltreise (Bd. 3: Kalifornien, Peru, Ecuador); Bibra, Reisen in Südamerika und ders., Aus Chile, Peru und Brasilien sowie Adalbert von Preußen, Reise seiner königlichen Hoheit des Prinzen Adalbert von Preußen nach Brasilien. Vgl. für weitere Reiseberichte Bernecker/ Krömer (Hg.), Die Wiederentdeckung Lateinamerikas und die Übersicht über Reiseberichte aus Patagonien und Feuerland von Eschweiler, Vorwort sowie zu Peru Koch-Weithofer, Peru im Spiegel deutschsprachiger Reiseberichte. Vgl. außerdem die über 900 Titel umfassende Bibliografie deutschsprachiger Südamerikaliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts im Anhang von Zantop, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland, S. 262-314. 43 Vgl. Gerstäcker, Südamerika (Reisen, Bd. 1); ders., Achtzehn Monate in Süd-Amerika und dessen deutschen Colonien und ders., Neue Reisen durch die Vereinigten Staaten, Mexiko, Ecuador, Westindien und Venezuela; für die Romane und Erzählungen s. Kap. 2, FN 16. 44 Vgl. die im späten 19. Jahrhundert publizierten Titel von Keller-Leuzinger, Vom Amazonas und Madeira; Thielmann, Vier Wege durch Amerika; Zöller, Die Deutschen im brasilianischen Urwald; Mevert, Ein Jahr zu Pferde; Toeppen, Hundert Tage in Paraguay; Hettner, Reisen in den columbianischen Anden; Röthlisberger, El Dorado: Reise- und Kulturbilder aus dem südamerikanischen Columbien und Therese Prinzessin von Bayern, Meine Reise in den brasilianischen Tropen sowie die im frühen 20. Jahrhundert erschienen Reiseberichte z.B. von ders., Reisestudien aus dem westlichen Südamerika; Spillmann, In der Neuen Welt (Bd. 1: Westindien und Südamerika); Bürger, Reisen eines Naturforschers im tropischen Südamerika; ders., Acht Lehr- und Wanderjahre in Chile; Jacques, Heisses Land: Eine Reise nach Brasilien; Greulich, Peru; Faber, Dem Glücke nach durch Südamerika oder Ewers, Mit meinen Augen… Fahrten durch die lateinische Welt. Vgl. weiterhin z.B. für Reiseberichte aus Brasilien Lisboa, Mundo novo, mesmo mundo.

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striert.45 In den 1920er Jahren gab es eine wahre Flut solcher Berichte. 46 Zudem wurden frühe Reiseberichte wiederentdeckt und neu aufgelegt. Robert Lehmann-Nitsche etwa gab Hans Stadens Wahrhaftige Historia zunächst in Buenos Aires, später bei Brockhaus in Leipzig neu heraus.47 Das Interesse an und die Nachfrage nach Reiseberichten waren beim deutschen Publikum so groß, dass fremdsprachige Texte in Übersetzung erschienen oder von Menschen mit den nötigen Sprachkenntnissen auch im Original gelesen wurden.48 Auch in den 1930er Jahren und darüber hinaus hielt der Trend an, wie etwa die erwähnten Publikationen von Edschmid und Katz sowie immer neue Auflagen älterer Titel zeigen.49 Dass das Interesse der vom exotischen Südame45 Einer der ersten fotografisch illustrierten Reiseberichte über Südamerika ist der von Eberhard Graf zu Erbach-Erbach, Wandertage eines deutschen Touristen im Strom- und Küstengebiet des Orinoko. 46 Vgl. z.B. Schmidt, Meine Jagd nach dem Glück in Argentinien und Paraguay; Ottmann, Der Orchideenjäger; Ross, Südamerika, die aufsteigende Welt; Otto, Der Schmetterlingsjäger vom Amazonenstrom; Bürger, Aus den Jagdgründen der Zwielichtwälder; ders., Aus der Wildnis des Huemuls; Herzog, Im Zwischendeck nach Südamerika; Jacques, Neue Brasilienreise; Rohrbach, Amerika und wir; Hintermann, Unter Indianern und Riesenschlangen; Täuber, Meine sechs grossen Reisen durch Südamerika; Dienst, Im dunkelsten Bolivien; Kölliker, In den Einsamkeiten Patagoniens; Blunck, Aus der brasilianischen Reise; Faber, Tage und Nächte in Urwald und Sierra; Donat, Paradies und Hölle; ders., An Lagerfeuern deutscher Vagabunden; Müller, Das schöne Südamerika; Tessmann, Menschen ohne Gott; Schreiber, Im Schatten des Calafate; Francé-Harrar, Tropen-Amerika; Bockenheimer, Rund um Südamerika; Landenberger, Brasilien und Ich oder Ule, Quer durch Süd-Amerika. Weitere Titel finden sich etwa bei Robertson, Recent Accessions of German Books. 47 Vgl. Staden, Wahrhaftige Historia (1921 in jetziger Rechtschreibung neu hg. v. Robert Lehmann-Nitsche) und ders, Ein deutscher Landsknecht in der Neuen Welt (1929 hg. v. Robert Lehmann-Nitsche). Vgl. zur Rezeption von Staden im 19. und 20. Jahrhundert weiter Harbsmeier, Vom Nutzen und Nachteil älterer Reiseberichte und Pannwitz, Deutsche Pfadfinder des 16. Jahrhunderts in Afrika, Asien und Südamerika. Auch Ulrich Schmidels im 16. Jahrhundert verfasste und erschienene Wahrhafftige Historien einer wunderbaren Schiffahrt wurde 1887, 1889, 1893, 1914, 1922 und 1926 in verschiedenen Versionen neu aufgelegt und Lehmann-Nitsche verfasste eine Arbeit über den Landsknecht und seinen Bericht. Vgl. Lehmann-Nitsche, Ulrich Schmidel, der erste Geschichtsschreiber der La Plata-Länder: 1535-1555. 48 Vgl. z.B. die Übersetzungen von Musters, Unter den Patagoniern; Dixie, Bei den Patagoniern; Squier, Peru: Reise- und Forschungs-Erlebnisse; Graff, Bei den Kopfjägern des Amazonas; Bates, Elf Jahre am Amazonas; Agostini, Zehn Jahre in Feuerland; Beebe, Dschungelleben: Forscherfreuden in Guayanas Urwäldern oder Fleming, Brasilianisches Abenteuer sowie Wiener, Pérou et Bolivie; Alcock, Trade and Travel in South America; Enock, The Andes and the Amazon; Bryce, South America; Landor, Across Unknown South America; Hirst, A Guide to South America oder die Bücher von Dyott, Silent Highways of the Jungle; ders., On the Trail of the Unknown und ders., Man Hunting in the Jungle. Letztgenanntes Buch wurde von Hollywood zwei Mal filmisch adaptiert, 1933 als Savage Gold (mit Dyott, der sich selbst spielte) und 1958 als Manhunt in the Jungle, s.u. mehr dazu. 49 Vgl. außerdem z.B. Wedemeyer, Durch Südamerika, das Land alter und neuer Wunder; Bonsels/Dungern, Brasilianische Tage und Nächte; Faber, Im wildesten Patagonien; Wag-

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rika faszinierten Leser in beiden deutschen Staaten auch in der Nachkriegszeit anhielt, verdeutlichen beispielsweise die sechsstelligen Auflagen- und Verkaufszahlen der Berichte des Schriftstellers, Fotografen, Forschers und Kanuten Herbert Rittlinger (19091978), der u.a. 1936 mit einem Faltboot den Amazonas befahren hatte.50 Entgegen des bis hierhin eventuell vermittelten Eindrucks lassen sich zwischen den einzelnen Genres (wissenschaftliche Arbeiten, Handbücher, Reiseberichte, fiktionale Literatur) keine eindeutigen Grenzen ziehen: Kasimir Edschmids 1931 erschienener Reisebericht Glanz und Elend Süd-Amerikas: Roman eines Erdteils verwischte die Grenze zwischen Erlebtem und Fiktionalität schon im Untertitel. Auch der Übergang von Wissenschaft zu Fiktion war fließend, nicht nur wegen der aus heutiger Sicht fragwürdig zu nennenden wissenschaftlichen Erkenntnisse, Theorien und Methoden: Manche wissenschaftlichen Arbeiten, insbesondere solche, in denen die Ergebnisse von Expeditionen und Forschungsreisen publiziert wurden, sind Reiseberichten sehr ähnlich. Das gilt z.B. für Otto Nordenskjölds 1927 auf Deutsch erschienenes Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit. Natur/Mensch/Wirtschaft, einige Arbeiten seines Cousins Erland Nordenskiöld, Theodor Koch-Grünbergs Vom Roroima zum Orinoco: Ergebnisse einer Reise in Nordbrasilien und Venezuela in den Jahren 1911-1913 oder die z.T. reich illustrierten und recht lebhaften Berichte der Ethnologen Fritz Krause und Max Schmidt, des Geowissenschaftlers Rudolf Hauthal, des Ethnologen und Zoologen Hans Krieg sowie des Botanikers Theodor Herzog. 51 Viele dieser Titel erschienen beim Verlag Strecker & Schröder in Stuttgart, wo beispielsweise auch Franz Donat (1891-1960, eigentlich Franz Stehmann) Paradies und Hölle (1926) und An Lagerfeuern deutscher Vagabunden in Südamerika (1927) veröffentlichte. Beide Titel sind allerdings nicht illustriert, da der Verfasser als echter Tramp und Abenteurer auf seinen „Irrfahrten weder Geld noch Zeit [hatte], um Photographenkasten und Platten mitzuschleppen.“52 Der im thüringischen Ruhla geborene Sohn eines Meerschaumpfeifenfabrikanten heuerte mit 16 auf einem Schiff an, das er in Brasilien heimlich verließ. Dort vagabundierte er einige Jahre umher, kam auch nach Paraguay und Argentinien, ner, Im Indianer-Dschungel Südamerikas; Ritz, Kautschukjäger im Urwald; Pfeiffer, Am Rande des weißen Flecks; Wegner, Zum Sonnentor durch Altes Indianerland; Staller, Zwei Deutsche im Urwald; Hoffmann-Harnisch, Brasilien: Bildnis eines tropischen Großreichs oder Rittlinger, Ich kam die reißenden Flüsse herab. Für weitere Titel vgl. Robertson, Recent Accessions of German Books. Vgl. zudem die Dissertation von Herrera Fuentes, „Dieses merkwürdigste Land zwischen den amerikanischen Wendekreisen.“ 50 Vgl. Rittlinger, Im Meer der Ströme und Wälder und ders., Ganz allein zum Amazonas sowie zur Kontinuität des „Reiz des Exotischen vor und nach 1945“ auch Kirsten, Lateinamerikanische Literatur in der DDR, bes. S. 42-44. 51 Vgl. Nordenskjöld, Südamerika; z.B. Nordenskiöld, Wälder: Streifzüge in Südamerika oder ders., Forschungen und Abenteuer in Südamerika; Koch-Grünberg, Vom Roroima zum Orinoco; Krause, In den Wildnissen Brasiliens; Schmidt, Indianerstudien in Zentralbrasilien; ders., Unter Indianern Südamerikas; Hauthal, Reisen in Bolivien und Peru; Krieg, Urwald und Kamp; Herzog, Bergfahrten in Südamerika oder Speiser, Im Düster des brasilianischen Urwalds. Gleiches trifft auch auf viele neuere Arbeiten zu, vgl. z.B. den Bericht des Linguisten Daniel Everett über seine Studien bei den Pirahã im brasilianischen Amazonasgebiet: Everett, Das glücklichste Volk. 52 Donat, Paradies und Hölle, S. VIII.

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heiratete schließlich und ließ sich als Bäcker im brasilianischen Santo Ângelo im Bundestaat Rio Grande do Sul nieder. Die Bücher, die er über sein Leben als Tramp verfasste, sind halb Abenteuergeschichten, halb Reiseberichte. Allerdings, so beteuern es der Autor selbst und seine Förderer und Herausgeber, seien Donats Geschichten wahr; im Gegensatz etwa zu den Werken Karl Mays, wie Dr. Rudolf Peschke aus São Paulo in seinem Geleitwort zu Paradies und Hölle betonte. Die Beteuerung, die geschilderten Ereignisse seien tatsächlich geschehen, ist aber ein häufig verwendeter Topos in fiktiven Texten, so auch in Jonathan Swifts Travels into Several Remote Nations of the World in Four Parts By Lemuel Gulliver, first a Surgeon, and then a Captain of Several Ships (1726).53 Auf möglicherweise aufkommende Zweifel an der Wahrheit der geschilderten Erlebnisse reagierend rief Donat daher in seinem zweiten Buch dann sogar Wissenschaftler als Zeugen auf: „Lieber Leser, die Zustände und Gestalten, die ich in diesem Buche zeichne, sind echt. Mögen Nörgler, die die Landstraße nur aus bequemer Perspektive beobachtet haben oder durch romanhafte Schilderungen getäuscht worden sind, an Einzelheiten zweifeln. Ich kann es ihnen nicht wehren. Aber glaube mir, ich habe Himmel und Hölle der Landstraße und des Vagabundentums mit Schmerzen am eigenen Leibe erlebt. In der Wildnis wird das Unglaubliche oft Alltäglichkeit. Nimm nur die wertvollen Werke neuerer Forscher, wie Professor Theodor Herzog und Erland Nordenskiöld, zur Hand, und Du wirst Dich leicht von der Wahrheit meiner Erzählung überzeugen. […] Mit treudeutschem Gruß aus Brasilien der Verfasser“54 53 „The author of these Travels, Mr. Lemuel Gulliver, is my ancient and intimate friend; there is likewise some relation between us on the mother’s side. About three years ago, Mr. Gulliver growing weary of the concourse of curious people coming to him at his house in Redriff, made a small purchase of land, with a convenient house, near Newark, in Nottinghamshire, his native country; where he now lives retired, yet in good esteem among his neighbours. Although Mr. Gulliver was born in Nottinghamshire, where his father dwelt, yet I have heard him say his family came from Oxfordshire; to confirm which, I have observed in the churchyard at Banbury in that county, several tombs and monuments of the Gullivers. Before he quitted Redriff, he left the custody of the following papers in my hands, with the liberty to dispose of them as I should think fit. I have carefully perused them three times. The style is very plain and simple; and the only fault I find is, that the author, after the manner of travellers, is a little too circumstantial. There is an air of truth apparent through the whole; and indeed the author was so distinguished for his veracity, that it became a sort of proverb among his neighbours at Redriff, when any one affirmed a thing, to say, it was as true as if Mr. Gulliver had spoken it.“ Swift, Gulliver’s Travels into Several Remote Nations of the World, Project Gutenberg eBook, http://www.gutenberg.org/files/829/829-h/829-h.htm [26.08.2018]. Vgl. für solche „Realismus-Effekte“ in der Literatur auch Struck, Die Eroberung der Phantasie, S. 14-15. 54 Donat, An Lagerfeuern deutscher Vagabunden, S. V. Vgl. das Geleitwort von Dr. Rudolf Peschke in Donat, Paradies und Hölle, S. X. Zur Vita Donats gibt es lediglich die kurzen Einträge in Thüringer Literaturrat, Autorenlexikon, http://www.thueringer-literaturrat.de/ind ex.php?pageid=14&unitid=2277 [26.08.2018] und Kosch (Hg.), Deutsches Literaturlexikon: Das 20. Jahrhundert (Bd. 6: Deeg-Dürrenfeld), S. 443.

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Die äußere Ähnlichkeit von zumindest manchen von Nordenskiölds Arbeiten mit Donats Abenteuer- und Vagabundengeschichten zeigt sich schon in folgendem Zitat aus dem Vorwort zu Indianer und Weisse in Nordostbolivien (1922, schwed. 1911), dem Bericht über eine Expedition, die Nordenskiöld 1908/09 zusammen mit dem Schweden Carl Moberg und z.T. mit W. Andersson (ebenfalls Schwede) nach Bolivien unternahm: „Ein Schimmer von Landstreicherleben lag über unserer Reise. Abgerissen und schlecht gekleidet, wie wir oft waren, hat uns sicher der eine oder andere für verdächtige Individuen gehalten.“55 Griffen so auf der einen Seite manche Berichte von Wissenschaftlern über ihre Südamerikaexpeditionen zum Zwecke der Vermarktung und der Popularisierung bestimmte Aspekte von literarischen Reiseberichten auf, beinhalten auf der anderen Seite viele literarische Reiseberichte wissenschaftliche Erkenntnisse bzw. ließen sich solche aus den Berichten von Laien ziehen, etwa bei der Beschreibung indigener Kulturen. Und auch die (vielleicht doch eher mehr als weniger erfundenen) Geschichten Donats hielten für die Zeitgenossen durchaus praktische Tipps für Auswanderungswillige ebenso wie einige ethnografische Beschreibungen parat.56 Insbesondere im 19. Jahrhundert sind die Publikationen von Expeditionsergebnissen und Reiseberichte nicht oder selten eindeutig voneinander zu trennen. Zum einen gab es außerhalb der Wissenschaft ohnehin nur wenige Menschen, die sich Reisen leisten konnten und auch Wissenschaftler mussten ihre Expeditionen oft genug selbst finanzieren oder waren auf die Unterstützung durch Mäzene angewiesen. Zum anderen betätigten sich vermögende Reisende als Sammler und Forscher und gaben ihrer Reise so einen Sinn. Schließlich wurden viele Werke, welche die Form eines Reiseberichtes hatten, auch wenn es sich um literarische Werke handelte, nicht zwingend als fiktionale Bücher gelesen. Karl Mays Reiseerzählungen, literarische Werke, wurden von zeitgenössischen Lesern nicht zuletzt wegen des Ich-Erzählers für wenigstens zum Teil „wahre“, autobiografische Berichte über Erlebnisse, die der Autor auf seinen vermeintlichen Reisen gehabt habe, gehalten. Tatsächlich ließ May seine Umwelt auch lange bewusst im Unklaren darüber, ob er oder ob er nicht selbst die Vorlage für Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi und eben Charley, den Protagonisten der Südamerika-Romane Am Rio de la Plata und In den Kordilleren sowie für Karl Hammer (alias Vater Jaguar), den Helden in Das Vermächtnis des Inka sei. In den Erzählungen selbst finden sich Hinweise darauf, dass zumindest die Ich-Erzähler (Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi und Charley) ein und dieselbe Person sind. Und im Deutschen Hausschatz, wo May viele seiner Erzählungen zuerst veröffentlichte, hieß es 1881 in der Antwort auf einen Leserbrief, der Verfasser habe „alle Länder, welche Schauplatz seiner Erzählungen sind, selbst bereist“.57 Auf dem Höhepunkt seines Ruhms ließ sich Karl May schließlich als Old Shatterhand und als Kara Ben Nemsi fotografisch portraitieren und schick-

55 Nordenskiöld, Indianer und Weisse in Nordostbolivien, S. VII. 56 Vgl. dazu allgemeiner auch Honold, Der ethnografische Roman. 57 Zitiert nach Kosciuszko, „Man darf das Gute nehmen, wo man es findet.“, S. 182. Vgl. zu May und seinem Werk insgesamt auch Ueding/Rettner (Hg.), Karl-May-Handbuch; Pyta (Hg.), Karl May: Brückenbauer zwischen den Kulturen; Depkat, Karl Mays Abenteuerwelten oder unter den zahlreichen Biografien z.B. Schmiedt, Karl May oder Die Macht der Phantasie.

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te Abzüge an einige seiner begeisterten Leser.58 Um schließlich auch noch den Bogen von der Fiktion zurück zur Wissenschaft zu schlagen, sei darauf verwiesen, dass Karl Mays Erzählung Am Rio de la Plata (bzw. El Sendador) vom 1884 erschienenen Bericht Pampas und Anden des Forschungsreisenden Hugo Zöller (1852-1933) sowie von der Reise durch die La Plata-Staaten des Naturwissenschaftlers Hermann Burmeister (1807-1892) von 1861 beeinflusst war. Außerdem beginnt Am Rio de la Plata mit einem langen Zitat aus einem vermutlich 1845 zuerst erschienenen Handbuch über Uruguay aus der Feder des Franzosen Adolphe Delacour.59 Darüber hinaus wird May in den von Robert Lehmann-Nitsche herausgegebenen Akten des 17. Internationalen Amerikanistenkongresses, der 1910 in Buenos Aires (Mai) und Mexiko-Stadt (September) stattfand und dessen Präsident Lehmann-Nitsche war, als adherente (wörtlich Anhänger, hier in etwa mit der Bedeutung Mitglied) geführt.60 Zum 14. Kongress, der 1904 in Stuttgart stattfand, war May eingeladen, er konnte aber nicht teilnehmen.

Abbildung 1: Fotografie „Unsere Urwaldexpedition auf einem in Felsen ausgehauenen Talweg, östlich von der Stadt Tarma“ von George Miller Dyott, um 1920, aus Nordenskjöld, Otto: Süd-

58 Vgl. den Dokumentarfilm Karl May: Das letzte Rätsel, Film von Luise Wagner und Peter Pippig (Produktion: doc station im Auftrag des ZDF, Deutschland 2010) sowie Krauss, Old Shatterhand (Dr. Karl May) mit Winnetous Silberbüchse und ders., Karl May und die Fotografie. Vgl. auch die Fotos von Karl May als Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi in May, Freuden und Leiden eines Vielgelesenen. 59 Vgl. May, Am Rio de la Plata, S. 5-7; Zöller, Pampas und Anden; Burmeister, Reise durch die La Plata-Staaten; Delacour, Le Rio de La Plata, Buenos-Ayres, Montevideo sowie Kosciuszko, „Man darf das Gute nehmen, wo man es findet.“ Eine weitere Quelle für May dürfte Tschudi, Reisen durch Südamerika gewesen sein. 60 Lehmann-Nitsche (Hg.), Actas del XVII Congreso Internacional de Americanistas 1, S. 43.

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amerika: Ein Zukunftsland der Menschheit. Natur/Mensch/Wirtschaft, übers. v. Ignaz Schlosser, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1927 [schwed. 1923: Människor och Natur i Sydamerika], Abb. 4, vor S. 17.

Wie erwähnt, waren viele Reiseberichte – zum Teil reich – mit Fotografien illustriert. Das Foto der Expedition auf ihrem beschwerlichen Weg durch die peruanischen Anden (Abb. 1) beispielsweise visualisiert nicht nur den Bericht Otto Nordenskjölds, sondern erinnerte manchen Leser sicher auch an die Abenteuer anderer Reisender einschließlich Karl Mays Alter Ego. Beim Autor des Fotos handelt es sich um den US-amerikanischen Abenteurer George Miller Dyott (1883-1972), der als Vertreter der peruanischen Regierung an Nordenskjölds Expedition teilnahm und Nordenskjöld seine Fotos zur Verfügung stellte. Dyott hatte zuvor auch selbst eine Expedition über die Anden und ins Amazonasgebiet unternommen;61 weitere abenteuerliche Reisen folgten. Ob die Expedition, die auf dem Foto zu sehen ist, tatsächlich die von Nordenskjöld ist, wie die Bildunterschrift suggeriert, oder ob es sich um Dyotts eigene, frühere Expedition handelt, ist nicht zu klären. Manche der Fotos, die Nordenskjöld zur Illustration seines im schwedischen Original 1923 erschienenen Berichtes verwendete, finden sich auch in Dyotts Publikation, das in erster Auflage im Jahr zuvor erschienen war. Dies gilt auch für das prominente Frontispiz (s.u. Abb. 55). Der in New York geborene Dyott wuchs in England auf und ist einer der Pioniere der Luftfahrt; u.a. war er einer der Ersten, der Nachtflüge unternahm. Außerdem flog er in Mittelamerika – wo er z.B. den mexikanischen Präsidenten Madero als Passagier an Bord hatte – und berichtete über das Fliegen unter den besonderen Bedingungen heißen Klimas. Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er als Geschwaderkommandant für den Royal Naval Air Service teilnahm, kam Dyott nach Peru, wo er sich weiterhin der Luftfahrt widmete.62 Er gründete in Lima das Unternehmen Dyott & Company Ltd. und machte Luftbild- und andere fotografische Aufnahmen, die er als Ansichten auf Bildpostkarten verkaufte.63 In den 1920er Jahren führte er mehrere Expeditionen ins Amazonasgebiet durch, u.a. 1927 auf den Spuren der Expedition von Theodore Roosevelt (1858-1919) und Cândido Rondon (1865-1958), die 1913/14 den Rio da Dúvida, den heutigen Rio Roosevelt, erkundet hatten, sowie 1928 auf der Suche nach dem britischen Forscher und Abenteurer Percy Fawcett (1867-1925?). Oberst Fawcett, sein Sohn Jack (1903-1925?) und dessen Freund Raleigh Rimell (190?-1925?) waren 1925 auf der Suche nach der fantastischen versunkenen Stadt Z im brasilianischen Dschungel von Mato Grosso verschollen.64 Später lebte Dyott in Ecuador; er starb 1972 in seiner Geburtsstadt New York. 61 Vgl. Dyott, Silent Highways of the Jungle. 62 Vgl. Dyott, Some Experiences of Flying in Central America und ders., Possibilities of Aerial Transport in Peru. 63 Vgl. Charbonneau, Lust For Inca Gold, S. 214. 64 Vgl. Dyott, Man Hunting in the Jungle. Das Buch wurde zweimal filmisch adaptiert: Savage Gold (Drehbuch und Vertrieb: Harold Auten, Produktion: George Miller Dyott, USA 1933) und Manhunt in the Jungle, Film von Tom McGowan (Produktion: Warner Bros., USA 1958). Leider – und angesichts seines abenteuerlichen Lebens und seiner medialen Präsenz auch erstaunlicherweise – gibt es zu George Miller Dyott bislang keine Studien. Vgl. lediglich den Eintrag im englischsprachigen Wikipedia; McIntyre, The Commander and the Mys-

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Die Bilder, die in wissenschaftlichen Arbeiten und Handbüchern erschienen, wurden von der wissenschaftlichen Öffentlichkeit gesehen, von Studenten, Forscherkollegen und Hobbywissenschaftlern sowie von Menschen, die aus wirtschaftlichen oder persönlichen Gründen an Südamerika interessiert waren, Unternehmern etwa oder von Auswanderern bzw. Menschen, die sich mit dem Gedanken auszuwandern trugen. Ein breiteres Publikum sah die Bilder, die Reise- und Abenteuerberichte illustrierten: jene gebildeten Europäer aus Edschmids eingangs zitiertem Satz. Wer dieser Gruppe nun wirklich angehörte, ist aber schwierig zu sagen.65 So mag die Leserschaft der illustrierten Reiseberichte auch sozial heterogener gewesen sein als gedacht, an die Leserzahlen der Romane etwa von Karl May kamen sie wohl nicht heran. Die Popularität der Bilder und somit die Popularisierung des Wissens, das sie vermittelten, exakt zu messen ist allerdings nahezu unmöglich. Zwar können zunächst Auflagen und ihre Stärken ermittelt werden, die mitunter beträchtlich waren – Handbücher etwa erschienen über Jahre und Jahrzehnte in immer neuen Auflagen66 und mancher Reisebericht oder manche Abenteuergeschichte wurde in mehreren Ausgaben mit tausenden und auch zehntausenden Exemplaren publiziert. Von diesen Zahlen und von der Verbreitung in Bibliotheken ausgehend können Leser und Rezipientenzahlen geschätzt werden, aber genau lässt sich dennoch nicht ermitteln, wie welches Bild auf welchen Betrachter wirkte: Wurden die entsprechenden Seiten des Buches überhaupt angesehen? Und wenn ja, wie intensiv? Was wurde wahrgenommen? Welche Gedanken machte sich die Betrachterin oder der Betrachter dazu? Was lösten die Bilder in ihr oder ihm aus? Das alles ist nicht zu ermitteln; es gibt schlicht keine Quellen, in denen Individuen dies offenbaren.67 Den impact von Bildern en detail zu bestimmen, ist so ein unmögliches Unterfangen. Das gilt umso mehr für das zeitgenössisch vielleicht populärste visuelle Medium, die nachfolgend vorgestellten Bildpostkarten. Hier ist schon die Verbreitung nur schwer abzuschätzen: Neben der Person, die die Karte entweder für sich selbst, als Souvenir oder für eine Sammlung, oder zum Versand an eine andere Person erwarb, sahen die auf Postkarten verbreiteten Bilder möglicherweise noch Freunde, Bekannte, Kollegen und Nachbarn, denen Adressaten oder Sammler die Bildpostkarten zeigten – und natürlich die Postangestellten.

tic; Grann, Die versunkene Stadt Z, S. 278-286 sowie Charbonneau, Lust for Inca Gold, S. 211-292. Zu Fawcett s. auch Kap. 3. Zur Expedition des ehemaligen US-Präsidenten Roosevelt vgl. z.B. den populärwissenschaftlichen Bestseller von Millard, River of Doubt. 65 Die Ausgabe von Edschmids Südamerika wird photographiert, erste Auflage von 1932, mit der ich gearbeitet habe, stammt von einem Hof im Artland bei Osnabrück. Kristin Wehrkamp, eine Freundin meiner Hilfskraft Jonas Schiffauer, fand sie beim Aufräumen der Sachen ihres Großvaters auf dem Dachboden. Der Bauer war sicher kein klassischer Bildungsbürger. 66 Vgl. z.B. Preusse-Sperber, Wegweiser für Argentinien (1. Aufl., Buenos Aires: Herpig & Stoeveken, 1897; 2. Aufl., Flöha in Sachsen: Peitz & Sohn, 1905 und 4. Aufl., Hannover: König & Ebhardt, 1920; als Herausgeber der 3. Aufl., Flöha in Sachsen: Peitz & Sohn, 1912 zeichnet ein L.H. Rethmar) oder Schüler, Brasilien: Ein Land der Zukunft (1. Aufl., Stuttgart/ Leipzig: Dt. Verl.-Anst., 1912, weitere Auflagen ²1912, ³1912, 41919, 51921, 61924). 67 Das gilt allerdings, zumindest in vielen Fällen, genauso für schriftliche Quellen; hier sind die Grenzen bei der Rekonstruktion der Rezeption nur viel akzeptierter.

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Bildpostkarten Von Bedeutung für populärkulturelle Sinngebungen und Zuschreibungen waren, wie bereits erwähnt, auch Bildpostkarten, die aus Südamerika nach Europa gelangten. 68 68 Die für die Untersuchung zu berücksichtigenden Bildpostkarten befinden sich im Altonaer Museum in Hamburg, im Ethnologischen Museum in Berlin, in den Nachlässen Robert Lehmann-Nitsches und Max Uhles im Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin, in einer eigenen Sammlung sowie in den online einsehbaren Sammlungen von Stefano Cavazzutti im Museo Ravennate di Scienze Naturali „Alfredo Brandolini“, von Adolf Feller im Bildarchiv der ETH-Zürich und von Daniel M. Cisilino, dem ich zu großem Dank verpflichtet bin, weil er mir immer wieder bei Fragen zu argentinischen Bildpostkarten half. Vgl. die Seiten http:// www.miniereromagna.it/Cavazzutti/index.htm [26.08.2018], http://ba.e-pics.ethz.ch/ [26. 08.2018] und http://www.antiguaspostales.com.ar/postales.htm [07.04.2016, diese Seite ist mittlerweile nicht mehr abrufbar]. Für weitere online recherchierbare Archive, einsehbare Sammlungen oder auch die Bestände kommerzieller Händler vgl. die entsprechenden Links auf der Homepage des DFG-Projektes „Visionen und Visualisierungen“, http://www.visione n-suedamerika.phil-fak.uni-koeln.de/18702.html [26.08.2018]. Viele Bilder bieten auch der recht informative Blog Tarjetas Postales Argentinas des Sammlers Héctor Luis Pezzimenti, Direktor des Centro de Estudio e Investigación de la Tarjeta Postal y Fotografía en Argentina (CEITPA), http://tarjetaspostalesargentinas-ceitpa.blogspot.de/ [26.08.2018], die Website des CEITPA, http://www.geocities.ws/ceitpa/index.html [26.08.2018] sowie die Website der chilenischen Filatelisten Patricio Aguirre Warden und Carlos Vergara, ChileCollector, http:// www.chilecollector.com/archweb0/postaleschile.html [26.08.2018]. Vgl. außerdem die Kataloge mit Bildpostkarten, die von bonaerensischen Verlegern herausgegeben wurden, von Loeb/Howat (Hg.), Catálogo descriptivo de postales argentinas: Roberto Rosauer; dies. (Hg.), Catálogo descriptivo de postales argentinas: Adolfo Kapelusz y Cía und Loeb (Hg.), Catálogo descriptivo de postales argentinas: Jacobo Peuser, 1899-1935 – Stephan Lumpert, “Antigua Casa Pernegg” sowie Gobierno de la Ciudad de Buenos Aires (Hg.), Buenos Aires hace 100 años, a travez de sus postales. Vgl. weiterhin die Kataloge mit brasilianischen Bildpostkarten von Gerodetti/Cornejo (Hg.), Lembranças de São Paulo; dies. (Hg.), Lembranças do Brasil: As capitais brasileiras; dies. (Hg.), As ferrovias do Brasil; dies. (Hg.), Navios e portos do Brasil; dies. (Hg.), Do Brasil para as Americas sowie Vasquez (Hg.), Postaes do Brazil, 1893-1930 und Lima (Hg.), Era uma vez.... Besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle die Kooperation des Verfassers mit dem Altonaer Museum, Hamburg. Die Bildpostkartensammlung des Altonaer Museums – eine der größten in Deutschland – ist von zentraler Bedeutung für das Projekt. Unter den knapp 2 Millionen Bildpostkarten gibt es mehr als 1.500 Motive aus Südamerika, die im Zuge des Projektes digitalisiert und in die Datenbank des Museums aufgenommen wurden. So wurde nicht nur dieser einzigartige Bestand erschlossen, zugleich wurde seine Sichtbarkeit erhöht: vgl. das Ergebnis der Kooperation online unter http://www.museen-sh.de/ [26.08.2018] und die Beschreibung auf der Homepage des Altonaer Museums, http://www.altonaermuseum.de /de/kooperationsprojekte/ambivalente-bilder.htm#.VmWrnL9t9Vc [26.08.2018]. Mehrere Hundert Bildpostkarten stammen aus dem für das Projekt relevanten Zeitraum. Da es sich nicht um eine „wissenschaftliche“ Sammlung handelt (in solchen dominieren häufig ethnografische und anthropologische Motive), stellen die Bildpostkarten aus der Sammlung des Altonaer Museums einen Querschnitt der zeitgenössisch verbreiteten Motive dar. Diese

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Dieses visuelle Medium erfährt zwar seit einigen Jahren in der Geschichts- und Kulturwissenschaft verstärkte Aufmerksamkeit, 69 ist aber bislang zumindest im südamerikanischen Kontext nicht systematisch in Untersuchungen einbezogen worden. Neben europäischen Bildpostkarten wurden in kolonialen und postkolonialen Studien v.a. solche aus Afrika und Asien untersucht.70 Offiziell wurde die erste Postkarte 1869 in Österreich verschickt;71 allerdings waren postalische Karten schon früher in den 1860er Jahren in den USA in Gebrauch. Diese frühen sogenannten Korrespondenzkarten waren bis auf kleine Bilder, Wappen, Embleme oder Verzierungen nicht illustriert. Ihr Gebrauch verbreitete sich schnell in Europa und den USA und um 1890 liefen, so der Fachausdruck für das Verschicken von Postkarten, sie auch in Lateinamerika und anderen Weltregionen. Um diese Zeit erschienen auch die ersten Bildpostkarten in schwarz-weiß. Die lithografische Illustration befand sich auf der Rückseite; im Gegensatz zur gängigen Auffassung stellt die Adressseite der Karte (wie beim Brief) die Vorderseite dar. Um aber bei den Leserinnen und Lesern keine Verwirrung zu stiften, wird im Folgenden dem allgemeinen Sprachgebrauch gefolgt oder es werden die Bezeichnungen Bild- und Adressseite benutzt. Bis sich also in der zweiten Hälfte der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts die geteilte Adressseite (die Rückseite, die eigentlich die Vorderseite ist) durchsetzte, die der Nachricht einen Teil und der Adresse, der Briefmarke und dem Poststempel den anderen Teil zuwies,72 konkurrierten Bild und Text um den Platz auf der Bildseite (der

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Diversität der Bilder ist die große Stärke der Sammlung. Sie bewahrt nicht nur die Bildmedien selbst, sondern auch das durch sie vermittelte populäre Wissen um die Welt. Zum Konzept der Populärkultur vgl. Maase, Populärkultur –Unterhaltung – Vergnügung und ders./Kaschuba (Hg.), Schund und Schönheit. Vgl. bspw. Starl/Tropper (Hg.), Zeigen, grüssen, senden; dies. (Hg.), Format Postkarte: Illustrierte Korrespondenzen, 1900 bis 1936; dies., Identifizieren und Datieren von illustrierten Postkarten; Holzheid, Das Medium Postkarte; Prochaska/Mendelson (Hg.), Postcards: Ephemeral Histories of Modernity; Geary/Webb (Hg.), Delivering Views; Kümin/Kumschick (Hg.), Gruss aus der Ferne; Walter, Postkarte und Fotografie; Milne, Letters, Postcards, Email oder Jäger, Globalisierte Bilder sowie schon älter Carline, Pictures in the Post. Für weitere Titel s.u. Beispielhaft in die Analyse eingebunden werden Bildpostkarten auch in der Studie über den Cakewalk von Kusser, Körper in Schieflage. Vgl. zuletzt Axster, Koloniales Spektakel in 9x14; ders., “...will try to send you the best views from here”; ders. et al, Koloniale Repräsentationen auf Bildpostkarten in Deutschland (1870-1930); Sturani, Das Fremde im Bild; Corbey, Alterity: The Colonial Nude; Zaugg, Zwischen Europäisierung und Afrikanisierung; Sebbar/Belorgey, Femmes d’Afrique du nord; Alloula, The Colonial Harem; Mathur, Wanted: Native Views; Burns, Six Postcards from Arabia; Yee, Recycling the ‘Colonial Harem’?; Förschler, Die orientalische Frau aus der hellen Kammer oder die Ausstellungskritik von Kramer/Hess, Bilder verkehren: Postkarten in der visuellen Kultur des deutschen Kolonialismus. Vgl. Käppeli, Ansichtskarten. Die geteilte Rück- bzw. Adressseite wurde international 1906 auf dem Weltpostkongress in Rom beschlossen und zum 01. Oktober 1907 eingeführt. In einigen Ländern galt die Regelung schon früher, im Deutschen Reich beispielsweise wurde sie bereits 1905 eingeführt. Vgl. Wicki, Geschichte der Post- und Ansichtskarten, S. 18. Auch in Argentinien erschienen

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Vorderseite, die eigentlich die Rückseite ist). Das führte zu dem bekannten Phänomen, dass Grüße, Nachrichten und andere kurze Textelemente z.B. in den Himmel oder andere helle Stellen des Bildes geschrieben wurden.73 Um 1895 ermöglichte die Methode der Chromolithografie die Produktion von farbigen Bildpostkarten.74 Wie es auch bei den lithografischen Schwarzweißpostkarten der Fall war, beruhten die Bilder häufig auf fotografischen Vorlagen. So amalgamierten die „neuen Medien“ Fotografie und Bildpostkarte schon, bevor im frühen 20. Jahrhundert immer mehr Fotopostkarten zunächst in schwarz-weiß, hergestellt im Bromsilberdruck- oder Lichtdruckverfahren, ab den 1920er Jahren im Offsetdruckverfahren, auf den Markt kamen. Die technischen Neuerungen erreichten Lateinamerika schnell und auch dort fand die Bildpostkarte große Verbreitung. In Buenos Aires etwa produzierten die wichtigsten Verleger, darunter der aus Camberg in Hessen stammende Jacobo Peuser (1843-1901) und sein 1867 gegründeter Verlag, die Österreicher Roberto Rosauer (18??-1940) und Adolfo Kapelusz (1873-1947), der Schweizer Gastón Aquiles Bourquin (1890-1950), Stephan Lumpert und die Casa Pernegg, Mitchell’s Book Store, der seine Bildpostkarten bis in die 1910er Jahre in England drucken ließ, sowie der Italiener Zaverio Fumagalli, der argentinischen Kulturwissenschaftlerin Graciela Silvestri zufolge, bis zu den 1920er Jahren insgesamt über 6.000 Bildpostkartenmotive.75 Weitere Produzenten von Bildpostkarten in Buenos Aires waren F. Weiss, KirBildpostkarten seit 1906 mit geteilten Adresseiten. Vgl. Cisilino, La fecha en la Tarjeta Postal. 73 Vgl. Tropper, Bild/Störung und zuletzt dies., Kontakte und Transfers. Eine längs und quer beschriebene Bildpostkarte aus der Sammlung des Altonaer Museums zeigt nicht nur, wie der begrenzte Platz, der für die textliche Nachricht reserviert war, sowie der Himmel mit viel Einfallsreichtum (aber zu Lasten des Lesekomforts) maximal ausgenutzt wurde, sie ist auch ein Beleg für den Konflikt zwischen Postkartenforschern oder -sammlern und ihren „natürlichen Feinden“, den Philatelisten/Briefmarkensammlern. Vgl. Bildpostkarte „Saludos de Buenos Aires“, Verlag wegen der herausgeschnittenen Briefmarke nicht identifizierbar, Buenos Aires (?), gelaufen 14.08.1900, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1965/577,135. 74 Bereits zuvor, Ende der 1880er Jahre, war in der Schweiz mit dem Photochromdruck ein recht aufwändiges Flachdruckverfahren entwickelt worden, das auf der Grundlage eines Schwarzweißnegativs die Produktion mehrfarbiger Bilder ermöglichte. Mit der Verbreitung der Farbfotografie seit dem Ende des Ersten Weltkrieges und besonders in den 1930er und 1940er Jahren wurde der komplizie Photochromdruck zunehmend unwirtschaftlich. Vgl. für Photochromdrucke z.B. Walter/Lelonek, Deutschland um 1900: Ein Portrait in Farbe und ders./Arqué, An American Odyssey: Photos from the Detroit Photographic Company. 75 Vgl. Silvestri, El viaje de las Señoritas. Allein Rosauer gab zwischen 1901 und 1909 über 2.000 Bildpostkartenmotive heraus. Vgl. Loeb/Howat (Hg.), Catálogo descriptivo de postales argentinas: Roberto Rosauer. Die (historische) Forschung zu südamerikanischen Bildpostkarten steckt noch in den Anfängen. Es gibt vor allem Arbeiten über die Repräsentation von Indigenen und zu den Ländern des Cono Sur, vgl. León Cáceres et al., Historia de la postal en Chile; Flores Chávez/Azócar Avendaño, Tarjetas postales de los capuchinos; Azócar Avendaño et al., La tarjeta postal fotográfica y la escuela misional en la Araucanía; Luque Azcona, Los imaginarios de Montevideo a través de sus tarjetas postales; Masotta, Cuerpos dóciles y miradas encontradas; ders., Representación e iconografía de dos tipos nacionales; ders., Gauchos en las primeras postales fotográficas argentinas; ders., Indios en

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choff & Cía., F. Riudavets, Carmelo Ibarra, der seine Karten z.T. von J. de Lemos & Hess in Hamburg drucken ließ, J. Cunill, die Italiener Salvatore Liguori, A. Mauri, G.B. Pedrocchi und Pita & Catalano, die Librería e Imprenta La Confianza oder der Verlag América Cristiana. Der bonaerensische Fotograf Eugenio Avanzi, Besitzer des Fotostudios Aurora, gab in Zusammenarbeit mit verschiedenen Verlegern, etwa Pedrocchi, Pita & Catalano, Tonini, Rosauer oder H. Bachmann, ebenfalls Bildpostkarten mit seinen Motiven heraus. Insbesondere in den urbanen Zentren Argentiniens, Chiles, Perus und Brasiliens produzierten Fotografen, Verleger oder andere Spezialisten, die meisten von ihnen europäische Einwanderer, viele davon aus dem Deutschen Reich76 – in Argentinien auch viele Italiener –, eigene Bildpostkarten oder handelten mit solchen, die auf der Grundlage eigener oder anderer Fotografien in den USA oder in Europa hergestellt worden waren. (Die in Europa produzierten Karten stammten ebenfalls vor allem aus dem Deutschen Reich sowie aus der Schweiz, aus England, Frankreich, Italien und Spanien.) Neben den bonaerensischen Verlegern gehörte z.B. der 1893 in Wien geborene Friedrich (Federico) Kohlmann zu den wichtigsten Bildpostkartenproduzenten in Argentinien. Kohlmann war 1920 nach Argentinien gekommen und machte während ausgedehnter Reisen in Argentinien und darüber hinaus in den kommenden Dekaden unzählige Fotos. Mehrere hundert davon veröffentlichte er als Bildpostkarten. Sein bekanntes Fotostudio Fot. Kohlmann richtete er zunächst in La Plata, später in Vicente López, beides in der Provinz Buenos Aires, ein. Zwischenzeitlich arbeitete Kohlmann mit dem oben genannten Schweizer Fotografen und Verleger Gastón Bourquin zusammen.77 Darüber hinaus sind als Verleger in Argentinien zu nennen: Juan L. Calvet (1891-1954) in Concordia; Tamburini und Serricchio Hermanos in Córdoba; Gimenez & Carné in Tandil; Moroni in La Plata; Carlos Birle in Mendoza; die Librería Pablo Laforte in Zárate; Prebisch & Violetto in Tucumán und Foto Hahn in San Carlos de Bariloche. Einige Verleger konnten nicht namentlich identifiziert werden (auch nicht las primeras postales fotográficas argentinas; ders., Paisajes en las primeras postales fotográficas argentinas; ders., Albúm postal; ders., Almas robadas; ders., El atlas invisible; Giordano/Méndez, Indígenas chaqueños en las imágenes de postales argentinas und Silvestri, Postales Argentinas. Vgl. weiterhin Sánchez Hernani, Postales del Callao de principios del siglo XX; Zerega, La imagen postal de Guayaquil; Irazábal, Architecture and the Production of Postcard Images und Barrueto, El indio en las tarjetas postales sowie Onken, Visiones y visualizaciones; ders., Postcards from Latin America; ders., Frühe Bildpostkarten aus Südamerika im Deutschen Reich und ders., Collecting Picture Postcards of South America. Zu mexikanischen Bildpostkarten vgl. z.B. Arreola, Postcards from the Río Bravo Border sowie den Katalog von Ferrer Zavala (Hg.), Catálogo de enteros postales de México. 76 Auch in Mittelamerika waren viele Verleger von Bildpostkarten Deutsche, Österreicher oder Deutschschweizer wie der in Schaffhausen geborene Gottfried Hurter (1866-1951) in Quetzaltenango, Guatemala, Adolf Biener in Guatemala-Stadt, die Schweizer Emilio und Roberto Eichenberger, ebenfalls in Guatemala oder H. Wimmer in Puerto Limón, Costa Rica. In Mexiko verlegte der deutsche Fotograf Hugo Brehme auch Bildpostkarten. Vgl. zu Brehme Nungesser (Hg.), Hugo Brehme: Fotograf und Raddatz, Hugo Brehme, Agustín V. Casasola oder wer? 77 Vgl. Postales de Federico Kohlmann, Blog von Miguel Fiordelli Chiacchiarini, http://postale sdekohlmann.blogspot.de/ [26.08.2018].

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mit der Hilfe des Experten Daniel Cisilino, den ich um Rat fragte); es handelt sich dabei um O.H. in Santa Fé, M.A.R. in Rosario und D.P. & C. in Buenos Aires. In Brasilien gab es neben den hauptstädtischen Verlegern wie z.B. V. J. S. Affonso und A. Ribeiro Bildpostkartenhersteller in São Paulo (z.B. den Schweizer Wilhelm Gänsli (Guilherme Gaensly)), Porto Alegre (Jorge Ellert, deutscher Inhaber der Livraria Commercial), Joinville (Hugo Quidde), Santos (J. Bidschovsky, J. Marques Pereira und M. Pontes & Co.), Manaus (Georg Hübner) oder in Curitiba (Max Rösner und Annibal Rocha). In Peru produzierten neben den Verlegern in Lima und Callao (darunter etwa der deutschstämmige Eduardo Polack, Luis Sablich, der Bazar Pathé, das Fotostudio Garreaud sowie einige weitere) die erwähnten Martín Chambi (Cuzco) und Max T. Vargas sowie M. Mancilla (beide Arequipa) oder H.G. Rozas (Cuzco) Bildpostkarten.78 Auch in Kolumbien gab es außer in Bogotá (z.B. die Librería Colombiana) in Barranquilla (Flohr, Price & Co.), in San Juan de Pasto (Jorge López Álvarez) und in einigen anderen Städten (Cali, Medellín, Cartagena) Bildpostkartenproduzenten. Weitere Verleger von Bildpostkarten waren im bolivianischen La Paz de Notta & Compañía, Fot. Piérola und Arnó Hnos.; in Venezuela die Inhaber der Eisenwarenhandlung Quincalla y Ferretería al Sol Dallmeier und Vera León, Gathmann Hnos. und Bernardo Rosswaag in Carácas oder R. Lacruz Salas in Mérida und in Ecuador die 1899 eröffnete Fototipía von José Domingo Laso (1870-1927) in Quito sowie die Imprenta Mercantil von Marín y Martínez in Guayaquil. In Montevideo, Uruguay, gab es eine ganze Reihe Verleger von Bildpostkarten, darunter die Papelería Galli, C. Galli, Franco & Cie., die Adroher Hnos., Almera Hnos., Enrique Moneda, Fotogr. Strobach, C. Maveroff & Cía., E. Dellazoppa oder A. Carluccio. Der bedeutendste Verleger von Bildpostkarten in Asunción war der aus Tecklenburg in Westfalen stammende Guillermo Grüter (eigentlich Wilhelm Freiherr von Diepenbroick-Grüter) (1871-1947), der 1893 nach Paraguay kam. Ähnlich wie in Argentinien und im Unterschied zu den meisten anderen südamerikanischen Ländern gab es in Chile Verleger von Postkarten schon sehr früh nicht nur in den Metropolen Santiago (Adolfo Conrads, Alberto Stanke, Foto Spencer, Juan Tamargo, Morel Hno., Grimm & Kern, Carlos Friedemann, Gallardo Hnos., Juan Karstulovic & Hijo, Hume & Co., Juan M. Sepúlveda V.) und Valparaíso (Carlos Brandt, Carlos Kirsinger & Cía., Mattensohn & Grimm, Carlos Niemeyer, Burmeister & Cía., Hardy & Cía., Máximo Heydel, die Litografía Moderna von Scherrer & Herrmann, Eggers & Cía., Jorge Allan, Julio Pomar Vega, W. G. Paton & Co., R. W. Bailey & Co., Allan D. Phillips, Carlos Schultze-Ast, Weber & Co.), sondern auch in vielen Provinzstädten, von Arica (A. Morice), Iquique (A. Bock, Lorenzo Petersen, Edw. E. Muecke, Robert Jones) und Antofagasta (Imprenta Barcelona, Carlos Pinnau & Cía, Juvenal Morla) im Norden über La Serena (M. Sains Peña, Francisco Álvarez C., Oscar Galeno) und Coquimbo (Domingo Gallo) nördlich von Santiago, über Curicó (Alamiro Arancibia), Talca (Jerman Schwartz, die Librería Nacional von Enrique Prieto), Talcahuano (Agustín Parra), Concepción (Adolfo Stegmann, A. Viereck & Co.), Lota (Carlos Bivort), Traiguén (José Hohmann), Temuco (Carlos Mülack, Inhaber der Librería Alemana), Valdivia (Fernando Maximiliano Valck Wiegand, Pablo Springmüller & Hijos, Litografía Köber, L. Burgemeister, Roberto Wiederhold, Federico 78 Weitere Verleger in Peru waren Benavides, Morgenroth, Andreu & Magot, Orellana, Zoller, Vernal & Maldonado, Arenz, Tataje und El Mercurio.

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Carstens & Co., Carlos Bulling, Mally, Reccius & Co.), La Unión (Agustín Martínez), Río Bueno (Castorene & Larre, Reinaldo Sandrock), Osorno (Paul Schauer, Ernesto Piwonka, Oscar Mayr Kopitch, Ricardo Wiederhold, Guillermo Kleibömer), Frutillar (Jacobo Junginger), einem kleinen von Deutschen gegründeten und geprägten Städtchen am Lago Llanquihue in der Nähe von Puerto Montt, Puerto Varas (Inhaber des Hotels Bella-Vista), Puerto Montt (F. Doggenweiler, Fotografía Imperio E. Mora, Emilio Winkler, Carlos Wiederhold) und Ancud (R. Wolf), bis nach Punta Arenas auf der Brunswick-Halbinsel im äußersten Süden des Festlandes. Fast alle waren europäische Einwanderer, sehr viele von ihnen Deutsche.79 Selbst in Punta Arenas gab es gleich mehrere Bildpostkartenproduzenten: José López, Carlos Foresti, Correa & de Bruyne (der Brite Peter de Bruyne war gebürtiger Holländer und führte mit seinem Partner ein Handelsunternehmen), Adolfo Kwasny, Rodolfo Holck & Co., Sanibelli & Degiorgis, Cándido Veiga Iglesias und Manuel Alves Brasil (Veiga & Brasil), Rosaghio Francisco, Walter Seliger, den Inhaber der Librería El Globo, den Engländer W.E. Turner (1864-1904), den österreichischen Einwanderer und Hotelier Roberto Mulach (1883-1930) sowie Henry Poirier (1871-1915). Poirier, eigentlich Herman Birnbaum, stammte aus einer jüdischen Familie aus Bukarest. In den späten 1880er Jahren emigrierte er und kam um 1890, nachdem er etwa zwei Jahre in Marseille verbracht hatte, nach Punta Arenas, wo er einen erfolgreichen Handel mit Fellen und Häuten aufzog. In seiner Peletería Magallanes verkaufte der passionierte Fotograf auch Bildpostkarten.80 Auch die Italiener G.M. Grossi und Mauro Matonte verkauften in ihren peleterías El Zorro bzw. Londres Bildpostkarten, die Inhaber des Hotel Imperial ebenfalls. In der Regel waren die Bildpostkarten, die kleine Hersteller wie z.B. Grossi, Poirier und Mulach in Punta Arenas produzierten, Einzelserien, da die Maschinen für die Massenproduktion fehlten. Unter den Bildpostkartenproduzenten gab es kaum Frauen; die Verlegerin Ana L.B. de Bouquet, die 1903 das Unternehmen ihres verstorbenen Mann Juan Bouquet Rives in Concepción übernahm, war eine der wenigen. 81 Die Bildpostkarte ist ein wahrhaft transnationales Medium, das gleich mehrere Male um die Welt reisen konnte, bevor es seinen Weg etwa in das Album eines privaten Sammlers oder in institutionelle Sammlungen fand. Ein Fotograf, möglicherweise ein europäischer Immigrant, nahm in Südamerika ein Foto auf (wobei er europäische 79 Vgl. León Cáceres et al., Historia de la postal en Chile. Im Fließtext oben in Klammern aufgeführt sind nur die Pioniere unter den chilenischen Verlegern. Im hier angeführten Werk finden sich im Anhang II zahlreiche weitere Verleger, die nach 1912 begannen, Bildpostkarten herauszugeben. Vgl. weiterhin ChileCollector, Website von Patricio Aguirre Warden und Carlos Vergara, http://www.chilecollector.com/archweb0/postaleschile.html [26.08.2018]. 80 Vgl. z.B. die Bildpostkarte „Recuerdo del Estrecho de Magallanes“, Fotograf (sehr wahrscheinlich) und Verlag: Henry Poirier, Peletería Magallanes, Punta Arenas, um 1900, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E Nls 202, erworben 1924 sowie The British Presence in Southern Patagonia, Website von Duncan Campbell, 2012, http://patbrit.org/bil/supp/c0304.htm [26.08.2018]. Auf Campbells Website gibt es auch ein Foto von Poiriers Laden, vgl. http://patbrit.org/eng/ album/poirier.htm [26.08.2018]. Für weitere Postkarten von Poirier vgl. Dunn, Postcards from Punta Arenas. 81 Vgl. Niedermaier, La mujer y la fotografía, S. 340.

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Technik benutzte). Das Foto wurde dann in vielen Fällen und v.a. in den ersten Jahren an einen Hersteller in Europa, häufig im Deutschen Reich, aber auch in Großbritannien, Italien, Frankreich, Spanien oder der Schweiz, geschickt, der es als Bildpostkarte vervielfältigte und diese nach Südamerika zurückschickte. Dort wurden sie schließlich verkauft – unter Umständen an einen europäischen Reisenden oder Einwanderer, der sie möglicherweise entweder als Souvenir mit nach Hause nahm oder an Freunde und Verwandte in der alten Heimat schickte. Der hier geschilderte Fall ist nicht konstruiert und er ist keine Ausnahme, es gibt zahlreiche solcher und ähnlicher Fälle. Der deutsche Fotograf Guillermo Grüter aus Asunción ließ seine Postkarten beispielsweise zunächst im Deutschen Reich drucken. Gleiches gilt für Roberto Rosauer. Der gelernte Brauer wanderte Ende des 19. Jahrhunderts mit seiner Frau Hedwig Klein von Österreich nach Argentinien aus und gründete den vermutlich bedeutendsten Postkartenverlag in Buenos Aires. Auch die in Rosauers Verlag erschienenen bekannten Bildpostkarten der Kollektion Boggiani, über die noch zu sprechen sein wird, wurden im Deutschen Reich hergestellt und zwar von Alphons Adolph, Hoffotograf des bayrischen Königs in Passau. Und der oben erwähnte Pionier der Fotografie in Peru, der einheimische Max T. Vargas in Arequipa, ließ seine Bildpostkarten ebenso wie viele weitere südamerikanische Fotografen zumindest in den Anfangsjahren im Deutschen Reich drucken. Neben den von Verlegern in Südamerika edierten Bildpostkarten gaben auch Verleger in Europa und später in den USA Bildpostkarten mit südamerikanischen Motiven heraus. Unter diesen zählt das Unternehmen von Raphael Tuck & Sons vermutlich zu den bekanntesten. Der 1821 im ostpreußischen Koschmin geborene Tuck wanderte 1865 nach England aus und eröffnete 1866 in London ein Kunstgeschäft. Das Geschäftsfeld erweiterte sich bald; die Firma expandierte und eröffnete Filialen in Paris und New York. 1894 gab Tuck auf Betreiben seines Sohnes Adolph seine erste Bildpostkarte heraus (sie zeigte den Mount Snowden, den höchsten Berg in Wales). Als Raphael Tuck 1900 starb, führten seine Söhne das Unternehmen weiter. Dieses veröffentlichte in den ersten beiden Dekaden zehntausende Bildpostkartenmotive, darunter z.B. auch ein Dutzend Karten mit Ansichten von Buenos Aires sowie ein halbes Dutzend mit Ansichten der argentinischen Anden. Dabei handelte es sich um „Oiletten“, für die Firma typische Bildpostkarten, die aussahen, wie Miniaturölgemälde; sechs der Ansichten von Buenos Aires waren von Charles Edwin Flower (1871-1951) gemalt worden.82 Auch in Italien oder im Deutschen Reich gaben Verleger Bildpostkarten mit fotografischen Ansichten von Südamerika heraus. Dabei ist der Produzent nicht immer identifizierbar (wie im Falle des Verlags C. A. W. Grün aus Hamburg-Ohlsdorf, der Bildpostkarten der Serie Südamerika von Albert Aust oder Karten etwa von Buenos Aires von Ediz. E. Berardi & C. aus Mailand). Manche Bildpostkarten geben zwar Hinweise auf das Produktionsland, nicht aber auf den Produzenten. So findet sich auf einer Bildpostkarte von Buenos Aires („Buenos Aires – Vista Parcial del Puerto.“, Verlag und Ort unbekannt, gedruckt im Deutschen Reich, nach 1905, ungelaufen, Sammlung von Hinnerk Onken) rückseitig nur der Aufdruck „Deutsches Erzeugnis“.

82 Vgl. Cisilino, Raphael Tuck y sus postales de Argentina.

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Abbildung 2a+b: Bildpostkarte „Hafeneinfahrt von Montevideo“ (?), Verlag und Ort unbekannt, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1973/472-909. Das für die Karte verwendete Papier ist von Leonar. Die Leonar-Werke in Hamburg-Wandsbek wurden 1895 gegründet, 1964 wurde die Firma von Agfa übernommen. Eine genauere Datierung lässt sich aufgrund der Autos, die auf der der Karte zugrundeliegenden Fotografie zu sehen sind, vornehmen. Sie stammt offenbar aus den 1920er oder 1930er Jahren. Eine andere Karte (Inv.-Nr. 1973/ 472-910), die offenbar mit der abgebildeten in Zusammenhang steht (darauf deuten sowohl die Karten selbst, die Beschriftung als auch die Inventarnummern hin), zeigt eine städtische Straßenansicht mit Automobilen, ein handschriftlicher Vermerk auf der Addressseite deutet auf die Avenida Rio Branco in Rio de Janeiro. Diese Karte stützt die Datierung der oben abgebildeten Karte.

Besondere Schwierigkeiten bereiten Bildpostkarten, die weder Hinweise auf den Verleger und andere Informationen zur Herstellung, noch auf das abgebildete Motiv geben. Bei der ungefähren Datierung können dann mitunter der Karte immanente Aspek-

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te, etwa das Papier, der Druck, die geteilte oder nicht geteilte Addressseite helfen; mitunter ist es möglich, sich auf das Motiv (Mode/Kleidung, Autos, Gebäude usw.) oder etwa auf die Verwendung eines Kugelschreibers (dieser kam erst in den 1940er Jahren auf den Markt) beim Beschreiben der Karte zu stützen. Im Fall der nachfolgend abgebildeten Bildpostkarte aus dem Bestand des Altonaer Museums findet sich auf der Addressseite der handschriftliche Hinweis, bei dem Motiv handele es sich um die Hafeneinfahrt von Montevideo (Abb. 2). In solchen Fällen stellt sich die Frage, wie verlässlich die handschriftliche Information ist. Im vorliegenden Fall ist über deren Urheber nichts bekannt: Handelte es sich um die Person, welche die Karte ursprünglich erwarb oder um jemanden, der sie später erhielt oder um den oder die Archivarin im Museum? Um sicher zu gehen, müssten Vergleiche mit anderen Bildern mit dem gleichen Motiv oder sonstige aufwändige Recherchen bis hin zu Reisen zum Ort der Aufnahme angestellt werden. Aus zwei Gründen war es beiderseits des Atlantiks sehr beliebt, fotografische Abzüge in der Form von Bildpostkarten herzustellen: Erstens ermöglichten sie durch das Verschicken mit der Post eine Verbreitung auch über große, sogar interkontinentale Distanzen. Und zweitens machte die serielle Herstellung Bildpostkarten zu einem der günstigsten Wege, Fotos zu drucken.83 Bildpostkarten waren daher als Träger oder Mittler fotografischer Bilder von immenser Bedeutung. Mit der gleichen Berechtigung, mit der vom „Jahrhundert der Bilder“ oder neuer vom „visuellen Zeitalter“84 die Rede ist, kann die Zeit von den späten 1890er Jahren – um 1897/98 setzten sich im Lichtdruck fotografisch illustrierte Karten durch und wurden zum Massenmedium – bis zu den 1920er Jahren auch als das „goldene Zeitalter der Bildpostkarte“ bezeichnet werden. Tabelle 185 Jahr

Versandte Postkarten Anteil am Postversand (Briefe + Postkarten)

1875

61,9 Mio

11%

1880

141 Mio

20%

1885

230,5 Mio

24%

1890

330,3 Mio

25%

1895

443,8 Mio

27%

1900

954,9 Mio

36%

83 Das führte z.T. sogar zu einem „Fotografensterben“: Bis 1907 konnten alle Fotografien, weil sie urheberrechtlich nicht geschützt waren, als Postkarte reproduziert werden. Dabei konnte der Postkartenhersteller nicht nur von der Arbeit anderer, also des Fotografen, profitieren, sondern wegen der Massenproduktion sein Erzeugnis auch zu einem niedrigeren Preis anbieten. Vgl. Tropper, Bild/Störung, S. 12 und Hoerner, Zur Geschichte der fotografischen Ansichtspostkarten, S. 37 sowie Walter, Postkarte und Fotografie, die die Urheberrechtsdebatte minutiös nachgezeichnet hat. 84 Paul (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder und ders., Das visuelle Zeitalter. 85 Leclerc, Ansichten über Ansichtskarten, S. 30.

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Abbildung 3a+b: Bildpostkarte „Plaza de Armas – Talca.“, Verlag: Jerman Schwartz, Talca, gelaufen 01.09.1917, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 2004/5/107.

Da sie relativ erschwinglich waren, stieg die Zahl der mit der Post verschickten Karten im Deutschen Reich stark an. Bezogen auf die Einwohnerzahl des Deutschen Reiches bedeuteten die über 950 Millionen gelaufenen Postkarten, dass statistisch gesehen im Jahr 1900 jeder Deutsche 15 Karten versandte. Und die Zahlen stiegen weiter: 1906 wurden durch die Deutsche Reichspost 1,161 Milliarden Postkarten bearbeitet. 86 Unter den Postkarten befanden sich allerdings viele, die nicht illustriert waren; 1900 betrug der Anteil der Bildpostkarten 46%.87 Andererseits gab es auch im wahrsten Sinne des 86 Vgl. Smalley, Communications from the Field. Vgl. die statistische Einordnung zuvor bei Jäger, Globalisierte Bilder, . 87 Vgl. Leclerc, Ansichten über Ansichtskarten, S. 31.

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Wortes unzählige Bildpostkarten, die nicht mit der Post versandt wurden, sondern als Souvenir, als Sammelobjekt oder aus anderen Gründen für persönliche Zwecke oder für Freunde, Bekannte, Verwandte angeschafft wurden. Die Karten wurden, vor allem bevor sich das Telefon als Kommunikationsmittel für breitere Bevölkerungsschichten durchsetzte, unter anderem zum Versenden kurzer Nachrichten, Einladungen oder Glückwünsche genutzt – ähnlich SMS, Email oder Instant Messaging wie WhatsApp heute.88 Das gilt offenbar auch für Südamerika, wie eine Bildpostkarte aus der Sammlung des Altonaer Museums in Hamburg zeigt: „Bist du gestern schwarz geworden? Herzlichen Gruß, Walther“ lautet der Text auf einer am 01. September 1917 aus dem chilenischen Talca an Curt Bassen gesandten Bildpostkarte eines örtlichen Verlegers, des deutschen Einwanderers Jerman Schwartz (Abb. 3). Leider ist nicht überliefert, worauf sich Walther bezog, ob etwas Privates, eine geschäftliche Angelegenheit oder vielleicht ein Sportergebnis Bassen ärgerte. Der Empfänger der Karte war Angestellter bei Daube & Cia, einem großen chemisch-pharmazeutischen Handelshaus in Santiago. Im Archiv des Altonaer Museums in Hamburg befinden sich über 60 südamerikanische Postkarten, die an Bassen adressiert sind. Dieser pflegte offenbar ein weitgespanntes Korrespondenznetz, das er auch aufrechterhielt, als er in den 1920er Jahren nach Groß Flottbek in der Nähe Hamburgs zurückkehrte. Ebenso wie in den Dekaden zuvor, Mitte des 19. Jahrhunderts, die cartes de visites, Kabinettkarten oder andere fotografische Abzüge waren auch die günstigeren Bildpostkarten beliebte Sammelobjekte.89 Viele Produzenten von Bildpostkarten machten sich dies zu Nutze und beförderten den Sammeleifer und damit ihre Absätze, indem sie Serien herstellten, die es möglichst vollständig zu erwerben galt (und die es unter Sammlern bis heute antiquarisch zu erwerben gilt, was die zum Teil recht hohen Preise für antiquarische Postkarten erklärt). Carlos Masotta, einem der wenigen Spezialisten auf dem Feld südamerikanischer Bildpostkarten, zufolge handelte es sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert bei den Sammlern – in Amerika wie in Europa – in erster Linie um Frauen.90 Wie Masotta zu dieser Einschätzung gelangt, wird nicht ganz klar 88 Im Deutschen Reich wurde die Post mehrmals täglich ausgeliefert, so dass Einladungen zum Abendessen am Morgen desselben Tages per Postkarte verschickt werden konnten. 89 Vgl. für cartes de visites Voigt, Faszination Sammeln: Cartes de visite und Prussat, Carte de visite Photography in South America. Weitere beliebte Sammelobjekte waren Zigarettenund andere Reklamebildchen, die ähnlich wie die Bilder von Panini heute in Alben gesammelt wurden. Vgl. noch aus den 1950er Jahren z.B. das Sammelalbum der Margarine-Union AG (Hg.), Mittel- und Südamerika: Conny Pünnebergs abenteuerliche Reise sowie Ciarlo, Advertising Empire; Zeller, Bilderschule der Herrenmenschen; Kümper, Nichts als blauer Dunst?; Klattenhoff (Hg.), Teeblättchen trifft Robinson; Schweer, Popularisierung und Zirkulation von Wissen, Wissenschaft und Technik in visuellen Massenmedien; Spantig, Kunst und Konsum oder Weyers et al. (Hg.), Die Eroberung der Welt: Sammelbilder vermitteln Zeitbilder. Für einen kulturwissenschaftlichen Ansatz zum Sammeln und zur Psychologie des Sammlers vgl. Andermann, The Optic of the State, bes. S. 12-13. Auch heute noch werden (historische) Bildpostkarten gesammelt und in Antiquitätengeschäften sowie von spezialisierten Händlern vertrieben. 90 Vgl. Masotta, Gauchos en las primeras postales fotográficas argentinas sowie Silvestri, El viaje de las Señoritas und Schor, Cartes Postales: Representing Paris 1900.

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(sollte es an der in Rosa- und anderen Pastelltönen gehaltenen Kolorierung mancher Karten liegen?); im Zuge der Forschungen für die vorliegende Arbeit jedenfalls konnten mehr männliche Sammler ausgemacht werden, darunter der erwähnte Curt Bassen, der als „Archivar des Alltags“ bezeichnete in Argentinien lebende Anthropologe Robert Lehmann-Nitsche,91 der „Vater der andinen Archäologie“ Max Uhle, der italienische Arzt Stefano Cavazzutti (1845-1924) oder der Schweizer Unternehmer Adolf Feller (1879-1931).92 Auch Feller verfügte über ein weites, in seinem Fall sogar weltumspannendes Netz von Menschen, die ihm Bildpostkarten schickten und gegebenenfalls im Gegenzug ebenfalls solche erhielten. Dies belegen die Bildpostkarten seiner online einsehbaren Sammlung, die im Bildarchiv der ETH Zürich archiviert ist. Graciela Silvestri hat herausgefunden, dass es ebenso wie in Europa auch in Argentinien Listen und spezialisierte Zeitschriften gab, um den Austausch zwischen den Sammlern zu fördern.93 Im Deutschen Reich tauschten sich die schon bald auch in Vereinen organisierten Sammler über ihre Beweggründe aus: Sie hoben den völkerverbindenden Charakter hervor oder betonten den Aspekt der (geografischen) Bildung; andere sahen es einfach als „Sport“ an.94 Die Sammelleidenschaft erfasste Jung und Alt, wie anhand einer vom Verleger Valck in Valdivia herausgegebenen Bildpostkarte deutlich wird. Hermann, genannt „Männi“ Paul in Santiago erhielt sie 1914 von seinem Onkel, der ebenfalls Hermann hieß, aus Valdivia. Die kurze Nachricht des Onkels an seinen Neffen lässt vermuten, dass es sich bei „Männi“ um einen Jungen oder einen Heranwachsenden handelt: „Lieber Männi! Anbei eine Karte für dein Album. In der Hoffnung, daß Du recht artig warst Grüß Dich, Dein Onkel Hermann“ (Abb. 4). Neben den gelaufenen gibt es in vielen Sammlungen auch unbeschriebene und ungelaufene Bildpostkarten, welche die Sammler entweder selbst anschafften oder auf anderen Wegen, etwa von Freunden und Bekannten, erhielten. Mitunter machen diese Karten sogar die Mehrheit eines Bestandes aus. Die Kunsthistorikerin Karin Walter mutmaßt, dass möglicherweise sogar das Gros der Bildpostkarten nicht verschickt wurde, sondern unbeschrieben in den Kisten und Alben von Sammlerinnen und Sammlern landete. Ähnlich den Foto- oder Sammelbilderalben gab es auch Postkartenalben. Mit Leinen-, Halbleinen- oder Ledereinband versehen und verziert mit geprägten, oft goldfarbenen Jugendstilelementen boten diese Alben der Sammlung als Coffee Table Book einen würdigen Rahmen. 1897 hatten sich, so Walter, bereits 60 Firmen auf die Produktion solcher Alben spezialisiert.95

91 Ibero-Amerikanisches Institut, Der Archivar des Alltags. 92 Vgl. zu Feller Burri, Die Welt im Taschenformat; ETH Zürich, Die Postkartensammlung von Adolf Feller sowie knapp Jäger, Globalisierte Bilder, . 93 Silvestri, El viaje de las Señoritas, S. 2. 94 Vgl. Axster, Die Welt sammeln und Jäger, Globalisierte Bilder, . 95 Vgl. Walter, Die Ansichtskarte als visuelles Massenmedium, S. 48-49.

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Abbildung 4a+b: Bildpostkarte „Tipos araucanos“, Verlag: E. Valck, Valdivia, gelaufen 27.02. 1914, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1966/658,188. Eine weitere vom Onkel gesendete Bildpostkarte hat die Inventarnummer 1966/658,186.

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Wegen ihrer Erschwinglichkeit – der Wiener Schriftsteller Karl Kraus spottete 1899 in der Fackel darüber, dass auch Dienstboten ständig Postkarten verschicken würden96 –, ihrer Verbreitung und ihrer Popularität sind Bildpostkarten ein besonders bedeutendes Medium, wenn es darum geht, die aus Fotografien und anderen visuellen Medien sich ergebenden Vorstellungen von Südamerika, ebenso wie von (fast) allen anderen Weltregionen, zu untersuchen. Sie verbinden, so der Historiker Jens Jäger, „dasjenige, was vor Ort für bedeutsam wie überlokal für repräsentativ gehalten wurde. Dies reflektiert lokale wie allgemeine Diskurse beispielsweise über Urbanität, Darstellungen von Stadt und spezifischer Orte, ‚nationale‘ Eigenheiten, die Bedeutsamkeit von Monumenten und Architektur oder Landschaft, die auf diese Weise als typisch oder charakteristisch markiert werden.“97

Frau Ingeborg Hass, die über 90-jährige, bis 2015 für die Bildpostkartensammlung zuständige ehrenamtliche Mitarbeiterin des Altonaer Museums in Hamburg, erzählte mir, wie sie als Kind immer wieder die Bildpostkartensammlung ihres Vaters betrachtete. Die Bilder vieler mehr oder weniger ferner Orte, die sie immer wieder im Atlas nachschlug, prägten nicht nur ihr (geografisches) Wissen von der Welt, sondern auch ihre Vorstellung von diesen Orten. Ihre Erzählung deckt sich mit der Einschätzung des schwedischen Medienhistorikers Pelle Snickars, der die These vertritt, dass in Schweden bis 1914 im Wesentlichen Bildpostkarten den Menschen eine Vorstellung ihres Landes vermittelten.98 Die Grenzen der vorliegenden Arbeit Die Vorstellungen von Südamerika speisten sich aus vielen Quellen, die eingestandenermaßen nicht alle in dieser Arbeit berücksichtigt werden: Neben Wissenschaft, Literatur, Fotos und Bildpostkarten vermittelten auch Gemälde, Zeichnungen und andere malerische Darstellungen Eindrücke des Subkontinents. Die größte Bekanntheit hatten dabei vermutlich die Gemälde und Zeichnungen von Johann Moritz Rugendas (18021858), der viele Länder des Subkontinents bereiste. Seine Malerische Reise in Brasilien beispielsweise zeigte in hundert Lithografien Landschaften, Indigene, Schwarze oder städtisches Leben in Rio de Janeiro. 99 Rugendas Bilder begeisterten unter ande-

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Kraus, Zuckersteuer auf Ansichtskarten, vgl. auch Jäger, Globalisierte Bilder, . Jäger, Globalisierte Bilder, . Snickars, Svensk film och visuell masskultur 1900, S. 95. Großer Dank für diesen Hinweis gebührt meiner Kollegin Anne-Katrin Heinen von der Universität zu Köln, die über schwedische Bildpostkarten forscht. Vgl. Heinen, Schwedische Bildpostkarten und touristische Praxis um 1900 sowie weiterhin Jäger, Globalisierte Bilder, . Rugendas, Malerische Reise in Brasilien. Vgl. auch Fischer et al., Displaced Objects: Das Werk des Johann Moritz Rugendas; Fayet Sallas, Imágenes etnográficas de viajantes alemanes; Scheider, Die Perzeption Brasiliens durch deutsche Reisende des 19. Jahrhunderts; Diener, Rugendas: 1802-1858; Löschner (Hg.), Johann Moritz Rugendas in Mexiko und knapp Beemelmans, Johann Moritz Rugendas. Besondere Aufmerksamkeit wurde in den letzten Jahren v.a. Rugendas Darstellungen von Sklaven und Sklaverei gewidmet, vgl. Slenes, African Abrahams, Lucretias and Men of Sorrows und Zeuske, Sklavenbilder. Vgl.

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rem auch Alexander von Humboldt, der seine in Südamerika erzielten Forschungsergebnisse, wie erwähnt, auch visuell zu vermitteln suchte und dafür knapp fünfzig Maler, Zeichner, Stecher, Radierer und Kartografen für die Anfertigung bildlicher Darstellungen (davon allein fast 1500 Kupferstiche) beschäftigte. Mit den Ergebnissen ihrer Arbeiten war er jedoch nicht immer zufrieden und verwarf vieles; eigene Anschauung, wie sie im Fall Rugendas vorhanden war, war nicht zu ersetzen, so seine Erkenntnis. Auch andere Wissenschaftler griffen auf Illustrationen von Rugendas zurück. 100 Daneben hatten auch die Darstellungen Ferdinand Konrad Bellermanns (1814-1889), der von 1842 bis 1845 drei Jahre lang Venezuela bereist hatte, oder die Bilder mit Motiven aus Brasilien von Eduard Hildebrandt (1817-1868) ihr Publikum.101 Auch diese beiden wurden von Alexander von Humboldt gefördert, der ihnen Reisestipendien und Ankäufe von Bildern durch den preußischen König vermittelte. Weniger bekannt waren und sind dagegen wohl die Südamerikabilder von Otto Grashof (18121876) und die aus Kolumbien von Albert Berg (1825-1884), der 1880 der erste Direktor des Schlesischen Museums der bildenden Künste in Breslau wurde.102 Die Untersuchung der Südamerikavorstellungen, die Gemälde und Zeichnungen deutscher (und anderer) Maler vermittelten, würde allerdings eine eigenständige Arbeit erfordern, die den Umfang der vorliegenden sprengen würde und für welche dem Verfasser auch die kunsthistorische Expertise fehlt.103 Ebenfalls eine eigenständige Arbeit lohnen würde die Analyse des Südamerikabildes in einem zeitgenössisch äußerst populären, bislang von der Geschichtswissenschaft aber recht wenig berücksichtigten Medium: der Illustrierten.104 In den Anfängen der „Bildberichterstattung“ in illustrierten Zeitschriften in den 1830er Jahren handelte es sich bei den Bildern zunächst um Holzschnitte und später Lithografien, bis mit der Verbreitung des in den 1880er Jahren entwickelten Rasterdruckverfahrens (Autotypie) seit etwa 1890/95 die Verwendung von Fotografien in Zeitschriften und Zeitungen stark zunahm.105 Gerade für die Popularisierung von (fotografischen) Bildern waren

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zur Visualisierung der Sklaverei in Brasilien weiterhin Wood, Black Milk: Imagining Slavery. Vgl. Löschner, Johann Moritz Rugendas als Illustrator botanischer Werke. Vgl. Grünert, Naturgenuss und Naturwissenschaft sowie Urbani P./Löschner, Ferdinand Bellermann y la Cueva del Guácharo und Santos Peixoto, Deutsche Maler in Brasilien im XIX Jahrhundert. 2009/10 gab es im Kupferstichkabinett im Kulturforum in Berlin die Ausstellung „Kunst um Humboldt. Reisestudien aus Mittel- und Südamerika“, die Bilder von Rugendas, Bellermann und Hildebrandt zeigte. Vgl. den Katalog von Achenbach, Kunst um Humboldt. Vgl. Löschner, Otto Grashof und dies., Lateinamerikanische Landschaftsdarstellungen der Maler aus dem Umkreis von Alexander von Humboldt. Vgl. für die Zeit von der Entdeckung und Eroberung Amerikas bis zu Humboldt die Arbeit von Rojas Mix, América imaginaria. Vgl. einführend Graf, Die Ursprünge der modernen Medienindustrie und bereits älter Gebhardt, Illustrierte Zeitschriften in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts. „Insofern kann man bereits vor 1900 von einem rasanten Visualisierungsschub sprechen, der mit fernen Ländern, nahen Gerichtsprozessen oder gesellschaftlichen Repräsentanten vertraut machte.“ Bösch, Mediengeschichte, S. 112 und zu Massenpresse und Illustrierten S. 109-128. Vgl. weiterhin Bucher, Ein „Pictorial Turn“ im 19. Jahrhundert?; Pensold,

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illustrierte Zeitschriften deshalb von großer Bedeutung. Im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erschienen knapp hundert deutschsprachige illustrierte Zeitschriften, die aber hinsichtlich des dort vermittelten Bildes von Südamerika auszuwerten im Rahmen der vorliegenden Studie nicht möglich ist, auch wenn sicher nicht alle Illustrierte über Südamerika berichteten. Stichproben und der Vergleich mit der Sekundärliteratur ergaben jedoch, dass die Befunde der vorliegenden Arbeit offenbar auch auf dieses Medium übertragbar sind.106 Als weiteres visuelles Medium muss auch der Film unberücksichtigt bleiben, dessen Popularität seit seiner Erfindung in den 1890er Jahren bis zu den 1920er Jahren stark zunahm. Allerdings gibt es zur filmischen Repräsentation Südamerikas meines Wissens ebenfalls kaum (historische) Forschungen, auf die zurückgegriffen werden könnte, so dass auch hier aus forschungspraktischen Gründen eine Leerstelle verbleibt.107 (Zwar wird im Folgenden immer wieder auch auf Filme eingegangen werden, Eine Geschichte des Fotojournalismus; Jäger, Fotografen des globalen Dorfs?; Knoch, Living Pictures; Kerbs/Uka (Hg.), Fotografie und Bildpublizistik in der Weimarer Republik; Weise, Pressefotografie III; die regionalgeschichtliche Studie von Dussel, Pressebilder in der Weimarer Republik; zu Österreich Holzer, Rasende Reporter; die Ausstellungskataloge von Dewitz/Lebeck, Kiosk: Eine Geschichte der Fotoreportage 1839-1973 und Vowinckel et al. (Hg.), Die Erfindung der Pressefotografie sowie knapp Holzer, Nachrichten und Sensationen und Mühlen, Illustrierte Familienzeitschriften im 19. Jahrhundert. 106 Vgl. Stahr, Fotojournalismus zwischen Exotismus und Rassismus; Gebhardt, Kollektive Erlebnisse oder die ältere Studie von Mentz de Boege, Das Mexicobild der Deutschen im 19. Jahrhundert. Noch unüberschaubarer würde die Anzahl der Quellen, würden im Deutschen Reich rezipierte ausländische illustrierte Zeitschriften und Magazine einbezogen, wie etwa das National Geographic Magazine, in dem seit dem frühen 20. Jahrhundert Fotos erschienen und in dem z.B. auch der bereits erwähnte George Miller Dyott veröffentlichte, vgl. Dyott, The Volcanoes of Ecuador. 107 Vgl. eine Auflistung von Filmen über Südamerika bei Schöning (Hg.), Triviale Tropen, S. 203-205. Sie umfasst neben Dokumentarfilmen von Gunther Plüschow (s.u.) oder Kapitän Carl Kircheiß (s. Kap. 1 u. 2) u.a. auch die Spielfilme Die Spinnen, 1. und 2. Teil: Der goldene See und Das Brillantenschiff, Film von Fritz Lang (Produktion: Decla Bioskop AG, Deutsches Reich 1919/20, für die Requisite und Dekoration gab es eine Kooperation mit Heinrich Umlauff und dem Völkerkundemuseum Hamburg, gefilmt wurde im Studio in Berlin und u.a. bei Hagenbecks in Hamburg, vgl. auch Brill, Die Spinnen); Der Schatz der Azteken, Film von Heinz Karl Heiland (Produktion: UFA, Deutsches Reich 1921, eventuell inspiriert durch den Erfolg von Eduard Stuckens Die Weißen Götter?) und Das Zimmer mit den 7 Türen, 1. Teil: Der Schatz des Inka, Film von Hubert Moest (Produktion: Hubert Moest, Drehbuch: Pola Bauer-Adamara, Ernst Frank, mit Gerda Frey, Artur Retzbach, Paul Senden, Hedda Vernon, Kamera: Anton Mülleneisen, Deutsches Reich 1922). Vgl. weiterhin die unveröffentlichte Magisterarbeit von Fink, Auf den Spuren Richard Nikolaus Wegners; genereller zu Nicht-Europäern vor der Filmkamera Oksiloff, Picturing the Primitive und allgemein zum Einfluss des Films auf die Vorstellung von fremden Weltregionen Struck, Die Eroberung der Phantasie; Nagl, Die unheimliche Maschine oder Fuhrmann, Imperial Projections. Aus einer Reihe ausländischer Filme, die sicher auch im Deutschen Reich rezipiert wurden, soll hier stellvertretend der Film Savage Gold von 1933, produziert vom bereits erwähnten George Miller Dyott, der auch Co-Autor des an sein Man

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doch eine systematische Analyse kann nicht erfolgen.) Hinsichtlich ihrer Erforschung stellen die Filme des Fliegers Gunther Plüschow (1886-1931) und seiner Kameraleute Kurt Neubert (1900-1970), genannt „Garibaldi“, der schon für die UFA gearbeitet hatte, sowie Ernst Dreblow (1892-1931), der als Ingenieur Plüschow bei den Flügen begleitete und dabei für die Luftaufnahmen zuständig war, über ihre Südamerikaexpeditionen eine Ausnahme dar. Der als „Flieger von Tsingtau“ berühmt gewordene Marineoffizier Plüschow dokumentierte zunächst seine Segelfahrt ins Wunderland auf dem Viermaster „Parma“ nach Chile, Peru und Ecuador im Jahr 1925 sowohl filmisch und fotografisch als auch literarisch.108 Gleiches gilt für seine vom Berliner Verlag Ullstein und weiteren Firmen geförderte zweite Expedition, die ihn nach einem Aufenthalt in Brasilien von 1927 bis 1929 nach Feuerland führte, wo er im eigens zusammengebauten Wasserflugzeug, seinem „Silberkondor“, gemeinsam mit Dreblow (Abb. 5) die erste Luftpost von Punta Arenas nach Ushuaia auslieferte. Danach überflogen sie die Darwin-Kordillere (Abb. 38), Kap Hoorn und die Torres del Paine, alles ebenfalls Pionierleistungen, und machten dabei Filmaufnahmen von bis dahin unerforschten Gegenden.109 Nach kurzem Aufenthalt in der Heimat kam Plüschow Ende 1930 nach Südamerika zurück, um in Patagonien weitere Flüge zu unternehmen. Bei einem Flug über den Gletscher Perito-Moreno kamen Plüschow und Dreblow am 28. Januar

Hunting in the Jungle angelehnten Drehbuchs und Darsteller (Dyott spielte sich selbst) war, genannt werden (s.o.). Zur Geschichte von Film und Kino im Deutschen Reich und darüber hinaus vgl. knapp einführend und weitere Literatur bei Bösch, Mediengeschichte, S. 143-170 oder Garncarz, Maßlose Unterhaltung. Für lateinamerikanische Filme vgl. z.B. Ingruber/Prutsch (Hg.), Imágenes: Bilder und Filme aus Lateinamerika. 108 Vgl. Plüschow, Segelfahrt ins Wunderland. Der gleichnamige Film ist verschollen: Segelfahrt ins Wunderland, Film von Gunther Plüschow (Produktion: Gunther Plüschow, Deutsches Reich 1926). Viele Filme aus der Frühzeit des Mediums gelten als verschollen und sind vielfach vermutlich unwiederbringlich verloren. Es gab in Europa und den USA, wo die Filme produziert wurden, keine organisierte Archivierung. Filmmaterial war teuer und wurde wiederverwendet, etwa indem die Silberbeschichtung von der Filmrolle abgekratzt wurde. Mitunter gibt es jedoch Glücksfälle und Filme tauchen an abgelegenen Orten wieder auf, so wie Fritz Langs Film Metropolis in Argentinien. Das liegt daran, dass Filme von Europa und den USA aus für Vorführungen um die Welt verschickt wurden – und am Ende der Welt (etwa Argentinien oder auch in Neuseeland) blieben sie dann irgendwo liegen. Fritz Langs Die Spinnen gibt es ebenfalls in restaurierter Fassung: In den 1970er Jahren war der Film in der damaligen CSSR aufgetaucht. Für diesen Hinweis danke ich Sven Pötting, der mich mit vielen Informationen zum frühen Kino und speziell zu Filmen über und aus Lateinamerika versorgt hat. 109 Vgl. Plüschow, Silberkondor über Feuerland und den gleichnamigen Film, ebenfalls von 1929: Silberkondor über Feuerland, Film von Gunther Plüschow (Bearbeitung: Georg Victor Mendel, Produktion: Gunther Plüschow, Vertrieb: Deutsches Lichtspiel-Syndikat AG (D.L.S.), Deutsches Reich 1929). Die Rechte für diesen Film hat ein Nachfahre Plüschows. Eine ca. zwanzigminütige Kurzversion des abendfüllenden Films erschien posthum: Fahrt ins Land der Wunder und Wolken, Film von Gunther Plüschow (Produktion: I.G. Farbenindustrie AG (Agfa), Deutsches Reich 1931). Für weitere Filme über Patagonien und Feuerland vgl. Levinson, Cine en el país del viento.

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1931 ums Leben, als sie mit ihrem Flugzeug am Fuße des Gletschers in den Brazo Rico des Lago Argentino stürzten.110

Abbildung 5: Fotografie „Kapitän Gunther Plüschow (links) mit seinem Flugbegleiter Ernst Dreblow vor dem Abflug über unbekannte Welten“ von Kurt Neubert (?), 1927/29, aus Plüschow, Gunther: Silberkondor über Feuerland, Berlin: Ullstein, 1929, nach S. 12.

Die multimediale Vermarktung seiner Reisen und Abenteuer machte aus Plüschow einen Star: Seine Bücher hatten enorm hohe Auflagen (vergleichbar mit denen etwa von Erich Maria Remarque) und

110 Vgl. die Website des deutschen Plüschow-Spezialisten Gerhard H. Ehlers, der Informationen zur Biografie Plüschows, Bilder, Filme und vieles mehr zusammengetragen hat, http:// www.gunther-plueschow.de [03.12.2015, diese Seite ist mittlerweile nicht mehr abrufbar] und die Sekundärliteratur zu Plüschow z.B. von Litvachkes, Gunther Plüschow; Martinić Beros, Plüschow y Dreblow und Rippon, Gunther Plüschow: Airman, Escaper, Explorer sowie Herrscher, Los viajes del “Penélope”. Der posthum erschienene Film Ikarus: Gunther Plüschows Fliegerschicksal, Film von Curt Wesse (Produktion: Conti-Film GmbH, Deutsches Reich 1932) ist ebenfalls verschollen.

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„seine Filme liefen erfolgreich nicht nur in deutschen Kinos […]. Millionenfach wurden Berichte von ihm und über ihn in Tages- und Wochenzeitungen gelesen, und mehrfach war sein Bild auf den Titelseiten der größten deutschen Illustrierten zu sehen. Die mit Spannung erwarteten Wochenschauen in den Lichtspieltheatern berichteten über ihn, man fand sein Portrait auf Zigaretten-Sammelbildern; selbst in Groschenheften wurden seine Geschichten veröffentlicht. […] Ganz zweifellos gehörte es auch zu Plüschows Talenten, bei seinen Vorträgen und bei den Filmvorführungen das Publikum in seinen Bann zu ziehen. Jeder seiner Auftritte war für die Besucher ein Erlebnis, nicht nur für die Damen, denen seine strahlend blauen Augen unvergessen blieben.“111

Ein letzter möglicher Weg, wie eine Vorstellung von Südamerika entstanden sein könnte, ist der der persönlichen Kontakte zu Lateinamerikanern oder zu zurückgekehrten Reisenden und Auswanderern sowie zu Seeleuten. Jens Streckert hat in seiner Arbeit über Lateinamerikaner in Paris festgestellt, dass jene durch ihr Verhalten das Bild prägten, das die Einwohner der französischen Hauptstadt, die mit ihnen in Kontakt kamen oder über sie in den Zeitungen lasen, von Lateinamerika hatten.112 Für das Deutsche Reich bzw. deutsche Städte gibt es dazu allerdings kaum Untersuchungen,113 so dass hier Forschung in einer Intensität betrieben werden müsste, die ebenfalls eines eigenen Projektes bedürfte. Vermutlich gab es gar nicht so viele Lateinamerikaner, die im Deutschen Reich lebten – anders als in Paris, wo wenigstens für ein paar Monate oder besser Jahre zu leben zur Ausbildung der (männlichen) Angehörigen der lateinamerikanischen Oberschicht gehörte.114 So war für viele Deutsche die womöglich einzige Gelegenheit, lebende Südamerikanerinnen und Südamerikaner zu sehen, eine Völkerschau. Diese gab es z.B. in Hamburg, wo Carl Hagenbeck (1844-1913) 1875 die erste Völkerschau im Deutschen Reich veranstaltete (1879 wurden von Hagenbeck erstmals Südamerikaner, patagonische Tehuelche, ausgestellt), Berlin, Wien und anderen deutschen und europäischen Städten.115 Die Historikerin Anne Dreesbach hat 111 Gunther Plüschow, Website von Gerhard H. Ehlers, Gesammelte Werke, http://www.gunth er-plueschow.de/wp/?page_id=15 [03.12.2015, diese Seite ist mittlerweile nicht mehr abrufbar]. 112 Vgl. Streckert, Die Hauptstadt Lateinamerikas, bes. S. 182-192. 113 Eine der wenigen Ausnahmen ist die 1999 an der Universität Hamburg eingereichte Magisterarbeit von Urban, Die lateinamerikanischen Studierenden an der Universität Hamburg, 1919-1970. 114 Heinrich Witt (1799-1890), ein Hamburger Kaufmann, der sich 1824 in Lima niedergelassen hatte, hielt in seinen Tagebüchern, die im Rahmen eines DFG-Forschungsprojektes von Christa Wetzel untersucht werden, fest, dass er immer als Experte für Peru herhalten müsse. Das deutet nicht darauf hin, dass es viele Latinas und Latinos im Deutschen Reich gegeben hätte, zumindest nicht viele Peruaner und zumindest nicht zu Beginn des Untersuchungszeitraums. Persönliche Kommunikation mit Ulrich Mücke im Rahmen des Oberseminars „Neuere Forschungen zur Geschichte Lateinamerikas“, Universität Hamburg, 24.05.2012. Zum Forschungsprojekt zu Witt vgl. Wetzel, Schreibend leben: Heinrich Witt (1799-1892) und sein Tagebuch und dies./Mücke, Das Tagebuch von Heinrich Witt. 115 Vgl. zur Ausstellung der Tehuelche die bei Oberländer, Die Patagonier, S. 425 1879 in der Gartenlaube erschienene Zeichnung „Tehueltschen. Nach der Natur aufgenommen“ von H. Leutemann und aus der Vielzahl der Studien zum Thema neben der Pionierstudie zu Ha-

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festgestellt, dass die ausgestellten Menschen in sieben Kategorien unterteilt wurden: Urmenschen, Afrikaner, Araber, Menschen aus dem hohen Norden, Inder, Singhalesen, Indianer und Südseeinsulaner. Zu den Urmenschen wurden neben sogenannten „Hottentotten“ und „Austral-Negern“ auch Feuerländer und Patagonier gezählt. Schon seit der Aufklärung wurden sie etwa von Kant, Herder oder Hegel auf der niedrigsten Stufe im hierarchischen System der Menschen eingeordnet. Diese Menschen befanden sich „laut allgemeinem Vorurteil auf dem kulturellen Entwicklungsstand von Steinzeitmenschen“. Auf den Plakaten, der wichtigsten Werbung für „Völkerschauen“, wurde deshalb „vor allem diese Primitivität hervorgehoben. Die abgebildeten Menschen waren meist nackt, zeigten wilde Gesten und Mienen und schienen über keinerlei zivilisatorischen Hintergrund, wie etwa eine Religion oder gesellschaftliche Strukturen, zu verfügen.“116 Völkerschauen waren ungemein populär. Sie bedienten Sehnsüchte und Fantasien genauso wie rassistische Vorurteile und Überlegenheitsgefühle, während sie zugleich den Anschein einer Bildungsveranstaltung hatten. Der Kitzel des Gefährlichen, der manchen der ausgestellten Menschen anhaftete (etwa wenn Feuerländer als Kannibalen angekündigt und beworben wurden – Tageszeitungen informierten auch über die Fütterungszeiten), sowie das Rahmenprogramm der Unterhaltung taten ihr Übriges. Im Berliner Zoo kam es im November 1881 zu Tumulten, weil Tausende Zuschauer nach dem Konsum von riesigen Mengen von Bier protestierten, als die im Rahmen einer Völkerschau ausgestellten Feuerländer Feierabend machen wollten und sich nach der letzten Vorführung des Tages zurückzogen. Lautstark forderten die Besucher die Fortsetzung der Schau, die Umzäunung, Bänke und Stühle wurden demoliert und erst die herbeigerufenen Schutzleute konnten die Ordnung wieder herstellen. 117 Besondere Glaubwürdigkeit erhielten die Stereotypen reproduzierenden Zurschaustellungen „der Fremden“ zum einen eben weil sie die bestehenden Vorstellungen und Vorurteile stereotyp bestätigten, zum anderen weil Anthropologen, Ethnologen und genbeck von Thode-Arora, Für fünfzig Pfennig um die Welt z.B. Dreesbach, Gezähmte Wilde; Grewe (Hg.), Die Schau des Fremden; Honold, Ausstellung des Fremden; Balme, Schaulust und Schauwert; Blanchard et al. (Hg.), MenschenZoos; Brändle, Wildfremd, hautnah: Zürcher Völkerschauen; Schwarz, Anthropologische Spektakel und Qureshi, Peoples on Parade. 116 Dreesbach, Kolonialausstellungen, Völkerschauen und die Zurschaustellung des „Fremden“. Zitat zuvor ebd. Mitunter wurde diesen Menschen gar „ein Platz außerhalb der Entwicklungsgeschichte der Menschheit zugewiesen. Sie fungierten als eine Art lebender Beweis der Frühgeschichte.“ Reinert, Das Antlitz der Anderen, S. 244. Sie wurden von manchen auch als „lebende Fossilien“ angesehen. Vgl. Bayly, The Birth of the Modern World, S. 447. Vgl. zur Ausstellung von Patagoniern in Europa auch Báez Allende/Mason, Zoológicos humanos, bes. S. 35-37 zur Hagenbeck-Ausstellung. Vgl. weiterhin die Fotografie „Luis, Batzinka y Pikshoshe“, Fotograf unbekannt, Deutsches Reich, 1878, Abzug in der Colección Centro de Estudios del Hombre Austral, Instituto de la Patagonia, Universidad de Magallanes, Punta Arenas (Original im Etnografiska Museet in Stockholm), in Mondelo, Tehuelches: Danza con fotos, S. 14-15. Die abgebildeten Tehuelche wurden 1878 von Punta Arenas nach Hamburg und Dresden verschleppt, um in den Schauen von Carl Hagenbeck ausgestellt zu werden. 117 Vgl. Eißenberger, Entführt, verspottet und gestorben, S. 153.

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andere Wissenschaftler mit den Veranstaltern der Völkerschauen zusammenarbeiteten – auch dies bestätigt, dass, wie oben erwähnt, die Grenze zwischen Wissenschaft und Fiktion fließend war. Hagenbeck z.B. überließ seine Ausstellungsobjekte immer wieder Rudolf Virchow (1821-1902), einem der führenden Wissenschaftler seiner Zeit im Deutschen Reich und Mitbegründer der Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (1870), damit dieser Vermessungen und andere Untersuchungen vornehmen konnte. Im Gegenzug nutzte Virchow seine politischen Kontakte, um Hagenbeck zu unterstützen. Als es 1878 Schwierigkeiten bei der „Anwerbung“ von Feuerländern, die von Agenten Hagenbecks gefangen und verschleppt wurden, gab, intervenierte Reichskanzler Otto von Bismarck mit dem Hinweis auf den wissenschaftlichen Wert der Ausfuhr von „Rassentypen“ beim chilenischen Außenminister.118 Eine letzte Begrenzung der Arbeit stellt die Konzentration auf die Vorstellung von Südamerika im Deutschen Reich dar. Selbstverständlich wäre es interessant, die Bilder, die sich das deutsche Publikum ausmalte, mit denen der Menschen in Frankreich, England, Spanien und anderen europäischen Staaten sowie in den USA zu vergleichen. Schließlich gab es neben Bildern, die deutsche Forscher und Reisende machten, auch solche, die von einheimischen Fotografen gemacht wurden. Insbesondere die Motive von Bildpostkarten waren, im Unterschied vielleicht zu manchen Bildern in deutschsprachigen wissenschaftlichen wie nicht-wissenschaftlichen Publikationen (obwohl auch diese ein internationales Publikum im Visier gehabt haben mögen), nicht ausschließlich für deutsche Betrachter gemacht, sondern für Menschen in aller Welt. Unterschieden sich also die Vorstellungen, die sich Deutsche von Südamerika machten, von denen eines Italieners beispielsweise? Und wenn ja, inwiefern? Aber ebenso wie bei der Begrenzung auf Südamerika (und also der Nichtberücksichtigung Mittelamerikas und Mexikos) ist auch hier auf praktische Gründe zu verweisen: Die Fülle des untersuchten Materials, also der dem deutschen Publikum vor Augen geführten Bilder, ist ohnehin schon äußerst groß und stößt an die Grenze dessen, was in einer Monografie abzuhandeln ist. Weitere nationale Rahmenbedingungen (z.B. Kolonialdiskurse, Wissenschaftsdiskurse, Publikationswesen) in anderen europäischen Staaten sowie noch mehr Quellen zu bearbeiten, ist an dieser Stelle schlicht nicht möglich. Literatur, die einen solchen Vergleich ermöglichen würde, gibt es nicht. Aber die vorliegende Arbeit mag ein Ausgangspunkt für Forschungen über ihre hier dargelegten Grenzen hinaus sein.

THEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN UND METHODISCHE ANSÄTZE Die vorliegende Arbeit ist, insofern als sie das (visuell vermittelte) Wissen um und die Vorstellungen von Südamerika untersucht, ein Beitrag zum relativ neuen Feld der Wissensgeschichte.119 Diese fragt, anders als die eng verwandte Wissenschaftsgeschichte,

118 Vgl. Eißenberger, Entführt, verspottet und gestorben, bes. S. 109. 119 Vgl. Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte; Kaschuba (Hg.), Wissensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte; Sarasin, Was ist Wissensgeschichte?; Gugerli/Speich, Wissensgeschichte: Eine Standortbestimmung oder zuletzt Habermas/Przyrembel (Hg.),

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nicht nur nach dem akademischen, disziplinären Wissen, sondern sozialgeschichtlich auch nach Akteuren, kulturgeschichtlich nach den gesellschaftlichen Bedingungen der Generierung, Verbreitung und Anwendung von Wissen sowie ideengeschichtlich nach den Wissensinhalten. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, generell wie auch in der vorliegenden Untersuchung, auch die Popularisierung von Wissen.120 Eine besondere Rolle bei der Wissensvermittlung und -popularisierung kommt visuellen Medien zu. (Insofern wird auch zumeist wissenschaftliche von künstlerischer Fotografie getrennt, obwohl es Verbindungen zwischen beiden gibt). Der enge Zusammenhang von Wissen und Kognition mit Visualität, der sprachlich schon bei oberflächlicher Betrachtung „ersichtlich“ wird, ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen von der Kunst- und Kulturgeschichte bis zu den Neurowissenschaften121 und hat sogar die Belletristik erreicht: Die US-amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt legte einem ihrer Protagonisten in ihrem Erfolgsroman Die Leiden eines Amerikaners (2008) folgende Worte in den Mund: „Wie Inga mir einmal erklärte, ist die westliche Philosophie und Kultur seit Platon visuell geprägt: Die Augen sind unser dominierendes Sinnesorgan. Mit den Augen machen wir uns ein

Von Käfern, Märkten und Menschen und den schmalen Band von Fischer-Tiné, PidginKnowledge: Wissen und Kolonialismus. Es handelt sich um ein sehr dynamisches Forschungsfeld, wie nicht nur unzählige Arbeiten, die den Begriff Wissen im Titel führen, verdeutlichen, sondern auch seine zunehmende Institutionalisierung, etwa im Berliner Zentrum für Wissensgeschichte, http://www.wissensgeschichte-berlin.de/kooperation [26.08. 2018], im Zentrum Geschichte des Wissens von ETH und Universität Zürich, http://www. zgw.uzh.ch/ [26.08.2018], in der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, http://www.wissenssoziologie.de/ [26.08.2018] oder im Forschungsschwerpunkt Wissensgeschichte am Historischen Seminar der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster, http://www.uni-muenster.de/Geschichte/histsem/MA-G/L1/forschen /wissensgeschichte.html [26.08.2018]. 120 Vgl. z.B. Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert; Kretschmann (Hg.), Wissenspopularisierung oder Boden/Müller (Hg.), Populäres Wissen im medialen Wandel und in fotohistorischer Hinsicht besonders Gugerli/Orland (Hg.), Ganz normale Bilder. 121 Vgl. z.B. Latour, Visualization and Cognition. In der Wissenschaftsgeschichte wird über Bilder und ihre Bedeutung auch als „sozio-technische Konstrukte“ oder angelehnt an den Begriff Diskurs als „Viskurse“ gesprochen. Vgl. z.B. Knorr-Cetina, „Viskurse“ der Physik oder Rheinberger, Sichtbar machen und ders., Präparate – „Bilder“ ihrer selbst sowie Bredekamp/Brons, Fotografie als Medium der Wissenschaft; Mersch, Visuelle Argumente und unter weiteren zahlreichen Bänden zum Thema z.B. noch Müller (Hg.), Cross Over: Fotografie der Wissenschaft + Wissenschaft der Fotografie; Hentschel, Visual Cultures in Science and Technology oder Bredekamp et al. (Hg.), Das Technische Bild. Vgl. zur Trennung von wissenschaftlicher und künstlerischer Fotografie z.B. Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit und zu den Verbindungen der beiden Felder Krase/Matthias (Hg.), WahrZeichen: Fotografie und Wissenschaft sowie Jeffrey, Revisions: An Alternative History of Photography. S. dazu außerdem die Ausführungen zu den Fotografien von Guido Boggiani in Kap. 1.

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Bild von unserem Gegenüber, und anatomisch gesehen sind sie eine Erweiterung unseres Gehirns.“122

Bilder wirken – und das gilt, wie im Folgenden deutlich werden wird, sogar in besonderem Maße für die hier untersuchten Fotografien sowie für Bildpostkarten – da sie unabhängig von Alphabetisierung und Bildungsstand immer irgendwie zu verstehen sind, unmittelbar. Und sie wecken beim Betrachter Emotionen. Diese emotionale Wirkung von Bildern ist nicht nur für die vorliegende Untersuchung, die ja nach der Rezeption fragt, von Bedeutung, in der Forschung aber noch wenig konzeptionalisiert.123 Die „Bilder der Neuzeit“, so Jäger über Fotografien, werden in der Geschichtswissenschaft v.a. im Zuge der Fotogeschichte und historischen Bildkunde/-forschung oder visual studies bzw. visual history124 untersucht und sind trotz einigen Berührungsängsten mittlerweile oft selbstverständlich als „Quellen trotz allem“ 125 Gegenstand und Grundlage vieler historischer Untersuchungen. Sie müssen es auch sein, denn schon das 19. und ungleich mehr das 20. sind, wie der Historiker Gerhard Paul treffend formulierte, Jahrhunderte der fotografischen Bilder, deren technische Entwicklung von der Daguerreotypie über den Rollfilm zum digitalen Bild ebenso rasant verlief wie ihre massenmediale Verbreitung von der einfachen Druckerpresse über den Rotationsdruck zum Internet. Auch die visuelle Repräsentation „Außereuropas“ wurde bereits, etwa in kolonialen und postkolonialen Studien, in den Blick genommen. So gibt es zu Südbzw. Lateinamerika ebenfalls zahlreiche Studien,126 an deren Ergebnisse die vorliegen122 Hustvedt, Die Leiden eines Amerikaners, S. 55. 123 Vgl. zur emotionalen Wirkung von Bildern einen ersten Ansatz der Verknüpfung von historischer Bildforschung mit der Kategorie Emotion, die seit einigen Jahren Gegenstand historischer Forschung ist, von Frevert/Schmidt, Geschichte, Emotionen und die Macht der Bilder und Brink, Bildeffekte: Überlegungen zum Zusammenhang von Fotografie und Emotionen sowie Baranowska, The Mass-Produced Postcard and the Photography of Emotions. Zur Emotionsgeschichte vgl. einführend z.B. Verheyen, Geschichte der Gefühle; Hitzer, Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen; Plamper, Geschichte und Gefühl sowie die Arbeiten von Frevert, Emotions in History und dies. (Hg.), Geschichte der Gefühle oder auch das Interview von Bauer/Hämmerle mit Frevert, Gefühle als geschichtsmächtige Kategorie. Vgl. weiterhin Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Geschichte der Gefühle: Einblicke in die Forschung, Portal des Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“, Direktorin Prof. Dr. Ute Frevert, am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, https://www.history-of-emotions.mpg.de/de [26.08.2018] und zum Vorangegangenen kritisch Boehm, Jenseits der Sprache? 124 Vgl. Jäger, Fotografie und Geschichte; ders., Fotografiegeschichte(n) und Paul (Hg.), Visual History: Ein Studienbuch sowie die beiden Reader von Evans/Hall (Hg.), Visual Culture und Mirzoeff (Hg.), The Visual Culture Reader. Vgl. über die Geschichtswissenschaft hinaus z.B. Günzel/Mersch (Hg.), Bild: Ein interdisziplinäres Handbuch; Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?; Sachs-Hombach (Hg.), Bildwissenschaft: Disziplinen, Themen, Methoden oder Bruhn, Das Bild: Theorie – Geschichte – Praxis. 125 Jäger, „Quellen trotz allem“. Vgl. auch ders./Knauer (Hg.), Bilder als historische Quellen? 126 Als Pionierstudie kann gelten Poole, Vision, Race and Modernity. Vgl. außerdem z.B. dies., An Excess of Description; dies., An Image of “Our” Indian; Andermann/Rowe (Hg.),

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de Arbeit anknüpft. Während aber zu den Bedingungen der Wissensproduktion und zu einzelnen Beständen visuell vermittelten Wissens aus Südamerika bereits Arbeiten vorliegen127 ist die Ebene der Rezeption und der Wirkung der zu untersuchenden Visualisierungen bislang vernachlässigt worden. Dies gilt allerdings nicht nur für südamerikanische Bildmedien. Neben zahlreichen anderen Zugängen – genannt seien beispielsweise der bildpragmatische (Gottfried Boehm) oder der anthropologische (Hans Belting)128 – werden, beruhend auf den Überlegungen des Philosophen und Mathematikers Charles Sanders Peirce (1839-1914) zum triadischen Zeichenmodell, in der Forschung mit Fotos als Quellen gemeinhin drei verschiedene Lesarten derselben unterschieden: als Ikon (= visuell dem Objekt ähnlich), als Index (= Spur des Objektes) und als Symbol (= durch Konventionen an das Objekt gebundenes Zeichen).129 Für das Gelingen der vorliegenden Untersuchung sind alle drei Zugänge notwendig: Zunächst wird, um die empirische Belastbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten, eine seriell-ikonografische Auswertung der visuellen Quellen vorgenommen, d.h. es werden anhand eines, wie die Images of Power; Bremer (Hg.), Das Bildgedächtnis Lateinamerikas; Levine, Images of History; Giordano, Indígenas en la Argentina oder Prussat, Bilder der Sklaverei sowie die Themenhefte von Penhall (Hg.), Aspects of South America und Coronil (Hg.), Can the Subaltern See? Photographs As History oder Gómez-Popescu, Towards a History through Photography und dies., Epilogue: Archive Matters. Zudem liegen zahlreiche Arbeiten zur Entwicklung der Fotografie in Südamerika vor, vgl. z.B. ganz knapp Reinert/Potthast, Fotografie und Billeter, Kleiner Abriss der Geschichte der Fotografie in Lateinamerika 18501930 oder ausführlich dies., Fotografie Lateinamerika: 1860-1993; Watriss/Parkinson Zamora (Hg.), Image and Memory; Gutiérrez/Gutiérrez Viñuales (Hg.), Pintura, escultura y fotografía en Iberoamérica und Kossoy, Fotografía e história. Es gibt außerdem zahlreiche nationale Studien z.B. von Ferrez, Photography in Brazil, 1840-1900; Jiménez Burillo et al. (Hg.), Colombia a través de la fotografía, 1842-2010; Jiménez Burillo et al. (Hg.), Chile a través de la fotografía, 1847-2010; Majluf/Wuffarden (Hg.), La recuperación de la memoria: Perú 1842-1942; Suárez Saavedra, Historia de la fotografía en Bolivia und zu Argentinien z.B. von Jiménez Burillo et al. (Hg.), Argentina a través de la fotografía, 18482010. 127 Vgl. z.B. die Dissertation von Reinert, Indianerbilder; dies., Das Antlitz der Anderen; dies., Vernetzung durch Visualisierung?; Potthast/Reinert, Visiones y visualizaciones de América del Sur; Penhos, Frente y perfil; Fischer/Kraus (Hg.), Exploring the Archive; Hempel, Facetten der Fremdheit; Palma Behnke, Bild, Materialität, Rezeption; Gusinde, Begegnungen auf Feuerland; Maturana Díaz, Fotografía Antropológica de Charles Wellington Furlong; Theye, Ethnologie und Photographie im deutschsprachigen Raum; Kümin, Expedition Brasilien; Fayet Sallas, Imágenes etnográficas de viajantes alemanes; Conde, Las expediciones científicas y los indios de Brasil sowie zu den Bedingungen der Wissensproduktion Chicote/Göbel (Hg.), Ideas viajeras y sus objetos; Carreras, Zwischen zwei Welten; López-Ocón et al. (Hg.), Los Americanistas del siglo XIX; Kraus, Bildungsbürger im Urwald und Arenas, Antropología en la Argentina. 128 Vgl. z.B. Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen und Belting, Bild-Anthropologie. 129 Vgl. einführend dazu kurz Jäger, Fotografiegeschichte(n), bes. S. 517-519 sowie ausführlich und darüber hinaus Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 12 u. 96-103. Vgl. umfassend auch Stiegler, Theoriegeschichte der Photographie.

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Vorstellung der Quellen zeigt, äußerst umfangreichen Bildkorpus verschiedene Motive untersucht. Das „Ziel serieller Analysen ist das Aufspüren von kontinuierlichen bzw. diskontinuierlichen Entwicklungen, Auffälligkeiten und Differenzen sowie [von] Typisierungen und ihre Interpretation.“130 Über das Einzelbild hinausgehende Aussagen können demnach nur dann getroffen werden, wenn sie auch für weitere Bilder Gültigkeit haben. Anders herum kann eine einzelne Fotografie oder Bildpostkarte nur dann sinnvoll analysiert werden, wenn der größere Bildkorpus und -kontext berücksichtigt wird – und ein Motiv beispielsweise als typisch oder eben nicht typisch identifiziert werden kann. Das einzelne Bild und der Gesamtbestand sind so ständig in Beziehung zueinander zu setzen. Die Bildquellen sollen – innerhalb der Grenzen der Fragestellung – umfassend konzeptionell erschlossen und mit der Forschung verknüpft werden. Denn häufig werden in der Forschungspraxis Projekte um Bildbestände herum konzipiert. Sind jedoch die visuellen Quellen solchermaßen Fluchtpunkt der Forschung, wird der diskursive Kontext verkürzt, aus nur einer Perspektive angegangen. Werden andererseits (unbewusst) nur jene Bildquellen herangezogen, die im Rahmen einer Hypothese die Argumentation zu stützen scheinen, ist dies genauso eindimensional. Dann wird, oft unterschwellig, eine Bedeutung des Materials entsprechend der Hypothesenbildung (re-) konstruiert und damit das pikturale Umfeld tendenziell vernachlässigt. Abweichende Bildlektüren werden dann nicht oder nur unzureichend berücksichtigt. In der vorliegenden Arbeit sollen demgegenüber die visuellen Quellen besser integriert werden. Dies setzt voraus, dass die Bilder zunächst als Elemente historischer Diskurse wahrgenommen werden, die weder per se als zentral noch als nebensächlich einzustufen sind – und ihnen quellenbasierte und methodisch entwickelte Analysen der Objekte folgen: Die visuelle Konstruktion von „Geschichte“ in diesem Sinn zu rekonstruieren, ist nach wie vor in vielerlei Hinsicht und in den meisten Wissenschaftsdisziplinen ein Desiderat. Dabei ist es für die Diskursanalyse von großer Bedeutung, den funktionalen Stellenwert von Bildern in spezifischen Diskursen abzuschätzen.131 So konnten Bilder 130 Pilarczyk/Mietzner, Das reflektierte Bild, S. 142. Vgl. weiterhin z.B. Schmidtke, „Sportstudentin beim Diskuswurf“. 131 Auf die Ausbreitung des gesamten diskursanalytischen Instrumentariums im Foucault’ schen Sinne inklusive der nach Derrida oder Lacan möglichen Erweiterungen soll an dieser Stelle verzichtet werden. Vgl. dafür z.B. die m.E. sehr gelungene Sammlung von Martschukat (Hg.), Geschichte schreiben mit Foucault oder Sarasin, Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft. Es sei jedoch gesagt, dass die Diskursanalyse nicht der linguistischen Sezierung von Texten dient, sondern über ein „strukturbildendes Prinzip von Kultur und Gesellschaft“ aufklärt. Bublitz, Diskursanalyse als Gesellschafts-„Theorie“, S. 27. Diskurse sind erstens als ein System von Äußerungen zu verstehen, die in Beziehung zueinander stehen und dadurch ein System von Bedeutung (Performativität) schaffen, das aber nicht geschlossen ist. Zweitens gilt: „Ein Diskurs baut auf Elementen anderer Diskurse auf und bindet sie in sein eigenes Bedeutungsnetz ein.“ Und drittens stellen Diskurse, wie Stuart Hall es formuliert, eine bestimmte „Sprechweise“ zur Verfügung: „Wenn innerhalb eines besonderen Diskurses Aussagen über ein Thema getroffen werden, ermöglicht es der Diskurs, das Thema in einer bestimmten Weise zu konstruieren. Er begrenzt ebenfalls die anderen Weisen, wie das Thema konstruiert werden kann.“ Hall, Der Westen und der Rest, S. 150, Zitat zuvor auf S. 151. Der sozialwissenschaftliche Diskursbegriff Foucaults unter-

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z.B. in der Ethnografie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wichtige Funktionen in der Konstruktion von Untersuchungsobjekten übernehmen und gleichzeitig als Beweis für die „Entdeckung“ eben dieser Objekte fungieren. Bilder können aber auch visuelle Argumentationen unterlaufen, wenn ihre diskursive Einbettung derart gelagert ist, dass sie ebenso als Beweis wie als Gegenbeweis von Aussagen herangezogen werden können.132 Die indexikalische Lesart – vorherrschender methodischer Ansatz bei Roland Barthes, Rosalind Krauss, Philippe Dubois, Georges Didi-Hubermann, André Bazin oder Mary Ann Doane – geht davon aus, dass in der Fotografie wenigstens eine Spur des „realen“ Fotografierten, des Referenten, existiert. Laut Peirce „ist ein Foto ein Index, weil die physikalische Wirkung des Lichts beim Belichten eine existentielle eins-zueins Korrespondenz zwischen den Teilen des Fotos und den Teilen des Objekts herstellt, und genau dies ist es, was an Fotografien oft am meisten geschätzt wird.“ 133 Die Methode hat trotz aller Kritik134 ihre Berechtigung, denn es macht sicher keinen Sinn, eine Fotografie völlig losgelöst von ihrem Referenten, dem fotografierten Objekt also, zu betrachten. Aber allein ist sie nicht zielführend. Die (oder viele oder zumindest manche) Fotos von Forschern und Reisenden, selbst aufgenommene wie erworbene, sagen mitunter mehr über ihre eigenen Meinungen, Einstellungen, Erwartungen, Vorstellungen, Wünsche, Projektionen und Fantasien aus als über die fotografierten Objekte – ähnlich der Problematik von Reiseberichten, die unter Umständen mehr über den Reisenden selbst, seine Meinungen, Einstellungen, Erwartungen, Vorstellungen, Wünsche, Projektionen und Fantasien aussagen als über den Gegenstand seiner Erzählung. Daher ist auch der Symbol-Ansatz wichtig, der davon ausgeht, dass Sinn durch Konvention entsteht: Der Interpret versteht ein Zeichen, weil er weiß, wofür es benutzt wird. Im Untersuchungszeitraum implizierte (und impliziert mitunter noch heute) eine Fotografie als „unerbittliche Richterin über die Correctheit künstlerischer Auffassung“135 Objektivität, Wirklichkeit, Echtheit. Das Abgebildete galt als „wahr“: Die abgebildete Situation habe in der Realität genau so stattgefunden – Zeit und Raum würden in der Fotografie eingefroren. Dies galt umso mehr für fotografisch illustrierte Postkarten, bürgte doch der Absender, der den Ort in den meisten Fällen aus eigenem

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scheidet sich somit von dem philosophischen von Habermas. Vgl. dazu Schöttler, Wer hat Angst vor dem „linguistic turn“? Ich bin Jens Jäger zu unendlichem Dank verpflichtet: Er half mir bei der Ausformulierung dieser Gedanken und stellte mir seine eigenen Entwürfe zur Verfügung. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, S. 65. Vgl. zur indexikalischen Lesart und ihren wichtigsten Vertretern Jäger, Fotografiegeschichte(n), S. 517-18 sowie Geimer, Theorien der Fotografie zur Einführung, S. 19. Für eine fundamentale Kritik vgl. z.B. Lunenfeld, Digitale Fotografie. „Peter Lunenfeld skizziert in seinen Ausführungen die Transformation der indexikalischen Verbindung zwischen Bild und Objekt in eine dubitative, i.e. fragwürdige und letztlich opake, um gleich darauf zu erklären, dass damit nichts anderes erschüttert sei, als ,die Reste unseres überkommenen Glaubens‘ an eine Beziehung, die man sich als längst korrumpierte vorzustellen hätte.“ Diekmann, Zum langen Abschied. Fritsch, Sonst und jetzt der menschlichen Rassenkunde, S. 213. Vgl. dazu auch Hempel, Facetten der Fremdheit, S. 185.

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Augenschein kannte, für die „Wahrheit“ der Ansicht. 136 Doch gibt es zum einen die Möglichkeit der Manipulation (Fotos können gestellt und auf vielfältige Art und Weise bearbeitet, retuschiert, koloriert, zerschnitten werden137 – das war auch den Zeitgenossen schon bewusst); zum anderen sind die Möglichkeiten der Interpretation eines Fotos so vielfältig, wie es Betrachter gibt. So handelt es sich bei Fotografien nicht um transparente Dokumente in einer „universalen Sprache“, sondern, nach Roland Barthes, um semiotische Zeichen, deren „Magie“ daraus resultiert, dass ihre vermeintliche Transparenz unterschiedliche Interpretationen jeweils mit Autorität ausstattet.138 In der vorliegenden Arbeit sollen aber nicht nur die Bilder und ihre Motive (sowie die Motivation der Fotografen und Bildproduzenten) untersucht werden, die Fragestellung zielt vor allem auf ihre Rezeption, ihre Wahrnehmung, ihre Wirkung auf zeitgenössische Betrachter im Deutschen Reich. Bezüglich dieser analytischen Ebene des „Blicks“ (oder der „Blickweisen“) liegt der Arbeit die Annahme zugrunde, dass verschiedene Betrachter von Bildern diese zwar verschieden „sehen“ (abhängig von ihrem Vorwissen, ihren Einstellungen oder auch ihrer Stimmungslage), dass es gleichwohl aber Codes gibt, die bei Angehörigen einer Gruppe mit gemeinsamer kultureller Prägung „funktionieren“.139 Dies ist diskursanalytisch v.a. über den diskursiven Kontext, in dem die Bilder standen, aber z.B. auch dadurch nachzuweisen, dass bestimmte Bildmotive und -muster mehrfach und in unterschiedlichen Medien publiziert wurden. Theoretisch ist dieser Ansatz in der historischen Bildforschung noch nicht umfänglich ausgearbeitet worden. Anknüpfungspunkte sind die kunsthistorischen Arbeiten zur Rezeptionsästhetik etwa von Wolfgang Kemp, Jonathan Crarys Techniques of the Observer und erkenntnistheoretische Überlegungen zur Wahrnehmung im Anschluss an Maurice Merleau-Ponty, Jean-Paul Sartre und Jacques Lacan.140 136 Vgl. für diese Überlegung auch Jäger, Globalisierte Bilder, . In anderen Fällen konnte die „Wahrheit“ der Ansicht durch den Absender auch in einem kritischen Kommentar relativiert werden. 137 Vgl. dazu die gelungene virtuelle Ausstellung des American Museum of Photography, Photographic Fictions: How the Camera Learned to Lie, http://www.photographymuseum.com /photographicfictions.html [26.08.2018] und zur Fotomontage zuletzt auch die Studie von Baltzer, Die Fotomontage im faschistischen Italien. 138 Vgl. Barthes, Rhetorik des Bildes. Vgl. weiterhin auch Raab, Die ‚Objektivität‘ des Sehens als wissenssoziologisches Problem und einführend zur Semiotik z.B. Kjørup, Semiotik. 139 Vgl. dazu auch Coronil, Seeing History, S. 2 sowie Bellion, Citizen Spectator. Der USamerikanische Spielfilm Wag the Dog (1997) greift die kalkulierbare emotionale Wirkung von Bildern überzeugend auf: Von einer Sexaffäre des Präsidenten lenken Medienprofis ab, indem sie einen Krieg inszenieren. Dabei erzeugen sie mit bestimmten Bildern, wie z.B. dem eines Mädchens mit einem Kätzchen auf dem Arm, bestimmte Emotionen – hier: Mitgefühl – beim Publikum. Vgl. den Spielfilm Wag the Dog, Film von Barry Levinson (Produktion: Baltimore Pictures, New Line Cinema Punch Productions und Tribeca Productions, USA 1997). 140 Vgl. z.B. Kemp (Hg.), Der Betrachter ist im Bild; Crary, Techniques of the Observer; Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung; Firges, Sartre: Der Blick; Blümle/von der Heiden (Hg.), Blickzähmung und Augentäuschung; Schabacher, Den Blick im Auge; Alloa (Hg.), Erscheinung und Ereignis, darin bes. ders., Eilender Stillstand – Elender Stillstand und Laner, Ereignis, Bild, Iterabilität; Waldenfels, Grundmotive einer Phänomeno-

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Wie bereits erwähnt, lässt sich nicht genau ermitteln, wie welches Bild auf welchen Betrachter wirkte, da es schlicht keine Quellen gibt, in denen Individuen dies offenbaren. Es kann aber festgestellt werden, dass und auch in welcher Weise die Bilder Teil von Diskursen, wissenschaftlichen ebenso wie nicht-wissenschaftlichen, waren.141 So können Rückschlüsse auf die Wahrnehmungsweisen, die Blicke von möglichen Betrachtern gezogen werden; andernfalls, wenn sich die Bilder nicht dieserart sortieren ließen, wäre die Analyse der in den Diskursen transportierten Bedeutung der Bilder unmöglich. Es gab einen wissenschaftlichen Diskurs der (deutschen) Lateinamerikaforschung und es gab einen gesellschaftlichen Diskurs, eine Vorstellungswelt von Südamerika. Beide sind Teil von Metadiskursen, etwa des Rassendiskurses oder des Kolonialdiskurses. Der Blick, den zu untersuchen Ziel der vorliegenden Arbeit ist, ist im Foucault’schen Sinn das Dispositiv der Erkenntnis.142 Ausgehend von der Überlegung, dass es trotz der semiotischen Offenheit von Bildern Gemeinsamkeiten in der Rezeption und Wirkung auf individueller Ebene gibt, werden die Quellen analytisch anhand der verschiedenen Blickebenen untersucht. So ist die Arbeit neben der Einleitung und dem Fazit in drei Kapitel gegliedert, in denen die verschiedenen möglichen Rezeptionsweisen von Fotos und Bildpostkarten aus Südamerika erfasst werden. Diese wirkten erstens, wie im folgenden Kapitel erarbeitet wird, als Bestandteile zeitgenössischer wissenschaftlicher Diskurse und wurden entsprechend wissenschaftlich betrachtet. In diesem Zusammenhang werden mit den verschiedenen Forschern auch die Produzenten und Transmitter vieler Bilder näher vorgestellt. In den daran anschließenden Kapiteln werden alternative Lesarten/Sichtweisen/Blicke auf Bilder aus Südamerika untersucht. Diese wurden zweitens mit einem sehnsüchtigen Blick betrachtet, der Abenteuerlust, Entdeckergeist, Aussteigerträumen (die Sehnsucht nach einem einfachen, natürlichen Leben abseits der europäischen „Dekadenz“ und „Degeneration“ des fin-de-siècle) und der Suche nach Freiheit und Glück ebenso wie sexuellen Fantasien entsprang.143 Und drittens ließen sich die Bilder von den Betrachtern historisierend interpretieren, indem ihre Motive der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Südamerikas zugeordnet wurden. Diese Perspektiven sind logie des Fremden; Seremetakis (Hg.), The Senses Still sowie Reichertz, Der marodierende Blick. Vgl. auch die für die Kunstgeschichte und die film studies essentiellen Arbeiten von Bryson, Vision and Painting und Sobchack, The Address of the Eye. 141 Vgl. dazu auch Maasen et al. (Hg.), Bilder als Diskurse – Bilddiskurse sowie Eder et al. (Hg.), Bilder in historischen Diskursen. 142 Vgl. Foucault, Dispositive der Macht, bes. S. 119-120: „Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“ 143 Vgl. zu Fantasien, Sehnsucht und Sehnsuchtsfantasien konzeptionell Zantop, Colonial Fantasies; Kundrus (Hg.), Phantasiereiche sowie zu sexuellen Fantasien und Projektionen Stoler, Race and the Education of Desire und dies., Carnal Knowledge and Imperial Power. Die Idee der Suche nach dem Glück in Südamerika wird besonders deutlich im Titel von Schmidt, Meine Jagd nach dem Glück in Argentinien und Paraguay.

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aber nicht streng voneinander zu trennen; sie fallen mitunter zusammen, überschneiden und ergänzen sich oder sind „zwei Seiten einer Medaille“. Angelehnt ist die analytische Kategorie des Blicks zudem an das von John Urry etablierte Konzept des tourist gaze: Dieser „touristische Blick“ determiniere und reguliere die Beziehung des Touristen zu seiner Umwelt, indem er organisiere, systematisiere und letztlich kanonisiere, welche Eindrücke aufgenommen werden.144 Auch Mary Louise Pratts Idee des colonial gaze hat mein Konzept des Blicks inspiriert, zumal es sich bei den Blicken um eine Form des Kulturkontakts und bei dem visuell vermittelten Wissen um transferts culturels handelt. Die Bilder stammen aus einem sozialen und diskursiven Raum, der im Anschluss an Pratt Kontaktzone genannt werden kann; mehr noch, die Bilder sind Bestandteil dieses Raums und konstruieren ihn sogar. 145 Auch wenn dahingestellt sein mag, inwiefern die Augen tatsächlich imperial sein können: Insofern die vorliegende Arbeit der Perspektive der „imperial eyes“ folgt, ist sie eingestandenermaßen eurozentristisch. Es geht nicht darum, die agency oder die Selbstermächtigung der Betrachteten, der Fotografierten, der Beschriebenen, der Erforschten und der Vorgestellten zu untersuchen. Im Zuge der intensiven Forschung zur Kolonialgeschichte ist das Konzept des colonial gaze zumeist eher implizit als explizit auch in Studien der historischen Bildforschung eingegangen.146 So reiht sich diese Arbeit ein in eine Reihe von bildhistorischen Untersuchungen, die sich mit othering, der Konstruktion und Produktion von Alterität und Identität oder, in den Worten Stuart Halls, dem „Spektakel des Anderen“ beschäftigen.147 Diese Forschungen bewegen sich meist entweder in einem fachspezifi144 Urry, The Tourist Gaze. Urrys Konzept kommt zum Tragen etwa in Studien über Reiseführer wie die von Jaworski et al. (Hg.), Der genormte Blick aufs Fremde. Dass das Konzept nicht ganz anachronistisch ist, belegt schon der 1892 erschienene Reisebericht aus Venezuela Eberhards Graf zu Erbach-Erbach, Wandertage eines deutschen Touristen. 145 Vgl. Pratt, Imperial Eyes, zum Konzept der Kontaktzone bes. S. 4 und 6-7. Für den umgekehrten Blick von Lateinamerika auf Europa vgl. z.B. Beardsell, Europe and Latin America und zum Kulturkontakt, zu transferts culturels und zu Transkulturation z.B. Juterczenka/ Mackenthun (Hg.), The Fuzzy Logic of Encounter; Espagne, Les transferts culturels und Mignolo/Schiwy, Beyond Dichotomies. Immer noch lesenswert ist Bitterli, Alte Welt – neue Welt und ders., Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. 146 Allerdings habe die Überbewertung des kolonialen Blicks innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses dazu geführt, dass koloniale Fotografie auf das Thema der Aneignung reduziert werde und damit bestehende Ungleichheiten fortgeschrieben würden, wie die Grande Dame der visuellen Anthropologie und ihrer Geschichte, Elizabeth Edwards, kritisiert. Vgl. Edwards, Looking at Photographs. Edwards schlägt stattdessen Neugier (curiosity) als begriffliches Instrument zur Analyse kolonialer Bildproduktion und -konsumption vor. 147 Hall, Das Spektakel des „Anderen“. Zur Konstruktion des Fremden vgl. weiterhin Bhabha, The Other Question; Hall, Ethnicity: Identity and Difference; Becker/Mohr (Hg.), Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren; Hallam/Street (Hg.), Cultural Encounters sowie den Klassiker von Said, Orientalism. Für die mediale Konstruktion des Anderen vgl. z.B. Bayerdörfer et al. (Hg.), Bilder des Fremden oder Gates, Of Seeing and Otherness. Vgl. weiterhin zum Prozess des othering, der etwa mithilfe der Kategorien „Rasse“, Geschlecht, Religion, Klasse usw. bewerkstelligt werden kann, z.B. Reuter, Ordnungen des Anderen.

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schen Rahmen – besonders die anthropologische/anthropometrische und die ethnologische/ethnografische Fotografie148 aber auch die medizinische und die kriminalistische Fotografie wurden diesbezüglich untersucht – oder aber sie nehmen historische Fotografien in und aus verschiedenen Weltregionen in den Blick.149 Auch die konstitutive (aber längst nicht immer einheitliche) Rolle der Fotografie im Kolonialdiskurs ist dabei, wie bereits angesprochen wurde, untersucht worden.150 Festzuhalten ist, dass als das/der/die Andere zwar nicht ausschließlich Nicht-Europäer markiert wurden: Auch in der Differenz zu Angehörigen der Unterschicht,151 zur traditionellen, trachtentragenden Landbevölkerung, zu Verbrechern,152 zu psychisch und physisch Kranken, zu ethnischen Minderheiten wie z.B. „Zigeunern“153 oder in Skandinavien zu den Samen (bei der oben erwähnten ersten Völkerschau von Hagenbeck wurden 1875 in Hamburg zusammen mit den neu eingetroffenen Rentieren auch „echte Lappländer“ ausgestellt) und zu den „exotischen“ Menschen in Osteuropa oder auf der iberischen

148 Vgl. zur anthropologischen/anthropometrischen Fotografie z.B. Edwards (Hg.), Anthropology and Photography; dies., Raw Histories; dies./Morton (Hg.), Photography, Anthropology, and History; Edwards, Tracing Photography; Pinney, Photography and Anthropology; Hanke, Visualisierungen der physischen Anthropologie um 1900; dies., Ein klares Bild der „Rassen“?; Morris-Reich, Race and Photography; Hagner, Mikro-Anthropologie und Fotografie; die Anthologie von Naranjo (Hg.), Fotografía, antropología y colonialismo und älter schon Krech, Lichtbilder vom Menschen sowie zur ethnologischen/ethnografischen Fotografie z.B. Overdick, Photographing Culture; Theye, Ethnologie und Photographie im deutschsprachigen Raum; Edwards, Shifting Representation; Hempel, Das Moment der Bewegung; Brauen (Hg.), Fremden-Bilder; Hägele, Foto-Ethnografie und Ziehe/Hägele (Hg.), Visuelle Medien und Forschung. Zu Südamerika vgl. neben den oben angegebenen Titeln von Poole besonders Cánepa Koch (Hg.), Imaginación visual y cultura en el Perú. 149 Vgl. z.B. zur Südsee Hiery, Bilder aus der deutschen Südsee; Sperlich, Samoa in Miniatur; Quanchi, The Imaging of Samoa; Köpke/Schmelz (Hg.), Blick ins Paradies und zuletzt Mückler, Die Marshall-Inseln und Nauru in der deutschen Kolonialzeit sowie weitere Forschungen bei Jäger, Fotografiegeschichte(n), S. 523-525. 150 Vgl. die kurzen Einführungen von Pinney, The Phenomenology of Colonial Photography und Bate, Fotografie und der koloniale Blick; Maxwell, Colonial Photography and Exhibitions sowie die Sammelbände von Behdad/Gartlan (Hg.), Photography’s Orientalisms; Hight/Sampson (Hg.), Colonialist Photography und Pinney/Peterson (Hg.), Photography’s Other Histories. Gerade der letztgenannte Band ist um die Analyse der kolonialen Fotografie in allen außereupoäischen Weltregionen bemüht. Zur deutschen Kolonialfotografie vgl. Jäger, „Heimat“ in Afrika; ders., Ikonische Überzeugungsarbeit sowie ganz knapp ders., „Unsere Kolonien“. Für Forschungen zu den Praktiken kolonialer Fotografie im französischen und britischen Kolonialimperium vgl. die Angaben bei Jäger, Fotografiegeschichte(n), S. 524-525. Zum portugiesischen Kolonialreich vgl. Vicente (Hg.), O império da visão. Vgl. für weitere Formen kolonialer Bilder Jäger, Plätze an der Sonne? 151 Vgl. Hirsch, Holzschnittartig und Schwarz-Weiß. 152 Vgl. Jäger, Polizeibild/Verbrecherbild; ders., Vom Gesicht des Verbrechens und knapper ders., „Verbrechergesichter“. 153 Vgl. Reuter, Der Bann des Fremden.

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Halbinsel konstruierten weiße, bürgerliche (männliche) Europäer ihre Identität.154 Aber die wichtigste Referenz bildeten, ohne an dieser Stelle Untersuchungsergebnisse vorwegnehmen zu wollen, die fremden Körper und Kulturen nicht-europäischer, v.a. afrikanischer, aber eben auch südamerikanischer Individuen, „Typen“ und „Rassen“. Insofern die Körper von indigenen Südamerikanerinnen und Südamerikanern in den Blick genommen wurden, ist die vorliegende Arbeit auch im Bereich der Historischen Anthropologie zu verorten.155 Das Programm der Arbeit muss ebenso empirisch wie systematisch entwickelt werden. Denn nicht nur wirkten verschiedene Akteure am „Bild“ Südamerikas in der deutschen Öffentlichkeit: Fotografen, Forscher oder Verleger lassen sich mit Doug McAdams und Dieter Ruchts Diffusionsmodell funktional als Emitter bzw. Transmitter, die Betrachter als Adapter erfassen;156 auch die Übertragungskanäle und ihre spezifischen Bedingungen sind einzubeziehen (im Fall der in wissenschaftlichen Zeitschriften, Monografien oder Handbüchern veröffentlichten Fotos also z.B. die jeweiligen wissenschaftlichen Diskurse, im Fall der gelaufenen Bildpostkarten die Beziehung zwischen Bilderzeuger, Produzent, Absender und Adressat). Quellenhermeneutisch sind die Interessen der Emitter und Transmitter, die visuell ihr persönliches Bild von Südamerika vermittelten, zu berücksichtigen: Jedes Foto und jede Bildpostkarte stellen in dieser Hinsicht einen Ausschnitt eines solchen persönlichen Bildes, das durch die Einbeziehung von Textquellen zu erschließen ist, dar. Zugleich sind die Visualisierungen ein Ausschnitt des ambivalenten zeitgenössischen Gesamtbildes von Südamerika. Um die Dimension des Blicks auf die Bilder zu untersuchen, sind über den diskursiven Kontext der Produktion und Distribution der visuellen Medien hinaus auch jene Faktoren einzubeziehen, welche die Wahrnehmung aus Südamerika überlieferter Bildmedien beeinflussten. Dabei handelt es sich, wie erwähnt, um wissenschaftliche Diskurse oder literarisch vermittelte Vorstellungen des fremden Kontinents, die nicht selten Analogien zu anderen exotischen Weltgegenden aufweisen. So sind bestimmte Aspekte des Forschungsprojektes über die gesteckten räumlichen Grenzen hinaus zu untersuchen: In einigen Fällen ist der (vergleichende) Blick nach Afrika, in die Südsee

154 Zur Exotisierung von Land und Leuten der iberischen Halbinsel, in Osteuropa und anderen gar nicht so weit entfernten Orten s. auch Kap. 2, FN 243. Zur Völkerschau bei Hagenbeck vgl. z.B. Dreesbach, Gezähmte Wilde, bes. S. 44-47. 155 Vgl. zur Verknüpfung von historischer Bildforschung und historischer Anthropologie z.B. Krüger/Hauschild (Hg.), Visuelle Geschichte. 156 Vgl. McAdam/Rucht, The Cross-National Diffusion of Movement Ideas. Zum weiteren Verständnis wird die Akteur-Netzwerk-Theorie herangezogen werden. Vgl. einführend Law, Notes on the Theory of the Actor Network oder Schulz-Schaeffer, Akteur-NetzwerkTheorie. Das Wirken der Forscher als Akteure des Bildtransfers wird dazu mit Bernd Hausbergers Konzept des globalen Menschen erfasst. Vgl. Hausberger, Globalgeschichte als Lebensgeschichte(n). Vgl. ähnlich zuletzt auch das Konzept der imperialen Biografie z.B. bei Rolf, Einführung: Imperiale Biographien und die weiteren Beiträge der Sondernummer von Geschichte und Gesellschaft 40, Heft 1 sowie konzeptionell weiterhin Depkat, Biographieforschung im Kontext transnationaler und globaler Geschichtsschreibung und Logemann, Transatlantische Karrieren und transnationale Leben.

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und auf den „Orient“ unverzichtbar.157 Gleiches gilt für die zeitlichen Grenzen: Besonders Kontinuitäten im Südamerika-Bild, aber auch seine Veränderungen, sind herauszustellen, um die Genealogie zu erfassen. Das Programm der Arbeit ist weiterhin insofern transnational, als es gilt, die Beziehungen und die verflochtene Geschichte zweier Weltregionen (Südamerika und Europa) zu untersuchen. Das Bild, das sich Europäer unter anderem anhand visueller Medien aus Südamerika von diesem Kontinent machten, wirkte auch in der globalen Peripherie. So wurde z.B. die von europäischen Forschern dominierte Wissenschaft und Wissensproduktion, die im folgenden Kapitel untersucht wird, im Prozess des Nationbuilding von südamerikanischen Eliten eingesetzt. 158

157 Insofern enthält die vorliegende Arbeit durchaus eine gute Portion Globalgeschichte und dies ist dem Verfasser auch durchaus bewusst. Vgl. dazu Bayly, Birth of the Modern World, S. 469: „All historians are world historians now, though many have not yet realized it.“ 158 Vgl. dazu z.B. Andermann, The Optic of the State. Gerade die visuelle Repräsentation von Indigenen, „Wilden“, „Barbaren“, hatte auf der politischen Ebene ihre Entsprechung z.B. in der sogenannten „Eroberung der Wüste“ (conquista del desierto). S. dazu ausführlich Kap. 3.

Der wissenschaftliche Blick

Die Visualisierung wissenschaftlichen Wissens ist, wie in der Einleitung bereits erwähnt, von großer Bedeutung für seine Vermittlung (und mitunter schon für seine Generierung) und hat auch für in bzw. über Südamerika erworbenes Wissen eine lange Tradition, die in Alexander von Humboldt einen ihrer bekanntesten Vertreter hat. 1 Im Untersuchungszeitraum wurde diese Praxis von vielen in Südamerika tätigen deutschen Forschern unterschiedlicher Disziplinen fortgeführt. Sie griffen dazu auf die neue Technik der Fotografie zurück und produzierten zehntausende Fotos, die in ihren Nachlässen in den Archiven lagern. Nur eine geringe Zahl dieser Bilder gelangte in wissenschaftlichen Publikationen in die Öffentlichkeit, die zumeist auf Kollegen, Studenten und das interessierte Bildungsbürgertum beschränkt war. Manche Bilder zirkulierten als Motive auf Bildpostkarten oder wurden als fotografische Abzüge an Kollegen weitergegeben. Die Tätigkeit deutscher Forscher, die auf sie zurückzuführenden Erkenntnisse in südamerikanischer Geschichte und Kultur, Anthropologie, Ethnologie, Archäologie, Botanik, Zoologie, Geologie, Geografie oder Linguistik, ihr Mitwirken an der Institutionalisierung wissenschaftlicher Disziplinen an südamerikanischen Forschungseinrichtungen, ihre Lebensumstände sowie auch die Aus- und Nachwirkungen ihrer Forschung sind Gegenstand bereits zahlreicher Untersuchungen gewesen. 2 Und auch in bildhistorischer Perspektive sind, wie ebenfalls in der Einleitung erwähnt, einzelne Bestände visuell vermittelten wissenschaftlichen Wissens aus bzw. über Südamerika schon untersucht worden.3 Wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse insgesamt sind auch die wissenschaftlichen Bilder ein wichtiges Element von transferts culturels, in diesem Fall zwischen Europa bzw. dem Deutschen Reich und Südamerika. Auf die Forscher als Bilder emittierende Akteure in diesem Transfer passt Bernd Hausbergers Konzept des globalen 1

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Vgl. für die Entwicklung von in Zeichnungen dargestellten Forschungsergebnissen zu Fotos exemplarisch die Studie zu visueller Anthropologie und Ethnografie in Brasilien im 19. Jahrhundert von Kümin, Expedition Brasilien. Vgl. Kraus, Bildungsbürger im Urwald; Carreras, Zwischen zwei Welten; Chicote/Göbel (Hg.), Ideas viajeras, darin besonders Carreras, Los científicos alemanes en la Argentina; Sanhueza, El debate sobre el embrujamiento alemán; Pasquevich, La influencia germana und Göbel, Ideas, prácticas y objetos que viajan; Rebok, La constitución de la investigación antropológica alemana sowie Arenas, Antropología en la Argentina. S. die Literaturangaben in FN 127 in der Einleitung.

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Lebenslaufes. Diesem zufolge vollbringen „globale Menschen“, die sich der „weltumspannenden, mindestens grenzüberschreitenden Dimension des eigenen Tuns“ gewahr sind, „kommunikative und interaktive Anpassungsleistungen“.4 Im Folgenden werden in Südamerika tätige deutsche Vertreter verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen kurz vorgestellt. Dabei kann nicht auf jeden deutschen Forscher, der im Untersuchungszeitraum in Südamerika tätig war, eingegangen werden. So sie denn am Bildtransfer beteiligt waren, werden jedoch die wichtigsten Personen zumindest genannt. Auf der Motivebene werden die verschiedenen wissenschaftlichen Bilder und ihre Emitter bzw. Transmitter nach den unterschiedlichen Disziplinen gegliedert. In diesen Aufbau eingebettet wird die Vorstellung herausgearbeitet, die der wissenschaftliche Blick auf diese Bilder den Rezipienten von Südamerika vermittelte.

DAS EPISTEMISCHE SYSTEM Die wissenschaftlichen Fotos bzw. die Bilder, die mit dem wissenschaftlichen Blick betrachtet wurden, entstanden nach den Maßgaben des epistemischen Systems, in dem sich die Forscher bewegten. Im Anschluss an die französischen Philosophen Gaston Bachelard, Georges Canguilhem und Michel Foucault und ihre épistémologie historique zeigte Hans-Jörg Rheinberger, auf den der Begriff des epistemischen Systems zurückzuführen ist, die diskursiven Bedingungen von wissenschaftlicher Erkenntnis und auch die Grenzen der Generierung von Wissen auf.5 Dieses epistemische System bestimmte nicht nur die Kategorien (wie z.B. in den Wissenschaften vom Menschen die „Rasse“), in denen gedacht wurde, es gab auch vor, wie die Forschungspraxis, z.B. bei der wissenschaftlichen Fotografie, auszusehen hatte. So hatten etwa Anthropologen ihre Forschungsobjekte wenn möglich nackt zu fotografieren; Ethnologen hatten dagegen die „authentische“ Umgebung, „typische“ Tätigkeiten, Kleidung oder Schmuck einzufangen.6 Für Geologen war es wichtig, dass einzelne Boden- und Ge-

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Hausberger, Globalgeschichte als Lebensgeschichte(n), S. 13. Vgl. zu Diffusionsprozessen und den beteiligten Akteuren McAdam/Rucht, The Cross-National Diffusion of Movement Ideas. Vgl. dazu grundlegend Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung sowie Jäger, Fotografiegeschichte(n), S. 521. Vgl. z.B. Mollison, Die Verwendung der Photographie; Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, Rathschläge für anthropologische Untersuchungen und Fritsch, Praktische Gesichtspunkte für die Verwendung zweier dem Reisenden wichtigen technischen Hülfsmittel. Fritsch war vermutlich auch der Verfasser der Rathschläge, vgl. Theye, „Wir wollen nicht glauben, sondern schauen“, S. 115-116, FN 109. Weitere Hinweise gab die Frau des Begründers der modernen Mexikanistik, Eduard Seler (1849-1922), Seler-Sachs, Die Photographie auf Forschungsreisen. Vgl. außerdem Neuhauss, Die Photographie auf Forschungsreisen. Vgl. zur Rolle der Fotografie in der Wissenschaft im 19. Jahrhundert außerdem Kleinknecht, Die Fotografie – ein neues Bildmedium im Wissenschaftspanorama des 19. Jahrhunderts. Zum gut untersuchten epistemischen System der deutschen Anthropologie und Ethnologie vgl. Penny, Traditions in the German Language; ders., Objects of Culture; ders./Bunzl (Hg.),

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steinsschichten oder Reliefs gut zu erkennen waren. So dienten die Bilder dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn – immer im Rahmen des bestehenden epistemischen Systems. Auf einer Metaebene dienten aber die Bilder, auf denen südamerikanische Indigene zu sehen waren, egal ob nackt oder bekleidet, in ihrem „natürlichen Lebensraum“, in der Stadt oder im Fotostudio, auch der Herstellung von Identität und Alterität,7 wie die mittlerweile recht umfangreiche und in der Einleitung erwähnte wissenschaftsgeschichtliche Forschung gezeigt hat. Mithilfe von Fotografien betrieben die Forscher ebenso wie die einheimische nicht-indigene Bevölkerung8 othering, sie stellten Alterität her und dar, indem sie das Fremde, das Wilde, das Natürliche, Indigene abbildeten. Denn die anthropometrischen Verfahren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts dienten nicht nur der Feststellung von Differenz, sondern zugleich auch der Etablierung normativer Standards, die der zivilisierte, kultivierte, bürgerliche, weiße Europäer verkörperte. Die biologische Hierarchisierung entsprach der kulturellen Hierarchisierung bzw. sie sollte dieser entsprechen. Dabei waren die Anthropologen aber immer wieder mit Problemen konfrontiert, wenn ihre Messungen nicht zum gewünschten Ergebnis führten. Angehörige der „gelben Rasse“ schnitten zum Beispiel gut ab, was das Gewicht ihres Gehirns anbelangte und auch das Gewicht des weiblichen Gehirns war in Relation zur Körpergröße durchschnittlich größer als das des Mannes. 9 Die Willkür dieser Messungen betonte der Evolutionsbiologe und Paläontologe Stephen Jay Gould in seiner Arbeit Der falsch vermessene Mensch: „Der menschliche Körper läßt sich auf tausenderlei Art vermessen. Jeder Forscher, der im vorhinein von der Minderwertigkeit einer Gruppe überzeugt ist, kann eine kleine Reihe von Messungen auswählen, um deren größere Nähe zu Affen zu veranschaulichen. [...] Dieses Verfahren würde natürlich genauso gut bei weißen Männern funktionieren, obwohl niemand den Versuch gemacht hat. Weiße Männer sind zum Beispiel schmallippig, eine Eigenschaft, die sie mit dem Schimpansen gemeinsam haben – während die meisten Schwarzafrikaner wulstigere und folglich ,menschlichere‘ Lippen haben.“10

Da Messungen so mitunter die Differenz zwischen den „Rassen“ relativieren konnten, konnte auf das Kriterium des Augenscheins (da postuliert wurde, dass Differenz sichtbar sei) und die subjektive, willkürliche Kategorie der Ästhetik nicht verzichtet werWorldly Provincialism; Barth et al., One Discipline, Four Ways; Fischer et al. (Hg.), Adolf Bastian and his Universal Archive of Humanity; Zimmermann, Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany; ders., Ethnologie im Kaiserreich; Hanke, Zwischen Auflösung und Fixierung; Laukötter, Von der „Kultur“ zur „Rasse“ oder auch Bruckner, The TingleTangle of Modernity. 7 Identität wird meistens durch othering gestiftet, über Abgrenzung und die Produktion von Alterität also. Foucault reflektierte jedoch einen alternativen Ansatz, nämlich Identität nicht durch Differenz herzustellen, sondern als Gegenteil von Indifferenz. Vgl. Potte-Bonneville, Michel Foucault, l’inquiétude de l’h́ istoire. Auch Arno Strohmeyer oder Andrea Polaschegg versuchen das Binärmodell des „Eigenen“ und des „Fremden“ zu trennen. Vgl. Strohmeyer, Wahrnehmungen des Fremden und Polaschegg, Der andere Orientalismus. 8 Vgl. dazu z.B. Noufouri et al., Tinieblas del crisol de razas. 9 Vgl. Stepan, Race and Gender, S. 266-267 u. 272-274. 10 Gould, Der falsch vermessene Mensch, S. 87-88.

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den. So übte etwa Paul Ehrenreich harsche Kritik an den messenden Verfahren und auch der Methode der Typenfotografie. Er trat ein für eine kulturwissenschaftliche Ausrichtung, die den Augenschein als Methode rehabilitierte. 11 Othering war allerdings nur eine „sekundäre“ Funktion der wissenschaftlichen (und anderer) Bildmedien. Ihre „primäre“ Funktion konnte bei den verschiedenen Bildproduzenten und Betrachtern/Nutzern, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, durchaus erheblich auseinandergehen. Wissenschaftliche Fotografien dienten in erster Linie, das soll noch einmal betont werden, der Erkenntnis. Das fotografierte, in der Regel indigene Forschungsobjekt war dabei aber notwendigerweise verschieden vom forschenden, fotografierenden und auch vom betrachtenden Subjekt, so dass als Effekt zugleich othering betrieben wurde und zwar unabhängig davon, ob dies gewollt war oder nicht, und unabhängig von der persönlichen Einstellung gegenüber Indigenen. Ob diese als primitiv, barbarisch, rückständig und „rassisch“ unterlegen oder teilnehmend und wohlwollend markiert, visualisiert und betrachtet wurden, spielte dabei keine Rolle. Auch wenn einige Forscher absichtsvoll vorgegangen sein mögen, wissenschaftliche Diskurse erscheinen in dieser Perspektive nicht zielgerichtet, „sondern als bewegliche Formationen voller unvorhergesehener Effekte.“12 Auf die Unschärfe, das Ausfransen und die Unterhöhlung der Kategorie „Rasse“ musste deshalb performativ Differenz produzierend und fixierend immer wieder und immer wieder neu reagiert werden. Visualisierungen von „Rasse“ bildeten also, da sich die Generation und Dekonstruktion von „Rasse“ in stetem Fluss befand, nicht ab, sondern waren „bildgebende Verfahren.“13

ANTHROPOLOGISCHE UND ETHNOGRAFISCHE BILDER Fotografien konnten an die Stelle von originalen Forschungsobjekten treten und diese transportierbar und archivierbar machen. Sie nahmen so selbst den Status von Präparaten und Forschungsobjekten ein.14 So mussten Ethnologen und Anthropologen nicht mehr unbedingt selbst in ferne Weltteile reisen (oder Völkerschauen besuchen), um mit eigenen Augen Vertreter fremder Völker oder „Rassen“ zu schauen. Museen und andere Forschungseinrichtungen in Europa (wie auch in den USA oder in Südamerika selbst) bemühten sich daher nach Kräften, Sammlungen von anthropologischen und ethnografischen Fotografien und Bildpostkarten aufzubauen und laufend zu erweitern. Die Bilder sollten die Sammlungen von bei Messungen erhobenen Daten, von Keramiken, Schmuck, Waffen und anderen Kulturgütern sowie von menschlichen Überresten ergänzen.15 Die technische Entwicklung der Fotografie, die Erfindung des Roll-

11 Vgl. zu Ehrenreichs Kritik Hempel, Facetten der Fremdheit, bes. S. 194-200 und weiter Hanke, Zwischen Auflösung und Fixierung, S. 155-165. 12 Hanke, Zwischen Auflösung und Fixierung, S. 262. 13 Hanke, Zwischen Auflösung und Fixierung, S. 258, Hervorhebung im Original. 14 Vgl. Latour, Visualization and Cognition. 15 Vgl. für die Praxis des Sammelns menschlicher (und tierischer) Überreste z.B. den Aufruf in der Deutschen Kolonialzeitung von Fischer, Bitte des anatomischen Instituts Freiburg i.B. Fischer bat um Spenden, u.a. um menschliche Schädel, um die Verluste, welche die anthro-

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films und immer kleinerer und leichter zu handhabender Kameras kam diesem Vorhaben dabei zugute und so gelangten immer mehr Bilder in die Archive. Der Mediziner, Anthropologe, Ethnologe und Fotograf Richard Neuhauss (1855-1915) beklagte diesbezüglich 1915 in einem Beitrag im Archiv für Anthropologie, dass sich im Archiv der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte zwar ca. 17.000 Fotografien befänden, ihre Verwertung aber „immer noch beinahe alles zu wünschen übrig“ lasse.16 Auch aus Südamerika gelangten sowohl Objekte der materiellen Kultur als auch fotografische Repräsentationen in Form von Fotoabzügen, Glasplatten- u.a. Negativen sowie Bildpostkarten dieser Kulturen und von Menschen (v.a. von Indigenen) in die Sammlungen verschiedener Forschungseinrichtungen.17 So warb etwa der für die Südamerika-Sammlung des Berliner Völkerkundemuseums zuständige Walter Krickeberg (1885-1962) im Mai 1937 in einem Brief an Generaldirektor Prof. Dr. Kümmel für den Kauf einer u.a. ca. 70 Fotos und 17 Bildpostkarten umfassenden Sammlung einer Frau Görms aus Steglitz: „Die Photos sind durchweg hervorragend und z.T. äusserst selten (darunter besonders diejenigen von den Araukanern u. Patagonieren und eine ganze Serie von Botokuden-Aufnahmen), und die Sammlung enthält sehr bemerkenswerte Stücke. In Anbetracht dessen, dass unsere amerikanische Photo-Sammlung noch ziemlich kläglich und unsere ethnographische Sammlung von den modernen südamerikanischen Hochlandindianern sehr ergänzungsbedürftig ist, bitte ich dringend um Bewilligung von Mitteln für die Erwerbung. Die Eigentümerin verlangt für beides, Photos und Sammlung, zusammen nur 200 R.M. Das Angebot ist also aussergewöhnlich günstig.“18

Die Bilder dienten der Dokumentation, Identifizierung und Klassifizierung der verschiedenen menschlichen „Typen“, Völker und „Rassen“ sowie ihrer Verortung im pologische und anatomische Sammlung 1917 bei einem durch eine Fliegerbombe verursachten Brand erlitten hatte, zu ersetzen. Ein besonders widerliches Beispiel für die Herkunft so mancher Objekte in anthropologischen Sammlungen ist ein 1913 in der Zeitschrift für Ethnologie erwähnter Brief von Wilhelm Müller aus Dobo, dem Hauptort der heute zu Indonesien gehörenden Aru-Inseln. Müller bot darin die Überreste von Menschen an, die zwölf Jahre zuvor an den Pocken gestorben waren; die Knochen hatte er in einem Gebüsch gefunden. Vgl. Müller, Brief aus Dobo. Vgl. zur Sammlungspraxis von Museen und anderen Forschungseinrichtungen weiterhin Grogan, German Natural History Collectors; Laukötter, Von der „Kultur“ zur „Rasse“ und dies., Kultur in Vitrinen. 16 Neuhauss, Die Verwertung photographischer Reise-Aufnahmen, Zitat auf S. 335. Vgl. zur Fotosammlung der Gesellschaft auch Juncker, The Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte and its Photograph Collection. 17 Vgl. dazu beispielsweise den Sammelband zu den Beständen aus Südamerika des Ethnologischen Museums in Berlin von Fischer/Kraus (Hg.), Exploring the Archive. 18 Ethnologisches Museum, Berlin, Akten betreffend die Erwerbung ethnologischer Gegenstände aus Amerika, Bd. 45, 01.01.1935-31.12.1938, Pars I B, Vorgang E 494/37 (Görms). Der Kauf wurde am 15. Mai genehmigt. Zwar hatte Krickeberg ein strategisches Interesse, die Sammlung als ergänzungsbedürftig darzustellen, denn er wollte den Erwerb ja durchsetzen; aber tatsächlich ist zumindest die südamerikanische Bildpostkartensammlung des Hauses mit etwa 300 Karten nicht besonders groß.

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und Einordnung in das hierarchische System, das die Wissenschaften vom Menschen schufen. Im Deutschen Reich wurde diese Ordnung z.B. in Georg Buschans (18631942) Illustrierter Völkerkunde (im wahrsten Sinne des Wortes) abgebildet. Die zu ihrer Zeit vielleicht wichtigste Gesamtdarstellung des Faches im deutschsprachigen Raum erschien zwischen 1910 und 1926 unter der Mitarbeit bedeutender Fachvertreter wie Felix von Luschan (1854-1924) und dem Altamerikanisten und Ethnologen Walter Krickeberg (1939-54 Direktor des Völkerkundemuseums in Berlin und Mitherausgeber der Zeitschrift für Rassenkunde) in drei Bänden und war lange ein oder sogar das Standardwerk der Ethnologie und Anthropologie.19 Damit löste es ältere Werke wie das in der Einleitung erwähnte von Carl Dammann und der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte in den 1870er Jahren herausgegebene Anthropologisch-ethnographische Album oder Schneiders Typen-Atlas aus den 1880er Jahren ab.20 Die Illustrierte Völkerkunde war state of the art auch über den Untersuchungszeitraum hinaus, bis sie ihrerseits durch das vom Ethnologen und Archäologen Konrad Theodor Preuss 1937 herausgegebene Lehrbuch der Völkerkunde sowie durch die von Hugo Adolf Bernatzik (1897-1953) herausgegebene Große Völkerkunde, deren Beiträge zu Amerika im dritten Band ebenfalls von Krickeberg stammten, Konkurrenz erhielt.21 Neben der systematischen Erfassung von Völkern und ihrer Einordnung in „Rassen“ dienten anthropologische und ethnografische Fotografien noch einem anderen Zweck: Sie dokumentierten und konservierten aussterbende Völker und ermöglichten den Fortbestand von untergehenden Kulturen zumindest in Abbildern. Der Steyler Missionar Martin Gusinde (1886-1969) etwa, der unter Max Uhle am Völkerkundemuseum in Santiago de Chile arbeitete, unternahm zwischen 1918 und 1924 vier Forschungsreisen nach Feuerland. Im Zuge dieser Reisen studierte er die Kultur der Selk’nam, Yámana und Halakwúlup, der vom Aussterben bedrohten indigenen Völker Feuerlands, und nahm mit seiner Plattenkamera ca. 1.000 Fotografien vom Alltag, von Riten, Festen und von der Umwelt, in der die Indigenen lebten, auf. Gusindes Bilder

19 Vgl. Buschan (Hg.), Illustrierte Völkerkunde. 20 Vgl. Dammann (Hg.), Anthropologisch-ethnographisches Album in Photographien und Schneider (Hg.), Schneiders Typen-Atlas. Vgl. zu Dammanns Werk Hempel, Facetten der Fremdheit, S. 187-88 und ausführlich Theye, Einige Neuigkeiten zu Leben und Werk der Brüder Carl Victor und Friedrich Wilhelm Dammann. Dammanns Werk wurde beispielsweise vom Völkerkundler Adolf Bastian (1826-1905) in der ZfE ob seiner großen Verdienste gewürdigt; allerdings wies der prominente Rezensent auch auf einige Mängel hin. Der langjährige Direktor des Völkerkundemuseums in Berlin hatte 1875/76 übrigens Südamerika bereist und in den Anden über verschiedene indigene Kulturen, etwa in Peru die Inka und in Kolumbien die Muisca, geforscht. 21 Vgl. Preuss, Lehrbuch der Völkerkunde und Bernatzik (Hg.), Die Große Völkerkunde. Nach Forschungsreisen nach Mexiko weilte Preuss von 1913 bis 1919 für einen Forschungsaufenthalt in Kolumbien, bevor er 1920 Leiter der Nord- und Mittelamerikanischen Abteilung des Museums für Völkerkunde in Berlin wurde. Für seine Forschungen in Kolumbien vgl. z.B. Preuss, Forschungsreise zu den Kágaba sowie Fischer/Oyuela-Caycedo, Der zeitlose Rahmen.

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sind beeindruckende Zeugnisse heute untergegangener Gemeinschaften. 22 Von der gleichen Absicht schrieb Theodor Koch-Grünberg im Mai 1921 in einem Brief an Karl Weule (1864-1926, von 1907 bis zu seinem Tode Direktor des Museums für Völkerkunde zu Leipzig): „Sie halten diese ‚ewigen Typenbilder‘ für wertlos. Die Anthropologen werden wohl dasselbe sagen, weil ich keine Messungen gemacht habe. Andere denken vielleicht anders darüber. In einigen Jahrzehnten wird von allen diesen Völkern nicht mehr viel übrig sein, und dann wird man froh sein, gute Bilder von ihnen zu haben.“23

Koch-Grünberg, seit 1915 Direktor des Linden-Museums in Stuttgart, war ein Pionier der anthropologischen Fotografie und stellte während mehrerer Amazonasexpeditionen ethnologische Forschungen an: 1898-1900 nahm er an der Expedition des Verlegersohnes Hermann Meyer (1871-1932) zum Rio Xingu teil; 1903-1905 und 19111913 forschte er im Grenzgebiet von Brasilien und Venezuela. Auf einer weiteren Expedition zur Kartierung des Oberlaufs des Rio Branco starb Koch-Grünberg 1924 an Malaria.24

22 Vgl. Gusinde, Begegnungen auf Feuerland; Koppers, Unter Feuerland-Indianern und Palma, Bild, Materialität, Rezeption sowie unter den zahlreichen Publikationen Gusindes besonders prominent Gusinde, Die Feuerlandindianer. Wie auch die später zu behandelnden Robert Lehmann-Nitsche und Hans-Heinrich Brüning machte Gusinde Tonaufnahmen und zeichnete für das Berliner Phonogramm-Archiv Lieder der Indigenen auf. Vgl. Ziegler, Die Wachszylinder des Berliner Phonogramm-Archivs. 23 Zitiert nach Kraus, Bildungsbürger im Urwald, S. 481. Mit einem ganz ähnlichen Programm arbeiten Fotografen und Forscher noch heute, so z.B. die US-Amerikanerin Amy Toensing, die in Australien die Aborigines in ihrer „natürlichen“ und „traditionellen“ Lebensweise fotografisch festzuhalten versucht. Vgl. die Website von Amy Toensing, http://www.amytoe nsing.com/ [26.08.2018]. 24 Vgl. Kraus, Bildungsbürger im Urwald, Kurzbiografie auf S. 35-36 und Hempel, Facetten der Fremdheit, S. 200-205 sowie für die späteren Reisen Koch-Grünberg, Zwei Jahre unter den Indianern und ders., Zwei Jahre bei den Indianern Nordwest-Brasiliens. Der Rio Xingu war ein beliebtes Ziel deutscher Expeditionen: Der Arzt und Völkerkundler Karl von den Steinen, später Nachfolger Adolf Bastians im Amt des Direktors des Berliner Völkerkundemuseums, hatte 1884 und 1887/88 (gemeinsam mit Paul Ehrenreich) zwei Forschungsreisen dorthin unternommen. In den Jahren 1900/01 unternahm Max Schmidt eine Expedition in die Region. Und schon 1843 hatte Adalbert von Preußen (1811-1873) den Xingu erkundet. Vgl. Adalbert von Preußen, Reise seiner königlichen Hoheit; Steinen, Durch Central-Brasilien; ders., Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens; Vogel, Reisen in Matto Grosso 1887/88; Ehrenreich, Mittheilungen über die zweite Xingu-Expedition; Schmidt, Indianerstudien in Zentralbrasilien sowie Koch-Grünberg, Die Xingú-Expedition (1898-1900). Vgl. weiterhin die Biografie von Steinen, Expeditionsreisen am Amazonas und zu seiner zweiten Xingu Expedition auch Hempel, Paul Ehrenreich – the Photographer in the Shadows sowie Hermannstädter (Hg.), Deutsche am Amazonas und darin bes. dies., Abenteuer Ethnologie. Zu Max Schmidts Forschungsreise vgl. Bossert/Villar, Max Schmidt in Mato Grosso und dies., Hijos de la selva.

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Ein wichtiger Produzent und Transmitter wissenschaftlicher Bilder aus Südamerika war der 1872 auf dem Rittergut Gocanowo bei Kruschwitz in der Provinz Posen im heutigen Polen geborene Robert Lehmann-Nitsche.25 Lehmann-Nitsche studierte Allgemeine Naturwissenschaften und promovierte 1894 in Anthropologie (Titel der Dissertation: „Beiträge zur physischen Anthropologie der Bajuvaren: Über die langen Knochen der südbayerischen Reihengräberbevölkerung“) und 1897 in Medizin (Titel: „Beiträge zur prähistorischen Chirurgie nach Funden aus deutscher Vorzeit“). Kurz nach der zweiten Promotion kam Lehmann-Nitsche, gerade 25-jährig, nach Argentinien, wo er Leiter der Abteilung Anthropologie des Museo de La Plata, dem 1888 von Francisco Pascasio Moreno (1852-1919) gegründeten größten naturalistischen, archäologischen und ethnologischen Museum Argentiniens, wurde. (Wie es dazu kam, ist nicht überliefert, der Kontakt nach La Plata kam offenbar schon während des Studiums zu Stande.) In den folgenden Jahren spielte der Preuße mit seiner überaus regen Publikations-26 und Sammlungstätigkeit eine wichtige Rolle bei der Etablierung und Institutionalisierung der Anthropologie in Argentinien: 1905 wurde er Professor für Physische Anthropologie an der Universidad Nacional de La Plata und 1906 an der Universidad de Buenos Aires. Lehmann-Nitsche war Teil eines transnationalen wissenschaftlichen Netzwerkes von internationalen Forschern in vielen Ländern Südamerikas (Argentinien, Paraguay, Bolivien, Chile, Brasilien, Peru) und Europas (Deutsches Reich, Frankreich, Schweden); von seinen weitreichenden Kontakten zeugen die ca. 5.500 Briefe, Postkarten und Telegramme in seinem Nachlass. Dank dieser Kontakte gelang es ihm, den 17. Internationalen Amerikanistenkongress (der 1875 zum ersten Mal in Nancy ausgerichtet wurde und der bis heute regelmäßig stattfindet) als einer der wissenschaftlichen Leiter 1910 nach Buenos Aires und damit erstmals nach Südamerika zu holen.27 Nach seiner Pensionierung kehrte Lehmann-Nitsche 1930 ins Deutsche 25 Vgl. Bremer, Stichwort argentinische Popularkultur, S. 7. Auf den Seiten des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin sowie bei Wikipedia findet sich die Angabe, Lehmann-Nitsche sei in Radomitz in der Provinz Posen geboren worden. Vgl. Ibero-Amerikanisches Institut, Lehmann-Nitsche, Robert (1872-1938), http://www.iai.spk-berlin.de/bibliothek/nachlaesse/ einzelnachlaesse/lehmann-nitsche-robert-1872-1938.html [26.08.2018]. Seine zweite Dissertation legte er aber als approbierter Arzt „aus Rittergut Gocanowo bei Kruschwitz, Prov. Posen“, so das Titelblatt, ab. Lehmann-Nitsche, Beiträge zur prähistorischen Chirurgie. Andere Arbeiten geben als Lehmann-Nitsches Geburtsort Radonitz an. Vgl. zuerst Bilbao, Rememorando a Roberto Lehmann-Nitsche, S. 1. Dabei scheint es sich jedoch um einen Schreibfehler zu handeln, denn Radonitz bzw. Radonice liegt im heute zu Tschechien gehörenden nördlichen Böhmen. Das in der Nähe von Warschau gelegene polnische Radonice war im 19. Jahrhundert nicht Teil des Deutschen Reiches, sondern gehörte zu Kongresspolen (seit den 1860er Jahren auch als Weichselland bezeichnet), das in Personalunion vom russischen Zaren regiert wurde. 26 Die Liste seiner Publikationen umfasst nach einer Aufstellung von José Torre Revello 375 deutsch- und spanischsprachige Titel. Vgl. Torre Revello, Contribución a la biobibliografía de Roberto Lehmann-Nitsche. 27 Der Kongress fand in Buenos Aires (Mai) und Mexiko-Stadt (September) statt. Vgl. die Kongressakten von Lehmann-Nitsche (Hg.), Actas del XVII Congreso Internacional de Americanistas 1. Vgl. grundlegend zur Rolle Lehmann-Nitsches bei der Etablierung und Institutionalisierung der Anthropologie in Argentinien Arenas, Antropología en la Argentina und

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Reich zurück. Von 1934 bis zu seinem Tod 1938 war er zwar noch Privatdozent an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, wissenschaftlich wurde er in den letzten Jahren aber eher zum Außenseiter: Er beschäftigte sich viel mit Astrologie. Nach seinem Tod verkaufte seine Frau Juliane einen Großteil des Nachlasses an das Ibero-Amerikanische Institut und ging 1939 nach Argentinien zurück. Im Zuge seiner Arbeit im Museum und seiner Forschung dort sowie auf den Forschungsreisen, die er 1902 nach Patagonien, 1906 auf eine Zuckerrohrpflanzung in Ledesma (heute Libertador General San Martín) in der Provinz Jujuy und 1924 in den Chaco unternahm, erweiterte Lehmann-Nitsche nicht nur die anthropologische Sammlung des Museums um zahlreiche menschliche Überreste, Knochen, Schädel und ganze Skelette, sowie um anthropologische Fotos, sondern er trug auch eine äußerst umfangreiche anthropologische, ethnografische und folkloristische Privatsammlung zusammen. Diese befindet sich heute zum größten Teil im Archiv des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin und umfasst u.a. Fotografien und Bildpostkarten, Zeitungsausschnitte, Werbezettel, Programmhefte oder Texte von Liedern und Gedichten. Auch kreolische und indigene Musik sammelte und archivierte Lehmann-Nitsche auf Tonwalzen.28 Wegen dieser ebenso umfangreichen wie zeitgenössisch ungewöhnlichen Dokumentation auch alltäglicher Dinge, die ihm in der Stadt begegneten, wird Lehmann-Nitsche auf der Internetseite des Ibero-Amerikanischen Instituts auch der „Archivar des Alltags“ genannt.29 Seine Sammlungstätigkeit für das Museum folgte dagegen den Standards und Methoden der Anthropologie, wie er sie in München erlernt hatte30 und wie sie auch an europäischen Wissenschaftseinrichtungen verfolgt wurden. Dabei kamen – ähnlich wie es bei europäischen Museumssammlungen der Fall war (s.o.) – viele Objekte auf aus heutiger Sicht äußerst fragwürdigen, ethisch verwerflichen und grausamen Wegen in die anthropologische Sammlung des Museo de La Plata. 31 Das gilt nicht nur für menschliche Überreste, sondern auch für anthropologische Fotos.

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neuer Göbel, Ideas, prácticas y objetos que viajan; Carreras, Zwischen zwei Welten sowie Reinert, Indianerbilder und zur Einordnung in den zeitgenössischen Diskurs der Wissenschaften vom Menschen in Argentinien Novoa/Levine, From Man to Ape; dies., ¡Darwinistas! und Yujnovsky, Viajeros a la sombra de Darwin. Vgl. Lehmann-Nitsche, Walzenaufnahmen aus Argentinien und weiter Chicote, Robert Lehmann-Nitsche sowie García/Chicote (Hg.), Voces de tinta. Zu den Forschungsreisen 1902 und 1906 vgl. Yujnovsky, Viajeros a la sombra de Darwin, S. 233-272 bzw. Martínez/ Tamagno, La naturalización de la violencia. Ibero-Amerikanisches Institut, Der Archivar des Alltags. Vgl. seine Dissertation in Anthropologie: Lehmann-Nitsche, Beiträge zur physischen Anthropologie der Bajuvaren. Vgl. z.B. Colectivo GUIAS, Antropología del genicidio oder Oldani et al., Las muertes invisibilizadas und weiter Podgorny, “Recuerden que están muertos” sowie außerhalb der Wissenschaft Budasoff, El Museo de Ciencias que colecciona restos de indígenas. Vgl. außerdem die Fotografie „Museo de La Plata. Sección antropológica: vista parcial“, ca. 1897, aus der Sammlung des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin, die Lehmann-Nitsche im Museum mit „kolonisierten Objekten“ zeigt, bei Andermann, The Optic of the State, S. 15, Abb. 5, Zitat auf S. 14 sowie bei Reinert, Bilder aus der Ferne, S. 117 und bei Masotta, El atlas invisible, S. 9.

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Als der niederländische Anthropologe Herman Frederik Carel ten Kate (18581931) – der bereits in den 1880er und frühen 1890er Jahren anthropologische Forschungen u.a. in Nord- und Südamerika, Lappland, Algerien, Australien sowie auf den Inseln des heutigen Indonesiens und der Südsee betrieben und der 1893 für das Museum in La Plata als Kurator gearbeitet hatte – und sein Kollege Charles de la Hitte im September 1896 ins östliche Paraguay reisten, um dort das indigene Volk der Guayaki (auch Guayaqui, heute: Aché) zu studieren, wurden sie Zeugen der Folgen eines grausamen Überfalls. Ein weißer colono (Siedler) aus Sandoa, in der Nähe von Villa Encarnación, und seine drei Söhne hatten eine Gruppe Guayaki, die gerade beim Essen war und sich nicht verteidigen konnte, überfallen und dabei zwei Männer und eine Frau getötet. (Der Leichnam der Frau wurde später von ten Kate untersucht und vermessen.) Der Rest der Gruppe, die für den Diebstahl bzw. die Tötung eines Pferdes des Siedlers verantwortlich sein sollte, konnte fliehen. Zurück blieb nur ein kleines Mädchen, das die Siedler mitnahmen und das nach dem Heiligen des Tages, eines Sonntags, Damiana genannt wurde. Ten Kate und de la Hitte trafen Damiana wenig später. Sie untersuchten das Kind, dessen Alter sie auf etwa zwei (de la Hitte) bzw. drei bis vier Jahre (ten Kate) schätzten, machten als Zeugnis ihrer Feldforschung ein Foto von ihr und veröffentlichten die Ergebnisse in einem Aufsatz. Dort schilderten sie auch den Hergang der Ereignisse. 32 Zwei Jahre später, 1898, wurde Damiana nach San Vicente in der Provinz Buenos Aires in die „Obhut“ der Mutter von Alejandro Korn, eines deutschen Arztes und Direktors der Pflegeeinrichtung „Melchor Romero“, übergeben. Das Mädchen, das bei den Korns auch Deutsch lernte, musste als Hausangestellte arbeiten, entwickelte sich aber „normal“, so Lehmann-Nitsche, der im Mai 1907 anthropologische Untersuchungen an Damiana, die er auf 14 oder 15 Jahre schätzte, vornahm und sie nackt vor einer Wand fotografierte.33 Zu dieser Zeit, mit dem Einsetzen der Pubertät, wurde Damiana offenbar schwieriger zu kontrollieren. Angeblich, um sich mit einem „galán“ zu treffen, blieb die Jugendliche nächtelang fort; als sie von einem vor ihrer Tür angebundenen Hund bewacht wurde, lief sie fort. Den Korns sei nichts anderes übrig geblieben, als Damiana in eine Besserungsanstalt einzuweisen.34 Zwei Monate nachdem Lehmann-Nitsche Damiana untersucht, vermessen und fotografiert hatte, starb das Mädchen an Tuberkulose. Weder Lehmann-Nitsche noch Korn, immerhin beide Mediziner, scheinen die Krankheit bemerkt zu haben. Lehmann-Nitsche zufolge erfüllte sich damit eine Prognose, die ten Kate schon 1897 gestellt hatte: „Dieses Kind hatte einen kränklichen und traurigen Anschein. Der generelle Eindruck, die symmetrischen

32 Vgl. Hitte/ten Kate, Notes ethnographiques sur les indiens Guayaquis. 33 Neben der unten abgebildeten Veröffentlichung vgl. weitere Aufnahmen Damianas aus dem Nachlass Lehmann-Nitsches, die im Zuge der Digitalisierung von Glasplattennegativen online zugänglich gemacht wurden: Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass [Glasplattensammlung], Robert Lehmann-Nitsche, Anthropologische Porträtaufnahmen: Ethnie Guayaki, „Damiana“, http://resolver.iai.spk-berlin.de/IAI00004B9C000900 00 [26.08.2018]. 34 Vgl. Lehmann-Nitsche, Relevamiento antropológico de una india guayaquí, S. 92-93.

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Flecken auf den oberen mittleren Schneidezähnen und der sehr vorspringende Bauch waren Anzeichen einer skrofulösen Diathese.“35 Das Foto veröffentlichte Lehmann-Nitsche zusammen mit den Ergebnissen seiner Untersuchung in einem Aufsatz (Abb. 6). Außerdem wurde das Bild im Museo de La Plata, wo auch das Skelett aufbewahrt wurde, ausgestellt. Den Schädel des Mädchens sandte Lehmann-Nitsche im Januar 1908 nach Berlin an den Anatomen Hans Virchow (1852-1940), den Sohn des Gründers der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte Rudolf Virchow, damit dieser weitere Untersuchungen an ihm vornehmen konnte.36 Hans Virchow führte den Schädel bei einer Versammlung der Gesellschaft vor; später wurde er ausgestellt.

Abbildung 6: Fotografie „India Guayaqui de 14 á 15 años“ von Robert Lehmann-Nitsche, 1907, aus Lehmann-Nitsche, Robert: Relevamiento antropológico de una india guayaquí, in: Revista del Museo de La Plata 15 (2. Folge, Bd. 2), 1908, S. 94. Weitere Aufnahmen Damianas aus dem Nachlass Lehmann-Nitsches wurden im Zuge der Digitalisierung von Glasplattennegativen on-

35 „Cette enfant avait l’air maladif et triste. L’aspect général, les taches symétriques sur les incisives supérieures moyennes et le ventre tres proéminent indiquaient une diathèse scrofuleuse.“ Lehmann-Nitsche, Relevamiento antropológico de una india guayaquí, S. 93, Übersetzung von Hinnerk Onken. 36 Vgl. Virchow, Kopf eines Guajaki-Mädchens.

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line zugänglich gemacht: Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass [Glasplattensammlung], Robert Lehmann-Nitsche, Anthropologische Porträtaufnahmen: Ethnie Guayaki, „Damiana“, http://resolver.iai.spk-berlin.de/IAI00004B9C00090000 [26.08.2018].

Nachdem die argentinische Anthropologin Patricia Arenas 2005 die Geschichte Damianas recherchiert und öffentlich gemacht hatte, entzündete sich in Argentinien eine Debatte um den Umgang der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Institutionen mit ihrer Geschichte, um ihren Umgang mit Indigenen damals und heute und um den Umgang mit menschlichen Überresten.37 2007 wurden Damianas Gebeine, die noch immer in einem Beutel im Museo de La Plata lagerten, vom Grupo Universitario de Investigación en Antropología Social (GUIAS) aufgespürt und im Juni 2010 an Vertreter der Aché zurückgegeben. Damiana erhielt den Namen Kryygi (in der Sprache der Aché die Bezeichnung für das vom Aussterben bedrohte Riesengürteltier) und wurde würdig bestattet.38 Erst knapp zwei Jahre später wurde auch der Schädel in der Berliner Charité entdeckt und im April 2012 ebenfalls den Aché zurückgegeben. 39 Lehmann-Nitsche erkannte einerseits die Möglichkeiten, Indigene auch in der Stadt zu beforschen, wie er es im Fall Damianas tat. „Sie [die Indigenen] haben sich indessen recht schnell an ihr neues Schicksal gewöhnt. Inzwischen wurden sie ins Heer, in die hier militärisch organisierte Feuerwehr oder unter die Schutzleute gesteckt und bewähren sich gut. Andere dienen als Pförtner, Hausdiener usw. Das gewöhnliche Volk macht keinen Unterschied zwischen sich und den Indianern, merkt oft gar nicht, daß es mit solchen zu tun hat. Es geht ihnen nicht besser oder schlechter als anderen. Das große Publikum, das immer gern mal Indianer sehen möchte, merkt gar nicht, daß der nächstbeste Schutzmann auf der Straße in Buenos Aires einer ist.“40

Andererseits stellte Lehmann-Nitsche auch fest, dass Indigene in vielen anderen Teilen des Landes und des Kontinents mit der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen konfrontiert waren. Im Anschluss an seine Expedition nach Jujuy 1906 schrieb er: „Angesichts der großen Schnelligkeit, mit der die indigene Bevölkerung des südamerikanischen Kontinentes vernichtet wird, muss man sich beeilen, ihren physischen Charakter zu studieren,

37 Vgl. allgemein zu Provenienzforschung und Restitution z.B. Berner et al., Sensible Sammlungen; die Arbeit des von der DFG geförderten Charité Human Remains Project bei Stoecker et al. (Hg.), Sammeln, Erforschen, Zurückgeben? und Stoecker, Knochen im Depot. Vgl. für Restitutionen in Südamerika z.B. Curtoni/Chaparro, Políticas de reparación und Endere, Cacique Inakayal. 38 Arenas/Pinedo, Damiana vuelve a los suyos; Arenas, Ahora Damiana es Krygi; Ametrano, Historia de una restitución und Colectivo GUIAS, Antropología del genicidio. 39 Vgl. Koel-Abt/Winkelmann, The Identification and Restitution of Human Remains from an Aché Girl Named “Damiana” sowie den Dokumentarfilm Damiana, Film von Alejandro Fernández Moujan (Produktion: Gema Juarez Allen (Gema Films), Argentinien 2014). 40 Lehmann-Nitsche, Märchen der argentinischen Indianer, S. 157.

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weil in nicht allzu langer Zeit exakte Untersuchungen bei vielen dieser Stämme unmöglich sein werden.“41

Dies mag erklären, warum Lehmann-Nitsche – fast wie im Wahn – darum bemüht war, möglichst viele indigene Völker, Kulturen, „Typen“ und Individuen zu erfassen, zu vermessen und zu klassifizieren und in hunderten Publikationen darüber zu berichten. (Bei der Klassifizierung und Bestimmung von Menschen bzw. bei der entsprechenden Auswertung von Fotografien unterliefen ihm allerdings zahlreiche Fehler, wie ein genauerer Blick in seinen fotografischen Nachlass bestätigt.42) Zu dieser Arbeit gehörte auch das Sammeln von fotografischem Material. Dieses produzierte Lehmann-Nitsche zum einen selbst (wie z.B. bei der Untersuchung Damianas), zum anderen ließ er es von (besseren) Fotografen anfertigen – wie z.B. im Fall der erwähnten Forschungsreise auf die Zuckerrohrpflanzung in Ledesma, Jujuy, 1906 von Carlos Bruch (1869-1943), einem deutschen Fotografen und Entomologen, der ebenfalls Mitarbeiter des Museums in La Plata war. Die meisten der auf der Reise nach Jujuy fotografierten Indigenen leisteten übrigens Zwangsarbeit auf der Plantage – wie viele andere Indigene auf weiteren nordargentinischen Zuckerplantagen auch. Fotografen und Forscher hatten deswegen und auch wegen der infrastrukturellen Anbindung einfachen Zugriff auf sie.43 Davon machten nicht nur Lehmann-Nitsche und Carlos Bruch Gebrauch. Darüber hinaus erwarb Lehmann-Nitsche Fotografien und Bildpostkarten von Fotografen in Buenos Aires und anderen Orten. Außerdem erhielt er fotografische Abzüge und Negative von Kollegen, die zu seinem Netzwerk gehörten und anderen Personen, mit denen er in Austausch stand. Ein Beispiel hierfür sind 22 Abzüge von Fotografien, die Angehörige der Guayaki zeigen, die Lehmann-Nitsche von Friedrich Christian Mayntzhusen erhielt. Der Gründer und Namensgeber der Colonia Mayntzhusen besaß in Yaguarazapa am Río Paraná, ca. 100 km von Encarnación entfernt, im südöstlichen Paraguay ausgedehnte Ländereien und stellte ethnologische und archäologische Forschungen über die dort lebenden Guayaki und Guarani an. 44 Ein offenbar von 41 „Dada la gran rapidez con que se extingue la población indígena del continente sudamericano hay que apurarse con el estudio de sus caracteres físicos, porque en tiempo no muy lejano se harán del todo imposible relevamientos exactos de muchas de estas tribus.“ Lehmann-Nitsche, Estudios antropológicos sobre los Chiriguanos, Chorotes, Matacos y Tobas, S. 53, Übersetzung von Hinnerk Onken. 42 Lehmann-Nitsche war nicht der einzige Wissenschaftler, der Fehler und Verwechslungen bei der Bestimmung von Objekten und von Motiven von Bildern beging, was Rudolf Virchow oder Paul Ehrenreich schon früher zu Kritik an ihren Kollegen veranlasst hatte. Eine vermeintliche „Apache Squaw“ stellte sich als japanischer Kuli heraus und ein vermeintlicher Kayapó aus Brasilien war tatsächlich ein Feuerwehrmann. Vgl. Hempel, Facetten der Fremdheit, S. 188-190. 43 Vgl. Gordillo, Después de los ingenios und den zeitgenössischen Bericht von Passera, Impresiones de un Viaje en Busca de los Indios de Salta. 44 Vgl. z.B. Mayntzhusen, Waren die Guaraní Anthropophagen?; ders., Los indios matacos del sudeste del Paraguay; ders., Die Sprache der Guayaki sowie seine Beiträge beim 17. ICA in Buenos Aires bei Lehmann-Nitsche (Hg.), Actas del XVII Congreso Internacional de Americanistas 1, S. 104 u. 468. Vgl. zur Vita Mayntzhusens Dietze Junghanns, Vida y obra de Friedrich Christian Mayntzhusen.

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Mayntzhusen verfasster handschriftlicher Vermerk auf der Rückseite einer der Fotografien im Nachlass Lehmann-Nitsches (Abb. 7) verdeutlicht, dass Mayntzhusen dabei Zwang ausübte und dies anderen gegenüber auch nicht verheimlichte: „,Kimira‘ mit Säugling im Lager. Die Frau entfloh später aus unserem Lager. ,Paivá‘ etwa 7 Jahre alt. Guayaki.“ Außer mit Lehmann-Nitsche war er auch mit weiteren Personen der wissenschaftlichen community in Südamerika in Kontakt (z.B. mit Uhle) und nahm beispielsweise 1910, 1912 und 1922 an den Amerikanistenkongressen in Buenos Aires, London und Rio de Janeiro teil.

Abbildungen 7a+b: Fotografie „F.C. Mayntzhusen, Yaguarazapa“, Fotograf unbekannt, um 1910, Nachlass Robert Lehmann-Nitsche, Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signatur N-0070 s 49.

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Abbildung 8: Fotografie „Aymaramädchen von etwa 10 Jahren“ von Anna Keibel, um 1910, aus Posnansky, Arthur: Aymaramädchen, in: ZfE 45:2, 1913, S. 276.

Es gibt zahlreiche weitere Beispiele für das kollegiale Teilen von Bildern sowie die mehrfache Publikation in den Arbeiten unterschiedlicher Forscher (was durch den geringen Urheberrechtsschutz erleichtert wurde). In wissenschaftlichen Aufsätzen und Monografien, aber auch in Überblickswerken, Hand- und Lehrbüchern erschienen (manchmal neben Fotos, die der Autor gemacht hatte, hatte machen lassen oder von einheimischen Fotografen gekauft hatte) Fotos von Kollegen. Die Identifizierung bereitet dabei mitunter Schwierigkeiten, weil der Bildautor nicht immer angegeben wird.45 Fotos, die Charles de la Hitte von Angehörigen der Guayaki gemacht hatte, illustrierten etwa Paul Ehrenreichs 1898 im Globus erschienenen Aufsatz Neue Mitteilungen über die Guayaki (Steinzeitmenschen) in Paraguay oder Paul F. Vogts 1902 und 1903 in der ZfE erschienene Beiträge über Material zur Ethnographie und Sprache der Guayaki-Indianer, die von Theodor Koch-Grünberg wissenschaftlich kommentiert

45 Koch-Grünberg wies darauf hin, dass „Fotos von ihm ohne Namensnennung bzw. auch ohne seine Autorisierung kopiert und publiziert wurden. Sein Fazit lautete […]: ‚Ueber solche Sachen rege ich mich nun schon grundsätzlich nicht mehr auf. Da hätte ich viel zu tun […] Sie sehen, dass man sich gegen solche Uebergriffe nicht schützen kann.‘“ Kraus, Bildungsbürger im Urwald, S. 447, Zitat aus einem Brief an Karl Weule, 31.05.1917.

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wurden, da Vogt offenbar Laie war.46 Vogt lebte in Posadas im argentinischen Misiones und kam über den argentinischen Konsul in Villa Encarnación am gegenüberliegenden Ufer des Paraná, Carlos Baumeister, in dessen Haus er offenbar verkehrte, in Kontakt mit Guayaki. In Baumeisters Haushalt lebten mehrere aller Wahrscheinlichkeit nach – genau oder ähnlich wie Damiana – geraubte Guayaki-Kinder. Es gab zahlreiche Vermittler, die dafür sorgten, dass die Bilder auf zwei Kontinenten zirkulierten. 1913 reüssierten Arthur Posnansky und erneut Hans Virchow im Rahmen zweier Diavorträge am 24. Mai (Posnansky) und am 21. Juni (Virchow) bei der Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte mit Bildern einer etwa zehnjährigen Aymara aus La Paz – beide Eltern stammten angeblich aus dem Hochland von Bolivien. Eine gewisse Anna Keibel hatte die Fotos von dem Mädchen, Epiphania Calderon Kunduri, gemacht und zumindest jene Abzüge offensichtlich Arthur Posnansky, einem in La Paz lebenden Ingenieur und Unternehmer aus Wien, der auch archäologische und andere wissenschaftliche Forschungen anstellte, überlassen. Als Posnansky 1913 nach Europa reiste, hielt er mehrere Vorträge über die Ergebnisse seiner Forschungen, u.a. eben auch bei der Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (und zwar im Februar, April und Mai). Posnanskys Vorträge und die mitgeführten Artefakte aus seiner Sammlung, Schädel und Skulpturen, begeisterten Hans Virchow, mit dem Posnansky auch die Fotos des Aymaramädchens teilte. Sicher ist es nicht zuletzt Virchows Zuspruch und Fürsprache zu verdanken, dass der Hobbyforscher aus La Paz einen fotografisch illustrierten anthropometrischen Beitrag zu Epiphania in der von der Berliner Gesellschaft herausgegebenen Zeitschrift für Ethnologie veröffentlichte (Abb. 8). 47 Was Robert Lehmann-Nitsche neben seinem Eifer, Zeugnisse des Alltags und der Populärkultur zu sammeln, von vielen Forscherkollegen unterschied, war sein Geschick, „wissenschaftliche“ Bilder auch außerhalb der Wissenschaft sichtbar zu machen und zu vermarkten. Zum einen zeigt sich das in der Zusammenarbeit mit der bonaerensischen Wochenzeitschrift Caras y Caretas, einem 1898 gegründeten illustrierten Gesellschaftsblatt, das neben Nachrichten aus den gehobenen Kreisen der Gesellschaft mit Reportagen auch über Themen wie Kriminalität, öffentliche Gesundheit oder aus anderen Wissenschaftsdisziplinen wie eben der Anthropologie und Ethnologie berichtete.48 So erschienen einige der Bilder, die Carlos Bruch auf der Expedition nach Ledesma 1906 machte, beispielsweise schon relativ bald nach der Rückkehr Bruchs und Lehmann-Nitsches in einem mehr populären denn wissenschaftlichen Bericht über die „Expedition zu den Toba“ in Caras y Caretas. Z.T. dieselben Fotos von 46 Vgl. Ehrenreich, Neue Mitteilungen über die Guayaki, S. 74 und Vogt, Material zur Ethnographie und Sprache der Guayaki-Indianer. 47 Vgl. Posnansky, Aymaramädchen. Zur Person Posnanskys s.u. mehr. Vgl. für Virchows Begeisterung die Diskussion im Anschluss an den Vortrag von Posnansky, Praehistorische Ideenschriften in Südamerika, S. 261-269 u. 269-273 sowie zu Virchows Diavortrag die Mitteilung in ZfE 45:3, 1913, S. 613. Zur Präsentationsform des Diavortrags vgl. Ruchatz, Vorträge sind Silber, Dias sind Gold. 48 Bereits von 1890 bis 1897 erschien Caras y Caretas in Montevideo, die argentinische Version wurde gegründet, als der spanische Herausgeber Eustaquio Pellicer (1859-1937) von dort nach Buenos Aires übersiedelte. Vgl. zur argentinischen Caras y Caretas Rogers, Caras y Caretas und die Dissertation von Höse, Wie die Anderen leben.

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Indigenen erschienen dann 1907 in einer anthropologischen Studie, die Lehmann-Nitsche in den Annalen des Museo de La Plata veröffentlichte und die auf den Ergebnissen der Forschungsreise, der Auswertung von Fotografien und gesammelten Daten, basierte.49 Ein weiteres Beispiel für dieses Vermarktungsgeschick wissenschaftlich genutzter Bilder ist die sehr bekannte Kollektion Boggiani, eine Bildpostkartenserie, die Lehmann-Nitsche 1904 in Zusammenarbeit mit dem bonaerensischen Verleger Rosauer herausgab.50 Dabei handelte es sich um eine Serie mit Motiven von Fotografien, die der italienische Maler, Fotograf, Abenteurer und (Laien-)Ethnologe Guido Boggiani (1861-1902) v.a. im paraguayischen Chaco aufgenommen hatte. Der aus Omegna im Piemont stammende Boggiani war in Mailand zum Maler ausgebildet worden und hatte in den 1880er Jahren erfolgreiche Ausstellungen in Rom und Venedig. Sechsundzwanzigjährig reiste er 1887 nach Argentinien, um dort ebenfalls auszustellen. In Buenos Aires machte er Bekanntschaft mit Angehörigen der italienischen community in Paraguay. 1888 ging er nach Asunción, zunächst in der Absicht, einen Vieh-, Fell- und Häutehandel aufzuziehen. Bald jedoch begab er sich auf Expeditions- und Forschungsreise in den Gran Chaco, einer damals von Weißen und Mestizen kaum und noch immer dünn besiedelten Tieflandregion im nördlichen Argentinien, westlichen Paraguay, südöstlichen Bolivien und Teilen des brasilianischen Mato Grosso. Der Chaco war eine frontier-Region, in der, so die allgemeine Vorstellung, wilde, barbarische Indigene Zivilisation und Siedler bekämpften.51 Im Anschluss an die sogenannte „Eroberung der 49 Vgl. Lehmann-Nitsche, Estudios antropológicos sobre los Chiriguanos, Chorotes, Matacos y Tobas und Unbekannt, Excursión á los indios tobas. Vgl. dazu auch ausführlich Reinert, Indianerbilder sowie den Briefwechsel Lehmann-Nitsches mit der Redaktion, Nachlass Robert Lehmann-Nitsche, Ibero-Amerikanisches Instituts – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signatur N-0070 b 905. 50 Vgl. Lehmann-Nitsche (Hg.), Die Sammlung Boggiani von Indianertypen aus dem centralen Südamerika sowie auch Reinert, Bilder aus der Ferne. 51 Vgl. z.B. Rodríguez Mir, El Chaco argentino como región fronteriza; Dalla-Corte Caballero/ Recalde, La conquista y ocupación de la frontera del Chaco; Gordillo, El Gran Chaco en la historia de la antropología argentina; ders., Places and Academic Disputes; ders., The Void: Invisible Ruins und Chesterton, The Grandchildren of Solano López sowie die bildhistorischen und wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten von Giordano, Discurso e imagen sobre el indígena chaqueño und dies., Fotografía y Ciencia Antropológica en el Gran Chaco. Für die lange Geschichte dieses Bildes vgl. Odone C., Sobre la visualidad del Chaco. Zum Thema der frontier in Lateinamerika vgl. Geiger, Frontier Encounters; Weber/ Rausch (Hg.), Where Cultures Meet; Navarro Flora, El desierto y la cuestión del territorio sowie zur Kolonialzeit Turner Bushnell, Gates, Patterns, and Peripheries und Guy/Sheridan (Hg.), Contested Ground. Beispielhaft sind die Arbeiten von Jane M. Rausch zu den Llanos Orientales in Kolumbien in der longue durée, vgl. Rausch, A Tropical Plains Frontier; dies., The Llanos Frontier in Columbian History und dies., Territorial Rule in Columbia. Vgl. außerdem LeGrand, Frontier Expansion and Peasant Protest in Colombia. Die Anwendbarkeit des Konzeptes der frontier nach Frederick Jackson Turner (1861-1932) auf Lateinamerika im 19. und 20. Jahrhundert ist allerdings spätestens seit Víctor Andrés Belaúndes (1883-1966) Kritik daran und bis heute hoch umstritten. Vgl. Belaúnde, The Frontier in Hispanic America. Zur sog. conquista del desierto und zu weiteren Eroberungskriegen s. ausführlich Kap. 3.

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Wüste“ (conquista del desierto, 1878-1885), einen Feldzug der argentinischen Armee gegen indigene Gruppen wie v.a. die Tehuelche und Mapuche, der das von der Regierung beanspruchte Territorium in der Pampa und in Patagonien unter ihre militärische, wirtschaftliche und administrative Kontrolle brachte, führte die Armee bis in die zweite Dekade des 20. Jahrhunderts ähnliche Eroberungsfeldzüge im Norden durch. Ziel war auch hier, das beanspruchte Territorium, um das es noch sehr viel später Auseinandersetzungen mit Paraguay gab, unter Kontrolle zu bringen. Die Besiedelung des Chaco durch Weiße und Mestizen erfolgte aber nur in sehr geringem Ausmaß und um die Jahrhundertwende gab es noch zahlreiche, meist nomadisch lebende indigene Gruppen (wie z.B. die Chamacoco, Toba, Chiriguano oder andere Guaraní-Gruppen), die mehrheitlich als kriegerisch und den Weißen, Zivilisation und Fortschritt feindlich gesinnt angesehen wurden. Noch in den 1920er und 1930er Jahren galt dieses Gebiet als „wild“ und das „Indianerland“ und seine indigenen Bewohner waren Ziele ethnologischer, anthropologischer und anderer wissenschaftlicher Expeditionen, durchgeführt z.B., wie erwähnt, 1924 von Lehmann-Nitsche oder später von Hans Krieg, einem deutschen Ethnologen und Zoologen.52 Auch der Ethnologe Herbert Baldus (1899-1970) forschte im Chaco.53 Auch Boggiani war von diesen Indigenen und ihrer Umwelt fasziniert. Nachdem er von seiner Reise in den Chaco, während der er in Kontakt mit Indigenen kam, zurückgekehrt war, reiste Boggiani 1893, anthropologische und ethnologische Artefakte im Gepäck, für einige Jahre zurück nach Italien. Dort begann er, Arbeiten über seine Erlebnisse und die Ergebnisse seiner Forschungen zu verfassen. 1896 kehrte er nach Asunción zurück und bereiste erneut den Chaco, diesmal ausgerüstet mit einer Kamera, Glasplatten und weiterem fotografischem Material. Zwischen 1896 und 1901 entstanden mehrere Hundert Fotografien von Indigenen, ihren Lebensumständen und ihrer Kultur. Ende 1902 wurde in mehreren Zeitschriften berichtet, Boggiani sei während seiner Reise, zu der er im Oktober 1901 aufgebrochen war, im Chaco von Indigenen, eventuell von Toba, so wurde gemutmaßt, getötet worden.54 Tatsächlich waren es wohl Chamacoco, die ihn enthaupteten, angeblich aus Aberglauben, dass der Fotograf ihnen mit seiner Kamera Schaden zugefügt habe. Zwar hatte Boggiani eine Zeit unter den Chamacoco gelebt und offenbar auch ein gutes Verhältnis zu ihnen; vielleicht wurde ihm aber genau das zum Verhängnis (oder trug zumindest zu seinem Verhängnis bei): Zuvor hatten die Indigenen noch keinen Weißen unter sich toleriert und eventuell machten sie sich Sorgen über seinen wachsenden Einfluss auf ihre Gemeinschaft. Erst rund zwei Jahre später, Ende 1904, konnte eine von der italienischen community in Asunción organisierte und vom spanischen Abenteurer José Fernández Cancio (1870-

52 Vgl. z.B. Krieg, Indianerland; ders., Geographische Übersicht und illustrierter Routenbericht und ders., Chaco-Indianer. S.u., am Ende des Kapitels, im Zusammenhang mit zoologischen Bildern mehr zu Krieg, seinen Expeditionen und den von ihm vermittelten Bildern. Für eine frühere Chaco-Expedition vgl. z.B. Rohde, Die Expedition des General Victoria. 53 Vgl. Baldus, Indianerstudien im nordöstlichen Chaco. Baldus war ein Schüler von Konrad Theodor Preuss und Walter Lehmann (1878-1939). 54 Unbekannt, Guido Boggiani; Unbekannt, La trágica muerte del artista Boggiani; KochGrünberg, Guido Boggiani, ein neues Opfer des Gran Chaco und Lehmann-Nitsche, Nähere Nachrichten über die Ermordung.

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1959) angeführte Expedition die Überreste Boggianis bergen. 55 Auch seine Kamera wurde gefunden; sie war vergraben worden. Weiteres fotografisches Material von Boggiani, inklusive vieler Negative, die ebenfalls z.T. vergraben worden waren, konnte später vom tschechischen Ethnologen und Botaniker Alberto Vojtěch Frič (1882-1944) gerettet werden.56 Zwei Jahre nach dem Tod des Italieners publizierte Lehmann-Nitsche die Kollektion Boggiani mit 114 Bildpostkarten,57 die der Verleger Rosauer im Deutschen Reich drucken ließ. Lehmann-Nitsche betonte die Vorteile dieser Form der Veröffentlichung: „Nun noch einige Worte, warum die Veröffentlichung auf kleinen losen Tafeln in Oktavformat (ohne weissen Rand) erfolgt, von denen jede nur ein Bild wiedergibt. Als anthropologischen Atlas denkt man sich ja ein grosses gebundenes Buch mindestens in Quart, alle Tafeln mit einem breiten weissen Rande, die man nur in seltenen Fällen herausnehmen und nebeneinander, das Zusammengehörende zusammen, ausbreiten kann, und doch ist dies gerade für ein wirkliches Studium von grösster Wichtigkeit. Das kann man mit losen Tafeln ohne weissen Rand bequem erreichen. Die event. Anordnung unter Glas und Rahmen für Lehrzwecke und zur Ausstellung in öffentlichen Sammlungen, ohne dass übermässig viel Platz verbraucht wird und die Einordnung neu zugekommenen Materials ist damit ohne weiteres ermöglicht. Zur praktischen Unterbringung eines grösseren anthropologischen Bildermaterials empfehlen sich übrigens in Mappen aufzubewahrende nicht zu dicke Kartons von indifferenter grauer oder hellbrauner Farbe, etwa in der Grösse 60:75 cm, in welche die unaufgezogenen Photographieen oder Lichtdrucke usw. eines bestimmten Stammes mit den vier Ecken in kleine Einschnitte festgesteckt werden. Bei Zuwachs ist dann ein Umstecken und Einordnen sehr leicht und falls nötig kann der sowieso nicht teuere Karton erneuert werden. So ist die Sammlung fortwährend geordnet, das Zusammengehörige beisammen und auf einer grösseren Fläche dem Auge zur bequemen Auf- und Zusammenfassung dargeboten. Viel leichter kann es so mit einem Blick die charakteristischen gemeinsamen Merkmale und Unterschiede erfassen ohne zu ermüden.“ 58 55 Vgl. Lehmann-Nitsche, Über die letzten Schicksale und insgesamt zur Vita Boggianis Contreras Roqué, Guido Boggiani (1861-1901); Bonati, Guido Boggiani: orme nell'ignoto; Giordano, De Boggiani a Métraux; dies., Las múltiples facetas de Guido Boggiani sowie ganz knapp dies., El hombre de la cámara und Conde, Las expediciones científicas y los indios de Brasil. Der Spanier Fernández Cancio hatte Erfahrung mit solchen Unternehmungen: Er hatte bereits 1900 die Überreste des verschollenen baskischen Forschers Pedro Enrique de Ibarreta y Uhagon (1859-1899) im Chaco gefunden. 56 Dessen Enkel, Pavel Frič, gelang es, die Bilder zu entwickeln. Vgl. Frič/Fričová, Guido Boggiani. Zu Alberto Vojtěch Frič vgl. Ritz-Deutch, Alberto Vojtěch Frič. 57 Die Ausgabe aus dem Nachlass Robert Lehmann-Nitsche, Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz in Berlin, Signatur N-0070 s 42, umfasst allerdings nur 112 Karten (100 + 12 im Supplement). In einer Ankündigung Lehmann-Nitsches in der ZfE von 1904 sowie in einer Rezension, die 1905 im American Anthropologist erschien, ist jedoch von 114 Postkarten (100 + 14 im Supplement) die Rede. Laut Angaben der bibliografischen Datenbank WorldCat gibt es Ausgaben mit 114 Karten in der Bibliothèque nationale de France, in der Tozzer Library der Harvard University und in der Dibam Biblioteca Nacional de Chile. 58 Lehmann-Nitsche, Sammlung Boggiani von Indianertypen, S. 884-885. Das Zitat findet sich fast identisch in Lehmann-Nitsches Vorwort zur Sammlung.

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Bis auf ein Porträt von Boggiani selbst handelte es sich um nach Ethnien sortierte, nummerierte und mit kurzen Bildunterschriften versehene Reproduktionen von Fotografien, die Boggiani zwischen 1896 und 1901 von Indigenen, Männern, Frauen und Kindern, v.a. im Chaco aufgenommen hatte. Die Bilder zeigen mehrheitlich Einzelporträts sowie einige Doppelporträts und Gruppenaufnahmen. 14 der Bildpostkarten gehören einem Supplement an, das offenbar in erster Linie Wissenschaftlern zugänglich sein sollte: Sie zeigen „den entblössten Körper“, Nacktbilder von Indigenen, auf denen auch primäre Geschlechtsorgane zu sehen sind (weibliche Brüste z.B. waren auch auf anderen Bildern zu sehen) und konnten deswegen „nicht an ein grösseres Publikum in Buenos Aires verkauft werden“. Lehmann-Nitsche sorgte aber dafür, dass „durch Bezeichnung dieser 14 Supplementtafeln mit Ziffern und Buchstaben [… diese] ohne weiteres in die Hauptserie eingereiht werden [können], ohne dass hier eine Störung in der fortlaufenden Nummerierung einträte.“59 Der anthropologisch-ethnografische Atlas, den Boggiani noch selbst geplant habe, wie Lehmann-Nitsche in seiner Ankündigung in der ZfE berichtete,60 wurde von einem Großteil der Fachwelt der Anthropologen und Ethnologen gefeiert: „Dr Lehmann-Nitsche has both performed a pious deed and benefit anthropology by editing this collection“, pries der Anthropologe Alexander Francis Chamberlain (1865-1914) in seiner Besprechung im American Anthropologist.61 So ist die Kollektion Boggiani (wenn auch nicht immer komplett) Bestandteil zahlreicher institutioneller wie persönlicher völkerkundlicher Sammlungen, wie z.B. der des Ethnologischen Museums in Berlin, der des Rijksmuseum voor Volkenkunde in Leiden oder auch der im Nachlass des italienischen Arztes Stefano Cavazzuttis im Museo Ravennate di Scienze Naturali „Alfredo Brandolini“ in Ravenna.62 Die große und anhaltende Wirkung der Publikation wird auch darin deutlich, dass Georg Buschan Bilder aus der Kollektion Boggiani noch mehr als zwanzig Jahre nach ihrem Erscheinen im Bildteil seines 1927 erschienenen dreibändigen völkerkundlich-sexualwissenschaftlichen Werkes Im Anfang war das 59 Lehmann-Nitsche, Sammlung Boggiani von Indianertypen, S. 883. Zitate zuvor ebd. 60 Boggiani habe ihm die Bilder gezeigt und von dem Vorhaben berichtet, bevor er wieder in die Wildnis aufgebrochen sei. „Nachdem hinsichtlich Boggianis Tod kein Zweifel mehr bestand, machte ich mich daran, den Verbleib der photographischen Platten zu ermitteln, welche, wie ich wusste, Boggiani in Buenos Aires gelassen hatte, um seinen Wunsch zu erfüllen, sie als anthropologischen Atlas herauszugeben. Da ein genauer Katalog von seiner eigenen Hand ebenfalls existierte, war betreffs der nötigen Angaben kein Zweifel vorhanden.“ Lehmann-Nitsche, Sammlung Boggiani von Indianertypen, S. 883. 61 Chamberlain, Review La Coleccion Boggiani, S. 326. 62 Diese Ausgaben sind digitalisiert worden und können online recherchiert bzw. eingesehen werden auf den Seiten des Ethnologischen Museums in Berlin, http://www.smb-digital.de/e MuseumPlus [26.08.2018] und des Museum Volkenkunde in Leiden, http://www.geheugenv annederland.nl/?/en/collecties/antropologische_fotografie [26.08.2018]. Die Digitalisate aus dem Nachlass Cavazzuttis finden sich auf den Seiten der Società di Ricerca e Studio della Romagna Mineraria, http://www.miniereromagna.it/Cavazzutti/index.htm [26.08.2018]. Ebenfalls digitalisiert und online verfügbar gemacht wurde die Ausgabe (100 Karten ohne Supplement) im Nachlass der Therese von Bayern in der Bayerischen Staatsbibliothek in München, Thereseana 63, http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0009/bsb00091698/ima ges/ [26.08.2018].

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Weib verwendete.63 Außer den Bildern von Boggiani gibt es unter den etwa 350 Abbildungen nur sehr wenige weitere Bilder aus Südamerika: ein Foto zweier „YaghanMädchen“, die Reproduktion eines alten Stiches und ein Foto von peruanischen Keramiken aus dem Museum für Völkerkunde zu Berlin.64 Dabei wirken viele der Bilder aus heutiger Sicht nicht besonders wissenschaftlich und tatsächlich war Boggiani von seiner Ausbildung her ja Künstler und als Wissenschaftler nur ein Laie, der aus Berufung Forschungen auf eigene Faust anstellte. Die nachfolgend abgebildete und weitere Bildpostkarten von weiblichen Indigenen aus der Kollektion Boggiani (Abb. 9) entsprechen ebenso wenig den Vorgaben des zeitgenössischen epistemischen Systems wie manche Repräsentationen von männlichen Indigenen (Abb. 82), die starke Ähnlichkeit mit pictorialistischen Bildern haben.65 Im Vorwort der Kollektion und in der ZfE versuchte Lehmann-Nitsche, ob aus Überzeugung oder zur Verschleierung kommerzieller Interessen kann nicht geklärt werden, letztlich jedenfalls sehr erfolgreich, dieses als Vorteil gegenüber anderen Bildern herauszustellen: „Die Aufnahmen sind nicht nach den m. E. mit Recht herrschenden anthropologischen Prinzipien gemacht worden; hiernach soll ja das zu photographierende Individuum, handle es sich um Brustbild wie um den ganzen Körper, in straffer Haltung, in mathematischer Stellung nach vorne, von der Seite und von hinten in gleichem Masstabe (1:12,5; 1:10; 1:7 usw.) aufgenommen werden und Bertillon hat für sein System die anzuwendende photographische maschinelle Technik ersonnen und in unübertroffener Vollendung ausgearbeitet, ohne dass leider seine Methode für die wissenschaftliche Anthropologie bis jetzt angewandt worden wäre. In Boggianis Sammlung sind derartige Aufnahmen wenig vertreten. Dafür aber kommt ein anderes Prinzip, das künstlerische, zur Geltung; man sieht den danach aufgenommenen Photographien sofort an, dass sie von einem bedeutenden Maler gemacht worden sind. Bei manchen Aufnahmen ist das künstlerische Prinzip ausschliesslich Ausschlag gebend gewesen; man vergleiche z.B. die schönen Bilder Nr. 61-62, das junge Mädchen am Wasser mit dem Zweig in der Hand, oder Nr. 63-64, ein junges Ding lachend vor dem Vorhang, oder den übers ganze Gesicht lachenden Millet (Nr. 45) oder die verschiedenen Aufnahmen der Túgulè (Nr. 65-70). Wie starr muten dagegen solchen lebenstrotzenden natürlichen Photographien gegenüber mehr oder weniger streng ‚anthropologische‘ Aufnahmen an, wie wir sie eben charakterisiert haben […]! Wer weiss, ob nicht das durch Boggiani zum mindesten für Südamerika zum ersten Male befolgte künstlerische Prinzip bei anthropologischen Photographien, wie es in der vorliegenden Sammlung zum Ausdruck kommt, der Anthropologie und speziell der anthropologischen Photographie ganz neue Fingerzeige geben wird!“ 66 63 Vgl. Buschan, Im Anfang war das Weib 3, S. 73, 74, 101, 102, 142, 143 u. 164. Das Chamacoco-Paar „Ióata“ und „Nozzáe“ von der Bildpostkarte No. 51 gibt Buschan allerdings als „Tschamocco-Indianerinnen (Mutter und Tochter)“ wieder. Ebd., S. 164. 64 Vgl. Buschan, Im Anfang war das Weib 3, S. 163, 176 u. 182. Die Motive stammen ansonsten vorwiegend aus Afrika, Asien, der Südsee und Europa. 65 Der Pictorialismus oder auch Piktoralismus war eine ästhetische Strömung der Kunstfotografie, deren Blütezeit zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg lag. Vgl. knapp Schlegel, Pictorialism und Marien, Photography: A Cultural History, S. 173204. Vgl. für ein weiteres Beispiel wissenschaftlicher Nutzung von pictorialistischen Bildern Waldroup, Ethnographic Pictorialism. 66 Lehmann-Nitsche, Sammlung Boggiani von Indianertypen, S. 884.

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Abbildung 9: Bildpostkarte „India Chamacoco, ‚Túgulè‘, Puerto 14 de Mayo“, Nr. 66 der Kollektion Boggiani, hg. v. Robert Lehmann-Nitsche, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, 1904, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E 1487. Vgl. auch die Bildpostkarten „Indias Chamacocos, ‚Túgulè‘ und ,Uguchéta‘, Puerto 14 de Mayo“, Nr. 65 und 88 der Kollektion Boggiani, hg. v. Robert LehmannNitsche, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, 1904, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E 1486 und ohne Ident.Nr. Insgesamt wirken diese Bilder nicht besonders wissenschaftlich, die Posen Túgulès und Uguchétas sind solche zeitgenössisch „künstlerischer“ Inszenierung.

Aber unabhängig von der Intention, mit der die Bilder aufgenommen wurden, und ihrer Machart ist im Sinne der vorliegenden Arbeit festzuhalten, dass die Bilder der Kollektion Boggiani und andere nicht nach wissenschaftlichen Maßstäben produzierte Bilder, von wissenschaftlichem Interesse waren (oder sein konnten) und entsprechend betrachtet wurden. Sie ließen sich in das epistemische System einfügen. Weitere Beispiele solcher in erster Linie anthropologisch und ethnografisch/ethnologisch genutzter Fotos und Bildpostkarten finden sich in vielen Nachlässen von Forschern oder auch im Bestand des Ethnologischen Museums in Berlin (s.u. z.B. Abb. 14). Gerade das visuelle Medium der Bildpostkarte transzendierte dabei die Grenzen zwischen wissenschaftlichem und populärkulturellem bzw. nicht-wissenschaftlichem sowie zwischen öffentlichem und privatem Gebrauch. Bildpostkarten waren Bestandteile wissenschaftlicher Sammlungen von Museen und von Forschern wie LehmannNitsche und Max Uhle.67 Ein weiteres Beispiel ist der italienische Arzt Stefano Cavazzutti. Der 1845 in Alfonsine bei Ravenna geborene Cavazzutti emigrierte 1888 nach Santa Fe in Argentinien. Später übersiedelte er nach La Plata, wo er das 1903 ge67 Vgl. im Nachlass Max Uhle, Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, besonders die Signaturen N-0035 s 16 und N-0035 s 17 sowie im Nachlass Robert Lehmann-Nitsche, Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, besonders die Signaturen N-0070 s 22 bis N-0070 s 43.

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gründete Krankenhaus „Umberto I“ leitete. Bis zu seinem Tod 1924 sammelte Cavazzutti ethnografisches Material, darunter auch hunderte Bildpostkarten mit Motiven aus Argentinien, Paraguay und Brasilien, die er teilweise schon zu Lebzeiten seiner Heimatstadt zur Einrichtung eines ethnografischen Museums vermachte und die heute im Museo Ravennate di Scienze Naturali „Alfredo Brandolini“ archiviert sind.68 Viele Forscher sammelten – zu wissenschaftlichen Zwecken oder zur privaten Erinnerung – Bildpostkarten aber nicht nur, sie nutzten sie auch zur Korrespondenz mit Familie, Freunden und Kollegen. Das gilt beispielsweise für Lehmann-Nitsche, der ohnehin eine Affinität zu diesem Medium hatte und schon vor dem Erscheinen der Kollektion Boggiani Bildpostkarten mit eigenen fotografischen Motiven, etwa von seiner Expedition nach Feuerland (1902), bei Rosauer verlegen ließ. Es gilt auch für Max Uhle, dessen Nachlass nicht nur zahlreiche unbeschriebene, also vermutlich zumeist von ihm selbst erworbene Bildpostkarten enthält, sondern auch solche, die ihm von anderen Wissenschaftlern, wie etwa Alphons Stübel, gesandt wurden.69 Gerade diese Ambivalenz, die große Bandbreite möglicher Nutzungen von Bildpostkarten wie denen aus der Kollektion Boggiani war ein wesentlicher Grund für ihre Popularität und den offenbar daraus resultierenden kommerziellen Erfolg. Dieser lässt sich aus der Tatsache ableiten, dass viele Motive mehrfach aufgelegt wurden. Rosauer selbst legte nach 1905, wie sich aus den geteilten Adressseiten ergibt, einige der Motive der Kollektion Boggiani wie z.B. Nr. 42, „Indio Chamacoco ‚Millet‘, Puerto 14 de Mayo“, Nr. 54 „India Chamacoco, ‚Tásiga‘, Puerto 14 de Mayo“ (Abb. 10) oder Nr. 62, „India Chamacoco ‚Pórde‘, Puerto 14 de Mayo“ neu auf.70 Einige Motive, wie z.B. das der „Tásiga“, gab Rosauer auch in kolorierten Versionen heraus. Für den Be68 Vgl. Museo Ravennate di Scienze Naturali „Alfredo Brandolini“, Fondo Cavazzutti, 2007, http://natura.racine.ra.it/cavazzutti_vita.htm [26.08.2018]. 69 Vgl. Stübels Postkarten im Nachlass Max Uhle, Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signatur N-0035 b 349 sowie weitere Postkarten dort unter den Signaturen N-0035 s 16 und N-0035 s 17. Eine detaillierte Auflistung der Postkartenkorrespondenz findet sich auch auf der Website Der Nachlass von Max Uhle im Ibero-Amerikanischen Institut, http://www.iai.spk-berlin.de/nachlass/uhle/ [26.08.2018]. Vgl. weiterhin die Bildpostkarte „Indios Yagan, Isla Bertrand. Archipielago Fuegino, Rep. Argentina“, Fotografie: Robert Lehmann-Nitsche, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, nach 1902, Nachlass Robert Lehmann-Nitsche, Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signatur N 0070 s 37. Interessant ist die Diskrepanz zwischen dem Motiv, den indigenen Bewohnern der kalten Insel Bertrand des Feuerlandarchipels, und der Textnachricht: „Beste Grüsse! Es ist scheusslich heiss! Robert“ Es ist gut möglich, dass Lehmann-Nitsche hier bewusst auf den Witz abzielte. Vgl. das Originalbild und weitere Aufnahmen von der Reise aus dem Nachlass Lehmann-Nitsches, die im Zuge der Digitalisierung von Glasplattennegativen online zugänglich gemacht wurden: Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Nachlass [Glasplattensammlung], Robert Lehmann-Nitsche, Reise nach Feuerland: Landschaftsfotografien, Ortsansichten, anthropologische Porträts, http://resolver.iai.spk-berlin.de/IAI00004B9C00070000 [26.08.2018]. 70 Vgl. die Bildpostkarten im Bestand des Ethnologischen Museums Berlin, Ident.Nr. VIII E 1463 („Millet“ 1904) und VIII E Nls 74 („Millet“ nach 1905), VIII E Nls 376 (Pórde 1904) und VIII E Nls 79 („Pórde“ nach 1905) sowie im Internet unter http://www.smb-digital.de/e MuseumPlus [26.08.2018].

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trachter erhöhte die Koloration die durch das Medium der Fotografie ohnehin gegebene Authentizität des Bildes, da das Ganze noch „lebensechter“ wirkte. 71 Aber auch andere Verleger bedienten sich offenbar der Motive – auf den fehlenden Rechtsschutz wurde bereits in der Einleitung hingewiesen – und gaben sie in eigenen Auflagen heraus (auch das lässt auf die Popularität und die Einträglichkeit der Bilder schließen). Viele Bildpostkarten mit Motiven aus der Kollektion Boggiani im Bestand des Ethnologischen Museums in Berlin sind offenbar Kopien und stammen nicht aus dem Verlag Rosauers (Abb. 11), der von ihm herausgegebene Karten in der Regel kenntlich machte.72

Abbildungen 10 und 11: Bildpostkarten „India Chamacoco, ‚Tásiga‘, Puerto 14 de Mayo“, Nr. 54 der Kollektion Boggiani, hg. v. Robert Lehmann-Nitsche, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, 1904, ungelaufen; spätere Auflage in schwarz-weiß, Verlag unbekannt, Argentinien (?), nach 1905, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E 1475 und VIII E Nls 75.

Die sammlerische Tätigkeit Lehmann-Nitsches und anderer Forscher für Museen, Universitäten und andere Einrichtungen (und für sich selbst) war ein originärer Akt des Ordnens und des Klassifizierens. Tatsächlich führte Lehmann-Nitsche sogar „ein 71 Vgl. Jäger, Bilder aus Afrika vor 1918, S. 134 sowie die kolorierte Bildpostkarte „India Chamacoco, ‚Tásiga‘, Puerto 14 de Mayo, Chaco“, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, nach 1905, ungelaufen, Sammlung Stefano Cavazzutti im Museo Ravennate di Scienze Naturali „Alfredo Brandolini“, digitalisiert http://www.miniereromagna.it/Cavazzutti/index.htm [26. 08.2018]. In der Sammlung Cavazzutti finden sich noch weitere kolorierte Bildpostkarten aus dem Hause Rosauer mit Motiven der Kollektion Boggiani. 72 Vgl. die Bildpostkarten im Bestand des Ethnologischen Museums Berlin, Ident.Nr. VIII E Nls 72, VIII E Nls 73, VIII E Nls 75, VIII E Nls 76, VIII E Nls 78.

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neues Ordnungsschema für die Sammlungen [des Museo de La Plata] ein, das die geographischen und politischen Regionen der jungen argentinischen Republik miteinander verband.“73 Dieses Prinzip galt lange als Norm für den Aufbau anthropologischer und archäologischer Sammlungen in argentinischen Museen.74 Der Akt des Sammelns ist eine Art der Aneignung von Objekten, Jens Andermann schreibt von ihrer Kolonisierung. Er setzt die Ausstellungspraxis des Museums in Beziehung zu gewaltsamen Eroberungen wie etwa der später ausführlich zu behandelnden sogenannten conquista del desierto und zeigt, dass die Dichotomie zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen Herrscher und Beherrschtem, Weißen und Indigenen, Betrachtern und Objekten sich im Museum manifestiert.75 Und tatsächlich war das Museum ein Ort der Bedrohung und Gewalt: Indigene wurden in Kooperation mit der Polizei dorthin verbracht, um untersucht, vermessen und fotografiert zu werden. Es gab sogar gefangene Indigene, die in den Räumen des Museums ausgestellt wurden und dort in „typischer“ Kleidung bei der Ausübung „typischer“ Tätigkeiten betrachtet werden konnten. (Als sie starben, wurden die Leichname präpariert und weiter im Museum ausgestellt.) 76 So wurden Indigene einerseits als wild und gefährlich inszeniert, andererseits aber auch als rückständig, unterlegen und besiegt oder gezähmt. Diese Inszenierung der Alterität erfolgte in Argentinien und nicht nur dort schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch fotografisch.77 Ein sehr instruktives Bild zeigt Lehmann-Nitsche bei der Arbeit im Chaco: Er reicht einem Indigenen mehrere Gegenstände an, die offenbar im Bild, das von ihm gemacht werden soll, zu sehen sein sollen, damit dieses authentischer wirkt. 78

73 Hoffmann/Wolff, Ethnologie Argentiniens und internationale Wissenszirkulation, S. 314. 74 Vgl. Podgorny, Robert Lehmann-Nitsche. 75 Vgl. Andermann, The Optic of the State, S. 45-57, bes. S. 52 und zum Museum als Ort der Gewalt und Bedrohung bes. S. 57 sowie zu den „kolonisierten Objekten“ S. 14. Vgl. dazu auch Stoler, Along the Archival Grain und knapper dies., Colonial Archives and the Arts of Governance. Stoler argumentiert, dass in kolonialen Archiven Wissen nicht nur gesammelt, sondern eben auch produziert worden sei. 76 Vgl. Endere, Cacique Inakayal. 77 Vgl. für Argentinien z.B. Penhos, Frente y perfil; Reinert, Das Antlitz der Anderen oder die zahlreichen Arbeiten von Masotta und weiter z.B. Bayerdörfer et al. (Hg.), Bilder des Fremden sowie die Untersuchung zu Porträtfotografien von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen von Giordano/Méndez, El retrato fotográfico en Latinoamérica. 78 Vgl. Hoffmann/Wolff, Ethnologie Argentiniens und internationale Wissenszirkulation, S. 315. Vgl. außerdem inszenierte Aufnahmen von „Vermessungen“, auf denen z.T. auch Lehmann-Nitsche zu sehen ist, im Nachlass Hans Steffen, Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signatur N-0081 s 58. Meine Kollegin Kathrin Reinert hat bei Recherchen im Archiv des Museo de La Plata zwei weitere Glasplattennegative ausfindig gemacht, von denen eines zeigt, wie Lehmann-Nitsche seine ethnografischen Objekte ausrichtete, damit sie authentisch wirken. Das andere Bild zeigt Lehmann-Nitsche, wie er einer indigenen Frau mit Zigarette im Mund Feuer gibt. Vgl. Museo de La Plata, Departamento de Arqueología, Colección fotográfica, Sección Antropología, Inventar-Nr. 002-009-0003 und 002-009-0005. Alle drei Fotos zeigen, dass es hinter der Ebene des Fotos, auf dem die Indigenen ethnografisch abgebildet werden, eine Arbeitsebene gibt und dass diese Arbeitsebene auch durchaus freundliche, sogar kameradschaftliche

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Zum Arrangement von anthropologischen und ethnografischen Fotos gehörte auch, dass Angehörige der abzubildenden und in der Regel indigenen Gruppen für das Posieren für die Fotografie eine Gegenleistung, in den meisten Fällen finanzielle Entlohnung, verlangten. Der Auswanderer Hans Schmidt konnte, da er sich weigerte, die geforderten zehn Pesos zu bezahlen, seinen Abenteuerbericht Meine Jagd nach dem Glück in Argentinien und Paraguay nicht mit den erhofften und von den Lesern erwarteten „authentischen“ Bildern von den „wilden“ indigenen Bewohnern des Chaco illustrieren. Stattdessen konnte er nur Fotografien zeigen, auf denen die Indigenen vor ihren Hütten dem Fotografen den Rücken zukehrten (Abb. 12). Auch der in der Einleitung erwähnte Auswanderer und Abenteurer Franz Donat beschrieb, dass Fotos von Indigenen gestellt wurden, dass diese ihre Kleidung für das Foto ablegten und dafür bezahlt wurden.79 Unter den Forschern stellt Erland Nordenskiöld diesbezüglich jedoch eine ehrliche Ausnahme dar: In der Bildunterschrift zu einer Fotografie, die sein Buch Indianerleben illustriert (Abb. 13), bemerkt er: „Junge Chanéfrau entblößt den Oberkörper, um sich photographieren zu lassen.“ Anderen Forschern und Fotografen wäre vermutlich eher daran gelegen gewesen, den Eindruck zu erwecken, die „primitiven Wilden“ liefen immer halbnackt herum. Die Inszenierung von Indigenen gipfelte in Studiofotografien von vermeintlich echten, wilden, spärlich bekleideten, exotischen Indigenen vor vermeintlich natürlicher Kulisse, die aus heutiger Sicht fast albern zu nennen sind (Abb. 14). Da aber auch dieses und ähnliche Bilder zumindest von manchen Zeitgenossen für authentisch gehalten wurden, weil es sich eben um Fotografien handelte, die, wie in der Einleitung beschrieben, für „Echtheit“ bürgten, können sie als „genuine fakes“ gelten. Der Tourismusforscher David Brown bezeichnet als solche Symbole, seien es Stätten, Objekte oder auch menschliche Akteure, die dem (touristischen) Besucher – oder im vorliegenden Fall dem Betrachter – ein starkes Gefühl von Authentizität vermitteln, auch wenn es sich um Fälschungen, Imitationen oder Repliken handelt. Als Beispiel führt Brown den Peace Park in Hiroshima mit dem rekonstruierten Atomic Bomb Dome, einer Replik, die seit 1996 sogar UNESCO-Weltkulturerbe ist, an. „[T]here is no mistaking in the awesomeness of the Hiroshima site. Some of the attendants are (or were) themselves survivors of the bomb. While it has a fake at its centre, then, the site nevertheless arouses deep and genuine feelings. It is what I’m calling here ‚a genuine fake‘. […] I need hardly add that Hiroshima is not unique in that respect. One is reminded of the sacred remains of certain Catholic saints – and the Protestant claim that they include sufficient bones to make up several skeletons of each. Maybe. Another example is the Finnish tree stump on which Lenin allegedly sat while awaiting the call from Moscow which used to be (if it is no longer) on the tourist circuit. The tree is particularly interesting because it is so obviously recently cut, i.e. so obviously a fake that one has to suppose collusion between the presenters of the attraction and those who visit it. The genuine fake is not just the object itself but the relationship between visitors and presenters which the object mediates […].“80 Züge annehmen konnte. Es handelt sich um Fotos über das Fotografieren, analog zum beliebten Sujet des „Film im Film“ oder zum Schreiben über das Schreiben. 79 Vgl. Donat, An Lagerfeuern deutscher Vagabunden, S. 50. Der Verkauf von Waffen oder Töpferwaren an Forscher sei eine weitere Einnahmequelle, so Donat ebd. 80 Brown, Genuine Fakes, S. 33-34.

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Abbildung 12: Fotografien „40 und 41: Tolderia (Siedelung) wilder Indianer“ von Hans Schmidt, nach 1912, aus Schmidt, Hans: Meine Jagd nach dem Glück in Argentinien und Paraguay: Reise-, Arbeits-, und Jagdabenteuer, Leipzig: Voigtländer, 1921, im Anhang, S. 15.

„Genuine fakes“ können also auch Darstellungen oder Vorführungen von Menschen sein, etwa die Aufführungen von Tänzen oder Zeremonien „traditioneller“ Gruppen in Touristenorten v.a. in less developed countries, Mittelalterspektakel und reenactments, Völkerschauen oder eben Fotos und Bildpostkarten „echter“ Indigener (Brown illustrierte seinen Aufsatz mit dem Bild eines „traditionellen“ Melanesiers). Im Fall der als unterlegen, rückständig, wild und natürlich inszenierten Indigenen Südamerikas diente diese Präsentation, auch der Legitimation weißer Herrschaft, der Ausbeutung, Verdrängung und Ermordung der indigenen Bevölkerung sowie, ähnlich den von Eric Hobsbawm und Terence Ranger beschriebenen Identität und Zugehörigkeit stiftenden „erfundenen Traditionen“,81 grundsätzlich als Beweis der Überlegenheit der europäischen „weißen Rasse“.

81 Vgl. Hobsbawm/Ranger (Hg.), The Invention of Tradition.

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Abbildung 13: Fotografie „Junge Chanéfrau entblößt den Oberkörper, um sich photographieren zu lassen. Rio Parapiti“ von Erland Nordenskiöld, 1908/09, aus Nordenskiöld, Erland: Indianerleben: El Gran Chaco (Südamerika), übers. v. Carl Auerbach, Leipzig: Albert Bonnier, 1912 [schwed. 1910: Indianlif i el Gran Chaco (Syd-Amerika)], Abb. 114, S. 226.

Die geschichtswissenschaftliche Analyse solcher Bilder birgt ähnliche Herausforderungen, wie der Umgang mit Reiseberichten. Auch manche (oder viele?) Fotos können mehr über ihren Urheber, Fotografen oder anthropologischen/ethnologischen Forscher, seine Erwartungen, Vorstellungen, Meinungen, Wünsche und Fantasien, bzw. über den Forschungsstand wissenschaftlicher Disziplinen aussagen, als über die fotografierten menschlichen „Studienobjekte“. Fotos waren nicht Repräsentationen und Abbildungen von Realität – und können daher, wie in der Einleitung bereits erwähnt, auch nicht nur in indexikalischer Perspektive untersucht werden –, sondern sie waren Teil von Diskursen und konstruierten die zeitgenössische Realität.

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Abbildung 14: Bildpostkarte „India Beniana. (Bolivia)“, Verlag: Arnó Hnos, La Paz, nach 1905, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E Nls 207.

Dies ist aber nicht immer so auffällig wie bei der oben abgebildeten Bildpostkarte (Abb. 14). Denn auf der anderen Seite gab es das Bemühen, die Objektivität, die dem Medium, wie ebenfalls in der Einleitung beschrieben, zeitgenössisch zugeschrieben wurde, noch zu verstärken. So wurde beispielsweise für Typenfotografien jeweils eine möglichst nüchterne Frontal- und Profilaufnahme gemacht. Diese fotografische Praxis der Anthropologen und Ethnologen war eng verwandt mit kriminalistischen/kriminologischen Verfahren der erkennungsdienstlichen Fotografie, deren Methode auch in der Psychiatrie zur Anwendung kam.82 Im fotografischen Nachlass Lehmann-Nitsches, dessen Verhältnis zu dieser Methode, wie im Zitat oben deutlich wurde, zwiegespalten war, da er zum einen die Standardisierung schätzte, zum anderen aber die fehlende Lebensnähe beklagte, gibt es eine Unmenge dieser Typenfotografien en face und en profil. Auch von Paul Ehrenreich, Karl von den Steinen und anderen sind Typenfotografien überliefert und veröffentlicht worden, obwohl ersterer an der Methode, wie

82 Vgl. Jäger, Photography: A Means of Surveillance?; Regener, Fotografische Erfassung und für Argentinien Penhos, Frente y perfil sowie für den Vergleich knapp Hempel, Facetten der Fremdheit, S. 192.

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erwähnt, harsche Kritik äußerte. Ein weiterer Forscher, der zahlreiche Typenbilder aufnahm und in seinen Werken publizierte, war Theodor Koch-Grünberg. In Zwei Jahre bei den Indianern Nordwest-Brasiliens (1921), eine an Laien gerichtete überarbeitete und gekürzte Version seiner ersten Monografie, veröffentlichte er zwar v.a. ethnologische Fotografien, etwa von maskierten und kostümierten Indigenen. Gänzlich konnte er sich von der Perspektive der Typenfotografie allerdings nicht trennen. 83 Anders als es der Titel vermuten ließe, handelt es sich bei den in Alphons Stübels und Wilhelm Reiß’ 1888 erschienenem Indianer-Typen aus Ecuador und Colombia publizierten Fotografien ebenso wie bei den Bildpostkarten der 1904 von Lehmann-Nitsche herausgegebenen Sammlung Boggiani von Indianertypen aus dem centralen Südamerika dagegen mehrheitlich nicht um Typenfotografien. Vielmehr war die Bezeichnung Typ (und im Plural Typen) auch ein Synonym für ein Lichtbild (bzw. Lichtbilder). 84 Anders als Lehmann-Nitsche, der, wie diese und andere Fotografien in seinem Nachlass zeigen, gierig, fast manisch so viele Menschen wie möglich fotografierte, sie vermaß, (oft falsch) klassifizierte und Bilder, eigene wie erworbene, zur Dokumentation und Klassifizierung archivierte, häufig ohne sich um näheres Verständnis zu bemühen, entstanden die Aufnahmen, die der schwedische Ethnologe Erland Nordenskiöld während seiner Forschungsreisen machte, oft bei längeren Aufenthalten, in denen er indigene Völker wie die Ashluslay (auch Chulupí, Autonym: Nivaclé) eingehend studierte. Baron Nils Erland Herbert Nordenskiöld wurde 1877 in Stockholm als Sohn des finnlandschwedischen Polarforschers und Entdeckers der Nordostpassage Adolf Erik Nordenskiöld (1832-1901), geboren. Nach dem Studium der Geologie und Paläontologie in Uppsala unternahm er zunächst mehrere Forschungsreisen nach Südamerika: 83 Vgl. etwa die Fotografien „Umzug der Maskentänzer“, „Hianakoto-Indianer mit Bastgürteln“, „Makuna-Indianer mit Giftlanzen, Yabahana-Indianer mit Blasrohr und Giftpfeilköcher“ und „Maskentänzer der Opaina-Indianer“ von Theodor Koch-Grünberg, 1911/13 in Koch-Grünberg, Zwei Jahre bei den Indianern Nordwest-Brasiliens, Tafeln IV, IX, XI und XII, nach S. 112, nach S. 288, nach S. 384 und nach S. 400. Vgl. weiterhin Koch-Grünberg, Vom Roroima zum Orinoco 5; ders., Zwei Jahre unter den Indianern und ders., Indianertypen aus dem Amazonasgebiet oder Ehrenreich, Anthropologische Studien über die Urbewohner Brasiliens sowie Hempel, Theodor Koch-Grünberg and Visual Anthropology; ders., Facetten der Fremdheit; ders., Anthropologisch-ethnologische Fotografien; ders., Paul Ehrenreich – the Photographer in the Shadows und Kraus, Ambivalenzen der Bildproduktion. Vgl. zur Typenfotografie auch Edwards, Photgraphic “Types”. 84 Vgl. Stübel/Reiß, Indianer-Typen aus Ecuador und Colombia und Lehmann-Nitsche (Hg.), Die Sammlung Boggiani von Indianertypen aus dem centralen Südamerika sowie Theye, „Wir wollen nicht glauben, sondern schauen“, S. 96-97 und Hempel, Facetten der Fremdheit, S. 187, FN 24. Unter den Bildern der Kollektion Boggiani sind Frontal- und Profilaufnahmen im Stil der Typenfotografie zahlreich vertreten. Besonders bemerkenswert sind die Bildpostkarten „India Chamacoco, ‚Mággiota‘, Puerto 14 de Mayo“, Nr. 97 und 98 der Kollektion Boggiani, hg. v. Robert Lehmann-Nitsche, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, 1904, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E 1518 und VIII E 1519. Die Aufnahmen einer Frau mit einem großen Geschwür am Hals ähneln stark den Bildern, die Robert Koch mit medizinischem Erkenntnisinteresse in der Südsee gemacht hat. Vgl. Münch, Mikrowelten und Lebenswelten.

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1899 nach Patagonien, 1901/02 nach Argentinien und Bolivien und 1904/05 nach Bolivien und Peru,85 bevor er eine Anstellung am Naturhistorischen Reichsmuseum (Naturhistoriska riksmuseet) in Stockholm erhielt. 1908/09 folgte eine weitere Expedition über Argentinien in den bolivianischen Chaco und weiter in den Nordosten des Landes. Seine Forschung hatte sich da schon lange auf das Feld der Ethnologie (und der Archäologie) verlagert. 1913 wurde er Leiter der ethnografischen Abteilung des Göteborgs Museums (1861 mit Kunst- und naturhistorischer Sammlung sowie Bibliothek gegründet). Er konnte den Posten jedoch erst 1915 antreten, da er 1913/14 eine weitere Südamerikareise nach Brasilien und Bolivien unternahm. 1924 erhielt er eine Professur an der Universität in Göteborg. Seine letzte Südamerikareise führte ihn 1927 nach Kolumbien und Panama.86 Wie Lehmann-Nitsche war auch Nordenskiöld international gut vernetzt. 1924 war er Generaldirektor des 21. Internationalen Amerikanisten-Kongresses in Göteborg und Den Haag, 1926 Visiting Professor an der University of California in Berkeley und 1929 Huxley Lecturer am Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland in London. Nordenskiöld publizierte rege in schwedischer, deutscher, französischer und englischer Sprache: z.B. im Journal de la Société des Américanistes de Paris mit dessen Herausgeber, dem Ethnologen und Mitbegründer des Musée de l’Homme Paul Rivet (1876-1958), er in engem Kontakt stand oder als Herausgeber der Comparative Ethnological Studies des Göteborgs Museums. Von den zehn Bänden der Reihe schrieb Nordenskiöld die meisten selbst, so auch den ersten Band von 1919 und den letzten, der posthum 1938 erschien.87 Erland Nordenskiöld starb 1932 an den Folgen von Malaria und einer Darmerkrankung, Krankheiten, mit denen er sich während seiner letzten Südamerikareise infiziert hatte.88 Die Erfahrungen, die er während seiner Reisen machte und die Ergebnisse seiner Forschungen veröffentlichte Nordenskiöld in mehreren Büchern und wissenschaftlichen Aufsätzen, die im Deutschen Reich z.T. große Aufmerksamkeit erfuhren. Seine Reiseberichte, die fast alle ins Deutsche übertragen wurden, sind teilweise sehr lebhafte Schilderungen, die deutlich machen, dass die Grenzen von (populär-)wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Arbeiten fließend waren, wie etwa die in der Einleitung widergegebenen Zitate von Donat und Nordenskiöld verdeutlichen. 89 Sehr 85 Vgl. Nordenskiöld, Arkeologiska undersökningar Perus och Bolivias gränstrakter. 86 Vgl. Nordenskiöld, Indianerna på Panamanäset. 87 Vgl. Nordenskiöld, An Ethno-Geographical Analysis und ders., An Historical and Ethnological Survey of the Cuna Indians sowie weiter die (unvollständige) Bibliografie bei Lowie, Erland Nordenskiöld, S. 161-164. 88 Zu Leben und Werk Nordenskiölds gibt es neben dem Nachruf von Lowie, Erland Nordenskiöld, und einigen wenigen kurzen Einträgen etwa in Bonte/Izard (Hg.), Dictionnaire de l’ethnologie et de l’anthropologie, S. 510 mehrere Arbeiten von schwedischen Anthropologen und Ethnologen, vgl. z.B. Alvarsson et al. (Hg.), Erland Nordenskiöld: Forskare och indianvän; Lindberg, Erland Nordenskiöld: Ett indianlif; ders. (Hg.), Erland Nordenskiöld: En antropologisk biografi sowie den Sammelband von Alvarsson/Agüero (Hg.), Erland Nordenskiöld: Investigador y amigo del indígena. 89 Im Vorwort von An Lagerfeuern deutscher Vagabunden rief Donat Nordenskiöld als Zeugen für die Wahrhaftigkeit seiner Ausführungen auf. Vgl. Donat, An Lagerfeuern deutscher Vagabunden, S. V. Nordenskiöld wiederum schrieb, „ein Schimmer von Landstreicherleben“

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lebendig schilderte Nordenskiöld beispielsweise in Wälder: Streifzüge in Südamerika, das 1910 auf Deutsch erschien, die Erlebnisse, die er und die weiteren Teilnehmer der Expedition nach Argentinien und Bolivien 1901/02 während der Reise mit Indigenen und Mestizen in Dörfern und Wirtshäusern oder beim Karneval hatten: Zu lesen ist von reichlichem Alkoholgenuss der durchweg männlichen Reiseteilnehmer und ihrer Gastgeber und auch von einigen Frauengeschichten. Freimütig berichtet Nordenskiöld ebenfalls von unlauteren Methoden bei Grabungen bzw. Grabplünderungen. So versuchten sie z.B. Leute mit Alkohol dazu zu bringen, Wissen über Gräber und andere Stätten preiszugeben – nicht immer mit Erfolg: „Auch den alten Indianer versuche ich so betrunken wie möglich zu machen, aber der Alte ist klug. Er trinkt meinen Whisky, bleibt aber bei der Behauptung, dass er von Gräbern und dergleichen nichts wisse.“ 90 Manche Artefakte gelangten jedoch unter ethisch fragwürdigen Umständen in die Hände der Forscher und später in schwedische Museen. Zwar ist Wälder: Streifzüge in Südamerika nicht illustriert, doch stellt das Werk damit eine Ausnahme unter Nordenskiölds Monografien dar. Die oft reiche fotografische Illustrierung trug wesentlich zu deren Anschaulichkeit bei und war sicher auch ein Grund für die weite Verbreitung von Nordenskiölds anderen Arbeiten. Sein 1910 auf Schwedisch und 1912 in deutscher Übersetzung erschienener Bericht über die Reise 1908/09 in den Gran Chaco Indianerleben enthielt über 160 Abbildungen (Fotografien und Zeichnungen) und war ein wahrer Bestseller mit weiteren Ausgaben 1913 und 1925.91 Ähnliches gilt für Indianer und Weisse in Nordostbolivien (1911 Schwedisch und 1922 Deutsch), ebenfalls ein Ergebnis der Expedition nach Bolivien von 1908/09: Der Bericht über den zweiten Teil der Reise in den Nordosten des Landes enthält mehr als 120 Abbildungen und erschien 1923 in zweiter Auflage (5.-7. Tausend). Auch der Bericht über die Expedition 1913 nach Bolivien und Brasilien, 1915 auf Schwedisch und 1924 in deutscher Übersetzung als Forschungen und Abenteuer in Südamerika erschienen, ist mit über 100 Abbildungen versehen. 92 Die Fotografien in Nordenskiölds Büchern, die etwa auf der Reise 1908/09 vermutlich alle von Nordenskiöld oder einem seiner beiden Begleiter W. Andersson und Carl Moberg gemacht wurden, zeigen Landschaften, archäologische Stätten, Artefakte der indigenen materiellen Kultur und – wenig überraschend – vor allem Indigene selbst: Männer, Frauen und Kinder. Diese Bilder unterscheiden sich aber deutlich von den Typen- und anderen anthropometrisch-anthropologischen Fotografien, wie sie im Zusammenhang mit den Ausführungen zu Lehmann-Nitsche behandelt wurden. Ebenso unterscheiden sie sich von den künstlerischen ethnologisch-ethnografischen Bildern Boggianis und anderer. Nordenskiölds Bilder dienten nicht (nur) wie erstere der Klassifikation und Identifikation bzw. als Vergleichsmaterial zur Bestimmung; genauso wenig handelte es sich wie bei letzteren um stereotype Inszenierungen von Exotik und Differenz. Die Bilder des Schweden sollten vielmehr, die vermeintliche Obhabe über ihrer Reise gelegen. Nordenskiöld, Indianer und Weisse in Nordostbolivien, S. VII. 90 Nordenskiöld, Wälder: Streifzüge in Südamerika, S. 46. 91 Nordenskiöld, Indianerleben. Die deutsche Originalausgabe von 1912 erschien im Verlag Albert Bonnier in Leipzig; die weiteren deutschen Ausgaben erschienen in Leipzig: Merseburger, 1913 und Berlin: Ullstein, 1925. 92 Nordenskiöld, Forschungen und Abenteuer in Südamerika.

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jektivität des Mediums ausnutzend, möglichst „realistische“ visuelle Repräsentationen von Individuen, ihren Gemeinschaften, ihrer Kultur und ihren Lebensumständen darstellen.

Abbildung 15: Fotografie „Der Verfasser mit Ashluslayfreunden“ von Carl Moberg (?), 1908/09, aus Nordenskiöld, Erland: Indianerleben: El Gran Chaco (Südamerika), übers. v. Carl Auerbach, Leipzig: Albert Bonnier, 1912 [schwed. 1910: Indianlif i el Gran Chaco (Syd-Amerika)], Tafel 1, Frontispiz.

In der Tradition Humboldts nach Erkenntnis durch Erfahrung strebend und ähnlich wie z.B. Theodor Koch-Grünberg, dem Nordenskiöld sein Forschungen und Abenteuer in Südamerika widmete, wählte der schwedische Ethnologe auf seinen Expeditionen einen Ansatz, der sich avant la lettre als partizipierende Beobachtung, der von Franz Boas (1858-1942) und Bronisław Malinowski (1884-1942) akademisch etablierten und bis heute praktizierten Methode der Ethnologie, beschreiben lässt. Nordenskiöld verkörperte jenes bis heute populäre, romantische Ideal des „guten“ Völkerkundlers, dem auch Claude Lévi-Strauss nacheiferte und der über sein Scheitern in Traurige Tropen so wunderbar Zeugnis abgelegt hat.93 Im engen Kontakt und im vertrauten Umgang, der sich während dieser Forschungsaufenthalte bei verschiedenen indigenen Gruppen entwickelte – in der Bildunterschrift der unten abgebildeten Fotografie aus Indianerleben: El Gran Chaco (Südamerika), die Nordenskiöld während eines Forschungsaufenthaltes bei den Ashluslay zeigt, werden diese sogar als Freunde bezeichnet (Abb. 15) –, entstanden zahlreiche Fotos, die nicht nur Nordenskiölds eigene Arbeiten illustrierten, sondern auch die anderer Forscher (Abb. 17). Gleichzeitig erhielt Nordenskiöld Fotos von anderen Forschern. Diese Zirkulation, der Tausch und auch 93 Vgl. Lévi-Strauss, Traurige Tropen.

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der Erwerb von Bildern unter Forschern, wurde bereits mehrfach angesprochen und mitunter ist diese Reziprozität ein Segen: So kaufte Nordenskiöld beispielsweise von Konrad Theodor Preuss eine Serie von 60 Fotografien von kolumbianischen Indigenen vom Volk der Kágaba (auch Kággaba und Kággabba; Kogi). Während Preuss’ Originale bei einem Luftangriff während des Zweiten Weltkrieges in seiner Berliner Wohnung zerstört wurden, befinden sich Nordenskiölds Abzüge im Archiv des Världkulturmuseet in Göteborg.94

Abbildung 16: Fotografie „Der Verfasser bei den Pilagá am Rand der großen Sümpfe“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre, aus Krieg, Hans: Indianerland: Bilder aus dem Gran Chaco, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1929, Bildtafel im Anhang. Das Motiv ist dem aus Nordenskiölds Buch sehr ähnlich, allerdings produziert die Bildunterschrift bei Nordenskiöld sehr viel mehr Nähe. Der Fotografie von Krieg und den Pilagá ist eine Distanz zwischen europäischem Forscher und indigenen Beforschten inne.

Ähnlich wie Nordenskiöld betonte (um nicht zu sagen inszenierte) auch der aus Göteborg stammende Ethnologe Gustaf Bolinder die Nähe zu seinen indigenen Forschungsobjekten. Auf seine von 1914 bis 1916 dauernde Forschungsreise in die kolumbianische Sierra Nevada de Santa Marta nahm er seine Frau Ester mit, die während der Reise ihr erstes Kind bekam. Ein in seinem 1925 in deutscher Übersetzung erschiene94 Vgl. Fischer/Oyuela-Caycedo, Der zeitlose Rahmen, S. 132, FN 7. Zum Austausch von Fotografien zwischen dem Berliner Völkerkundemuseum und dem Göteborgs Museum, einem Vorläufer des 1999 gegründeten Världkulturmuseet, vgl. Muñoz, Making the Ethnographical Archive in Gothenburg.

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nen Bericht über die Reise95 veröffentlichtes Foto etwa zeigt Ester gemeinsam mit einem Ijka-Mann (auch Arhuaco), der die kleine Tochter der Bolinders auf dem Arm hält, und einer Ijka-Frau mit Säugling auf dem Rücken; ein anderes Bild zeigt „Frau Bolinder mit einer Ijca Freundin“ (Abb. 18 und 19).96

Abbildung 17: Fotografien „Fischessende Indianer in Südamerika“, von Erland Nordenskiöld, 1908/09, aus Hedin, Sven: Von Pol zu Pol (Letzte Folge: Durch Amerika zum Südpol), 64., neu bearb. Aufl., Leipzig: Brockhaus, 1940 [1912], vor S. 193, zuerst gedruckt bei Nordenskiöld, Erland: Indianerleben: El Gran Chaco (Südamerika), übers. v. Carl Auerbach, Leipzig: Albert Bonnier, 1912 [schwed. 1910: Indianlif i el Gran Chaco (Syd-Amerika)], zwischen S. 48 und 49. Vgl. auch die Fotografie „Indien Apolista“ von Erland Nordenskiöld, 1904/05 (?), aus CréquiMontfort, Georges de und Rivet, Paul: Linguistique Bolivienne: La langue Lapaču ou Apolista, in: ZfE 45:3, 1913, S. 516, zuerst gedruckt mit der Bildunterschrift „Apolista. Lapachu sprechender Indianer“ in Nordenskiöld, Erland: Über Quichua sprechende Indianer an den Ostabhängen der Anden im Grenzgebiet zwischen Peru und Bolivia, in: Globus 88, Nr. 7, 24.08.1905, S. 101108, hier S. 102.

95 Vgl. Bolinder, Die Indianer der tropischen Schneegebirge sowie Fischer/Oyuela-Caycedo, Der zeitlose Rahmen und Uribe Tobón, Un antropólogo sueco por Colombia. Bolinder machte während seiner Reisen nicht nur fotografische, sondern auch Filmaufnahmen. Sein Nachlass befindet sich im Etnografiska Museet in Stockholm. Eine weitere auf Deutsch erschienene und bebilderte Arbeit von ihm ist Bolinder, Einiges über die Motilon-Indianer. 96 Vgl. für weitere Beispiele dieser Form der Inszenierung auch Hägele, Forscher im Fokus der Fotografie.

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Abbildungen 18 und 19: Fotografien „Frau Bolinder, ein Ijca-Mann mit dem Töchterchen der Frau Bolinder und eine Ijca-Frau mit Säugling“ und „Frau Bolinder mit einer Ijca Freundin“ von Gustaf Bolinder, 1914/16, aus Bolinder, Gustaf: Die Indianer der tropischen Schneegebirge: Forschungen im nördlichsten Südamerika, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1925 [schwed. 1916], Tafeln 32 und 37, vor S. 105 und zwischen S. 120 und 121.

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Nordenskiölds Fotografien von Indigenen dienten nicht nur zur wissenschaftlichen Dokumentation, sondern sie dienten, wie es Koch-Grünberg oder Lehmann-Nitsche ebenfalls äußerten, zugleich dem Bewahren von untergehenden Kulturen zumindest in Abbildern. Während aber viele Wissenschaftler das Aussterben der autochthonen Bevölkerung (zumindest implizit) auf deren natürliche „rassische“ Unterlegenheit zurückführten, die sie gemäß dem sozialdarwinistischen Zeitgeist untauglich für den Kampf des survival of the fittest machte, machte Erland Nordenskiöld dagegen (auch) die weiße und mestizische Gesellschaft und ihre rücksichtslose Land- und Bevölkerungspolitik verantwortlich: „Überall Raubbau, ob es Menschen oder Tieren, Bäumen oder Gruben gilt – stets der gleiche Raubbau, immer derselbe Konquistadorengeist, früher vielleicht großzügig, jetzt klein und kümmerlich.“ 97 Auch in anderen Arbeiten wie etwa in Indianer und Weisse in Nordostbolivien oder in Forschungen und Abenteuer in Südamerika kritisierte er die weiße und mestizische Bevölkerung, beispielsweise Kautschukbauern, ihr Vordringen in von Indigenen bewohnte Gebiete und deren Verdrängung.98 Die Sorge um das Vordringen in die Lebensräume von indigenen Gruppen und Völkern, die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen, die drohende Vernichtung ihrer Kultur und letztlich ihrer Existenz war ein wichtiges Anliegen, das Nordenskiöld nicht nur in seinen Publikationen thematisierte. Im Beisein des US-amerikanischen Anthropologen Robert Harry Lowie (1883-1957, geboren als Robert Heinrich Löwe in Wien) sagte er: „I can talk about nothing but South American Indians“.99 Dabei setzte er sich gleichermaßen für die Indigenen im Hochland der Anden, im Chaco oder im amazonischen Regenwald ein. Er zeichnete in seinen Arbeiten textlich und visuell wohlwollend ein positives Bild der Indigenen, die er als schutzbedürftig, darüber hinaus v.a. aber auch als schützenswert präsentierte: „Ich habe versucht, die Indianer kennen zu lernen und habe auch Sympathie für sie empfunden. Ich habe, so gut es ging, das Leben der Indianer zu leben, sie zu verstehen versucht. Ich habe mit ihnen gefischt, getanzt, gesungen und getrunken. Ich habe zu vergessen gesucht, daß ich ausgezogen bin, um diese Menschen zu studieren, und nicht, um nur mit ihnen zu leben und mich zu amüsieren. Ich habe diese Indianer als Mitmenschen betrachtet. Unter vielen trockenen Tatsachen habe ich hier Menschen zeigen wollen, die der Sympathie des Lesers würdig sein dürften. […]

97 Nordenskiöld, Indianer und Weisse in Nordostbolivien, S. 220. 98 Vgl. Nordenskiöld, Indianer und Weisse in Nordostbolivien, bes. S. 124-125 und ders., Forschungen und Abenteuer in Südamerika, bes. S. 9-10. Vgl. weiterhin seine eindrückliche Klage über das Schicksal der Indigenen im Chaco in ders., Wälder: Streifzüge in Südamerika, z.B. S. 33-34. Interessanterweise brachte Nordenskiöld schon 1911 auch die Idee von gesetzlichem Schutz, etwa durch den Schutz von Lebensräumen ins Spiel: „In unserer Zeit sucht man durch Gesetzgebung Elefanten, Flußpferde, eigentümliche Baumarten, sonderbare Felsen vor der Zerstörungslust des weißen Mannes zu schützen. Wäre es nicht von noch größerem Interesse, seltene Menschengattungen zu erhalten, ehe sie verschwinden.“ Nordenskiöld, Indianer und Weisse in Nordostbolivien, S. 203. 99 Lowie, Erland Nordenskiöld, S. 159.

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Bei meinen umfassenden Streifzügen in Bolivia bin ich sowohl in der Hütte des Armen wie von dem reichen Estanciero mit außerordentlicher Gastfreiheit aufgenommen worden. Bei den Indianern wie bei den Weißen habe ich mich als Hausfreund betrachtet. Am wohlsten habe ich mich bei den Indianern gefühlt!“ 100

Tatsächlich fühlte sich Nordenskiöld während der Expedition 1908/09 so wohl und so sicher, dass er auf die nächste Forschungsreise 1913 auch seine Frau Olga mitnahm. Auch wenn ihn diese Reise, anders als die vorige, nicht in den Chaco führte: Der Unterschied zu den teilweise sensationalistischen Berichten über den Tod Boggianis, welche die Gefahren des Chaco (und allgemein der Wildnis) fast schon beschworen, oder zu den Schilderungen manch anderer Reisender könnte größer kaum sein. Gleiches gilt für Nordenskiölds Bemühungen, Indigene nicht (nur) als Studienobjekte, sondern auch und sogar vor allem als „Mitmenschen“ zu betrachten. Er hob weniger auf das Fremde und Exotische ab, sondern war um dessen Relativierung bemüht. In Bezug auf die Beschreibung einer dreizehnjährigen Mataco aus dem Chaco und ihrer Gesichtstätowierung schrieb er: „Ich habe in anderen Ländern schon hässlichere Moden gesehen.“ 101 Nordenskiöld ließ sich während eines Aufenthaltes bei den Chorote am Río Pilcomayo sogar selbst tätowieren (ein Stirnzeichen der Chorote, allerdings auf seinen Arm) und lieferte ein Foto seiner Tätowiererin gleich mit. Bei seinem Landsmann Sven Hedin (1865-1952) brachte ihm das große Bewunderung ein: „Selten ist ein weißer Mann so tief in das Leben und innerste Wesen eines Naturvolkes eingedrungen wie Erland von Nordenskiöld. Er behandelte die Indianer nicht als tieferstehende Geschöpfe, sondern als gleichgestellte Menschen und verkehrte mit ihnen wie mit seinesgleichen. […] Er war gleichsam ein weißer Indianer geworden.“102

Tatsächlich geht diese Einstellung Nordenskiölds und seine differenzierte, positive Bewertung und Darstellung von Indigenen über das geläufige Motiv des „edlen Wilden“, 100 Nordenskiöld, Indianerleben, S. 1-2. Ähnlich freundschaftliche Bande zwischen sich und den Tehuelche in Patagonien, mit denen er 1869 etwa ein Jahr verbrachte, beschrieb auch der englische Marineoffizier George Chaworth Musters (1841-1879) in seinem im englischen Original 1871 zuerst erschienenen Bericht Musters, Unter den Patagoniern. Einschränkend muss jedoch gesagt werden, dass Nordenskiöld nicht alle Indigenen so positiv zeichnete: „Leider muß ich auch gestehen, daß ich keine große Sympathie für die zivilisierten Indianer hege, während die noch unabhängig lebenden meine Zuneigung besitzen. Gleichzeitig möchte ich hinzufügen, daß sie durch die Weißen unsympathisch gemacht wurden.“ Dabei scheint Nordenskiöld in seiner Haltung auch Unterschiede zwischen der „Indianerfrage“ im Großen und Einzelschicksalen im Kleinen gemacht zu haben. Über den Besitzer einer Kautschukplantage, auf der der Forschungsreisende Station machte, schrieb er: „So z.B. glaube ich, daß Don Enrique ein angenehmer Herr ist, der seine Indianer nur dann prügelt, wenn sie zu fliehen versuchen.“ Nordenskiöld, Indianer und Weisse in Nordostbolivien, S. 124, Zitat zuvor ebd., S. 127. 101 Nordenskiöld, Wälder: Streifzüge in Südamerika, S. 33. 102 Hedin, Von Pol zu Pol (Letzte Folge: Durch Amerika zum Südpol), S. 236-237. Vgl. die Fotografie „Alte Chorotifrau, die den Verf. Tätowiert hat“ von Erland Nordenskiöld, 1908/09, in Nordenskiöld, Indianerleben, Abb. 30, S. 77.

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wie es sich auch schon früher in der Ethnologie bzw. ihren Vorläufern103 oder in vielen literarischen Arbeiten findet, etwa bei Karl May und B. Traven, weit hinaus. Sie unterscheidet sich ebenfalls von der Haltung der meisten anderen Wissenschaftler gegenüber Indigenen. Das gilt nicht nur für Lehmann-Nitsche, der sogar schwieg, als er während seiner Reise in den Chaco im Juli 1924 Zeuge des Massakers von Napalpí wurde: Nachdem Indigene in der 1911 gegründeten Reduktion einen Streik begonnen hatten, töteten Polizei und Rancher mehrere Hundert Tobas und Mocovíes. In seinen Publikationen schrieb Lehmann-Nitsche nichts darüber. Aber ein Foto von einem Flugzeug, das, so die handschriftliche Bemerkung Lehmann-Nitsches auf der Rückseite, „gegen den ‚Indianeraufstand‘ in Napalpí“ eingesetzt wurde, findet sich im Nachlass des Forschers im Archiv des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin.104 Nordenskiölds Haltung unterschied sich auch von der derjenigen Forscher, die selbst vor der Ausrottung der Indigenen warnten, wie es z.B. Fritz Regel, Theodor Koch-Grünberg oder Max Uhle taten.105 Uhle etwa – der Nordenskiöld, wie Briefe zeigen, freundschaftlich verbunden war – trat ganz im Zeichen des positivistischen Zeitgeistes für die Rettung und „Hebung“ von Indigenen ein, indem ihnen der Zugang zu Bildung ermöglicht würde.106 Diese positivistische Haltung ist derjenigen Manuel González Pradas (18441918) oder der der Asociación Pro-Indígena und anderer indigenistas einige Jahre später sehr ähnlich.107 Damit soll selbstverständlich nicht behauptet werden, die politischkulturelle Bewegung des Indigenismus, die ihre Wurzeln in der Mitte des 19. Jahrhunderts hat, lasse sich auf deutsche und schwedische Forscher zurückführen; vielmehr soll hervorgehoben werden, dass auch ausländische Forscher und Reisende nicht um die Beschäftigung mit der zeitgenössisch in Südamerika omnipräsenten „indigenen Frage“ herumkamen. Zudem zeigt es die Bandbreite der konzeptionellen und damit 103 Vgl. Kohl, Entzauberter Blick. S. zu dieser Wahrnehmung von Indigenen auch Kap. 3. 104 Vgl. Dávila, Robert Lehmann-Nitsche. Vgl. außerdem diese und weitere Aufnahmen von der Reise aus dem Nachlass Lehmann-Nitsches, die im Zuge der Digitalisierung von Glasplattennegativen online zugänglich gemacht wurden: Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass [Glasplattensammlung], Robert Lehmann-Nitsche, Reise in den Chaco: Expeditionsaufnahmen, http://resolver.iai.spk-berlin.de/IAI00004B9 C000B0000 [26.08.2018]. 105 Vgl. z.B. Regel, Argentinien, wo es auf S. 39 über die indigene Bevölkerung heißt: „[A]us den besten ihrer Wohn- und Jagdgebiete wurden sie bereits verdrängt und gehen, wenn man ihnen nicht mit mehr Schonung begegnet als bisher, wohl einem völligen Untergang mit raschen Schritten entgegen.“ 106 Vgl. z.B. Uhle, Discurso pronunciado en la inauguración del Museo Histórico. Vgl. zum Verhältnis zu Nordenskiöld z.B. die mit „Sehr verehrter Freund“ beginnenden Briefe Uhles aus Arica bzw. Quito vom 10. April 1919 und vom 06. Mai 1924 im Aktenarchiv des Statens Museer för Världskultur in Göteborg, wie angegeben auf der Website des Ibero-Amerikanischen Instituts, Nachlass Uhle in europäischen Einrichtungen, http://www.iai.spk-ber lin.de/nachlass/uhle/inventar_04_europa_d.htm [26.08.2018]. 107 Vgl. aus der reichen Literatur zum Indigenismus z.B. Coronado, The Andes Imagined sowie die immer noch hervorragenden Arbeiten von Degregori et al. (Hg.), Indigenismo, clases sociales y problema nacional; Deustua Carvallo/Rénique, Intelectuales, indigenismo y descentralismo und Kristal, The Andes Viewed From the City. S. zum Indigenismus auch Kap. 3.

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auch der möglichen fotografischen Zugriffe auf die indigene Bevölkerung, die aber immer auch als „unterlegen“ markiert wurde. Dies änderte sich auf der bildlichen Ebene z.B. in Peru in den 1920er Jahren mit den Fotografien der indigenistischen „Cuzco-Schule“ um Martín Chambi und Juan Manuel Figueroa Aznar (1878-1951) oder mit denen von Baldomero Alejos (1902-1976) aus Ayacucho.108 Diese Bilder waren Visualisierungen indigenen Stolzes, indigener Würde und Tugend. Umstritten ist, inwiefern schon die Bilder, die etwa die chilenischen Pioniere der Fotografie Gustavo Milet (1860-1917), der in der Einleitung bereits erwähnte Kanadier Odber Heffer Bissett oder der ebenfalls bereits erwähnte aus Kassel stammende Christian Heinrich Valck und später seine Söhne Jorge, Fernando und Enrique109 seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Indigenen, v.a. von Mapuche machten, in diese Kategorie fallen. Einer pro-indigenistischen Sicht dieser Bilder hält etwa die chilenische Professorin für Ästhetik Margarita Alvarado Pérez entgegen, dass es sich um visuelle Konstruktionen handele, die eurozentristische ästhetische Kriterien auch für Lateinamerika und seine indigene Bevölkerung paradigmatisierten.110 Nordenskiölds Einstellung gegenüber Indigenen ist am ehesten vielleicht zu vergleichen mit den Auffassungen von Franz Boas, der ebenfalls den rassistischen Mainstream der Ethnologie und Anthropologie kritisierte. 111 Bezeichnenderweise war Robert Harry Lowie, der Verfasser des Nachrufs auf Nordenskiöld im American Anthropologist, ein Schüler von Boas. Während Nordenskiöld und seine seinerzeit innovativen Forschungen in der Ethnologie gewürdigt werden 112 sind der Schwede und seine 108 Vgl. für Chambi neben den in der Einleitung in FN 35 erwähnten Arbeiten z.B. auch Garay Albújar/Neumüller, The Andean People in the Work of Martín Chambi; zu Figueroa Aznar Poole, Figueroa Aznar and the Cusco Indigenistas und zu Alejos Fischer et al. (Hg.), Ungleichzeitigkeiten der Moderne. 109 Vgl. Alvarado Pérez/Matthews, Los pioneros Valck. 110 Vgl. Alvarado Pérez et al. (Hg.), Mapuche: Fotografías Siglo XIX y XX, bes. S. 20 und dagegen z.B. Azócar Avendaño, Fotografía proindigenista. 111 Vgl. zu Boas, seiner antirassistischen Haltung und seiner kulturrelativistischen Forschung z.B. Pöhl/Tilg (Hg.), Franz Boas – Kultur, Sprache, Rasse; Schmuhl (Hg.), Kulturrelativismus und Antirassismus oder Stocking (Hg.), Volksgeist as Method and Ethic. 112 Vgl. z.B. Hultkrantz, Algunas consideraciones acerca del concepto de Nordenskiöld und Arellano Hoffmann, El juego de la Chuncana entre los Chimú sowie dazu Nordenskiöld, Spiele und Spielsachen. Ähnlich wie Boas hob Nordenskiöld hervor, dass kulturelle und technische Errungenschaften sich unter verschiedenen Völkern Südamerikas verbreiteten und nicht immer wieder neu von verschiedenen Kulturen unter unterschiedlichen Bedingungen erfunden wurden. In seinem Vortrag als Huxley Lecturer betonte er 1929 aber das Zusammenspiel von kultureller Verbreitung (oder Ausbreitung) und indigener Erfindergabe, denn er stellte nicht in Abrede, dass Indigene außerordentliche Erfinder waren, vor allem in Zeiten relativen Wohlstandes. Vgl. Nordenskiöld, The American Indian as an Inventor. Nordenskiöld folgte mit diesen in jahrzehntelanger praktischer Forschung gewonnenen Erkenntnissen weder den starren Dogmen des Evolutionismus noch denen des Diffusionismus. Letzterer bestimmte in den 1920er Jahren die Arbeit vieler Forscher der deutschsprachigen Ethnologie programmatisch, etwa in Form der Kulturkreislehre der Wiener Schule um Wilhelm Schmidt (1868-1954), aber auch international, vertreten z.B. durch Grafton Elliot Smith

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Arbeiten von der (wissenschafts-)historischen Forschung bislang – vollkommen zu Unrecht! – nicht (oder kaum) berücksichtigt worden. Gleiches gilt für seinen oben ebenfalls kurz erwähnten Landsmann Bolinder und für einige weitere Forscher, die in der vorliegenden Arbeit behandelt werden.

ARCHÄOLOGISCHE BILDER Der unvermeidlich scheinende Untergang der indianischen Kulturen war analog auch auf Fotos und Bildpostkarten von Ruinen der bereits früher untergegangenen altandinen Kulturen zu sehen. Zu diesem Set visueller Quellen gehören unter anderem von Max Uhle, Arthur Posnansky oder Hans Hinrich Brüning aufgenommene oder gesammelte Fotografien von Ausgrabungen, archäologischen Stätten, Keramiken und anderen Artefakten vornehmlich aus Bolivien und Peru sowie Bildpostkarten besonders aus Südperu. Diese Bilder zeigten, welches Schicksal den letzten „wilden Indianern“ bevorstand.113 Ähnlich wie in der Anthropologie und Ethnologie erfüllte die Fotografie auch in der Archäologie mehrere Zwecke: Zum einen konnte sie auch hier die Reise nach Südamerika oder zumindest in europäische Völkerkundemuseen, wo sich zahlreiche „Beutestücke“ von Grabungen und Plünderungen befanden und befinden, ersetzen, indem das archäologische Material als Fotografie, als fotografische Abbildung in Monografien und Zeitschriftenartikeln oder als Bildpostkarte in Augenschein genommen werden konnte. So halfen archäologische Fotografien bei der Dokumentation, Identifizierung und Klassifizierung. Zum anderen konnten aber auch die Grabungen selbst dokumentiert werden. Denn bei Ausgrabungen wurde der Zustand der archäologischen Stätte vom Archäologen und seinen Arbeitern verändert: Schichten, die abgetragen wurden, wurden zerstört, konnten aber nun vorher bildlich fixiert werden. 114 Den drei genannten archäologischen Forschern ist gemein, dass sie neben archäologischen Grabungen auch Forschungen auf anderen wissenschaftlichen Feldern betrieben oder zumindest im Blick behielten. Der „Vater der andinen Archäologie“ Max Uhle, der die stratigrafische Analyse in die südamerikanische Archäologie einführte und spätestens mit seiner Publikation zum vorinkaischen Pachacámac von 1903 internationale Bekanntheit erlangte,115 stellte beispielsweise während der fast vier Jahrzehnte, die er zwischen 1892 und 1933 in Südamerika, v.a. in Peru, Chile und Ecuador

(1871-1937) und William James Perry (1887-1949). Vgl. Petermann, Die Geschichte der Ethnologie, bes. S. 579-610 und Rössler, Die deutschsprachige Ethnologie bis ca. 1960. 113 Vgl. dazu auch Stoler (Hg.), Imperial Debris, die zeigt (bzw. deren Beiträgerinnen zeigen), wie sich der imperiale Fokus von ruins als Relikten der Vergangenheit verschob zu ruination als Prozess, mittels dessen die Gegenwart angeeignet wird. 114 Vgl. zur archäologischen Fotografie in Lateinamerika Edwards/Scorer, Visualising Traces of the Past in Latin America; Scorer, Photography and Latin American Ruins; Baird, Framing the Past; Reinert, Indianerbilder sowie allg. Klamm, Graben – Fotografieren – und Zeichnen? und zu Fotografien präkolumbischer Objekte auch Gänger, Picturing Antiquities. 115 Vgl. Uhle, Pachacamác.

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lebte, lehrte und forschte, neben seinen archäologischen auch historische, linguistische und ethnografische Untersuchungen an. So sammelte er auch Fotos und Bildpostkarten u.a. mit ethnografischen und anthropologischen Motiven, die heute in seinem Nachlass im Archiv des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin bewahrt werden. Unter den 5.152 Fotos und 1.951 Negativen befinden sich u.a. 29 Schwarzweißfotografien, die 1903/04 von Arthur Posnansky in Bolivien von Tiahuanaco, der Isla del Sol und der Isla de la Luna aufgenommen worden waren, 18 Fotos von Max T. Vargas und weitere von Martín Chambi und Charles Kroehle, 116 Fotografen, die im Verlauf der Untersuchung bereits behandelt wurden oder es noch werden. Basierend auf seiner interdisziplinären Forschung erstellte Uhle eine chronologische Gliederung der prähispanischen Kulturen im zentralen Andenraum. Seine Kulturfolge hat im Wesentlichen noch heute Gültigkeit. Dabei war Uhle kein studierter Archäologe, sondern Philologe; 1880 hatte er in Leipzig über altchinesische Grammatik promoviert. Erst im Rahmen seiner Tätigkeiten in den Völkerkundemuseen in Dresden und später in Berlin wandte er sich der amerikanischen Archäologie zu und arbeitete dabei eng mit dem Vulkanologen Alphons Stübel zusammen. Dieser hatte während einer Südamerikareise, die er von 1868 bis 1876 gemeinsam mit seinem Kollegen Wilhelm Reiß unternommen hatte, auch archäologische Feldforschung betrieben. 117 Gemeinsam mit Uhle publizierte Stübel 1892 Die Ruinenstätte von Tiahuanaco im Hochlande des alten Perú.118 Das Werk war mit zahlreichen „Tafeln in Lichtdruck“ illustriert. Die diesen zugrundeliegenden Fotografien (die überwiegend von Georges B. von Grumbkow stammen) hatte Stübel gemeinsam mit vielen weiteren von seiner Südamerikareise mitgebracht.119 Die Möglichkeiten, die dieses Bildmedium der Wissenschaft bot, werden hier besonders deutlich: Uhle studierte die Ruinen von Tiahuanaco, ohne vor Ort gewesen zu sein, nur anhand dieser Fotografien und der Berichte seines Co-Autors. Dabei erwarb er eine Expertise, die es ihm erlaubte, als Mitverfasser der Publikation aufzutreten. So verwundert es nicht, dass Uhle auch in seinen späteren Publikationen häufig fotografische Illustrationen verwendete, wie er überhaupt eine umfangreiche Sammlung an Fotografien und Bildpostkarten zusammentrug. 120

116 Vgl. Schumacher/Wolff, Nachlässe, Manuskripte, Autographen und Fotosammlungen. 117 Vgl. dazu Reiß/Stübel, Das Todtenfeld von Ancon zu Peru. 118 Stübel/Uhle, Die Ruinenstätte von Tiahuanaco. Zu Uhle und seinem Werk vgl. z.B. Uhle, Pläne archäologischer Stätten im Andengebiet; Höflein, Leben und Werk Max Uhles; die Sondernummer der Indiana von Thiemer-Sachse (Hg.), Estudios andinos: Max Uhle, su obra, y su repercusión; die entsprechenden Beiträge in Wolff (Hg.), Die Berliner und Brandenburger Lateinamerikaforschung sowie immer noch Rowe, Max Uhle. 119 Vgl. zum fotografischen Nachlass von Stübel und Reiß die Diplomarbeit von Reinert, Fotografische Quellen zur Geschichte Lateinamerikas sowie Krase, „Von der Wildheit der Scenerie eine deutliche Vorstellung“; ders., Organising the World und Brogiato, Die Collection Alphons Stübel. 120 Vgl. Nachlass Max Uhle, Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin.

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Abbildung 20: Fotografie „Das Monolith-Thor von Ak-Kapana (Ostseite)“ von Georges B. von Grumbkow, 1876, aus Stübel, Alphons und Uhle, Max: Die Ruinenstätte von Tiahuanaco im Hochlande des alten Perú: Eine kulturgeschichtliche Studie auf Grund selbständiger Aufnahmen, Leipzig: Hiersemann, 1892, Tafel 5/2. Bei dem Mann mit Hut und Bart auf dem Foto des später zumeist Sonnentor genannten „Monolith-Thores“ handelt es sich um Alphons Stübel. Vgl. für weitere fotografische Bilder des Sonnentores die Fotografien „Sonnentor von vorn gesehen“, „Sonnentor von rückwärts gesehen“, „Bruchstelle des Sonnentores von der linken Seite gesehen“ und „Das im Jahre 1908 auf Fundamente gestellte und in seiner Originalform wieder aufgerichtete Sonnentor“ von Arthur Posnansky, 1900er Jahre, aus Posnansky, Arthur: Eine praehistorische Metropole in Südamerika = Una metrópoli prehistórica en la América del Sud, Berlin: Reimer, 1914, Tafel 45, Fig. 45, 46 und 46a, nach S. 120 und Tafel 65 nach S. 184. Nach Fotografien gezeichnete Bilder des Sonnentores in Tiahuanaco zirkulierten im Deutschen Reich mindestens schon seit den 1870er Jahren, vgl. z.B. die Zeichnungen in Squier, Ephraim George: Peru: Incidents of Travel and Exploration in the Land of the Incas, New York: Harper, 1877, S. 288 und 289. Der Journalist und Archäologe Ephraim George Squier (1821-1888) berichtete in dem Werk über seine Forschungen in Tiahuanaco, für ihn das „Baalbek der Neuen Welt“. Zuvor war auch schon Tschudi in Tiahuanaco gewesen und hatte darüber berichtet.

Wie Uhle hatten auch andere deutsche Forscher, die archäologische Studien in Südamerika betrieben, keine einschlägige akademische Ausbildung. Dies bestätigt, was auch schon Paul Hempel und andere nicht nur für die deutsche Südamerikaforschung feststellten, dass nämlich die Grenze zwischen den wenigen professionellen, institutionell angebundenen Wissenschaftlern, seien es Archäologen, Ethnologen, Anthropologen oder Naturwissenschaftler, und Laien- oder Hobbyforschern durchlässig war.121 Denn öffentliche Mittel für wissenschaftliche Forschungen in Südamerika waren im

121 Vgl. Hempel, Facetten der Fremdheit, S. 187 sowie Zimmermann, Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany. Vgl. zu Laien in der peruanischen und chilenischen Archäologie ausführlich auch Gänger, Relics of the Past.

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Deutschen Reich ebenso wie in Südamerika rar. Die Finanzierung von Reisen und Expeditionen erfolgte häufig aus eigener Tasche bzw. durch Mäzene (wie im Fall Erland Nordenskiölds, dessen Reise 1908/09 von seinem Freund Arvid Gustaf Michael Hernmarck finanziert wurde); Anstellungen an südamerikanischen Institutionen, wie sie etwa Lehmann-Nitsche oder immer wieder auch Max Uhle hatten, waren eher die Ausnahme. So kam gebildeten Emigranten, die aus eigenem Interesse und Antrieb und vor allem selbst finanziert vor Ort mehr oder weniger wissenschaftlich fundierte Forschungen anstellten und deren Ergebnisse veröffentlichten, eine recht große Bedeutung zu. Neben dem bereits kurz erwähnten Friedrich Christian Mayntzhusen, der in Paraguay forschte, sind als wichtige archäologisch forschende Laien Arthur Posnansky und Hans Hinrich Brüning zu erwähnen. Der 1873 in Wien geborene Arthur Posnansky war ursprünglich Schiffbauingenieur (ausgebildet an der Akademie der kaiserlichen und königlichen Kriegsmarine in Pula im heutigen Kroatien) und wanderte 1896 zunächst nach Brasilien aus, wo er im Amazonasgebiet die Empresa de Navegação dos rios Purus e Acre gründete. Nachdem er jedoch im Konflikt zwischen Bolivien und Brasilien um die Provinz Acre Partei für Bolivien ergriffen hatte (mit seinem Dampfschiff „Isis“ hatte er als Blockadebrecher operiert und bolivianische Soldaten aufgenommen), wurde er von brasilianischen Truppen gefangen genommen und enteignet.122 Posnansky entkam und floh zunächst nach Europa, bevor er Anfang der 1900er Jahre nach Bolivien kam, wo er als Besitzer einer Ziegelei und Unternehmer im Montanwesen sowie im Außenhandel bald sehr erfolgreich war. 1905 wurde er in den Stadtrat von La Paz gewählt und er nahm die bolivianische Staatsbürgerschaft an. Seine Verdienste für die Nation hatte die bolivianische Regierung schon zuvor, 1901 und 1903 mit zwei Goldmedaillen und dem Titel eines Benemerito de la Patria gewürdigt.123 Neben seinen beruflichen und politischen Aktivitäten betätigte sich Posnansky in Bolivien sehr bald als Archäologe und Ethnologe/Anthropologe. Offenbar war er diesbezüglich schon länger interessiert, denn bereits während seiner Ausbildung an der Marineakademie hatte er während einer Fahrt, die u.a. zu den Osterinseln führte, dort Forschungen angestellt. Das galt offenbar auch für seine Zeit im Amazonasgebiet. Ab der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts unternahm Posnansky dann Reisen ins Hochland der bolivianischen und peruanischen Anden, um archäologische Stätten der Inka und früherer Kulturen zu lokalisieren und zu erforschen. Ein Schwerpunkt seiner Studien waren dabei die Ruinen von Tiahuanaco, über die er beispielsweise auf den Internationalen Amerikanistenkongressen 1910 in Buenos Aires, 1924 in Den Haag, 1928 in New York und 1932 in La Plata referierte. Die vielleicht bedeutendste, sicher die bekannteste seiner zahlreichen Veröffentlichungen, ist die zuerst 1914 in deutscher und spanischer, später auch in englischer und portugiesischer Sprache erschienene Arbeit über die „prähistorische Metropole“ Tiahuanacu.124 Auch wenn Posnanskys Datierung der Ursprünge der Stadt auf ca. 15.000 v.Chr. heute ebenso als widerlegt gilt 122 Vgl. den autobiografischen Bericht von Posnansky, Campaña del Acre. 123 Vgl. Parker, Bolivians of To-Day, S. 123-128, bes. S. 127. Es gibt nicht viele Arbeiten zu Posnansky, vgl. für seine Vita weiterhin Ponce Sanginés, Arthur Posnansky y su obsesión milenaria; erwähnt wird er auch in Honoré, Ich fand den weißen Gott, bes. S. 225-228. 124 Vgl. Posnansky, Eine praehistorische Metropole in Südamerika und ders., Tihuanacu sowie ders., Tihuanacu: The Cradle of American Man.

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wie seine Ansicht, die Stadt habe direkt am Titicacasee gelegen und sei der zivilisatorische Ursprung aller amerikanischen Hochkulturen einschließlich der Inka und auch der Maya gewesen, ist sein Werk noch heute ein wichtiger Beitrag zur archäologischen Forschung. Diese Bedeutung verdankt es insbesondere den zahlreichen Fotografien (Abb. 21) (Abzüge gibt es beispielsweise auch im Fotoarchiv des Hamburger Museums für Völkerkunde), den Plänen und den detaillierten Beschreibungen der Stätte. 125 Auch Posnanskys Annahmen, Tiahuanaco sei ganzjährig und nicht saisonal als zeremonielles Zentrum bewohnt gewesen und aufgrund klimatischer Veränderungen aufgegeben worden, sind noch heute breit akzeptiert. Und nicht zuletzt ist es Posnanskys jahrzehntelanger Forschung und seinen persönlichen Bemühungen zu verdanken, dass die lange vernachlässigte, durch Plünderungen und die Nutzung als Steinbruch stark beschädigte Stätte, deren Zustand schon Max Uhle bei seinem Aufenthalt in La Paz Mitte der 1890er Jahre schockiert hatte, wenigstens nicht noch weiter zerstört worden ist. Ebenso wie Posnanskys Hauptwerk sind auch viele seiner früheren Arbeiten, Monografien genau wie Aufsätze in Zeitschriften, z.T. reich mit Fotos illustriert. 1912 gab er im Verlag Heitmann in La Paz auch einen Guia General ilustrada para la Investigación de los Monumentos prehistóricos de Tihuanacu é Islas del Sol y la Luna (Titicaca y Koaty) heraus.126 Zudem verwendete er, wie oben im Zusammenhang mit der Vorstellung des Fotos (Abb. 8) und der anthropometrischen Daten des Aymaramädchens bei der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte im Mai 1913 erwähnt, die Präsentationsform des Diavortrages, um die Ergebnisse seiner Forschung zu veranschaulichen. Auch sein Vortrag beim Internationalen Amerikanistenkongress im Mai 1910 in Buenos Aires war, wie Lehmann-Nitsche in den Kongressakten vermerkte, begleitet von „proyecciones luminosas“.127 Neben dem oben erwähnten wissenschaftlichen Nutzen von Fotos für die Archäologie, Anthropologie und Ethnologie spielten bei ihrem Gebrauch durch Posnansky noch zwei weitere Aspekte eine Rolle: Erstens war Posnansky offenbar generell technikinteressiert, vielleicht gar -begeistert. Ausdruck dessen ist beispielsweise, dass er zu Beginn des 20. Jahrhunderts das erste oder zumindest eines der ersten Automobile ins Land brachte oder dass er in den 1920er Jahren die Filmproduktionsfirma Cóndor Mayku gründete. Mit dieser produzierte er zahlreiche Kurz-, Spiel- und Dokumentarfilme, darunter La Gloria de la Raza von 1928, bei dem Posnansky auch Regie führte. Der Film zeigt Posnansky, wie er, begleitet von einem indigenen Führer, präkolumbische Ruinen besucht, die filmisch monumental in Szene gesetzt werden. Auch mit diesem visuellen Medium vermittelte Posnansky die Attraktion der archäologischen Stätten, allen voran von Tiahuanaco. 128 Dass Posnansky neben den Ruinen auch sich selbst filmisch inszenierte, verweist auf 125 Vgl. z.B. Stanish, Tiwanaku Political Economy oder ausführlich Kolata, Tiwanaku and Its Hinterland. 126 Vgl. Posnansky, Guia General ilustrada. Vgl. weiterhin für fotografische Illustrationen und Abbildungen in Monografien z.B. ders., Eine praehistorische Metropole in Südamerika und in Aufsätzen z.B. ders., Die Altertümer von Tiahuanacu. 127 Vgl. Lehmann-Nitsche (Hg.), Actas del XVII Congreso Internacional de Americanistas 1, S. 102. 128 Vgl. Biografías y Vidas: La enciclopedia biográfica en línea, Eintrag Arturo Posnansky, http://www.biografiasyvidas.com/biografia/p/posnansky.htm [26.08.2018].

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den zweiten Aspekt: Gut möglich, dass der „schöne Arthur“, wie Lehmann-Nitsche ihn in einem handschriftlichen Kommentar zu Bildern, die Posnansky in seinem Auto, in Tiahuanaco und in Kriegsornat posierend, in einem seiner Fotoalben nannte, 129 ein wenig eitel war. Auf mehreren Fotografien ist Posnansky gemeinsam mit anderen bekannten Forschern, etwa mit dem US-amerikanischen Archäologen Wendell Bennett (1905-1953),130 sowie vor der Kulisse der archäologischen Stätten zu sehen. James Scorer hat dieses weitverbreitete Phänomen – auch Alphons Stübel, der sich 1876 von Georges von Grumbkow neben dem Sonnentor in Tiahuanaco fotografieren ließ (Abb. 20), Alfred Maudslay, Hiram Bingham, Sylvanus Morley, Emilio Harth-Terré oder Merle Green Robertson ließen sich vor präkolumbischen Ruinen aufnehmen – untersucht. Er konstatiert ein fetischistisches Begehren der Forscher, auf diese Weise mit der materiellen Vergangenheit zu interagieren. 131 Im Falle der Bilder von und mit Posnansky in Tiahuanaco könnte weiterhin eine Rolle gespielt haben, dass dieser demonstrieren wollte, dass nunmehr er der Tiahuanaco-Experte (zumindest der deutschsprachige Experte) sei und es sich quasi um „seine“ archäologische Stätte handelte – schließlich hatte vor Posnansky der archäologisch wohl deutlich renommiertere Uhle über Tiahuanaco publiziert. Ähnlich wie Nordenskiöld oder Uhle verfolgte auch Posnansky einen multidisziplinären Zugang bei seinen Studien. So betonte er im Februar 1913 in einem Vortrag vor der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, „dass es durchaus notwendig ist, dass der neuen Forschung der südamerikanischen Archäologie im sogenannten Lande der Inka, eine neue Richtung gegeben werden muss, die auf anthropologische, ethnologische Forschungen aufzubauen wäre, unter Berücksichtigung des soziologischen Studiums und genauer Beobachtung der Ethik des Indianers, der noch heut [sic] uralte Bräuche ausübt. Auch muss die Aufmerksamkeit des Archäologen auf die Folklore gerichtet werden und auf alte religiöse Herkommen, die sich bei den Indianern noch heute teilweise unverfälscht, jedoch auch oft mit bombastischem, spanischem Firlefanz verunziert, erhalten haben.“ 132

Die von ihm erhobene Forderung, archäologische Forschung mit ethnologischen, anthropologischen, soziologischen und folkloristischen Studien zu kombinieren, beherzigte Posnansky auch selbst, wie das oben im Zusammenhang der anthropologischen Fotografie erwähnte Beispiel seiner Vermessung von Epiphania Calderon Kunduri,

129 Vgl. das Album „Perú-Bolivia“, Nachlass Robert Lehmann-Nitsche, Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signatur N-0070 s 76. 130 Vgl. z.B. eine Fotografie von Posnansky vor dem Sonnentor in Tiahuanaco bei Browman, La Sociedad Arqueológica de Bolivia, S. 43 und die Fotografie von Bennett und Posnansky in Tiahuanaco (1933) auf der Website Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia. org/wiki/File:Bennet_Posnansky.JPG [26.08.2018]. Bennett führte 1934 die erste stratigrafische Grabung in Tiahuanaco durch; nach ihm ist die Bennett-Stele benannt. Vgl. Blumtritt, Der „Schlafende Gigant“ ist erwacht. 131 Vgl. Scorer, Archaeological Selfieism. 132 Posnansky, Die Altertümer von Tiahuanacu, S. 180. Im Rahmen seines Europaaufenthaltes 1913 machte Posnansky auch Werbung für seine im Jahr darauf erscheinende Monografie: ders., Eine praehistorische Metropole in Südamerika.

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dem etwa 10jährigen Aymara-Mädchen aus La Paz, Bolivien, dessen Eltern angeblich aus dem Hochland von Bolivien stammten, zeigt. 133

Abbildung 21: Fotografie „Idol im Palast Kalasaya“ von Arthur Posnansky, 1900er Jahre (?), aus Posnansky, Arthur: Eine praehistorische Metropole in Südamerika = Una metrópoli prehistórica en la América del Sud, Berlin: Reimer, 1914, Frontispiz.

Für seine Forschungen und sein Engagement für den Erhalt archäologischer Stätten erhielt Posnansky zahlreiche Auszeichnungen in seinem neuen Heimatland: 1905 verlieh ihm beispielsweise auch der bolivianische Senat eine Goldmedaille; später wurde er Direktor des Nationalmuseums und Präsident der Geografischen Gesellschaft zu La Paz sowie der 1930 von ihm (mit-)gegründeten Sociedad Arqueológica. Die deutsche Regierung verlieh ihm 1914 ehrenhalber den Titel eines Professors. 134 Wie allein schon seine mehrfachen Einladungen zu Vorträgen bei der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte deutlich machen, war Posnansky, obwohl er kei-

133 Vgl. Posnansky, Aymaramädchen. Posnansky veröffentlichte außerdem neben einigen Arbeiten zur Folklore auch eine kleine linguistische Arbeit von 27 Seiten. Vgl. ders., La lengua “chipaya”. 134 Vgl. Parker, Bolivians of To-Day, S. 127-128 und Browman, La Sociedad Arqueológica de Bolivia.

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ne einschlägige akademische Ausbildung hatte, in der sich mit Südamerika beschäftigenden deutschen (und internationalen) wissenschaftlichen community voll akzeptiert. Neben seinen wissenschaftlichen Leistungen mag dazu auch seine offenbar gefällige Art beigetragen haben. Nachdem er 1910 als Delegierter der Sociedad Geográfica de La Paz am von Lehmann-Nitsche ausgerichteten Internationalen Amerikanistenkongress in Buenos Aires teilgenommen hatte, lud er mehrere Wissenschaftler, darunter Eduard Seler und seine Frau Caecilie, Max Uhle und Lehmann-Nitsche nach La Paz ein, um von dort aus Tiahuanaco zu besuchen.135 Allerdings scheute „der schöne Arthur“ auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung nicht; anbiedern musste er sich nicht. So hatte er beispielsweise mit Max Uhle, der ja ebenfalls zu Tiahuanaco veröffentlicht hatte (und der womöglich „seine“ Domäne bedroht sah) eine Meinungsverschiedenheit, die u.a. 1913 im Berliner Verlag der Gebr. Unger veröffentlicht wurde.136 1946 starb Arthur (oder „Arturo“, wie er in seiner neuen Heimat genannt wurde) Posnansky in La Paz. Seine Werke sind in Bolivien angeblich noch heute recht bekannt, im deutschsprachigen Raum finden sie genau wie ihr Autor dagegen kaum Beachtung.137 Genau andersherum ist der Fall Hans Hinrich (auch Heinrich und in Peru: Enrique) Brünings gelagert: Während Posnansky zeitgenössisch von der akademischen Welt als Forscher akzeptiert wurde und Bestandteil des nationalen und internationalen Netzwerks der sich mit Südamerika beschäftigenden wissenschaftlichen community war, war Brüning – ähnlich wie Teobert Maler (1842-1917), der in Mexiko Maya-Ruinen erforschte und fotografisch dokumentierte 138 – ein wissenschaftlicher Außenseiter. Heute dagegen ist Brüning relativ bekannt: So gibt es zum Beispiel zwei Dokumentarfilme über seine archäologischen Entdeckungen in Peru. Diese Bekanntheit ist vor allem der regen Publikationstätigkeit von Forschern des Museums für Völkerkunde in Hamburg zu verdanken.139 Das Museum beherbergt den größten Teil des Nachlasses Brünings (Fotografien, Korrespondenz, Tage- und Notizbücher, weitere 135 Vgl. Lehmann-Nitsche (Hg.), Actas del XVII Congreso Internacional de Americanistas 1, S. 628-647. 136 Posnansky, I. Eine falsche Kritik Max Uhle’s. 137 Es gibt (Stand Februar 2018) nicht einmal einen Eintrag zu Posnansky im deutschsprachigen Wikipedia. Es gibt allerdings einen Eintrag z.B. im englisch- und spanischsprachigen Wikipedia. 138 Vgl. zu Maler König, Teobert Maler; Durán-Merk/Merk, I Declare This to Be My Last Will; Leysinger, Teobert Maler; dies., Teobert Maler and Mexican Archaeology sowie dies., Collecting Images of Mexico. 139 Vgl. z.B. Chávez, Auf den Spuren eines Pioniers; Raddatz, Zum Sammler Hans Hinrich Brüning und zuletzt Cánepa Koch, Unfixed Images sowie die Arbeiten des unermüdlichen Schmelz, Der Forscher Hans H. Brüning; ders., Porträtfotos des Peru-Forschers Hans Heinrich Brüning; ders., Peru, Hans H. Brüning und das Museum für Völkerkunde Hamburg und Aristizábal/Schmelz, Hans H. Brüning y la etnohistoria del norte del Perú. Vgl. weiterhin die Dokumentarfilme Tatort Tucume – Pyramidenstadt in Peru, Film von Aidan Laverty (Produktion: BBC und National Geographic Channel in Kooperation mit dem ZDF, Großbritannien/Deutschland 2007) und Schliemanns Erben: Goldpyramiden im Inka-Reich, Film von Gisela Graichen und Michael Tauchert (Produktion: Peter Prestel Film im Auftrag des ZDF, Deutschland 2008).

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Aufzeichnungen u.a.) sowie Teile seiner Sammlung, die das Museum, zu dem Brüning schon 1897/98 während einer Reise in die alte Heimat Kontakt herstellte, 1926, 1929 und 1933 erwarb, nachdem Brüning 1925 aus gesundheitlichen Gründen aus Peru zurückgekehrt war. Nach dem Tod Brünings 1928 gerieten seine Forschungen bald in Vergessenheit. Doch seit in den 1970er Jahren der US-amerikanische Ethnologe, Anthropologe und Archäologe Richard Paul Schaedel (1920-2005) den Nachlass Brünings sichtete und bearbeitete, ist kontinuierlich zu Brüning gearbeitet worden.140 Der 1848 im holsteinischen Hoffeld, südlich von Kiel, geborene Brüning studierte Maschinenbau, Mechanik, Mathematik und Zeichnen (letzteres wirkte sich positiv auf seine archäologische Forschung, die Vermessung und zeichnerische Dokumentation präkolumbischer Ruinen aus) und kam 1875 nach Peru, wo er dann ein halbes Jahrhundert lebte. Brüning war zunächst auf der Zuckerhacienda Pátapo im departamento Lambayeque angestellt, wo er als Ingenieur für die Wartung und vermutlich die Beschaffung der Maschinen zuständig war; später arbeitete er ebenfalls als technischer Ingenieur aber wohl auch als Verwalter auf weiteren Anwesen in der Gegend. Vermutlich hatte er auch mit anderen geschäftlichen Unternehmungen zumindest teilweise Erfolg. Jedenfalls verkehrte er in den höheren gesellschaftlichen Kreisen Lambayeques, Chiclayos und Etens. 1909 kaufte er ein großes Haus in der Calle San Roque in Lambayeque, wo er mit seiner Frau Sofía Hormann (einer Arequipeña deutscher Abstammung) und einem oder zwei Kindern lebte. Die Beziehung scheint aber nicht gehalten zu haben, denn einige Zeit später warb er um eine Peruanerin.141 Im Laufe der Jahre entwickelte Brüning ein leidenschaftliches Interesse an seiner neuen Heimat und besonders an den dort lebenden Menschen, ihrer Geschichte und Kultur. Seit den späten 1880er Jahren betrieb Brüning archäologische Forschungen in Nordperu: Er vermaß Ruinen und dokumentierte diese in Zeichnungen und Fotografien, er führte Grabungen durch und trug im Laufe der Jahrzehnte eine sehr umfangreiche Sammlung an Artefakten der materiellen Kultur zusammen. Viele der über 5.000 Objekte verkaufte er – anders als andere europäische Forscher, die ihre „Beute“ europäischen Institutionen zuführten – dem peruanischen Staat, der 1921 unter der Administration Leguías die Einrichtung des landesweit ersten Regionalmuseums in Lambayeque beschloss. Zu Ehren Brünings, der auch der erste Direktor wurde, trägt es noch heute seinen Namen. Während Brünings Verdienste um die Archäologie in Peru so zumindest später gewürdigt wurden, erkannten nur wenige zeitgenössische Kollegen seine Leistungen im Bereich der wissenschaftlichen Forschung an. Eine dieser Ausnahmen war offenbar Max Uhle, mit dem er korrespondierte und mit dem er angesichts der vermeintlichen Gleichgültigkeit vieler Regierungen die Sorge um den Erhalt des kulturellen Erbes Perus teilte. (Ähnliches wurde im Zuge der Ausführungen zu Posnansky ja auch für bolivianische staatliche Institutionen festgestellt.) Geschätzt wurde seine Expertise auch 140 Vgl. Schaedel, La etnografía muchik (Schaedels Arbeit wurde vom Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) gefördert) und neben den oben erwähnten z.B. die Arbeiten von Hampe Martínez, El legado peruanista de Enrique Brüning; ders., La colección de Hans Heinrich Brüning und ders., La colección Brüning. 141 Vgl. Hampe Martínez, El legado peruanista de Enrique Brüning und Schmelz, Porträtfotos des Peru-Forschers Hans Heinrich Brüning, S. 680. Schmelz konnte eine Nachfahrin Brünings ausfindig machen und hat von ihr Informationen über Brüning erhalten.

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bei der Bestimmung, ob es sich bei Keramiken aus Nordperu um Originale oder um Fälschungen handelte.142 In der Forschung zu Brüning wird aus dessen z.T. eher sporadischen Korrespondenz mit Uhle, Lehmann-Nitsche, Hermann von Ihering, dem schweizamerikanischen Archäologen Adolph Francis Alphonse Bandelier (18401914), den Brüning 1895 auf dessen Expedition in Peru begleitete, Sir Clements Robert Markham (1830-1916) von der Royal Geographical Society in London oder dem USamerikanischen Anthropologen Alfred Louis Kroeber (1876-1960) von der University of California in Berkeley und einigen anderen allerdings gelegentlich eine zeitgenössische wissenschaftliche Akzeptanz und Reputation Brünings abgeleitet, die dieser anscheinend nicht hatte. An den Internationalen Amerikanistenkongressen etwa nahm Brüning nicht teil und auch in den wichtigen wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlichte er mit der Ausnahme einer knappen Notiz 1913 in der ZfE und eines Artikels, der 1928 kurz vor seinem Tod im Baessler-Archiv erschien, nicht.143 Lediglich im Globus publizierte er zwei Artikel über Fälschungen ethnographischer Gegenstände in Perú und die Moderne Töpferei der Indianer Perus sowie einen Beitrag in Der Erdball über Flöße an der Küste Perus;144 dazu mehrere Aufsätze in der Anthropophyteia, die sich „folkloristische[n] Erhebungen und Forschungen zur Entwicklungsgeschichte der geschlechtlichen Moral“ (so der Untertitel) verschrieben hatte und auf die im folgenden Kapitel näher eingegangen wird. Viele Südamerikaforscher nahmen Brünings Forschungen offenbar entweder überhaupt nicht zur Kenntnis oder sie beurteilten sie abschätzig. 1918 informierte Brüning, der sich „nämlich auch seit einiger Zeit mit Volksastronomie beschäftigt“ hatte, Lehmann-Nitsche in einem Brief über „die alten Quichuanamen der Sternbilder“ (Lehmann-Nitsche interessierte sich in seinen späteren Jahren, wie oben bereits erwähnt, für Astrologie). Despektierlich kommentierte dieser mit rotem Buntstift: „Weiß ich längst!“ und „Ist mir längst bekannt!“145 Auch Max Uhle etwa bezweifelte die wissenschaftliche Bedeutung von „Amateuren“ zusammengetragener Sammlungen und grenzte sich wie viele Kollegen als „wissenschaftlicher Archäologe“ strikt davon ab.146 Von der heutigen Forschung wird Brüning dagegen zu Recht als Pionier betrachtet, der für seine „Entdeckung“ der Lehmziegel-Pyramiden von Túcume, errichtet vermutlich um 1100 unserer Zeit von der Lambayeque- bzw. Sicán-Kultur, und v.a. auch für seine Fotos von heute ganz, im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert jedoch nur teilweise zerstörten archäologischen Stätten und verlorenen Objekten von Archäologen, 142 Vgl. zum diesbezüglichen Kontakt Brünings zum Museum für Völkerkunde in Hamburg während seiner Reise nach Norddeutschland 1897/98 und zum Briefwechsel mit Carl Wilhelm Lüders, dem Vorsteher des Museums Chávez, Auf den Spuren eines Pioniers, S. 9495. Zur Korrespondenz mit Uhle vgl. Raddatz, Zum Sammler Hans Hinrich Brüning sowie Chávez, Auf den Spuren eines Pioniers. 143 Vgl. Brüning, Beiträge zur Bedeutung der Namen „Yunga“ und „Quichua“ und ders., Reisen im Gebiet der Aguaruna. 144 Vgl. Brüning, Fälschungen ethnographischer Gegenstände; ders., Moderne Töpferei der Indianer Perus und ders., Balkenflöße︢ an der Küste von Peru. 145 Vgl. den Brief Brünings an Lehmann-Nitsche, Lambayeque, 28.08.1918, Bl. 3, Nachlass Robert Lehmann-Nitsche, Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signatur N-0070 b 75. 146 Vgl. Gänger, Relics of the Past, S. 158-159.

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Anthropologen und Ethnologen gewürdigt wird. Darüber hinaus rettete Brüning archäologische Objekte aus Raubgrabungen, indem er sie aufkaufte. (Andererseits war er damit natürlich Teil einer Nachfrage, die überhaupt erst einen Markt für die Beute aus Plünderungen und Raubgrabungen schuf.) Ebenfalls hoch geschätzt werden die Forschungen, die er, wie es andere Wissenschaftler auch taten, auch auf anderen Feldern, etwa der Linguistik und Anthropologie/Ethnologie, durchführte: So erstellte Brüning ein Wörterbuch der aussterbenden (und heute ausgestorbenen) Mochica-Sprache und nahm auf Wachswalzen populäre Musik (Märsche, marineras, serranitas, tristes u.a.) aus der Region Lambayeque auf.147 In einem Brief an Lehmann-Nitsche bemerkte Brüning in Bezug auf seine linguistischen Studien, es seien die „wichtigsten Studien welche hier jetzt vorzunehmen währen [sic!], denn es vergehen keine 10 Jahre und der letzte Mochica ist gewesen; was dagegen in der Erde vergraben ist kann noch lange ruhig da liegen bleiben.“148 Brüning war ein passionierter und auch ein recht guter Fotograf, der zudem auch Bilder von anderen Fotografen erwarb. 149 Knapp 4.000 Bilder, Abzüge und Negative, mit über 2.000 verschiedenen Motiven von ihm bzw. aus seinem Besitz sind überliefert und befinden sich zum allergrößten Teil im Archiv des Museums für Völkerkunde in Hamburg; einige befinden sich im Archiv des Ethnologischen Museums in Berlin. 150 Neben vielen Fotografien von Keramiken (81) und archäologischen Stätten (269) finden sich unter den Motiven auch Landschaftsaufnahmen sowie sehr viele Bilder der Menschen, denen Brüning an der nordperuanischen Küste begegnete und mit denen er zusammenlebte. Darunter sind einige wenige Typenfotografien offenbar von Arbeitern auf den Plantagen, v.a. aber viele Bilder mit Motiven von Arbeit, Alltag und populärer Kultur, z.B. von Festen oder Totenbräuchen.151 Einige Fotografien entstanden im Rahmen einer Expedition der Junta de Vías Fluviales zum Marañón, an der Brüning 1902

147 Die frühesten Aufnahmen wurden 1910/11 in Eten gemacht, weitere vermutlich 1923 in der Stadt Lambayeque. Dabei handelt es sich wahrscheinlich um die ältesten Tonaufnahmen aus Peru. Brüning schickte sie dem aus Wien stammenden jüdischen Musikwissenschaftler Erich Moritz von Hornbostel (1877-1935), der das phonographische Archiv der Universität in Berlin leitete. Nach den Aufnahmen von Konrad Theodor Preuss aus Kolumbien (100 Walzen) und den bereits kurz erwähnten Aufnahmen von Robert LehmannNitsche aus Bolivien und Nordargentinien (38 Walzen) stellen die 21 Tonwalzen von Brüning die umfangreichste phonographische Dokumentation der Zeit aus Südamerika dar. Vgl. Brüning, Walzenaufnahmen aus Peru und Ziegler, Die Walzensammlungen des ehemaligen Berliner Phonogramm-Archivs. Für das Wörterbuch vgl. Brüning, Mochica Wörterbuch. 148 Brief von Brüning an Lehmann-Nitsche, Lambayeque, 27.10.1918, Bl. 4, Nachlass Robert Lehmann-Nitsche, Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signatur N-0070 b 75. 149 Vgl. zu Brünings Fotografien z.B. Schaedel, La etnografía muchik; König, Hans H. Brüning und Schmelz, Das Leben an der Nordküste Perus sowie die Bilder und Beiträge in Brüning, Fotodokumente aus Nordperu. 150 Vgl. zu letzteren Bartels, Hans Heinrich Brüning’s Silver Gelatin Glass Negatives und Prümers, Hans Heinrich Brüning and Archaeology. 151 Vgl. Danwerth, Totenbräuche und Allerheiligen an der peruanischen Nordküste um 1900.

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teilnahm. Sie zeigen neben der Landschaft v.a. Angehörige der indigenen Gruppen, denen die Expeditionsteilnehmer begegneten.152 Während heute viele von Brünings Fotografien veröffentlicht sind, waren die meisten seiner Bilder zeitgenössisch nicht besonders weit verbreitet, da Brüning nur eingeschränkt publizierte und wissenschaftlich eben nicht besonders gut vernetzt war. Neben den Fotos in der Anthropophyteia, dem Baessler-Archiv und im Erdball wurden offenbar keine weiteren Bilder von Brüning im deutschsprachigen Raum veröffentlicht. So bekamen abgesehen von Freunden und Verwandten wohl nur einige andere Forscher seine Fotografien zu sehen. Im Nachlass des 1924 nach Peru ausgewanderten Geologen Georg Petersen (1898-1985) etwa befindet sich ein Abzug eines von Brüning aufgenommenen Bildes.153 Der Blick des wissenschaftlichen bzw. wissenschaftlich interessierten Publikums im Deutschen Reich (und darüber hinaus) auf Fotografien von Ruinen, Keramiken und anderen archäologischen Objekten, die Forscher wie Brüning, Posnansky, Uhle und andere in ihren Publikationen zugänglich machten, konnte mehrere Dimensionen haben. Zum einen ließ (und lässt) sich aus der Betrachtung konkreter wissenschaftlicher Nutzen ziehen, etwa für Vergleiche verschiedener Kulturen, Periodisierungen, die Dokumentation des Ist-Zustandes von archäologischen Stätten und vieles mehr. Auch ermöglichten sie die wissenschaftliche Beschäftigung mit Stätten, ohne dass diese zwangsläufig besucht werden mussten. (So publizierte Uhle gemeinsam mit Stübel über Tiahuanaco, indem er sich auf die Berichte und eben die fotografischen Aufnahmen des Südamerikareisenden stützte, während er selbst in Dresden und Berlin geblieben war.) Zum anderen waren archäologische Bilder analog zu vielen anthropologischen und ethnologischen Darstellungen von Indigenen Visualisierungen des Untergangs. Das wenn auch langsame so doch unvermeidlich scheinende Aussterben der indigenen Kulturen aufgrund ihrer zumeist „rassisch“ begründeten Unterlegenheit nahmen Bilder von Ruinen der bereits untergegangenen altandinen Kulturen vorweg. Dabei war die Beschäftigung mit archäologischen Stätten bzw. fotografischen Repräsentationen derselben allerdings häufig von einer Achtung, einer Wert- und Hochschätzung geprägt, die nur wenige Forscher – wie etwa Erland Nordenskiöld – den lebenden indigenen Völkern entgegenbrachten. Schon Alexander von Humboldt hatte sich voller Achtung mit archäologischen Stätten wie dem Felsen von Inti-Guaicu in den Anden oder der Pyramide von Cholula in Mexiko beschäftigt und dieses Interesse in seinen Pittoresken Ansichten der Cordilleren und Monumente amerikanischer Völker (1810) auch dem deutschen Publikum vermittelt – nicht zuletzt durch zahlreiche Illustrationen.154 Ein Jahrhundert später schätzte Posnansky „sein“ Tiahuanaco als „Wiege des amerikanischen Menschen“ und auch aus Uhles Werk spricht immer wieder die Achtung vor den verschiedenen indigenen Kulturen, mit deren Verbreitung und Abfolge er sich eingehend beschäftigte. Dies gilt nicht nur für die untergegangenen Inka – in 152 Die meisten der Fotografien im Nachlass sind als Scans im Fotoarchiv des Völkerkundemuseums in Hamburg einsehbar. 153 Vgl. die Fotografie „Huaca del Taco“ im Nachlass Georg Petersen, Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signatur N-0029 s 4. 154 Vgl. Humboldt, Pittoreske Ansichten der Cordilleren und Monumente amerikanischer Völker sowie die Zeichnung „Rocher d’Inti-Guaica“, Tafel 18, aus ebd., http://caliban.mpizkoeln.mpg.de/humboldt/atlas/images/tafel_18.jpg [26.08.2018].

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Ecuador entdeckte er 1921/22 Ruinen der Inka-Stadt Tomebamba, die Lösung der „ecuadorianische[n] Troja-Frage“155 – sondern auch für die indigene Bevölkerung seiner Zeit, die von den meisten Zeitgenossen als unterlegen, kindlich, rückständig, barbarisch, träge, ignorant, heidnisch usw. angesehen wurde. Die Diskrepanz zwischen der gloriosen Vergangenheit der Inka und der miserablen Situation der zeitgenössischen Indigenen war dabei nicht neu, wie der US-amerikanische Historiker Mark Thurner in seinen postkolonialen Studien festgestellt hat.156 Schon im 17. Jahrhundert stellten Geschichtsschreiber die noblen Inka, entsprechend den Hierarchien des spanischen Kolonialreiches, gewöhnlichen Indigenen gegenüber, um so die spanische Kolonialherrschaft zu legitimieren. Und auch im 19. und 20. Jahrhundert wurde diese Dualität von den republikanischen Eliten ebenso wie von deutschen und anderen internationalen Forschern fortgeschrieben: Während die glorreiche Inka-Vergangenheit beschworen wurde, um z.B. nationale Identität zu stiften, wurde gleichzeitig die Partizipation der Indigenen in die Zukunft verschoben, um gegenwärtig paternalistisch für die Indigenen zu entscheiden und zu sorgen, die dazu wegen ihrer miserablen Lebensumstände und ihrer Voraussetzungen nicht selbst in der Lage seien. Eine Visualisierung dessen stellt das Motiv der unten abgebildeten Bildpostkarte des „Trono del Inca en las Ruinas de Sacsayhuaman“ (Abb. 22 und 23) dar.157 Die Indigenen auf dem Bild werden als passiv präsentiert; ihnen fehlt – wie dem Bild überhaupt – jede Dynamik. Sie verharren passiv an ihrer Stelle: lokal wie im Bild und sozial, politisch sowie ökonomisch im übertragenen Sinne. Das Motiv erinnert insgesamt mehr an ein Stillleben, passend zur Musealisierung der indigenen Kultur, die degradiert und in Form von archäologischen, ethnologischen und anthropologischen Objekten, Relikten einer anderen Zeit, besichtigt werden konnte. Eine andere Lesart mancher Bilder, wie z.B. der Bildpostkarte „Cuadrante de Intihuatana en Pisac“ (Abb. 24), wäre, die gerade, aufrechte Haltung des Indigenen zu betonen. Entsprechend dem bereits angesprochenen zeitgenössischen indigenistischen Diskurs vermittelt das Bild Stolz und die Auferstehung ungebrochener Indigener aus Ruinen. Diese Interpretation, die mehr der postkolonialen Suche nach indigener agency und Würde entspricht, ist insofern nicht anachronistisch.

155 Höflein, Max Uhle in Ecuador, S. 336. 156 Vgl. Thurner, Peruvian Genealogies of History and Nation. 157 Auch auf dem nach einer Fotografie gefertigten Stich in Squiers Buch sitzt unten vor dem Tor zusammengekauert ein abgerissen aussehender Indigener. Dessen Rolle wird im Text jedoch ausführlicher beleuchtet und sein Zustand stellt sich als Tarnung heraus. Tatsächlich opfert er noch den alten Göttern und überwacht, dass die weißen Besucher nichts mitnehmen. Tschudi berichtet in seinem Werk, dass ihm und seiner Gesellschaft die mitgenommenen Artefakte einige Kilometer von der Stätte entfernt von Indianern wieder abgenommen worden seien. Vgl. Thurner, Peruvian Genealogies of History and Nation, S. 151-152. Vgl. außerdem die Fotografie „Das im Jahre 1908 auf Fundamente gestellte und in seiner Originalform wieder aufgerichtete Sonnentor“ von Arthur Posnansky, 1900er Jahre, aus Posnansky, Eine praehistorische Metropole in Südamerika, Tafel 65 nach S. 184, die ebenfalls einen Indigenen zeigt.

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Abbildung 22: Bildpostkarte „Cuzco-Perú. Trono del Inca en las Ruinas de Sacsayhuaman“, Verlag: H. G. Rosas, Cuzco, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 2008/14,82.

Abbildung 23: Bildpostkarte „Cuzco-Perú. Tronos incaicos en Sacsayhuaman“, Verlag: H. G. Rosas, Cuzco, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 2008/14,91.

Ein breiteres Publikum erreichten archäologische Bilder als Abbildungen in Länderund Reiseberichten (Abb. 25) sowie als Motive von Bildpostkarten. Letztere stammten in erster Linie aus Peru und wurden von Verlegern in Lima oder in Arequipa von Max T. Vargas und in Cuzco von der Librería H.G. Rozas herausgegeben. Tatsächlich sind die Motive mehr oder weniger bekannter archäologischer Stätten damals wie heute national vor allem mit Peru zu identifizieren. Es gibt sie auf peruanischen Bildpostkarten so oder sehr ähnlich auch heute, vor allem von Machu Picchu. Im 19. und frühen

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20. Jahrhundert war Machu Picchu aber noch kein Motiv, weil die Anlage von Hiram Bingham (1875-1956) erst 1911 wiederentdeckt bzw. die Wiederentdeckung durch Einheimische einige Jahre zuvor von ihm in der Welt bekannt gemacht wurde.158 (In den 1920er und 1930er Jahren fotografierten z.B. Martín Chambi und Manuel Figueroa Aznar die Stätte;159 die erste oder zumindest eine der ersten Aufnahmen, die ein größeres Publikum im Deutschen Reich zu sehen bekam, war die in den Werken Kasimir Edschmids, Abb. 26.160) Viele Ansichten zeigten die Ruinen von Tambomachay und Sacsayhuamán, beide in der Umgebung von Cuzco, sowie die etwa 30 bzw. 60 Kilometer von Cuzco entfernt gelegenen Ruinen von Písac und Ollantaytambo im Valle Sagrado de los Incas (wo sich auch Machu Picchu befindet).

Abbildung 24: Bildpostkarte „Cuzco-Perú. Cuadrante de Intihuatana en Pisac“, Verlag: H. G. Rosas, Cuzco, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 2008/14,79.

Auf vielen Fotografien und Bildpostkarten sind auch nicht-indigene, „westliche“ Besucher der Stätten zu sehen (Abb. 25, 27 und 28). Wie oben im Zusammenhang mit den Fotografien von Posnansky vor der Kulisse Tiahuanacos bereits angesprochen, kann dies neben der Markierung des Ortes, einem Beweis, dort gewesen zu sein, auch auf den Wunsch einer Interaktion mit den Ruinen als Überbleibsel einer glorreichen 158 Vgl. zu Bingham als „neuem Conquistador“, seiner „Entdeckung“ und seinen Berichten über Machu Picchu in der National Geographic z.B. einführend Hiatt, Machu Picchu oder Gómez, Iluminados y tránsfugas sowie mit einem Fokus auf Fotografie Cox, Framing Machu Picchu. 159 Vgl. Pereyra Chávez, ¿La fotografía como registro o como discurso?, S. 154-155 und Scorer, Andean Self-Fashioning. 160 Vgl. Edschmid, Glanz und Elend Süd-Amerikas, vor S. 401 und ders., Südamerika wird photographiert, S. 24-25. Wer der Autor der Fotografie ist, kann ich nicht genau feststellen. Die Fotografien, die in den Werken abgedruckt sind, stammen z.T. von Erna Pinner selbst, z.T. wurden sie von ihr gesammelt, d.h. wohl v.a. von einheimischen Fotografen erworben.

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inkaischen Vergangenheit hindeuten. Ein gängiges Postkartenmotiv sind außerdem Mochica-Keramiken. Beides, altandine Keramik wie Ruinen, galten und gelten als „typisch peruanisch“.

Abbildung 25: Fotografie „Die altperuanische Ruinenstadt Cajamarquilla aus inkaischer Zeit“ von Otto Nordenskjöld, 1920/21, aus Nordenskjöld, Otto: Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit. Natur/Mensch/Wirtschaft, übers. v. Ignaz Schlosser, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1927 [schwed. 1923: Människor och Natur i Sydamerika], Abb. 3, nach S. 16.

Abbildung 26: Fotografie „Ruinen der alten indianischen Bauwerke von Machu-Pichu [sic!] in den Kordilleren von Peru“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre (?), aus Edschmid, Kasimir: Südamerika wird photographiert, Bielefeld/Leipzig: Velhagen & Klasing, 1932, Bildteil S. 24-25.

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Abbildung 27: Bildpostkarte „Cuzco-Perú. Bases del Ccoricancha o Templo del Sol“, Verlag: H. G. Rozas, Cuzco, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 2008/14,66.

Abbildung 28: Bildpostkarte „Cuzco-Perú. Ruinas del Templo de Viracocha en Tinta“, Verlag: H.G. Rozas, Cuzco, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 2008/14,53.

WEITERE WISSENSCHAFTLICHE BILDER: GEOLOGIE, GEOGRAFIE, BOTANIK, ZOOLOGIE Obwohl der allergrößte Teil der Bilder, die mit wissenschaftlichem Blick zu betrachten waren, den Disziplinen Anthropologie/Anthropometrie, Ethnologie/Ethnografie und

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Archäologie zuzurechnen sind, gab es auch Bildmotive, die für weitere Wissenschaften von Interesse waren. Zu nennen sind die Geowissenschaften Geologie und Geografie sowie die Biowissenschaften Botanik und Zoologie. Die Vorteile, die fotografische Bilder auch diesen Disziplinen brachten, sind im Verlauf der Untersuchung bereits genannt worden: Visuelle Belege eröffneten neue Erkenntnismöglichkeiten, sie bereicherten die Verbreitung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse ebenso wie deren Präsentation, sie ermöglichten Vergleiche sowie die Überprüfung von Forschungsergebnissen, ohne Reisen an die entsprechenden Orte unternehmen zu müssen und sie bewahrten den Status quo zumindest als Abbild. Der bereits erwähnte Alphons Stübel beispielsweise nutzte die neue Technik der Fotografie bereits in den 1860er Jahren, um geologische Erkenntnisse, etwa solche, die er mit Hilfe von Reliefkarten auf Santorin in der Ägäis gewonnen hatte, zu verbreiten. 161 Und wie ebenfalls erwähnt, brachten Stübel und Wilhelm Reiß, ebenfalls Geologe und wie Stübel auf Vulkanologie spezialisiert, von ihrer Südamerikareise, die sie von 1868 bis 1876 durch Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien und Brasilien führte, kistenweise Fotografien mit.162 Viele dieser Fotografien sind und waren in den Veröffentlichungen der Forschungsergebnisse dieser Reise dem interessierten Publikum zugänglich. Neben Abbildungen geologischer Phänomene und Formationen gibt es auch zahlreiche Bilder, die von Interesse für Ethnologen und Anthropologen, Archäologen oder Geografen waren.163 Eine noch größere Reichweite hatten geologische Fotos, die in späteren Länderund Reiseberichten mit größeren Auflagen erschienen und ein breiteres Publikum erreichten. Dabei konnte, wie in anderen Fällen wissenschaftlich zu betrachtender Fotos auch, die geologische Information in den Hintergrund treten oder en passant vermittelt werden. Ein Beispiel dafür ist das „Bild von der Eisenbahnstation Pachacayo auf der peruanischen Hochfläche (etwa 3500 m)“ (Abb. 29) aus Otto Nordenskjölds Südamerikabericht von 1927 [schwed. 1923]. Die Bildunterschrift verdeutlicht, dass es darum geht, zu zeigen, dass die Eisenbahn in Peru selbst das Andenhochland infrastrukturell erschloss, und die Arbeit der Ingenieure und Eisenbahnbetreiber zu würdigen. Der Geologe Nordenskjöld konnte jedoch nicht umhin, seine Leser in einer Ergänzung der Legende auf die „gefaltete[n] Gebirgslager“ im Hintergrund des Bildes hinzuweisen. Ähnliches gilt für die auf „Konglomerate kretazëischen oder tertiären Alters“ und „re-

161 Vgl. Stübel, Das Supra- und Submarine-Gebirge von Santorin. Fotografische Abbildungen fanden sich auch schon in Fritsch et al., Santorin, die Kaimeni-Inseln. Zu Reliefkarten vgl. weiter Stübel, Die Insel Madeira. 162 Vgl. die Collection Alphons Stübel, Fotosammlung im Bildarchiv des Leibniz-Instituts für Länderkunde, Leipzig, http://www.ifl-leipzig.de/de/archiv/bildarchiv/fotosammlung.html [26.08.2018] sowie Reinert, Fotografische Quellen zur Geschichte Lateinamerikas und knapp zur Sammlung und zum Sammlungsumfeld Brogiato, Historische Fotobestände aus Südamerika. 163 Vgl. z.B. Reiß/Stübel, Reisen in Süd-Amerika oder Stübel, Die Vulkanberge von Colombia. Für anthropologische/ethnologische Bilder vgl. besonders Stübel/Reiß, Indianer-Typen aus Ecuador und Colombia; für archäologische Bilder Reiß/Stübel, Das Todtenfeld von Ancon zu Peru oder Stübel/Uhle, Die Ruinenstätte von Tiahuanaco und für geografische Bilder Reiß/Stübel, Skizzen aus Ecuador.

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zente Tuffe“ verweisenden Bildunterschriften zu Abbildungen in Hans Meyers 1907 erschienenem Reisebericht In den Hoch-Anden von Ecuador (Abb. 30 und 31).

Abbildung 29: Fotografie „Bild von der Eisenbahnstation Pachacayo auf der peruanischen Hochfläche (etwa 3500 m). Im Hintergrund gefaltete Gebirgslager“ von George Miller Dyott, um 1920, aus Nordenskjöld, Otto: Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit. Natur/Mensch/ Wirtschaft, übers. v. Ignaz Schlosser, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1927 [schwed. 1923: Människor och Natur i Sydamerika], Abb. 73, nach S. 240.

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Abbildungen 30 und 31: Fotografien „Konglomerate kretazëischen oder tertiären Alters an der Westseite der Westkordillere bei 1000 m Höhe“ und „Eisenbahndurchstich durch rezente Tuffe am Palmirapaß bei 3200 m Höhe“ von John Horgan Jr, um 1900 (?), aus Meyer, Hans: In den Hoch-Anden von Ecuador: Chimborazo, Cotopaxi, etc., Berlin: Reimer, 1907, Abb. 11 u. 12, vor S. 51.

Der 1869 geborene ältere Cousin von Erland Nordenskiöld, Nils Otto Gustaf Nordenskjöld (die Nachnamen werden tatsächlich unterschiedlich, einmal mit i, einmal mit j geschrieben), hatte Geologie in Uppsala studiert und war zunächst – wie sein Onkel Adolf Erik Nordenskiöld, Erlands Vater – als Polarforscher bekannt geworden. Nach Expeditionen nach Patagonien und Feuerland (1895-1897) und nach Alaska (1898) führte er 1901 bis 1903 die schwedische Antarktisexpedition durch, die ihn berühmt machte, für die er sich aber auch hoch verschuldete.164 1905 wurde Nordenskjöld Professor für Geografie und Ethnografie an der Universität in Göteborg. Nach weiteren (nicht selbst finanzierten) Reisen u.a. nach Grönland (1909) unternahm er 1920/21 erneut eine Südamerikaexpedition, seine letzte, die ihn u.a. auch nach Peru führte. Im Anschluss daran verfasste er das erwähnte Werk, das 1923 unter dem Titel Människor och Natur i Sydamerika erschien und für die deutsche Ausgabe komplett überarbeitet wurde. Nordenskjölds Buch ist eine Melange aus Reisebericht und Handbuch; es gründet sich auf populärwissenschaftliche Vorträge, die er an der Universität in Göteborg hielt und die wiederum auf Schilderungen seiner Reisen basierten. Es ist mit 75 Fotografien illustriert, die außer von George Miller Dyott u.a. von einheimischen Fotogra164 Vgl. Nordenskjöld (Hg.), Wissenschaftliche Ergebnisse der Schwedischen Expedition nach den Magellansländern und ders. et al., „Antarctic“ sowie aus der Sekundärliteratur Elzinga (Hg.), Antarctic Challenges und Rabassa/Borla (Hg.), Antarctic Peninsula and Tierra del Fuego.

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fen (etwa Jacobo Peuser in Buenos Aires), von Otto Maull (1887-1957), Professor für Geografie in Graz, von Rudolf Dienst (Lebensdaten unbekannt) und von Nordenskjöld selbst stammen. Dazu übernahm er Abbildungen von anderen Forschern, wie etwa von Theodor Herzog und Theodor Koch-Grünberg. Fotografien, die diese beiden aufgenommen hatten, erschienen auch in weiteren Publikationen, beispielsweise in Karl Sappers (1866-1945) Die Tropen von 1923.165 1928 starb Otto Nordenskjöld bei einem Verkehrsunfall in Göteborg. Eine Besonderheit unter den veröffentlichten geologischen Fotografien sind die Abbildungen in Rudolf Hauthals 1911 erschienenen Bericht über seine Reisen in Bolivien und Peru ausgeführt 1908.166 Bei einigen der 86 veröffentlichten Fotografien handelt es sich um großformatige Abbildungen von Bergen und Gebirgszügen, die der auf Glaziologie spezialisierte Hauthal auf Gletscher und Spuren von früherer Vergletscherung untersuchte (Abb. 32). Manche der Panoramabilder im Buch sind über dreißig, zwei sogar über vierzig Zentimeter lang, die entsprechenden Seiten im Buch mehrfach gefaltet; Abbildung 77, „Der See Morococha (4500 m) in der Kordillere, östlich von Lima“, ist sogar 55 Zentimeter lang.

Abbildung 32: Fotografie „Gletscher an der Südseite des Toldorumi. 4750 m“ von Rudolf Hauthal, 1905, aus Hauthal, Rudolf: Reisen in Bolivien und Peru ausgeführt 1908 (Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Leipzig, Bd. 7), Leipzig: Duncker & Humblot, 1911, Abb. 83. Die Seite mit der knapp 31cm langen Fotografie ist mehrfach gefaltet.

165 Sapper, Die Tropen. 166 Hauthal, Reisen in Bolivien und Peru. Die Forschungsreise, von der Hauthal in dem Buch berichtete, führte der Autor tatsächlich 1905 durch. Warum im Titel das Jahr 1908 angegeben wurde, konnte nicht geklärt werden. Der 1854 in Hamburg geborene Hauthal wurde 1891 Leiter der Sección Geología y Mineralogía am naturkundlichen Museo de La Plata, wo später auch Lehmann-Nitsche wirken sollte. 1898 wurde er außerdem Professor für Geologie an der Universität in La Plata. 1906 kehrte er ins Deutsche Reich zurück und übernahm bis 1924 die Leitung des Roemer-Museums in Hildesheim. Vgl. Boetzkes, „Eine der ersten Stellen in Deutschland und Europa für Südamerika.“

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Als Motiv für Bildpostkarten waren geologische Bilder, deren Gros wenn überhaupt, dann in Fachpublikationen veröffentlicht wurden,167 nicht üblich. Nur in sehr seltenen Fällen wurden Bilder besonderer geologischer Phänomene dafür ausgewählt. Dazu zählt der bewegliche Stein von Tandil in Argentinien. Der knapp 300 Tonnen schwere Stein balancierte in schier unglaublicher Position, für das Auge nicht wahrnehmbar langsam hin und her schwingend auf einem Hügel in der Sierra de Tandil und war eine Attraktion, die viele auswärtige Besucher anzog, die sich mitunter mit Graffiti auf dem Stein verewigten. Auch war der Stein ein beliebtes Fotomotiv. Am 29. Februar 1912 stürzte der schwingende Stein aus nicht geklärter Ursache in die Tiefe und zerbrach. Möglicherweise waren Besucher dafür verantwortlich, die sein Schwingen mit Flaschen aushebelten; eine andere Theorie besagt, Einwohner von Tandil wären der Touristen überdrüssig gewesen und hätten den Absturz bewusst herbeigeführt. 2007 wurde die Touristenattraktion wiederhergestellt und eine Replik installiert.168

Abbildung 33: Bildpostkarte „Puente del Inca, Cordillera“, Verlag: C. Kirsinger & Cía, Valparaíso, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1966/658,70. Vgl. auch die Bildpostkarte „Puente Natural de Mea, Cordillera“, Verlag: C. Kirsinger & Cía, Valparaíso, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1966/658,177 sowie die Fotografie „Puente del Inca“ von Therese Prinzessin von Bayern, 1898, in Therese Prinzessin von Bayern: Reisestudien aus dem westlichen Südamerika (Bd. 2), Berlin: Reimer, 1908, S. 252.

167 Vgl. neben den bereits erwähnten z.B. Herzog, Beiträge zur Kenntnis von Tektonik und Glazial. Zu Herzog, der Bolivien in den Jahren 1907/08 bereist hatte, allerdings selbst kein Geologe, sondern Botaniker und Bryologe (Spezialist für Moose) war, s.u.. 168 Vgl. für die Geschichte des Steins, Fotos und Bildpostkarten La piedra movediza de Tandil, Website von Daniel Cuesta, 2003, http://www.lapiedramovediza.com.ar/ [26.08.2018].

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Abbildung 34: Fotografie „Pseudoglaziale Rinnenbildung bei Cuzco (Riesenstylolithe)“ von Rudolf Hauthal, 1905, aus Hauthal, Rudolf: Reisen in Bolivien und Peru ausgeführt 1908 (Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Leipzig, Bd. 7), Leipzig: Duncker & Humblot, 1911, Abb. 73. Vgl. auch die Fotografien „Eine Rutschpartie auf dem Hosenboden ist ein herrlicher Sport!“, Fotograf unbekannt, 1930/31, aus Kircheiß, Carl: Polarkreis Süd – Polarkreis Nord: Als Walfisch- und Seelenfänger rund um die beiden Amerika, Leipzig: Koehler, 1933, S. 168 und „Gletscher-Rillen auf den Felsen des Rodadero bei Kusko“ von Arthur Posnansky, 1900er Jahre (?), aus Posnansky, Arthur: Eine praehistorische Metropole in Südamerika = Una metrópoli prehistórica en la América del Sud, Berlin: Reimer, 1914, Tafel 2, Fig. 2, zwischen S. 18 und 19 sowie die Bildpostkarte „Cuzco-Perú. El Rodadero Ruinas de Sacsayhuaman“, Verlag: H.G. Rozas, Cuzco, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 2008/14,88.

Eine weitere Attraktion war (und ist) die Puente del Inca in den argentinischen Anden. Es handelt sich dabei um einen aufgrund von Erosion natürlich entstandenen Felsbogen über den Río Mendoza (Abb. 33). Auch die „Pseudoglaziale Rinnenbildung bei Cuzco (Riesenstylolithe)“, wie es in der Bildunterschrift bei Rudolf Hauthal nüchtern heißt, war eine Attraktion, die Südamerikareisende, die dort eventuell sogar selbst gerutscht waren, visuell oft vermittelten (Abb. 34): „Eine Rutschpartie auf dem Hosenboden ist ein herrlicher Sport!“, kommentierte Carl Kircheiß (1887-1953) eine in seinem Reisebericht abgedruckte Fotografie, die ihn selbst bei einer ebensolchen Rutschpartie zeigt.169 Einem breiten Publikum bekannt waren weiterhin Bilder, die in geografischen Darstellungen publiziert wurden. Diese Abbildungen zeigen v.a. Landschaften, Städte, In-

169 Kircheiß, Polarkreis Süd – Polarkreis Nord, S. 168

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frastruktur, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Motive aus Landwirtschaft, Bergbau, Handel u.a. Wirtschaftsbereichen. Sie ergänzen damit visuell die Informationen, die die Texte über die physische Geografie (Pflanzen- und Vegetationsgeografie, Klimageografie, Hydro- und Bodengeografie) sowie die Humangeografie (Bevölkerung, Wirtschaft, Verkehr) liefern. Entsprechende Fotografien illustrierten Arbeiten, die einzelne Länder behandeln oder Überblicksdarstellungen zu ganz Südamerika liefern. Erstere wurden etwa von Fritz Regel (eigentlich Christian Friedrich Leopold Regel), Professor für Geografie zunächst in Jena, seit 1899 in Würzburg, über Argentinien und über Kolumbien, das er in den Jahren 1896/97 bereist hatte, verfasst. 170 Die mit mehr als 1.600 Seiten wohl umfassendste deutschsprachige Länderstudie war Gottlieb Ernst Wilhelm Friedrich Middendorfs (1830-1908) von 1893 bis 1895 in drei Bänden (Bd. 1: Lima, Bd. 2: Das Küstenland von Peru und Bd. 3: Das Hochland von Peru) erschienene Arbeit über Peru.171 Insgesamt illustrieren über 300 Abbildungen „nach eigenen photographischen Aufnahmen“ das mit marmoriertem Schnitt verzierte Werk. (Der aus Thüringen stammende Middendorf hatte in Würzburg bei Rudolf Virchow Medizin studiert und arbeitete in den 1860er, 1870er und 1880er Jahren als Arzt in Peru. Während seiner langjährigen Aufenthalte dort führte er u.a. auch linguistische Untersuchungen der indigenen Sprachen Quechua, Aymara und Chimú durch.) Auch südamerikanische Fotografen publizierten entsprechende Werke, die mitunter auch in Europa wahrgenommen wurden, häufig aber wohl nur in ihren jeweiligen Ländern. Ein Beispiel ist der vermutlich in St. Petersburg geborene Robert (oder Roberto) Gerstmann (1896-1964), der 1924 nach Chile auswanderte und wegen seiner Tätigkeit als elektrotechnischer Ingenieur verschiedene südamerikanische Länder, darunter Chile und die Antarktis, Bolivien, Peru, Ecuador und Kolumbien, bereiste. Während dieser Reisen entstanden ca. 10.000 Fotografien, von denen er einige Hundert in drei 1928, 1932 und 1951 im Pariser Verlag Braun erschienenen Büchern veröffentlichte.172 Gerade seine Bilder der verschiedenen Regionen Chiles mit ihren unterschiedlichen Landschaften, Klima- und Vegetationsformen, land- und montanwirtschaftlichen Nutzungsformen, Bevölkerungsgruppen, ihrer Infrastruktur und anderen Besonderheiten sind ein bedeutender Beitrag zur geografischen Forschung. Zur zweiten Kategorie der Überblicksdarstellungen sind neben Otto Nordenskjölds Südamerika und anderen auch die sehr populären Werke von Wilhelm Sievers zu zählen, allen voran das Standardwerk Süd- und Mittelamerika, das im Untersuchungszeitraum zuerst 1894, danach in neubearbeiteten Auflagen 1903 und 1914 in der von ihm herausgegebenen Reihe der Allgemeinen Länderkunde erschien.173 Der gebürtige Hamburger hatte 1882 in Göttingen in Geografie promoviert und anschließend, finan170 Vgl. Regel, Kolumbien und ders., Argentinien. Vgl. zur Lateinamerikaexpertise Regels z.B. auch ders., Das lateinische Amerika. Neben weiteren Weltregionen, mit denen sich Regel v.a. wirtschaftsgeografisch beschäftigte, betrieb er Forschungen v.a. zu Thüringen, wo er in der Nähe von Gotha geboren wurde. 171 Middendorf, Peru. 172 Gerstmann, Bolivia; ders., Chile und ders., Colombia. Vgl. zu Gerstmann und seinem Werk auch Alvarado Pérez/Möller Z., Roberto M. Gerstmann y Antonio Quintana Contreras und Alvarado Pérez et al., Roberto Gerstmann: Fotografias, paisajes y territorios latinoamericanos. 173 Vgl. Sievers, Süd- und Mittelamerika.

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ziert durch einen Teil seines Erbes und verschiedene Stipendien (u.a. vermittelt durch Wilhem Reiß) 1884-86 Venezuela und Kolumbien bereist. Nach der Habilitation 1887 in Würzburg wurde Sievers 1891 Professor der Geografie an der Universität in Gießen. 1892/93 und 1909 folgten weitere Südamerikareisen nach Venezuela bzw. Ecuador und Peru, wo er u.a. den Verlauf des Río Marañón erforschte.174 Manche Berichte, die Sievers über seine Reisen verfasste, sind zumindest z.T. überaus nüchterne, dröge geowissenschaftliche Darstellungen, die den mitunter recht lebhaften Schilderungen anderer Autoren nicht sehr ähneln.175 Zur Anschaulichkeit von vielen von Sievers’ Arbeiten trugen immerhin Illustrationen bei. Handelte es sich dabei im 1887 erschienenen Bericht über die erste Südamerikareise, Reise in der Sierra Nevada de Santa Marta, noch um Zeichnungen aus der Feder von Anton Goering (1836-1905), eines Zeichners und Naturforschers, der selber 1867-74 Venezuela bereist hatte, war das 1914 veröffentlichte Reise in Perú und Ecuador ausgeführt 1909 fotografisch illustriert.176 Gleiches gilt für viele weitere Arbeiten Sievers’,177 darunter auch die der Allgemeinen Länderkunde. Diese erschien insgesamt in fünf Ausgaben und gehörte jahrzehntelang auch international (u.a. gab es eine russische Übersetzung) zur Standardliteratur der Geografie. Die erste Ausgabe erschien von 1891-95 in fünf Bänden, die Sievers mit Ausnahme der Teile zu Europa und Nordamerika alle selbst bearbeitete. Die zweite Ausgabe erschien von 1901-05 in sechs Bänden (Süd- und Mittelamerika, Bd. 3b, 1903), die dritte, 1910 begonnen, wurde wegen des Ersten Weltkrieges nicht fertiggestellt (Süd- und Mittelamerika, Bd. 3b, 1914). Dazu gab es 1907 eine kleine Ausgabe in zwei Bänden und nach Sievers’ Tod 1921 eine letzte bearbeitete Ausgabe, die als „Allgemeine Länderkunde, begründet von W. Sievers“ von 1924 bis 1933 in acht Bänden erschien. Die 64 Fotos aus dem 1914 erschienenen Südamerikaband der dritten Auflage, die nicht nur von Sievers selbst stammten, sondern u.a. von Paul Ehrenreich, Theodor Koch-Grünberg, Rudolf Hauthal oder dem Hamburger Wirtschaftsgeografen Rudolf Lütgens178 zur Verfügung gestellt wurden und z.T. bereits in anderen Publika174 Vgl. Sievers, Die Quellen des Marañón-Amazonas. Vgl. zur Person Gärtner, Sievers, Friedrich Wilhelm und zu seinen Venezuelareisen Rodríguez, Viajeros alemanes a Venezuela. Ähnlich wie Regel dies in Thüringen tat, betrieb auch Sievers darüber hinaus Heimatforschung in Hessen. Die Kombination von außereuropäischer Expertise und landeskundlichen Forschungen findet sich darüber hinaus auch bei Wilhelm Ule (1861-1940), der 1911 zunächst an der deutschen Antarktisexpedition teilnahm und später auch Südamerika bereiste. Vgl. Ule, Quer durch Süd-Amerika. Der Geograf, der von 1907 bis 1933 Professor an der Universität in Rostock war, gilt vielen als (einer) der Begründer der mecklenburgischen Landeskunde. 175 Vgl. z.B. Sievers, Die Cordillere von Mérida. Gleiches gilt für den wissenschaftlichen Bericht, den der Dresdner Geograf Alfred Hettner (1859-1941) über seine Forschungsreise in Kolumbien veröffentlichte, vgl. Hettner, Die Kordillere von Bogotá. Dieses Werk unterscheidet sich stark von Hettners an ein allgemeines Publikum gerichteten Reisebericht, vgl. Hettner, Reisen in den columbianischen Anden. 176 Vgl. Sievers, Reise in der Sierra Nevada de Santa Marta und ders., Reise in Perú und Ecuador. 177 Vgl. z.B. Sievers, Die Cordillerenstaaten. 178 Rudolf Lütgens ist einer der Begründer der Wirtschaftsgeografie. Vgl. sein Standardwerk Lütgens, Allgemeine Wirtschaftsgeographie. Ab 1910 lehrte er am Hamburger Kolonialin-

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tionen erschienen waren, wurden aufgrund der Bedeutung des gesamten Werkes sicher von sehr vielen Menschen gesehen (Abb. 35). Eine noch größere Verbreitung – nicht nur im Bereich Geografie oder Wissenschaft, sondern überhaupt – erfuhren vermutlich nur Bilder aus Südamerika, die in Schulbüchern für den Geografieunterricht, wie z.B. E. von Seydlitzsche Geographie für höhere Lehranstalten publiziert wurden (Abb. 36).179

Abbildung 35: Fotografie „Der Vulkan Villarica im südlichen Chile. Der Vordergrund zeigt die Spuren des Ausbruches vom 31. Oktober 1908“ von Rudolf Lütgens, um 1910, aus Sievers, Wilhelm: Süd- und Mittelamerika (Allgemeine Länderkunde, Bd. 3b), 3., neubearb. Aufl., Leipzig 1914, vor S. 293.

stitut und führte mehrere Forschungsreisen nach Lateinamerika durch, von denen er zahlreiche Fotografien mitbrachte, über die er aber nur kleinere Arbeiten publizierte. Vgl. ders., Auf einem Segler um Kap Horn; ders., Valparaiso und die Salpeterküste; ders., Beiträge zur Kenntnis des Quebrachogebietes in Argentinien und Paraguay und ders., Geographische Bilder aus dem argentinischen Chaco. Zudem war Lütgens Mitarbeiter für das Seydlitzsche Geografiebuch. 1928 wurde er Professor, 1942 Leiter des Kolonial- und Wirtschaftsgeographischen Instituts der Universität Hamburg. 179 Vgl. Rohrmann, E. von Seydlitzsche Geographie für höhere Lehranstalten. 3. Heft: Außereuropäische Erdteile, für weitere Bilder daraus s. Abb. 118, 120 und 385.

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Abbildung 36: Fotografie „La Paz in Bolivien; im Hintergrunde der Illimani (6860 m)“, Fotograf unbekannt, nach 1900 (?), aus Rohrmann, Adolf (Hg.): E. von Seydlitzsche Geographie für höhere Lehranstalten. 3. Heft: Außereuropäische Erdteile, 15. Aufl., Breslau: Ferdinand Hirt, 1924, Abb. 79, Bildteil im Anhang.

Viele der oben genannten Motive aus Südamerika, die in geografischen Arbeiten wie der Allgemeinen Länderkunde, dem Seydlitzschen Geografiebuch oder Otto Nordenskjölds Südamerika publiziert wurden, tauchten auch in Veröffentlichungen anderer Wissenschaftsdisziplinen auf: so etwa die Bilder der (indigenen) Bevölkerung in anthropologischen/ethnologischen Arbeiten oder Bilder aus dem Bereich der Pflanzen- und Vegetationsgeografie in botanischen Werken. Eine Besonderheit unter den geografischen bzw. geografisch verwendeten Bildern stellen in dieser Hinsicht Luftbildfotografien (auch Aerofotografien) dar. Die ersten Fotografien dieser speziellen Art, bei der Bilder aus der Vogelperspektive (Schräg- oder Senkrechtbilder) von erhöhten Punkten v.a. aber aus Flugobjekten wie Heißluftballons, von Drachen aus und später in der Regel aus Flugzeugen aufgenommen wurden, stammen bereits aus den späten 1850er und frühen 1860er Jahren.180 In Lateinamerika – wie generell – entstanden Aerofotografien aber vermehrt erst, nachdem Flugpioniere wie der Chilene Dagoberto Godoy Fuentealba (1893-1960), der 1918 als erster in einem Flugzeug die Anden überquerte, der Cuzqueño Alejandro Velasco Astete (1897-1925), der am 31. August 1925 von Lima nach Cuzco flog und knapp einen Monat später beim Weiterflug nach Puno starb, als er bei der Landung der begeisterten Menge ausweichen wollte, die sich auf dem für die Landung vorgesehenen Feld versammelt hatte, und weitere, wie die bereits

180 Vgl. Schultz, This Picture of Boston, Circa 1860, Is the World’s Oldest Surviving Aerial Photo.

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erwähnten George Miller Dyott oder Gunther Plüschow, der Aviatik Bahn gebrochen hatten.181 Wie in der Einleitung erwähnt, gründete George Miller Dyott in Lima das Unternehmen Dyott & Company Ltd. und nahm Luftbild- und andere fotografische Aufnahmen auf, die er als Ansichten auf Bildpostkarten verkaufte. Mögen einzelne Luftbildaufnahmen auch noch etwas älter sein, stammen die ersten veröffentlichten Luftbildaufnahmen aus den 1920er und 1930er Jahren. Zunächst handelte es sich zumeist um Bilder von Städten. Bald schon kamen außerhalb von Städten, häufig auch in entlegenen Gegenden entstandene Aerofotografien (wie die, die Ernst Dreblow, Plüschows Ingenieur, Kameramann und Fotograf, von Feuerland machte, oder solche der Anden oder des Amazonasgebietes) hinzu. Diese Bilder wurden neben militärischen Zwecken v.a. für die geografische Forschung genutzt. Pioniere waren in dieser Hinsicht der US-Amerikaner Major Herbert Dargue (1886-1941), der im Dezember 1926 eine Gruppe von fünf Flugzeugen anführte, die im Rahmen eines über 35.000 Kilometer langen „Pan-American Goodwill Flight“ zwanzig lateinamerikanische Länder besuchte (die Luftbildaufnahmen wurden jedoch nicht veröffentlicht), 182 sowie der US-amerikanische, in Harvard ausgebildete Geowissenschaftler Robert Shippee (1910-1989) und sein Landsmann George R. „Tuck“ Johnson (1900-1933) von der US Navy. Johnson arbeitete von 1928 bis 1930 als Fotograf für den Servicio Aeronaval de la Marina Peruana und veröffentlichte einige der Luftbilder 1930 in Peru from the Air, das bei der American Geographical Society erschien. 1931 machte Johnson während einer gemeinsamen Expedition mit Shippee tausende von Luftbild- sowie Filmaufnahmen, etwa von Ölfeldern und anderen Formen der Landnutzung oder von geowissenschaftlichen Besonderheiten wie dem Colca-Tal in Südperu. In über 450 Flugstunden, die sie mit zwei „Bellanca Peace Maker“-Eindeckern absolvierten, unternahmen sie außerdem den z.B. im Fall der Festung von Kuelap bei Chachapoyas in Nordperu erfolgreichen Versuch, systematisch archäologische Stätten zu lokalisieren und fotografisch zu erfassen.183 Weitere sehr bekannte Luftbildaufnahmen aus Südamerika stammen von Rachael Mary Meader (1916-2008), die zusammen mit ihrem Mann Richard Upjohn Light (1902-1994) in den Jahren 1937/38 weite Teile Südame181 Vgl. Hiatt, Flying “Cholo” und unter den Quellen die in der Einleitung bereits erwähnten Arbeiten von Plüschow, Silberkondor über Feuerland und Dyott, Possibilities of Aerial Transport in Peru. Zu den Anfängen der Luftfahrt in Südamerika vgl. weiterhin das Dissertationsprojekt von Leonie Schuster (FU Berlin): „Pioneers of Aviation: The Beginnings of Aviation in Latin America as a Transnational Phenomenon – A Comparison between Argentina and Brazil, 1898-1930“. Auch der berühmte französische Flugpionier und Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry (1900-1944) flog 1929 bis 1931 in bzw. über Südamerika. Als Pilot und Direktor der 1931 fallierten Aeroposta Argentina S.A., einer Tochter der französischen Compagnie Générale Aéropostale beteiligte er sich an der Einrichtung von Flugpost- und Luftfrachtlinien des Landes. Seine Erfahrungen brachte er in seinen zweiten Roman Nachtflug (1931) ein. Vgl. Saint-Exupéry, Vol de nuit. 182 Vgl. Dargue, How Latin America Looks from the Air und Proulx, In Search of the Great Wall of Peru. 183 Vgl. Denevan, The 1931 Shippee-Johnson Aerial Photography Expedition; Buck, Robert Shippee and George R. Johnson Aerial Exploration of Peru und die Arbeiten von Johnson/ Platt, Peru from the Air; Shippee, The “Great Wall of Peru” oder ders., Lost Valleys of Peru.

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rikas und Afrikas überflog und fotografierte. Das Vorhaben, bei dem mehr als 1.000 Bilder entstanden, darunter die ersten Aerofotografien der Nazca-Linien, wurde wiederum von der American Geographical Society gefördert, die eine Sammlung von Luftbildaufnahmen aufbauen wollte und „leere Flecken“ auszufüllen bestrebt war. (Zahlreiche mittelamerikanische Länder verweigerten dem Ehepaar allerdings aus Angst, den USA strategische Informationen preiszugeben, die Überflugrechte.) 184 Neben der Nutzung zu geowissenschaftlichen Zwecken wurden Luftbildaufnahmen auch kommerziell genutzt. Autoren oder ihre Verlage erwarben solche Fotografien, um sie in Reiseberichten und anderen Werken abzubilden, und Verleger gaben die Motive als Bildpostkarten heraus (Abb. 37). Die spektakulären Bilder, die aus der kombinierten Verwendung gleich mehrerer neuer Techniken, der Fotografie und der Aviatik, im Fall der Bildpostkarten auch der Drucktechnik, entstanden, vermittelten nicht nur An- und Einsichten, Überblicke, die aus der Bodenperspektive unmöglich waren, sie vermittelten dem Betrachter den Eindruck von Modernität in besonderem Maße. Keine andere Technik konnte beispielsweise die Größe und den Betrieb des Hafens oder die schachbrettartig verlaufenden Straßenzüge der Metropole Buenos Aires so einfangen, wie es Aerofotografien vermochten. Aus diesem Grund wurden entsprechende Bilder z.B. von Otto Nordenskjöld in Südamerika – „Aussicht über einen Teil des Hafens mit den Docks in Buenos Aires (Flugphotographie.)“ – oder von Richard Katz in Schnaps, Kokain und Lamas – „Linealgerade laufen die Straßenschluchten in Buenos Aires, der Hauptstadt Argentiniens“ – verwendet.185 Luftbildaufnahmen gaben so Überblicke und Einblicke in geografische und städtebauliche Zusammenhänge sowie in Bezug auf Städte und z.B. Hafen- u.a. Anlagen auch ein Gefühl von Größe und von der Machbarkeit durch den Menschen. Außerdem ließ die Vogelperspektive – betont im Titel der ersten Luftbildaufnahme von James Wallace Black aus dem Jahr 1860: „Boston, as the Eagle and the Wild Goose See It“186 – den Betrachter an der Erfüllung des Menschheitstraums des Fliegens mittelbar teilhaben. So wurde in Bildunterschriften häufig hervorgehoben, dass es sich um eine „vista aérea“, ein Luftbild oder eine von einem Flugzeug aus aufgenommene Fotografie handelte. Durch ihre Blicke auf das Bild konnten die Betrachter am Blick aus dem Flugzeug teilhaben.

184 Vgl. Martin, Mary Meader. Die Bilder von Mary Meader befinden sich heute in der Richard U. Light and Mary (Light) Meader Collection der University of Wisconsin in Milwaukee und sind online einsehbar. Vgl. Mary (Light) Meader and Dr. Richard Light Photographs of Central and South America and Africa, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries Digital Collection, http://collections.lib.uwm.edu/cdm/search/searchterm/Richard %20U.%20Light%20and%20Mary%20%28Light%29%20Meader%20Collection/field/all /mode/exact/conn/and/order/nosort/ad/asc/cosuppress/0 [26.08.2018]. 323 der Bilder aus Afrika wurden veröffentlicht in Light/Light, Focus on Africa. 185 Nordenskjöld, Südamerika, nach S. 192 und Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, nach S. 224. 186 Schultz, This Picture of Boston, Circa 1860, Is the World’s Oldest Surviving Aerial Photo.

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Abbildung 37: Bildpostkarte „Buenos Aires – Avenida de Mayo. Vista de un aeroplano“, Verlag: Gastón Bourquin y Cía., Buenos Aires, gelaufen 17.04.1928, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1965/361-244. Vgl. auch die Fotografien „Linealgerade laufen die Straßenschluchten in Buenos Aires, der Hauptstadt Argentinien“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre (?), aus Katz, Richard: Schnaps, Kokain und Lamas: Kreuz und quer durch wirres Südamerika, Berlin: Ullstein, 1931, nach S. 224; „Aussicht über einen Teil des Hafens mit den Docks in Buenos Aires (Flugphotographie)“, Fotograf unbekannt, um 1920 (?), aus Nordenskjöld, Otto: Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit. Natur/Mensch/Wirtschaft, übers. v. Ignaz Schlosser, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1927 [schwed. 1923: Människor och Natur i Sydamerika], Abb. 65, nach S. 192; „Der Hafen von Buenos Aires“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre (?), aus Edschmid, Kasimir: Südamerika wird photographiert, Bielefeld/Leipzig: Velhagen & Klasing, 1932, Bildteil S. 33 und „Teilansicht von Porto Alegre, Hauptstadt des Staates Rio Grande do Sul. Flugzeugaufnahme“, Fotograf unbekannt, frühes 20. Jh., aus Rohrbach, Paul: Das Deutschtum über See, Karlsruhe: Schille & Co., 1930, Abb. 36, zwischen S. 144 u. 145.

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Abbildung 38: Fotografie „Was noch keines Menschen Auge sah! Zentrum der Darwin-Kordillere in Feuerland“ von Ernst Dreblow, 1927/29, aus Plüschow, Gunther: Silberkondor über Feuerland, Berlin: Ullstein, 1929, nach S. 157.

Nicht unerwähnt bleiben sollen aus der Reihe der wissenschaftlichen bzw. mit wissenschaftlichem Blick betrachteten Bilder zu guter Letzt solche aus den biowissenschaftlichen Disziplinen Botanik und Zoologie. Diese Bilder knüpften an die Tradition der naturkundlichen Zeichnungen, wie sie etwa im Anschluss an Humboldts Forschungen oder im Zuge der von der Wissenschafts- und Kunsthistorikerin Daniela Bleichmar untersuchten Expeditionen der spanischen Krone im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert entstanden, an.187 Häufig handelte es sich z.B. bei botanischen Bildern auch im 20. Jahrhundert noch um Zeichnungen. Das ist u.a. den spezifischen Anforderungen an botanische Lehrbilder geschuldet. Zeichnungen können z.B. idealtypische Blätter oder sämtliche Merkmale einer Pflanze wiedergeben, wie sie so unter Umständen in der Natur nicht (oft) vorkommen. Bei Bildern aus der Zoologie mochte es notwendig sein, für Visualisierungen auf Zeichnungen zurückzugreifen, weil scheue Tiere nicht vor die Kamera zu bekommen waren. Gerade im Bereich der Botanik gab es zahlreiche deutsche Forscher, die sich im Untersuchungszeitraum in Südamerika aufhielten. Zu den bekanntesten gehören neben Johann Heinrich Rudolf Schenck (1860-1927) sicher August Weberbauer (18711948), der als (einer) der Begründer der systematischen Botanik in Peru gilt, und der Botaniker und Bryologe (Spezialist für Moose) Theodor Herzog, Professor in München und später in Jena. Weberbauer, der 1894 in Berlin promoviert und sich 1898 in Breslau habilitiert hatte, kam 1901 nach Peru, um im Auftrag der Königlich Preußi187 Vgl. Bleichmar, Visible Empire und für Zeichnungen zu Humboldts Forschungen die Angaben in FN 11 der Einleitung. Die bildliche Darstellung von Pflanzen aus der Neuen Welt lässt sich sogar noch weiter bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Vgl. Afanador Llach, Nombrar y representar.

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schen Akademie der Wissenschaften die andine Pflanzenwelt zu studieren und für das Königliche Museum in Dahlem eine Sammlung von Pflanzen anzulegen. Nachdem er 1906/07 Direktor des Botanischen Gartens in Victoria, Kamerun war, kehrte Weberbauer 1908 nach Peru zurück und leitete bis 1914 den Zoologischen und den Botanischen Garten in Lima. Nach zwischenzeitlichen Anstellungen als Lehrer und bei einer Minengesellschaft erhielt Weberbauer 1923 eine Dozentur an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universidad Mayor de San Marcos in Lima und wurde schließlich 1935 Leiter des Botanischen Seminars an der Universität. Er starb 1948 in Lima. Während zahlreicher Forschungsreisen in Peru (später auch in Chile und Argentinien), die u.a. vom Field Museum of Natural History in Chicago gefördert wurden, entdeckte und klassifizierte Weberbauer über 8.000 Pflanzen. Einige seiner Arbeiten, insbesondere sein 1911 erschienenes Hauptwerk Die Pflanzenwelt der peruanischen Anden in ihren Grundzügen sind noch heute Standardwerke der Botanik Perus. Im Zuge seiner Forschungen sammelte Weberbauer auch Fotografien (in seinem Nachlass im Archiv des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin befinden sich lediglich knapp 150), die er erwarb und selbst aufnahm, und die unter anderem das erwähnte Werk Die Pflanzenwelt der peruanischen Anden illustrieren.188

Abbildung 39: Fotografie „Übergang über den Rio Pilcomayo“ von Theodor Herzog, 1910/12, aus Herzog, Theodor: Vom Urwald zu den Gletschern der Kordillere: Zwei Forschungsreisen in 188 Vgl. Weberbauer, Die Pflanzenwelt der peruanischen Anden; die Fotos im Nachlass August Weberbauer, Ibero-Amerikanischen Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signaturen N-0030 s 1 bis N-0030 s 4 und zur Person Wolff, Der Nachlass August Weberbauer.

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Bolivia, 2., neubearb. Aufl., Stuttgart: Strecker & Schröder, 1923 [1913], Abb. 28, zwischen S. 72 u. 73. Vgl. weiterhin die Fotografien „Übergang einer beladenen Eseltropa über den Rio Tapacari“ und „Laguna del Inca“, von Theodor Herzog, 1907/08, aus Herzog, Theodor: Bergfahrten in Südamerika, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1925, Abb. 4, vor S. 33 und Frontispiz (Kupfertiefdruck).

Auch der in Freiburg geborene Theodor Carl Julius Herzog trug auf seinen Forschungsreisen nach Bolivien (1907/08) und Argentinien (1910-1912) eine Reihe Fotografien zusammen, die seine Erkenntnisse über die südamerikanische Pflanzenwelt ergänzten und die er zur Illustration seiner wissenschaftlichen und weiteren Publikationen nutzte.189 Ob, und wenn, unter welchen Aspekten die Fotografien und Zeichnungen, die in Herzogs und anderen botanischen Fachpublikationen wie etwa in Weberbauers Pflanzenwelt der peruanischen Anden erschienen, von einem über die botanische Fachwelt hinausgehenden Publikum gesehen worden sein mögen, ist zweifelhaft. Herzogs 1926 erschienenes Handbuch zur Geographie der Moose z.B. war zwar mit 160 Abbildungen versehen, davon mehrere Dutzend Zeichnungen von Moosen, die in Südamerika, v.a. in Südbrasilien und Bolivien, beheimatet waren, doch dürften sowohl die Monografie als auch die darin enthaltenen Illustrationen von den Menschen im Deutschen Reich kaum wahrgenommen worden sein. Größere Verbreitung fanden dagegen sicher die Fotografien, die in den populär(wissenschaftlich)en Reiseberichten Theodor Herzogs abgebildet waren. Insbesondere sein 1925 bei Strecker & Schröder in Stuttgart (dem Verlag, wo auch Erland Nordenskiölds und viele andere Reiseberichte sowie Otto Nordenskjölds Südamerika oder die in der Einleitung erwähnten Abenteuererzählungen von Franz Donat erschienen) publiziertes und noch im selben Jahr neu aufgelegtes Bergfahrten in Südamerika fand allem Anschein nach ein recht großes Publikum. Die Bilder in diesem und Herzogs anderem reich illustrierten Reisebericht, Vom Urwald zu den Gletschern der Kordillere (1913 und in zweiter, neubearbeiteter mit 104 fotografischen Abbildungen versehener Auflage 1923, ebenfalls bei Strecker & Schröder), zeigten allerdings nicht (nur) Motive aus der Botanik, sondern v.a. die für diese Art von Publikationen gängigen und von den Lesern erwarteten Aufnahmen von Indigenen, der wilden tropischen, subtropischen und andinen Landschaften sowie von den Bedingungen der Reise, von Lagern, Maultieren oder Flussquerungen (Abb. 39).190 Das mit zwöf im Kupfertiefdruck und weiteren 32 im Lichtdruck gedruckten Fotos illustrierte Bergfahrten in Südamerika ist dabei in erster Linie dem Abenteuer des Bergsteigens und der Erkundung der Anden gewidmet; Botanisches erfuhren die Leser wie auch in Vom Urwald zu den Gletschern der Kordillere allenfalls 189 Vgl. z.B. die Publikationen seiner Forschungsergebnisse aus Bolivien bei Herzog, Pflanzenformation aus Ost-Bolivien; ders., Reisebilder aus Ost-Bolivia; ders., Die Bryophyten meiner zweiten Reise durch Bolivia und ders., Die Pflanzenwelt der bolivianischen Anden oder auch seine Überblickswerke ders., Geographie der Moose und ders., Pflanzengeographie. Weitere Reisen führten Herzog in den Jahren 1904-1906 auch nach Sardinien und nach Ceylon. 190 Vgl. Herzog, Vom Urwald zu den Gletschern der Kordillere und ders., Bergfahrten in Südamerika. Gleiches gilt für ders., Beiträge zur Kenntnis von Ostbolivien, die 1910 in der populären illustrierten Zeitschrift Petermann’s Geographische Mitteilungen im Verlag von Justus Perthes erschienen und die vielleicht die größte Verbreitung erfuhren.

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nebenbei (Abb. 40). Über die Bedingungen des Fotografierens während der Expedition in den Anden berichtete Herzog: „Der Sturm versetzte das Stativ auch an den geschütztesten Stellen derart in Schwingungen, daß eine Zeitaufnahme mit Gelbscheibe mißglücken mußte. So war ich denn im wesentlichen auf meinen kleinen Stereoapparat angewiesen, und meine Erfahrungen auf dieser Reise würden mich in künftigen Fällen bestimmen, mich überhaupt ganz auf diese handliche kleine Kamera zu beschränken. Denn die Mitnahme mehrerer photographischer Apparate und verscheidener Plattengrößen vermehrt den Ballast in einem Maße, der zu den Vorteilen in keinem vernünftigen Verhältnis steht.“191

Abbildung 40: Fotografie „Säulenkaktus in der Tolaheide des bolivischen Hochlandes“ von Theodor Herzog, 1907/08, Kupfertiefdruck, aus Herzog, Theodor: Bergfahrten in Südamerika, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1925, nach S. 136. Botanisches erfuhren die Leser in Herzogs Reiseberichten allenfalls nebenbei.

Vegetations- oder klimageografisch lesbare Bilder v.a. von üppiger tropischer Vegetation, weiten Savannen oder karger Andenvegetation tauchten außerdem in den oben behandelten geografischen Darstellungen auf, so auch in Otto Nordenskjölds Südamerika. Sie zeigten die Anders- und Fremdartigkeit, das Besondere Südamerikas und 191 Herzog, Bergfahrten in Südamerika, S. 47.

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führten den Betrachtern vor Augen, wie reichhaltig und überbordend die Natur war bzw. wie weit der Raum – und wie klein der einzelne Mensch dagegen. Gerade die urwüchsige, mächtige Urwaldvegetation auf dem Foto von Dyott in Nordenskjölds Südamerika (Abb. 41) lässt den Menschen ganz klein erscheinen. Auch in manchen nicht-wissenschaftlichen südamerikanischen Reiseberichten, etwa in dem 1928 erschienenen Werk Tropen-Amerika der österreichischen Schriftsstellerin und Biologin Annie Francé-Harrar (1886-1971), finden sich botanische Abbildungen.192

Abbildung 41: Fotografie „Reitpfad im peruanischen Regenwald (Perenéwald)“ von George Miller Dyott, um 1920, aus Nordenskjöld, Otto: Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit. Natur/Mensch/Wirtschaft, übers. v. Ignaz Schlosser, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1927 [schwed. 1923: Människor och Natur i Sydamerika], Abb. 33, nach S. 112. Für einige sehr ähnliche Abbildungen, u.a. bei Preusse-Sperber, Otto: Süd- und Mittel-Amerika: Seine Bedeutung für Wirtschaft und Handel. Ein Ratgeber für Exporteure, Importeure, Ansiedler, Minen-Interessenten, Kapitalisten usw., Berlin: Salle, 1913, Abb. 35, nach S. 184, s. Kap. 2. Vgl. außerdem die Fotografien „Baumwürger im Urwald, Columbien“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre, aus FrancéHarrar, Annie: Tropen-Amerika: Ein Zug der Abenteuer, Berlin: Deutsche Buchgemeinschaft, 1928, nach S. 84 und „Venezuela. Im Südamerikanischen Urwald“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre (?), aus Ross, Colin: Das Buch der Fernen Welt: Asien – Afrika – Australien – Amerika, Berlin: Paul Franke, 1931, S. 277.

Das letzte an dieser Stelle zu besprechende Genre wissenschaftlicher Bilder ist heute aufgrund des Diskurses der Umwelt- und Tierschutzbewegung und der erfolgreichen Arbeit von Lobbyverbänden wie Pro Regenwald, Rettet den Regenwald e.V., Rain-

192 Vgl. die Fotografie „Baumwürger im Urwald, Columbien“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre, aus Francé-Harrar, Tropen-Amerika, nach S. 84 und zur europäischen und nordamerikanischen Vorstellung von den Tropen auch Stepan, Picturing Tropical Nature.

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forest Foundation, WWF oder auch Greenpeace sehr populär:193 Fotografien und v.a. auch (Dokumentar-)Filme über die Fauna Südamerikas und insbesondere die des amazonischen Regenwaldes, die von Tierfilmern wie Christian Baumeister (*1971) aus Münster und/oder von großen Sendeanstalten wie der BBC und den Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland produziert werden, stoßen bei einem recht breiten Publikum auf Interesse. Im Untersuchungszeitraum dagegen spielten zoologische und andere Tierbilder aus Südamerika in der öffentlichen Wahrnehmung offenbar kaum eine Rolle. Dieser Befund ist zunächst einigermaßen erstaunlich, denn zoologische Bilder waren, wie die Forschung Alexander Galls vom Deutschen Museum in München zeigt, im Deutschen Reich äußerst populär. Das gilt für Zeichnungen von Tieren, beispielsweise in der Gartenlaube und in Brehms Thierleben, ebenso wie für Tierfotografien, die etwa seit der Jahrhundertwende veröffentlicht wurden.194 Die Illustrationen in den fachwissenschaftlichen Publikationen eines der bekannteren in Südamerika tätigen deutschen Zoologen, Hermann von Ihering, beispielsweise, dürften dagegen außer bei Spezialisten kaum auf Interesse gestoßen sein. Das lag sicher auch daran, dass von Ihering sich auf Mollusken, Weichtiere wie Muscheln und Schnecken, spezialisiert hatte.195 Der studierte Mediziner, Geologe und Zoologe war 1880 nach Taquara, eine deutsche Siedlung im südbrasilianischen Rio Grande do Sul, ausgewandert. Dort war er zunächst als Ornithologe tätig (u.a. sammelte er für das Britische Museum seltene Vögel); später arbeitete er für das brasilianische Nationalmuseum in Rio de Janeiro. 1893 wurde er der Direktor des Museu Paulista in São Paulo, wo er seit 1887 arbeitete. Vier Jahre nach seiner Entlassung dort kehrte der gut in das Netzwerk deutscher und internationaler Südamerikaforscher integrierte von Ihering – u.a. nahm er am von LehmannNitsche organisierten Internationalen Amerikanistenkongress 1910 teil – 1920 ins Deutsche Reich zurück und lebte bis zu seinem Tod 1930 im hessischen Büdingen. Deutlich populärer als die Zeichnungen etwa von Nervensystemen von Weichtieren in von Iherings Publikationen dürften die Bilder gewesen sein, die Hans Krieg, Ethnologe und Zoologe an der Universität Tübingen, später an der Universität München, und Direktor der Zoologischen Staatssammlung München, im Rahmen der Veröffentlichungen über seine Südamerikaexpeditionen in den 1920er und 1930er Jahren vermittelte. Die Berichte, in denen Krieg ähnlich wie Herzog populärwissenschaftlich über seine Reisen und Forschungen schrieb und die sich offenbar gut verkauften, sind z.T. reich illustriert – und zwar v.a. mit Zeichnungen, die Krieg selbst anfertigte (Abb.

193 Vgl. z.B. Hupke, Der Regenwald und seine Rettung und zuletzt Martin, Endspiel. 194 Vgl. Gall, Authentizität, Dramatik und der Erfolg der populären zoologischen Illustration und ders., Lebende Tiere und inszenierte Natur sowie die tierfotografischen Pionierarbeiten etwa von Anschütz, Gruppe von Gepards oder des Berliner Zoodirektors Heck, Lebende Bilder aus dem Reich der Tiere. Auf dem amerikanischen Doppelkontinent war George Shiras III (1859-1942) einer der Pioniere nicht nur der Tier-, sondern auch der Nachtfotografie. Seine Bilder, für die er schon Fotofallen nutzte und die auch nachtaktive Tiere zeigen, wurden unter anderem im National Geographic Magazine abgedruckt. Vgl. Wender, Meet Grandfather Flash. 195 Vgl. z.B. Ihering, Phylogenie und System der Mollusken; ders., Über brasilianische Najaden oder ders., Zur Kenntniss der Sacoglossen. Diese Titel sind mit Zeichnungen illustriert. Zur Biografie von Iherings vgl. Ritz-Deutch, Hermann von Ihering.

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42).196 Eine seiner Publikationen, Yaguareté: Tierbilder aus Südamerika von 1933, ist speziell der Beobachtung von Tieren gewidmet. Krieg fertigte auch für dieses Buch Zeichnungen an, zum einen aus dem oben angeführten Grund, dass gerade scheue Wildtiere mitunter nicht gut zu fotografieren waren, zum anderen, weil er gern und gut zeichnete.197 Fotografische Illustrationen finden sich vielmehr in Kriegs ethnologischen Arbeiten, z.B. in den Wissenschaftlichen Ergebnissen der Deutschen Gran Chaco-Expedition oder im populären Menschen, die ich in der Wildnis traf von 1935. Dieses Buch erfuhr noch im selben Jahr bereits die vierte Auflage und wurde auch 1949 noch einmal aufgelegt. Unter den Bildern sind auch solche von Tieren, etwa von Baumstachelschweinen und Gürteltieren (Abb. 43), sowie von Jagdbeute, beispielsweise einem Mähnenwolf und einem Jaguar. Eine besondere Reichweite dürften zudem die 1932 in der Münchener Illustrierten Presse veröffentlichten Bilder von Angehörigen der indigenen Gemeinschaft der Lengua gehabt haben. Seltener sind dagegen Kriegs zoologische Arbeiten mit Fotografien illustriert.198 Die Fotografien stammen von Krieg selbst sowie von anderen Expeditionsteilnehmern und Kollegen, darunter auch der später als Landschafts-, Jagd-, Porträt- und Aktmaler bekannt gewordene Michael Mathias Kiefer (1902-1980), der Krieg auf seinen ersten beiden Chaco-Expeditionen begleitete.

196 Vgl. Krieg, Urwald und Kamp und ders., Indianerland. Abschnitte aus diesen beiden Titeln veröffentlichte Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg erneut als ders., Unter der Sonne Südamerikas. 197 Vgl. Krieg, Yaguareté: Tierbilder aus Südamerika. 198 Vgl. z.B. Krieg, Vogelwelt auf einer argentinischen Estancia oder noch später ders., Als Zoologe in Steppen und Wäldern Patagoniens und für ethnologische und andere Fotografien ders., Chaco-Indianer; ders., Menschen, die ich in der Wildnis traf und ders., LenguaIndianer: Ein Nomadenvolk im Buschwald des Gran Chaco sowie ders., Geographische Übersicht und illustrierter Routenbericht. Vgl. weiterhin Kriegs Memoiren: ders., Die grosse Unruhe.

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Abbildung 42 und 43: Skizze „Brüllaffenstudien“ von Hans Krieg, 1920er Jahre, und Fotografie „Eine ‚Mulita‘ (Tatus hybridus Desm.) mit ihren Jungen“ von Hans Krieg (?), 1920er Jahre, aus Krieg, Hans: Indianerland: Bilder aus dem Gran Chaco, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1929, Bildtafeln im Anhang.

Außerhalb von Fachbüchern, etwa in den oben häufig angeführten Überblicksdarstellungen oder in Reiseberichten, tauchen Fotografien von Tieren in der Regel nicht auf. Eine Ausnahme stellt Hans Schmidts 1921 erschienenes Meine Jagd nach dem Glück in Argentinien und Paraguay: Reise-, Arbeits-, und Jagdabenteuer dar. Der Abenteuerbericht behandelt ausführlich das zeitgenössisch populäre Thema der Jagd. Dieses ist zwar zumindest am Rande Gegenstand vieler Reiseberichte und Erzählungen, neben Hans Krieg etwa auch bei Walther Penck oder Franz Donat,199 jedoch unterscheidet sich Schmidts Bericht z.B. von Donats insofern, als er das Thema auch visuell darstellte und zwar mit Bildern, die auf von ihm selbst aufgenommenen Fotografien basieren.200 Auch Lady Florence Dixies (1855-1905) Reise- und Jagdbericht Bei den Patagoniern ist mit Bildern von Guanacos und einem Puma, gestochen nach Zeichnungen eines ihrer Begleiter, Julius Beerbohm (1854-1906), illustriert.201 Bilder von 199 Vgl. Donat, Paradies und Hölle oder den Bericht des Geowissenschaftlers Penck, Puna de Atacama. Vgl. zur Popularität des Themas Jagd weiterhin viele der Bände der Reihe „Jäger und Forscher“, die im Verlag Deutsche Buchwerkstätten in Dresden erschien. 200 Vgl. die Fotografien „Der Verfasser mit Vicenta bei einem Guazuncho“ und „Der Verfasser auf der Wasserjagd“, Fotograf unbekannt, nach 1912, aus Schmidt, Meine Jagd nach dem Glück in Argentinien und Paraguay, im Anhang, S. 2 und 3. 201 Vgl. Dixie, Bei den Patagoniern.

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Tieren, die gejagt wurden, bzw. solche, die die Resultate der Jagd wie z.B. Felle und Häute zeigen, vermittelten dem Betrachter zum einen die Gefahr, die zumindest die Jagd auf große Tiere (weniger die auf Kleintiere oder Vögel) mit sich brachte, zum anderen unterstrichen sie die Exotik der Weltregion (und ihrer Bewohner), in der die Jagd auf Tiere, die es in den heimischen Wäldern nicht gab, stattfand (Abb. 44). Ein beliebtes Motiv war in dieser Hinsicht auch die visuelle Kombination von Indigenen und Tieren bzw. Tierfellen, die den Eindruck des Exotischen wechselseitig verstärkten (Abb. 45). Allerdings standen die entsprechenden Bilder, die aus Südamerika ins Deutsche Reich gelangten, in ihrer Wirkung weit hinter derjenigen zurück, die Motive von Großwildjagden und Jagdtrophäen in Afrika den Betrachtern vermittelten. 202 Löwen und Nilkrokodile sind eben größer (und bekannter und galten bzw. gelten als gefährlicher) als Jaguare und Kaimane203 – und was ist ein erlegtes Gürteltier, ein Tapir oder ein Pekari im Vergleich zu einem Elefanten, Nilpferd oder Nashorn?

Abbildung 44: Fotografie „Jagdbeute in Sta. Catharina“, Fotograf unbekannt, um 1900/05 (?), aus Wettstein, Karl Alexander: Brasilien und die deutsch-brasilianische Kolonie Blumenau, Leipzig: Engelmann, 1907, Tafel V, vor S. 37.

202 Vgl. dazu das sehr populäre und mehrfach aufgelegte (und auch ins Englische übersetzte) fotografisch illustrierte Werk von Schillings, Mit Blitzlicht und Büchse oder das von Wilhelm Kuhnert illustrierte Werk von Wissmann, In den Wildnissen Afrikas und Asiens. Vgl. außerdem Gißibl, The Nature of German Imperialism und ders., Jagd und Herrschaft. 203 Vgl. z.B. May, Am Rio de la Plata, S. 169 sowie die Fotografie des Kaimans „Lagarto, den [der] Verfasser als scheinbar schlafend gerade photographiert hatte, als das Tier sich plötzlich auf ihn stürtzte“ von Hans Schmidt, nach 1912, aus Schmidt, Meine Jagd nach dem Glück in Argentinien und Paraguay, im Anhang, S. 13..

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Abbildung 45: Bildpostkarte „Rio Branco. Indio Macuchí“, Verlag: Georg Hübner & Amaral, Manaus, vor 1906, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1985/495/239. Es gibt das Motiv auch als kolorierte Karte, vgl. die entsprechende Abbildung im Eintrag Macuxíes, los indígenas que fueron castigados impidiéndoles el acceso al mundo subterráneo im Blog Contacto con la creación, 30.11.2015, http://programacontactoconlacreacion.blogspot.de/2015/11/macuxi es-los-indigenas-que-fueron.html [26.08.2018].

Jedoch ist auch beim Thema Jagd- und Tierbilder das Bild des riesigen südamerikanischen Kontinents ambivalent. Spätestens seit den 1920er Jahren gelangten neben den Bildern von exotischen Tieren der Tropen und Subtropen, wie z.B. Kolibris,204 vermehrt Fotos und Bildpostkarten aus Patagonien und Feuerland ins Deutsche Reich (Abb. 46). Das Interesse am wilden, unerforschten und lebensfeindlichen (so die gängigen Zuschreibungen) südlichen Teil Südamerikas dürfte v.a. mit den Berichten von und über den äußerst populären Gunther Plüschow gewachsen sein. 205

204 Vgl. den Stich „Südamerikanische Kolibris in einer Laube von blühendem Hibiskus“, Gemälde von Raoul Heinrich Francé (1874-1943), 1920er Jahre, aus Francé-Harrar, TropenAmerika, Frontispiz. 205 Vgl. außerdem Schreiber, Im Schatten des Calafate von 1928 oder schon früher Vallentin, Chubut von 1906 sowie für die Forschungen und Fotografien von Martin Gusinde Palma,

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Abbildung 46: Bildpostkarte „Lobos Marinos. Territorio Santa Cruz“, Fotografie und Verlag: Fot. Kohlmann, La Plata, nach 1920, ungelaufen, Sammlung von Hinnerk Onken. Vgl. auch die Fotografie „Strand mit Seelöwen in der Nähe des Kap Hoorn“, Fotograf unbekannt, nach 1900 (?), aus Rohrmann, Adolf (Hg.): E. von Seydlitzsche Geographie für höhere Lehranstalten. 3. Heft: Außereuropäische Erdteile, 15. Aufl., Breslau: Ferdinand Hirt, 1924, Abb. 85, Bildteil im Anhang sowie die Bildpostkarte „Caza de Lobos Marinos. Territorio Santa Cruz“, Fotografie und Verlag: Fot. Kohlmann, La Plata, nach 1920, ungelaufen, Sammlung von Hinnerk Onken. Die Jagd auf Seelöwen war sehr blutig und grausam, besonders heroisch war sie nicht.

1933 wurde Polarkreis Süd – Polarkreis Nord des deutschen Kapitäns Carl Kircheiß veröffentlicht.206 Der Autor war dem deutschen Publikum durch seinen fünf Jahre zuvor erschienenen Bericht über seine Weltumseglung mit dem Fischkutter „Hamburg“ in den Jahren 1926 und 1927 bekannt. 207 Von 1930 bis 1932 unternahm Kircheiß, der schon vor dem Ersten Weltkrieg als 2. Offizier für die Hamburg Südamerikanische Dampfschifffahrts-Gesellschaft (HSDG) vor der Küste Argentiniens gefahren war, eine Forschungsreise nach Amerika, um an den äußersten Enden des Doppelkontinents den Walfang zu studieren. Der Begründer des modernen Walfangs im Südatlantik war der norwegische Kapitän Carl Anton Larsen (1860-1924). Larsen, der schon in den 1890er Jahren eine Expedition in die Antarktis geleitet hatte, war als Kapitän der „Antarctic“ mit der Schwedischen Antarktisexpedition von Otto Nordenskjöld (1901-1903) nach Südgeorgien gekommen und hatte dort die Möglichkeiten des Walfangs erkannt. Da er kein norwegisches Kapital auftreiben konnte, gründete er 1904 in Buenos Aires die Compañia Argentina de Pesca S.A.208 Als Kircheiß 1930/31 die Arbeit von norwegischen Walfängern studierte (neben zahlreichen Fotos machte er auch FilmaufnahBild, Materialität, Rezeption und Gusinde, Begegnungen auf Feuerland. Für fotografische Bilder unter anderem auch von Tieren aus der Region s. auch Kap. 3. 206 Kircheiß, Polarkreis Süd – Polarkreis Nord. 207 Vgl. Kircheiß, Meine Weltumsegelung mit dem Fischkutter Hamburg. 208 Vgl. Kircheiß, Polarkreis Süd – Polarkreis Nord, S. 45 und ausführlich Hart, Pesca.

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men) war sein Anliegen, daheim im Deutschen Reich für die Etablierung einer nationalen Walfanggesellschaft zu werben – letztlich mit Erfolg: 1935 wurde in Bremerhaven die Erste Deutsche Walfang-Gesellschaft mbH gegründet und bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde das Deutsche Reich, das zuvor viel Tran importiert hatte, die weltweit drittwichtigste Walfangnation.209 Die Bilder von der Jagd auf Wale, die Kircheiß vor der Küste Südamerikas machte (Abb. 47), gehörten – so schrecklich sie mit dem heutigen Wissen um den gefährdeten Bestand vieler Walarten sind – vermutlich zu den bekannteren Bildern aus der Region, da Kircheiß sie in seinen Publikationen ebenso verwendete, wie offenbar bei zahlreichen seiner Vorträge. Auch in dem Film, den er während der Reise drehte und der leider als verschollen gelten muss, dürften Bilder vom Walfang zu sehen gewesen sein. Sie sind dabei allerdings sicher weniger in einem zoologischen als vielmehr in einem ökonomischen Zusammenhang betrachtet worden. Dazu kamen der Aspekt des Abenteuers und der Gefahr, der mit dem Walfang verbunden war, sowie sicher auch das Staunen angesichts der Größe der Meeressäuger.

Abbildung 47: Fotografie „Die ganze Speckschicht wird mit zwei Dampfwinden an Deck gehievt“ von Carl Kircheiß, 1930/31, aus Kircheiß, Carl: Polarkreis Süd – Polarkreis Nord: Als Walfisch- und Seelenfänger rund um die beiden Amerika, Leipzig: Koehler, 1933, S. 38. Vgl. weitere Fotografien von Kircheiß mit Motiven des Walfangs ebd., S. 29-31, 34, 36, 39, 52, 53, 55 u. 56.

209 Vgl. Sparenberg, „Segen des Meeres“. Vgl. für die Faszination, die der Walfang zeitgenössisch auf das deutsche Publikum ausübte auch Emmerich, Der Walfischfänger.

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ZWISCHENFAZIT Wissenschaftler und als diskursive Formationen ihre jeweiligen Disziplinen spielten eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung von Bildern, Ideen und Vorstellungen von Südamerika: Sie produzierten oder transferierten zumindest viele fotografische Bilder und machten sie in Publikationen der Öffentlichkeit zugänglich. Diese Öffentlichkeit konnte relativ groß sein, wenn sich die entsprechenden Veröffentlichungen nicht nur an ein wissenschaftliches Fachpublikum richteten, sondern in Form von öffentlichen Vorträgen, populären und populärwissenschaftlichen Reiseberichten, die in einschlägigen Verlagen erschienen, auf eine breite Leserschaft zielten. Auf diese Weise und durch die Veröffentlichung als Bildpostkarten wurden „wissenschaftliche“ Bilder popularisiert. Aufgrund der der Fotografie zeitgenössisch zugeschriebenen Eigenschaft, objektiv die „Realität“ abzubilden, ermöglichten es fotografische Bilder bzw. auf Fotografien basierende Abbildungen auf Bildpostkarten, in Büchern und Zeitschriften, wissenschaftliche Studien auch in großer räumlicher (und zeitlicher) Entfernung zu betreiben. Forscher konnten Menschen und Völker untersuchen, systematisieren und hierarchisch einordnen, ohne diese selbst zu besuchen und Feldforschung vor Ort zu betreiben. Auch konnten sie Vergleiche verschiedener Völker anstellen und so Themen wie z.B. das der Kulturverbreitung in globaler Perspektive „betrachten“. Der Anthropologe Alexander Francis Chamberlain etwa schrieb in seiner bereits erwähnten Rezension der von Lehmann-Nitsche herausgegebenen Colección Boggiani: „Tattooing is well represented in Nos. 16-19, 21-24, 77-81, 85, 86, 93, 94; and those who argue for a connection between these South American Indians and the Polynesians may find some consolation in the resemblances suggested by the tattooed aborigines of the Chaco in comparison with Maori chiefs, etc.“210

Fotografien vermittelten aber nicht nur Einblicke in die „traditionellen“, „natürlichen“ Lebensumstände von lebenden Angehörigen fremder Kulturen, sondern ermöglichten auch einen Blick in die Vergangenheit, auf untergegangene Gemeinschaften oder ganze Gesellschaften, auf Ruinen und archäologische Objekte sowie auf indigene Gemeinschaften, die sich durch den Kontakt mit Weißen und „westlicher Zivilisation“ verändert hatten. Die Vorteile der Fotografie, zu denen auch das Eröffnen neuer Perspektiven, wie sie etwa die Luftbildfotografie bot, gehörte, wurden auch von Wissenschaftlern anderer Disziplinen, v.a. von Geografen und Geologen genutzt. Aus diesem Grund lösten fotografische Bilder in den meisten Wissenschaften ältere Formen der Bildübermittlung ab. Lediglich in wenigen Fällen war es nicht zwingend notwendig

210 Chamberlain, Review La Coleccion Boggiani, S. 326. Gerade beim im frühen 20. Jahrhundert „heißesten“ Thema der Völkerkunde, dem Widerstreit zwischen Vertretern der kulturhistorischen Methode bzw. des Diffusionismus und denen des Evolutionismus, wurden auch die Ergebnisse deutscher ethnologischer und anthropologischer Südamerikaforschung herangezogen – nicht immer die Ansicht der Forscher selbst berücksichtigend. Vgl. z.B. Schmidt, Die Arauken. S. zu diesem Thema auch die oben in FN 112 skizzierte Position von Erland Nordenskiöld.

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oder gar von Nachteil, die Technik der Fotografie einzusetzen, etwa bei der Darstellung von Blüten oder Blättern in der Botanik oder bei der Anfertigung von Plänen von archäologischen Stätten. In manchen Fällen war die Fotografie auch gar nicht im Stande, das Gesehene zu erfassen, z.B. weil die Kamera nicht schnell genug aufgebaut war und/oder auslöste, wie im Fall der Abbildung von Tieren in der Zoologie. Hier blieben trotz der Möglichkeiten, die die Fotografie auch im Bereich der Manipulation von Bildern bot, Zeichnungen das einzige Mittel der Visualisierung. Wie die meisten Bestandteile wissenschaftlicher Diskurse waren die Bilder durch den disziplinären und mitunter auch den interdisziplinären Kenntnisstand bedingt, d.h. sie entstanden, wie eingangs dieses Kapitels beschrieben, innerhalb eines epistemischen Systems. Gleichzeitig aber konstruierten die Bilder den jeweiligen Gegenstand der Forschung – oder sie trugen zu dessen Konstruktion in teilweise erheblichem Maße bei – und bedingten damit ihrerseits den wissenschaftlichen state of the art. Am deutlichsten wird dies am Beispiel der Bilder, die im Rahmen des epistemischen Systems der Anthropologie und Ethnologie entstanden und den Beginn der visuellen Anthropologie markieren.211 Auch wenn viele Bilder, wie gesehen, Stereotypen und Motiven entsprachen oder ähnelten, wie sie etwa aus den Völkerschauen bekannt waren, und aus heutiger Sicht ihre Wissenschaftlichkeit kaum ernst zu nehmen ist, wurden auch diese Bilder den zeitgenössischen Anforderungen an ethnografische und anthropologische Fotografien gerecht. Sie fügten sich in die in vielen Untersuchungen bereits gut erforschte wissenschaftlich begründete hierarchische Ordnung der Völker und „Rassen“ ein;212 gleichzeitig untermauerten sie diese Ordnung mit visuellen Belegen. Damit waren sie zugleich Resultat und Fundament des wissenschaftlichen Rassismus. Dieser wissenschaftliche Rassismus, der in Texten und Bildern zum Ausdruck kommt bzw. durch diese (re-)produziert wurde und dem sich nur wenige Forscher entziehen konnten und/ oder wollten, war eingebettet in den zeitgenössischen Kolonialdiskurs des 19. und 20. Jahrhunderts. So war die mission civilatrice der Angehörigen der „weißen Rasse“ zum Wohle der kolonisierten Völker kolonialer Auftrag und Rechtfertigung. Zugleich entsprangen viele wissenschaftliche Erkenntnisse, Daten und Sammlungen kolonialen und imperialen Unternehmungen. 213 Dieser Prozess wird in der historischen Forschung auch als wissenschaftlicher Kolonialismus (scientific colonialism) und seine Ergebnisse als koloniales Wissen (colonial knowledge) bezeich-

211 Vgl. neben den in der Einleitung in FN 148 erwähnten Arbeiten von Edwards, Pinney, Hanke, Overdick, Theye und anderen besonders Pinney, The Parallel Histories of Anthropology and Photography und Grimshaw, Visual Anthropology. 212 Die praktische Anwendung der rassentheoretischen Erkenntnisse fand in und mit Hilfe der Eugenik statt, die bis heute auch institutionell (nach)wirkt. Vgl. Grosse, Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft und Sachse, Ein „als Neugründung zu deutender Beschluß...“. 213 Vgl. z.B. zu von der britischen Royal Navy gesammelten wissenschaftlichen Daten, Materialien und Erkenntnissen Angster, Erdbeeren und Piraten oder die immer noch grundlegende Studie zu den kolonialen Ursprüngen und Verwicklungen der deutschen Ethnologie von Kohl, Abwehr und Verlangen und zu denen der Anthropologie neben den oben erwähnten Arbeiten auch besonders Smith, Anthropology and German Colonialism.

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net.214 Am Begriff des wissenschaftlichen Kolonialismus ist allerdings problematisch, dass es sich (auch) um einen Quellenbegriff handelt, der zeitgenössisch die wissenschaftlich fundierte und zu erlernende Praxis des Kolonisierens, etwa in Bezug auf Verwaltung oder wirtschaftliche Ausbeutung meinte. Es gibt in der sich mit Südamerika beschäftigenden wissenschaftsgeschichtlichen Forschung die Außenseitermeinung, auch das Engagement deutscher Forscher sei ähnlich zu bewerten. Die Historikerin Uta Raina setzt unter dem Schlagwort des intellektuellen Imperialismus die Studien, die mehr als 90 deutsche Anthropologen und Archäologen zwischen 1870 und 1930 in Peru betrieben, mit der Herausbildung einer deutschen nationalen Identität und der Einigung des Deutschen Reiches sowie später seinen kolonialen Bestrebungen in Beziehung.215 Wie bereits festgestellt wurde, ist es richtig, dass die Wissenschaftler durch die Klassifizierung und Hierarchisierung der „Rassen“ othering betrieben und, indem sie das Fremde als unterlegen, minderwertig und rückständig markierten, sich selbst aufwerteten. Diese gedachte Überlegenheit bezog sich aber auf alle männlichen, bürgerlichen, christlichen Angehörigen der (west)europäischen und nordamerikanischen „weißen Rasse“ und war der deutschen nationalen Identität nicht exklusiv, sondern ebenso Bestandteil britischer, französischer, italienischer und anderer Identitätskonstruktionen. Zudem erscheint das von Raina für die deutsche Peruforschung verwendete Label Imperialismus fragwürdig. Die Wissenschaftler mögen auf eine Aneignung der andinen Vergangenheit gezielt haben, aber dies, wenn überhaupt, nur im Sinne ihrer eigenen wissenschaftlichen Interessen und Reputation. Wenn es imperiale Interessen gab, also Bestrebungen, Herrschaft über Menschen und/oder Territorien auszuüben oder wenigstens ein Ungleichgewicht mit einer von einem Zentrum abhängigen Peripherie herzustellen – und alles andere hieße, den ohnehin unklaren Imperialismusbegriff überzustrapazieren – dann sind diese wohl eher in Lima oder, um über den von Raina gewählten Fall Perus hinauszugehen, in Buenos Aires, in Santiago, in Rio de Janeiro und anderen Hauptstädten südamerikanischer Staaten zu suchen. Denn in vielen Fällen waren die deutschen Wissenschaftler Angestellte südamerikanischer wissenschaftlicher Institutionen, so z.B. Lehmann-Nitsche und zumindest zeitweise Uhle und Weberbauer. Es waren die Regierungen der südamerikanischen Staaten, die, wie beispielsweise im angesprochenen Fall der wissenschaftlich und fotografisch begleiteten sogenannten „Eroberung der Wüste“ und anderen Kriegszügen und Militäroperationen, Kontrolle über das von ihnen beanspruchte nationale Territorium und die z.T. noch recht autonom lebende indigene Bevölkerung zu gewinnen bestrebt waren.216 Auch die Überheblichkeit, mit der (manche) deutsche Wissenschaftler der einheimischen Bevölkerung, auch Angehörigen der kreolischen Eliten, begegneten und die aus zahlreichen Quellen spricht, kann alleine nicht als Indiz für vom Deutschen Reich 214 Vgl. knapp einführend z.B. Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, S. 79-86 und ausführlich das Habilitationsprojekt von Jürgen G. Nagel (FernUniversität Hagen): „Die Kolonie als wissenschaftliches Projekt: Forschungsorganisation und Forschungspraxis im deutschen Kolonialreich“, http://www.fernuni-hagen.de/geschichte/projekte/lg3/Kolonie.sht ml [26.08.2018]. 215 Vgl. Raina, Intellectual Imperialism in the Andes und dies., German Archaeologists and Anthropologists in the Andes sowie dagegen Gänger, ¿La mirada imperialista? 216 S. dazu Kap. 3.

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ausgehende imperiale Bestrebungen sein. Sie ist wohl eher als zeitgenössisch nicht ungewöhnlicher Chauvinismus zu bewerten. Aus den folgenden Zeilen, die August Weberbauer aus Lima im Januar 1923 in einem Brief an Uhle in Cuenca schrieb und die vielen anderen Quellen von deutschen Südamerikaforschern ähneln, lassen sich denn auch bei allem Chauvinismus weniger imperialistische Züge – auch nicht auf einer intellektuellen Ebene – sondern vielmehr ein gehöriges Maß Resignation und Frustration bezüglich der Verhältnisse in den Staaten Südamerikas herauslesen: „Gegen meine Universitätsprofessur wird hier auch schon gestänkert, weil die damit verbundene Einnahme (Lp. 20. – monatl.!) ein Peruaner haben soll, trotz vollständiger Ignoranz. Nicht einmal die lumpigen 20 Pfund gönnt man mir, obwohl ich die besten Jahre meines Lebens und eigene Geldmittel zur Erforschung des Landes verwendet habe, und meine Publikationen im Ausland anerkennend beurteilt worden sind. Es ist wieder dasselbe, was ihnen im Museum und mir im Zoologischen Garten angethan wurde. So sieht meine Zukunft recht trübe aus!“217

Selbstverständlich sollen die bekannten und mindestens z.T. gut erforschten kolonialen Ursprünge und Verwicklungen der vorgestellten Wissenschaften, der Ethnologie, der Anthropologie, der Lebens- und der Geowissenschaften, nicht in Abrede gestellt werden. Dies gilt nicht nur für die abstrakte (inter-)diskursive Ebene, auf der Kolonialismus und Wissenschaft eng verzahnt waren, sondern auch für viele Südamerikaforscher selbst. Diese leisteten innerhalb eines epistemischen Systems, das seinerseits in einem wechselseitigen Bedingtheitsverhältnis mit dem Kolonialdiskurs stand, ihren Beitrag zur Etablierung des hierarchischen Systems der Rassentheorie mit seinen praktischen menschenverachtenden Auswirkungen. Einige (wenige) waren auch ganz unmittelbar koloniale Agenten: Der oben vorgestellte Geograf Wilhelm Sievers steuerte nicht nur die Darstellung der Schutzgebiete in der Südsee zu Hans Meyers Das deutsche Kolonialreich: Eine Länderkunde der deutschen Schutzgebiete bei; er hatte schon vorher seine kolonialpolitischen bzw. kolonialwissenschaftlichen und kolonialpropagandistischen Aktivitäten auch auf Südamerika gerichtet.218 Der Afrikaforscher und einer der Erstbesteiger des Kilimandscharo Hans Meyer war übrigens selbst nicht nur Koloniallobbyist – u.a. war er Mitglied des Deutschen Kolonialrats, Träger der Ehrenplakette der Deutschen Kolonialgesellschaft und Direktor des Instituts für Kolonialgeographie an der Universität Leipzig – er war wie sein oben kurz erwähnter Bruder Hermann, der Koch-Grünberg mit auf seine Xingu-Epedition (1898-1900) nahm, auch Südamerikareisender und besuchte 1903 gemeinsam mit dem Maler Rudolf Reschreiter (18681939) die ecuadorianischen Anden. Dort bestieg er mehrere Berge, darunter den Chimborazo (6.310m) und den Cotopaxi (ca. 5.900m), die höchsten Gipfel der Cordillera Occidental und Cordillera Central. Sein populärer Reisebericht bestand aus zwei Bän217 Brief von August Weberbauer an Max Uhle in Cuenca, Lima, 08.01.1923, S. 2, Nachlass Max Uhle, Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signatur N0035 b 397. Vgl. zur Situation deutscher Forscher in Südamerika (hier Brasilien) Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts auch Ritz-Deutch, Hermann von Ihering. Für eine weitere detaillierte Biografie eines deutschen Wissenschaftlers in Brasilien vgl. neuerdings West, Darwin’s Man in Brazil. 218 Vgl. Meyer, Das deutsche Kolonialreich und Sievers, Südamerika und die deutschen Interessen.

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den: einem (bereits mit 138 Abbildungen illustrierten) Textband und einem BilderAtlas mit 24 farbigen Lithografien nach Gemälden Reschreiters sowie 40 Fotos, die von verschiedenen Fotografen stammten. 219 Auch der in der Einleitung bereits kurz erwähnte Wilhelm Vallentin, ein Abenteurer und anerkannter Wirtschaftsgeograf, der mehrere Berichte über seine Reisen in Argentinien und Brasilien sowie ein Handbuch über Paraguay und die Chancen für deutsche Auswanderer dort schrieb, war kolonialpolitisch engagiert. Der Kapitän, der als Mitglied des deutschen Freicorps in der britischen Kolonie Natal auch in Südafrika gewesen war und über den Südafrikanischen Krieg (bekannt auch als „Burenkrieg“) geschrieben hatte, veröffentlichte in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts mehrere Arbeiten über Deutsche und deutsche Interessen in Südamerika, vornehmlich in Argentinien.220 Ein weiterer Forscher mit engem kolonialen Bezug zu Afrika, der später Südamerika bereiste, war der aus Lübeck stammende Günther Tessmann (1884-1969). Tessmann hatte von 1902 bis 1904 die Reichskolonialschule in Witzenhausen besucht und war anschließend zunächst in Kamerun auf einer Kakaoplantage und als Elefantenjäger tätig gewesen, bevor er 1907 vom Leiter des Museums für Völkerkunde in Lübeck, Richard Karutz (1867-1945), als Expeditionsleiter für die Lübecker Pangwe-Expedition verpflichtet wurde. Diese erforschte von 1907 bis 1909 in Südkamerun und Äquatorialguinea die Kultur der heute Fang genannten Ethnie; u.a. wurden Tonaufnahmen angefertigt.221 Nach dem Verlust der deutschen Kolonien in Afrika – Tessmann befand sich 1913/14 auf einer Expedition in Neukamerun und geriet im Ersten Weltkrieg in spanische Gefangenschaft in der Kolonie „Spanisch-Guinea“ – wendete sich Tessmann Forschungen in Südamerika zu. In den 1920er Jahren bereiste er das östliche Peru und führte dort ethnologische Studien durch.222 1936 wanderte Tessmann nach Brasilien aus, wo er sich als Kolonist in Paraná niederließ. Später arbeitete er am Museu Paranaense und schließlich am Instituto de Biologia in Curitiba, wo er 1969 starb.223 Im folgenden Kapitel soll mit der Untersuchung des sehnsüchtigen Blickes, der in Form von auf Südamerika projizierten kolonialen und imperialen Fantasien wiederum mit dem Kolonialdiskurs ineinandergreift, dieser Aspekt weiter beleuchtet werden.224

219 Vgl. Meyer, In den Hoch-Anden von Ecuador sowie die später erschienene, etwas anders bebilderte „Kurzversion“ ders., Hochtouren im tropischen Amerika. Die Fotografien stammten außer von Meyer selbst u.a. auch von Reschreiter, vom Inhaber der Fotografía Alemana in Guayaquil, Till Hermanos, oder von den in der Einleitung bereits erwähnten John Horgan Jr. und José Domingo Laso aus Quito, der auch Bildpostkarten verlegte. Vgl. zur Geschichte der deutschen Kolonialgeografie Gräbel, Die Erforschung der Kolonien sowie zu Meyers Kilimandscharoforschungen Schröder, Der deutsche Berg in Afrika oder Hamann/Honold, Kilimandscharo. 220 Vgl. Vallentin, Argentinien und seine wirtschaftliche Bedeutung für Deutschland und ders., Das Deutschtum in Südamerika. Vgl. außerdem ders., Paraguay: Das Land der Guaranís. 221 Vgl. Tessmann, Die Pangwe. 222 Vgl. Tessmann, Menschen ohne Gott. 223 Vgl. zum Leben Tessmanns z.B. Klockmann, Günther Tessmann. 224 Vgl. dazu auch schon Zantop, Colonial Fantasies oder Poole, Landscape and the Imperial Subject.

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Mag auch Südamerika im öffentlichen Bewusstsein im Deutschen Reich, wie in der Einleitung ausgeführt, keine große Rolle gespielt haben, auch nicht im Vergleich zu anderen Weltregionen wie Afrika und Asien, so spielten doch die erwähnten und zahlreiche weitere deutsche Forscher eine große, zeitweise auch eine führende Rolle bei der wissenschaftlichen Erforschung Südamerikas, seiner indigenen Bewohner und Vergangenheit, seiner Geografie und Geologie sowie seiner Flora und Fauna. Dem Uhle-Biografen John Howland Rowe zufolge erschienen in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren jeden Tag vier oder fünf deutschsprachige Bücher und Aufsätze zu Themen der Südamerikaforschung.225 Dass die im Rahmen des epistemischen Systems produzierten oder überlieferten wissenschaftlichen Bilder einen so gewichtigen Anteil an der Vorstellung von Südamerika hatten, lag daran, dass es wenig weitere Bilder gab, die von dort nach Europa und ins Deutsche Reich gelangten. Außer den Forschern gab es kaum Reisende, die Südamerika besuchten – und die Berichte von Abenteurern und Schriftstellern, die sich eine solche Reise leisten konnten oder in der Lage waren, die Finanzierung dafür einzuwerben, unterschieden sich zumindest z.T., wie in der Einleitung bereits erwähnt, nicht sehr von den Berichten, die Wissenschaftler für ein breiteres Publikum verfassten. Die meisten Bilder, die durch Auswanderer, der dritten Gruppe, die als Akteur im Bildtransfer in Betracht kommt, in manchen Fällen, wie z.B. denen Arthur Posnanskys oder Hermann von Iherings, aber nicht eindeutig von der Gruppe der Wissenschaftler zu trennen ist, in die alte Heimat vermittelt wurden, hatten dagegen einen eher begrenzten Kreis an Betrachtern. Dies gilt z.B. für die Bildpostkarten, die Auswanderer an Verwandte und alte Freunde im Deutschen Reich schickten. Ausnahmen sind die erwähnten wissenschaftlich tätigen Auswanderer oder solche, die wie Franz Donat oder Hans Schmidt Romane und Erzählungen über ihre angeblichen oder tatsächlichen Abenteuer veröffentlichten. Die prägende Rolle, welche die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen und ihre Vertreter für die Vermittlung der Vorstellung der Menschen im Deutschen Reich von einer fremder Weltregion einnahmen, lässt sich übrigens nicht nur für Südamerika konstatieren, sondern ähnlich auch für Afrika, allerdings erst in der Zwischenkriegszeit. 226 Zuvor gab es dort während der Zeit der Kolonialherrschaft noch weitere Bildemittenten und -transmitter wie z.B. Kolonialbeamte, Kolonialpolitiker und -interessierte, Angehörige der „Schutztruppe“, Siedler, Unternehmer oder Kaufleute, die ihr Bild oder ihre Bilder (Vorstellungen ebenso wie Fotografien, Bildpostkarten und Zeichnungen) vermittelten. Wie im Verlauf der Untersuchung bereits mehrfach erwähnt, erhielt die Bildüberlieferung durch die neuen Möglichkeiten, die die Fotografie bot, neue Impulse. Fotografien und fotografische Abbildungen bewiesen oder unterstrichen die „Echtheit“ von Erlebnissen und Befunden, sie ermöglichten eine Fern-Sicht auf fremde Welten und sie eröffneten mitunter auch ganz neue Perspektiven, wie am Beispiel der geografischen Fotografie deutlich wird: Noch im letzten Jahr des 19. Jahrhunderts erschien Hermann Adalbert Daniels (1812-1871) neu aufgelegtes geografisches Handbuch mit 225 Vgl. Rowe, Max Uhle, S. 2. 226 Vgl. Diagne, L’Afrique dans l’opinion publique allemande und Horstmann, Wissensproduktion und koloniale Herrschaftslegitimation an den Kölner Hochschulen. Vgl. für deutsche Afrikaforscher im 19. Jahrhundert weiterhin Unangst, Men of Science and Action.

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Illustrationen, die ausschließlich auf Stahlstichen beruhten. 227 Bald danach allerdings setzten sich fotografische Illustrationen in geografischen Darstellungen endgültig durch und Zeichnungen und Stiche wurden immer seltener – auch wenn es sie weiterhin gab, in Sievers Beitrag über Süd- und Mittelamerika zur 1914 in dritter Auflage erschienenen Allgemeinen Länderkunde ebenso wie im Seydlitzschen Geografiebuch von 1924 (Abb. 48).228 Das in dem Lehrbuch abgedruckte Bild „Urwald in Brasilien“ stammt von Rudolf Hellgrewe (1860-1935), dem wohl bekanntesten deutschen Kolonialmaler. Er bereiste 1885/86 „Deutsch-Ostafrika“; seine Werke illustrieren u.a. Arbeiten von Carl Peters und Hermann von Wissmann (1853-1905). Sehr bekannt waren außerdem die Bilder der ecuadorianischen Andenkordilleren des Malers Rudolf Reschreiter, der Hans Meyer 1903 auf seiner Reise nach Ecuador begleitete. Seine Zeichnungen illustrieren neben Meyers auch zahlreiche weitere Reiseberichte, etwa von Therese Prinzessin von Bayern (1850-1925) und von Sven Hedin.229 Die Luftbildfotografie schließlich ermöglichte in den 1920er und 1930er noch wenige Jahre zuvor kaum vorstellbare Perspektiven und Erkenntnisse. Dabei wurden Fotografien und andere Bildmedien, auch wenn sie vornehmlich dem Bereich Wissenschaft entstammten, aber nicht ausschließlich wissenschaftlich „gelesen“, d.h. in der Absicht, wissenschaftliche Erkenntnis zu gewinnen, betrachtet und rezipiert. Neben dem wissenschaftlichen gab es, wie weiter oben etwa im Fall der Luftbildaufnahmen schon angedeutet, weitere Blicke auch auf jene Bilder, die im Rahmen des epistemischen Systems entstanden. Nachfolgend werden zunächst der sehnsüchtige und anschließend der historisierende Blick (der beispielsweise die Einordnung der Luftbildaufnahmen in den Modernediskurs oder von Bildern von Indigenen in den Diskurs um Zivilisation und Barbarei ermöglicht) behandelt.

227 Vgl. Daniel, Illustriertes kleineres Handbuch der Geographie, bes. S. 453-522 zu Südamerika. 228 Vgl. z.B. die Zeichnung „Die Bucht von Rio de Janeiro“ nach der Natur von Karl Oenike, 1887/91, aus Sievers, Süd- und Mittelamerika, nach S. 182. Der Berliner Landschaftsmaler und Radierer Karl Oenike (1862-1924) hatte Südamerika zwischen 1887 und 1891 als Teilnehmer mehrerer Forschungsexpeditionen bereist und dabei Zeichnungen, Aquarelle, Ölgemälde, Fotos und topographische Karten angefertigt. Zeichnungen und Skizzen von ihm finden sich u.a. in Arbeiten von Ludwig Brackebusch (1849-1906), der 1875 von Hermann Burmeister als Professor für Mineralogie und Direktor des mineralogischen Instituts an die Universität Córdoba (Nachfolge von Alfred Wilhelm Stelzner (1840-1895), Gründer des Museo de Mineralogía y Geología in Córdoba) geholt wurde, von Herman ten Kate oder auch bei Ehrenreich, Neue Mitteilungen über die Guayaki, S. 77 (Fig. 11). 229 Vgl. die Zeichnungen „Der Chimborazo vom Collanestal (Ostkordillere) aus“ von Rudolf Reschreiter, aus Therese Prinzessin von Bayern, Reisestudien aus dem westlichen Südamerika 1, S. 321 und „Der Chimborazo von der Südseite. Standpunkt: Tal von Totorillas bei 3980 m“ von Rudolf Reschreiter, 1903, aus Meyer, In den Hoch-Anden von Ecuador, Abb. 22, nach S. 98; das Temperagemälde „Die Caldera des Cerro Altar mit dem Calderagletscher, von der Stirnmoräne (4340 m) aus gesehen“ von Rudolf Reschreiter, 1903, aus Meyer, In den Hoch-Anden von Ecuador, Abb. 41 (gefaltet), zwischen S. 180 u. 181 sowie die Zeichnung „Cotopaxi“ von Rudolf Reschreiter, aus Hedin, Von Pol zu Pol (Letzte Folge: Durch Amerika zum Südpol), nach S. 208.

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Abbildung 48: Zeichnung „Urwald in Brasilien“ von Rudolf Hellgrewe, vor 1920 (?), aus Rohrmann, Adolf (Hg.): E. von Seydlitzsche Geographie für höhere Lehranstalten. 3. Heft: Außereuropäische Erdteile, 15. Aufl., Breslau: Ferdinand Hirt, 1924, Bildteil im Anhang.

Der sehnsüchtige Blick

Viele, im späten 19. Jahrhundert vermutlich sogar die überwiegende Mehrheit der fotografischen Bilder aus Südamerika, die in der deutschen Öffentlichkeit zirkulierten, wurden, wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt, in den epistemischen Systemen der wissenschaftlichen Disziplinen produziert – und auch rezipiert: Fotos dienten etwa der visuellen Konservierung, Vermittlung, Bestimmung und Einordnung von Menschen, Kulturen, Völkern und „Rassen“, von geologischen Formationen oder von archäologischen Stätten und Artefakten. Allerdings weisen viele Bilder auch über diesen Rahmen hinaus, wie z.B. ihre populärkulturellen Nutzungs-, Verbreitungs- und Betrachtungsweisen auf Bildpostkarten, in Reiseberichten und auch in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen und Vorträgen schon andeuten. Viele Fotos, die Forscher machten und/oder verbreiteten, transzendierten das epistemische System; ihnen wohnt ein „Mehr“ inne: Emotion, Faszination, Exotik, auch Attraktion und Erotik. Diese Bilder zeichnen sich durch eine besondere Ambivalenz aus. Ihre Wirkung lässt sich mit dem Bild des Kippschalters erfassen: Sie „funktionierten“ wie beschrieben als wissenschaftliche Fotos, sie weckten und bedienten zugleich aber auch Sehnsüchte und Fantasien der Betrachter. Diese Mehrdeutigkeit, das Schillern der Bedeutungen, die den in den visuellen Medien transportierten Motiven zugedacht wurden, resultiert aus der in der Einleitung beschriebenen Unmittelbarkeit sowie der bislang wenig untersuchten emotionalen Wirkung von Bildern. Populärwissenschaftliche Motive etwa auf Bildpostkarten oder in Reiseberichten aber auch in vermeintlich rein wissenschaftlichen Kontexten und zu rein wissenschaftlichen Zwecken produzierte Bilder wurden so nicht nur wissenschaftlich, sondern auch mit einem sehnsüchtigen Blick betrachtet. Dieser sehnsüchtige Blick barg Abenteuerlust und Entdeckergeist (seit der Kolonialzeit verbunden z.B. mit dem Namen Eldorado oder mit dem angeblich in der ecuadorianischen Llanganates-Kordillere versteckten Schatz der Inka, später mit Percy Fawcett und seiner Suche nach der verlorenen Stadt Z), Aussteigerträume, Träume von einem einfachen, natürlichen Leben abseits der europäischen „Dekadenz“ und „Degeneration“ des fin-de-siècle, die Suche nach Freiheit und Glück sowie erotische und sexuelle Fantasien. Dieser Ambivalenz der Bilder waren sich auch viele Forscher nicht nur bewusst, sie spielten mitunter damit, wie bereits im Zusammenhang mit Lehmann-Nitsches Publikation der Kollektion Boggiani angedeutet wurde und wie v.a. die Ausführungen zu den erotischen und sexuellen Fantasien erörtern werden.

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EMOTION UND RAUM Im Zuge der neueren Forschungen zur Geschichte der Gefühle ist auch die Kategorie Raum mit der der Emotion verknüpft worden.1 Der deutsche Philosoph Hermann Schmitz, Begründer der Neuen Phänomenologie, war vermutlich der erste, der Raum und Gefühl im Konzept des Gefühlsraums zusammenbrachte. 2 Schmitz beschreibt in diesem Konzept Gefühle als „räumlich ortlos ergossene, leiblich ergreifende Atmosphären“.3 Für Schmitz sind Gefühle demnach räumlich – dass Raum wiederum mit dem Leib erfahren und erlebt werde, kann und soll an dieser Stelle vernachlässigt werden. Zudem scheint es mir, dass Gefühle in ihrer räumlichen Komponente entgegen Schmitz’ etwas nebulöser Formulierung keineswegs zwangsläufig „ortlos“, sondern oftmals sehr wohl an Orte geknüpft sind oder sein können. Dies ist ganz offensichtlich der Fall etwa beim Zuhause, das Geborgenheit vermitteln kann bzw. mit dem Gefühl der Geborgenheit verbunden wird. Jenseits des leiblich erfahrenen Raums können aber auch Orte mit Gefühlen verbunden sein, die nur mittelbar, in der Fantasie, in Büchern und Bildern erfahren werden. Dies gilt z.B. für das Gefühl des Fernwehs, das ganz besonders auf bislang nicht selbst besuchte und insofern unbekannte, fremde Orte gerichtet ist. „Als diffuse, trivialpsychologische Gemütslage weist es eine doppelte Fluchtlinie auf: Wer Fernweh verspürt, den überkommt ein Verlangen nach Ferne – und zugleich manifestiert sich in dieser Sehnsucht nach dem Anderswo ein Unbehagen an der Gegenwart. Fernweh ist damit eine schwierig zu greifende, emotional aufgeladene Diskursfigur, die Raum und Zeit miteinander koppelt.“4

Das „Unbehagen an der Gegenwart“, aus dem sich das Fernweh speist, lässt sich für den Untersuchungszeitraum zum einen in der Sorge um die drohende oder vermeintlich schon stattfindende Degeneration v.a. des europäischen Mannes, der aufgrund der Dekadenz der Zivilisation verweichliche, ausmachen. Zum anderen konnte es an die Unzufriedenheit mit der persönlichen wirtschaftlichen oder sozialen Situation gebunden sein. Beides resultierte in einer mehr oder weniger diffusen Sehnsucht nach der Ferne, einer Fremde, wo sich Wünsche und Ambitionen verwirklichen sowie Abenteuer und Freiheit erleben ließen. Diese Fantasien, die auf bestimmte Orte projiziert wurden, waren ein wesentlicher Bestandteil des emotional stark aufgeladenen Kolonialdiskurses, wie etwa Birthe Kundrus mit dem von ihr 2003 herausgegebenen Sammelband Phantasiereiche: Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus gezeigt hat.5 Die Orte, mit denen diese Fantasien verknüpft wurden und die Thomas Bremer folgend auch als Sehnsuchtsorte bezeichnet werden können, 6 waren dabei

1 2 3 4 5 6

Vgl. z.B. Lehnert (Hg.), Raum und Gefühl. Zur historischen Emotionsforschung vgl. die Literaturangaben in der Einleitung, FN 123. Vgl. Schmitz, System der Philosophie (Bd. 3/2: Der Raum, 2. Teil: Der Gefühlsraum). Schmitz, Die Verwaltung der Gefühle, S. 42. Hnilica et al., CfP „Fort von hier, nur fort von hier!“ Kundrus (Hg.), Phantasiereiche. Vgl. Bremer (Hg.), Sehnsuchtsorte.

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vom formal bestehenden deutschen Kolonialreich relativ unabhängig. Zwar weckten die „Schutzgebiete“ und Kolonien in Afrika und, anknüpfend an eine seit dem 18. Jahrhundert bestehende Tradition, v.a. in der Südsee die Sehnsucht von Aussteigern, Abenteurern oder (angehenden) Unternehmern und Farmern, doch schon früher wurden auch andere Weltgegenden zur Projektionsfläche von Sehnsüchten, Träumen von Erfüllung und Selbstverwirklichung, der Suche nach dem Glück sowie kolonialen Fantasien. Dies galt in vorkolonialer, kolonialer und postkolonialer Zeit für Afrika, den fernen Osten und den Orient genauso wie für Südamerika. 7 Otto Nordenskjöld beispielsweise schrieb 1927 im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit – allein der Titel ist mit seiner Konnotation der Verheißungen des biblischen Gelobten Landes bezeichnend: „Südamerika ist in unseren Tagen ein Wahrzeichen und eine Sehnsucht vieler Menschen geworden.“ 8 Auch der Titel ebenso wie der Inhalt des ebenfalls bereits mehrfach angeführten, 1921 erschienenen Reise- und Abenteuerberichts von Hans Schmidt Meine Jagd nach dem Glück in Argentinien und Paraguay verweisen auf diese wirkmächtigen Gefühle.9 Große Versprechungen lassen sich ebenfalls bereits den Titeln von Otto Bürgers Chile-Handbuch, Chile als Land der Verheissung und Erfüllung für deutsche Auswanderer, und des zwischen 1912 und 1924 sechsfach aufgelegten Länderführers Brasilien: Ein Land der Zukunft von Heinrich Schüler (der 1912 das Lateinamerika-Institut in Aachen, das erste seiner Art im Deutschen Reich, gegründet hatte) entnehmen. Der langjährige Direktor des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin, Dietrich Briesemeister, führte Schülers „vielverheißende und seither oft wiederholte Formel […] letztlich auf Hegels Diktum zurück […], Amerika sei ein junger Kontinent ohne Geschichte, der erst künftig Bedeutung erlangen werde.“10 Wegen der ihnen zeitgenössisch zugeschriebenen Eigenschaften der Authentizität, Objektivität und Realität und weil sie unmittelbar und emotional wirkten, waren fotografische Bilder besondere, wirkungsvolle Stimulanzien dieser Sehnsüchte nach Gestaltungsmöglichkeiten, Freiheit, Glück, Erfüllung und Abenteuer. Im Deutschen Reich zirkulierten sie auf Bildpostkarten, in Reiseberichten und in (geografischen) Handbüchern sowie in Ratgebern zur Auswanderung. Die Palette der Motive ist sehr

7

Vgl. Zantop, Colonial Fantasies und Friedrichsmeyer et al. (Hg.), The Imperialist Imagination. Zur Südsee s. die Literatur in FN 149 in der Einleitung und in FN 16 im Fazit. Vgl. zum Kolonialismus ohne Kolonien zuletzt auch Lüthi et al., Colonialism Without Colonies. 8 Nordenskjöld, Südamerika, S. VI. Vgl. auch noch später Ullrich, Sehnsucht, wohin führst du mich? 9 Schmidt, Meine Jagd nach dem Glück in Argentinien und Paraguay. Vgl. zur Suche nach Glück und Abenteuer außerdem auch Schreiber, Im Schatten des Calafate, bes. S. V und 13. Vgl. weiterhin Vidal et al. (Hg.), Sociedades, movilidades, desplazamientos. 10 Briesemeister, Die Brasilienstudien in Deutschland, S. 380; Schüler, Brasilien: Ein Land der Zukunft. Vgl. ähnlich – wenn auch unter vollkommen anderen Umständen entstanden – später auch bei Zweig, Brasilien: Ein Land der Zukunft sowie dazu Eckl, Das Paradies ist überall verloren. Ebenfalls als Land der Zukunft galt Argentinien, vgl. Arent, Ein Land der Zukunft und Ross, Südamerika, die aufsteigende Welt, S. 116, der die Gegend am Río Neuquén als „Zukunftsland“ bezeichnet. Vgl. außerdem Bürger, Chile als Land der Verheissung.

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breit und reicht von der Weite der Pampa oder der patagonischen Steppe, den wüsten und rauen Anden, undurchdringlichem Dschungel und anderen Landschaftsaufnahmen v.a. unbewohnter Gebiete bis zu Bildern von „wilden“ Indigenen und ihrem „natürlichen“ Leben.

KOLONIALE FANTASIEN Seit in der Frühen Neuzeit die ersten Berichte aus der Neuen Welt – auch von deutschen Reisenden wie dem in der Einleitung erwähnten Hans Staden – erschienen, waren die europäischen Leser fasziniert von den Wundern, die sich in der fernen Fremde zutrugen. Als Ziel europäischer Expansion blieb Südamerika jedoch überwiegend der Spanischen und Portugiesischen Krone vorbehalten. Deutsche koloniale Bestrebungen hatte es auf dem Subkontinent mit wenigen Ausnahmen nicht gegeben. Es handelte sich dabei um die kurzlebige sogenannte Welser-Kolonie, auch bekannt als Klein-Venedig auf dem Territorium des heutigen Venezuela (1528-1546),11 das fehlgeschlagene Projekt der Grafschaft Hanau, im heutigen Französisch-Guayana und Nordbrasilien fast 100.000 Quadratkilometer Land (das 66fache Hanaus) als Lehen von der Niederländischen Westindien-Kompanie zu nehmen und zu kolonisieren (1669), die kurländischen Kolonisierungsversuche auf Tobago (v.a. 1654-1684/86) und die Brandenburgisch-Preußischen Kolonien auf St. Thomas (ein Teil der heute zu den Amerikanischen Jungferninseln gehörenden Insel, 1685-1720 von Dänemark gepachtet) und der Krabbeninsel (die heute zu Puerto Rico gehörende Insel Vieques, 1689-1693 annektiert).12 Trotz dieser nur spärlichen deutschen Präsenz regte Südamerika seit seiner Eroberung die „kolonialen Fantasien“ vieler Menschen im Deutschen Reich an. Im 18. und 19. Jahrhundert erschienen zahlreiche Geschichten über fiktive deutsche Konquistadoren und Kolonisten auf zivilisatorischer Mission in Südamerika, wie die Literaturwissenschaftlerin Susanne Zantop in ihrer kulturgeschichtlichen Untersuchung Colonial Fantasies: Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770-1870 gezeigt hat. Auf diese Weise seien, wohl eher unbewusst, Kolonialfantasien geäußert und beim Publikum angeregt worden.13 Gleichermaßen wurden seit dem 18. und bis ins 20. Jahrhundert Leben und Taten tatsächlicher Eroberer der „Neuen Welt“ literarisch verarbeitet. 14 Die Wirkung, die diese literarischen Werke auf die Leser im 19. Jahrhundert hatten, wurde noch verstärkt durch den

11 Vgl. neuer Denzer, Die Konquista der Augsburger Welser-Gesellschaft; ders., Die Welser in Venezuela; Schmölz-Häberlein, Kaufleute, Kolonisten, Forscher; Simmer, Gold und Sklaven und Zeuske, Kleine Geschichte Venezuelas sowie schon älter Walter, Der Traum vom Eldorado. Die Fugger realisierten ein ähnliches Projekt nicht. Wie die Welser, die mit der Statthalterschaft über die Provinz an der Atlantikküste entschädigt wurden, waren auch die Fugger Geldgeber Karls V., der ihnen dafür 1531 koloniale Konzessionen an der Westküste Südamerikas einräumte. 1533 nahmen die Fugger Abstand von dem Plan. 12 Vgl. Lennert, Kolonisationsversuche Brandenburgs, Preußens und des Deutschen Reiches. 13 Vgl. Zantop, Colonial Fantasies. Vgl. weiterhin die literarische Verarbeitung des WelserUnternehmens in Südamerika z.B. von Löhndorff, Trommle, Piet. 14 Vgl. Detering, Kolumbus, Cortés, Montezuma.

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enormen Eindruck, den die Südamerikareisen Alexander von Humboldts und die Berichte davon bzw. darüber beim deutschen Publikum hinterließen. Der „zweite“ oder „wahre Entdecker“ Südamerikas wurde später auch von der Koloniallobby vereinnahmt, die eine spezifisch deutsche Kolonialtradition konstruierte. Humboldts friedliche Forschungsreisen wurden der gewaltsamen Entdeckung und Eroberung Südamerikas durch Kolumbus und die spanischen Konquistadoren entgegengesetzt. 15 Das Wirken des deutschen Forschers dagegen verwies bereits auf den angeblich friedlichen Erwerb der „Schutzgebiete“ durch Verträge und die mission civilatrice zur Hebung der „Eingeborenen“. Wie in der Einleitung am Beispiel Carl Peters’ aufgezeigt, hatten diese kolonialen Fantasien durchaus Einfluss auf tatsächliche koloniale Unternehmungen – wenn auch die Annahme Zantops, auf Worte seien Taten gefolgt und die koloniale Wirklichkeit hätte seit den 1880er Jahren die literarischen Fantasien nur eingeholt, etwas über das Ziel hinauszuschießen scheint. Die Wirkung allerdings, die die in Südamerika spielenden Romane und Erzählungen auf die Vorstellung der Menschen im Deutschen Reich vor allem zu Beginn des Untersuchungszeitraums von dem fremden Kontinent hatten, muss angesichts der, wie in der Einleitung geschildert, dünnen Nachrichten und des begrenzten konkreten Wissens als sehr stark eingeschätzt werden. Auch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erschienen im Deutschen Reich zahlreiche literarische Werke, deren Handlung in Südamerika spielte. Ihre Autoren waren Reisende oder Auswanderer – oder sie hatten Südamerika nie selbst gesehen. Die meisten von ihnen, wenn nicht sogar alle, schrieben die von Zantop untersuchten kolonialen Fantasien des vorkolonialen 19. Jahrhunderts fort. Häufig stellten sie Leben, Reisen und Taten deutscher Abenteurer (in vielen Fällen vermeintlich autobiografisch) und Siedler in den Mittelpunkt. Zu den z.T. überaus populären Autoren, die sich mit Südamerika beschäftigten, gehört etwa der Abenteuerschriftsteller Friedrich Gerstäcker. Gerstäcker unternahm Mitte des 19. Jahrhunderts drei Reisen nach Südamerika. In mehreren Romanen und Erzählungen griff er Erfahrungen und Erlebnisse dieser Reisen in zahlreichen „Charakter-“ und „Lebensbildern“ von Menschen in den von ihm besuchten Ländern auf. Auch schilderte er beispielsweise in seinem 1864 erschienenen dreibändigen Roman Die Colonie das Leben deutscher Auswanderer in Brasilien.16 Anders als Gerstäcker, der – wie auch Emmerich – die südamerikanischen Schauplätze, an denen seine Erzählungen angesiedelt waren, mehrheitlich tatsächlich selbst bereist hatte,17 kannte der vermutlich noch populärere Abenteuerschriftsteller Karl May Argentinien, Uruguay, Paraguay und Bolivien, wo seine Südamerika-Erzählun-

15 Vgl. Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, S. 19. 16 Vgl. Gerstäcker, Die Colonie: Brasilianisches Lebensbild, außerdem ders., Eine Mutter: Roman im Anschluß an „Die Colonie“; ders., General Franco: Lebensbild aus Ecuador; ders., Sennor Aguila: Peruanisches Lebensbild; ders., Unter den Penchuenchen: Chilenischer Roman; ders., Die Blauen und Gelben: Venezuelanisches Charakterbild sowie ders., Aus Nord- und Südamerika und ders., Der Wahnsinnige Vgl. weiterhin die Biografie von Ostwald, Friedrich Gerstäcker. 17 Vgl. die in der Einleitung in FN 43 aufgeführten Reiseberichte.

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gen spielen, nicht aus eigener Anschauung. May stützte sich auf die Berichte früherer Reisender – auch von Gerstäcker ließ er sich anscheinend zumindest inspirieren – sowie auf geografische und andere wissenschaftliche Darstellungen. 18 Wie seine übrigen Reiseerzählungen auch wurden insbesondere Am Rio de la Plata und In den Kordilleren (bzw. zusammen El Sendador) von vielen Zeitgenossen nicht zuletzt wegen des aus Sachsen stammenden Ich-Erzählers zunächst für autobiografische Berichte wahrer Reisen und literarische Bearbeitungen tatsächlicher Begebenheiten gehalten. Auch der deutsche Protagonist aus Das Vermächtnis des Inka, Vater Jaguar, Hammer oder Carlos, hatte trotz einiger Ungereimtheiten eine gewisse Ähnlichkeit mit den Charakteren Charley/Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi. Zudem legten genaue Beschreibungen von geografischen und klimatischen Bedingungen (etwa der Anden), kulturellen Praktiken (etwa der Herstellung von Curare, Quipus) oder sozialer und ethnischer Gruppen (etwa der Gauchos, yerbateros oder Teesammler sowie der indigenen Völker der Camba, Abipones, Toba, Mbocovi – richtige Schreibweise ist Mocoví – und Chiriguano) – wie sie sich auch im Orientzyklus oder in den Reiseerzählungen über Nordamerika finden – nahe, dass der Autor mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leib erfahren habe, worüber er schrieb. 19 Auch bei May wimmelt es von Deutschen in Südamerika, doch stehen weniger Auswanderer, die in den Städten oder als Hacendados ihr Glück machen, im Mittelpunkt; vielmehr sind es Abenteurer, die sich im Chaco und anderswo fast schon auf Schritt und Tritt begegnen. Zu diesen gesellt sich in Das Vermächtnis des Inka der schrullige Forscher Dr. Morgenstern, ein Paläontologe auf der Suche nach Knochen von vorweltlichen Tieren. Karl May griff hier das Thema der im vorigen Kapitel beschriebenen Forschertätigkeit vieler deutscher Wissenschaftler auf und erwähnte das Vorbild für seinen Dr. Morgenstern, Hermann Burmeister, sogar namentlich. Der Paläontologe, Zoologe, Botaniker und Geograf Burmeister prägte die Entwicklung und Institutionalisierung der Naturwissenschaften in Argentinien und war von 1862 bis zu seinem Tod 1892 Direktor des naturwissenschaftlichen Museo Público de Buenos Aires (von 1882-1911 Museo Nacional, heute Museo Argentino de Ciencias Naturales „Bernardino Rivadavia“). Auch an der Gründung der ersten naturwissenschaftlichen Fakultät an der Universität Córdoba 1876 war er maßgeblich beteiligt (die ersten Dekane und die meisten Lehrkräfte waren Deutsche). 1859 hatte Burmeister in der Sierra de Córdoba nach Skeletten von Megatherium (Riesenfaultier) und einem Mastodon (amerikanisches Mammut) gesucht, allerdings nur die Überreste von Riesengürteltieren gefunden.20

18 S. dazu die Ausführungen zu May in der Einleitung. 19 Vgl. z.B. May, Das Vermächtnis des Inka, S. 74-77 u. 91 zu Gauchos, S. 94-95 zu Curare und S. 381 zur Beschreibung von Vegetation und Klima der Anden; May, Am Rio de la Plata, S. 5-7 zu Gauchos; S. 56-57 zu yerbateros (Teesammler), S. 59 zu Quipus und S. 205 zum Pfeilgift sowie May, In den Kordilleren, S. 327 zur Beschreibung von Vegetation und Klima der Anden. 20 Vgl. Koch, Zwischen Rio de la Plata und Kordilleren und Kosciuszko, „Man darf das Gute nehmen, wo man es findet.“ Vgl. zu Burmeister z.B. das Forschungsprojekt von Sandra Miehlbradt (Leopoldina-Studienzentrum für Wissenschafts- und Akademiengeschichte):

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Im Gegensatz zu Mays Südamerikaromanen, so betonten der bereits in der Einleitung vorgestellte Auswanderer und Abenteurer Franz Donat und seine Herausgeber explizit (und zeigen damit, dass in den 1920er Jahren die Legende, Mays Geschichten seien „echt“, in der Öffentlichkeit widerlegt war), 21 behandelten Donats Werke dessen vermeintlich wahre Erlebnisse als Vagabund in Brasilien (Paradies und Hölle, 1926) sowie in Paraguay und Argentinien (An Lagerfeuern deutscher Vagabunden in Südamerika, 1927) in den späten 1900er und 1910er Jahren. Donat schildert neben Jagden auf Tiere und Indigene, der Diamantensuche und anderen Abenteuern auch viele Begegnungen mit deutschen Abenteurern, Vagabunden, Farmern und Siedlern. Seine eigenen Bemühungen sich niederzulassen schlugen zunächst fehl, erst später heiratete er und wurde Bäcker im brasilianischen Santo Ângelo im Bundestaat Rio Grande do Sul. Dies ist ihm aber wohl zu unspektakulär gewesen und nicht mehr Gegenstand seiner Erzählungen. Das Thema der deutschen Auswanderung nach Südamerika bzw. die Arbeit deutscher Kolonisten in Südamerika im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigte viele weitere Schriftsteller, Reisende und Wissenschaftler, darunter Friedrich Gerstäcker, Sophie Wörishöffer, Hugo Zöller, Colin Ross (1885-1945), Richard Katz, Wilhelm Vallentin, Peter August Staller (Lebensdaten unbekannt), Otto Bürger oder Hermann von Ihering. Auch gibt es neben Donats Erzählungen bis weit in die 1930er Jahre (und darüber hinaus) weitere mehr oder weniger authentische Selbstzeugnisse von deutschen Auswanderern nach Südamerika, etwa von Otto Preusse-Sperber aus Argentinien, Wilhelm Ernst Gedult von Jungenfeld (1893-1966) aus Argentinien und Paraguay oder von Otto Schreiber (1900-1964), der nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er als Marinesoldat teilgenommen hatte, nach Südamerika auswanderte und nach

„Hermann Burmeister und die ‚wissenschaftliche Urbanisierung‘ Argentiniens“, http:// www.leopoldina.org/de/ueber-uns/studienzentrum/gastwissenschaftler/ [26.08.2018]. Die Suche nach den Überresten prähistorischer Tiere beschäftigte auch andere, darunter auch im vorigen Kapitel bereits erwähnte Forscher. Rudolf Hauthal und Erland Nordenskiöld beispielsweise forschten 1899 im südchilenischen Última Esperanza in der Cueva del Milodón, wo der deutsche Kapitän und Siedler Hermann Eberhard (1852-1908) 1895 das außerordentlich gut erhaltene und noch mit Fell besetzte Stück Haut eines Mylodons (Riesenfaultier, etwas kleiner als das Megatherium) gefunden hatte. Das Thema war wegen zahlreicher wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Publikationen, darunter eben auch Mays Werk, sehr populär und ist es, nicht zuletzt wegen weiterer Veröffentlichungen, wie z.B. dem berühmten Reisebericht von Bruce Chatwin geblieben. Vgl. Chatwin, In Patagonia sowie zeitgenössisch auch Schreiber, Im Schatten des Calafate, S. 102. Ein Naturforscher findet sich auch in Sophie Wörishöffers Abenteuerroman Die Diamanten des Peruaners. Die Figur des Dr. Schomburg ist zumindest dem Namen nach angelehnt an die Brüder Robert Hermann und Moritz Richard Schomburgk, die in den 1830er und 1840er Expeditionen nach Britisch-Guayana und Brasilien durchführten. Vgl. Robert Schomburgk, Reisen in Guiana und am Orinoco während der Jahre 1835-1839 und Moritz Richard Schomburgk, Reisen in Britisch-Guiana in den Jahren 1840-1844. Vgl. zum Thema weiterhin Podgorny, Fossil Dealers. 21 Vgl. das Geleitwort von Dr. Rudolf Peschke in Donat, Paradies und Hölle, S. X.

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Aufenthalten in zahlreichen Ländern, u.a. auch in Patagonien, schließlich bis zu seinem Tod drei Jahrzehnte in Kolumbien lebte.22 Zuletzt soll an dieser Stelle noch auf den in der Einleitung bereits erwähnten Kasimir Edschmid eingegangen werden. Der in Darmstadt geborene Edschmid war im Deutschen Reich zunächst als expressionistischer Autor und Mitglied der 1919 gegründeten Darmstädter Sezession bekannt geworden.23 Seit Ende der 1920er Jahre verfasste Edschmid dann realistische Werke, darunter neben Romanen auch Berichte über seine zahlreichen Reisen, die ihn nach Südeuropa, Afrika und eben auch nach Südamerika führten. Über seine Südamerikareise, die er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, der jüdischen Fotografin Erna Pinner unternahm, schrieb er Glanz und Elend Süd-Amerikas: Roman eines Erdteils (1931); ein Jahr später veröffentlichte er den Roman Deutsches Schicksal.24 Letzterer handelt von sechs Soldaten, die nach dem Ersten Weltkrieg nicht zurück ins zivile Leben finden und nach Südamerika auswandern, um in der bolivianischen Armee zu dienen. Später geraten sie in die Wirren zahlreicher Putsche und Putschversuche in Bolivien, Venezuela und Brasilien und fallen schließlich – mit der Ausnahme eines Heimkehrers ins Deutsche Reich – im schicksalhaften Kampf gegeneinander. Edschmid griff in seinem Roman das Thema der deutschen, v.a. preußischen Militärberater in Lateinamerika auf, die schon seit dem 19. Jahrhundert die Armeen vieler südamerikanischer Staaten zu modernisieren halfen.25

22 Vgl. Schreiber, Im Schatten des Calafate; ders., Ein Rauhbein am Äquator und ders., Columbien, Tapire und Don Otto; Preusse-Sperber, Unter Ansiedlern, Gauchos und Indianern sowie Gedult von Jungenfeld, Ein deutsches Schicksal im Urwald. Auch der adlige Gedult von Jungenfeld hatte am Ersten Weltkrieg teilgenommen und danach in Freikorps gedient. Vgl. auch ders., Aus den Urwäldern Paraguays zur Fahne. 23 Kurt Tucholsky urteilte über ihn: „Herr Kasimir Edschmid wurde probeweise in meinem Etablissement als Coiffeur eingestellt. Seine einnehmenden Manieren, seine weitgereisten Handbewegungen sowie seine reichen Sprachkenntnisse (er spricht allein vier Sorten Französisch, darunter eine beinah richtig) erweckten die schönsten Hoffnungen. Leider mußte er hinausgetan werden, da seine Kenntnisse im Deutschen nicht genügten, so dass er sich mit der Kundschaft nicht verständigen konnte. Entweder man verstand ihn, wußte aber nicht, was er meinte – oder man wußte, was er meinte, verstand ihn aber nicht. Seine leichte Hand in Damenfrisuren wird mir stets in angenehmer Erinnerung bleiben.“ Tucholsky, Dienstzeugnisse, S. 329. 24 Vgl. Edschmid, Deutsches Schicksal und ders., Glanz und Elend Süd-Amerikas. 25 Auch der von Edschmid bewunderte peruanische Diktator Augusto B. Leguía (1863-1932) ernannte 1926 den preußischen Offizier Wilhelm Faupel (1872-1945) zum Generalinspekteur der Streitkräfte. Faupel war schon zuvor von 1911 bis 1914 und dann wieder von 1921 bis 1926 Militärberater in Argentinien gewesen. Nach dem Sturz Leguías ging er zurück ins Deutsche Reich und war mit Unterbrechungen – Faupel war u.a. als Diplomat in Spanien tätig – von 1934 bis zu seinem Selbstmord am 01. Mai 1945 Direktor des IberoAmerikanischen Instituts in Berlin. Vgl. Liehr et al. (Hg.), Ein Institut und sein General sowie z.B. zu preußischen Militärberatern in Chile Rinke, Eine Pickelhaube macht noch keinen Preußen. Vgl. weiterhin zeitgenössisch Wirth, Deutsche Abenteurer, S. 137-139, der deutsche Militärs in Argentinien und Chile behandelte. Das Thema hat – wie viele an-

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Edschmid war Faschist und überzeugter Anhänger Mussolinis und er war Nationalist und Rassist. Seine rassistische Haltung tritt besonders in seinen Reiseberichten zutage. So schrieb er etwa über „die Indios“, sie seien eine „zum Tode verurteilte“ „Sklavenrasse“, verwahrlost, schmutzig und unmenschlich, „seit Jahrhunderten an Kokain und Alkohol gewöhnt.“ Er verglich sie mit Lamas und Alpacas, „Geschöpfe einer uralten Rasse, […] aber auch ein wenig rassig ohne Inhalt, […] ein wenig hochgezüchtet ohne Hirn.“26 Trotz seiner Einstellungen geriet Edschmid ins Visier der Nationalsozialisten und erhielt nach 1933 zunächst ein Publikations- und Reiseverbot; manche seiner Bücher wurden verbrannt. Anders als Erna Pinner, die 1935 nach England emigrierte, blieb Edschmid jedoch im Deutschen Reich und veröffentlichte „unpolitische“ Schriften.27 Nicht zuletzt aufgrund seiner Einstellung: Wir wollen nicht mehr darüber reden, machte Edschmid in der Bundesrepublik noch einmal mit Neu- und Wiederveröffentlichungen sowie als Vize-Präsident des deutschen PEN-Zentrums Karriere. Im Zusammenhang mit den Veröffentlichungen der vorgenannten Autoren, die von den Schicksalen und Taten Deutscher in Südamerika handeln und die, wie im Folgenden genauer herausgearbeitet wird, die von Zantop untersuchten kolonialen Fantasien fortschrieben bzw. bei den Lesern fortleben ließen, lässt sich zweierlei feststellen: Zum einen zeigen sie, dass sich der Kolonialdiskurs mit dem Diskurs der Auswanderung (nach Amerika) überlappte bzw. verwoben war. Dies galt gleichermaßen für die Zeit vor dem Erwerb von Kolonien durch das Deutsche Reich, die Kolonialzeit bis 1919 ebenso wie für die postkoloniale Weimarer Republik. In der Südamerikaliteratur stehen z.B. die erwähnten Gerstäcker (vorkolonial), Wörishöffer, May und Mader (kolonial) sowie Emmerich,28 Donat, Schreiber, Edschmid, Katz und Staller (postkolonial) für diese Kontinuität. Zum anderen – und von größerer Bedeutung im Sinne der Fragestellung der vorliegenden Arbeit – scheint sich die Funktion und Bedeutung von Bildmedien in fiktiven wie in nicht-fiktiven Arbeiten verändert zu haben. Die Lithografien, Stiche und Schnitte von Zeichnungen und Bildern v.a. in früheren Arbeiten zielten sicher darauf, die Fantasie anzuregen, dem Text mehr Lebhaftigkeit und so letztlich auch mehr Authentizität zu verleihen. Auch sind sicher die künstlerischen Aspekte vieler dieser

dere ebenfalls hier behandelte Themen – eine bemerkenswerte Kontinuität, die über deutsche Teilnehmer an den Unabhängigkeitskriegen (der bekannteste ist sicher Otto Philipp Braun (1798-1869)) zurückreicht bis zu deutschen Landsknechten (wie Hans Staden) im 16. Jahrhundert. Vgl. zu Braun Kiera, Otto Philipp Braun. 26 Edschmid, Glanz und Elend Süd-Amerikas, S. 210 u. 214. Vgl. für Edschmids rassistische Einstellungen gegenüber Afrikanern und Arabern auch ders., Basken, Stiere, Araber und ders., Afrika nackt und angezogen. 27 Vgl. dazu und zum weiteren Verhältnis Edschmids und Pinners den von Edschmids Schwiegertochter Ulrike veröffentlichten Briefwechsel: Edschmid, Wir wollen nicht mehr darüber reden sowie insg. zu Leben und Werk Edschmids Schlösser, Kasimir Edschmid. 28 Auch Ferdinand Emmerich veröffentlichte 1919 einen Leitfaden für Auswanderer, bevor er in den 1920er Jahren mit großem Erfolg seine zahlreichen Reise- und Abenteuerromane veröffentlichte. Vgl. Emmerich, Leitfaden für Auswanderer und seine weiteren Arbeiten in der Einleitung, FN 18.

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Bilder ins Kalkül zu ziehen. Dies wird z.B. deutlich, wenn in späteren Publikationen, trotz der vorhandenen technischen Möglichkeiten, nicht Fotos, sondern Zeichnungen abgebildet wurden. Allerdings mag das in manchen Fällen auch auf finanzielle Gründe zurückzuführen sein: Die Illustration mit Fotografien war ein bisweilen nicht unerheblicher Kostenfaktor.29 Manche Autoren bzw. ihre Verlage suchten die Vorteile von gestochenen, geschnittenen oder anderen Illustrationen durch den Hinweis „nach Fotografien des Verfassers“ oder Ähnliches mit den Vorteilen fotografischer Illustrationen zu verbinden. Die zunächst autotypisch, später in anderen Verfahren mit Fotografien illustrierten Arbeiten, die im Zentrum dieser Untersuchung stehen, nutzten die zeitgenössisch der Fotografie zugeschriebenen Eigenschaften (Objektivität, Authentizität, Abbildung der Realität) um die „Wahrheit“ des Berichteten zu untermauern. Und weil die Bilder unmittelbar wirkten, war es für die Betrachter der Fotos (fast) so, als seien sie selbst da oder dabei gewesen.30 So eröffnete das moderne Medium der Fantasie, den sehnsüchtigen Vorstellungen von Betrachtern fotografischer Bilder im wahrsten Sinne neue Räume. Mit Blick auf die deutschen Kolonien in Afrika hat Jens Jäger festgestellt, dass Fotografien von dort den Menschen im Kaiserreich die fernen Orte, Menschen und Ereignisse näher brachten und sie als „Heimat“ in Afrika präsentierten und etablierten.31 Ähnlich – und insofern auch der Kolonialfotografie zuzuordnen32 – visualisierten Fotografien den schon seit langem imaginierten kolonialen bzw. der Kolonisierung durch Deutsche harrenden Raum auch in Südamerika. Das seit der Erfindung der Autotypie in den 1880er Jahren in Büchern massenhaft reproduzierbare Medium belegte, dank der ihm inhärenten „Echtheit“, dass die nachfolgend genauer vorge-

29 Der Geograf, Ethnograf und Verleger Richard Andree (1835-1912) korrespondierte 1911 mit Paul Ehrenreich bezüglich der Gründung einer neuen Zeitschrift, die, so Andrees Wunsch, rein ethnologisch ausgerichtet sein sollte. Dabei plädierte er für eine strikte Auswahl der zu reproduzierenden Fotografien: „Die Abbildungen haben die Kosten des Globus wesentlich erhöht. Fallen die geographischen [...] fort, diejenigen á [sic!] la Ansichtspostkarten so kann viel gespart werden. Nur gute und neue Sachen müssen gebracht werden. Der schon hundertmal gebrachte Neger- u. Melanesierkopfsalat muss unterbleiben.“ Richard Andree an Paul Ehrenreich, Brief vom 01.01.[1911], Ibero-Amerikanisches Institut, Berlin, Nachlass Paul Ehrenreich, Kapsel 65, zitiert nach Hempel, Facetten der Fremdheit, S. 178. 30 Das ermöglichte, wie erwähnt, z.B. Max Uhle über Tiahuanaco zu publizieren, ohne selbst vor Ort gewesen zu sein. 31 Vgl. Jäger, „Heimat“ in Afrika. 32 S. dazu die in der Einleitung in FN 150 aufgeführten Arbeiten. Das sehr breite Spektrum der colonial photography zeigte in seiner ganzen Uneinheitlichkeit nicht unbedingt mehr oder andere Motive als die (mir) aus Südamerika bekannten ambivalenten Bilder von Menschen, Tieren, Pflanzen, Landschaften, Ruinen, Infrastruktur, Städten oder auch Ereignissen. Bilder von Indigenen und ihrer Kultur etwa gab es aus Afrika, Asien, Australien und sogar aus Nord- oder Osteuropa ebenso wie aus den Amerikas; auch Fotografien moderner Städte und Eisenbahnen als Ergebnis der europäischen mission civilatrice und Ausdruck der Überlegenheit der „weißen Rasse“ und ihrer Ingenieurskunst gab es von allen Kontinenten.

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stellten schier unendlichen Möglichkeiten, die sich tüchtigen Deutschen in den Ländern Südamerikas, v.a. in Brasilien, Argentinien, Paraguay, Chile oder Peru boten, nicht Produkte der Fantasie von Schriftstellern oder Übertreibungen durch Reisende und Auswanderer waren.

Abbildung 49: Fotografie „Die Kolonie Blumenau in St. Catharina (Brasilien)“, Fotograf unbekannt, vor 1925, aus Gedult von Jungenfeld, Wilhelm Ernst: Ein deutsches Schicksal im Urwald, Berlin: Deutscher Verlag, 1933, nach S. 176.

Die Fotografie der deutschen Kolonie Blumenau im südbrasilianischen Bundesstaat Santa Catarina, die in Ernst Gedult von Jungenfelds 1933 erschienenem autobiografischem Bericht Ein deutsches Schicksal im Urwald, abgedruckt war, zeigte etwa, dass sich Deutsche in der südamerikanischen Fremde eine Heimat geschaffen hatten (Abb. 49). Wegen der Architektur und der Lage am Fluss vermittelt das Stadtbild tatsächlich den Eindruck eines gemütlichen deutschen Dorfes. Die Ansicht weckte bei den Lesern sicher Heimatgefühle. Gleiches gilt für zahlreiche weitere Bilder von den deutschen Siedlungen in Südbrasilien, so auch für die Fotografie „Deutsche Kolonie bei Blumenau“ (Abb. 50). Mit den schwarzbunten Rindern, die, so es sich nicht tatsächlich um Holstein-Rinder handelt, mindestens an diese erinnern, ähnelt das Motiv der Ansicht eines Hofes in einem deutschen Mittelgebirge. Ebenfalls an die deutsche Heimat erinnerten die später in diesem Kapitel behandelten Bilder beispielsweise von Valdivia, das der Reisende Richard Katz als „typische deutsche Kleinstadt“ 33 bezeichnete, und von anderen Orten in Chile sowie vom Vulkan Osorno dort (Abb. 64 und 65).

33 Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, S. 168.

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Abbildung 50: Fotografie „Deutsche Kolonie bei Blumenau“, Fotograf unbekannt, um 1900/05 (?), aus Wettstein, Karl Alexander: Brasilien und die deutsch-brasilianische Kolonie Blumenau, Leipzig: Engelmann, 1907, Abb. 14, S. 141.

Der sehnsüchtige Blick, mit dem Deutsche und andere Europäer diese Bilder betrachteten, ist konzeptionell eng angelehnt an den colonial gaze der von Mary Louise Pratt untersuchten imperial eyes. Pratts postkoloniales Konzept wiederum ist der Bildtheorie Jacques Lacans entlehnt.34 Die postcolonial studies, zu denen auch Pratts Arbeit zählt, fokussierten zwar zunächst Afrika und Asien, doch wurden sie schon bald – wenn auch unter z.T. erheblicher Kritik – auch auf Südamerika angewendet. 35 Auch in Pratts Arbeit werden neben Beispielen aus Afrika auch Berichte von europäischen, v.a. französischen und britischen Südamerikareisenden untersucht. 36 Und Deborah Poole untersuchte z.B. die imperiale Perspektive US-amerikanischer Bilder der Anden.37 In Lateinamerika selbst ist das Konzept einer vista colonial zumindest unter

34 Vgl. Pratt, Imperial Eyes und zu Lacans Bildtheorie Blümle/von der Heiden (Hg.), Blickzähmung und Augentäuschung. Vgl. zum imperial gaze weiterhin Kaplan, Looking for the Other. 35 Vgl. z.B. die hervorragende Arbeit von Thurner, From Two Republics to One Divided und die heftige Kritik am Konzept von Klor de Alva, The Postcolonization of the (Latin) American Experience. Einführend zur postkolonialen Theorie vgl. z.B. Gandhi, Postcolonial Theory oder Young, Postcolonialism. 36 Vgl. Pratt, Imperial Eyes, bes. S. 144-171. 37 Vgl. Poole, Landscape and the Imperial Subject.

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Vertretern der Kritischen Theorie und der Postkolonialen Theorie ebenfalls recht populär. Dabei wurde in den letzten Jahren die Idee von der „Kolonialität der Macht“ Aníbal Quijanos zunächst um die Ideen der „Kolonialität des Wissens“ und der „Kolonialität des Seins“ sowie später eben auch um die Idee von der „Kolonialität des Sehens“ erweitert.38 Auf der anderen Seite, auf der Seite der Betrachter der Bilder, ist die schon von Zantop betonte Bedeutung des Kolonialismus bzw. der kolonialen Fantasien für die Konstruktion der deutschen Nation hervorzuheben. Im vorkolonialen 19. Jahrhundert halfen sie die politische Realität der deutschen Kleinstaaterei zu verdrängen; nach der Reichsgründung nahm der latecomer dann in den 1880er Jahren endlich den ihm zustehenden „Platz an der Sonne“ und damit die Stellung unter den europäischen Mächten ein, die ihm vermeintlich zustand. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Vertrag von Versailles trugen wiederum koloniale Fantasien dazu bei, die postkoloniale Krise des deutschen Selbstbewusstseins zu bewältigen, die sie andererseits aber auch betonten.39

AUSWANDERER, KOLONISTEN UND „AUSLANDSDEUTSCHE“ Deutsche Auswanderer bevölkerten nicht nur die Abenteuererzählungen und -romane von Gerstäcker, May, Donat und anderen sowie die Fantasie ihrer Leser – tatsächlich bevölkerten sie auch zu Tausenden, später gar zu Hunderttausenden die Länder Südamerikas, allen voran Brasilien, Argentinien und Chile sowie in etwas geringerem Ausmaß Paraguay, Uruguay und Venezuela, außerdem auch die Andenländer Peru, Kolumbien, Bolivien und Ecuador.40 Die ältere Forschung unterscheidet fünf Wellen

38 Vgl. Barriendos, Apetitos extremos und ders., La colonialidad del ver sowie La Tronkal (Hg.), Desenganche: Visualidades y sonoridades otras und Castro-Gómez/Grosfoguel (Hg.), El giro decolonial. 39 Vgl. z.B. den Sammelband von Krobb/Martin (Hg.), Weimar Colonialism, bes. die Einleitung der beiden Herausgeber. 40 Vgl. für einen Überblick z.B. Penny, Latin American Connections, knapp auch Potthast, Die deutsche Auswanderung nach Lateinamerika und Kamphoefner, Südamerika als Alternative? oder Rinke, The Reconstruction of National Identity und Zeuske, Deutsche Eliten in Lateinamerika; die Bibliografie von Haesner, Migration aus Europa nach Lateinamerika sowie ausführlich, aber schon älter die nicht ganz unproblematischen Arbeiten des österreichischen Volkskundlers Ilg, Pioniere in Brasilien und ders., Pioniere in Argentinien, Chile, Paraguay und Venezuela oder Fröschle (Hg.), Die Deutschen in Lateinamerika. Die Literatur zur deutschen Auswanderung nach Südamerika konzentriert sich zumeist auf Brasilien, vgl. den Forschungsstand bei Schulze, Auswanderung als nationalistisches Projekt; knapper ders., Von verbrasilianisierten Deutschen und deutschen Brasilianern; ders., ‘Auslandsdeutschtum’ in Brazil und ders., Nation and Migration; Penny (Hg.), Germans and Brazilians; Arendt/Neumann, Brasilien als Ziel der deutschen Auswanderung sowie für den Untersuchungszeitraum weiterhin z.B. Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, bes. S. 241-248; Bendocchi Alves, Das Brasilienbild der deutschen

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deutscher Auswanderer nach Südamerika: 1. In den 1820er und 1830er Jahren v.a. nach Südbrasilien; 2. in den 1850er Jahren nach Brasilien, Argentinien und Südchile; 3. von den 1860er bis zu den 1890er Jahren nach Chile und auch nach Paraguay; 4. von den 1890er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg wiederum v.a. nach Südbrasilien und Chile und 5. nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nach Brasilien und Argentinien sowie nach Uruguay und Paraguay. 41 Die genannten Destinationen können aber nur Schwerpunkte deutscher Einwanderung darstellen. Diese gab es, sicher mitunter in weitaus kleinerem Maße, auch in andere Länder sowie nach Mittelamerika. Doch auch dort, wo es nicht unbedingt sehr viele deutsche Einwanderer gab, konnte ihre sozio-ökonomische Bedeutung zentral sein, etwa für den Aufbau der Kaffeewirtschaft in Zentralamerika.42 Im Gegensatz zur Auswanderung aus anderen europäischen Ländern sind die Zahlen deutscher Emigranten nach Südamerika allerdings insgesamt relativ klein. Dem argentinischen Zensus von 1914 zufolge lebten 27.000 deutsche Einwanderer und Nachkommen deutscher Einwanderer im zweitgrößten Land des Subkontinents – eine geringe Zahl, verglichen mit 930.000 Italienern und 836.000 Spaniern. Auch die Zahl der Einwanderer aus Russland (etwa 93.000) war wesentlich höher. Zwischen 1920 und 1933 emigrierten weitere 47.000 Deutsche nach Argentinien. Heute betrachten sich 245.000 Argentinier als deutschstämmig, d.h. als Nachkommen von deutschsprechenden Einwanderern aus Deutschland bzw. dem Deutschen Reich, Österreich bzw. den Ländern der Habsburgermonarchie oder Russland (Wolgadeutsche).43 Die größte Zahl deutscher bzw. deutschsprachiger Süd-

Auswanderungswerbung; Gassen Kothe, Land der Verheißung oder auch die Studien von Spliesgart, „Verbrasilianerung“ und Akkulturation; Prutsch, Das Geschäft mit der Hoffnung und Wieser, „Das hiesige Land gleicht einem Paradies.“ Zur Einwanderung nach Brasilien insgesamt vgl. z.B. Lesser, Immigration, Ethnicity, and National Identity in Brazil und Zoller, Förderung, Quoten, Assimilierung. Zur deutschen Einwanderung nach Chile vgl. Krebs Kaulen et al., Die Deutschen und die deutsch-chilenische Gemeinschaft in der Geschichte Chiles; Weß, Von Göttingen nach Valdivia; Heberlein, Writing a National Colony; Bernedo Pinto, Los industriales alemanes de Valdivia; Brahm G., La Consolidación de una Colonia en la Patagonia Occidental oder Tietze de Soto, Deutsche Einwanderung in die chilenische Provinz Concepción und für Argentinien z.B. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d'émigration allemande vers l’Argentine; zuletzt Kramer, Zwischen den Heimaten oder die klassische Studie von Newton, German Buenos Aires. Ein weiteres gut bestelltes Forschungsfeld ist die Geschichte Schweizer Auswanderer vgl. für Brasilien z.B. Cunha, Das Paradies in den Sümpfen; Fluck, Basler Missionare in Brasilien oder den Ausstellungskatalog von Dietrich et al. (Hg.), Der Traum vom Glück und für Argentinien z.B. Glatz, Schweizerische Einwanderer in Misiones. 41 Vgl. Fröschle, Zusammenfassung und Ausblick, S. 812. 42 Vgl. zuletzt Berth, Biografien und Netzwerke im Kaffeehandel sowie Schoonover, Germany in Central America. Vgl. weiterhin die jüngst erschienene Studie zur mexikanischen Region Yucatán von Durán-Merk, “In Our Sphere of Life.” 43 Vgl. Carreras/Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens, S. 106 und insgesamt zu Migration in und nach Lateinamerika z.B. Foote/Goebel (Hg.), Immigration and National Identities in Latin America sowie Fischer/Gossel (Hg.), Migration in internationaler Perspektive.

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amerikaauswanderer, zwischen 1886 und 1936 waren es etwa 280.000, übersiedelte nach Brasilien. Verglichen mit den ca. fünf Millionen Menschen, die bis 1900 nach Nordamerika ausgewandert waren, war dies immer noch eine relativ unbedeutende Zahl – allein im Jahr 1882 emigrierten etwa 250.000 Deutsche in die USA.44 Allerdings wanderten im Untersuchungszeitraum deutlich mehr Deutsche nach Südamerika aus, als in die deutschen Kolonien und „Schutzgebiete“. In „Deutsch-Südwestafrika“, der einzigen deutschen Siedlungskolonie, ließen sich bis zum Ersten Weltkrieg nur etwa 12.000 deutsche Siedler nieder.45 Viele südamerikanische Regierungen förderten im 19. und 20. Jahrhundert die Einwanderung von Europäern, um das Gemeinwesen und die Bevölkerung ihrer Länder, die vielfach aus indigenen Mehrheiten bestand, zu „verbessern“. Angehörige der Eliten hatten die rassistischen Ideen ihrer Zeit internalisiert und Politiker und Experten des Social Engineering begrüßten die europäische Einwanderung als ein Mittel, um Fortschritt, Modernisierung und Zivilisation zu erreichen. Sie glaubten, Europäer würden nicht nur moderne Technologien und Ideen mit sich bringen, sondern – ganz im Sinne der Erkenntnisse der Eugenik bzw. diese teilweise vorwegnehmend – die Bevölkerung auch „rassisch“ verbessern („aufweißen“, in Brasilien branqueamento), indem sie sich mit Mestizen und Indigenen „mischten“. Dabei wurde (eher theoretisch, denn praktisch) vielfach Einwanderern aus Nordeuropa der Vorzug gegeben vor solchen aus Italien, Spanien und anderen süd- sowie aus osteuropäischen Staaten.46 Und so warben sowohl deutsche Agenten als auch südamerikanische Institutionen auch um deutsche Einwanderer. Eines der frühesten und vielleicht bekanntesten Dokumente in diesem Zusammenhang ist Domingo Faustino Sarmientos Deutsche Auswanderung und Colonisation von 1848.47 Der spätere Präsident Argentiniens (1868-1874) war nach seiner Europareise – während der er auch den genannten, später publizierten Vortrag hielt – im Deutschen Reich recht populär. Noch einige Jahrzehnte später trat er in Karl Mays Das Vermächtnis des Inka sogar namentlich auf (in El Sendador ist die Figur des Präsidenten Sarmiento nachempfunden). 48 1853 wurde

44 Vgl. Luebke, Germans in the New World, S. 163. Es gibt andere Schätzungen, die z.T. deutlich niedrigere Zahlen deutscher Einwanderer nach Brasilien angeben. 45 Vgl. Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, S. 29. Die daraus resultierende Bedeutung Südamerikas und des Auslandsdeutschtums dort für deutsche Kolonialbestrebungen wurde auch zeitgenössisch schon hervorgehoben, vgl. z.B. Hettner, Das Deutschtum in Südbrasilien und Südchile oder Meyer, Die Deutsche Auswanderung nach Südamerika. Vgl. dagegen Bock, Deutsche Lateinamerikaforschung im Nationalsozialismus, die feststellt, dass die deutsche Lateinamerikaforschung nach dem Ersten Weltkrieg vorrangig an den Interessen der Wirtschaft ausgerichtet war und erst während der 1930er Jahre von der Erforschung des Deutschtums in der Region und von Kulturpropaganda geprägt war. 46 Noch in den 1940er Jahren suchte der peruanische Präsident Manuel Prado Skandinavier zur Einwanderung zu ermutigen. Vgl. Soto, El otro sendero, S. 11. Vgl. ebenfalls die Bemühungen der brasilianischen Regierung, deutsche Einwanderer zu gewinnen, in Einwanderungs- und Kolonisationsamt (Hg.), Das heutige Brasilien. Zur Eugenik in Südamerika vgl. Stepan, The Hour of Eugenics und zuletzt Lorenz, Das Eigene und das Fremde. 47 Sarmiento, Deutsche Auswanderung und Colonisation. 48 Vgl. May, Das Vermächtnis des Inka, S. 5 und Kap. 1.

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die Förderung der europäischen Immigration sogar in Artikel 25 der ersten argentinischen Verfassung aufgenommen. Und argentinische Administratoren präsentierten ihr Land auf verschiedenen Ausstellungen, etwa den Weltausstellungen; auch zum Deutschen Kolonialkongress 1902 wurde ein argentinischer Vertreter entsandt. 49 Die Werbung um europäische Einwanderer war in Argentinien wegen der geringen Bevölkerungsdichte auf dem riesigen staatlichen Territorium besonders stark – an dieser Stelle darf die Erwähnung des Slogans „gobernar es popular“ des Intellektuellen, Politikers und Vaters der Verfassung von 1853, Juan Bautista Alberdi (1810-1884) nicht fehlen. Aber auch andere südamerikanische Regierungen unternahmen ähnliche Anstrengungen. So gab die paraguayische Regierung 1889 auf Deutsch Ein Handbuch für den Einwanderer heraus; 1914 druckte sie zwei Arbeiten von Genaro Romero, einem Experten für Einwanderung.50 Und die brasilianische Regierung suchte das Land nicht nur auf Weltausstellungen ins rechte Licht zu rücken, sondern ließ zu Werbezwecken sogar Bildpostkarten drucken.51 Bildpostkarten etwa von der „Exposition Universelle de Bruxelles 1910“ zeigten auch, dass sich Uruguay ebenfalls auf Weltausstellungen und anscheinend als modernes Land präsentierte (Abb. 51). Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass es durchaus und mitunter auch vehemente Kritik an der deutschen Einwanderung nach Südamerika gab – und zwar von Südamerikanern ebenso wie von Seiten deutscher Auswanderungsgegner. Der brasilianische Intellektuelle Sílvio Romero (1851-1914) etwa warnte 1906 vor der „deutschen Gefahr“ in Brasilien.52 In seiner nationalistischen Arbeit verglich Romero die deutschen Einwanderer mit den barbarischen Horden, die Roms Untergang bedeuteten. Tatsächlich assimilierten sich deutsche Einwanderer nicht so schnell und hielten z.B. an der deutschen Sprache fest. Die portugiesische Sprache sei aber, so Romero, die Grundlage der brasilianischen Nation. Er befürchtete, Brasilien könne zum Ziel deutscher Expansion werden und seine staatliche Integrität verlieren. „Indem Romero von einer möglichen Allianz zwischen den Kolonisten und der deutschen Regierung mit der eventuellen Folge der imperialen Annexion des Südens Brasiliens, oder der

49 Vgl. Funke, Die Besiedelung des östlichen Südamerika, S. 51-52 und zur argentinischen Präsenz auf den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts Barth, Nation et alterité. 50 Vgl. Hauptauskunftsbureau der Regierung in Asunción, Paraguay: Ein Handbuch für den Einwanderer sowie Romero, Republik Paraguay: Das Land des Sonnenscheins, der Blumen und Früchte und ders., Notizen für Einwanderer. 51 Vgl. Schuster, Die Inszenierung der Nation oder kanpper ders., Envisioning a “Whitened” Brazil sowie Bendocchi Alves, Das Brasilienbild der deutschen Auswanderungswerbung. Zur Präsenz weiterer Länder etwa auf der Pariser Weltausstellung 1889 vgl. Fey, Zwischen Zivilisation und Barbarei. Vgl. außerdem die Bildpostkarte „Brésil – Etat de São Paulo. – Elevage du Mouton“, Verlag: Mission Brésilienne de Propagande, Paris, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1992/20,2233. 52 Vgl. Romero, O Allemanismo no sul do Brasil sowie z.B. Bletz, Immigration and Acculturation, bes. S. 116-122. Zur Kritik von deutscher Seite s.u..

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Bildung eines deutschen innerhalb des brasilianischen Staates, ausging, sah er in den Kolonisten eine Art lokaler Agenten des deutschen Imperialismus.“ 53

Die Schärfe in Romeros Text war vermutlich auch dem Eindruck der ersten „PantherAffäre“ im November 1905 geschuldet. Ein Matrose der SMS „Panther“ – jenem wegen des „Sprungs nach Agadir“ bekannten Kanonenboot – war nach einem Trinkgelage in Itajaí im südbrasilianischen Bundesstaat Santa Catarina desertiert und von einigen Besatzungsmitgliedern gesucht, gefunden und zurück an Bord gebracht worden. Die Suchaktion war allerdings ohne Rücksprache und Genehmigung der örtlichen Behörden durchgeführt worden und führte zu einem diplomatischen Zwischenfall mit einem recht großen medialen Echo.54 Dieses wiederum war angesichts der Geringfügigkeit der Angelegenheit sicher einem mehr oder weniger diffusen Unbehagen aufgrund der großen Zahl deutscher Einwanderer geschuldet.

Abbildung 51: Bildpostkarte „Exposition de Bruxelles 1910. Les pavillons d’Italie, d’Uruguay et de Herstal“, Verlag unbekannt, Brüssel (?), gelaufen 27.09.1910, Sammlung von Hinnerk Onken. Vgl. auch die Bildpostkarte „Exposition Universelle de Bruxelles 1910. Pavillon d’Italie et d’Uruguay“, Verlag unbekannt, Brüssel (?), gelaufen 1910 (Poststempel teilweise unleserlich), Sammlung von Hinnerk Onken

Unter den mittlerweile recht zahlreichen migrations-, sozial- und kulturgeschichtlichen Arbeiten zur europäischen Einwanderung nach Südamerika gibt es auch einige,

53 Lorenz, Das Eigene und das Fremde, S. 20. Paradoxerweise „plädierte Sílvio Romero […] zur Verbesserung der nationalen Situation Brasiliens [zugleich] für eine Verstärkung der deutschen Immigration […].“ Ebd., S. 20. Vgl. weiterhin Bonow, A desconfiança sobre os indivíduos de origem germânica. 54 Vgl. Wiechmann, Die preußisch-deutsche Marine in Lateinamerika 1866-1914, S. 415416.

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die sich mit der deutschen Migration beschäftigen. Allerdings gibt es kaum Untersuchungen aus der Perspektive der (post-)colonial studies.55 Das ist nicht nur angesichts der oben angeführten Befunde Susanne Zantops und anderer erstaunlich: Auch in vielen Quellen ist in Bezug auf die deutsche Einwanderung nach Südamerika von Kolon(ial)isten, Kolonisation und Kolonien die Rede – und das bis weit in die 1950er Jahre!56 Im Unterschied dazu wurden deutsche Auswanderer in die USA oder nach Kanada im 20. Jahrhundert,57 spätestens seit den 1920er Jahren, nicht länger als Kolonisten bezeichnet. Der Abenteuerschriftsteller Emil Droonberg (1864-1934), der „deutsche Jack London“, etwa schrieb 1930 über deutsche „Ansiedler“ in Kanada. 58 Das Fehlen kolonialer Schlagworte ist vermutlich auf die zeitgenössische Wahrnehmung der USA und Kanadas als moderne, zivilisierte, eigen- und beständige Nationen zurückzuführen. Dieses Bild unterschied sich stark von der Vorstellung eines zumindest z.T. wilden, rückständigen, wirtschaftlich wie infrastrukturell unterentwickelten und v.a. politisch instabilen Südamerikas. Historische oder fiktive politische Wirren, Umsturzversuche, Revolutionen und Bürgerkriege in verschiedenen Ländern Südamerikas stellen nicht nur den Hintergrund vieler literarischer Arbeiten von Friedrich Gerstäcker (Die Blauen und Gelben, 1870) über Karl May (sowohl Das Vermächtnis des Inka, 1891/92 als auch El Sendador, 1894), Friedrich Wilhelm Mader (El Dorado, 1903) und Ferdinand Emmerich (Insurgentenkämpfe: Ein Streifzug in Venezuela, 1924) bis Franz Donat (der in Paradies und Hölle, 1926, schilderte, wie er unversehens in eine lokale Revolution in Brasilien verwickelt wurde 59), Kasimir Edschmid (Deutsches Schicksal, 1932) und Peter August Staller (Zwei Deutsche im Urwald, 1937) dar: Bei seiner Ankunft in Lima geriet der Reiseschriftsteller Richard Katz im August 1930 tatsächlich mitten in den Sturz des Diktators Leguía durch den Militär Luis Miguel Sánchez Cerro (1889-1933) und seine Anhänger.60 Peter Fleming (1907-1971) erlebte 1932 die Revolution in São Paulo: „Nun, da war sie und ging (so sagte man uns) rings um uns vor sich: eine südamerikanische Gala-Re-

55 Vgl. in dieser Hinsicht Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, bes. S. 229-278 und für einen älteren Ansatz Forbes, German Informal Imperialism in South America before 1914. 56 Vgl. Schauff, Landerschließung und Kolonisation in Lateinamerika oder Blöcker, Deutsche Kolonisation in Paraguay. Selbst in jüngeren Studien wird die Bezeichnung Kolonisation unkritisch übernommen. Vgl. Cunha, Rio Grande do Sul und die deutsche Kolonisation. 57 Eine Ausnahme scheint mir zu sein Och, Der Deutschamerikanische Farmer. Vgl. zum Thema auch Guettel, German Expansionism, Imperial Liberalism, and the United States und Depkat, Amerikabilder in politischen Diskursen. 58 Vgl. Droonberg, Die Ansiedler in Canada. Vgl. zur deutschen Auswanderung in die USA z.B. Heerwart/Schnurmann (Hg.), Atlantic Migrations oder Vollmar, Wohnen in der Wildnis sowie die eher populärwissenschaftlichen Arbeiten von Brunner, Nach Amerika und Emmerich, Die Geschichte der Deutschen in Amerika. 59 Vgl. Donat, Paradies und Hölle, S. 105-117. 60 Vgl. Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, S. 29-45.

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volution. Es schien geraten, die Gelegenheit zu nützen, vielleicht gab es keine zweite in dieser Saison.“61

Abbildung 52: Fotografie „Aufbruch der deutschen Kolonisten vom Kammergebäude zu Santa Cruz in den Wirren der Revolution“, Fotograf unbekannt, 1893/95, aus Funke, Alfred: Aus Deutsch-Brasilien: Bilder aus dem Leben der Deutschen im Staate Rio Grande do Sul, Leipzig: Teubner, 1902, S. 234.

Am prägnantesten bringt diese Wahrnehmung des chaotischen Südamerika vermutlich Kasimir Edschmid zum Ausdruck. Er schrieb, Revolutionen hätten in Südamerika „viel von einem leidenschaftlichen Sport.“62 Ausnahmen stellen dabei allerdings die Vorstellungen von Chile als das „Preußen Südamerikas“ (wozu auch die oben erwähnten deutschen Militärberater beigetragen haben könnten) und von Uruguay als der „Schweiz Südamerikas“ dar. In den hier untersuchten visuellen Medien werden politische Instabilität, Kriege, Bürgerkriege und Revolutionen bzw. revolutionärer Geist63 jedoch fast gar nicht abgebildet. Höchstens mittelbar verweisen Bilder von gefährlichen und widerständigen Indigenen darauf.64 Eine der seltenen Ausnahmen stellt eine Fotografie dar, die in Alfred Funkes 1902 erschienenem Bericht Aus Deutsch-Brasilien: Bilder aus dem Leben der Deutschen im Staate Rio Grande do

61 Fleming, Brasilianisches Abenteuer, zitiert nach der Ausgabe Berlin: Wegweiser, 1950, S. 75. Es handelt sich bei dem Autor um den Bruder des Erfinders von James Bond. 62 Edschmid, Glanz und Elend Süd-Amerikas, S. 21. 63 Dieser wurde später v.a. in der Ikone Che Guevaras sichtbar. Vgl. zu dieser deutschen Vorstellung von Lateinamerika in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts z.B. knapp Rupprecht, Die Liebe der Linken zu Lateinamerika oder Trnka, Revolutionary Subjects. 64 S. dazu auch Kap. 1 und bes. Kap. 3.

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Sul abgedruckt war. Sie zeigt den „Aufbruch der deutschen Kolonisten vom Kammergebäude zu Santa Cruz in den Wirren der Revolution“ (Abb. 52). Es ist angesichts der Wahrnehmung der politischen wie der wirtschaftlichen, sozialen und infrastrukturellen Situation und angesichts der vermeintlichen Rückständigkeit eines Großteils der Bevölkerung nicht verwunderlich, dass zeitgenössische Darstellungen Südamerikas, fiktiv oder nicht, die Terminologie des Kolonialdiskurses nutzten: Obwohl Südamerika überwiegend aus unabhängigen Staaten bestand, schien es sich nicht groß von anderen, kolonialen Peripherien zu unterscheiden. Zugegebenermaßen bezieht sich der Ausdruck Kolonisation primär auf die Urbarmachung oder Kultivierung von Land und auch in bzw. für Südamerika wurde und wird er im allgemeinen Sprachgebrauch entsprechend benutzt. Dies galt auch für den politischen Diskurs, wie etwa die 1876 vom argentinischen Kongress erlassene „Ley de inmigracion y colonizacion de la Républica Argentina“ verdeutlicht. Dennoch bleibt Susanne Zantop folgend und bestätigend festzuhalten, dass der von formalem europäischem Kolonialismus weitgehend freie Subkontinent im Deutschen Reich in kolonialer Perspektive wahrgenommen wurde. Besonders deutlich wird dies anhand von Bildern, die, wie etwa das oben abgebildete Foto der Kolonie Blumenau, deutsche Heimat in der Fremde zeigen (Abb. 49 und 50). Im Folgenden werden außerdem weitere Bilder von deutschen Siedlungen und von den Errungenschaften deutscher Kolonisationsarbeit und deutschen Fleißes ausführlich behandelt. Wolfgang Reinhard scheint Recht zu haben, wenn er schreibt, dass „historisch Kolonisation ohne Kolonialismus wohl nur selten möglich gewesen [ist]!“ 65 Auch die vorliegende Arbeit belegt, dass in Südamerika die Kolonisation oder Kolonisierung im Sinne von Besiedelung und Landerschließung durch deutsche Immigranten mit dem kolonialen Diskurs im Deutschen Reich zusammenfiel. Tatsächlich bezogen gar nicht so wenige deutsche Kolonialaktivisten Südamerika ernsthaft in ihre Überlegungen ein, wenn auch nicht immer mit dem Ziel formaler Kolonisierung. Vielmehr sollten, im Idealfall gesteuert durch eine entsprechende nationale Auswanderungspolitik, deutsche Einwanderer v.a. in Brasilien und Argentinien eine imperialistische Einflusssphäre etablieren.66 Insofern könnte es auch ein durchaus lohnenswertes Unterfangen sein (das allerdings die vorliegende Arbeit nicht leisten kann), die deutsche

65 Reinhard, Kleine Geschichte des Kolonialismus, S. 3. 66 Vgl. neben der bekannten Schrift von Fabri, Bedarf Deutschland der Colonien? z.B. auch die Arbeiten des bereits erwähnten Sievers, Südamerika und die deutschen Interessen und ders., Venezuela und die deutschen Interessen; die entsprechenden Beiträge in Staudinger (Hg.), Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1902 sowie Krauel, Deutsche Interessen in Brasilien oder auch Vallentin, Kolonialpolitische Studien mit besonderer Berücksichtigung Argentiniens; ders., Argentinien und seine wirtschaftliche Bedeutung für Deutschland und Regel, Die Deutschen in Argentinien. Vgl. weiter Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, S. 229-278 und Forbes, German Informal Imperialism in South America before 1914. Ähnlich ist für Nordamerika v.a. der gescheiterte Versuch des adeligen Texasvereins, der in den 1840er Jahren mehr als 7.000 deutsche Auswanderer nach Texas brachte, in der Hoffnung dort ein deutsches, eventuell gar unabhängiges Territorium zu etablieren, sehr bekannt. Vgl. Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, S. 18.

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Auswanderung nach Südamerika unter dem Aspekt des settler colonialism oder settler imperialism zu untersuchen. Allerdings hat der Historiker Frederik Schulze in seiner Dissertation zuletzt deutlich die Grenzen der von deutschen Einwanderern betriebenen „Deutschtumsarbeit“ und ihrer vermeintlichen Kolonialbestrebungen im brasilianischen Rio Grande do Sul aufgezeigt: „Deutsche Kolonialdiskurse bildeten nicht in erster Linie die Lebenswirklichkeit der Eingewanderten ab, sondern idealisierende Vorstellungen.“67 Seit dem 19. Jahrhundert wurden deutsche Auswanderer in den Amerikas und in den Kolonien auch anderer europäischer Mächte sowie Deutsche bzw. Nachkommen Deutscher in Osteuropa, wo sie z.T. seit dem Mittelalter lebten, als „Auslandsdeutsche“ begriffen.68 Deutschsein, so hat beispielsweise der Historiker Sebastian Conrad hervorgehoben, wurde im 19. und 20. Jahrhundert zunehmend völkisch interpretiert und in diesem Zusammenhang wurden auch „Auslandsdeutsche“ in die „imagined community“ der deutschen Nation eingebunden69 – unabhängig davon, wie die Betroffenen mit ihren durchaus heterogenen Migrationsgeschichten dazu standen. Die deutsche Staatsangehörigkeit, 1913 im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (RuSt AG) reichseinheitlich kodifiziert, wurde (und wird) aufgrund der Abstammung (ius sanguinis) – oder im Verwaltungsakt der Naturalisation (Einbürgerung) – erworben, nicht aufgrund der Geburt auf deutschem Territorium (ius soli).70 Zwar zielte diese Regelung u.a. auf die Sicherung des Status des Deutschseins weißer Kolonisatoren und ihrer Nachkommen sowie auf die Exklusion der Nachkommen von deutschen Männern und autochthonen Frauen in den Kolonien und „Schutzgebieten“ von der Staatsbürgerschaft, aber sie betraf eben auch „Auslandsdeutsche“, da die Nachkommen deutscher Staatsangehöriger Deutsche waren, wo immer sie auch auf die Welt kamen und wo immer sie lebten, ungeachtet ihrer Assimilation an die neue Umgebung bzw. ihrem Festhalten oder nicht an der deutschen Sprache. Wie oben im Kontext mit Silvio Romeros Klage über die deutsche Einwanderung nach Brasilien bereits erwähnt, assimilierten sich deutsche Immigranten häufig nicht,

67 Schulze, Auswanderung als nationalistisches Projekt, S. 342. Zum Konzept des settler colonialism vgl. Veracini, Settler Colonialism sowie Lloyd et al. (Hg.), Settler Economies in World History und Elkins/Pedersen (Hg.), Settler Colonialism in the Twentieth Century oder die Studien z.B. von Hixson, American Settler Colonialism und Cavanagh, Settler Colonialism and Land Rights in South Africa. 68 Vgl. Manz, Constructing a German Diaspora; Naranch, Inventing the Auslandsdeutsche; Walther, Creating Germans Abroad und zuletzt Maxwell/Davis, Germanness beyond Germany und Penny/Rinke (Hg.), Rethinking Germans Abroad, darin zur historischen Entwicklung dies., Germans Abroad: Respatializing Historical Narrative und Blackbourn, Germans Abroad and Auslandsdeutsche sowie den Bericht über die Tagung, die Pennys und Rinkes Publikation vorausging, von Bindernagel et al., Rethinking the „Auslandsdeutsche“. Zur nicht unproblematischen Verwendung des Begriffs „Auslandsdeutsche“ für deutschsprachige Migranten z.B. in Südbrasilien vgl. Schulze, Von verbrasilianisierten Deutschen und deutschen Brasilianern. 69 Vgl. Anderson, Imagined Communities und Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, bes. S. 20 sowie ders., Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich. 70 Vgl. Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen.

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mindestens nicht schnell, an die sie aufnehmende Gesellschaft. In Brasilien, aber auch in den anderen Ländern Südamerikas, in denen eine größere Zahl deutscher Einwanderer lebte, z.B. in Argentinien, Paraguay oder in Chile, siedelten Deutsche in eigenen deutschen Kolonien (so der zeitgenössische Ausdruck), sprachen weiterhin Deutsch, gaben deutschsprachige Zeitungen heraus, pflegten deutsche Sitten und Gebräuche und fühlten sich auch lange noch als Deutsche.71 Ihr „Deutschtum“ nahm mit der Verbreitung und dem Erstarken des völkischen Gedankens im Laufe des 20. Jahrhunderts oft radikale Formen an. Fast scheint es, als hätte sich in den 1920er und 1930er Jahren das Gefühl der Verbundenheit mit der alten Heimat unter deutschnational eingestellten Einwanderern und ihren Nachkommen sogar noch einmal verstärkt. Davon zeugt so mancher „treudeutsche Gruß an die alte Heimat“ 72 in der Auswandererliteratur ebenso wie die Gründung von Orts- und Landesgruppen der Auslandsorganisation der NSDAP (AO) in Buenos Aires, Paraguay und Rio de Janeiro sowie andere nazistische Aktivitäten, von denen etwa Carl Kircheiß stolz in seinem Buch Polarkreis Süd – Polarkreis Nord berichtete.73 Die Wahrnehmung der deutschen Auswanderer bzw. „Auslandsdeutschen“ in Südamerika war im Untersuchungszeitraum geprägt von Berichten von Reisenden – von Friedrich Gerstäckers Die Colonie (1864) bis zu Richard Katz Schnaps, Kokain

71 Das gilt noch heute z.B. für viele Einwohner des an der tropischen Ostseite der zentralperuanischen Anden gelegenen Pozuzo, wo im 19. Jahrhundert katholische deutsche und österreichische Einwanderer eine Kolonie gründeten. Die Ursachen für die Verbundenheit mit der alten Heimat und die Pflege der alten Traditionen in Pozuzo liegen sicher auch im Marketing. Vgl. Passow, Pozuzo in Peru oder die glorifizierende Arbeit von Habicher/ Naupp, Pozuzo: Ein Stück Tirol in Peru sowie Millies, Echando raíces. Richard Katz Urteil über Pozuzo fiel dagegen sehr negativ aus: „Seit fünfzig Jahren arbeiten Deutsche in Pozuzo und kommen nicht hoch. Inzucht und Kröpfe und Fieber und Klatsch.“ Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, S. 70. Ein weiteres Beispiel für das Fortbestehen des „Auslandsdeutschtums“ in Südamerika ist die 1961 von Paul Schäfer (1921-2010), einem freikirchlichen Prediger aus Bonn, in Chile gegründete Colonia Dignidad, heute Villa Baviera, die u.a. für Menschenrechtsverletzungen während der Pinochet-Diktatur (Einsatz von Zwangsarbeitern, Folterungen von Häftlingen) und Misshandlungen sowie sexuellen Missbrauch von Kindern bekannt ist. Vgl. zuletzt Maier, Colonia Dignidad. 72 Vgl. Donat, Paradies und Hölle, S. VIII oder Staller, Zwei Deutsche im Urwald, S. 274: „Wenn wir auch Bürger dieses Landes sind, unser Herz ist deutsch, wir werden Sorge tragen, daß auch im Herzen der Kinder das Deutschtum nicht untergeht.“ 73 Vgl. Kircheiß, Polarkreis Süd – Polarkreis Nord, S. 85-88 und aus der Sekundärliteratur z.B. Müller, Nationalsozialismus in Lateinamerika; Gaudig, Der Widerschein des Nazismus und neuer Drekonja-Kornat, Nationalsozialismus und Lateinamerika sowie zu Argentinien Meding (Hg.), Nationalsozialismus und Argentinien und ders./Ismar (Hg.), Argentinien und das Dritte Reich und zu Chile Klein, Im langen Schatten des Nationalsozialismus oder die ins Deutsche übersetzte, kontrovers diskutierte Arbeit von Farías, Die Nazis in Chile. Vgl. außerdem die spannende Biografie des Anarchisten Kniestedt, Fuchsfeuerwild. Kniestedt schildert anschaulich seine Auseinandersetzungen mit den deutschbrasilianischen Nationalsozialisten.

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und Lamas (1931) und Kasimir Edschmids Glanz und Elend Süd-Amerikas: Roman eines Erdteils (1931) – und von Berichten von Auswanderern selbst, z.B. von Otto Preusse-Sperber, Franz Donat oder Wilhelm Ernst Gedult von Jungenfeld sowie durch fiktive Erzählungen aus Südamerika. Bei Karl May etwa wimmelt es in Südamerika nur so von fleißigen, tugendhaften, starken und schlauen Deutschen, die im Gegensatz zu ihren nicht-deutschen Nachbarn in sauberen, behaglichen Häusern wohnen und Dinge sagen wie: „Um ein Deutscher zu sein, braucht man nicht in Deutschland zu wohnen, meine ich.“74 (Damit widersprach Mays Figur Reichskanzler Bismarck, der 1884 vor dem Reichstag festgestellt hatte: „Ein Deutscher, der sein Vaterland abstreift wie einen alten Rock, ist für mich kein Deutscher mehr.“75) Karl Mays Held und Alter Ego Charley, der Ich-Erzähler in El Sendador, ist ein erfahrener Globetrotter, charakterlich einwandfrei, friedliebend, überaus christlich sowie hoch und umfassend gebildet – u.a. spricht er nicht nur akzentfrei Spanisch, er beherrscht auch Quechua und sogar die Knotenschrift (Quipu); in Montevideo kann er einem miserablen einheimischen Organisten vorführen, wie die Orgel richtig gespielt wird. Außerdem ist er so stark wie kein anderer Mann. So kann er, wenn nötig, Gerechtigkeit und Moral auch einmal mit einem „guten deutschen Fausthieb“ durchsetzen. 76 So wurde die angebliche physische wie moralische deutsche Überlegenheit und Stärke nicht nur auf einer kollektiven, d.h. der nationalen und kolonialen Ebene verhandelt, auch individuelle Fantasien von v.a. männlichen Lesern, die von persönlicher Überlegenheit und Stärke träumten, wurden angesprochen. Das gilt aber nicht nur für die Werke Karl Mays. In Friedrich Wilhelm Maders 1903 erschienener Abenteuererzählung El Dorado beispielsweise konnten sich v.a. junge männliche Leser mit den beiden Brüdern Ulrich und Friedrich identifizieren. Sogar die beiden deutschen Knaben sind in fast allen Belangen, von moralischer Integrität und Klugheit bis hin zu Fertigkeiten im Schießen, den Südamerikanern, denen sie begegneten, überlegen. 77 Franz Donats Bücher befriedigten ebenfalls „das heute erst richtig erwachende Interesse am Auslandsdeutschtum“, so Rudolf Peschke in seinem Geleitwort zu Paradies und Hölle.78 Auch in Donats Erzählungen begegnet der Protagonist und mit ihm der Leser in Kolonien, Städten und Dörfern in Brasilien, Paraguay und Argenti-

74 75 76 77 78

May, Das Vermächtnis des Inka, S. 53. Zitiert nach Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, S. 232. May, Am Rio de la Plata, Zitat auf S. 41. Vgl. Mader, El Dorado. Donat, Paradies und Hölle, S. X. Vgl. außerdem zum „Deutschtum in Südamerika“ z.B. Breitenbach, Über das Deutschthum in Süd-Brasilien; Vallentin, Das Deutschtum in Südamerika; Wagemann, Das Deutschtum in Südamerika; Schöffer, Das nördliche Südamerika: Deutschtum und Auswanderung; unter vielen Arbeiten von Grothe, Wachstum, Stärke und Verteilung des brasilianischen Deutschtums; ders., Das Deutschtum Brasiliens oder ders. (Hg.), Südamerika und die deutsche Auswanderung; Burger, Im Herzen Südamerikas; Rohrbach, Das Deutschtum über See oder auch Boettner, Deutsche Weihnachten im Urwald und Wellmann, Deutsche Hausfrauen im Urwald. Die Heroisierung der „Auslandsdeutschen“ in Südamerika dauerte noch lange an, vgl. z.B. die Arbeiten von Ilg, Das Deutschtum in Brasilien; ders., Das Deutschtum in Chile und Argentinien und ders., Heimat Südamerika: Brasilien und Peru.

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nien, aber mitunter auch im Dschungel und sonstiger Wildnis nahezu auf Schritt und Tritt Deutschen – in Rio Grande do Sul, wo seit dem frühen 19. Jahrhundert viele deutsche Auswanderer siedelten, war das wohl auch noch etwas wahrscheinlicher, als im Chaco, wie bei Karl May geschildert. Zum allergrößten Teil handelt es sich bei diesen ebenfalls um tüchtige, brave Menschen, so etwa die Siedler in einer deutschen Kolonie in Paraguay: „Es war doch überall das gleiche. Dort, wo deutscher Schweiß die Scholle düngte, entstand im Handumdrehen aus dunkler Wildnis eine reiche Kornkammer des Landes.“79

Abbildung 53: Fotografie „Holzarbeiter im Urwald von Sta. Catharina“, Fotograf unbekannt, um 1900/05 (?), aus Wettstein, Karl Alexander: Brasilien und die deutsch-brasilianische Kolonie Blumenau, Leipzig: Engelmann, 1907, Tafel XIX, vor S. 163. Das offenbar recht populäre Foto wurde ebenfalls gedruckt in Rohrbach, Paul: Das Deutschtum über See, Karlsruhe: Schille & Co., 1930, Abb. 64, nach S. 196. Rohrbach bezog das Foto von der Buchhandlung und Druckerei Entres in Florianópolis, SC. Wettstein machte keine Angaben zu den Urhebern der von ihm verwendeten Bilder.

Bei Donat ist das Motiv des deutschen Kolonisten, des „Auslandsdeutschen“, der in der Fremde Südamerikas – den großdeutschen Gedanken lebend und mit allen Deutschsprachigen (sogar Schweizern) eine Gemeinschaft bildend – zu seinem eigenen Ruhme und zu dem des Deutschen Reiches etwas aufbaut, besonders stark: „Ja, lieb Vaterland, magst ruhig sein, ruhig und stolz, die Kinder, die du nach hier ziehen ließest, werden dir nicht verlorengehen! Eine deutsche Heimat haben sie sich in der Fremde ge-

79 Donat, An Lagerfeuern deutscher Vagabunden, S. 149.

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schaffen, nicht durch das Schwert, sondern durch Kraft und Fleiß, der Wildnis rangen sie ein Land ab, deutsch bis ins Mark.“80

Dieses Bild des deutschen Kolonisten in Südamerika entsprach genau dem Gedanken, den Richard Wagner (1813-1883) als Mitglied des Dresdener Vaterlandsvereins in seinem berühmten Artikel für den Dresdener Anzeiger 1848 zum Ausdruck gebracht hatte, als er den kolonialen Auftrag der Deutschen formulierte: „Nun wollen wir in Schiffen über das Meer fahren, da und dort ein junges Deutschland gründen, es mit den Ergebnissen unseres Ringens und Strebens befruchten, die edelsten, gottähnlichsten Kinder zeugen und erziehen. Wir wollen es besser machen als die Spanier, denen die neue Welt ein pfäffisches Schlächterhaus, anders als die Engländer, denen sie ein Krämerkasten wurde. Wir wollen es deutsch und herrlich machen […].“ 81

Richard Katz, der 1930 die deutsche Kaffeehazienda Santa Blanca im peruanischen Urwald besuchte, stellte nicht nur, wie es Donat und andere ebenfalls taten, die Tüchtigkeit und den Erfolg von „Auslandsdeutschen“ und besonders von deutschen Kolonisten heraus; er betonte auch den Unterschied zwischen der mustergültig und eigenhändig betriebenen deutschen Pflanzung Santa Blanca und dem schlechten Zustand von Perené, einer anderen, von Peruanern verwalteten Plantage, die einem Engländer gehörte: „Da sieht man wieder, daß die Engländer des Kolonisierens müde werden.“82 Kolonisation war, so die zeitgenössische Darstellung (Abb. 53 und 54), harte Arbeit, eine wahre „Bürde des weißen Mannes“ (the white man’s burden), welche die deutschen Auswanderer in Südamerika aber auf sich nahmen und für die sie wegen ihrer vermeintlich besonderen deutschen Tugenden: Fleiß, Disziplin, Bescheidenheit, Ehrgeiz, besser als Auswanderer anderer Nationalitäten geeignet waren. Von ihrem angeblich fast immer sehr erfolgreichen Einsatz im Rahmen der mission civilatrice in Südamerika hätten in einer Win-win-Situation auch die nationalen Ökonomien und Steuerbehörden sowie die einheimische Bevölkerung profitiert. Letztere habe, entsprechend ihren Fähigkeiten und ihrem meist an der „Rasse“ (indigen oder mestizisch) festzumachenden Stand, bei den Deutschen Arbeit gefunden und sei von diesen streng zwar, aber immer gut und gerecht behandelt worden. In Karl Mays Erzählung In den Kordilleren profitiert sogar das im Chaco, also in tiefster Wildnis, lebende Volk der Toba von den Segnungen der deutschen Zivilisation. Der arg an Klekihpetra, den „weißen Vater“ der Apachen aus Winnetou I, erinnernde deutsche El viejo

80 Donat, Paradies und Hölle, S. 21. Vgl. für das Motiv harter Arbeit im Urwald, des Kampfes Mensch gegen Natur auch Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, S. 246-248 sowie Repussard, “Back to the wild.” 81 Zitiert nach Glasenapp, Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern 2, S. 279. Auch Hans Meyer beschrieb die Ziele des deutschen Kolonialismus in seinem 1909/10 erschienenen Werk Das Deutsche Kolonialreich ähnlich. Die Kolonien in Afrika sollten „Pflanzstätten deutschen Wesens“ und „Kraftquellen für die Heimat“ sein. Meyer, Das deutsche Kolonialreich 1, S. 399. 82 Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, S. 67.

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Desierto,83 brachte den Toba als Missionar, Berater und Anführer militärische Techniken und Taktiken bei, mit welchen sie ihren Feinden, den Mbocovi (Mocoví) überlegen waren, er übersetzte die Bibel in ihre Sprache, führte sie in die Kunst der Herstellung von Wurst ein und spielte ihnen Walzer vor. Zudem zählt die effektivste Form der Folter zu den deutschen Errungenschaften, an denen die Toba teilhaben können.84

Abbildung 54: Fotografie „Der Urwald wird geschlagen“, Fotograf unbekannt, vor 1925, aus Gedult von Jungenfeld, Wilhelm Ernst: Ein deutsches Schicksal im Urwald, Berlin: Deutscher Verlag, 1933, nach S. 96. Vgl. für das Motiv harter körperlicher Arbeit außerdem die Fotografien „Schrödern (rechts) mit einem Kameraden im brasilianischen Urwald“ und „Deutsche Kolonisten im brasilianischen Urwald“ von Kurt Neubert (?), 1927/29, aus Plüschow, Gunther:

83 El viejo Desierto, der eigentlich Alfred Herbst heißt, war Apotheker in Schleswig-Holstein gewesen. In Notwehr erschlug Herbst, so dachte er, einen Dänen und flüchtete dann nach Südamerika, weil er fürchtete, von den dänischen Behörden wegen Mordes angeklagt und verurteilt zu werden. Tatsächlich überlebte der Däne, wie Charleys Begleiter Pena (ebenfalls ein Deutscher, Kummer mit Namen) den Alten, den bis dahin schwere Gewissensbisse geplagt hatten, aufklären kann. Vgl. May, In den Kordilleren, S. 230-237. 84 Vgl. May, In den Kordilleren, bes. S. 221-223 zur Folter, 290 zur Wurst und 291 zum Walzer.

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Silberkondor über Feuerland, Berlin: Ullstein, 1929, nach S. 60 und vor S. 61. Zahlreiche weitere Bilder zeigen außerdem die bescheidenen Lebensverhältnisse, mit denen Auswanderer mindestens anfänglich häufig konfrontiert waren. Vgl. z.B. die Fotografien „Die Familie Ohnesorge“ von Otto Maull, 1910er Jahre (?), und „Rodung im Urwald etwas nördlich vom Perenéfluß“ von George Miller Dyott, um 1920, aus Nordenskjöld, Otto: Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit. Natur/Mensch/Wirtschaft, übers. v. Ignaz Schlosser, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1927 [schwed. 1923: Människor och Natur i Sydamerika], Abb. 60 und 61, nach S. 176; „Junge Yerbakultur in ‚Colonia Nueva Germania‘“ von M&S, um 1900 (?), aus Fischer-Treuenfeld, Richard Friedrich Eberhard von: Paraguay in Wort und Bild: Eine Studie über den wirtschaftlichen Fortschritt des Landes, 2., stark verm. Aufl., Berlin: Mittler, 1906 [11903], nach S. 304 sowie „Ansiedlerfrau“, Fotograf unbekannt, 1910er Jahre (?), aus Ross, Colin: Südamerika, die aufsteigende Welt, Leipzig: Brockhaus, ²1923 [1922], vor S. 17. Gerade der „Ansiedlerfrau“ sind die Härten förmlich ins Gesicht geschrieben; auch den Kindern, die mit ihr abgebildet sind, ist anzusehen, dass das Leben der Ansiedler nicht leicht ist. Vgl. dagegen etwas positiver die Fotografie „Deutsche Kolonistenfamilie im ersten Heim in Nova Teutonia, Staat Rio Grande do Sul“, Fotograf unbekannt, frühes 20. Jh. (?), aus Rohrbach, Paul: Das Deutschtum über See, Karlsruhe: Schille & Co., 1930, Abb. 39, vor S. 145.

Wie wirkmächtig der Kolonialdiskurs und seine Terminologie (Kolonie, Kolonisten, Kolonisation) für die Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit von Auswanderern oder „Auslandsdeutschen“ in Südamerika war, wird in der hier geschilderten literarischen Beschäftigung mit dem Thema deutlich. Hervorzuheben ist diesbezüglich auch die Dauer und Beständigkeit des Einflusses des Kolonialdiskurses auf die Vorstellung der Menschen im Deutschen Reich von Südamerika als kolonialem Siedlungsraum von „Auslandsdeutschen“. Das koloniale und kolonisatorische Interesse an Südamerika wird deutlich in den von Zantop und Detering untersuchten literarischen Werken des vorkolonialen späten 18. und 19. Jahrhunderts, ebenso wie in Friedrich Gerstäckers Roman Die Colonie von 1864; es scheint durch in den fiktiven Geschichten Karl Mays aus der deutschen Kolonialzeit in den 1890er Jahren und es tritt in den 1920er und frühen 1930er Jahren in vielen Berichten und Erzählungen von Donat, Preusse-Sperber, Katz, Edschmid, Gedult von Jungenfeld und anderen sowie in zahlreichen dort und an anderen Stellen gedruckten Fotografien wieder stärker in den Vordergrund. Wie oben angedeutet, blieb es vermutlich auch im weiteren Verlauf der 1930er Jahre und sogar darüber hinaus bestehen, wie spätere Berichte, Erzählungen und Romane oder eventuell auch die im wie auch immer gearteten „deutschen Interesse“ durchgeführte Amazonas-Expedition Otto Schulz-Kampfhenkels (1910-1989) in den Jahren 1935 bis 1937 nahelegen.85 Besonders, sogar doppelt paradox scheint dabei zu sein, dass das Deutsche Reich erstens nach 1919, um die Kulturwissenschaftlerin Marcia Klotz zu zitieren, „a postcolonial state in a still-colonial

85 Vgl. Schulz-Kampfhenkel, Rätsel der Urwaldhölle sowie den gleichnamigen Ufa-Großfilm Rätsel der Urwaldhölle, Film von Otto Schulz-Kampfhenkel (Produktion: Ufa, Deutsches Reich 1938) und dazu auch die entsprechenden Beiträge in Flachowsky/Stoecker (Hg.), Vom Amazonas an die Ostfront sowie die journalistische Reportage von Glüsing, Das Guayana-Projekt.

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world“ war,86 und zweitens der Raum, auf den die kolonialen Fantasien projiziert wurden, seit den 1810er und1820er Jahren, seit einem Jahrhundert also, mit der Ausnahme der unter britischer, niederländischer und französischer Kolonialherrschaft stehenden Guyanas, mehrheitlich aus unabhängigen Republiken bestand. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass der Kolonialdiskurs nach dem Verlust der Kolonien und „Schutzgebiete“ weiter florierte und Kolonialismus tief in der deutschen Gesellschaft verwurzelt blieb. Der Historiker Robbie Aitken schrieb dazu: „In the postwar period, Germans continued to conceptualise their world in terms of colonialist categories – in spite of the fact that Germany was no longer a colonial power“.87 Dabei ist eine Tatsache bemerkenswert, wie Aitkens US-amerikanischer Kollege David Thomas Murphy schon früher festgestellt hatte: „Indeed, a striking aspect of German colonial propaganda in the Weimar era is the disparity between the actual significance the overseas empire had held for German society, which was very small, and the enormous amount of language, paper and ink, and futile energy expended on its recovery after the Versailles peace settlement.“88

Im Unterschied zur postkolonialen Imagination der deutschen Kolonien in Afrika und im Pazifik gab es für die auf Südamerika bezogenen Fantasien 1919 keine Zäsur, da es dort keine Kolonien zu verlieren gab und – abgesehen von den eingangs erwähnten, auf kurze Zeit beschränkten und lange zurückliegenden Ausnahmen – nie gegeben hatte. So hätte die Vorstellung der Deutschen von Südamerika, wie sie oben für das 19. und frühe 20. Jahrhundert beschrieben wurde, für die Weimarer Zeit eine Blaupause sein können für den gedanklichen Umgang mit kolonialen Räumen generell und mit den ehemaligen eigenen Kolonien im Besonderen. Allein, wie schon in der Einleitung angeführt, der Stellenwert Südamerikas im öffentlichen Bewusstsein war dafür vermutlich zu gering.

AUFSTEIGER UND AUSSTEIGER, ABENTEURER UND GLÜCKSRITTER Die Wahrnehmung des kolonialen Raumes, in dem deutsche Auswanderer bzw. „Auslandsdeutsche“ in Südamerika ihr neues Leben zu meistern hatten, war genauso ambivalent, wie die Motive der Bildmedien, die aus Südamerika ins Deutsche Reich gelangten und dort in der Öffentlichkeit zirkulierten. Eine große Rolle spielte die Vorstellung, das Leben in Südamerika sei hart und voller Gefahren, Deutsche würden

86 Klotz, The Weimar Republic: A Postcolonial State in a Still-Colonial World. 87 Aitken, Review of Jared Poley, Decolonisation in Germany. Vgl. für die Rückwirkung der kolonialen Erfahrungen in der Peripherie auf das Zentrum und die Spuren, die der Kolonialismus im Mutterland hinterließ, z.B. auch Kundrus, Moderne Imperialisten; dies., From the Periphery to the Center; dies. (Hg.), Phantasiereiche; Conrad/Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational und zuletzt Schilling, Postcolonial Germany oder Naranch/Eley (Hg.), German Colonialism in a Global Age. 88 Murphy, The Heroic Earth, S. 191.

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die Wildnis urbar machen und Zivilisation und Kultur in das Chaos der Natur bringen. Entsprechende Bilder finden sich in vielen Publikationen, von Handbüchern und wissenschaftlichen Arbeiten über Reiseberichte und Abenteuererzählungen bis zu Bildpostkarten. Diese Umstände, denen die Auswanderer begegneten, wurden aber nicht (zwangsläufig) als negativ wahrgenommen. Schließlich eröffnete dieser von Kultur und Zivilisation vermeintlich unberührte Raum dem unerschrockenen und tüchtigen Deutschen zum einen nahezu unbegrenzte Möglichkeiten für die Verwirklichung seiner Ziele, Wünsche und Träume. Zum anderen stellte Südamerika in dieser Hinsicht das Gegenstück auch zu den von vielen Kulturpessimisten wahrgenommenen negativen Seiten der europäischen Zivilisation dar. Im Europa des fin-desiècle herrschte zumindest bei manchen eine wahre Untergangsstimmung; die Angst vor Dekadenz und Degeneration, innerer Verkrüppelung und vor einer neuen Dimension von Krankheit, die Nietzsche die „moderne Krankheit“ nannte, ging um. Sozialdarwinisten sahen die Selektion des survival of the fittest bei domestizierten Arten außer Kraft gesetzt, da eine „künstliche Auslese“ getroffen würde. Dies gelte gleichermaßen für die Sicherheit und Künstlichkeit der modernen Gesellschaft, in der die „natürlichen“ Evolutionsmechanismen nicht greifen würden. „Die Angstvision von der allgemeinen Dekadenz, Degeneration und vom biologischen Verfall der modernen Gesellschaft steigerten sich zu einem apokalyptischen Untergangsgefühl. Die sozialen Verwerfungen der modernen Gesellschaft schienen Brutkästen des Untergangs zu sein: Alkoholismus, Erbkrankheiten, sexuelle Ausschweifung, Geschlechtskrankheiten, Elendsquartiere, politische Umtriebe schienen den gesunden, leistungsfähigen, fortpflanzungswürdigen Volksgenossen auszulöschen. Alle negativen Faktoren mündeten demnach ein in das biologische Verderben, das als eine ubiquitäre Gefahr überall lauerte und immer mehr Opfer fand. Die Thematisierung einer krankmachenden Gesellschaft, wie sie in der Zivilisationskritik gegen Ende des 19. Jahrhunderts vehement vorgebracht wurde, war sicherlich ein entscheidendes Motiv, um sich mit aller Macht dem Aufbau eines ,gesunden Volkskörpers‘ zu verschreiben. Je destruktiver und krankmachender der Fortschritt der Zivilisation erschien, um so notwendiger wurde eine grundsätzliche Umorientierung des gesellschaftlichen Lebens. Der unsichtbaren Verkrüppelung des Volkes und dem schleichenden Verderben der biologischen Degeneration sollte ebenso Einhalt geboten werden, wie der Weitergabe manifester Erbkrankheiten.“ 89

Der Aspekt der „Bürde“ der Kolonisation, die, so die Darstellung, harte Arbeit war, hätte demnach eine positive Seite. Desillusioniert von der europäischen Zivilisation, die bestimmt durch Grenzen, Sicherheit, Normen und Werte in Degeneration und

89 Schott, Die Stigmen des Bösen, S. 20. Zum Degenerationsdiskurs und zum Begriff Degeneration, der schon durch Rousseau und dann durch Gobineau und Morel geprägt wurde, vgl. z.B. Weingart et al., Rasse, Blut und Gene, bes. S. 42-46; Greenslade, Degeneration, Culture and the Novel 1880-1940, bes. S. 15-20 und neuerdings auch Heynen, Degeneration and Revolution. Zum Gefühl der Angst vgl. das wenn auch schon etwas ältere, so doch immer noch hervorragende Werk von Delumeau, Angst im Abendland und unter den zahlreichen Arbeiten zum Sozialdarwinismus z.B. Hawkins, Social Darwinism in European and American Thought. Zur europäischen Idee der Dekadenz vgl. auch Pross, Dekadenz und Bauer (Hg.), Die ermüdete Moderne.

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Dekadenz mündete, richteten sich die Fantasien vieler Zeitgenossen von einem alternativen Leben auf Südamerika. Auf der mentalen ebenso wie auf der physischen Suche nach Freiheit, Abenteuer und persönlicher Erfüllung, welche die Überregulierung des Lebens im Deutschen Reich und anderen Teilen West- und Mitteleuropas unmöglich machten, wurde Südamerika diesbezüglich der Status eines Landes der unbegrenzten Möglichkeiten zugeschrieben. Dies galt zum einen für völkische Gruppen, die ihre Hoffnungen auch auf deutsche Auswanderer bzw. „Auslandsdeutsche“ in Südamerika setzten, wie der Globalhistoriker Tobias Rupprecht festgestellt hat: „,Hier degeneriert der Deutsche nicht!‘, stellten sie in den deutschen Siedlungen in Südbrasilien erfreut fest. Soziale Schichten, regionale Unterschiede, Dekadenz, all die gefühlten Übel des modernen Kaiserreichs schien es hier nicht zu geben; alle waren gleich, frei und deutsch. Man pflegte eine Nostalgie einer vormodernen, vorindustriellen Volksgemeinschaft.“ 90

Bild- und Textmedien betonten den Mut, die Unerschrockenheit und die Tapferkeit, den Fleiß und die Reinheit der „Auslandsdeutschen“, die so nicht nur zu Vorbildern zukünftiger Auswanderer wurden, sondern auch eine Hoffnung im Kampf gegen die Degeneration des deutschen Volkes. Der deutschnational eingestellte Franz Donat pries das natürliche, harte aber gesunde Leben der von vielen als „Hinterwäldler“ belächelten weißen Siedler im brasilianischen Dschungel, welches das Gegenteil der Dekadenz der europäischen Zivilisation darstellte: „Vielleicht entsteht in dieser vergessenen Wildnis das unverdorbene, gesundheitsstrotzende Geschlecht, das die Menschheit einstmals aus ihrem Verfall errettet. Es sind Weiße – wenn sie auch von Luft und Sonne gebräunt sind […]. Mischlinge und Farbige gibt es natürlich auch, aber nur als Knechte oder Halbknechte der Weißen.“91

Zum anderen wurde Südamerika von Menschen aus dem Umfeld der Lebensreformbewegung als natürliche, wilde Alternative zur dekadenten Zivilisation Europas gesehen. Eine vermutlich eher kleine Anzahl von Vegetariern, Veganern, Frutariern, Lichtfreunden (Nudisten), Turnern, Wandervögeln und/oder Esoterikern, Okkultisten

90 Rupprecht, Die Liebe der Linken zu Lateinamerika, S. 16, Zitat „Hier degeneriert der Deutsche nicht!“ bei Breitenbach, Aus Süd-Brasilien, S. 208. Vgl. zu Breitenbach Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, S. 254-256 u. 274. Dr. Breitenbach hielt auch Vorträge „über die thatsächlich Verhältnisse der Südprovinzen Brasiliens, insbesondere über die deutschen Kolonien daselbst und die Chancen für eine weitere deutschen Einwanderung dort in zahlreich besuchten öffentlichen Versammlungen“. Deutsche Kolonialzeitung, 1886, Heft 6, S. 165, http://www.freiburg-postkolonial.de/Seiten/DKZ1886-Heft6S165-Breitenbach-Auswanderung.htm [26.08.2018]. Die Absenz regionaler Unterschiede wird auch betont im Motto der deutschen Burschenschaft Araucania in Santiago: „Ehre, Zucht, Einigkeit“. Die Wirklichkeit sah allerdings v.a. hinsichtlich politischer und konfessioneller Differenzen oft anders aus, vgl. Manz, „Germans Like to Quarrel.“ 91 Donat, Paradies und Hölle, S. 137.

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und Spiritisten wanderte tatsächlich nach Südamerika aus bzw. erwog dies. 92 Diese Menschen, die heute wohl Aussteiger genannt würden, mögen zwar nicht besonders zahlreich gewesen sein, aber sie waren im öffentlichen Bewusstsein sehr präsent. Das liegt zum einen daran, dass es sich mitunter um recht bekannte Persönlichkeiten handelte. So spielte offenbar auch Hermann Hesse (1877-1962) ernsthaft mit dem Gedanken, sich einer Vegetarierkolonie in Brasilien anzuschließen. Letztlich zog er es aber doch vor, das lebensreformerische Experiment auf dem nähergelegenen Monte Verità westlich von Ascona im schweizerischen Tessin durchzuführen und dort gemeinsam mit anderen Künstlern nackt zu leben, sich vegetarisch zu ernähren und auf Alkohol zu verzichten.93 Zum anderen tauchen entsprechende Figuren in vielen fiktiven und nicht-fiktiven Berichten und Erzählungen über und aus Südamerika auf, etwa in Ferdinand Emmerichs 1923 erschienenen Der Einsiedler von Guayana.94 Auch Franz Donat schilderte in Paradies und Hölle das Leben eines Einsiedlers im Urwald von Santa Catarina in Südbrasilien, eines „Naturmenschen, der sich, angeekelt von den Leidenschaften der Welt, in diesen stillen Winkel zurückgezogen hat.“95 Mit dem in der Gegend angeblich sehr bekannten Hansch, einem Naturisten, Vegetarier, Spiritisten und Okkultisten verbrachte Donat fast ein Jahr, in dem er sich Hanschs Lebensweise anschloss. An gleicher Stelle erwähnt Donat auch das Scheitern einer „Okkultistenkolonie“ in Paraná. Tatsächlich gab es entsprechende Okkultisten- und Naturmenschengemeinschaften von v.a. deutschsprachigen und internationalen Künstlern in Brasilien (1908 gründeten einige deutsche Einwanderer, die sich selbst als Nudisten, Vegetarier und Kommunisten bezeichneten, in Paraná die Kolonie „Die Zukunft“96) und auch in Mexiko. Dort wollte beispielsweise der Maler und Schriftsteller Max Dauthendey (1867-1918) 1897 eine Künstlerkolonie gründen; das Vor-

92 Vgl. zur Lebensreform im Deutschen Reich z.B. Harrington, Die Suche nach Ganzheit sowie den gelungenen populärwissenschaftlichen Aufsatz von Radkau, Alternative Moderne. 93 Vgl. Rupprecht, Die Liebe der Linken zu Lateinamerika, S. 16 und Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, S. 273. Vgl. zur Sehnsucht nach dem „wahren Leben“ auch das Werk des der europäischen Zivilisation ebenfalls überdrüssigen Künstlers Erich Scheurmann (1878-1957), der ab 1919 zeitweise auch auf dem Monte Verità lebte. Scheurmann, In Menschenspuren um die Welt. 94 Vgl. Emmerich, Der Einsiedler von Guayana. Auch die vom in Luxemburg geborenen Schriftsteller und Weltreisenden Norbert Jacques (1880-1954) geschaffene Romanfigur Dr. Mabuse, ein genialer Verbrecher, plant, mit Eitopomar eine utopische Kolonie in Brasilien zu errichten. Vgl. Jacques, Dr. Mabuse, der Spieler. Der populäre Roman wurde 1922 von Fritz Lang verfilmt; der Stoff erreichte damit ein noch größeres Publikum. Vgl. Dr. Mabuse, der Spieler, Film von Fritz Lang (Drehbuch: Thea von Harbou, Produktion: Erich Pommer, Deutsches Reich 1922). 95 Vgl. Donat, Paradies und Hölle, S. 49-56, Zitat S. 51. 96 Vgl. Kniestedt, Fuchsfeuerwild, S. 88-96. Kniestedt wohnte mit seiner Familie in der Nachbarschaft und hatte Kontakt zu den Bewohnern der „Zukunft“. Auch die Mitbegründer der „vegetabilischen Cooperative“ auf dem Monte Verità, der belgische Industriellensohn Henri Oedenkoven und die Pianistin Ida Hofmann, wanderten nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nach Brasilien aus. Vgl. Kolbe, Aussteiger-Kolonie Monte Verità.

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haben scheiterte jedoch noch im selben Jahr. Dauthendey verarbeitete diese Erfahrung in seinem 1911 erschienenen Roman Raubmenschen.97 Sogar ein weltweites Medienecho löste 1934 die sogenannte Galápagos-Affäre aus. Unter deutschen Auswanderern auf der Insel Floreana, die zum ecuadorianischen Galápagos-Archipel gehört, kam es zu mehreren Todesfällen, deren Umstände bis heute nicht vollständig geklärt sind. Bei den deutschen Siedlern handelte es sich um Aussteiger, die fernab der europäischen Zivilisation ein natürliches Leben als Selbstversorger führen wollten. Der Gründer der Siedlung, der Berliner Arzt Friedrich Adolf Ritter (1886-1934), ließ sich gemeinsam mit seiner Partnerin Dore Koerwin (geb. Strauch) 1929 auf Floreana nieder. Er propagierte sein von der deutschen Öffentlichkeit in Zeitungsartikeln verfolgtes lebensreformerisches „Robinson“-Experiment, das auf einem kruden Ideenmix basierte und neben Nudismus auch Abstinenz von Alkohol, Nikotin und Kaffee, den Verzicht auf Milch- und Getreideprodukte und theoretisch auch Vegetarismus beinhaltete, u.a. in einem Buch. 98 Mehrere deutsche Auswanderer kamen in den folgenden Jahren nach Floreana, von denen allerdings nur wenige dauerhaft blieben: Im August 1932 ließ sich die aus Köln stammende Familie Wittmer auf der Insel nieder und wenig später im Oktober die angebliche österreichische Baroness Eloise (oder Elvira) Wagner de Bousquet (auch Wehrborn de Wagner-Bosquet) und ihre beiden Liebhaber Robert Philippson und Rudolf Lorenz. Die Baroness, Philippson und Lorenz planten, ein Luxushotel, die Hacienda Paradiso, zu eröffnen. Noch bevor mit dem Bau überhaupt begonnen worden war, machte die Baroness in Zeitungsartikeln, in denen sie sich die „Kaiserin von Floreana“ nannte, Werbung für das Projekt. Die „Aussteigerkolonie“ wurde aufgrund der Berichterstattung über Ritters Experiment und über das Hotel – bei dem es sich tatsächlich um eine Wellblechhütte mit zwei Zimmern handelte – zu einer kleinen Attraktion und

97 Vgl. Dauthendey, Raubmenschen. Den umgekehrten Weg nahm der 1840 im mecklenburgischen Ludwigslust geborene Albrecht Wilhelm Sellin. Sellin arbeitete in der Landwirtschaft, als Lehrer und wanderte 1866 als Kaufmann nach Brasilien aus. 1878 kehrte er als erfolgreicher Handelsunternehmer ins Deutsche Reich zurück. Dort galt er wegen seiner Erfahrungen und Kontakte als Experte für die deutsche Kolonisation in und die deutsche Auswanderung nach Brasilien. Vgl. Sellin, Das Kaiserreich Brasilien. 1904 lernte Sellin in Hamburg Rudolf Steiner kennen. Offenbar hatte Sellin, der auch Freimaurer war, sich schon vorher intensiv mit Theosophie und spirituellen Fragen beschäftigt. Beeindruckt von dem Treffen mit Steiner gab Sellin in der Folge seinen Beruf auf und widmete sich – bald mit langem weißem Bart und wallenden Gewändern – ganz der Anthroposophie. „Von ihm gingen“, so Peter Tradowsky in einer biografischen Skizze für das Portal der Forschungsstelle Kulturimpuls, „– besonders im Alter – starke Liebes-, Heil- und Opferkräfte aus, die seinem Umkreis zugute kamen. Er konnte auch als Heilsmagnetiseur arbeiten.“ Außerdem war Sellin als Schauspieler an verschiedenen Bühnen tätig. Er starb 1933 in München. Tradowsky, Albrecht Sellin, Zitat ebd. 98 Vgl. Ritter, Der moderne Robinson. Postum erschien ders., Als Robinson auf Galapagos. Die Berliner Gesellschaft verfolgte gespannt, dass Ritters Frau mit dem Mann seiner Geliebten Dore Koerwin zusammengezogen war, oder dass sich Ritter und Strauch vor ihrem Aufbruch alle Zähne hatten ziehen lassen. Ich danke Steven Hirsch, der mich auf die Galápagos-Affäre aufmerksam gemacht hat.

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die Insel wurde immer wieder von Reisenden, v.a. reichen US-Amerikanern besucht. Zu diesen gehörte der kalifornische Ölbaron George Allan Hancock, der 1934 eine Forschungsexpedition auf die Galápagos-Inseln ausstattete. Der daran teilnehmende Biologe Waldo L. Schmitt machte zahlreiche Fotos von der Insel Floreana und ihren Bewohnern, die sich heute im Archiv der Smithsonian Institution in Washington, DC befinden.99 Es gibt sogar zeitgenössisches Filmmaterial: Der Hollywoodproduzent Emory Johnson, der ebenfalls an der Hancock-Expedition teilnahm, machte Filmaufnahmen der angeblichen Baroness, die sich als Piratenbraut inszenierte. Offenbar hoffte sie, mit dem Film Werbung für ihr Hotel zu machen. Unter den deutschen Bewohnern kam es jedoch schon bald zu schwerwiegenden Konflikten zwischen Ritter und der Baroness und ihren Liebhabern, unter den Liebhabern der Baroness und zwischen Ritter und Dore Strauch sowie zu Streit um die knappen Trinkwasserressourcen. Im März 1934 verschwanden zunächst die angebliche Baroness und Robert Philippson spurlos, im November desselben Jahres wurde die Leiche von Rudolf Lorenz sowie die des norwegischen Fischers Trygve Nuggerud auf einer Nachbarinsel gefunden. Die beiden hatten Floreana im Juli gemeinsam verlassen; der ecuadorianische Schiffsjunge des Fischers blieb verschollen. Am 21. November, vier Tage nach dem Fund der Leichen, starb Friedrich Ritter; vermutlich wurde er von seiner Lebensgefährtin Dore Strauch, die er offenbar misshandelt hatte, vergiftet.100 Über die spektakulären Vorfälle wurde nicht nur in einheimischen und deutschen Zeitungen, sondern weltweit in den Massenmedien berichtet. So schrieb beispielsweise auch der bereits damals sehr populäre belgische Autor Georges Simenon (1903-1989), der 1935 auf einer Weltreise nach Tahiti auch Ecuador und die Galápagos-Inseln besuchte, eine Artikelserie, die in der französischen Paris-Soir erschien. Außerdem verarbeitete Simenon die Galápagos-Affäre während seines Aufenthaltes auf Tahiti auch in einem Roman, der 1938 erschien.101 Darüber hinaus beschäftigten sich sogenannte Pulp-Magazine, wie etwa das Magazin Real Detective, mit dem Fall und machten ihn in den USA, wo solche Hefte sehr populär waren, einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Die sensationelle Kriminalgeschichte, die sich auf Floreana zugetragen hatte, faszinierte und fasziniert bis heute Schriftsteller, Theater-

99

Vgl. Smithsonian Institution Archives, Waldo Schmitt Papers, Record Unit 7312, Box 89, mehr Information im Internet unter http://siarchives.si.edu/collections/siris_arc_217388 [26.08.2018]. Schmitt war es auch, der 1938 einen Besuch des US-amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt auf Floreana, das durch die Galápagos-Affäre immer noch weltweit bekannt war, arrangierte. Vgl. außerdem Markey, The Empress of the Galapagos Islands. 100 Vgl. neben den Arbeiten des Zoologen Treherne, Verloren im Paradies und des Journalisten Bremer, Satan kam nach Eden sowie knapp Schmitt, Mord auf den Galápagos auch die Darstellungen der Beteiligten Strauch, Satan Came To Eden (die 1936 bei Harper & Brothers, New York, erschienene US-amerikanische Ausgabe ist inhaltlich deutlich abweichend von der 1935 in London bei Jarrolds erchienenen Originalausgabe; eine deutsche Übersetzung erschien nicht) und Wittmer, Postlagernd Floreana. 101 Vgl. Simenon, Das Geheimnis der Galapagos-Inseln [deutsche Übersetzung der Reportagen für Paris-Soir] und ders., Hotel „Zurück zur Natur“.

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und Filmemacher sowie Leser und Publikum mit ihrer schon von den Protagonisten selbst eingeführten Metaphorik des Paradieses („How Satan came to Eden“): Das Experiment eines natürlichen und ganzheitlichen Lebens abseits der vermeintlich dekadenten Zivilisation scheitert an destruktiven menschlichen Egoismen und Gewalt.102 Das mitunter tragische Scheitern der lebensreformerischen Aussteiger und ihrer Träume war und ist ein wirkmächtiges und bleibendes Motiv, das in jüngerer Zeit auch von Christian Kracht in seinem 2012 erschienenen Roman Imperium aufgegriffen wurde und nicht zuletzt wegen des großen Medienechos einem breiten Publikum bekannt wurde.103 Die Geschichte basiert auf dem Leben des aus Nürnberg stammenden Nudisten und Vegetariers August Engelhardt (1875-1919), der 1902 in die Kolonie „Deutsch-Neuguinea“ auswanderte und auf der Insel Kabakon im BismarckArchipel eine Kokosnussplantage erwarb. Dort lebte er als einziger Weißer unter Einheimischen nackt und vegetarisch, seine Nahrung bestand hauptsächlich aus Kokosnüssen. Im Laufe der Zeit entwickelte Engelhardt einen der Kokosnuss und der Sonne huldigenden, Kokovorismus genannten Kult, den er in deutschen Zeitschriften der Lebensreformer bewarb. Zwischenzeitlich konnte er mehrere Anhänger um sich scharen, doch bereits nach kurzer Zeit scheiterte das Experiment: Die schlechte Ernährung, Spannungen unter den Mitgliedern und nicht zuletzt mehrere Todesfälle, deren Ursachen nicht geklärt werden konnten, sorgten dafür, dass die meisten Kolonisten die Insel 1905 und 1906 wieder verließen. Nur Engelhardt blieb und wurde später als lebende Kuriosität von Reisenden besichtigt. Er starb 1919 auf Kabakon. 104 Auf Engelhardts Kult spielte auch Donat an: Während seiner Zeit beim Naturmenschen Hansch begegnete ihnen eine Familie, Vater, Mutter und zwei Söhne, die als Naturmenschen und Okkultisten in der Südsee gelebt hatten. Da ihnen das tropische Klima und v.a. die Kokosnüsse fehlten, verließ die Familie Donat und Hansch nach zwei Monaten wieder, um sich in Nordbrasilien niederzulassen.105

102 Vgl. für die literarische Rezeption neben Simenons frühem Roman z.B. Seuren, Die Galapagos-Affäre. Außerdem gibt es mehrere Filme über die Geschichte, zuletzt erschien der Dokumentarfilm The Galapagos Affair: Satan Came to Eden, Film von Dayna Goldfine und Dan Geller (Drehbuch: Dayna Goldfine, Dan Geller und Celeste Schaefer Snyder, Produktion: Zeitgeist Films, USA 2013) sowie Floreana, Theaterstück von Rebekka Kricheldorf (Uraufführung in einer Inszenierung von Crescentia Dünßer, Theater am Neumarkt, Zürich, 20.05.2004). 103 Vgl. Kracht, Imperium und zu Krachts Werk Dürbeck, Ozeanismus im postkolonialen Roman sowie Repussard, Ein bisschen Südsee und ein gutes Maß Lebensreform. 104 Vgl. Klein, Neuguinea als deutsches Utopia. 105 Vgl. Donat, Paradies und Hölle, S. 55-56.

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Abbildung 55: Frontispiz und Titelblatt von Nordenskjöld, Otto: Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit. Natur/Mensch/Wirtschaft, übers. v. Ignaz Schlosser, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1927 [schwed. 1923: Människor och Natur i Sydamerika], Fotografie von George Miller Dyott, um 1920; bereits Frontispiz von Dyott, George Miller: Silent Highways of the Jungle: Being the Record of an Adventurous Journey Across Peru to the Amazon, London: Chapman & Dodd, 1922.

Bilder wie die, die auf den Abbildungen 41 oder 56 zu sehen sind, führten den Betrachtern die Größe der ungezähmten Natur vor Augen;106 sie waren ein Sinnbild für das natürliche Leben und zeigten zugleich dessen Schauplatz in der südamerikanischen Wildnis. Für manche Betrachter mag dabei das menschliche Dasein in seinem Verhältnis zur Natur und mit ihm auch die europäische Kultur und Zivilisation in ihrer Bedeutung relativiert worden sein. Am Frontispiz von Nordenskjölds Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit (Abb. 55) wird zudem wieder einmal die zeitgenössische Mehrfachnutzung und -veröffentlichung fotografischer Bilder in unterschiedlichen Publikationen bzw. Medien deutlich: Nordenskjöld bzw. der Verlag Strecker & Schröder wiesen zwar immerhin George Miller Dyott als Urheber der Fotografie aus (es gibt auch viele Publikationen, in denen sich solche Bildhinweise nicht finden), sie verschwiegen aber, dass das Foto bereits als Frontispiz für Dyotts fünf Jahre zuvor, 1922, veröffentlichten Abenteuerreisebericht Silent Highways of the Jungle: Being the Record of an Adventurous Journey Across Peru to the Amazon gedient hatte.

106 Vgl. auch Stepan, Picturing Tropical Nature.

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Abbildung 56: Fotografie „Tropische Urwaldvegetation“, Fotograf unbekannt, 1900er Jahre (?), aus Preusse-Sperber, Otto: Süd- und Mittel-Amerika: Seine Bedeutung für Wirtschaft und Handel. Ein Ratgeber für Exporteure, Importeure, Ansiedler, Minen-Interessenten, Kapitalisten usw., Berlin: Salle, 1913, Abb. 35, nach S. 184. Vgl. auch die Fotografien „Im Dschungel des Amazonas-Quellgebietes“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre (?), aus Katz, Richard: Schnaps, Kokain und Lamas: Kreuz und quer durch wirres Südamerika, Berlin: Ullstein, 1931, nach S. 64, „Baumriese in Sta. Catharina“ und „Saumpfad im Urwald von Sta. Catharina“, Fotograf unbekannt, um 1900/05 (?), aus Wettstein, Karl Alexander: Brasilien und die deutschbrasilianische Kolonie Blumenau, Leipzig: Engelmann, 1907, Tafel XXIV, nach S. 208 und Tafel XXVII, vor S. 251 sowie „Urwald in den Subtropen“, Fotograf unbekannt, 1900er Jahre (?), aus Preusse-Sperber, Otto: Perú: Eine Skizze seines wirtschaftlichen und staatlichen Lebens (Angewandte Geographie: Hefte zur Verbreitung geographischer Kenntnisse in ihrer Beziehung zum Kultur- und Wirtschaftsleben, 4. Serie, Heft 7), Frankfurt a.M.: Keller, 1913, Abb. 2 im Bildanhang. Die Menschen im Vordergrund dieser Fotografie sind so klein, dass sie für den Betrachter nur mit etwas Mühe überhaupt auszumachen sind. S.o. außerdem die Abb. 41 in Kap. 1.

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Abbildung 57: Fotografie „Freudigen Herzens pflanzen wir die deutschen Farben auf dem höchsten Gipfel des Illimani auf“, Fotograf unbekannt, vor 1919, aus Dienst, Rudolf: Im dunkelsten Bolivien: Anden-, Pampa- und Urwaldfahrten, mit e. Geleitw. v. Theodor Herzog, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1926, Abb. 13, nach S. 32. Vgl. auch die Fotografien „Unser Zeltlager auf der Nordnordwest-Loma des Chimborazo in 5145 m Höhe“, „Die ‚Roten Nordwestwände‘ des Chimborazo bei 5700 m mit dem Rand der hier 60 m dicken Firndecke des Westgipfels“, „Unser Zeltlager am Waldrand von Releche (3323 m)“ und „Das Collanes-Tal des Cerro Altar. Im Hintergrund die Caldera mit dem Calderagletscher; rechts die höchste Spitze, der Obispo (5404 m); links die Canonico-Spitze (5355 m)“ von Hans Meyer, Rudolf Reschreiter und Paul Grosser, 1903, aus Meyer, Hans: In den Hoch-Anden von Ecuador: Chimborazo, Cotopaxi, etc., Berlin: Reimer, 1907, Abb. 27 u. 28, vor S. 117 und Abb. 37 u. 38, nach S. 172.

Bilder von ungezähmter Landschaft, der rauen und wüsten Anden, der Weite der Pampa oder der patagonischen Steppe, dem wilden Chaco, dem undurchdringlichen Dschungel und von „wilden“ Indigenen forderten den Pioniergeist abenteuerlustiger Europäer und Europäerinnen, die der Enge, der Dekadenz und dem Normalismus ihrer Heimat entfliehen wollten, heraus.107 Fotografische Bilder waren wichtige Stimulanzen für diesen gedanklichen Eskapismus. Die bereits in der Einleitung abgebildete Fotografie der Expedition, sei es nun Nordenskjölds oder Dyotts, auf ihrem beschwerlichen Weg durch die schroffen peruanischen Anden (Abb. 1), half nicht nur den Lesern von Nordenskjölds Bericht, dessen Aussagen zu imaginieren; sie war für die Betrachter zugleich eine Visualisierung der Abenteuer anderer Reisender, ein-

107 Vgl. für die diskursive Formation des Normalismus die überaus anregende Arbeit von Link, Versuch über den Normalismus.

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schließlich fiktiver Erzählungen wie denen über Karl Mays „Alter Ego“. Beeindruckend waren sicher auch die Leistungen deutscher Bergsteiger, welche die Gipfel der Anden bezwangen. So bestieg der Geowissenschaftler Walther Penck während eines Forschungsaufenthaltes in Argentinien von 1912-1914 mehrere über 6.000m hohe Andengipfel. Und während des Ersten Weltkrieges bestiegen in Bolivien, wie auch Colin Ross stolz berichtete, mehrere Deutsche um Rudolf Dienst den über 6.400 Meter hohen Illimani, wo sie die deutsche Fahne hissten (Abb. 57). 1919 gelang Dienst zudem die Erstbesteigung des als schwieriger geltenden Huayna Potosí (auch CacaAca) und schließlich in demselben Jahr auch die des Ancohuma im Massiv des Illampú (6.425m), der Ross irrtümlich als höchster Berg Boliviens galt. Auch Theodor Herzog unternahm während seiner Forschungsreisen Bergfahrten in den bolivianischen und chilenischen Anden. Sein populärer Reisebericht Bergfahrten in Südamerika ist ebenfalls mit Fotografien illustriert, welche die Strapazen der Expedition zeigen (Abb. 39). Herzog wurde begleitet vom deutschen Geologen Walther Schiller aus La Plata, der später bei dem Versuch, den Aconcagua, den höchsten Gipfel der Anden, zu besteigen, starb. Bereits erwähnt wurden außerdem Hans Meyers Besteigungen des Chimborazo, des Cotopaxi und weiterer Gipfel in Ecuador.108 Neben den unzähligen durch Texte und Bilder inspirierten gedanklichen Fluchten gab es auch zahlreiche Menschen, die sich tatsächlich aufmachten, um in Südamerika ihre Freiheit zu finden und ihre Träume zu verwirklichen. Die nicht immer fassbaren, mitunter mehr diffusen denn konkreten ideellen Beweggründe, die Menschen mit den notwendigen finanziellen Mitteln dazu veranlassten, nach Südamerika zu reisen bzw. diejenigen, die nicht so wohlhabend waren – die überwältigende Mehrheit also – alle Mittel aufzubringen, ihr Hab und Gut zu veräußern und auszuwandern, finden sich vielleicht am prägnantesten formuliert in den Titeln des 1919 erschienenen Reiseberichtes von Kurt Faber (1883-1929): Dem Glücke nach durch Südamerika: Erinnerungen eines Ruhelosen und der 1921 erschienenen autobiografischen Erzählung des Auswanderers Hans Schmidt über seine Reise- und Jagdabenteuer: Meine Jagd nach dem Glück in Argentinien und Paraguay. Anders als über die Vita des 1925 in die NSDAP eingetretenen Weltreisenden, Korrespondenten und Bestsellerautoren Faber, der im Winter 1929 auf einer Abenteuerreise im Norden Kanadas erfror und dessen Werke v.a. in den 1930er, 1940er und 1950er Jahren mehrfach neu aufgelegt wurden, ist über das Leben Hans Schmidts wenig bekannt. Schmidt war als erster Beamter auf einem landwirtschaftlichen Gut angestellt und hatte finanziell sein Auskommen, oh-

108 Vgl. Ross, Südamerika: Die aufsteigende Welt, S. 232 und ausführlich Dienst, Im dunkelsten Bolivien; Penck, Puna de Atacama; Herzog, Bergfahrten in Südamerika; Meyer, In den Hoch-Anden von Ecuador und ders., Hochtouren im tropischen Amerika oder auch Pfann, Bericht über die Anden-Expedition sowie zum Thema weiterhin Carey, Mountaineers and Engineers und Logan, Aconcagua. Vgl. außerdem die Fotografien „Walther Penck“, „Walther Penck nach seinem zweiten Ritt über die hohe Puna“ und „Marcelino bietet seinem Herrn frischgebackene Torta“, Fotograf unbekannt, 1912/14, aus Penck, Puna de Atacama, Frontispiz, nach S. 128 und vor S. 65. Die letzte Fotografie zeigt, dass der Abenteurer das Essen, mochte es auch karg sein, immerhin nicht selbst zubereiten musste. Vgl. zu Leben und Person des heute weitgehend vergessenen Penck lediglich Gellert, Walther Penck – Ein Geologe.

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ne jedoch eine Perspektive zu haben, seinen Traum, ein eigenes Gut zu erwerben, selbstständig zu sein und viel Zeit für seine Leidenschaft, die Jagd, zu haben, verwirklichen zu können. 1912 kündigte er daher und ging in Hamburg mit 200 Mark und einer Fahrkarte für das Zwischendeck an Bord eines Dampfers der HamburgSüdamerika-Linie nach Buenos Aires. Seine Umwelt reagierte mit Unverständnis, denn Südamerika sei Ziel nur für Verbrecher auf der Flucht, Männer, die unehrenhaft gehandelt hatten und solche, die sich „durchaus totschießen lassen wollen“. Alternativen, wie etwa die Kolonien in Afrika, kamen für Schmidt aber nicht in Frage; „Südwest“ war ihm zu „überlaufen“. In Südamerika, das in dieser Darstellung nur etwas war für wirklich mutige, hartgesottene, echte und ganze Kerle, streifte er einige Jahre durch Argentinien und Paraguay, jagte und arbeitete in den verschiedensten Stellungen, bevor er gemeinsam mit einem Freund ein Stück Land in der Colonia Benitez im argentinischen Chaco erwarb und sesshaft wurde. 109 Auch der adlige Ernst Gedult von Jungenfeld gab in seinem Bericht Ein deutsches Schicksal im Urwald an, „[d]as stärkste Motiv zur Auswanderung aus der deutschen Heimat ist die tief in den Seelen ruhende Sehnsucht nach der eigenen Scholle, nach einem selbständigen Dasein auf eigenem Grund und Boden.“110 Die Verwunderung und Skepsis, auf die Schmidt mit seinem Entschluss, nach Südamerika auszuwandern, bei seiner Umwelt stieß, war offenbar das Gegenstück zu den in diesem Kapitel untersuchten Vorstellungen und Träumen von den Möglichkeiten individueller Freiheit und wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs, die sich in Südamerika böten. Bezüglich dieses negativen Bildes wurde bereits auf die Vorstellung einer notorischen politischen Instabilität der Länder des Subkontinents und die vermeintliche Begeisterung seiner Einwohner für den „Volkssport Revolution“ verwiesen. Weitere negative Zuschreibungen, die weiter unten noch eingehender behandelt werden, waren z.B. Provinzialität und Rückständigkeit. Diese betrafen das harte, natürliche Leben (auch in den Städten musste man, mit Ausnahme von Buenos Aires, immerhin noch auf den Komfort und die Kultur europäischer Städte verzichten), welches anderen aber eben verheißungsvoll erschien. Angesichts dieser „Kehrseite der Medaille“, spekuliert Thomas Bremer über die Gründe, die Lehmann-Nitsche veranlasst haben mochten, nach Argentinien zu gehen und eine Anstellung an einem „Provinzmuseum“ anzunehmen. Nach Argentinien, so Bremer, ging man als Sohn eines preußischen Rittergutsbesitzers eigentlich nur, wenn man „enorme Spielschulden hat, einem unabweisbaren Duell entgehen möchte oder die Familie findet, dass man nur so einer sozial vollkommen unpassenden Liebesbeziehung entzogen werden kann.“111

109 Vgl. Schmidt, Meine Jagd nach dem Glück in Argentinien und Paraguay, Zitate S. 8. 110 Gedult von Jungenfeld, Ein deutsches Schicksal im Urwald, S. 176. 111 Bremer, Stichwort Argentinische Popularkultur, S. 7. Fritz, der Ich-Erzähler in Stallers Roman Zwei Deutsche im Urwald gibt als Grund für seine Auswanderung nach Argentinien und später Brasilien an „jene himmelhohe Liebe, die ich drüben zu Grabe trug.“ Staller, Zwei Deutsche im Urwald, S. 274. Erik Pringsheim, dessen Schicksal Inge und Walter Jens in ihrem 2006 erschienenen Buch Auf der Suche nach dem verlorenen Sohn rekonstruiert haben, war dagegen 1905 vom Vater nach Argentinien verbannt worden, weil er die Familie „unmöglich“ machte:

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Die Quellenlage lässt jedoch vermuten, dass bei den Vorstellungen von Südamerika die Aspekte der Sehnsucht, der Hoffnung, der Erwartung und der Möglichkeiten vorherrschend waren. Die Verschmelzung und Universalisierung nationaler und individueller Hoffnungen und ihre Projektion auf den fremden Kontinent ist evident im Titel des bereits mehrfach erwähnten Werkes von Otto Nordenskjöld: Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit. Auch wenn es Nordenskjölds Absicht war, Akademikern, potentiellen Auswanderern und anderen Interessierten geografische, historische, politische und kulturelle Informationen zu vermitteln – die biblische Konnotation des Gelobten Landes verweist auf einen weiteren Aspekt, der für deutsche und andere europäische Auswanderer schon seit Jahrhunderten von Bedeutung war: religiöse Freiheit. Diese wird zwar nicht unbedingt mit den katholisch geprägten Gesellschaften des Subkontinents (viele Verfassungen schrieben den Katholizismus bis ins 20. Jahrhundert als Staatsreligion fest) assoziiert, tatsächlich aber siedelten z.B. schon seit dem 19. Jahrhundert wolgadeutsche Mennoniten etwa in Argentinien. Die mennonitischen Gemeinden bestanden auf zahlreichen Privilegien wie etwa einer eigenen Verwaltung, eigenen deutschen Schulen und der Befreiung vom Militärdienst. Weitere mennonitische Gemeinschaften siedelten sich ab den 1920er Jahren im paraguayischen Chaco an (Abb. 58): Nachdem die kanadische Regierung die allgemeine Schulpflicht eingeführt und den Unterricht in den privaten Schulen religiöser Minderheiten untersagt hatte, verließen knapp 300 Familien plautdietsch sprechender Mennoniten, die in den 1870er Jahren ursprünglich ebenfalls aus Russland ausgewandert waren, die Provinz Manitoba und gründeten 1927 auf knapp 7.500 Quadratkilometern die Colonia Menno im zentralen Chaco. In den 1930er und 1940er Jahren emigrierten weitere russlanddeutsche Mennoniten aus der Sowjetunion und begründeten in der Nachbarschaft der Colonia Menno die Siedlungsgebiete Fernheim und Neuland.112 Neben Paraguay gewährte unter den lateinamerikanischen Ländern auch Mexiko den Mennoniten ihre Privilegien und zog damit viele Siedler an. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wurde dann Bolivien v.a. für streng konservative sog. Altkolonier zum Hauptziel mennonitischer Ansiedlung.

„Er hat Schulden gemacht, mit ungedeckten Wechseln bezahlt, am Ende sogar den Familienschmuck versetzt: Dieser Sohn war nicht mehr tragbar. Seine Eltern, der MathematikOrdinarius Alfred Pringsheim, und Frau Hedwig, Tochter des KladderadatschRedakteurs Ernst Dohm, zählten zu den ersten Adressen der Münchener Gesellschaft; Thomas Mann hatte […] die einzige Tochter des Hauses, Katia, geheiratet. In einen solchen Clan passte kein Bankrotteur.“ Jens/Jens, Auf der Suche nach dem verlorenen Sohn, S. 7. 112 Vgl. Kleinpenning, The Mennonite Colonies in Paraguay; Klassen, Die Mennoniten in Paraguay sowie die entsprechenden Einträge in Ratzlaff (Hg.), Lexikon der Mennoniten in Paraguay. Zu deutschsprachigen Mennoniten in Brasilien vgl. z.B. Sahr, Der Anker des Glaubens in entankerter Welt. Es gibt auch eine bis ins 16. Jahrhundert zurückreichende Tradition jüdischer Migration nach Südamerika. Zu deutsch-jüdischer Migration nach Südamerika vgl. z.B. Feierstein, Im Land von Vitzliputzli; Schwarcz, Deutsch-jüdische Präsenz in Argentinien und Moreira, Juden aus dem deutschsprachigen Kulturraum in Brasilien.

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Abbildung 58: Fotografie „Deutsches Blut. Ein Mennonitenjunge im Chaco“ von Hans Krieg (?), 1920er Jahre, aus Krieg, Hans: Menschen, die ich in der Wildnis traf (Deutsche Hausbücherei Hamburg), Stuttgart: Strecker & Schröder, 1935, Abb. 16, nach S. 192.

Die Sehnsucht nach einem freien, selbstbestimmten Leben und der Traum vom eigenem Grund und Boden sowie wirtschaftlichem und sozialem Aufstieg waren – Bezug nehmend auf ein bekanntes Migrationsmodell – die wichtigsten „pull-Faktoren“, die deutsche Auswanderer nach Südamerika lockten.113 So sind die auf den ersten Blick widersprüchlich scheinenden Bilder von ursprünglicher Natur, von Weite und von Primitivität auf der einen und Bilder von modernen Metropolen und Infrastruktur auf der anderen Seite eben nur scheinbar inkompatibel. Tatsächlich verdeutlichen die entsprechenden Bilder vielmehr die Ambivalenz der Vorstellungen von und der Erwartungen an Südamerika. Zugleich zeigen die ambivalenten Bilder verschiedene Facetten des Subkontinents.

113 Vgl. zuerst Lee, A Theory of Migration. Die „push-Faktoren“, etwa die hohe Arbeitslosigkeit in der Weimarer Republik oder die gesellschaftliche und moralische Enge, genauer zu untersuchen, ist nicht explizit Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Vgl. dazu z.B. zeitgenössisch Hassert/Lutz, Mittelamerika (Mexiko) als Ziel deutscher Auswanderung, bes. S. 8.

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Die Bilder, die Motive von Modernität transportierten wie z.B. Eisenbahnen und Bahnhöfe, Stadtansichten, Parlamente, Regierungspaläste, Banken und andere (öffentliche) Gebäude, Häfen, Fabriken und andere Produktionsstätten, Zoos, Sportanlagen, Parks und andere Orte der Freizeit werden im folgenden Kapitel ausführlich behandelt. An dieser Stelle sei nur so viel gesagt, dass Bilder wie die in den Publikationen des Geografen und Experten in Sachen Auswanderung Otto Preusse-Sperber den deutschen Betrachtern vor Augen führten, dass selbst die unzugänglichen Anden durch die Eisenbahn infrastrukturell erschlossen wurden (Abb. 59), dass Bergbau mit moderner Technik betrieben wurde und dass es sich in einer Metropole wie Lima etwa gut leben und Handel treiben ließ. Um die Planungen für Auswanderung, Handel, und Investitionen – die informelle Kolonisierung Südamerikas 114 – noch zu vereinfachen, hielten Preusse-Sperbers und andere Handbücher/Ratgeber neben allgemeinen Informationen zu Klima, Wirtschaft und Bevölkerung auch konkrete Angaben zur Umrechnung von Maßen und Gewichten, Adressen von Konsulaten und vieles mehr parat.115 Preusse-Sperber war selbst zunächst nach Argentinien ausgewandert, kannte

114 Vgl. dazu Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, bes. S. 251. In der Forschung wird mit Bezug auf das Konzept des empire die britische Handelsdominanz in Lateinamerika im 19. Jahrhundert auch als informal empire zu erfassen versucht. Vgl. zuletzt Brown (Hg.), Informal Empire in Latin America und Cuenca, For Fear of ‘Turning Native’ sowie zur Tradition dieses Konzeptes z.B. Gallagher/Robinson, The Imperialism of Free Trade; Ferns, Britain’s Informal Empire in Argentina oder Winn, British Informal Empire in Uruguay. Sehr prominent ist in dieser Hinsicht auch die Arbeit von Galeano, Die offenen Adern Lateinamerikas. Vgl. für französische imperiale Ambitionen in Südamerika zuletzt Shawcross, When Montevideo Was French. 115 Neben den bereits angesprochenen Titeln von Otto Preusse-Sperber, Fritz Regel, Funke und anderen gab es zahlreiche weitere, vgl. z.B. Engel, Einwanderung und Kolonisation im tropischen Amerika; Kärger, Landwirtschaft und Kolonisation im Spanischen Amerika; Backhaus, Welche Aussichten bieten sich den Deutschen in Südamerika?; Runge, Wie wandere ich nach Südamerika aus?; für Surinam Kappler, Surinam: Sein Land, seine Natur, Bevölkerung und seine Kulturverhältnisse; für Paraguay Friedrich, Die La PlataLänder; Mangels, Wirtschaftliche, naturgeschichtliche und klimatologische Abhandlungen; Fischer-Treuenfeld, Paraguay in Wort und Bild; Kende, Paraguay und Uruguay; Schuster, Paraguay: Land, Volk, Geschichte, Wirtschaftsleben und Kolonisation und Bürger, Paraguay, der Garten Südamerikas oder zu Argentinien Greger, Die Republik Argentinien; Verein zur Förderung germanischer Einwanderung in Buenos Aires (Hg.), Argentinien als Ziel für germanische Auswanderung: Handbuch; Alemann, Am Rio Negro: Ein Zukunftsgebiet germanischer Niederlassung; Goltz, Reiseeindrücke aus Argentinien; Hiller, Einwanderung und Einwanderungspolitik in Argentinien; Schuster, Argentinien: Land, Volk, Wirtschaftsleben und Kolonisation; Hellauer (Hg.), Argentinien: Wirtschaft und Wirtschaftsgrundlagen und Breuler, Im Lande des Silberstromes. Vgl. weiterhin die schmalen Bände der Reihe „Auslandswegweiser“, die im Verlag Friederichsen & Co. erschienen: Stichel, Argentinien; Bieler, Brasilien; Sapper, Mittelamerika und Sievers, Venezuela. Auch der bekannte Reiseschriftsteller Colin Ross veröffentlichte einen solchen Ratgeber, vgl. Ross, Südamerikanisches Auswanderer-ABC. Interessanterweise gibt es für Chile, ein wichtiges Ziel deutscher Auswanderer, im Gegensatz etwa zu Brasi-

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auch Peru sehr gut, lebte später in Brasilien und dann in New York, wo er Herausgeber des American Universal Correspondent und Mitglied der National Geographical Society in Washington wurde. In den 1920er Jahren, zurück im Deutschen Reich, stand er dem Reichsverband deutscher Auswanderer vor. 116

Abbildung 59: Fotografie „Typische Andenbahn, Challapabrücke 4000 m über dem Meeresspiegel, Centralbahn, Peru“, aus Preusse-Sperber, Otto: Süd- und Mittel-Amerika: Seine Bedeutung für Wirtschaft und Handel. Ein Ratgeber für Exporteure, Importeure, Ansiedler, MinenInteressenten, Kapitalisten usw., Berlin: Salle, 1913, Abb. 7, nach S. 32. Vgl. zahlreiche weitere ähnliche Fotografien ebd. und im Bildanhang von ders.: Perú: Eine Skizze seines wirtschaftlichen und staatlichen Lebens (Angewandte Geographie: Hefte zur Verbreitung geographischer Kenntnisse in ihrer Beziehung zum Kultur- und Wirtschaftsleben, 4. Serie, Heft 7), Frankfurt a.M.: Keller, 1913.

Eine ähnliche Funktion erfüllten v.a. auf Bildpostkarten aber auch in Büchern, insbesondere in den Länderführern und Auswandererratgebern, verbreitete Motive, welche das ferne Südamerika, die Fremde, als gar nicht so fremd und der Heimat nicht so fern und verschieden zeigten. Jens Jäger konstatierte hinsichtlich der von ihm als globalisierte Bilder bezeichneten Fotopostkarten, dass „[d]urch die formalen und ästhetischen Aspekte gerade bezüglich fotografisch illustrierter Ansichtskarten […] sich eine homogenisierende Weltsicht [ergab], die zwar Abweichung und

lien, Paraguay oder Argentinien, relative wenige Werke. Vgl. Ochsenius, Chile: Land und Leute. 116 Vgl. Wagner, A History of Migration from Germany to Canada, S. 192.

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Exotismus zuließ, gleichwohl aber der Fremde ein europäisch-abendländisches Muster unterlegte.“117

Abbildung 60: Bildpostkarte „Santos.“, Verlag unbekannt, Brasilien (?), gelaufen 06.12.1902, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1995/139,1. Vgl. auch die Bildpostkarte „La Union Escuela Alemana“, Verlag: Guillermo Kleibömer, Osorno, ungelaufen, datiert 24.03.1914, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 2004/5/152 sowie die Fotografien „Deutsche Schule in der Kolonie Porto Feliz, Staat Rio Grande do Sul“ und „Deutsches evangelisches Lehrerseminar in São Leopoldo“, Fotograf unbekannt, frühes 20. Jh. (?), aus Rohrbach, Paul: Das Deutschtum über See, Karlsruhe: Schille & Co., 1930, Abb. 46, vor S. 157 und Abb. 51, vor S. 161.

In seinen Arbeiten über deutsche Kolonialfotografie betont Jäger die enorme Bedeutung des Mediums für die Konstruktion von Heimat und die Generierung von Heimatgefühlen in Bezug auf die Kolonien. Seine Befunde lassen sich aber auch auf andere ferne und zunächst fremde Weltregionen übertragen. Aus Südamerika waren es neben den erwähnten Motiven von Städten, Eisenbahnen usw. insbesondere Bilder deutscher Siedlungen, deutscher Siedler und ihrer Arbeit, deutscher Schulen und anderer Einrichtungen, die die „Heimat in der Fremde“ zeigten. Deutschen Schulen, die von H. Glenn Penny auch als „deutsche Räume“ bezeichnet werden, kam dabei eine besondere Bedeutung zu (Abb. 60). Hier lernten – idealerweise – die im Ausland geborenen Kindern von Deutschen in deutscher Sprache mehr über deutsche Kultur und Geschichte und blieben dem Reich so als „Auslandsdeutsche“ verbunden. Und so wie auch heute noch deutsche Schulen in aller Welt vom deutschen Staat gefördert werden, erfreuten sich z.B. die

117 Jäger, Globalisierte Bilder, Abstract. Vgl. auch ders., „Heimat“ in Afrika und ausführlicher ders., Colony as Heimat?

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„deutschen Schulen in Paraguay […] alljährlich in ergebener Dankbarkeit einer huldvollen Unterstützung von seiten Seiner Majestät des deutschen Kaisers, mit dessen Genehmigung aus dem im Etat des Auswärtigen Amtes für 1905 vorgesehenen Schulfonds der deutschen Schule in Asunción 2300 Mk., ferner der Schule in San Bernardino 900 Mk., in Altos 500 Mk. und in Hohenau 800 Mk. überwiesen wurden. Die deutsche Schule in Asunción zählte im Jahre 1904 37 Schüler, davon waren 22 Knaben und 15 Mädchen, die Unterklasse mit 25 Kindern, 18 Knaben und 7 Mädchen, die Oberklasse mit 12 Kindern, 4 Knaben und 8 Mädchen.“ 118

Außer in Bildmedien wurde auch in vielen literarischen Werken das deutsche Schulwesen v.a. in Brasilien thematisiert. Franz Donat etwa schilderte, wie er selbst als Lehrer arbeitete.119 Und in Chile gab es an der Universität von Santiago sogar zwei deutsche Burschenschaften, die Arminia und die 1896 gegründete Araucania (Leitspruch: „Ehre, Zucht, Einigkeit“), die schon bald auch eigene Bildpostkarten herausgab (Abb. 61). Auch seelsorgerisch wurden die Deutschen im südamerikanischen Ausland vielerorts gut versorgt – und das galt nicht nur für Katholiken. Protestanten wurden ebenfalls, so bestätigten viele Arbeiten auch in Bildern, u.a. die des evangelischen Theologen Alfred Funke (1869-1941), seit 1896 Leiter einer deutschen Schule in Südbrasilien, in ihren Gemeinden von Pfarrern im Glauben angeleitet (Abb. 62). 120 Fotografien von deutschen Siedlungen mit Kirchen bekräftigten dieses Bild ebenso wie entsprechende Ansichten, die als Motive auf Bildpostkarten zirkulierten (Abb. 63). Die meisten dieser Heimat konstruierenden Bilder stammten aus Brasilien, wo sich in den südlichen Bundesstaaten, besonders in Santa Catarina und in Rio Grande do Sul, viele deutsche Auswanderer niederließen, sowie aus Argentinien und Chile, wohin ebenfalls bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts zahleiche Deutsche auswanderten. Bezeichnend sind die Kapitelüberschriften in Colin Ross’ Südamerika, die aufsteigende Welt von 1922: „Einwanderung nach Argentinien“, „Deutsche Kolonien in Santa Fé“, „Deutsche Siedler in argentinischer Wildnis“, „Chiles deutscher Süden“

118 Fischer-Treuenfeld, Paraguay in Wort und Bild, S. 127. Vgl. für Pennys Bezeichnung der Schulen als „deutsche Räume“ den Tagungsbericht von Herzner/Kroll, Deutsche Schulen im Ausland sowie Penny, Knotenpunkte und Netzwerke; ders., Material Connections und zur Heimat in der Fremde auch den Spielfilm Die andere Heimat: Chronik einer Sehnsucht, Film von Edgar Reitz (Produktion: Edgar Reitz Film (ERF), in Co-Produktion mit Les Films du Losange, ARD Degeto Film, Bayerischer Rundfunk (BR), Westdeutscher Rundfunk (WDR) und arte Geie, Deutschland 2013). 119 Vgl. Donat, Paradies und Hölle, S. 73-76 oder Staller, Zwei Deutsche im Urwald, S. 107114. 120 1902 forderte Funke in einem Vortrag auf dem Deutschen Kolonialkongress in Berlin mehr staatliche Unterstützung für deutsche Schulen und Kirchen in Südbrasilien. Vgl. Funke, Über die kulturellen Interessen und Aufgaben Deutschlands in Südbrasilien. Von Konflikten zwischen den Konfessionen anlässlich des Baus eines Gotteshauses in einer deutschen „Kolonie“ in Brasilien berichtet Staller, Zwei Deutsche im Urwald.

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sowie „Deutschbrasilianer“, „Kolonisten und Kolonien in Rio Grande“ und „Kolonisten im Urwald“.121

Abbildung 61: Fotografie „Deutsche Burschenschaft Araucania, Universität von Santiago, Chile“, Fotograf unbekannt, frühes 20. Jh. (?), aus Rohrbach, Paul: Das Deutschtum über See, Karlsruhe: Schille & Co., 1930, Abb. 111, nach S. 288. Vgl. auch die Bildpostkarten „Burschenschaft Araucania. Santiago, Chile. Gegründet 1896“, Verlag: Imp. del Universo, Valparaíso, gelaufen 25.09.1900 und „Santiago (Chile) Araucania sei’s Panier“, Verlag unbekannt, Chile, gelaufen 02.07.1911, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1978/624-715 und 1978/624716.

121 Ross, Südamerika, die aufsteigende Welt.

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Abbildung 62: Fotografie „Pfarrer Dr. Aldinger mit seinen Schulkindern. Im Hintergrund Schule und Kirche von Hammonia“, Fotograf unbekannt, um 1900/05 (?) und nach 1901, aus Wettstein, Karl Alexander: Brasilien und die deutsch-brasilianische Kolonie Blumenau, Leipzig: Engelmann, 1907, Abb. 23, S. 245. Paul Aldinger wurde 1869 im heute zu Freiberg am Neckar gehörenden Heutingsheim geboren und wuchs in einem gutbürgerlichen Elternhaus auf. Von 1885 bis 1887 besuchte er das theologische Seminar in Blaubeuren und nahm in Anschluss ein theologisches Studium in Tübingen auf. Von 1893 an war er Vikar in mehreren kleinen südwestdeutschen Gemeinden. Nach einigen Jahren jedoch zog es Aldinger in die weite Welt. Zunächst reiste er 1900 nach Ungarn, Siebenbürgen, Bessarabien, Galizien und Russland, bevor er im Jahr darauf nach Brasilien auswanderte. Über seine Beweggründe schrieb er in einem Brief an seine Mutter: „Ich habe das sichere Bewusstsein, drüben in der besonderen Weise, wie ich es immer gern wollte, die Sache des Reiches Gottes, unserer evangelischen Kirche und des deutschen Volkes fördern zu können.“ Neben seinen Verdiensten um die 1902 entstandene evangelische Kirchengemeinde Hammonia gründete Aldinger Schulen, einen Sparverein, einen landwirtschaftlichen Hilfsverein, eine landwirtschaftliche Versuchsanstalt sowie eine Monatszeitung. Er unternahm außerdem Expeditionen ins Landesinnere und stieß dabei u.a. auf einen Fluss, der seitdem Rio Aldinger heißt. 1927, nach über einem Vierteljahrhundert in Brasilien, ging Paul Aldinger zurück ins Deutsche Reich und wurde Pfarrer im schwäbischen Kleinbottwar, wo er 1944 starb.122

122 Vgl. Brock, Ein Leben zwischen Brasilien und Kleinbottwar, dort auch das Zitat aus dem Brief.

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Abbildung 63: Bildpostkarte „Valparaíso, Cerro Concepcion ‚Iglesia alemana‘, No. 4021“, Verlag: Mattensohn & Grimm, Valparaíso, nach 1905, gelaufen (Poststempel unleserlich), SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 2004/5/114. Die 1897 unter der Leitung von Pastor Theodor Schmidt und den Architekten Gebr. Biederhäuser erbaute und am 1. Januar 1898 eingeweihte Kirche der lutherischen Gemeinde zum Heiligen Kreuz war die erste evangelische Kirche mit Turm und Geläut in Südamerika. Vgl. die Website der Iglesia Luterana en Valparaíso, https://www.iluterana.cl/quienes-somos/historia-ilv/ [06.09.2018]. Vgl. für weitere Bilder von Kirchen auch die Fotografien „Deutsche Koloniekirche mit Gemeinde in Espirito Santo“, „Deutsche Kirche in Puerto Varas, Chile“ und „Deutsche Konfirmanden vor der Schule in Hohenau, Paraguay“, Fotograf unbekannt, frühes 20. Jh. (?), aus Rohrbach, Paul: Das Deutschtum über See, Karlsruhe: Schille & Co., 1930, Abb. 85, nach S. 244, Abb. 113, zwischen S. 288 u. 289 und Abb. 98, nach S. 268 sowie „Nach der Konfirmation“, Fotograf unbekannt, vor 1902, aus Funke, Alfred: Aus Deutsch-Brasilien: Bilder aus dem Leben der Deutschen im Staate Rio Grande do Sul, Leipzig: Teubner, 1902, S. 280. Vgl. auch die Fotografien „Fertig zum Kirchgang“ und „Geistliche und Presbyter der riograndenser Synode“, ebd., S. 144 u. 261.

Unter den deutschen Auswanderern nach Chile ist nicht zuletzt wegen einer Rede, die der damalige Bundespräsident Johannes Rau 2003 in Valdivia hielt, der Fall Carl Anwandters (1801-1889) aus Calau in der Niederlausitz, der 1851 auch einen Bericht über seine Auswanderung veröffentlichte, recht bekannt.123 Anwandter hatte an der 1848er Revolution teilgenommen und kam 1850 mit den ersten deutschen Siedlern, die der Kolonisationsagent der chilenischen Regierung, Bernhard Eunom Philippi (1811-1852), für die Ansiedlung im südlichen Teil Zentralchiles, v.a. um den Llanquihue-See zwischen Valdivia und Puerto Montt, angeworben hatte. In Valdivia gründete er sein Unternehmen, die Cervecería Anwandter, sowie den Club Alemán

123 Vgl. Anwandter, Meine Uebersiedelung nach der Provinz Valdivia und Rau, Rede von Bundespräsident Johannes Rau anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde in der „Universidad Austral“.

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und die Deutsche Schule (heute Instituto Alemán „Carlos Anwandter“). In den folgenden Dekaden siedelten sich immer mehr deutsche Auswanderer in der Region an – und trugen zur Vertreibung (und auch zur massenhaften Ermordung) der Mapuche bei.124 Viele Orte, besonders Valdivia, Frutillar, Osorno und La Unión, aber auch Temuco oder Puerto Montt, waren geprägt von deutschen Einflüssen (Abb. 64) und sind es z.T. auch heute noch. Otto Nordenskjöld beschrieb Puerto Montt in einer Bildunterschrift als eine „kleine, fast nach nordischem Typus aus Holz gebaute Stadt mit einer Bevölkerung von teilweise deutscher Abstammung.“125 Und der Reisende Richard Katz stellte Anfang der 1930er Jahre fest: „Ja, das ist die typische deutsche Kleinstadt mit ihrer Gesundheit und ihrer Enge und ihrer Behaglichkeit und ihrem Klatsch, und sie heißt Valdivia und liegt in Chile.“126 Katz besuchte in der Region auch eine „Zwei-Familien-Kolonie“ zwischen den Seen Todos Santos und Cayutue. Dort hatten sich mitten im Urwald zwei deutsche Hochschullehrer (ein Professor für Tiermedizin an der tierärztlichen Hochschule in Montevideo und ein Dozent des Fachbereichs Chemie der Universität in Buenos Aires) mit ihren Familien niedergelassen und einen Gutshof nach deutschem Vorbild errichtet – angepasst an die lokalen Bedingungen.127 Der Reiseschriftsteller stellte weiterhin fest, dass sich viele Einwanderer dort angesiedelt hätten, wo sie das Klima am ehesten an das der verlassenen Heimat erinnerte: Deutsche Bauern siedelten eben um Valdivia, Schweizer weiter südlich im Gebirge und Schotten und Norweger in Patagonien. 128 Etwas überraschend mag sein, dass darüber hinaus nicht nur Städte, Siedlungsprojekte und -arbeit oder Klima, sondern auch die Landschaft für Vergleiche mit Europa bemüht wurden.129 Die Gegend um den am Lago Llanquihue gelegenen Vulkan Osorno wurde von vielen deutschen Reisenden und wird noch heute v.a. im deutschen Sprachraum als „chilenische Schweiz“ bezeichnet. Fotos des dieserart „heimatisierten“ Vulkans Osorno waren quasi ein Muss für illustrierte Reiseberichte, wie die von Katz oder Edschmid. Katz verglich den „Vulkan Osorno in der Chilenischen Schweiz“, so die Bildunterschrift, paradoxerweise ebendort mit „Japans heiligem Fuji“ und mystifizierte so im selben Atemzug den gerade erst vertraut gemachten Berg (Abb. 65). Eventuell spricht daraus das Bestreben, die Fremde und Ferne zwar weniger fremd und fern, aber immerhin noch ein bisschen fremd und fern scheinen zu lassen. Wie

124 S. zur Vertreibung und Ermordung bis hin zur Ausrottung von Indigenen ausführlich Kap. 3. Zur Kolonisation Südchiles vgl. auch den Reise- und Erlebnisbericht von Bürger, Aus der Wildnis des Huemuls. Der Huemul ist ein in den südlichen Anden beheimateter Hirsch. 125 Nordenskjöld, Südamerika, Bildunterschrift zu Abb. 17, vor S. 49. 126 Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, S. 168. 127 Vgl. Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, S. 180-206, Zitat S. 183 sowie die Fotografie „Einsam im Urwald der Gutshof von Cayutue“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre (?), aus ebd., vor S. 193. 128 Vgl. Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, S. 150-151. 129 Das scheint zumindest mitunter auch für Brasilien zu gelten. Der Geograf und Südamerikareisende Wilhelm Ule etwa schrieb in seinem 1924 erstmals erschienenen Werk Quer durch Süd-Amerika in der Bildunterschrift zu einer Fotografie des Rio Paraguassu von diesem als „dem brasilianischen Rhein“. Vgl. Ule, Quer durch Süd-Amerika, vor S. 97.

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dem auch sei, der Osorno gehörte jedenfalls zusammen mit einigen anderen Motiven zum Standard der fotografischen Repräsentation Südamerikas – und war damit ein wesentlicher Bestandteil der Vorstellung von Südamerika.

Abbildung 64: Fotografie „Ein deutsches Stadtbild in Süd-Chile: Valdivia“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre (?), aus Katz, Richard: Schnaps, Kokain und Lamas: Kreuz und quer durch wirres Südamerika, Berlin: Ullstein, 1931, nach S. 176. Vgl. auch die Fotografien „Die deutsche Siedlung Puerto Varas am Llanquihue-See in Chile“ und „Deutsche Häuser in Ensenada, am Fuße des Vulkans Osorno, Chile“, Fotograf unbekannt, frühes 20. Jh. (?), aus Rohrbach, Paul: Das Deutschtum über See, Karlsruhe: Schille & Co., 1930, Abb. 109, vor S. 285 und Abb. 114, zwischen S. 288 u. 289 sowie „Bismarckturm von Concepcion, ein Beweis des starken Deutschtums in Chile“, Fotograf unbekannt, 1930/31, aus Kircheiß, Carl: Polarkreis Süd – Polarkreis Nord: Als Walfisch- und Seelenfänger rund um die beiden Amerika, Leipzig: Koehler, 1933, S. 130.

Geradezu integral für die Vorstellung der Menschen im Deutschen Reich von Südamerika waren, wie bereits mehrfach erwähnt, auch die deutschen Siedlungen bzw. das Schaffen und die Lebensbedingungen deutscher Siedler in Südbrasilien, über die ausführlich in Bild und Text berichtet wurde. 130 Es gab kaum einen Reisebericht und

130 Vgl. neben den bereits erwähnten Werken von Donat, Ross, Schüler, Jacques, Hettner, Zöller und anderen weiterhin schon früh Sellin, Das Kaiserreich Brasilien, außerdem Schüler, Brasilien von heute; Breitenbach, Die Provinz Rio Grande do Sul; ders., Die deutsche Auswanderung; ders., Aus Süd-Brasilien; Beschoren, Beiträge zur nähern Kenntnis der brasilianischen Provinz São Pedro do Rio Grande do Sul; Fabri, Deutsche Siedlungsarbeit im Staate Santa Catharina; Unbekannt (Hg.), Erstes Jahrbuch für die deutschsprechende Kolonie im Staate São Paulo 1905; Lacmann, Ritte und Rasttage in Südbrasilien; Ihering, Landeskunde der Republik Brasilien; Aldinger, Das Itajahy-Tal; Hoppe, Eine versunkene und wiedererwachende Welt; Wettstein, Mit deutschen Kolonis-

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kaum ein Handbuch, der bzw. das nicht darauf eingegangen wäre. Schon wegen ihrer großen Menge hatten diese Bilder für die Vorstellung von Südamerika einen hohen Stellenwert. Unter den fotografischen Abbildungen in Paul Rohrbachs 1930 erschienenem Werk Das Deutschtum über See beispielsweise stammt fast die Hälfte, 92 von 191, aus Südamerika – und 53 davon aus Brasilien; je neun Bilder zeigen Motive aus Argentinien und Paraguay, 21 zeigen Ansichten des Deutschtums in Chile (zum Vergleich: 34 Abbildungen zeigen Motive aus den USA und Kanada, 30 solche aus Afrika, 20 solche aus Australien und 14 solche aus Palästina; zwei Bilder zeigen Deutsche Siedlungen in Jamaica).131 Nicht wenige Berichte über Brasilien stammten von Menschen, Reisenden oder Auswanderern, die tatsächlich dort gewesen waren. Einer von ihnen war der oben erwähnte evangelische Theologe Alfred Funke, der 1896 Leiter einer deutschen Schule in Südbrasilien wurde. 1901 kehrte er ins Deutsche Reich zurück, wo er an der Universität Halle über die Kolonialgeografie Südamerikas promovierte und sich fortan als Publizist für die koloniale Sache in Brasilien und in Afrika einsetzte. 132 Besonders häufig und ausführlich wurde in Text und Bild über die Erfolgsgeschichte der deutschen „Musterkolonie“ Blumenau im Staat Santa Catarina berichtet. Diese war 1850 vom Apotheker Hermann Blumenau (1819-1899) gegründet worden und hatte – nach schwierigen Jahren – Ende des 19. Jahrhunderts einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Beständig siedelten sich weitere deutsche und später auch italienische, polnische und andere europäische Auswanderer in dem landwirtschaftlich geprägten Be-

tenjungens durch den brasilianischen Urwald; ders., Durch den brasilianischen Urwald; Wagemann, Die Ansiedlung von Europäern in den Tropen; Grube, Bei deutschen Brüdern im Urwald Brasiliens; Schindler, Brasilien: Wegweiser zur Bearbeitung des brasilianischen Urwaldes; Brokamp, Das gemässigte Brasilien als Auswanderungsland; Westphal, Als Kolonist im brasilianischen Urwald; Schück, Brasilien: Volk und Land; Cornelius, Die Deutschen im brasilianischen Wirtschaftsleben; Krenzinger, Vom Urwald zum Kamp in Süd-Brasilien; Kretzen, Zwischen Paraná und Tiété; Kuhr, Auf dem Camp und im Urwald Brasiliens; Heusohn, Irrlichter im Urwald; Schott, Himmel und Hölle einer Tierwelt und auch noch Weiss, Urwald-Siedler sowie die Romane und Erzählungen von Alencar, Ubirajara; Kümmel, Luliba, die Indianerin; Roehle, Durch Urwald und Sertao; Blunck, Die Weibsmühle; Riet, Goldsucher im Urwald; Ferreira de Castro, Die Kautschukzapfer oder auch lyrisch Düring, Iracema: Ein Sang aus den Urwäldern Brasiliens. Vgl. weiterhin Kathöfer, Travel Writing, Emigration Laws, and Racial Whitening. Vgl. ähnlich für deutsche Auswanderer in Argentinien den 1891 erschienenen Roman Kolonistenvolk der populären Schriftstellerin Gabriele Reuter (1859-1941). Auch der in Kap. 1 bereits erwähnte Hermann von Ihering publizierte viel zur Auswanderung, vgl. Ihering, Rio Grande do Sul; ders., Die brasilianische Provinz Matto Grosso und ders./Langhans, Das südliche Koloniengebiet von Rio Grande do Sul. 131 Vgl. Rohrbach, Das Deutschtum über See. 132 Vgl. die illustrierten Arbeiten von Funke, Aus Deutsch-Brasilien; ders., Der Deutsche Kolonist in Brasilien und ders., Brasilien im 20. Jahrhundert. Vgl. außerdem seine Dissertation ders., Die Besiedlung des östlichen Südamerika und weitere wissenschaftliche Arbeiten wie ders., Deutsche Siedlung über See sowie die Romane ders., Unter den Coroados und ders., Der Gringo.

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zirk an. Nach Schätzungen des Urwaldboten, der örtlichen deutschsprachigen Zeitung, hatte Blumenau 1906 ca. 42.000 Einwohner, von denen mindestens 30.000 „Deutsche“ seien.133 Es gab mehrere deutsche Schulen und auch einige Fabriken und Handelshäuser, jedoch blieb die Landwirtschaft der wichtigste Wirtschaftszweig.

Abbildung 65: Fotografie „Vulkan Osorno in der chilenischen Schweiz“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre (?), aus Katz, Richard: Schnaps, Kokain und Lamas: Kreuz und quer durch wirres Südamerika, Berlin: Ullstein, 1931, vor S. 177. Vgl. ähnlich die Fotografie „Süd-Chile“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre (?), aus Edschmid, Kasimir: Südamerika wird photographiert, Bielefeld/Leipzig: Velhagen & Klasing, 1932, Bildteil S. 45.

Gerade angesichts der großen Zahl deutscher Auswanderer und ihres wirtschaftlichen Erfolgs in Südbrasilien nahmen im frühen 20. Jahrhundert die Klagen über die mangelnde Unterstützung der „Auslandsdeutschen“ durch die deutsche Reichsregierung zu. Der Alldeutsche Karl Alexander Wettstein, der als Ingenieur, Kolonisationsbeamter und Leiter von Bahnbauvorarbeiten zweieinhalb Jahre in Blumenau tätig gewesen war, beklagte in einer Studie über Blumenau – welcher der Leitspruch: „Das Deutschtum im Ausland ist unsere wichtigste Kolonie!“, ein Zitat des ehemaligen Gouverneurs von „Deutsch-Ostafrika“, Eduard von Liebert (1850-1934, Gouverneur 1896-1901), vorangestellt war (Abb. 66) – die fehlende Hilfe des deutschen Staates bei Infrastrukturmaßnahmen. „In Anbetracht der großen wirtschaftlichen Interessen, die für den deutschen Handel in Brasilien mit seinen 400 000 Deutschen auf dem Spiele stehen, wäre es weiter unbedingte Pflicht der Reichsregierung, ein deutsches Kabel nach Brasilien zu legen, eine deutsche Presse dort mit reichen Kapitalien zu unterstützen und die wichtigsten Posten, z. B. Blumenau, mit einem Be-

133 Vgl. Wettstein, Brasilien und die deutsch-brasilianische Kolonie Blumenau, S. 70.

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rufskonsul zu besetzen. – Das deutsche Kapital verblutet sich lieber in Ostasien und Kleinasien an ‚hochpolitischen‘ Staatsaktionen und wird sich Südbrasilien erst zuwenden, wenn sich der Nordamerikaner die wichtigsten Handelsstützpunkte angeeignet hat. Daß dort 400 000 Deutsche leben, während in unseren ganzen deutschen Kolonien, abgesehen vom Militär, keine 10 000 Deutsche wohnen, dafür hat Deutschland scheinbar kein Verständnis. Den großdeutschen Zielen, die Kaiser Wilhelm II. weitschauend gesteckt hat, scheinen nicht einmal alle Geheimen Räte der Wilhelmstraße mit dem Herzen zu folgen!?“134

Abbildung 66: Titelblatt von Wettstein, Karl Alexander: Brasilien und die deutsch-brasilianische Kolonie Blumenau, Leipzig: Engelmann, 1907.

134 Wettstein, Brasilien und die deutsch-brasilianische Kolonie Blumenau, S. 287. Vgl. auch Laak, Über alles in der Welt, S. 112-113.

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Abbildung 67: Fotografie „Spielplatz des deutschen Turnerbundes mit Musiktribüne in Porto Alegre“, Fotograf unbekannt, frühes 20. Jh. (?), aus Rohrbach, Paul: Das Deutschtum über See, Karlsruhe: Schille & Co., 1930, Abb. 37, zwischen S. 144 u. 145.

Kolonialpolitische Debatten nahmen immer wieder Bezug auf die deutschen „Kolonisten“ v.a. in Santa Catarina und Rio Grande do Sul. So hatten sicher viele Zeitgenossen eine Idee von der Region. Aufgrund der hohen Zahl deutscher Auswanderer nach Brasilien war zudem die Wahrscheinlichkeit, dass es auf der persönlichen Ebene eine Beziehung zum Thema gab, vergleichsweise hoch. Relativ viele Menschen dürften (mindestens über ein paar Ecken) jemanden gekannt haben, der diesen Weg gegangen war: ein Familienmitglied, ein Freund oder Bekannter, ein Nachbar, jemand aus dem eigenen oder dem Nachbardorf. Geschichten von Erfolg oder Misserfolg in Südamerika und besonders in Brasilien erreichten so sehr viele Menschen – nicht nur, aber eben auch durch Text- und Bildmedien vermittelt.135 Im Medium der Bildpostkarte verschmolzen dabei Text und Bild, „objektive“ – in Form des (fotografischen) Bildes – und subjektive – in Form der persönlichen Nachricht – Ansichten. Wie deutsch Südbrasilien war, verdeutlicht dabei neben Bildern vom (so gar nicht brasilianischen) Karneval in der deutschen Siedlung Brusque in Santa Catarina oder vom Spielplatz des deutschen Turnerbundes in Porto Alegre (Abb. 67 und 68), eine Bildpostkarte, die vom deutschen Verleger Hugo Quidde in Joinville herausgegeben wurde. Die Bildunterschrift der Ansicht des Hafens von São Francisco in Santa Cata-

135 Vgl. z.B. auch die Studie über Auswandererbriefe aus Brasilien von Bendocchi Alves, Colhedores de café.

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rina ist zweisprachig: Neben „Lembrança de São Francisco, Brazil“ steht dort auf Deutsch „Gruss aus Brasilien“ (Abb. 69).136

Abbildung 68: Fotografie „Karnevalsumzug in Brusque“, Fotograf unbekannt, frühes 20. Jh. (?), aus Rohrbach, Paul: Das Deutschtum über See, Karlsruhe: Schille & Co., 1930, Abb. 61 nach S. 188. Vgl. außerdem z.B. die Fotografien „Südbrasilianische Kolonisten“ und „Deutsche Siedlung in Brasilien“, Fotograf unbekannt, 1910er Jahre (?), aus Ross, Colin: Südamerika, die aufsteigende Welt, Leipzig: Brockhaus, ²1923 [1922], vor S. 233 und nach S. 288; „Deutsches Kolonistengehöft in Joinville“ von der Hamburg-Amerika-Linie, 1920er Jahre (?), aus Ross, Colin: Das Buch der Fernen Welt: Asien – Afrika – Australien – Amerika, Berlin: Paul Franke, 1931, S. 282; die Fotografien „Bilder aus dem deutschen Kolonisationsgebiet im Staat Espirito Santo in Brasilien“ von Otto Maull, 1910er Jahre (?), aus Nordenskjöld, Otto: Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit. Natur/Mensch/Wirtschaft, übers. v. Ignaz Schlosser, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1927 [schwed. 1923: Människor och Natur i Sydamerika], Abb. 62 und 63, vor S. 177; die Fotografien „Neue deutsche Kolonisten in der Blumenauer Hansa“, „Neu angesiedelte deutsche Kolonisten in Sta. Catharina (Joinviller Hansa)“, „Stadtplatz Blumenau“ und „Charakteristisches deutsches Kolonistenanwesen in Sta. Catharina“, Fotograf unbekannt, um 1900/05 (?), aus Wettstein, Karl Alexander: Brasilien und die deutsch-brasilianische Kolonie Blumenau, Leipzig: Engelmann, 1907, Abb. 4, S. 47, Abb. 9, S. 73, Tafel XV, zwischen S. 130 u. 131 und Tafel XVI, vor S. 135; weiterhin zahlreiche Fotografien, z.B. „Kolonisten-Paar. Pommerscher Typus“, „Kolonisten-Paar. Rheinischer Typus“, „Pommersche Familie“, „Wohnhaus in einer neuen deutschen Pikade“, „Eingewanderte Deutsche nach 40jährigem Aufenthalt in der Kolonie Santa Cruz“ und „Deutsche Schule und Straße zu Blumenau“, Fotograf unbekannt, 1893/95, aus Funke, Alfred: Aus Deutsch-Brasilien: Bilder aus dem Leben der Deutschen im Staate Rio Grande do Sul, Leipzig: Teubner, 1902, hier S. 68,

136 Eine ähnliche Bildpostkarte gibt es auch aus Chile: „Gruss aus Corral“, Verlag: L. Köber, Valdivia, gelaufen 23.12.1897, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1968/320/40.

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69, 146, 130, 284 u. 228. Vgl. weiterhin die Karte „Die deutschen Kolonien in Süd-Brasilien“, aus Müller-Baden, Emanuel (Hg.): Bibliothek allgemeinen und praktischen Wissens für Militäranwärter (Bd. 1), Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart: Deutsches Verlaghaus Bong & Co, 1905, zitiert nach Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kolonien_Suedbr asilien.png [26.08.2018].

Abbildung 69: Bildpostkarte „Lembrança de São Francisco, Brazil. Gruss aus Brasilien“, Verlag: Hugo Quidde, Joinville, datiert 14.04.1910, gelaufen (Poststempel unleserlich), SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1998/84-19.

BILDER VOM SCHEITERN Viele Beiträge priesen die Möglichkeiten, die sich deutschen Auswanderern in Südamerika und besonders in Brasilien böten. Jedoch gab es auch kritische Stimmen, die von den Härten berichteten, mit denen die Auswanderer konfrontiert waren und die davor warnten, das Auswandern allzu leicht zu nehmen. Ohne Fleiß, harte Arbeit und die Bereitschaft, vor allem in den ersten Jahren Entbehrungen auf sich zu nehmen, würde der Schritt nicht von Erfolg gekrönt sein. Auch ein gutes Startkapital sei unabdingbar, denn nur so sei die wichtigste Voraussetzung für die Erfüllung des Traums von der „eigenen Scholle“, den viele hegten, gegeben: der Erwerb von gutem Land. Colin Ross stellte in Südamerika, die aufsteigende Welt vehement fest: „Den deutschen Einwanderern bieten sich unbegrenzte Möglichkeiten, aber erst dann, wenn die sehr schwierige Vorbedingung erfüllt ist: die Beschaffung von Land, Land und nochmals Land.“137

137 Ross, Südamerika, die aufsteigende Welt, S. 48. Vgl. für Warnungen vor Auswanderung auch Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, S. 244.

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Selbst dann jedoch blieben viele Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten, wie beispielsweise in einem Dialog zwischen den beiden Protagonisten, dem Ich-Erzähler Fritz und seinem Freund Wilm in Peter August Stallers 1937 erschienener Erzählung Zwei Deutsche im Urwald deutlich wird. Bevor sie sich als Kolonisten niederließen, „tippelten“ die beiden in Brasilien, immer auf der Suche nach Anstellung. Nach einem Aufenthalt bei einem deutschen Kolonisten am Rio Uruguay bemerkt Fritz: „,Denk mal an, Wilm. In vier Jahren hat der Deutsche sich ein Eigentum geschaffen. Zu Hause wäre er wohl nie so weit gekommen. Heute ist er sein eigener Herr und von niemandem mehr abhängig.‘ Da bleibt Wilm stehen: ‚Quatsch! Eigentümer ist der Landsmann vorläufig noch lange nicht. Er hat seinem Vorgänger nur die Rechte abgekauft. Billig war’s ja. Mit den Jahren kommt die Vermessung. Weiß er denn, ob die Grenzen, die jeder sich nach Gutdünken gesteckt hat, mit der späteren Messung übereinstimmen? Weiß er denn, was der Staat später für einen Landpreis macht? Der kann hoch, der kann niedrig ausfallen. Nun richte dich mal so allmählich ein, wie der Landsmann das tut, und später läuft die Grenze womöglich durch deine Bude, durch dein urbar gemachtes Land. Dein Nachbar wird dir keine Entschädigung zahlen, der Staat auch nicht. Er hat dich ja nicht gerufen. Du bist darauf gekrabbelt und mußt es nun nehmen, wie man es dir zumißt. Und wenn du mitten herausfällst, mußt du’s auch zufrieden sein. Was hat denn der Mann von seinem Leben? Möchtest du unter solchem Volk wohnen? Wo schickt der Mann später seine Kinder zur Schule? Wie mag’s seiner Frau wohl manchmal zumute sein? Nicht mal ’ne Zeitung hat er, weil er sonst jede Woche zwei Tage verlieren würde, bis er die herangeschleppt hat. Nee! Für so ein Leben danke ich. […]‘“138

Grund und Boden erwarben viele Auswanderer von privaten Kolonisationsbüros, von denen nicht alle ihr Geschäft ehrlich betrieben. Gedult von Jungenfeld etwa beschrieb, wie Einwanderer mit Versprechungen von solchen Gesellschaften dazu verführt wurden, unbesehen ungeeignetes Land im Urwald zu erwerben und wie sie sich bei den Unternehmen verschuldeten, indem sie Vorschüsse annahmen. Viele mussten schließlich aufgeben und versuchten, sich in Buenos Aires und anderen Großstädten als Tagelöhner zu verdingen.139 Der Autor berichtete freimütig auch von seinem eigenen Scheitern, obwohl er nach dem Ersten Weltkrieg nicht leichtsinnig, sondern ausgestattet mit ausreichend Kapital, profunden Kenntnissen über die Verhältnisse in Südamerika und des Spanischen mächtig ausgewandert war. Gedult von Jungenfeld war in Paraguay aufgewachsen und als Kriegsfreiwilliger ins Deutsche Reich gegangen. Nach dem Krieg diente er zunächst bei den Freikorps und wanderte dann mit seiner Frau nach Südamerika aus. Inflation und die Wirtschaftskrise der 1920er Jahre vereitelten jedoch ihre Pläne, sich eine Existenz aufzubauen. Nach mehreren fehlgeschlagenen Unternehmungen kam Gedult von Jungenfeld beim Zirkus Sarrasani un-

138 Staller, Zwei Deutsche im Urwald, S. 29-30. Tatsächlich gehen Wilm und Fritz dann aber genau diesen Weg. 139 Gedult von Jungenfeld, Ein deutsches Schicksal im Urwald, bes. S. 175-181.

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ter, der von 1923 bis 1925 in Südamerika gastierte. 140 Dort verdiente er genug, um ins Deutsche Reich zurückzukehren. Berichte von gescheiterten Auswanderern und ihren z.T. tragischen Schicksalen (Alkoholismus, Vagabundentum, Verwahrlosung) finden sich auch in den Abenteuererzählungen Donats, Stallers141 und anderer oder – eingedenk deren zweifelhaften Wahrheitsgehaltes vielleicht beweiskräftiger – im Reisebericht von Richard Katz, der ein genauer Beobachter und gewissenhafter Berichterstatter war. In Santiago de Chile traf er drei deutsche Familien, die den großen Versprechungen eines chilenischen Agenten Glauben geschenkt hatten. Ihre Auswanderung war jedoch in einem Desaster geendet und sie versuchten, von der deutschen Gesandtschaft die Mittel für die Rückkehr zu erhalten. Im Osten Perus traf er einen Bewohner der deutsch-tirolerischen Siedlung Pozuzo, den er folgendermaßen wiedergab: „Seit fünfzig Jahren arbeiten Deutsche in Pozuzo und kommen nicht hoch. Inzucht und Kröpfe und Fieber und Klatsch. – Sie sollten das Elend einmal sehen! Und immer wieder rücken welche nach… Warnen? Versuchen Sie es! Ich warne nicht mehr! ‚Ärger als daheim kann es nicht sein‘, sagen sie… Na, den Glauben werden sie bald los! Schon auf dem Weg hier durch den Wald. Ist noch niemandem geglückt hier ohne Geld. Wer nicht die ersten tausend Soles mitbringt, der kriegt sie nie… Und wer sie mitbringt, kauft gebrochenes Land. Wer den Wald selber bricht, geht vor die Hunde…“142

Diese und andere kritische Stimmen (darunter etwa auch Gunther Plüschow) knüpften in den 1910er und 1920er Jahren an skandalisierende Berichte aus den 1850er Jahren über die Lebensbedingungen deutscher Auswanderer in Brasilien an. 143 Deut-

140 Vgl. die Fotografie „Lastautomobile Sarrasanis auf dem Weg von Santos hoch hinauf nach São Paolo“, Fotograf unbekannt, 1923/25, aus Gedult von Jungenfeld, Ein deutsches Schicksal im Urwald, vor S. 225 sowie die fünf oder sechs Hefte von Mit Sarrasani in Südamerika, hg. v. Hans Stosch-Sarrasani, div. Aufl., Dresden: Selbstverlag, [19231928]. 141 Der historische Hintergrund sowohl für Donats als auch Stallers Erzählungen ist die Wirtschaftskrise der 1920er Jahre. Donat berichtete in An Lagerfeuern deutscher Vagabunden von seinem Leben als „Tippelbruder“ in Argentinien und Paraguay, wo er keine dauerhafte Arbeit fand. Auch der Ich-Erzähler Fritz und sein Freund Wilm, die beiden Protagonisten in Stallers Erzählung Zwei Deutsche im Urwald, „tippelten“, bevor sie sich als Kolonisten niederließen, in Brasilien, immer auf der Suche nach Anstellung. Dass sowohl Fritz und Wilm als auch Donat immer wieder mittellos waren, lag neben der allgemeinen schlechten wirtschaftlichen Lage und fehlender Arbeit auch an Pech und – so klingt es mindestens zwischen den Zeilen an – an einem verschwenderischen Leben, das die Männer führten, wenn sie einmal Geld hatten. Besonders deutlich schilderte Löhndorff in Blumenhölle am Jacinto, wie er sein als Kautschuksammler und Orchideenjäger hart verdientes Geld in kürzester Zeit mit Alkohol und Prostituierten durchbrachte. 142 Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, S. 70-71. Vgl. die Schilderung der Begebenheit in Santiago ebd., S. 158-162. 143 Vgl. z.B. Schonegger, Erlebnisse eines deutschen Kolonisten im brasilianischen Urwald und 1850 schon Pfeiffer, Eine Frauenfahrt um die Welt, S. 55-56.

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sche und andere Einwanderer sollten die Sklaven auf den Plantagen ersetzen. 1859 reagierte die preußische Regierung und Handelsminister von der Heydt verbot, für die Auswanderung nach Brasilien zu werben. (Fälschlicherweise wird das 1897 nicht zuletzt wegen seiner Wirkungslosigkeit wieder aufgehobene Edikt oft als Auswanderungsverbot interpretiert.)144 Doch nicht nur vor der Auswanderung nach Brasilien, auch vor der in andere Länder Südamerikas wurde schon im 19. Jahrhundert gewarnt. In zwei im Deutschen Reich publizierten satirischen Arbeiten, Das Paraguayfieber: Eine kolonial-pathologische, satirisch-kritische Abhandlung und Kolonialverein und Paraguayschwindel: Ein Lehrbüchlein für Kolonialgimpel und solche, die es werden wollen,145 warnte C.F.E. Schultze in den 1890er Jahren vor schwärmerischen Kolonialutopien, dem Gedanken deutscher kultureller Überlegenheit und der Vorstellung, dass sich diese in Südamerika einfach wirtschaftlich umsetzen ließe und bare Münze bringe. Vielmehr betonte er – realistischer als andere – die wirtschaftlichen und strukturellen Schwierigkeiten, auf die Einwanderer treffen würden. Schultze, der lange selbst am La Plata lebte, wandte sich auch gegen konkrete Ansiedlungspläne und -projekte, wie es sie immer wieder gab. Auch andere warnten im Deutschen Reich eindringlich vor Unternehmungen wie der des Deutschnationalen, Antisemiten, Wagnerianers und Vegetariers Bernhard Förster (1843-1889).146 1886/87 gründete dieser zusammen mit seiner Frau Elisabeth (1846-1935), der Schwester von Friedrich Nietzsche, knapp 150 Kilometer nördlich von Asunción die „Kolonie“ NeuGermania. Dort wollte er seine wirre völkische Utopie verwirklichen. 147 Doch das groß angelegte Projekt scheiterte an wirtschaftlichen Schwierigkeiten und weil Förster zu wenig „Kolonisten“ für sein Vorhaben gewinnen konnte. 1889 beging Förster angesichts des bevorstehenden Scheiterns seiner „Kolonie“ Selbstmord. Nach seinem Tod übernahm zunächst eine Aktiengesellschaft die „Kolonie“, die noch heute unter dem Namen Nueva Germania besteht und wo auch noch Deutschstämmige leben. Diese allerdings stehen vor großen wirtschaftlichen Problemen und auch Inzucht bedroht die Zukunft der Gemeinde.148

144 Vgl. knapp Meding, Von der Heydt’sches Reskript und zu den harten Lebensbedingungen deutscher und anderer Auswanderer in Brasilien ausführlicher Wagner, Arbeitsmigranten aus Deutschland sowie Ziegler, Schweizer statt Sklaven. 145 Schultze, Das Paraguayfieber und ders., Kolonialverein und Paraguayschwindel. 146 Vgl. Klingbeil, Enthüllungen über die Dr. Bernhard Förster’sche Ansiedelung Neu-Germanien. 147 Vgl. zeitgenössisch Förster, Deutsche Colonien in dem oberen Laplata-Gebiete und Förster-Nietzsche, Dr. Bernhard Försters Kolonie Neu-Germania sowie Kraus, Bernhard Förster und seine Siedlung Nueva Germania; Fischer, Images from the Colony Nueva Germania und Salmi, Die Sucht nach dem ‚germanischen Ideal‘. 148 Vgl. Glüsing, Das Erbe von Nueva Germania und Kober, In, um und um Germanistan herum.

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Abbildung 70a+b: Bildpostkarte „Porto Alegre“, Verlag: Jorge Ellert, Porto Alegre, gelaufen 11.10.1913, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1965/356-103. Vgl. dagegen für Ansichten Porto Alegres als einer modernen Hafenstadt die Fotografien „Straßenbild: Porto Alegre“, Fotograf unbekannt, vor 1902, aus Funke, Alfred: Aus Deutsch-Brasilien: Bilder aus dem Leben der Deutschen im Staate Rio Grande do Sul, Leipzig: Teubner, 1902, S. 44; „Porto Alegre in Rio Grande do Sul und die Lagune dos Patos“ von Virgilio Calegari, 1900er Jahre (?), aus Sievers, Wilhelm: Süd- und Mittelamerika (Allgemeine Länderkunde, Bd. 3b), 3., neubearb. Aufl., Leipzig 1914, vor S. 209 und „Teilansicht von Porto Alegre, Hauptstadt des Staates Rio Grande do Sul. Flugzeugaufnahme“, Fotograf unbekannt, frühes 20. Jh., aus Rohrbach, Paul: Das Deutschtum über See, Karlsruhe: Schille & Co., 1930, Abb. 36, zwischen S. 144 u. 145.

In Bildmedien wurden die Härten des Auswandererlebens und das daraus resultierende drohende Scheitern eher selten aufgegriffen. Eine Ausnahme stellt in dieser Hinsicht eine Bildpostkarte im Archiv des Altonaer Museums in Hamburg dar (Abb. 70). Es handelt sich dabei um eine wirklich bemerkenswerte und ungewöhnliche

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Quelle. Die von Jorge Ellert, Inhaber der Livraria Commercial in Porto Alegre, herausgegebene Bildpostkarte wurde im Oktober 1913 an Alma Tangermann (fälschlicherweise als Herr tituliert, vermutlich war die Karte zunächst für jemand anderen gedacht) vom Altonaer Fußballclub von 1893 im preußischen Altona bei Hamburg gesandt. Der oder die Absenderin, über den oder die nichts weiter bekannt ist, vermutlich handelt es sich um jemanden, der kürzlich ausgewandert war oder der zumindest für einige Zeit in Porto Alegre verweilte bzw. verweilen musste, bedankte sich zunächst für die „schöne Photo-Karte“, die ihm Alma Tangermann aus bzw. von einem Café daheim gesandt hatte, um dann fortzufahren: „So was gibt’s hier nicht. Hier ist alles besch…!“ Und dass das in Porto Alegre so war, konnten die Betrachter der Bildpostkarte auch sehen. Das auf der Bildseite reproduzierte Foto zeigt eine ärmliche und eine im Bau befindliche Hütte am Rande des Urwaldes, dem durch Rodung gerade ein noch eher unwirtlich scheinendes Stück Land abgerungen wurde. Dass es dort kein schönes Café gibt, glaubt man dem Absender oder der Absenderin sofort. Verwunderlich ist neben dem Motiv auch die dazugehörige Bildunterschrift, die auf Porto Alegre verweist und die südbrasilianische Stadt, die zu der Zeit mehr als 100.000 Einwohner hatte, so als ärmliches Nest im Urwald präsentiert. Warum wählte der Herausgeber keine genauere Unterschrift à la „neu entstehende Siedlung in der Nähe von Porto Alegre“ und hob sich die Identifizierung als Porto Alegre für Bilder von Parks, Straßenzügen und anderen Ansichten einer modernen Hafenstadt auf? Es wird wohl kaum Ellerts Absicht gewesen sein, eine Bildpostkarte speziell für enttäuschte Auswanderer herauszugeben und so ein Geschäft mit einer bis dahin von Postkartenverlegern vernachlässigten Klientel zu machen. Am ehesten ist noch an eine Visualisierung des Pioniergeistes, den Auswanderer benötigten, zu denken und an eine Visualisierung des Entstehens und Aufbaus. Obwohl die Fotografie der roh zusammengezimmerten, zugigen und sicher nicht regendichten Hütte eines deutschen Siedlers im Urwald oder die des ärmlichen Anwesens eines deutschen Siedlers am Rio do Sul bei Blumenau, die in Otto Nordenskjölds Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit bzw. 1930 in Paul Rohrbachs Das Deutschtum über See publiziert wurden, (Abb. 71 und 72) einen ähnlich schlechten Eindruck von den dürftigen Verhältnissen für Auswanderer in Südamerika vermittelt, wie manche der oben abgebildeten Fotografien von der harten körperlichen Arbeit, die Auswanderer erwartete, waren solche Bilder selten. Und der Eindruck, den sie vermittelten, war auch nicht zwangsläufig negativ: Menschen auf der (gedanklichen) Flucht vor europäischer Zivilisation und Dekadenz und auf der Suche nach Abenteuern und einem einfachen Leben betrachteten gerade diese Bilder vermutlich eher sehnsüchtig. Üblicherweise wurden die Bedenken bezüglich infrastruktureller Rückständigkeit, politischer Instabilität, des tropischen Klimas – ein wichtiger Faktor in der Diskussion um die deutschen Kolonien in Afrika 149 – oder der De-

149 Vgl. zeitgenössisch Virchow, Acclimatisation, der wegen der Klimafrage den Kolonialismus ablehnte, sowie zum Entstehen der Klimatheorien das Kap. „Die Herrschaft des Klimas und die Beherrschung der Welt: Montesquieus Anthropogeographie“ in: Kohl, Entzauberter Blick, S. 109-120 und allgemeiner zur Geschichte der Klimatheorien Stehr/ Storch, Climate Works. Den Zusammenhang von Klimatheorien und deutschem Kolonialismus behandeln z.B. Kundrus, Moderne Imperialisten, S. 162-173 oder Grosse, Koloni-

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generation und „Verkafferung“ von Deutschen als Resultat ihrer Vermischung – auch dies war ein wichtiger Aspekt deutscher Kolonialpolitik in Afrika150 – mit Indigenen und Mestizen in Text- und Bildmedien ausgeblendet, marginalisiert oder, wie erwähnt, z.B. mit Bildern südamerikanischer „Modernität“ zu widerlegen versucht. Für den informellen deutschen Kolonialismus in Südamerika sprach zudem, dass er, im Unterschied zu den enormen Kosten, die der Unterhalt der Kolonien in Afrika und im Pazifik mit sich brachte, nichts kostete – außer mehr oder wenigen wertvollen Arbeitskräften. Tatsächlich warnten einige zeitgenössische Stimmen, dass diejenigen, die auswanderten, zu den Stärksten gehören würden und das Deutsche Reich den Schwachen überlassen werde. Sie befürchteten einen „Verlust an ‚Volkskraft‘“. 151 Bei aller Kritik überwog in Text- und Bildmedien jedoch bei Weitem die Bejahung der deutschen Auswanderung nach Südamerika. Allerdings verbanden viele Autoren ihre Befürwortung mit Warnungen davor, überstürzt und mit zu hohen Erwartungen bezüglich schnellen Erfolges und Reichtums auszuwandern. Hans Schmidt schrieb im Vorwort zu Meine Jagd nach dem Glück: „‚Ein Buch zum Abschrecken und Lustmachen‘ möchte ich beinahe diese Blätter nennen […] Zum Abschrecken für alle, die nicht, wenn’s not tut, mit harter schwieliger Faust arbeiten können und wollen, zum Lustmachen für alle, die es sich zutrauen, das Leben wie ein unbändiges Pferd mit festem Schenkel und unerschrockenem Mut zu meistern.“ 152

In eine ähnliche Richtung ging die Warnung, die Franz Donat seiner Erzählung Paradies und Hölle voranschickte: „Eine besondere Bitte möchte ich noch einschalten. Da ich oft sehr warm für Brasilien eintrete, […] so könnte vielleicht mein Buch für ein Propagandawerk gehalten werden, das die Leser nach Brasilien locken soll. Ich bin jedoch der Letzte, der zum Auswandern rät, denn ein halbes Dutzend Jahre gehen meist als schwere Lehrzeit dem Auswanderer im fremden Land verloren,

alismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft, S. 53-95. Auch mit Blick auf Südamerika gab es Bedenken, ob abgesehen von Südbrasilien mit seinen gemäßigten klimatischen Bedingungen die Errichtung „deutscher Kolonien“ im tropischen Klima möglich sei. Vgl. einen Diskussionsbeitrag von Alfred Funke in Staudinger (Hg.), Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1902, S. 674. Vgl. zum Beginn der Erforschung der den Europäern fremden amerikanischen Klimata im 16. und 17. Jahrhundert den Aufsatz von White, Unpuzzling American Climate, der neben der Frage nach dem Vorhandensein der Nordwestpassage und den unerwartet harten klimatischen Bedingungen in den ersten britischen Kolonien in Nordamerika auch die Frage nach der Bewohnbarkeit der Tropen behandelt. 150 Vgl. z.B. Onken, „Wir sind Deutsche, wir sind Weiße und wir wollen Weiße bleiben!“ und ausführlich Axster, Die Angst vor dem Verkaffern. Für die Situation v.a. in Indien, Australien oder Südafrika vgl. z.B. zuletzt Kundrus, Transgressing the Colour Line sowie Stoler, Carnal Knowledge and Imperial Power. „Who bedded and wedded whom in the colonies of France, England, Holland, and Iberia was never left to chance.“ Ebd., S. 47. 151 Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, S. 231. 152 Schmidt, Meine Jagd nach dem Glück in Argentinien und Paraguay, S. 3.

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und nicht wenige haben in der alten Heimat manches im Stiche gelassen, was sie in der neuen niemals finden werden. Nur der, dem die Heimat nichts bieten kann, soll sein Glück in der Fremde versuchen; und auch nur dann, wenn er genügend Willenskraft besitzt und den Drang zu einem neuen Leben in sich spürt, da er sonst keinen festen Fuß fassen wird und voraussichtlich nach kürzerer oder längerer Zeit dem Land seiner Sehnsucht verbittert den Rücken kehrt.“153

Abbildung 71: Fotografie „Hütte eines alten deutschen Ansiedlers: Hazienda Germania am unteren Pangoafluß“ von George Miller Dyott, um 1920, aus Nordenskjöld, Otto: Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit. Natur/Mensch/Wirtschaft, übers. v. Ignaz Schlosser, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1927 [schwed. 1923: Människor och Natur i Sydamerika], Abb. 42, zwischen S. 128 und 129.

Donats Wendung, nur der, dem die Heimat nichts bieten könne, solle sein Glück in der Fremde versuchen, mochte neben dem vielleicht wichtigsten unter den „push“Faktoren, der hohen Arbeitslosigkeit und der schlechten wirtschaftlichen Aussichten in der Weimarer Republik, vielleicht auch auf die politische Lage gemünzt sein. Donat war ebenso deutschnational eingestellt, wie z.B. Gedult von Jungenfeld oder der Alldeutsche Karl Alexander Wettstein und viele andere bislang vorgestellte Akteure. Auch die im ersten Kapitel behandelten Forscher Hans Hinrich Brüning, Robert Lehmann-Nitsche und August Weberbauer waren erzkonservative Antirepublikaner. Brüning beklagte sich in einem Brief im August 1919 bei Lehmann-Nitsche: „[I]ch habe moralisch viel gelitten: erst Geldverluste, dann der Krieg und zuletzt, um dem Unglücke die Krone aufzusetzen, die Verwandlung unseres Vaterlandes aus einem

153 Donat, Paradies und Hölle, S. VIII.

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monarchischen Musterstate [sic!] in ein republikanisches Chaos; dazu kommt auch noch das Alter!“154

Abbildung 72: Fotografie „Deutsche Ansiedler am Rio do Sul, oberhalb Blumenau, Staat Santa Catharina“, Fotograf unbekannt, frühes 20. Jh. (?), aus Rohrbach, Paul: Das Deutschtum über See, Karlsruhe: Schille & Co., 1930, Abb. 67, nach S. 204.

Eventuell abgesehen von der Bemerkung über das Altwerden dürfte Brünings Klage beim Empfänger auf vollste Zustimmung getroffen sein. Im Nachlass LehmannNitsches findet sich bei dem Brief ein Artikel aus der bonaerensischen Zeitschrift La Razón vom 3. Oktober 1919; eine Abbildung zeigt das berühmte Foto von Reichspräsident Friedrich Ebert und Reichswehrminister Gustav Noske beim Baden in Haffkrug an der Ostsee. Lehmann-Nitsche kommentierte handschriftlich: „Solche Geschmacklosigkeit ist bezeichnend für die Kerle, welche jetzt ‚regieren‘! Aber vielleicht wollten sie damit beweisen, dass sie sich auch gelegentlich mal baden…“155 Das Gefühl, es in Südamerika – und sei es dort noch so hart – doch ganz gut getroffen zu haben, brachte auch August Weberbauer (der sich an selber Stelle bitter darüber beschwerte, wie er in Peru behandelt würde) 1923 in einem Brief an Uhle zum Ausdruck:

154 Brief von Hans Heinrich Brüning an Robert Lehmann-Nitsche in Buenos Aires, Lambayeque, 31.08.1919, Bl. 5, Nachlass Robert Lehmann-Nitsche, Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signatur N-0070 b 75. 155 Artikel aus La Razón, 03.10.1919, Bl. 7, Nachlass Robert Lehmann-Nitsche, IberoAmerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signatur N-0070 b 75. Vgl. weiter Levasier, Ein Reichspräsident „geht baden“.

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„An Deutschland ist nicht mehr zu denken bei den trostlosen Verhältnissen, die dort herrschen, und die sich wohl noch verschlimmern werden. Ich habe dort noch viele Beziehungen und versuchte unterzukommen, sobald der Krieg beendet war. Die Antwort lautete: ‚Seien Sie froh, dass Sie dort sind. Wir beneiden Sie!‘“156

Auch in diesem Zitat wird deutlich, dass mit Südamerika, dem „Zukunftsland der Menschheit“, ökonomische Möglichkeiten und soziale Perspektiven assoziiert wurden und dass der sehnsüchtige Blick auf Südamerika geprägt war von vielen Facetten der Vorstellung von Freiheit. Neben der Idee von Erfolg und sozialem Aufstieg gehörten dazu, wie erwähnt, Abenteuer, Glück und persönliche Erfüllung. Eine weitere, besondere Facette des sehnsüchtigen Blickes auf Südamerika und seine Freiheit(en) waren außerdem erotische und sexuelle Fantasien, die durch entsprechende Bilder geweckt und bedient wurden.

EROTISCHE FANTASIEN UND SEXUELLES VERLANGEN Manche der Fotos, die Forscher machten, transzendieren das epistemische System; ihnen wohnt ein „Mehr“ inne. Viele dieser Bilder zeigen – den Anforderungen an wissenschaftliche Fotos entsprechend – nackte oder fast nackte „Indianer“. Sie zeichnen sich durch eine besondere Ambivalenz aus. Sie „funktionierten“, wie im vorigen Kapitel beschrieben, als wissenschaftliche Fotos, sie weckten aber auch Emotionen. Denn bei vielen Zeitgenossen „wirkte“ die Nacktheit auf den Bildern erotisch, sie weckte sexuelle Fantasien. Die Verbreitung „unzüchtige[r] Schriften, Abbildungen oder Darstellungen“ war im Deutschen Reich zum Schutz des Schamgefühls per Reichsgesetz verboten.157 Die Darstellung der Nacktheit wurde nur in bestimmten künstlerischen und wissenschaftlichen Kontexten toleriert. Nach einem vielbeachteten Prozess gegen einen Berliner Zuhälter geriet 1900 mit der Verschärfung der strafrechtlichen Bestimmungen für Sittlichkeitsdelikte durch die sogenannte Lex Heinze sogar die Freiheit der Kunst in Gefahr; die Kunst- und Theaterparagrafen konnten jedoch nach Protesten von liberalen und sozialdemokratischen Künstlern, Intellektuellen und Politikern entschärft bzw. sogar verhindert werden.158 Trotzdem kam es in den folgenden Jahren und sogar

156 Brief von August Weberbauer an Max Uhle in Cuenca, Lima, 08.01.1923, S. 2, Nachlass Max Uhle, Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signatur N0035 b 397. Für Weberbauers Klagen darüber, wie er in Peru behandelt würde, s. Kap. 1. 157 Vgl. § 184 des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich von 1871, Wikisource, http:// de.wikisource.org/wiki/Strafgesetzbuch_f%C3%BCr_das_Deutsche_Reich_%281871%2 9 [26.08.2018]: „Wer unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen verkauft, vertheilt oder sonst verbreitet, oder an Orten, welche dem Publikum zugänglich sind, ausstellt oder anschlägt, wird mit Geldstrafe bis zu Einhundert Thalern oder mit Gefängniß bis zu sechs Monaten bestraft.“ 158 Vgl. knapp Luxemburg, Um die Beute und Unbekannt, Im Namen der Sittlichkeit sowie ausführlich Meyer, Der Kampf um die öffentliche Sittlichkeit im Deutschen Kaiserreich. Vgl. weiterhin das Gesetz, betreffend Aenderungen und Ergänzungen des Strafgesetz-

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Jahrzehnten zu zahlreichen Prozessen um Ausstellungen oder Veröffentlichungen, die im Verdacht standen, das Schamgefühl zu verletzen. Davon betroffen waren auch wissenschaftliche Zeitschriften wie z.B. die Anthropophyteia, auf die später genauer eingegangen wird, und auch noch sexualreformerische Zeitschriften in den 1920er Jahren. Trotz der Drohung strafrechtlicher Verfolgung gab es schon im 19. Jahrhundert im Kaiserreich unter der Theke einschlägiger Geschäfte illegal Aktfotos und -zeichnungen, „erotische“ Bildpostkarten unterschiedlicher Couleur, viele davon herausgegeben von tatsächlichen oder vermeintlichen Pariser Verlagen, und auch explizite pornografische Bilder zu erwerben. Das Angebot war immens: Allein von Mitte 1904 bis Mitte 1905 konfiszierte die Münchener Polizei 18.000 erotische Fotos und 613 verschiedene Postkarten, die zumeist Genitalien und Schambehaarung zeigten; Ende 1910 und Anfang 1911 beschlagnahmte die deutsche Polizei insgesamt etwa eine halbe Million „obszöner“ Bildpostkarten.159 Entsprechende Angebote gab es in den meisten europäischen Ländern, etwa in England, wo schon in den 1850er und 1860er Jahren Debatten um „obscene“ oder „indecent images“ geführt wurden und wo ebenfalls hunderttausende erotische und pornografische Bilder und Schriften von der Polizei beschlagnahmt wurden.160 Auch in Russland gab es ein Angebot an erotischen

buchs von 1900, Wikisource, http://de.wikisource.org/wiki/Gesetz,_betreffend_Aenderun gen_und_Erg%C3%A4nzungen_des_Strafgesetzbuchs [26.08.2018]. Die neuen Bestimmungen des § 184 lauteten: „Mit Gefängniß bis zu Einem Jahre und mit Geldstrafe bis zu eintausend Mark oder mit einer dieser Strafen wird bestraft, wer 1. unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen feilhält, verkauft, vertheilt, an Orten, welche dem Publikum zugänglich sind, ausstellt oder anschlägt oder sonst verbreitet, sie zum Zwecke der Verbreitung herstellt oder zu demselben Zwecke vorräthig hält, ankündigt oder anpreist; 2. unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen einer Person unter sechzehn Jahren gegen Entgelt überläßt oder anbietet; 3. Gegenstände, die zu unzüchtigem Gebrauche bestimmt sind, an Orten, welche dem Publikum zugänglich sind, ausstellt oder solche Gegenstände dem Publikum ankündigt oder anpreist; 4. öffentliche Ankündigungen erläßt, welche dazu bestimmt sind, unzüchtigen Verkehr herbeizuführen. Neben der Gefängnißstrafe kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte sowie auf Zulässigkeit von Polizei-Aufsicht erkannt werden. §. 184a.Wer Schriften, Abbildungen oder Darstellungen, welche, ohne unzüchtig zu sein, das Schamgefühl gröblich verletzen, einer Person unter sechzehn Jahren gegen Entgelt überläßt oder anbietet, wird mit Gefängniß bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark bestraft. §. 184b. Mit Geldstrafe bis zu dreihundert Mark oder mit Gefängniß bis zu sechs Monaten wird bestraft, wer aus Gerichtsverhandlungen, für welche wegen Gefährdung der Sittlichkeit die Oeffentlichkeit ausgeschlossen war, oder aus den diesen Verhandlungen zu Grunde liegenden amtlichen Schriftstücken öffentlich Mittheilungen macht, welche geeignet sind, Aergerniß zu erregen.“ 159 Vgl. Stark, Pornography, Society, and the Law in Imperial Germany, S. 208. 160 Vgl. z.B. knapp Rowley, Open Letters, S. 108 und Jäger, Gesellschaft und Photographie, S. 200-205 sowie ausführlich Sigel, Governing Pleasures. Aus der reichen Literatur zu

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und pornografischen Bildpostkarten, die als „französisch“ wahrgenommen wurden. Tatsächlich wurden viele dieser erotischen Karten in Paris produziert, jedoch waren Amsterdam und Rotterdam sowie Antwerpen, Berlin, Genf, Budapest und Barcelona weitere Herstellungsorte.161 Es gab sogar schon früh auch pornografische Filme, deren Produktion wegen der Kosten für Kameras und Filmmaterial allerdings recht teuer war. Die Filme entstanden deshalb oft im Umfeld von offiziellen Filmstudios; viele kamen – angeblich zumindest – aus Frankreich. Gezeigt wurden sie v.a. in Herrenclubs der gehobeneren Gesellschaft.162 (Während das Geschlecht der Betrachter für die Wahrnehmung von Bildern mit dem wissenschaftlichen oder anderen in dieser Arbeit untersuchten Blicken keine oder nur marginale Relevanz hat, handelt es sich beim sexualisierten tatsächlich wohl um einen zuvorderst männlichen Blick. Ähnliches gilt eventuell auch für die Sehnsucht nach Abenteuer.) Die (öffentliche) Darstellung von Nacktheit konnte gegen die rigide, wenn auch in vielen Fällen doppelte, (Sexual-)Moral im Kaiserreich verstoßen.163 So mussten sich z.B. die „Lichtfreunde“ der Freikörperkultur entsprechender Vorwürfe unmoralischer Aktivitäten erwehren.164 Und auch die Bilder der Bademode der Zeit zeigen, dass es den Körper so gut als möglich zu verdecken galt. Als erotisch galten daher nicht nur Fotos und Bildpostkarten gänzlich Nackter, sondern auch schon solche, die ein entblößtes Bein oder einen nackten Rücken zeigten. In den 1920er Jahren, gegen Ende des Untersuchungszeitraumes, änderte sich die Einstellung zu Nacktheit – wenigstens in bestimmten Kreisen. Das lag v.a. daran, dass sexual- und andere lebensreformerische Ideen in der Weimarer Republik zumindest Teile der Öffentlichkeit erreichten und zu einem im Vergleich zum Kaiserreich weniger restriktiven Umgang mit Nacktheit und Sexualität führte.165 Die US-amerikanische Historikerin Dagmar

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Pornografie in England vgl. zuletzt Stoops, Class and Gender Dynamics of the Pornography Trade. Vgl. Rowley, Open Letters, bes. S. 108 u. 121. Vgl. den Dokumentarfilm Von Lust und Laster: Deutsche Sittengeschichte (Teil 1/2: Vom Kaiserreich bis zur braunen Diktatur), Film von Lutz Rentner und Frank Otto Sperlich (Produktion: Noah Film und RBB, Deutschland 2009). Eine nicht sehr aufwändige Internetrecherche zu Begriffen wie beispielsweise „vintage porn“ führt zu zahlreichen Seiten mit entsprechendem Filmmaterial für – sagen wir Liebhaber. Die von mir durchgeführte Recherche führte übrigens zu einem (mindestens im Nachhinein betrachtet) recht amüsanten Dialog mit meiner Partnerin, die plötzlich hinter mir stand, und der mit den Worten: „Ich kann das erklären. Ich muss das machen, das ist für meine Arbeit“ begann. Die andere Seite der Moral, die vergaß, „daß, wenn man dem Teufel die Tür versperrt, er sich meist durch den Rauchfang oder eine Hintertür Einlaß erzwingt“, beschrieb in seinen Memoiren sehr schön Zweig, Die Welt von gestern, Zitat auf S. 77. Das „Fundament des damaligen erotischen Lebens außerhalb der Ehre“ war die Prostitution, „sie stellte gewissermaßen das dunkle Kellergewölbe dar, über dem sich mit makellos blendender Fassade der Prunkbau der bürgerlichen Gesellschaft erhob.“ Ebd., S. 86-87. Vgl. Möhring, Marmorleiber. Zur Sexualreformbewegung vgl. z.B. die Studien von Birken, Consuming Desire und Grossmann, Reforming Sex. Eine hervorragende Studie zur Geschichte der Sexualität ist außerdem nach wie vor Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Eine besondere Sammlung

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Herzog betont jedoch, dass die gemeinhin mit Weimar verbundene sexuelle Liberalisierung bereits um die Jahrhundertwende einsetzte und mitnichten, wie häufig angenommen, mit dem Beginn des Nationalsozialismus abbrach.166 Besonders bis zu den 1920er Jahren, aber durchaus auch noch während der Zeit der Weimarer Republik, befanden sich die von mir untersuchten aus Südamerika stammenden Fotos und Bildpostkarten, die Nacktheit abbildeten, auch primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale, in einem Spannungsfeld zwischen zeitgenössischen Züchtigkeits- und Moralvorstellungen einerseits und wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse andererseits. Dessen waren sich Forscher und Fotografen nicht nur bewusst, sie spielten gar mit der Ambivalenz ihrer Bilder. Bei der Analyse dieser Bilder scheint sich die Frage zu ergeben, was Pornografie eigentlich ist: Was ist ein erotisches Bild, was ein pornografisches? Wann „funktioniert“ ein Bild wissenschaftlich, wann erotisch, wann pornografisch? Wann handelt es sich um Kunst? 167 Die Definitionen von Pornografie in den vorwiegend medien- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema oder in den US-amerikanischen porn studies helfen dabei nicht weiter und sind auch nicht immer überzeugend. 168 Aber für mein Vorhaben ist es gar nicht nötig, eine solche Definition zu liefern, bzw. streng zwischen erotischen und pornografischen Bildern zu unterscheiden. Es reicht, festzustellen, dass manche Bilder nicht nur wissenschaftlich „funktionierten“, sondern auch auf einer sexuellen Ebene wirkten. Wie die Bilder auf dieser Ebene genau genutzt wurden, ob sie die Fantasie anregten oder auch zur unmittelbaren sexuellen Stimulation etwa genutzt wurden, ist unerheblich und im Einzelfall auch nicht herauszufinden. In Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz von 1929 findet sich allerdings ein eindeutiger Hinweis auf eine entsprechende Nutzung zumindest von sexualwissenschaftlichen Bildern: Der Protagonist Franz Biberkopf wird von einem alten Mann überzeugt, sich um die sexuelle Aufklärung verdient zu machen und sexualreformerische Zeitschriften wie Figaro, Die Ehe, Idealehe, Frauenliebe oder Die Ehelosen zu verkaufen. Biberkopf ist skeptisch: „Da kann man sich ja schön informieren. […] Und istn Haken bei.“ Der alte Mann versucht ihn zu beruhigen: „Möchte ich wissen, was da fürn Haken bei sein soll. Da ist alles erlaubt. Da ist nischt verboten. Was ich verkaufe, da hab ich Genehmigung für und da ist kein Haken bei.“ Biberkopf erwidert: „Bilder ankieken ist nichts. Davon kann ich dirn Lied singen. Das verdirbt einen Mann, jawoll, das verpfuscht dich. Mit Bilderankieken fängt es an, und nachher, wenn du willst, dann stehst du da, dann geht’s nicht mehr auf natürliche Art und Weise.“ Der Anreiz, die genannten sexualwissenschaftlichen Zeitschriften zu erwerben, wäre

von Erotika der Weimarer Zeit bietet Gordon, Voluptuous Panic. Vgl. zur Entwicklung der erotischen und der Nacktfotografie in Österreich den Überblick bei Holzer, Rasende Reporter, Kap. 22: „Wenn die Hüllen fallen. Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit“, S. 296-303. 166 Vgl. Herzog, Die Politisierung der Lust. 167 Vgl. dazu knapp Zox-Weaver, Erotic Photography oder Edwards, Pretty Babies. 168 Vgl. etwa die Arbeit des deutschen Medienwissenschaftlers Faulstich, Die Kultur der Pornografie oder den filmwissenschaftlichen Band von Williams (Hg.), Porn Studies. Sehr gelungen sind z.B. die beiden Bände zur Geschichte der Pornografie von Hunt (Hg.), The Invention of Pornography und Sigel (Hg.), International Exposure.

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demnach für viele Leser weniger ein Interesse an sexueller Aufklärung gewesen, als vielmehr ein sexuelles Interesse an den Bildern von Nackten. Der Zeitungsverkäufer macht dies noch deutlicher: „Mensch, du merkst ja was gar nicht, zwei Sachen. […] Wenn mir einer die Zeitung abnimmt, kauft er sie, der behält sie. Wenn da bloß Quatsch drin steht, störts auch nicht, den interessieren ja doch bloß die Bilder.“169 Der Historiker Heiko Stoff betont, dass es in der Debatte um die fotografische Abbildung von Nacktheit auch jenseits der Frage, ob solches verboten gehöre oder nicht, zahlreiche Konfliktlinien gab, etwa zwischen der völkischen und bürgerlichen Körperkulturbewegung, der proletarischen Nacktkultur und der hedonistischen Nacktkultur. Zum anderen betont er, dass sexualisierte weibliche „Konsumkörper“, d.h. z.B. Fotos von gesunden weiblichen Körpern in sexologischen und lebensreformerischen Zeitschriften, von Männern konsumierbar waren: „Ein Kampf um die Recodierung von Sexualität, Jugendlichkeit und Geschlechtlichkeit durchzog den Streit um die richtige Darstellung von Nacktheit. Dass diese Auflösung der bürgerlichen Ordnung durchaus warenförmig geschah und vornehmlich den weiblichen Körper als Schauobjekt für ein männliches Publikum präsentierte, welches Franz Bieberkopf [sic!] wohl nicht zu Unrecht verdächtigte, nach Masturbationsvorlagen zu suchen, pointiert den komplexen Zusammenhang von Pornografie, Patriarchat, Warengesellschaft, Wissenschaft und Moderne.“170

Diese Art der Nutzung von wissenschaftlichen Bildern beschränkte sich nicht auf sexualwissenschaftliche Bilder, sondern galt auch für anthropologische und ethnologische fotografische Darstellungen von Nackten sowie für Völkerschauen. In Zeitzeugenbefragungen, die Hilke Thode-Arora, Expertin für Völkerschauen, in den 1980er Jahren führte, erinnerten sich Besucher an den erotischen Kitzel und dass sie für bestimmte Völkerschau-Teilnehmer geschwärmt hätten.171 Und der Ethnologe Michael Kraus hat in seiner Monografie Bildungsbürger im Urwald aufgezeigt, dass Forscher, die Fotografien von nackten Indigenen von ihren Expeditionen mitbrachten, sich mit dem Vorwurf konfrontiert sahen, es handele sich dabei um pornografisches Material.172 Der Wiener Ethnologe und Sexualwissenschaftler Friedrich Salomon Krauss (1859-1938) musste als Herausgeber der im Folgenden ausführlich vorgestellten folkloristisch-sexualwissenschaftlichen Zeitschrift Anthropophyteia aus demselben

169 Döblin, Berlin Alexanderplatz, S. 75-76, Zitate zuvor auf S. 74. 170 Stoff, Ewige Jugend, S. 364. Vgl. zur Nacktkultur im Deutschen Reich neben Möhring, Marmorleiber auch Wedemeyer, Zum Licht! oder Toepfer, Empire of Ecstasy und für die feministische Kritik am männlichen Blick auf erotische oder pornografische Bilder von Frauen Kappeler, The Pornography of Representation oder Solomon-Godeau, Reconsidering Erotic Photography. 171 Vgl. Thode-Arora, Hagenbeck: Tierpark und Völkerschau, S. 255 sowie Dreesbach, Gezähmte Wilde, bes. S. 170-173. 172 Vgl. Kraus, Bildungsbürger im Urwald, S. 440-450. Vgl. zur pornografischen Nutzung wissenschaftlicher Bilder weiterhin Toepfer, Perverse Erotik und die Vision der ekstatischen Stadt und zum erotischen Blick auf südamerikanische indigene Körper den Versuch von Carreño, Fotografías de cuerpos indígenas y la mirada erótica.

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Grund sogar 1912 einen Prozess in Leipzig und im Jahr darauf einen Prozess in Berlin über sich ergehen lassen.173 Nicht zuletzt wegen dieser Schwierigkeiten wurde die Zeitschrift mit Erscheinen des zehnten Bandes 1913 eingestellt. Die Titelseiten der Ausgaben der Anthropophyteia in der Staatsbibliothek in Hamburg, mit denen ich gearbeitet habe, waren mit einem gestempelten Vermerk „Sekretiert!“ versehen. Bei der Zeitschrift handelte es sich um einen Privatdruck, der nur für Gelehrte und nur zu Forschungszwecken herausgegeben wurde und nicht für den Buchhandel bestimmt war, wie auf der Rückseite des Titels gewarnt wurde: „Ohne Genehmigung des Herausgebers Friedrich S. Krauss wird der Verlag kein Exemplar liefern. Wer in Deutschland die Anthropophyteia öffentlich ausstellt oder verleiht, setzt sich der Gefahr einer Verfolgung aus.“ Robert Lehmann-Nitsche beugte daher wohl zurecht vor, als er die 14 Bildpostkarten der Boggiani-Kollektion, die „den entblössten Körper“ zeigen, als Supplement arrangierte, das offenbar in erster Linie Wissenschaftlern zugänglich sein sollte.174 Wie im vorigen Kapitel ausführlich beschrieben, wurden im Deutschen Reich zahlreiche anthropologische und ethnografische Bilder aus Südamerika publiziert, die nackte, fast nackte oder leicht bekleidete Menschen, zumeist Indigene bzw. als indigen markierte Menschen, zeigten. Und wie ebenfalls erwähnt, gipfelte die Inszenierung von Indigenen in Studiofotografien von vermeintlich echten, wilden, spärlich bekleideten, exotischen Indigenen vor vermeintlich natürlicher Kulisse, die aus heutiger Sicht fast albern zu nennen sind (s.o. Abb. 14). Auf die Herausforderungen, die die Analyse solcher Bilder birgt, wurde bereits verwiesen. Die Grenzen zwischen Wissenschaft und Erotik sind dabei genauso wenig eindeutig zu ziehen, wie es heute bei Kunst und Erotik und sogar Kunst und Pornografie der Fall ist. Auch zeitgenössisch können neben dem Roman Lady Chatterley’s Lover von D.H. Lawrence – die ungekürzte Veröffentlichung des 1928 auf Englisch und 1930 auf Deutsch erschienenen Romans, der der „Stellen“ wegen zensiert wurde, wurde erst 1960 vor einem Schwurgericht in London erstritten175 – fotografische Bilder als Beleg für die fließenden Grenzen zwischen Erotik/Pornografie, Kunst und Wissenschaft herangezogen werden; Guido Boggiani z.B. war, wie im ersten Kapitel erwähnt, ursprünglich Künstler.176

173 Vgl. die Dokumentationen von Krauss, Erotische Zauberwahnprozesse zu Berlin sowie ders., Beiträge zur Geschichte der Anthropophyteia. 174 Lehmann-Nitsche, Sammlung Boggiani von Indianertypen, S. 883. 175 Vgl. Henscheid/Henschel, Jahrhundert der Obszönität, S. 269-272. Noch 1959 wurde auch Günter Grass’ Blechtrommel – durchaus verkaufsfördernd – Obszönität vorgeworfen, „obgleich der dicke Schinken lediglich ein paar diesbezügliche und dünnblütige Kindereien und – Oskars Zeugung – vollvital barock sich spreizende Akademismen vorzeigen konnte“. Ebd. S. 271-272. 176 Gleichermaßen handelt es sich bei dem Motiv der von Rosauer herausgegebenen Bildpostkarte der „Indias Matacas de las cuatro Edades“, das in Carlos Masottas Aufsatz Cuerpos dóciles y miradas encontradas abgebildet ist, um die Adaption eines gängigen Motivs aus der europäischen Kunstgeschichte. Vgl. die Bildpostkarte „Indias Matacas de las cuatro Edades Chaco Salteño Rep. Argentina“, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, nach 1905, ungelaufen, bei Masotta, Cuerpos dóciles y miradas encontradas, Abb.

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Die oben im ersten Kapitel abgebildeten Aufnahmen der Indigenen Tásiga (von der der Betrachter nicht weiß, ob sie im Begriff war, das Tuch zu lösen und ihre Brust zu entblößen, oder sie im Gegenteil ihre Brust besser zu verdecken beabsichtigte, Abb. 10 und 11) und Túgulè (Abb. 9) oder auch Uguchéta, die Lehmann-Nitsche in die Boggiani-Kollektion aufnahm, bieten jenseits der ethnografischen Funktion ebenfalls eindeutig Raum für weitere mögliche Blickweisen und Betrachtungsebenen. Tatsächlich handelt es sich bei den Posen, welche die Frauen auf den Fotos einnehmen überhaupt nicht um wissenschaftlich zweckdienliche Posen, sondern insbesondere im Fall Túgulès und Uguchétas an solche zeitgenössisch „künstlerischer“ Inszenierung. Und tatsächlich war Boggiani ja auch ein wissenschaftlicher Laie – und ursprünglich Künstler. Die von ihm inszenierten „Wilden“ wirkten auf diesen Bildern gar nicht wild und nicht fremd auf zeitgenössische Betrachter. Vielmehr wirkten (und wirken) sie vertraut und freundlich. Ein wichtiges Moment dieser und anderer Bildpostkarten (ebenso wie von einigen veröffentlichten Fotos) ist die Personalisierung, die Individualisierung des (Forschungs-) Objektes durch die Nennung eines Namens, welche die nüchterne wissenschaftliche Darstellung unterläuft. Insbesondere steht sie im Gegensatz zur entindividualisierenden Praxis der Typenfotografie. Dabei ist unerheblich, ob der Name tatsächlich der Name ist, den die Personen von ihren Eltern bekamen bzw. sich selbst gaben oder ob er ihnen vom Fotografen, Forscher, Herausgeber oder Verleger angedichtet wurde: Betrachtern und Lesern kann er das Gefühl einer persönlichen Beziehung vermitteln. Hier kommt der Aspekt des Sammelns, für den Kulturwissenschaftler Jens Andermann ein originärer Akt des Ordnens und Klassifizierens, zum Tragen.177 Ähnlich wie Panini-Bilder heute oder schon zeitgenössisch Sammelbildchen von Lebens- und Genussmittelherstellern oder andere Bildpostkartenserien (samt zugehörigen Alben) eigneten sich auch die Bildpostkarten der Kollektion Boggiani, nicht zuletzt, weil sie durchnummeriert waren, als Sammelobjekte. Im Nachlass Lehmann-Nitsches findet sich das bemerkenswerte Bild eines unbekleideten Mädchens von vielleicht neun oder zehn Jahren und eines kleineren Jungen, eventuell ihres Bruders (Abb. 73). Lehmann-Nitsche erhielt das Foto gemeinsam mit weiteren von Friedrich Christian Mayntzhusen, der in Alto Paraná, Paraguay, eine große estancia besaß und als Laie ethnologische Forschungen anstellte. Auf der Rückseite des Fotos findet sich neben einem Stempel der Colonia Mayntzhusen, Alto Paraná und der handschriftlich notierten Jahreszahl 1911 auch folgende, offenbar von Mayntzhusen stammende, handschriftliche Notiz: „Dieser Käfer ist aus meiner Sammlung, eine Guayaki-Schönheit. Leider ist die Fotografie verunglückt.“ Zudem ist der Name des Mädchens notiert, Vaachú-gi(?). Die Bezeichnung des Mädchens als „Käfer aus meiner Sammlung“ lässt nicht nur an das seltsame Hobby des Käfer-

13 sowie z.B. „Die vier Lebensalter einer Frau“ des deutschen Kupferstechers Daniel Nikolaus Chodowiecki (1726-1801) oder Gustav Klimts (1862-1918) Gemälde „Die drei Lebensalter der Frau“ von 1905. Vgl. weiter z.B. Küster, Der verglichene Körper. 177 Vgl. konzeptionell Andermann, The Optic of the State, bes. S. 12.

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und Insektensammelns denken; 178 „Käfer“ als Synonym für ein reizendes, attraktives Mädchen deutet auch darauf hin, dass es sich nicht um ein rein professionelles Interesse am Forschungsobjekt handelte. „Aus meiner Sammlung“ bedeutet eine „Inbesitznahme“, eine Eroberung.

Abbildung 73a+b: Fotografie „Vaachú-gi“ von Friedrich Christian Mayntzhusen (?), 1911 (?), Nachlass Robert Lehmann-Nitsche, Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signatur N-0070 s 49.

Auch Jens Andermann etwa bestätigt, dass Fotografien Mittel sind, sich Dinge anzueignen. Der Fotograf bzw. der Sammler von Fotografien setze sich „into a certain relation to the world that feels like knowledge – and, therefore, like power“.179 Wie im Folgenden genauer ausgeführt wird, könnte hier weiterhin – wie auch bei anderen mit

178 Der Offizier, Geograf und Entomologe Arnold Schultze (1875-1948) sammelte in Ecuador und Kolumbien 18.000 Schmetterlinge und schickte sie in einem Koffer nach Berlin ins Naturkundemuseum, wo dieser allerdings offenbar verloren ging und erst 2006 wiederentdeckt wurde. Der Rest von Schultzes Sammlung und seine Forschungsergebnisse gingen jedoch unwiederbringlich verloren, als sein Schiff bei der Rückreise am 5. September 1939 von einem britischen Kreuzer versenkt wurde. Schultze und seine Frau wurden gerettet und kurzzeitig inhaftiert. Nach der Freilassung gelangten sie nach Madeira, wo er 1948 starb. Vgl. die mit Zeichnungen der Schmetterlinge illustrierte Erzählung von Zeckau/Zischler, Der Schmetterlingskoffer. Zischler interpretiert das Jagen und Sammeln von Schmetterlingen übrigens (nach Nabokov) als „ein Verlangen nach der Vagina“, da die Grundform des Schmetterlings die einer Vagina sei. Vgl. Wolff, Ein Verlangen nach der Vagina. Vgl. außerdem den zeitgenössischen Reise- und Erlebnisbericht von Otto, Der Schmetterlingsjäger vom Amazonenstrom. 179 Sontag, On Photography, S. 4. Vgl. weiterhin Andermann, The Optic of the State, S. 79 und zum Verhältnis von Macht und Wissen grundlegend Foucault, Archäologie des Wissens.

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dem sehnsüchtigen Blick betrachteten Bildern – der Aspekt der Conquista als (gewaltsamer) Akt der Unterwerfung – auch in sexueller Hinsicht – und das bis ins 16. Jahrhundert zurückreichende Bild des „weiblichen Südamerika“, das es zu erobern galt, hineinspielen. (So gab es, wie erwähnt, eine Reihe Romane, die fiktive Geschichten deutscher Eroberer in Südamerika erzählten und koloniale Fantasien weckten wie befriedigten.) Die Faszination, die Südamerika und besonders südamerikanische Frauen auf europäische Männer ausübten, lässt sich jedenfalls bis zu den Anfängen des Kontaktes der Kulturen zurückverfolgen.180 Das Bild des „Käfer“ genannten Mädchens ist auch deshalb besonders bemerkenswert, weil es zeigt, wie die Forscher informell, außerhalb der wissenschaftlichen Publikationen, mit ihren Bildern umgingen, dass sie sie sammelten und tauschten, und dass sie sich durchaus bewusst waren, dass die Bilder nicht bloß wissenschaftlich „funktionierten“. Ansichten von barbusigen Frauen erschienen in wissenschaftlichen Büchern (s.o. Abb. 13) und Aufsätzen sowie auf zahlreichen Bildpostkarten. Ein solches Foto zierte sogar den Einband von Erland Nordenskiölds 1912 erschienener Studie Indianerleben. Bildpostkarten von gänzlich unbekleideten Indigenen und auch eindeutig pornografische Karten sind dagegen eher selten – aber es gibt sie.181 Mitunter handelte es sich dabei vorgeblich um Bilder zum wissenschaftlichen Gebrauch – wie im Fall des Motivs der „India Beniana“ (s.o. Abb. 14). Auch die Identifizierung der Heranwachsenden als „Lenguas“ in der Unterschrift der unten abgebildeten Bildpostkarte (Abb. 74) suggeriert, das Bildmedium diene wissenschaftlichen Zwecken. 182 Tatsächlich aber wird die nicht-wissenschaftliche, sexualisierte Perspektive deutlich im Arrangement des Bildes und in der (künstlerischen?) Pose der Abgebildeten, die mit anthropologischen oder ethnografischen Aufnahmen wenig gemein hat. In wissenschaftlichen Zeitschriften und Büchern sind auch pornografisch nutzbare Ansichten von (fast) nackten Indigenen häufiger zu finden. (Die Verfasser und Verleger von Reiseberichten, Romanen und Abenteuergeschichten verzichteten dagegen auf Nacktbilder, bzw. mussten auf Nacktbilder verzichten, weil die Darstellung der Nacktheit eben nur im wissenschaftlichen Interesse erlaubt war.)

180 Vgl. z.B. Schülting, Wilde Frauen, fremde Welten; Mahlke, Offenbarung im Westen; Frübis, Die Wirklichkeit des Fremden und dies., Geschlecht und Medium. Zur sexuellen Komponente der Conquista s.u. ausführlicher. 181 Vgl. entsprechende Bildpostkarten z.B. bei Masotta, Indios en las primeras postales fotográficas argentinas, S. 38 u. 39. 182 Darstellungen von nackten oder halbnackten Indigenen und v.a. solche von barbusigen indigenen Frauen sind bis heute populär. Oftmals werden entsprechende Ansichten auch heute noch als angeblich ethnografische Bildpostkarten gehandelt. Vgl. bspw. die Bildpostkarten in der Sammlung der SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1978/489-17 und 1996/133-2024. Spätestens der handschriftliche Vermerk „Bei der Friseuse!“ auf der ersten Karte macht deutlich, dass diese vermeintlich ethnologischen Karten ebenfalls nicht (nur) wissenschaftlich genutzt werden.

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Abbildung 74: Bildpostkarte „Lenguas. (Brasil, Bolivia, Argentina y Paraguay)“, Verlag: Guillermo Grüter, Asunción, nach 1905, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E 5571, erworben 1937 von Frau Görms. Es gibt das Motiv ein zweites Mal auf der Karte mit der Ident.Nr. VIII E Nls 201. Für weitere Motive vgl. z.B. die Bildpostkarte „Mapuche, India araucana, No. 58“, Fotografie: Odber Heffer Bissett zugeschrieben, um 1890, Verlag: Carlos Brandt, Concepción, vor 1906, ungelaufen, und zwei weitere Bildpostkarte, Verlag unbekannt, Argentinien, nach 1905, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E 4169, erworben 1924 von Paul Traeger (1867-1933), VIII E Nls 216 und VIII E Nls 218 sowie die Bildpostkarte „Bellezas indias – Chaco – (Arg.)“, Verlag unbekannt, Argentinien, nach 1905, ungelaufen, Sammlung von Hinnerk Onken (das verbreitete Motiv gibt es auch in der Sammlung Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E Nls 211). Vgl. außerdem z.B. die Fotografien „Drei Mädchen vom Stamm der Chulupí“ von Hans Krieg (?), 1920er Jahre, aus Krieg, Hans: Indianerland: Bilder aus dem Gran Chaco, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1929, Bildtafel im Anhang, und „Matacomädchen, Esperanca“ von Erland Nordenskiöld, 1908/09, aus Nordenskiöld, Erland: Indianerleben: El Gran Chaco (Südamerika), übers. v. Carl Auerbach, Leipzig: Albert Bonnier, 1912 [schwed. 1910: Indianlif i el Gran Chaco (Syd-Amerika)], Abb. 1, S. 8.

Im Folgenden werden beispielhaft zwei Bilder noch einmal kurz aufgegriffen, die auch schon im Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Blick im ersten Kapitel vorgestellt wurden, dieses Mal unter dem Aspekt ihrer erotischen Wirkung. Steht bei

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der Präsentation der nackten zehnjährigen Aymara Epiphania Calderon Kunduri durch Arthur Posnansky in der Zeitschrift für Ethnologie (s.o. Abb. 8) die anthropologisch-nüchterne Wissenschaftlichkeit sowohl visuell (in Form Maßstabs) wie auch textlich (die Beschreibung des Mädchens: „Körperhöhe 120, Brustbeinrand 95, Symphysenrand 56, Akronion 94, Mittelfingerspitze 42, Spannweite 124 [...]“ 183 folgt nach bestem Wissen und Gewissen dem zeitgenössischen Vermessungs- und Klassifizierungswahn) im Vordergrund, ist der Fall bei der Abbildung von Damiana (s.o. Abb. 6) deutlich anders gelagert. Hier ist das textliche Umfeld von einem vorgeblich wissenschaftlichen, stark sexualisierten Ton geprägt. Wie im vorigen Kapitel bereits erwähnt, wurde das im Haushalt der deutschen Familie Korn lebende (und dort arbeitende) Aché-Mädchen mit Einsetzen der Pubertät offenbar schwieriger zu kontrollieren. Lehmann-Nitsche ging deswegen in seinem Beitrag für die Revista del Museo de La Plata recht detailliert auf die körperlichen Veränderungen (er befasste sich intensiv mit ihren Brüsten, vorgeblich zur Bestimmung des Alters) und das Sexualleben der Jugendlichen ein. Er machte Damianas unkontrollierbare Libido dafür verantwortlich, dass sie rebellierte und Erziehung und Moral bei ihr nicht mehr fruchteten. Lehmann-Nitsches Darstellung der vermeintlichen nächtlichen sexuellen Aktivitäten Damianas grenzt streckenweise an voyeuristisch-lüsterne Beschreibungen, wie sie nicht unbedingt in Museumszeitschriften, sondern eher in anderen Blättern zu vermuten wären. Alternative Erklärungen für das nächtliche Ausbleiben und die Rebellion Damianas, die immerhin als Baby verschleppt und bei den Korns zumindest teilweise als Angestellte behandelt wurde, kamen Lehmann-Nitsche anscheinend nicht in den Sinn. Lehmann-Nitsches Artikel über Damiana gibt Aufschluss über einen weiteren Aspekt, der grundlegend ist für die sexualisierte Betrachtung von Bildern von nackten und halbnackten Indigenen. Mit Bezug auf ihr Sexualleben schrieb er: „Sie betrachtete sexuelle Handlungen als die natürlichste Sache der Welt und sie gab sich der Befriedigung ihrer Wünsche mit der instinktiven Spontaneität eines naiven Wesens hin.“184 Dies verweist auf die von der zeitgenössischen Wissenschaft vorgenommene Konstruktion indigener Völker als „natürlich“. Die Angehörigen der „Naturvölker“ wurden von der Forschung hinsichtlich ihrer Sexualität mit einer überbordenden Libido, Schamlosigkeit und sexueller Freizügigkeit in Verbindung gebracht.185 Der enge Zusammenhang von „Rasse“, Geschlecht und Sexualität war von enormer Bedeutung für den Kolonialdiskurs, der, wie bereits ausgeführt, die Vorstellung von Südamerika prägte. „Studies of gender and empire have shown persuasively that

183 Posnansky, Aymaramädchen, S. 276-277. 184 „Consideraba los actos sexuales como la cosa más natural del mundo y se entregaba á satisfacer sus deseos con la espontaneidad instintiva de un sér ingénuo.“ LehmannNitsche, Relevamiento antropológico de una india guayaquí, S. 92-93, Übersetzung von Hinnerk Onken. 185 Vgl. zur Interdependenz von Sexualität und Rasse die Arbeiten von Stoler, Carnal Knowledge and Imperial Power und dies., Race and the Education of Desire; Nagel, Sex, Race and Ethnicity; Gilman, Rasse, Sexualität und Seuche sowie die frühe Arbeit von Stepan, Race and Gender und für Lateinamerika auch dies., The Hour of Eugenics.

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key symbols of the colonial state were secured by the ways in which gender was regulated, sexuality was patrolled, and race was policed.“ 186 Wie die Arbeiten etwa von Ann Laura Stoler, Anne McClintock, Robert Young und anderen gezeigt haben,187 dienten die genannten Zuschreibungen ebenso der kolonialen Ordnungspolitik wie der Selbstvergewisserung des weißen, europäischen, bürgerlichen Mannes als der höchsten menschlichen Entwicklungsstufe und gleichsam als wahre Krone der Schöpfung. Im Gegensatz insbesondere zu Schwarzen, aber auch zu anderen Angehörigen „niederer Rassen“, sei er in der Lage, seine Sexualität (und die der weißen Frau, die dazu selbst nur eingeschränkt fähig sei) zu kontrollieren. Einen weiteren theoretischen Anknüpfungspunkt bietet – trotz der mitunter sehr harschen Kritik, die der Ansatz erfahren hat und die z.T. sicher berechtigt ist – die auf Edward Said zurückgehende postkoloniale Forschung zum Orientalismus. 188 Dass die Übertragung des Orientalismus-Konzeptes auf Lateinamerika, wie sie bereits in zahlreichen Studien (mitunter, wie bei Zantop, als „Okzidentalismus“) vorgenommen wurde, kein Anachronismus ist, verdeutlichen verschiedene zeitgenössische Reiseberichte. Der Brite James Bryce etwa verglich in seinem Bericht Indigene mit Beduinen.189 Aus der Zivilisationsmüdigkeit des fin-de-siècle heraus imaginierten Europäer, die sich zurück nach Natürlichkeit, Ursprünglichkeit und Einfachheit sehnten, im Orientalismus eine geheimnisvolle Welt aus tausendundeiner Nacht, die hinter dem Schleier mit dem Harem oder verführerischen Bauchtänzerinnen auch eine ausge-

186 Stoler, Carnal Knowledge and Imperial Power, S. 210. 187 Vgl. McClintock, Imperial Leather; Young, Colonial Desire oder auch Sreenivas, Sexuality and Modern Imperialism. Für das deutsche Kolonialreich vgl. z.B. Wildenthal, Race, Gender, and Citizenship und ausführlicher dies., German Women for Empire. 188 Vgl. Said, Orientalism und zur Kritik des Ansatzes z.B. Osterhammel, Edward W. Said und die „Orientalismus“-Debatte. Zur Übertragung von Saids Konzept in Studien zur visuellen Kultur vgl. z.B. Mitchell, Orientalism and the Exhibitionary Order; für die Fotografie Behdad/Gartlan (Hg.), Photography’s Orientalisms und zur Orientmalerei z.B. Tromans (Hg.), The Lure of the East oder Bondil (Hg.), Benjamin-Constant. 189 Er schrieb von „scantily dressed Indians, wild looking as Bedaween, though with reddish brown instead of yellowish brown skins“. Bryce, South America, S. 65. Vgl. außerdem Zantop, Kolonialphantasien, S. 20-21; Camayd-Freixas, Orientalism and Identity in Latin America; Nagy-Zekmi (Hg.), Moros en la costa; Torres-Rodríguez, Orientalizing Mexico und Coronil, Beyond Occidentalism sowie Depkat, Abenteuerräume: Die Verschränkung von Amerika- und Orientbildern im Werk Karl Mays. Tatsächlich sagt der Orientalismus wenig über den Orient aus, sehr viel aber über europäische oder „westliche“ Fantasien. Gerne wird etwa vergessen, dass Europa (und zwar Länder wie Frankreich oder auch die Bundesrepublik Deutschland) nach dem Zweiten Weltkrieg für US-Amerikaner der exotische und erotische „Osten“ war. Vgl. Johnson, The Not-So-Grand Tour und Mankoff, Mankoff’s Lusty Europe. Noch heute erscheint vielen US-Amerikanern Europa „oversexed“ zu sein. Gleichzeitig wurde und wird auch Lateinamerika von US-Amerikanern orientalisiert, vgl. für Mexiko z.B. Kerouac, On the Road.

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prägte sexuelle Komponente hatte.190 Diese ist auch auf Fotos und auf Bildpostkarten, etwa im Bildband von Georg Buschans Im Anfang war das Weib oder auf den sehr bekannten Bildern von Rudolf Franz Lehnert (1878-1948), die er zusammen mit Ernst Heinrich Landrock (1878-1966) vertrieb, sowie in Filmen zu sehen: Kurt Tucholsky schrieb, dass er im Berliner Polizeipräsidium „verbotene Filme“ sah, unter anderem „Szenen aus dem Harem“. 191 Die räumliche wie die gedachte kulturelle und „rassische“ Distanz ermöglichte also die Projektion von Sehnsüchten und Fantasien, die wegen der bürgerlichen Sexualmoral im Deutschen Reich nicht abbildbar, geschweige denn auslebbar waren, auf das und die „Fremde“ im Orient, in Afrika und in der Südsee – wie auch in Südamerika, einem Raum vermeintlich unbegrenzter sexueller Möglichkeiten. Besonders betroffen von dieser Wahrnehmung war (und ist, wie etwa im Sextourismus in die Dominikanische Republik und andere Länder der Region deutlich wird) auch die Karibik: Hanns Heinrich (oder Heinz) Ewers (1871-1943), für den die (deutschen) Kolonien sexuell befreiende Räume waren, präsentierte etwa auch Haiti in seiner 1907 erschienenen Erzählung Die Mamaloi als sexuelles Fantasia. Der Protagonist F.X. entflieht den europäischen Sexualnormen und kann sich (anders als in Berlin, wo der Geschlechtsverkehr mit einem elf- oder zwölfjährigen Mädchen ein Skandal ist) seinen pädophilen Neigungen ungestraft hingeben, da „hierzulande [in Haiti, H.O.] alle mit Vorliebe Mädchen von acht Jahren nehmen“. Auch an einer Voodoo-Zeremonie (bei Ewers, der auf Haiti wohl tatsächlich auch selbst bei einer solchen zugegen war: „Vaudoux“) nimmt er teil:

190 Vgl. für entsprechende Visualisierungen z.B. die Studien zu Bildpostkarten von Alloula, The Colonial Harem; Sebbar/Belorgey, Femmes d’Afrique du nord und Beukers, Der Reiz des Exotischen, bes. S. 121, 129, 142 u. 154 sowie die Kritik an Alloulas Ansatz von Yee, Recycling the “Colonial Harem”? Vgl. weiter die Bilder von verführerischen Orientalinnen in illustrierten Zeitschriften wie z.B. Keller-Leuzinger, Eine Naturgeschichte des Menschen, S. 544; die „erotische[n] Fotos wie sie in Cafés etc. verkauft werden“ aus Tunis im Linden-Museum Stuttgart bei Turner, Der Orient im „Objektiv“, S. 206 sowie „malerische“ Bilder des erotischen Orients wie z.B. Édouard Debat-Ponsans (1847-1913) „Massage – Scène de Hammam“ (1883) oder das Gemälde „Sklavenmarkt in Kairo“ (1895) von Adolf Seel (1829-1907), das den Sklavenhändler, seine Ware – nackte Frauen – sowie Käufer zeigt. Jean-Joseph Benjamin-Constant (1845-1902) schuf eine ganze Reihe von Gemälden von „orientalischen“ Frauen als Sexsklavinnen in einem Harem (z.B. „La Favorite de l'émir“, 1879; „Après-midi au harem“, 1880; „Odalisque“, 1882 oder „Le harem marocaine“, 1882). Vgl. Taraud, Painting the Erotic and Exotic Oriental Feminine und DelPlato/Codell (Hg.), Orientalism, Eroticism and Modern Visuality. Zum Phänomen der orientalistischen Homoerotik vgl. Boone, The Homoerotics of Orientalism. 191 Tucholsky, Ein Pyrenäenbuch, S. 59. Vgl. für fotografische Bilder z.B. die Bildpostkarte „Fillette bédouine, 206“, Fotografie: Rudolf Franz Lehnert, Verlag: Lehnert & Landrock, Tunis, gedruckt im Deutschen Reich, zwischen 1904 und 1914, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1968/329-159 sowie zahlreiche Fotografien von Rudolf Franz Lehnert, um 1910 (?), aus Buschan, Im Anfang war das Weib 3, S. 1-38.

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„Ich sehe Männer und Weiber sich ineinander beißen, in allen Stellungen und Lagen nehmen sie sich. Blutrünstig, wild, schlagen sie die Nägel ins Fleisch und reißen sich tiefe Kratzwunden. Und das Blut trübt ihre Sinne, ich sehe Männer auf Männer, Weiber auf Weiber kriechen. Da wälzen sich fünf in einem schwarzen Knäuel ineinander, da steigt einer, wie ein Hund, über den Schlangenkorb. Ihre rasende Wollust kennt keine Geschlechter mehr, unterscheidet nicht einmal mehr lebende Wesen und tote Gegenstände. Zwei Negerdirnen stürzen auf mich zu, zerren an meinen Kleidern. Und ich greife sie an den Brüsten, reiße sie zu Boden. Wälze mich herum, heule, beiße – tue wie alle andern. Ich sehe wie Adelaide [des Protagonisten Geliebte, H.O.] ohne Wahl einen Mann nach dem andern nimmt, aber auch Weiber, immer andere, immer neue, unersättlich in dieser teuflischen Wollust. Sie springt auf mich zu, nackt, nackt, rotes Blut sickert von ihren Armen und Brüsten. Nur die blaue Priesterbinde schmückt noch die Stirne, wie schwarze Nattern kriechen die dicken Haarlocken darunter. Sie reißt mich zu Boden, nimmt mich mit Gewalt, springt wieder auf und stößt mir ein anderes Weib in die Arme. Und sie taumelt fort, umfangend und umfangen, immer von andern schwarzen Armen – – Und, ohne Widerstand nun, werfe ich mich in den wildesten Taumel, in die unerhörtesten Umarmungen, springe, rase und schreie, wilder und wahnsinniger als einer, das entsetzliche: ‚Aabo-bo!‘“192

Hier wird deutlich, dass die unbekannte, im Voodoo maximal exotisierte afroamerikanische Bevölkerung eine bedeutende Rolle für die andauernde Wahrnehmung der Karibik als erotisches und sexuelles Paradies spielte und spielt.193 Das Bild des erotischen, zu erobernden Südamerika hat eine Kontinuität von der Conquista bis heute. Die Conquista war verbunden mit der massenhaften Vergewal-

192 Ewers, Die Mamaloi, http://gutenberg.spiegel.de/buch/-7883/8 [26.08.2018], Zitat zuvor ebd. Zum Thema der Pädophilie s.u. ausführlicher. Zu Leben, Werk und Wirken von Ewers, einem Drogen konsumierenden enfant terrible seiner Zeit, der mit einem 1932 erschienenen Roman auch an der Stilisierung Horst Wessels zum nationalsozialistischen Märtyrer mitwirkte, vgl. z.B. Murnane/Godel (Hg.), Zwischen Popularisierung und Ästhetisierung; Poley, Decolonization in Germany oder Kugel, Der Unverantwortliche und zu Die Mamaloi auch Teil III von Mergenthaler, Völkerschau – Kannibalismus – Fremdenlegion. 193 Vgl. dazu z.B. die schwüle Naturbeschreibung und die latente Homoerotik bei Kircheiß, Polarkreis Süd – Polarkreis Nord, S. 18: „Ich finde, daß ein splitternackter Negerknabe unter einer Palme entschieden besser aussieht als ich mit meiner gebügelten Büx.“ Über die Beziehungen europäischer Männer mit afroamerikanischen Frauen auf Trinidad gibt Kircheiß in Form eines Witzes Auskunft: „Ich fragte, wie es zu diesem Rassengemisch auf der Insel gekommen sei. Nach Aufklärung fing einer der Engländer auf die Neger furchtbar zu schimpfen an: ‚Dieses faule, dreckige Pack von Negern, ich hasse sie, sie betrügen, stehlen und stinken‘ usw. Darauf sagte ein alter Schotte in aller Ruhe: ‚Ja, ja, sie mögen recht haben, aber es bezieht sich doch wohl nur auf die Männer, denn wenn Sie die Menschen hier ansehen, scheint es mir, daß die Europäer gerade die Negerinnen am liebsten gehabt haben.‘“ Ebd., S. 19. Vgl. weiterhin die 1948 erschienene Liebesgeschichte eines deutschen Journalisten und Reisenden mit einem „Mulattenmädchen“ auf Haiti von Jacobs, Sonne über Haiti.

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tigung indigener Frauen (und Männer) durch die europäischen Eroberer. Der deutsche Lateinamerikahistoriker Richard Konetzke schrieb diesbezüglich schon 1965: „In der Conquista waren Raub und Vergewaltigung indianischer Frauen häufig, wenn solche Ausschreitungen auch unter Androhung schwerer Strafen verboten wurden. Nicht wenige Frauen und Mädchen wurden nach Kriegsrecht als Beute den spanischen Soldaten zugeteilt oder durch Kauf als Sklavinnen erworben […] Solche Indianerinnen unterstanden völlig der Verfügungsgewalt ihrer weißen Herren.“194

Gewaltsam erzwungene wie auch weitere Formen sexueller Kontakte sind für die Geschichte Lateinamerikas und die Bevölkerungsentwicklung in kultureller wie in sozialer Hinsicht prägend. Eins der frühesten und vermutlich das bekannteste Beispiel ist die Malinche, die Dolmetscherin und Geliebte von Hernán Cortés, die maßgeblichen Anteil an der Eroberung des Aztekenreiches hatte.195 Die Kulturwissenschaftlerin Anne McClintock sprach im Zusammenhang mit kolonialen Sexfantasien von den Amerikas (wie auch von Afrika) als „pornotropics“.196 Schon in den ersten Berichten der Entdecker und Eroberer der Neuen Welt aus dem 16. und 17. Jahrhundert werden nackte Indigene beschrieben. 197 Die Europäer deuteten dabei die Nacktheit vieler Bewohner Südamerikas und besonders die Nacktheit von Frauen ihren eigenen europäischen Sittlichkeits- und Moralvorstellungen entsprechend fälschlicherweise als Anzeichen für sexuelle Freizügigkeit. Dieses Missverständnis wirkt bis heute nach und sogar fort, wie am Beispiel der Kleinen Geschichte Lateinamerikas des emeritierten Eichstätter Professors für Geschichte Lateinamerikas Hans-Joachim König deutlich wird: „Tatsächlich trafen die Spanier auf den Westindischen Inseln, an den Küsten des Karibikraumes und an der Ostküste, das heißt den Orten der ersten Kontakte zwischen Europäern und der

194 Konetzke, Die Indianerkulturen Altamerikas, S. 89. Vgl. auch die Broschüre von Blooeme (Hg.), Fraueneroberungen und allgemeiner Theweleit, Männerphantasien. Dass Eroberungen mit sexueller Gewalt einhergehen, gilt genauso für das 20. Jahrhundert und auch noch für die Gegenwart, wie etwa der Fall des IS in Syrien und im Irak zeigt. Für sexuelle Gewalttaten deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg vgl. Mühlhäuser, Eroberungen; Beck, Wehrmacht und sexuelle Verbrechen und Snyder, Sex Crimes under the Wehrmacht. Die Vorstellung, dass die zu erobernde Fremde ein Ort ist, an dem die Möglichkeit besteht, Fantasien von sexualisierter Gewalt (ungestraft) auszuleben, lebt fort. Auch in pornografischen Medien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist sexualisierte Gewalt gegen Frauen ein nicht selten begegnendes Sujet; die Handlung wird zumeist an exotische Orte, u.a. in Südamerika verlegt. Vgl. Eitler, Das „Reich der Sinne“? 195 Vgl. zur Malinche knapp Karnofsky/Potthast, Mächtig, mutig und genial, S. 29-36 sowie allgemeiner zum Thema kolonialer „Vermischung“ Kien Nghi Ha, Unrein und vermischt. 196 McClintock, Imperial Leather, S. 22. 197 Vgl. bes. Schülting, Wilde Frauen, fremde Welten oder auch Mahlke, Offenbarung im Westen.

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eingeborenen Bevölkerung, zunächst auf Menschen, die in quasi paradiesischer Nacktheit lebten [und] sexuell freizügig waren […].“198

Auch der 1567 ersterschienene Bericht des aus Straubing stammenden Landsknechtes Ulrich Schmidel (um1505-um1580), bestätigte diese Wahrnehmung von Indigenen. Schmidel, der sich an Pedro de Mendozas Expedition zur Eroberung der Gebiete am Río de la Plata beteiligte, berichtete neben seinen Erfahrungen als Landsknecht, dem Hunger, dem Töten und der Versklavung von Indigenen, (nicht immer besonders ergiebigen) Beutezügen entlang des Río Paraná, des Río Paraguay und bis in die Gebiete des heutigen Peru und Bolivien auch von (fast) nackten und sexuell immer verfügbaren indigenen Frauen, die angeblich ohne weiteres durch männliche Verwandte verkauft würden.199 Spätestens seit dem 18. und 19. Jahrhundert wurde Südamerika – auch und gerade im Gegensatz zum „männlichen“ Nordamerika – als „weiblich“ wahrgenommen.200 Susanne Zantop in ihrem bereits vielfach angeführten Werk Colonial Fantasies und nach ihr viele andere wiesen auf die sexualisierte Bildsprache hin, die benutzt wurde, um Südamerika selbst, seine Bewohner sowie ihre Entdeckung und Eroberung (fiktiv oder nicht) zu beschreiben. Entdecker und Eroberer dringen in Dschungel ein; sexuell konnotiert sei auch die üppige Natur mit ihrer Schwüle, Feuchte, Fülle und Fruchtbarkeit, sie ist das natürliche Habitat zumindest einiger Indigener (die aber pars pro toto stehen konnten). Und auch wenn manche Interpretationen überzogen sein mögen, so ist die sexuelle Komponente der Eroberung und Inbesitznahme von Land und seinen Bewohnern im Kolonialismus ebenso wie die sexuelle Konnotation der Beschreibungen dieses Vorganges oftmals eindeutig: „[Die Erde] ist wie ein Weib, sie will nicht umschmeichelt, nicht umbuhlt sein, sie will von starkem Arm erobert und gewonnen werden. Dann gibt sie willig und demütig ihren Leib hin.“201 Im 19. und 20. Jahrhundert bestätigten der wissenschaftliche „Rassendiskurs“ und die Forschungen von Anthropologen, Ethnologen, Archäologen und anderen Wissenschaftlern, die in Kapitel 1 ausführlich behandelt wurden, das Bild der steten

198 König, Kleine Geschichte Lateinamerikas, S. 54. Vgl. dagegen z.B. knapp Krumbach, Moral und Sexualität bei den Kulturen Lateinamerikas. 199 Vgl. Schmidel, Vierte Schiffart: Warhafftige Historien, S. 28. Eine weitere Ausgabe besorgte 1597 de Bry, der 1593 auch Hans Stadens Bericht illustriert veröffentlichte. S. FN 10 in der Einleitung. Zu Leben, Werk und Rezeption Schmidels vgl. z.B. Obermeier, Ulrich Schmidel aus Straubing und sein Reisebericht. 200 Vgl. Zantop, Kolonialphantasien, S. 20. 201 Staller, Zwei Deutsche im Urwald, S. 166. Vgl. zur „spezifische[n] Sprechweise der Entdeckung, der Eroberung und der Beherrschung“, die „stark von Kategorien der geschlechtlichen Unterscheidung geprägt“ war und „einen großen Teil ihrer unterbewussten Kraft aus der sexuellen Vorstellungswelt [zog]“, z.B. auch Hall, Der Westen und der Rest, S. 161. „Sexualität war ein machtvolles Element in der Phantasie, die der Westen konstruierte, und die Vorstellungen sexueller Unschuld und Erfahrung, sexueller Beherrschung und Unterwerfung machen einen komplexen Zusammenhang im Diskurs des ,Westens und des Rests‘ aus.“ Ebd., S. 160.

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sexuellen Verfügbarkeit der indigenen „natürlichen Wesen“ mit ihrer ungezähmten Libido. Die angeblich bei indigenen Völkern verbreitete Promiskuität beschrieb auch Erland Nordenskiöld. Beim fast allabendlichen Tanz verführen die jungen Frauen vom Stamme der Chorote (auch: Iyo’wujwa) die jungen Männer: „Bei den Chorotiindianern ergreift das Mädchen die Initiative zu den Liebesabenteuern. Sie führt den jungen Herrn, den sie zum Liebhaber für die Nacht wünscht, ganz einfach fort vom Balle. […] Die älteren Mädchen tanzten hinter ihren Liebhabern, die jüngsten schlichen hier und da heran, um einen Augenblick hinter einem wohlgebildeten männlichen Körper zu tanzen und gleich darauf, lüstern aber ängstlich, hinter Büschen und Sträuchern zu verschwinden. Beinahe stets war die Anzahl der Männer größer als die der Frauen, und glücklich der Mann, der geraubt und verführt wurde.“202

Doch das lüsterne Treiben beschränkte sich nicht auf die eventuell ekstatische Ausnahmesituation des Tanzes am Abend und nicht nur auf die Chorote, wie Nordenskiöld weiter festhielt: „Auch mitten am Tage kann es einem warmblütigen Chorotimädchen einfallen, als Verführerin aufzutreten. Aus meinem Lager zog einmal ein solches Mädchen, unbekümmert um allen Scherz und alle Anzüglichkeiten, mit einem glückstrahlenden Ashluslay in den Wald. Es ist nichts Ungewöhnliches, daß die Mädchen in den Chorotidörfern sich etwas abseits vom Dorfe eine besondere Hütte bauen, wo sie Herrenbesuche entgegennehmen. […] Unter den Chorotimännern beobachtete ich besonders zwei, welche die Günstlinge der Frauen zu sein schienen. Nach meinen Begriffen sahen sie sehr gut aus. Diese Herren hatten stets an den Händen und im Gesicht Kratzwunden. Das sind Erinnerungen an zärtliche Neckereien. Ein Choroti oder Ashluslaymädchen küßt niemals den Geliebten, sie kratzt ihn und speit ihm ins Gesicht. Die Chorotifrau sucht sich nach ihrer ersten Menstruation einen Mann aus, der einige Monate lang ihr Liebhaber ist, dann wechselt sie und lebt einige Jahre in Freuden. Schließlich wählt sie ihren Begleiter fürs ganze Leben und wird eine treue und sehr arbeitsame Frau. Bei den Ashluslays sind die Verhältnisse ebenso frei wie bei den Chorotis, nur, wie mir scheint, etwas primitiver. Nach dem Tanze gehen Mädchen und junge Männer getrennt nach Hause. Die ersteren legen sich vor die Hütten, wo sie der Reihe nach von den letzteren besucht werden. Das sog. Schamgefühl scheint wenig entwickelt zu sein, mehrere Paare liegen zusammen, und Zuschauer sind nicht ungewöhnlich. Auch diese Mädchen werden, nachdem die Periode der freien Liebe zu Ende ist, gute und tüchtige Hausfrauen. Die Choroti- wie auch wahrscheinlich die Ashluslaymädchen haben keine Kinder vor der Ehe. Dies wird […] durch Abtreibung der Leibesfrucht und Kindesmord geordnet. Der Leser des Obenstehenden meint wahrscheinlich, daß die ‚Moral‘ unter meinen Pilcomayofreunden nicht hoch stehe. Ich will jedoch darauf hinweisen, daß die Chorotis und Ashluslays, trotz der vollständig freien Liebe in der Jugend, gesunde und kräftige Menschen sind, und daß diese Mädchen, die alle von Blume zu Blume geflogen sind, wenn sie einen eigenen Hausstand gründen, gesunde, wohlgestaltete Kinder bekommen. Durch die von den Weißen eingeführten Geschlechtskrankheiten degenerieren diese Stämme indessen und gehen unter. Die freie Liebe

202 Nordenskiöld, Indianerleben, S. 86-87.

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ist für diese Menschen etwas ganz Natürliches; daß in diesem sog. unmoralischen Leben etwas Unrechtes liegt, ist den Indianern und Indianerinnen vollständig unbekannt. Wir dürfen nicht glauben, daß diese Mädchen, die jede oder jede zweite Nacht ihren Liebhaber wechseln, irgendwie schlechter sind, als wenn sie unberührt wären. Sie sind gut und arbeitsam und werden, wie gesagt, tüchtige Hausfrauen und gute Mütter. Das Leben, das sie führen, ist für sie wie für ihre Eltern und anderen Verwandten etwas ganz Natürliches.“203

Auch Franz Donat schilderte in seinem angeblich autobiografischen Abenteuerroman Paradies und Hölle die freie Sexualität bei Indigenen. Da die Ehe kein Sakrament sei, probierten die Frauen eben aus; manche seien mit mehreren Männern zusammen, bis sie schließlich mit einem eine Hütte beziehen. Insgesamt schien Donat die Position der Frauen in der Dorfgemeinschaft recht stark zu sein. Seine Beobachtungen machte er, während er angeblich eine Zeit unter Indigenen lebte (angeblich mit zwei Frauen – ungewöhnlicherweise, da die Vielehe sonst dem Häuptling vorbehalten sei).204 So fragwürdig der Wahrheitsgehalt dieser und anderer Schilderungen bei Donat sein mag, zeigen diese doch, dass wissenschaftliche Vorstellungen zu indigener Sexualität über populärkulturelle Adaptionen eine recht breite Öffentlichkeit erreichen konnten. Neben solchen und zahlreichen ähnlichen Berichten von Anthropologen und Ethnologen über die Indigenen Südamerikas legten auch die alten Berichte Schmidels und anderer Eroberer und Kolonisatoren nahe, dass Indigenen schon immer ein ungezügelter Sexualtrieb eigen war – auch wenn Schmidel das so nicht ausdrückte. Darüber hinaus zeigten archäologische Funde, dass es sich dabei offenbar um eine anthropologische Konstante, ein „Rassenmerkmal“ handelte und Indigene also schon immer so waren. Bei den archäologischen Funden handelt es sich um erotische Keramiken der Mochica-Kultur (1.-8. Jh. n.Chr.) an der Nordküste Perus. Diese bilden zahlreiche sexuelle Praktiken, darunter auch Devianzen wie hetero- und homosexuellen Analsex und sogar Sodomie ab.205 Sie beschäftigten die zeitgenössische – auch der führende Sexualforscher Alfred Charles Kinsey (1894-1956) interessierte sich stark für die sexuelle Devianz darstellenden Keramiken – ebenso wie die heutige

203 Nordenskiöld, Indianerleben, S. 87-89. 204 Vgl. Donat, Paradies und Hölle, S. 198. 205 Dass südamerikanische indigene Männer angeblich zur Sodomie neigten, scheint eine im Deutschen Reich recht verbreitete Vorstellung gewesen zu sein. In Kasimir Edschmids Glanz und Elend Süd-Amerikas heißt es: „Cubano lachte. ,Kein Indio darf ohne Frau einen Llamatransport begleiten‘, sagte er und zündete sich eine Zigarette an. ,Das hat einen sehr aparten Grund…‘ ,Zum Teufel‘, sagte Göhrs, der plötzlich verstand, ,ist das wirklich wahr?‘ Er hatte schon in Europa oft und häufig davon gehört, daß ein altes Inkagesetz den Indios verboten hatte, ohne Frau mit den Llamas auf die Wanderung zu gehen, weil die Indios mit den weiblichen Llamas schliefen und sich dabei häufig scheußlich infizierten.“ Edschmid, Glanz und Elend Süd-Amerikas, S. 211.

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Wissenschaft.206 Erotische Darstellungen auf antiken Keramiken oder anderen Objekten der materiellen Kultur gibt es allerdings, dessen waren sich auch die Zeitgenossen bewusst, ebenfalls von zahlreichen anderen Kulturen weltweit, u.a. auch aus Griechenland und dem Römischen Reich.207 Zu denken ist weiterhin an die erotischen Verse des römischen Dichters Catull (1. Jh. v. Chr.). Mochica-Keramiken, auch solche mit Darstellungen sexueller Praktiken, wurden von Völkerkundemuseen in ganz Europa gesammelt und ausgestellt und fotografische Abbildungen illustrierten zahlreiche Aufsätze und andere wissenschaftliche Veröffentlichungen. Zu den Forschern, die sich mit den erotischen MochicaKeramiken beschäftigten, gehörte auch der im vorigen Kapitel behandelte Hans Hinrich Brüning, der seit 1875 in Nordperu lebte und als Ingenieur arbeitete. Die Ergebnisse seiner Forschung machte er der Öffentlichkeit in der Regel nicht zugänglich. Vermutlich konnte er dies nicht tun, weil der Autodidakt anders als andere Laienforscher ein wissenschaftlicher Außenseiter war. Die meisten seiner Veröffentlichungen erschienen in der teilweise mit Abbildungen versehenen Zeitschrift Anthropophyteia, die von 1904 bis 1913 erschien und die sich „folkloristischen Erhebungen und Forschungen zur Entwicklungsgeschichte der geschlechtlichen Moral“ (so der Untertitel) verschrieben hatte. Mehrere Aufsätze Brünings, der mit der Zeit ein Experte für Keramiken geworden war,208 behandeln in Wort und Bild Mochica-Keramiken mit sexuellen Darstellungen (Abb. 75) – ein Thema, das auch andere Autoren der Anthropophyteia beschäftigte (Abb. 76).209 Brüning hatte solche Keramiken durch seine archäologische Tätigkeit zu Tage gefördert oder erworben. Auffällig ist, dass Brüning Dutzende von Keramiken, darunter viele Tierdarstellungen, fotografierte,210 diese jedoch im Gegensatz zu Fotos von Keramiken mit sexuellen Darstellungen zumeist nicht veröffentlichte.

206 Vgl. zu Kinsey Forde/Beddard (Hg.), The Institute of Sexology, S. 166 und für die heutige Wissenschaft z.B. Bourget, Sex, Death, and Sacrifice; Weismantel, Moche Sex Pots oder Kann/van Bussel (Hg.), Erotische Kunst des alten Peru. 207 Vgl. z.B. Homefield, Altrömische und altägyptische erotische Darstellungen und die dazugehörigen Fotografien aus dem Anhang der Anthropophyteia 9, 1912, Tafel XIV. 208 Vgl. Brünings 1893 und 1898 im Globus erschienen Aufsätze Fälschungen ethnographischer Gegenstände in Perú und Moderne Töpferei der Indianer Perus. 209 Vgl. Brüning, Beiträge zum Studium des Geschlechtslebens der Indianer; ders., Altindianische Grabgefäße aus Perú und ders., Altindianische Leichenbeigaben sowie LehmannNitsche, Zu den Anthropophyteia aus Alt-Peru und Reitzenstein, Eine Erklärung zu den altperuanischen Grabvasen. 210 Vgl. die Fotos im Archiv des Völkerkundemuseums in Hamburg, darunter auch wenige weitere sexuelle Darstellungen. Unter den Fotografien im Nachlass Brünings finden sich ansonsten kaum Bilder, die aus erotischer Sicht interessant sind. Es gibt außer Fotografien von unbekleideten Amazonasindigenen Fotos von Wäscherinnen und Muschelsammlerinnen sowie ein 1889 entstandenes, allerdings recht züchtiges Bild des Junggesellen Brüning als Hahn im Korb, gemeinsam mit drei Damen beim Picknick (Sig. 17.1725).

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Abbildung 75: Fotografie „Altindianische Leichenbeigaben“ von Hans Hinrich Brüning, vor 1912, aus Brüning, Hans Hinrich: Altindianische Leichenbeigaben in: Anthropophyteia 9, 1912, S. 250-252, Tafel VII im Anhang. Zur kleinen Abbildung unten findet sich im Text folgende Erläuterung Brünings: „Die kleine Photographie stellt ein sehr interessantes Stück meiner Sammlung dar, das der altperuanischen erotischen Kunst angehört. Auf einer schmalen Base befindet sich ein nacktes Weib; beide Arme hat sie wagerecht [sic!] nach vorne von sich gestreckt. In der rechten Hand hält sie eine kleine Trommel, in der linken eines der bekannten halbmondförmigen Messer (leider durch meine Unvorsichtigkeit abgebrochen). Vor und hinter ihr auf derselben Vase steht je ein Vogel, welche sie, jeder von seiner Seite, geschlechtlich angreifen.“ Ebd., S. 252.

In der Anthropophyteia, die Brüning offenbar im Abo nach Peru bezog, stehen diese Aufsätze neben folkloristischen und sexualwissenschaftlichen Studien, die z.T. nichts anderes sind als sehr derbe Sexgeschichtchen. Auch Brüning steuerte in weiteren Ausgaben solche bei. Seine Beiträge behandeln unter vielsagenden Titeln wie „Liebeszauber“, Erotische Tanzlieder der Peruaner, Abortinschriften aus Perú, Mittel gegen Unfruchtbarkeit, Vom Frauenblut und Der Einfluß der Ammenmilch auf den späteren Geschlechtstrieb des Säuglings folkloristische und sexualwissenschaftliche

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Themen;211 in zwei Beiträgen thematisierte er Inzest. 212 Dieses Thema war unter sexualwissenschaftlich forschenden Völkerkundlern anscheinend einigermaßen en vogue: Auch der Pionier der partizipierenden Beobachtung Bronisław Malinowski etwa beschäftigte sich während seiner Forschungen auf den heute zu PapuaNeuguinea gehörenden Trobriand-Inseln (1915-18) und in seiner Studie über Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien damit.213

Abbildung 76: Fotografie „Altperuanische Grabvasen“ von Ferdinand von Reitzenstein, vor 1910, aus Reitzenstein, Ferdinand von: Eine Erklärung zu den altperuanischen Grabvasen, in: Anthropophyteia 7, 1910, S. 232-234, Bild im Anhang S. 539. In der Dissertation des Ethnologen Michael Kraus heißt es über Reitzenstein: „In Briefen Walter Krickebergs ist die Rede davon, dass Reitzenstein von Preuss 1910 aus der amerikanischen Abteilung des Berliner Museums entfernt wurde und später auch in anderen Abteilungen kein Volontariat mehr erhielt. Krickeberg sprach Reitzenstein das wissenschaftliche Interesse ab und nannte ihn einen ‚Schwätzer und […] Charlatan‘, der in seinen Schriften andere Autoren hemmungslos plagiiere. Reit-

211 Brüning, „Liebeszauber“; ders., Erotische Tanzlieder der Peruaner; ders., Abortinschriften aus Perú; ders., Mittel gegen Unfruchtbarkeit; ders., Vom Frauenblut und ders., Der Einfluß der Ammenmilch auf den späteren Geschlechtstrieb. Vgl. außerdem ders., Einiges über die Erotik der alten Indianer; ders., Indianererzählungen aus Eten in Perú; ders., Volkslieder aus Perú und ders., Ein skatologischer Rassenunterschied. 212 Vgl. Brüning, Von der Blutschande und ders., Eine Indianergeschichte aus Eten in Perú. Vgl. für Inzest als pornografisches Thema zu Beginn des 20. Jahrhunderts Sigel, The Rise of the Overly Affectionate Family. 213 Malinowski, Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien.

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zensteins Interesse bezeichnete Krickeberg als nur mehr ‚rein pornographisches‘.“214 Vgl. weiterhin die Fotografien „Peruanische Liebespaare (in Form von Gefäßen)“, Museum für Völkerkunde zu Berlin, aus Buschan, Georg: Im Anfang war das Weib: Neue Beiträge zur Menschenund Völkerkunde (Bd. 3), Dresden: Carl Reissner, 1927, S. 182 und „Figur 3“, Museo de La Plata, Fotograf unbekannt, vor 1909, aus Lehmann-Nitsche, Robert: Zu den Anthropophyteia aus Alt-Peru, in: Anthropophyteia 6, 1909, S. 99-100, Tafel XVIII im Anhang. Weitere Abbildungen ebd. zeigen beispielsweise eine „Masturbierende Zwilligmißgeburt [sic!]“, „Sodomie mit einem Hunde“ und mehrfach „Coitus a posteriore in anum“.

Auch wenn die überwiegende Mehrzahl der Beiträge in der Anthropophyteia unseriös, pseudo-wissenschaftlich und bloß eigene oder verbreitete sexuelle Vorstellungen und Fantasien zu „verwissenschaftlichen“, d.h. ihnen den Anstrich der wissenschaftlichen Erforschung zu geben scheinen, geschieht diese Distanzierung aus heutiger Sicht. Wie schon allein die Liste der redaktionellen Mitarbeiter, darunter so renommierte Wissenschaftler wie Franz Boas, Georg Buschan, Sigmund Freud (1856-1939) oder Karl von den Steinen, deutlich macht, war die von Krauss im Verein mit dem Direktor des Leipziger Völkerkundemuseums Bernhard Hermann Obst (1837-1906) gegründete Anthropophyteia im frühen 20. Jahrhundert tatsächlich ein anerkanntes wissenschaftliches Fachblatt – vergleichbar mit der Zeitschrift Die Ehe und anderen Veröffentlichungen z.B. aber nicht nur aus dem Umfeld des Sexologischen Instituts von Magnus Hirschfeld (1868-1935), einem der Pioniere der Sexualwissenschaft im Deutschen Reich. Auch Robert Lehmann-Nitsche veröffentlichte in der Anthropophyteia. 1923 erschienen außerdem in den Beiwerken der Zeitschrift unter dem Pseudonym Victor Borde „Studien“, die Lehmann-Nitsche während seiner Forschungen zu und an Indigenen und indigener Sexualität sowie in Bordellen, Kneipen und anderen Etablissements des Rotlichtbezirkes von Buenos Aires gesammelt hatte. Bei den „Studien“ handelte es sich tatsächlich um anzügliche, z.T. sehr derbe Texte, Anekdoten, Sprüche und Witze.215 In den und durch die „Studien“ über Prostituierte wurde die Vorstellung einer überbordenden Sexualität (mindestens implizit) auch auf nichtindigene Südamerikanerinnen (und Südamerikaner) ausgeweitet. Erland Nordenskiöld beispielsweise berichtete, dass sich nicht nur indigene Frauen an Weiße verkauften (für Nordenskiöld oder auch Theodor Herzog eine Folge der Zivilisation – in den Augen der meisten anderen vermutlich ein quasi „natürlicher“ Vorgang216), sondern

214 Kraus, Bildungsbürger im Urwald, S. 447. 215 Vgl. Lehmann-Nitsche, Texte aus den La Plata-Gebieten sowie García/Chicote (Hg.), Voces de tinta. 216 „[D]ie Prostitution [zieht] unmittelbar im Gefolge der europäischen Kleidung ein. […] Daß man die freie Liebe, wie sie bei den meisten Indianern gang und gäbe ist, nicht mit der Prostitution auf eine Stufe stellen darf, liegt doch wohl auf der Hand, obwohl noch viele es nicht begreifen wollen, daß zwischen bezahlter Gunst und freiem Trieb ein grundlegender Unterschied besteht.“ Herzog, Vom Urwald zu den Gletschern der Kordillere, S. 89.

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dass es auch Bordelle gab, in denen weiße Frauen „anschafften“. 217 Berichte über verbreitete Prostitution finden sich auch in vielen Reiseberichten. Carl Kircheiß beschrieb die Prostitution in Buenos Aires – v.a. Europäerinnen boten sich an – als regelrechten Fleischmarkt.218 Richard Katz dagegen fiel die Prostitution in Rio de Janeiro noch mehr auf, da sie mit der strengen Sitte und Konvention, die sich auch in sehr züchtiger Bademode an den Stränden niederschlug, kontrastierte. Frauen wurden von Ehemännern, Vätern, Brüdern usw. argwöhnischst behütet vor dem Begehren der Männer: „Mit blitzenden Zähnen Negerinnen (in knallroter Seide) – Mulattinnen wie Pantherinnen – Morenas wie Elfenbeinpuppen (indianisches Blut mit Quelques Fleures verdünnt) – Französinnen, polnische Jüdinnen, Syrerinnen, Deutsche, Portugiesinnen, kühle britische Blonde, charmant, charmant, eine Palette von Milchweiß bis Kohlschwarz, die Farben ineinandergeflossen in der feuchten Wärme von Rio; Rassen von Kapstadt bis Hammerfest, gesondert, gemischt, wie man sie will – und doch nicht bekommt! Denn mögen ihre Rassen die Welt herumreichen und ihre Augen von Hellblau bis Negerschwarz: ihre Sitte bestimmt Rio.“219

Nahezu zwangsläufig schien daher die Prostitution als Ventil (wie es im Übrigen auch Stefan Zweig in seinen Memoiren für Europa beschrieb) und auch, dass es in Rio „Geheimkinos für Normale, für Anormale, für jedermann“ gab und erotische Filme sogar in öffentlichen Kinos.220 Doch trotz des schwülen Tones, mit dem er die Frauen in Rio de Janeiro und die Prostitution dort beschrieb und obwohl er auch in Quito Erfahrungen mit den Offerten einer Prostituierten sowie mit Syrern, „die allüberall in Gottes weiter Welt schweinische Fotos verkaufen“ gemacht hatte, behauptete Katz, Südamerika insgesamt nicht „erotisch“ zu finden, obgleich es gemeinhin als „erotisch“ gelte. Tatsächlich aber habe „Pirna mehr Nachtleben als Santiago“.221 Die meisten Autoren waren diesbezüglich jedoch ganz anderer Meinung. Der Auswanderer Otto Schreiber schrieb hinsichtlich der erotischen und sexuellen Möglichkeiten: „Damals kam ich frisch von Deutschland. Nach Chile. Fand das Land im Allgemeinen fruchtbar und im Besonderen mit einem hervorragenden Frauentypus gesegnet.“222 Ähnliche Beschreibungen von „heißblütige[n], leichtlebige[n]“ Südameri-

217 Vgl. Nordenskiöld, Indianerleben, S. 9. Er machte auch deutlich, dass sich diese zumindest theoretisch an indigene Männer verkaufen konnten: eine Umkehrung der gängigen Vorstellung und für viele Zeitgenossen sicher ein Graus. S. zum Motiv der durch Indigene gefährdeten weißen Frau Kap. 3. 218 Vgl. Kircheiß, Polarkreis Süd – Polarkreis Nord, S. 85. 219 Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, S. 240. 220 Vgl. Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, S. 240-245 sowie Zweig, Die Welt von gestern, S. 86-87. 221 Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, S. 174. Zitat zuvor ebd., S. 93. In Quito erhielt Katz im Hotel ein parfümiertes Briefchen, worin ihn „eine ungenannte Dame unter brennenden Liebesbeteuerungen in ihr Haus einlud. Zu Mitternacht. – Das Briefchen war hektographiert und nur [s]ein Name handschriftlich eingefügt.“ Ebd., S. 119. 222 Schreiber, Im Schatten des Calafate, S. 13.

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kanerinnen finden sich bei vielen anderen, von Karl May bis Franz Donat. 223 Letzterer deutete in seinen beiden vermeintlich wahren autobiografischen Berichten mehrere erotische und sexuelle Kontakte zu einheimischen Frauen an. Darunter befanden sich angeblich indigene ebenso wie weiße und mestizische Frauen und Heranwachsende. Besonders die Frauen der unteren Klassen und besonders die in Paraguay, so behauptete Donat, nähmen es „verhältnismäßig leicht mit der Liebe“.224 Dies lasse sich auf den Männermangel infolge von Revolutionen zurückführen. Tatsächlich gab es in Paraguay einen „Männermangel“, dabei handelte es sich jedoch um eine demografische Auswirkung des Tripel-Allianz-Krieges.225 Viele Frauen übernahmen daher Aufgaben, die ihr Geschlecht sonst nicht übernahm – und sie nahmen, so Donat, auch jeden Mann, dessen sie habhaft werden konnten. Der russische Südamerikareisende Alexander Jonin schrieb in seinem 1895/96 erschienenem Reisebericht: „Als ich mich zur Reise nach Paraguai anschickte, lobte mir ein Franzose das Land und sagte: ‚Da sind nur Frauen‘; er schnalzte dabei bedeutungsvoll mit der Zunge, und er hatte recht.“226 Noch fast hundert Jahre später wurde behauptet, die Frauen hätten sich am Hafen von Asunción um die ankommenden Matrosen geschlagen, um von diesen Kinder zu bekommen – und so das Land wieder stark zu machen.227 Am deutlichsten brachte die sexuellen Möglichkeiten, die Südamerika bot, vermutlich der 1899 in Frankfurt am Main geborene Abenteuerschriftsteller Ernst Friedrich Löhndorff zum Ausdruck. Sein wohl bekanntester und erfolgreichster Roman Blumenhölle am Jacinto (1932) beginnt mit der Schilderung der sexuellen Abenteuer des Protagonisten und Ich-Erzählers in einem Bordell im abgelegenen Flecken Remate de Males im äußersten Westen des brasilianischen Amazonasgebietes. Der Autor vergleicht dort auch die Brasilianerinnen bzw. die brasilianischen Prostituierten (die Unterscheidung ist bei Löhndorff nicht immer ganz klar) mit Frauen und Prostituierten, mit denen er in Japan und in der Südsee verkehrt habe. Im weiteren Verlauf der von Alkoholeskapaden und Fieberwahn geprägten Geschichte folgen zahlreiche weitere Begegnungen mit Prostituierten. Eine entsprechende Infrastruktur wurde also sogar für die Abgeschiedenheit des Urwalds im brasilianisch-peruanischen Grenzge-

223 May, Am Rio de la Plata, S. 46. 224 Donat, An Lagerfeuern deutscher Vagabunden, S. 89. Vgl. für Schilderungen erotischer Abenteuer ebd., S. 105-108, 118-123 und sogar mit einer Angehörigen der Oberschicht S. 140-141 sowie ders., Paradies und Hölle, S. 128-29. Donat schildert auch, wie er eine Zeit lang unter Indigenen lebte – und zwei Frauen hatte. Vgl. ebd., S. 198. Eventuell ist Donats angebliche sexuelle Attraktivität eine Umkehrung des Motivs des Exotischen: Für die südamerikanischen Frauen war der Deutsche der erotische Exot. 225 Vgl. zur Situation in Paraguay und die Vorstellung vom „Land der Frauen“ Potthast, „Paradies Mohammeds“ oder „Land der Frauen“?, bes. S. 331-388. 226 Jonin, Durch Süd-Amerika 1, S. 815. Ich danke Barbara Potthast für diesen Hinweis. 227 Vgl. Krier, Tapferes Paraguay, S. 42. Allerdings wurde dieses Klischee schon in den 1880er und 1890er Jahren widerlegt, etwa von Jordan, Ueber meine Reisen in Paraguay und von Bourgade La Dardye, Le Paraguay, S. 209: „A Buenos-Ayres, on trouve encore des gens que affirment d’un air entendu qu’au Paraguay il y a trente-deux femmes pour un homme. Je connais des voyageurs qui ont spécialement pris le paquebot pour aller s’assurer de visu de la chose. Il est temps que ces recontars prennent fin.“

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biet, den Ort der Handlung, unterstellt bzw. von vielen Lesern angenommen. 228 Denn auch Löhndorffs Romane und Erzählungen galten und gelten manchen immer noch als authentisch; in Blumenhölle am Jacinto habe er tatsächliche Erlebnisse als Gummisammler und Orchideenjäger am Amazonas literarisch verarbeitet. Als Vierzehnjähriger lief Löhndorff 1913 von zuhause fort, ging nach Hamburg, heuerte als Schiffsjunge an und fuhr zur See. In den nächsten Jahren führte er u.a. in der Südsee, in Asien, in Afrika und in den Amerikas wohl wirklich ein abenteuerliches Leben als Seemann, Walfänger, Fremdenlegionär und als Rekrut in Pancho Villas Revolutionsarmee.229 1927 kehrte Löhndorff nach Europa zurück und wurde 1933 NSDAPMitglied. Nach einer China-Reise (1938),230 während der er offenbar einen psychotischen Anfall erlitt, wurde er 1939 wegen angeblich erblicher psychischer Erkrankungen zwangssterilisiert und aus der Partei ausgeschlossen. Von den 1930er Jahren bis in die 1960er Jahre veröffentlichte er zahlreiche Abenteuerromane und Reiseerzählungen – ob über von ihm Erlebtes oder Erfundenes sei dahingestellt – die sehr erfolgreich waren. Heute ist Löhndorff, der 1976 von Sozialhilfe lebend in Waldshut bei Freiburg verstarb, trotz seiner abenteuerlichen Vita weitgehend in Vergessenheit geraten.231 In Löhndorffs 1950 erschienenem Roman Ultima Esperanza: Aufstieg und Ende des „Königs von Feuerland“ gibt es ebenfalls viele Huren und käuflichen Sex. Wiederum werden Orte, die abgelegener kaum sein könnten, in diesem Fall das argentinische Ushuaia und das chilenische Punta Arenas, mit einer vorzüglichen RotlichtInfrastruktur ausgestattet. Die zwei fiktiven Bordelle, die Albatros- und die SiebenMeere-Bar sind jedoch der Tiefpunkt und markieren das Ende der traurigen Laufbahnen der Prostituierten: „Schön sehen diese armen Huris der patagonischen Wasserfront nicht aus. Das Leben geht zur Neige für sie, ist nur noch schaler, dürftiger, bitter schmeckender Rest. Von Etablissement zu Etablissement sind sie einst gereist; vielleicht in Paris anfangend, über Bukarest, Marseille, Stambul, Port Said, Calcutta, Bombay, Shanghai, Frisco, New York, Montevideo, Rio und Buenos Aires. Überall täuschender Glanz, Bequemlichkeit, Nichtstun und glitzernder Schmuck. Und viel viel Alkohol, Haschisch, auch Marihuana, Cocain, Morphium und Heroin. Und von Jahr zu Jahr wurden die Etappen kürzer und dürftiger; die erstklassigen ‚Häuser‘ weichen

228 Vgl. Löhndorff, Blumenhölle am Jacinto. Ein Bild von Remate de Males konnte man sich anhand einer von Georg Hübner herausgegebenen Bildpostkarte machen, vgl. Bildpostkarte „Rio Javary Remate de Males“, Verlag: George Hübner & Amaral, Manaus, vor 1906, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1985/495-353. Vgl. zum Bild, das in deutschsprachigen Reiseberichten von brasilianischen Frauen gezeichnet wurde, auch Lisboa, Visões alemãs sobre as mulheres brasileiras. 229 Vgl. Löhndorff, Bestie Ich in Mexiko und ders., Der Indio: Kampf und Ende eines Volkes. Für seine Zeit bei der Fremdenlegion (nach wenigen Monaten desertierte er) vgl. ders., Afrika weint: Tagebuch eines Legionärs. Ebenfalls Orchideenjäger war Victor Ottmann (1869-1944), vgl. Ottmann, Der Orchideenjäger. 230 Vgl. Löhndorff, Unheimliches China. 231 Vgl. zum Leben Löhndorffs Matt-Willmatt, Das Abenteuer im Leben und Werk von Ernst Friedrich Löhndorff.

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zweit- und drittklassigen. Und mit einmal sind sie Ausschuß und am ‚Ende der Welt‘ angelangt. In Patagonien und auf Feuerland. Bei Kap Horn!“232

Wenn die Situation schon an den Enden der Welt, in Patagonien und im Amazonasdschungel, so aussah, welche sexuellen Möglichkeiten mussten sich dann erst in erschlosseneren Gebieten bieten, z.B. im südbrasilianischen Rio Grande do Sul, wo die meisten deutschen Auswanderer bzw. deren Nachkommen lebten? Ein Bericht von Hugo Luedecke (1883-1933) über Das Geschlechtsleben in Süd-Brasilien in der Anthropophyteia verhieß 1913 tatsächlich einiges. Der Verfasser, der selbst in Porto Alegre weilte und somit quasi über Insider-Wissen verfügte, legte dar, dass die sexuelle Freizügigkeit schon in der „Rassenmischung“ offenbar werde. Indigene Frauen und Afrikanerinnen sowie die in jüngerer Zeit eingewanderten Syrerinnen, Italienerinnen und Asiatinnen boten aufregende Exotik; außereheliche Sexualkontakte seien an der Tagesordnung und Prostitution weit verbreitet. 233 Der Naturwissenschaftler Franz Engel (1834-1920), der ab den späten 1850er Jahren Forschungsreisen in Venezuela und Kolumbien unternommen hatte, führte die auch von ihm immer wieder angedeutete sexuelle Leichtlebigkeit in seinen Studien unter den Tropen Amerika’s u.a. auf die klimatischen Bedingungen der Tropen zurück.234 Die bei Masotta abgebildete Fotografie einer barfüßigen, nicht-europäischen Frau mit aufgerissener, den Blick auf die Brüste freigebender Bluse macht die ständige Verfügbarkeit von Sexualpartnerinnen auch auf visueller Ebene deutlich. Neben der Frau steht ein distinguiert gekleideter weißer Mann mit Hut, Krawatte und Weste, der die eine Hand lässig in die Hosentasche gesteckt, in der anderen eine Zigarette haltend, seine Eroberung zu präsentieren scheint.235

232 Löhndorff, Ultima Esperanza, S. 29. Vgl. dazu auch Eschweiler, Liebeszauber am Ende der Welt (Teil 1). Auch wenn Löhndorffs Roman zugegebenermaßen deutlich nach dem in dieser Arbeit untersuchten Zeitraum erschien, kann dies, wenn schon nicht als Beleg für die Vorstellung im frühen 20. Jahrhundert, so doch als Beleg für die Kontinuität dieser Vorstellung dienen. 233 Vgl. Luedecke, Das Geschlechtsleben in Süd-Brasilien. 234 Vgl. Engel, Studien unter den Tropen Amerika’s sowie zu Engel Alert, Unter den Tropen Amerikas. 235 Vgl. die Fotografie, ohne Angaben zu Fotograf, Ort oder Datierung, vermutlich Argentinien, Chaco (?), nach 1910 (?), bei Masotta, Indios en las primeras postales fotográficas argentinas, S. 11. Ähnlich wirkt auch ein von Boggiani aufgenommenes Foto, das nach dem Werk von Frič/Fričová, Guido Boggiani zitiert wird auf der Website Portal Guaraní, http://www.portalguarani.com/49_guido_boggiani/5321_tres_mujeres_con_los_oficiales _del_braga__fotografia_de_guido_boggiani.html [26.08.2018]. Es zeigt fünf „weiße“ Männer, laut Bildunterschrift die „oficiales del Braga“, vor sich, wie Trophäen, drei mit den erwähnten, für Aufnahmen von Boggiani typischen Tüchern bekleideten Frauen stehen. Bei den jungen Frauen handelt es sich offenbar um Angehörige der Chamacoco, die auch auf einigen Bildpostkarten der Kollektion Boggiani abgebildet sind. Vgl. Lehmann-Nitsche (Hg.), Die Sammlung Boggiani von Indianertypen aus dem centralen Südamerika, No. 51 und 52.

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Abbildung 77: Bildpostkarte „Indio Chamacoco, ‚Millet‘, Puerto 14 de Mayo“, Nr. 42 der Kollektion Boggiani, hg. v. Robert Lehmann-Nitsche, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, 1904, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E 1463. Vgl. auch die Bildpostkarte mit der Nr. 43, Ident.Nr. VIII E 1464.

Die sexualisierte Wahrnehmung und die Stereotype der feurigen Latina bzw. des feurigen Latino und der mit dem Katholizismus kontrastierenden (bzw. der aus diesem resultierenden) sexuellen Freizügigkeit in Lateinamerika haben eine lange Kontinuität (wie gesehen, geht diese bis ins 16. Jahrhundert zurück) und dauern bis heute fort.236 Eventuell in einer Art Rückwirkung haben sich dieses Bild auch Lateinamerikaner (die männliche Form ist hier wohl zutreffend) zu eigen gemacht.237

236 Vgl. z.B. Jaud, Resturlaub oder eine Anfang 1983 gelaufene Bildpostkarte von Punta del Este, Uruguay, im Archiv des Altonaer Museums, die auf der Bildseite das Foto einer Frau im Bikini zeigt, der ein Träger lasziv von der Schulter rutscht. Auf der Addressseite der von Fantasías S.A. in Montevideo herausgegebenen Postkarte schrieb der Absender offenbar an einen Freund: „Bingo!! 83 ist da!! Ich hab’s in der heißen Sonne Südamerikas genossen[,] ‚tierisch geil‘ hier.“ Bildpostkarte „Punta del Este“, Verlag: Fantasías S.A., Montevideo, gelaufen 06.01.1983, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 2012-144, 392. Auch für andere Weltregionen bestehen stereotype sexuelle Zuschreibungen fort. Sie werden deutlich, wenn Gloria von Thurn und Taxis im Interview mit Michel Friedmann

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Wie viele der bisher untersuchten Bilder und die dazugehörigen Diskurse zeigen, trennte oft nur das „r“ das Exotische vom Erotischen. Den erotischen Kitzel des Fremden machte sich im Untersuchungszeitraum auch schon – sex sells – die Werbung zunutze. Hans Stosch-Sarrasani z.B. warb mit leicht bekleideten Südamerikanerinnen für seinen Zirkus.238 Das Fremde, Exotische wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert aber vor allem im wissenschaftlichen (und künstlerischen) Kontext öffentlich nackt zur Schau gestellt und abgebildet, ohne gegen den §184 des Strafgesetzbuches zu verstoßen. In der Ausgabe der von Magnus Hirschfeld gegründeten sexualreformerischen Zeitschrift Die Aufklärung vom November 1931 etwa ging es, so der Titel, um „Exotische Liebesbräuche“.239 Die vermeintliche Distanz zwischen Forschern und bürgerlichem Publikum auf der einen und den indigen-amerikanischen (und noch mehr afrikanischen oder orientalischen oder asiatischen) ethnologischanthropologischen Studienobjekten auf der anderen Seite sorgte einerseits für die erotische Wirkung der für Natur und ungezügelte Sexualität stehenden Frauen und Männer auf den Fotos, ohne dass die Forscher andererseits in den Verdacht gerieten, auf diese Wirkung abzuzielen, ging es ihnen doch um die Erforschung fremder Völker und die fotografische Konservierung aussterbender Kulturen. Manche Bilder betonen die Exotik der „Studienobjekte“ in besonderem Maße. Bildpostkarten aus der Kollektion Boggiani etwa zeigen einen Indigenen vom Volk der Chamacoco, der (aus welchen Gründen auch immer) eine Riesenschlange um den Hals trägt (Abb. 77). Zahlreiche Karten zeigen außerdem Frauen (keine Männer!) mit Tätowierungen im Gesicht und am Körper (Abb. 78) – eine Mode, die Erland Nordenskiöld, wie im

davon faselt, die Schwarzen „schnackselten“ halt gern, oder wenn im Sextourismus europäische, nordamerikanische und australische Männer nach Südostasien und Nordamerikanerinnen und Europäerinnen nach Kenia reisen. Vgl. dazu z.B. Staszak, L’imaginaire géographique du tourisme sexuel. Zum Sextourismus in Brasilien und die Hypersexualisierung afrobrasilianischer Frauen und Männer vgl. Williams, Sex Tourism in Bahia. 237 Vgl. im Bereich der Literatur z.B. die Romane der Nobelpreisträger García Márquez, Erinnerung an meine traurigen Huren; ders., Die Liebe in den Zeiten der Cholera oder Vargas Llosa, Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto sowie z.B. den Kinofilm Y tu mama también, Film von Alfonso Cuarón (Produktion: Alianza Films International Inc., Anhelo Producciones und Besame Mucho Pictures, Mexiko 2001). 238 Vgl. den Titel „Mit Sarrasani in Südamerika“, Heft 2, hg. v. Hans Stosch-Sarrasani, div. Aufl., Dresden: Selbstverlag, 1923-1928, auf der Website von P. Claus, Hans Stosch Sarrasani, http://vorkriegscomics.rotfuchs44.bplaced.net/sarrasani.htm [26.08.2018] und allgemein Wolter, Die Vermarktung des Fremden; dies., Und sonntags nach Samoa, bes. S. 75 u. 80; Bayerdörfer/Hellmuth (Hg.), Exotica: Konsum und Inszenierung des Fremden sowie Ciarlo, Advertising Empire. Vgl. für die Kontinuität dieser Verbindung auch Staszak, Danse exotique, danse érotique. 239 Die Beiträge behandeln Prostitution in Indien, Algerien und Japan sowie die Vielehe in China und sind mit Fotografien v.a. von nackten Frauen illustriert. Vgl. Manzooruddin Ahmad, Prostitution in Indien; Riedel, Die Töchter der Liebe; Cawe, Chinesen lösen das Eheproblem und Valerius (Pseud.), In japanischen Liebesgassen. Ich danke Judith Große von der ETH Zürich, die mich auf diese Nummer aufmerksam gemacht und ihre Kopie mit mir geteilt hat.

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vorigen Kapitel erwähnt, mit den Worten kommentierte: „Ich habe in anderen Ländern schon hässlichere Moden gesehen.“240 Geläufig war auch die visuelle Exotisierung/Erotisierung durch die Ausstattung und Ausstaffierung der Fotografierten und ihrer Umgebung etwa mit Federn, Tierfellen, Perlen, Tüchern oder Teppichen. Diese Codes waren Teil der kolonialen Imagination und bewirkten eine entsprechende Einordnung der Bilder durch die Betrachter. 241 Mitunter mögen Bilder aber auch authentischen Schmuck gezeigt haben, wie im Fall der Fotografie des „Brautpaares vom Putumayo“, das der kolumbianische Verleger Jorge López Alvarez in den 1920er Jahren als Bildpostkarte herausgab (Abb. 79).

Abbildung 78: Bildpostkarte „India Caduveo (Mbayá), Rio Nabiléque“, Nr. 18 der Kollektion Boggiani, hg. v. Robert Lehmann-Nitsche, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, 1904, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum,

240 Nordenskiöld, Wälder: Streifzüge in Südamerika, S. 33. Entsprechende Ansichten zirkulieren bis heute, wie etwa die Bildpostkarte „India Maca Chaco – Paraguay“, Fotografie und Verlag: Adolfo Maria Friedrich, Paraguay, gelaufen 29.03.1977, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 2005/65,5 zeigt. 241 Vgl. auch Zox-Weaver, Erotic Photography, S. 498 und weiterhin Gauthier/Staszak, Framing Coloniality sowie die Bildpostkarten in Beukers, Der Reiz des Exotischen.

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Ident.Nr. VIII E Nls 370. Vgl. auch die Bildpostkarten mit den Nr. 19, 20 und 21, Ident.Nr. VIII E 1440 a, VIII E 1441 und VIII E 1442.

Abbildung 79a+b: Bildpostkarte „Brautpaar vom Putumayo“, Fotografie: Thomas Whiffen, 1908/09, Verlag: Jorge López Álvarez, Pasto (Nariño, Kolumbien), datiert August 1921, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E 4100, erworben 1923 von Werner Hopp. Die Bildpostkarte lässt sich auch datieren anhand des Drucks in der oberen rechten Ecke der Adressseite. Die Firma Azo verwendete wie andere Hersteller auch im Lauf der Zeit unterschiedliche Designs für die BriefmarkenBox; die nach oben und unten weisenden Dreiecke wurden zwischen 1910 und 1930 verwendet. Vgl. die online verfügbare Datenbank von Playle’s Auctions, http://www.playle.com/real photo/ [26.08.2018].

Wie etwa die Bildpostkarte eines „rumänischen Typen“ (einer Frau, die an einen Baum gelehnt in verführerischer Pose tief in ihren Ausschnitt blicken lässt 242) zeigt, galt diese Exotisierung und Erotisierung aber auch schon für gar nicht so weit entfernt lebende Menschen zum Beispiel in Osteuropa, oder in Spanien (musikalischen Anteil daran hatten etwa Georges Bizets „Carmen“ und Nikolai Rimski-Korsakow mit dem „Capriccio Espagnol“), Italien und anderen Mittelmeeranrainern sowie für

242 Vgl. die Bildpostkarte aus der Sammlung von Dieter und Susanne Kahl im Internet unter hattp://www.zeno.org/Bildpostkarten/M/Trachten,+Ethno/Rum%C3%A4nien/Erotik [26. 08.2018].

Der sehnsüchtige Blick | 243

die Samen in Skandinavien.243 Auch pornografische Bilder gab es nicht nur von außereuropäischen „Anderen“, sondern ebenfalls von Frauen aus der Arbeiterklasse. 244 Am stärksten betroffen von Exotisierung, Erotisierung und „Pornografisierung“ waren allerdings Afrikanerinnen. Dies erklärt sich neben dem untersten Status, der Schwarzen im zeitgenössischen „Rassensystem“ zugewiesen wurde, vor allem auch aus dem Politikum der sexuellen Kontakte, die deutsche Kolonisatoren zu schwarzen Frauen (und Männern) in den afrikanischen Kolonien – nicht selten erzwungen – hatten.245 Beispiele für die Exotisierung und Erotisierung von Schwarzen und besonders von schwarzen Frauen finden sich ebenso im wissenschaftlichen Rassen- und Sexualitätsdiskurs (wie etwa in Buschans Im Anfang war das Weib, in der Anthropophyteia oder der vom Sexualreformer Ludwig Levy-Lenz (1892-1966) herausgegebenen Zeitschrift Die Ehe deutlich wird246) wie in der Hoch- (z.B. in den Gedichten von

243 Wie in der Einleitung erwähnt, wurden bei der ersten Völkerschau von Hagenbeck 1875 in Hamburg zusammen mit den neu eingetroffenen Rentieren auch „echte Lappländer“ ausgestellt. Außerdem gibt es in der Fotografischen Sammlung des Museum Ludwig in Köln z.B. Fotografien von (halb)nackten Samen, die denen von indigenen Südamerikanerinnen nicht unähnlich sind. Vgl. weiterhin die anthropologischen Bilder von Samen, die im Auftrag des französischen Prinzen und Präsidenten der Société de Géographie, Roland Bonaparte (1858-1924) während einer Lappland-Expedition 1884 entstanden, in der online-Ausstellung von Christopher Wahren Fine Photographs, Special Exhibit: Laplander Studies by Roland Bonaparte, 2006, http://cwfp.biz/cgi-bin/se/bonaparte_lapons/tm.pl?int ro [26.08.2018] sowie Escard, Le Prince Roland Bonaparte en Laponie. Für die Exotisierung der Menschen auf der iberischen Halbinsel vgl. knapp Rupprecht, Die Liebe der Linken zu Lateinamerika, S. 16 oder unter den Quellen z.B. Rehbein, Vom Polarstrande zum Wüstenrande; für das erotische mediterrane „other“ in Italien etwa in den später noch etwas ausführlicher behandelten piktoralistischen Fotografien von Gloedens s.u. und vgl. knapp Zox-Weaver, Erotic Photography, S. 498; für Osteuropa vgl. Stachel/Thomsen (Hg.), Zwischen Exotik und Vertrautem und darin bes. Mick, Reisen nach „Halb-Asien“ oder Stachel, Halb-kolonial und halb-orientalisch? sowie den Beitrag zur Visualisierung von Telesko, Visualisierungsstrategien im Tourismus. 244 Vgl. Rowley, Open Letters, S. 107 sowie ausführlich z.B. Sigel, Governing Pleasures. 245 Vgl. Onken, „Wir sind Deutsche, wir sind Weiße und wir wollen Weiße bleiben!“ oder El-Tayeb, Schwarze Deutsche. Vgl. zur sexualisierten Darstellung schwarzer Frauen auf kolonialen Bildpostkarten Corbey, Alterity: The Colonial Nude und Beukers, Der Reiz des Exotischen, bes. S. 10, 149, 162, 163, 167, 172, 173, 185, 186, 192 u. 196. Vgl. auch die Beschreibung des Dissertationsprojektes von Severin, Kolonialismus und Maskulinität. 246 Vgl. z.B. Viera, Die Ehe der Schwarzen. Der Artikel ist illustriert mit einem Foto einer nackten Afrikanerin in erotischer Pose; im Text finden sich orientalistische Haremsbezüge. Vgl. weiterhin Bieber, Weiberleiberhandel in unseren Tagen und die zum Text gehörenden Fotografien einer „Prostituierten“, Tafel XV im Anhang sowie die Fotografien „Ovatjimbafrauen (Feldherero)“, Museum für Völkerkunde zu Lübeck, und „Mädchen aus Kamerun in der Zeit der Vorbereitung zur Ehe“, Museum für Völkerkunde zu Budapest, Fotografen unbekannt, nach 1900 (?), aus Buschan, Im Anfang war das Weib 3, S. 84 u. 165

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Charles Baudelaire) und Populärkultur. Für Letzteres dürfte das bekannteste Beispiel die US-amerikanische Tänzerin, Sängerin und Schauspielerin Josephine Baker (1906-1975) als „Projektionsfläche für enthemmte Sexualität“ sein. 247 Die Projektion von Sexualität als wilde, ungezähmte Natur und damit als das genaue Gegenteil der zivilisierten bürgerlichen Gesellschaft auf schwarze „Exoten“ hatte eine lange Tradition.248 Die schwarze „Rasse“ und besonders die schwarze Frau wurden zum Symbol der Sexualität. Die schwarze Frau, aber auch die schwarze „Rasse“ allgemein, sei nicht im Stande, im Gegensatz zum weißen bürgerlichen Mann, ihren Geschlechtstrieb zu kontrollieren. Schwarze Sexualität wurde aufgrund der behaupteten Disziplinlosigkeit mit Abweichungen von der sexuellen Norm, wie sie eben der weiße bürgerliche Mann verkörperte, verbunden: Prostitution und Homosexualität galten als kennzeichnend für afrikanische Kulturen. 249 Der Ethnograf und Anatom Gustav Fritsch stellte bei der Untersuchung von weiblichen „Hottentotten“, besonders ihrer Brüste und Genitalien, fest, dass die Größe der Klitoris „als eine Folge der außerordentlich häufigen Masturbation anzusehen ist; jedenfalls wird dieses Laster viel zur monströsen Ausbildung der Eigenthümlichkeit beitragen können.“250 Sarah Bartmann, die sogenannte „Hottentotten Venus“, war als „typische“ Afrikanerin ebenfalls ein Sinnbild für die Verkörperung von Sexualität durch schwarze Frauen. Sie litt unter Steatopygia („Fettsteiß“) und Hypertrophie der Labia. Zwischen 1810 und 1815 wurde sie „unter enormem öffentlichen und wissenschaftlichen Interesse“ in verschiedenen europäischen Hauptstädten „ausgestellt“. 251 „Schwarze Frauen wurden mit krankhaft vergrößerten Geschlechtsorganen als Symbol ihrer an sich krankhaften Sexualität ausgestattet und somit noch mehr als zuvor auf diese reduziert. Sie

247 Holzer, Rasende Reporter, S. 297. Vgl. außerdem z.B. Dorgerloh, Josephine Baker: Die Sexikone der Zwischenkriegszeit sowie z.B. die Fotografien „Josephine Baker“ von Lucien Waléry, Paris, 1927, zitiert nach Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia. org/wiki/File:JosephineBakerBurlesque.JPG und https://commons.wikimedia.org/wiki/Fi le:Baker_Banana.jpg [26.08.2018]. Vgl. außerdem Edschmid, Afrika nackt und angezogen, z.B. die Fotografie „Afrika nackt. Abessinien: Eingeborene Mädchen beim Baden im Fluß“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre (?). 248 Vgl. Martin, Schwarze Teufel, edle Mohren. 249 Vgl. El-Tayeb, Schwarze Deutsche, S. 151. 250 Vgl. Fritsch, Die Eingeborenen Süd-Afrika’s, S. 283. Untersuchungen schwarzer Sexualität beschränkten sich fast immer auf Frauen, bzw. ihre Geschlechtsorgane, da sie als doppelt „minderwertig“ angesehen wurden, erstens als Angehörige der „niedrigstehendsten Rasse“ und zweitens eben als Frauen. Vgl. El-Tayeb, Schwarze Deutsche, S. 153 und weiter zur Geschichte des afrikanischen Körpers als Gegenstand medizinischer und psychologischer Untersuchungen aus europäischer Sicht Butchart, The Anatomy of Power. 251 Vgl. El-Tayeb, Schwarze Deutsche, S. 153 und Gilman, Black Sexuality and Modern Consciousness, S. 38-39. Auch Fritsch hatte „Steatopygia“ als typisches Merkmal weiblicher „Hottentotten“ beschrieben, denen „vor einem europäischen Leserkreis die Bezeichnung ,des schönen [Geschlechts]‘ beizulegen, [...] fast als Ironie erscheinen [dürfte]“. Fritsch, Die Eingeborenen Süd-Afrika’s, S. 279.

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verkörperten all das, was weiße Frauen nicht waren, bzw. nicht sein durften. Diese Dichotomie rechtfertigte zum einen die Kontrolle weißer Frauen – war diese doch offensichtlich nötig, um sie vor einem weit schlimmeren Schicksal zu bewahren – zum anderen die sexuelle Gewalt gegen schwarze Frauen. Sie wurden zwar als abstoßend dargestellt, gleichzeitig wurde jedoch ihre ständige sexuelle Verfügbarkeit vorausgesetzt. Die symbolische Vergewaltigung des afrikanischen Kontinents durch den Kolonialismus etwa, [sic!] war von einer realen Vergewaltigung seiner Einwohnerinnen begleitet, ohne daß daraus moralische Probleme entstanden wären.“252

Abbildung 80: Bildpostkarte, Verlag unbekannt, Argentinien, nach 1905, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VII E Nls 226.

Ähnlich klinisch wie die geschilderten Untersuchungen an Afrikanerinnen wirkt auch das Foto einer Indigenen, das als Bildpostkarte z.T. mit der Bildunterschrift „India de pecho sobrepuesto“ verbreitet wurde (Abb. 80). Carlos Masotta schrieb dazu: „Der Körper der Frau wurde mit entblößten Brüsten und den Händen auf dem Rücken mit der Kamera konfrontiert. Außerdem ist die Postkarte das Produkt einer Fotomontage, bei der das Bild des Körpers über einen Dschungel-Hintergrund gelegt wurde. Der Blick der Kamera, die

252 El-Tayeb, Schwarze Deutsche, S. 153.

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Neigung des Kopfes und der Gesichtsausdruck geben den Eindruck einer kritischen Anfrage und von Aktivität wieder, was der Passivität des Körpers widerspricht.“ 253

Neben Afrika und für viele vermutlich mehr noch als dieses, der Orient, die Karibik und Südamerika waren die Südsee und vor allem die dort lebenden Frauen die Projektionsfläche für erotische Träume, Sehnsüchte und Fantasien. Die Gleichsetzung von nackten Frauen und Mädchen mit der Natur und mit einer natürlichen, ungezwungen ausgelebten Sexualität geht zurück auf Reiseberichte des 18. Jahrhunderts, wie etwa den des ersten französischen Weltumseglers Louis Antoine de Bougainville (1729-1811).254 Dieser bestätigte mit seiner Beschreibung der Bewohner Tahitis Rousseaus Idee vom „Edlen Wilden“ und bezeichnete die Insel als Garten Eden und Neu-Kythira (die Ionische Insel Kythira ist in der griechischen Mythologie neben Zypern die Insel der Liebesgöttin Aphrodite). Auch andere Autoren bemühten mythische Bilder und Antikisierungen, um die Tahitianerinnen, die den Europäern auch hinsichtlich ihrer körperlichen Schönheit gefielen, zu beschreiben: Sie seien Nymphen, Circen, Grazien oder Liebestempeldienerinnen.255 Die erotische und sexualisierte Wahrnehmung der Südsee und ihrer Bewohner, besonders ihrer Bewohnerinnen, ist ein wirkmächtiges Motiv, das auf unterschiedlichen Ebenen auch im Untersuchungszeitraum Wissenschaftler wie Margaret Mead und Bronisław Malinowski, der in seiner Arbeit Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien viele Bilder von nackten Einwohnern der Trobriand-Inseln veröffentlichte,256 ebenso beschäftigte wie eine breitere Öffentlichkeit. Ein Beispiel für letzteres ist Robert J. Flahertys (1884-1951) auf Samoa spielender und auch dort gedrehter Film Moana: A Story from the South Seas von 1926.257

253 „El cuerpo de la mujer fue enfrentado al objetivo de la cámara con los pechos descubiertos y las manos en la espalda. Además la postal es producto de un fotomontaje donde la imagen del cuerpo se superpuso a un fondo selvático. La mirada a cámara, la inclinación de la cabeza y la expresión del rostro reproducen un efecto de interpelación crítica y de actividad que contradice la pasividad corporal.“ Masotta, Cuerpos dóciles, S. 7, Übersetzung von Hinnerk Onken. 254 Vgl. Bougainville, Reise um die Welt sowie knapp Ette, Est-ce que l'on sait oú l'on va?, S. 55. 255 Vgl. Küchler Williams, Erotische Paradiese, bes. S. 95-100 und knapper auch Wendt, Die Südsee, bes. S. 46. Vgl. weiterhin die Studie zum französischen Kolonialismus von Matsuda, Empire of Love. 256 Vgl. Malinowski, Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien und Mead, Coming of Age in Samoa sowie Forde/Beddard (Hg.), The Institute of Sexology, S. 130147. 257 Vgl. Moana: A Story from the South Seas, Film von Robert J. Flaherty (Produktion: Famous Players-Lasky Corporation, Vertrieb: Paramount, USA 1926) sowie Rosenbaum, Review of Moana. Der Film konnte allerdings nicht an den Kassenerfolg von Flahertys Nanuk, der Eskimo von 1922 anknüpfen.

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Abbildung 81: Fotografie „Botokuden-Schönheiten“ von Kurt Neubert (?), 1927/29, aus Plüschow, Gunther: Silberkondor über Feuerland, Berlin: Ullstein, 1929, nach S. 76. Vgl. auch die Bildpostkarten „Indias Chamacoco, ,Ópièt‘, ,Pógowet‘, ‚Tomásita‘ und ‚Aonéi‘, Puerto 14 de Mayo“, Nr. 56, 58, 60, 72, 73 und 74 der Kollektion Boggiani, hg. v. Robert LehmannNitsche, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, 1904, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E 1477, VIII E 1479, VIII E 1481, VIII E 1493 und VIII E 1494 sowie ehem. Bestand Berliner Anthropologische Gesellschaft, Ident.Nr. P 12832.

Besonders verstörend für die meisten heutigen Betrachter ist, dass unter den wissenschaftlich ebenso wie nicht-wissenschaftlich genutzten Nacktfotografien aus Südamerika wie auch aus anderen Weltregionen auch Bilder von Heranwachsenden und Kindern sind. Das gilt sowohl für veröffentlichte fotografische Aufnahmen, als auch für solche, die in den Nachlässen von Forschern wie Lehmann-Nitsche zu finden sind und nicht veröffentlicht wurden. So gibt es etwa auch im fotografischen Nachlass von Hans Hinrich Brüning, der außer von Indigenen in der peruanischen selva keine Nacktaufnahmen machte, eine Fotografie nur leicht bekleideter Mädchen und junger Frauen beim Muschelsammeln, die zumindest eine erotische Komponente hat. 258 Während dieses Bild nur von sehr wenigen Personen gesehen wurde, hatten andere

258 Vgl. Brüning, Fotodokumente aus Nordperu, S. 86.

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Fotografien ein überaus großes Publikum. Gunther Plüschow (bzw. sein Verleger) etwa illustrierte den 1929 erschienenen Bestseller Silberkondor über Feuerland u.a. mit einer fotografischen Abbildung, die drei heranwachsende, nur mit einem Wickelrock bekleidete Botokuden-Frauen zeigt (Abb. 81). In dem Text, der als Reisebericht authentische Schilderungen versprach, heißt es über die Heranwachsenden, sie hätten „wundervolle, feste Brüste“, die – zur großen Freude der männlichen Europäer – unbedeckt seien.259 Die in der Entwicklung begriffenen Brüste von heranwachsenden Indigenen sind auch auf zahlreichen weiteren Bildern, etwa dem von Damiana oder der von Grüter verlegten Bildpostkarte mit dem Motiv der Lengua (s.o. Abb. 74) sowie auf mehreren Bildpostkarten der Kollektion Boggiani zu sehen. Aber wenigstens bei Plüschow handelt es sich dabei nicht um eine wissenschaftliche Dokumentation von Indigenen, sondern um eine recht offene Erotisierung der weiblichen Angehörigen der Botokuden (die männlichen Botokuden werden dagegen eher als wild und kriegerisch dargestellt). Diese indigene Gruppe kam dafür vor allem deshalb in Frage, weil sie noch „natürlich“ lebte – im Gegensatz etwa zu den nur „mit Lumpen bekleideten“ „Kanalindianern“, denen Plüschow auf seiner Heimreise im chilenischen Ultima Esperanza begegnete. Diese waren für Plüschow und seine Leser ein Sinnbild der negativen Auswirkungen der „Moderne“ auf Indigene („nun stehen diese armen Menschen unter dem Schein einer trüben elektrischen Lampe“ 260) und boten keine Möglichkeit mehr für erotische Eroberungen. Der erotische oder sexuelle Reiz, den Fotografien von nackten oder nur leicht bekleideten Heranwachsenden und Kindern auf manche Zeitgenossen ausübten, findet sich analog auch in zahlreichen pornografischen Romanen des 19. Jahrhunderts. Defloration und im Zusammenhang damit sexuelle Beziehungen von Männern mit jungen Mädchen von sechzehn, dreizehn und sogar zehn Jahren sind häufig begegnende Motive.261 Auch Franz Donat etwa beschreibt in An Lagerfeuern deutscher Vagabunden sein erotisches Anbändeln mit einer dreizehnjährigen Mestizin. 262 Und im Bildband von Georg Buschans Im Anfang war das Weib findet sich neben zahlreichen weiteren Abbildungen von z.T. sehr jungen Mädchen eine Fotografie zweier Mädchen von den Salomonen, die, wie in der Bildunterschrift ausdrücklich bemerkt wurde, bereits defloriert waren.263 Hier wirkt neben dem oben behandelten Aspekt der

259 Plüschow, Silberkondor über Feuerland, S. 88. 260 Plüschow, Silberkondor über Feuerland, S. 239-240. 261 Vgl. Schick, The Erotic Margin; Hyde, Geschichte der Pornographie oder Marcus, Umkehrung der Moral. Das gilt auch für Inzest, vgl. Sigel, The Rise of the Overly Affectionate Family. 262 Donat, An Lagerfeuern deutscher Vagabunden, S. 105-8. Erland Nordenskiöld berichtete diesbezüglich über die Zustände im bolivianischen Carmen de Mojos im frühen 19. Jahrhundert: „D’Orbigny erzählt, wie die Pfarrherren und Corregidores alle Mädchen, sobald sie ein Alter von neun bis zehn Jahren erreicht hatten, zu sich bringen ließen. Dieses Alter hielten wohl die Herren für das appetitanregendste.“ Nordenskiöld, Indianer und Weisse in Nordostbolivien, S. 128. Nordenskiöld bezieht sich auf Orbigny, Voyage dans l’Amérique méridionale. 263 Buschan, Im Anfang war das Weib 3, S. 158. Vgl. auch das pornografische Bild eines Mädchens aus Kamerun „in der Zeit zur Vorbereitung der Ehe“ ebd., S. 165 sowie das

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Eroberung vermutlich auch der Aspekt der Hygiene, ein wichtiger Diskurs des 20. Jahrhunderts: Nur Jungfrauen galten als Sexualpartnerinnen hinsichtlich der Infizierung mit Geschlechtskrankheiten wie Syphilis als völlig unbedenklich.264 Hanns Heinz Ewers schrieb in seiner Erzählung Die Mamaloi (1907) über Haiti, „daß wir hierzulande alle mit Vorliebe Mädchen von acht Jahren nehmen, da wir sonst fast nur kranke und Jungfrauen überhaupt nicht mehr bekämen“. 265 Darüber hinaus war Pädophilie zumindest unter Wissenschaftlern ein Thema, das einigermaßen breit diskutiert wurde. Der in Thailand lebende französische Sexologe René Guyon (1876-1963) etwa trat, Freuds Konzept des Kindes als sexuelles Wesen adaptierend, für sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern ein. Zumindest unter Kollegen war Guyon als Sexologe anerkannt; er stand in mehr oder weniger engem Austausch mit Magnus Hirschfeld, Alfred Kinsey und Norman Haire (1892-1952), der das Vorwort für die englische Übersetzung des ersten Bandes sei-

Bild eines zwölfjährigen Mädchens „in der zweiten Streckung“ und eines Mädchens „von 10 Jahren mit Knospenbrust“ ebd., S. 78 u. 82. 264 In einem Diskussionsbeitrag auf dem Deutschen Kolonialkongress in Berlin wies ein gewisser A. Siegmund, ein Mediziner, darauf hin, dass es zwar in den deutschen Siedlungen, wo Deutsche unter sich blieben, angeblich keine Probleme mit Syphilis, Gonorrhoe und anderen Geschlechtskrankheiten gebe, dies sich aber in den Städten ganz anders verhalte: „Wo die Deutschen in Städten mitten zwischen Brasilianern wohnen, unter denen die Syphilis eine ganz ungeheuere [sic!] Verbreitung hat, liegen diese Dinge natürlich viel ungünstiger.“ Diskussionsbeitrag von A. Siegmund in Staudinger (Hg.), Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1902, S. 671. Vgl. zur Angst vor Syphilis weiterhin z.B. König, Syphilisangst in Frankreich und Deutschland. Die Schrecken der Syphilis beschrieb Stefan Zweig in seinen Memoiren sehr eindrücklich: „Durch Wochen und Wochen wurde der ganze Körper eines mit Syphilis Infizierten mit Quecksilber eingerieben, was wiederum zur Folge hatte, daß die Zähne ausfielen und sonstige Gesundheitsschädigungen eintraten; das unglückliche Opfer eines schlimmen Zufalls fühlte sich also nicht nur seelisch, sondern auch physisch beschmutzt, und selbst nach einer solchen grauenhaften Kur konnte der Betroffene lebenslang nicht gewiß sein, ob nicht jeden Augenblick der tückische Virus aus seiner Verkapselung wieder erwachen könnte, vom Rückenmark aus die Glieder lähmend, hinter der Stirn das Gehirn erweichend. Kein Wunder darum, daß damals viele junge Leute sofort, wenn bei ihnen die Diagnose gestellt wurde, zum Revolver griffen […].“ Zweig, Die Welt von gestern, S. 91-92. Besonders im Zusammenhang mit den deutschen Kolonien in Afrika waren Syphilis und andere Geschlechtskrankheiten ein großes Thema. Vgl. knapp Onken, „Wir sind Deutsche, wir sind Weiße und wir wollen Weiße bleiben!“, S. 22 und ausführlich zuletzt Walther, Sex and Control sowie Heim, Die Syphilis in den deutschen Schutzgebieten. Dazu gehörte auch, dass der Ursprung der Syphilis im allgemeinen Bewusstsein in Afrika gesehen wurde, was ähnlich auch für den Umgang mit der Aids-Epidemie gilt. Vgl. ElTayeb, Schwarze Deutsche, S. 152. Vgl. außerdem McGough/Bliss, Sexuality and Disease sowie allgemeiner Peckham (Hg.), Empires of Panic. 265 Ewers, Die Mamaloi.

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nes neunbändigen Hauptwerkes schrieb.266 Auch für weitere Sexualwissenschaftler waren sexuelle Handlungen von Erwachsenen mit Kindern akzeptabel. Im Unterschied zu Guyon, für den Gewalt und Zwang in der Sexualität nicht tolerierbar waren, war beiderseitiges Einvernehmen für andere nicht von Bedeutung. Aber auch Guyon machte es sich in seiner Auffassung von einvernehmlichem Sex sehr einfach und er reflektierte seine Position nicht. „As a European man working at the highest levels of Siam’s Ministry of Justice, Guyon sat at the apex of racial, gender, and other more subtle power hierarchies. He was not even subject to Siamese law until the 1930s.“267

Abbildung 82: Bildpostkarte „Indio Chamacoco, ‚Zíguizi‘, Puerto 14 de Mayo“, Nr. 36A der Kollektion Boggiani, hg. v. Robert Lehmann-Nitsche, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, 1904, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, ehem. Bestand Berliner Anthropologische Gesellschaft, Ident.Nr. P 12785. Vgl. auch die Bildpostkarten „Indio Chamacoco, ‚Zíguizi‘, Puerto 14 de Mayo“, 36B und 36C der Kollektion Boggiani, hg. v. Robert Lehmann-Nitsche, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, 1904, un-

266 Vgl. Guyon, Sex Life and Sex Ethics. Die ersten sechs Bände der Études d’éthique sexuelle erschienen zwischen 1929 und 1938 auf Französisch bei Dardaillon & Dagniaux in Saint-Denis, die letzten drei Bände blieben zu Lebzeiten Guyons unveröffentlicht. 267 Loos, Sextopia: Sex Radical René Guyon’s Politics in Siam and Europe.

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gelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, ehem. Bestand Berliner Anthropologische Gesellschaft, Ident.Nr. P 12786 und P 12787 sowie die Bildpostkarten „Indios Chamacoco, ‚Zíguizi‘ y ,Cattiguéo‘, ,Wéddi‘ und ,Nepotió‘, Puerto 14 de Mayo“, Nr. 37A, 37B und 39B der Kollektion Boggiani, hg. v. Robert Lehmann-Nitsche, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, 1904, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, ehem. Bestand Berliner Anthropologische Gesellschaft, Ident.Nr. P 12789, P 12790 und P 12794.

Ob und inwiefern die pädophilen Strömungen des akademischen Diskurses von einer breiteren Öffentlichkeit rezipiert wurden, kann zwar nicht geklärt werden, festzustellen ist jedoch, dass Pädophilie kein rein akademischer Diskurs war, sondern dass sie auch in anderen Bereichen – z.B. in den angesprochenen pornografischen Romanen – ein Thema war. 1885 machten außerdem die Frauenrechtlerin Josephine Butler (1828-1906) und der Reporter William Thomas Stead (1849-1912) in der Artikelserie The Maiden Tribute of Modern Babylon in der Pall Mall Gazette auf die verbreitete Kinderprostitution in London aufmerksam. Wegen der Sorge vor der Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten gab es offenbar eine rege Nachfrage nach jungfräulichen Prostituierten, die mitunter erst zwölf oder dreizehn Jahre alt waren. Im Zuge der anschließenden öffentlichen Debatte – das respektable viktorianische England geriet angesichts von Überschriften wie „The Violation of Virgins“ oder „How Girls Were Bought and Ruined“ geradezu in Panik – wurde das gesetzliche Schutzalter im Criminal Law Amendment Act of 1885 (dessen Sektion 11 auch „gross indecency“ und damit Homosexualität unter Strafe stellte) von dreizehn auf sechzehn Jahre angehoben.268 Es gab im Übrigen aber nicht nur fotografische Abbildungen von nackten Frauen und Mädchen. Gerade im Supplement der Kollektion Boggiani z.B. gibt es mehrere Ansichten von nackten Männern und Jünglingen (Abb. 82). Diese Bildpostkarten haben unverkennbar eine homoerotische Note. Sie ähneln stark den pictorialistischen, eindeutig homoerotischen Fotos, die der homosexuelle Baron Wilhelm von Gloeden (1856-1931) von Jugendlichen und jungen Männern in antikisierender Aufmachung auf Sizilien machte oder denen seines Cousins Wilhelm Plüschow (1852-1930).269 Gloedens Aktbilder waren sehr populär und wurden nicht nur in der ersten Schwulen-Zeitschrift Der Eigene (erschienen 1896-1931) abgedruckt,270 sondern auch in Form von Bildpostkarten vertrieben; sein Atelier im sizilianischen Taormina wurde

268 Vgl. Soderlund, Sex Trafficking, Scandal, and the Transformation of Journalism und die Artikelserie von Stead, The Maiden Tribute of Modern Babylon. 269 Vgl. die Bilder von von Gloeden in der Kategorie „Men and boys by Wilhelm von Gloeden“ auf der Website Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/Categ ory:Men_and_boys_by_Wilhelm_von_Gloeden?uselang=de [26.08.2018] sowie Peters, Sichtbarkeit und Körper. Zum Pictorialismus oder auch Piktoralismus s. knapp Kap. 1, FN 65. Der Flieger Gunther Plüschow ist ein Neffe des Fotografen Wilhelm Plüschows. 270 Vgl. Forde/Beddard (Hg.), The Institute of Sexology, S. 66-67.

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im Baedeker erwähnt und der Ort von Oscar Wilde, Richard Strauss, Friedrich Alfred Krupp sowie Kaiser Wilhelm II. besucht.271

ZWISCHENFAZIT II Die Vorstellung von Südamerika, wie sie Fotos und Bildpostkarten dem Publikum im Deutschen Reich vermittelten, war geprägt von kolonialen Mustern und Ideen, die sich unter dem Begriff des sehnsüchtigen Blickes zusammenfassen lassen. Bilder vermittelten und nährten die Sehnsucht nach Freiheit, Besitz und einer neuen Heimat in der Fremde, wirtschaftlichem und sozialem Aufstieg, Gestaltungsmöglichkeiten, Glück, Erfüllung und Abenteuer sowie erotische und sexuelle Fantasien. Manche dieser (visuellen) Aspekte standen dabei in scheinbarem Widerspruch; tatsächlich machen sie nur die Ambivalenz des Südamerikabildes deutlich. Wegen der ihnen zugeschriebenen Objektivität, Authentizität und Faktizität statteten Fotos und Bildpostkarten die unterschiedlichen, ja geradezu paradoxen, Lesarten jeweils mit Autorität aus. Auf der einen Seite betonten viele Bilder, dass Infrastruktur und Wirtschaft in den Ländern Südamerikas bereits gut entwickelt waren und dem gewillten Kolonisator die Ausbeutung von Bodenschätzen oder das Treiben von Landwirtschaft und Handel ohne große Schwierigkeiten möglich machten. Die Fotografien in den Publikationen des Geografen Otto Preusse-Sperber, einem Experten für deutsche Auswanderung, etwa zeigten, dass selbst die unzugänglichen Anden durch die Eisenbahn infrastrukturell erschlossen wurden und dass Bergbau mit moderner Technik betrieben

271 Vgl. Noetzel (Hg.), „Ewig ergötzt man sich hier“, S. 121-122 u. 144. Im 19. Jahrhundert gab es außerdem regelrecht eine Art „Sextourismus“ gut betuchter männlicher Homosexueller nach Italien; die Ziele waren neben Venedig, Florenz, Rom und Neapel vor allem die Insel Capri. Auf Capri soll es auch zu homosexuellen Exzessen Friedrich Alfred Krupps mit Jugendlichen gekommen sein, weshalb der Essener Stahlkönig 1902, kurz vor seinem Tod, zunächst von italienischen, dann aber auch deutschen Zeitungen, darunter der sozialdemokratische Vorwärts, als Päderast und Homosexueller angegriffen wurde. Vgl. Richter, Friedrich Alfred Krupp auf Capri. Der Grund für diesen homosexuellen „Sextourismus“ nach Italien war, so die italienische Historikerin Chiara Beccalossi, dass männliche Homosexualität innerhalb bestimmter Grenzen in Italien tolerierbar war. Zudem waren die reichen nordeuropäischen Touristen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Auch von Gloedens Homosexualität und seine Werke wurden vermutlich deswegen von den Einheimischen auf Sizilien toleriert. Es gab zahlreiche zeitgenössische anthropologische, sexologische oder auch literarische Studien zu Homosexualität in Italien, etwa zu neapolitanischen femminielli; zeitweise wurde Italien mit männlicher Homosexualität assoziiert. Vgl. Beccalossi, The “Italian Vice” und dagegen Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, bes. S. 572 sowie zu den femminielli auch Atlas, Die Femminielli von Neapel und zur Geschichte der Homosexualität in Italien auch Marcocci, Is This Love? Same-Sex Marriages in Renaissance Rome. Zu Homosexualität im Deutschen Reich im 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl. zuletzt Tobin, Peripheral Desires.

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wurde.272 Auch ließ es sich anscheinend in den Metropolen, allen voran in Buenos Aires, gut leben. Nicht mal auf deutsche Schulen musste man mancherorts verzichten. Um andererseits bei abenteuerlustigen und zivilisationsmüden Europäern nicht den Eindruck entstehen zu lassen, Südamerika ähnele der zivilisierten Heimat zu sehr, gab es Bilder von unberührten und rauen Landschaften, die den Pioniergeist herausforderten. Ein beliebtes Motiv dabei war der Urwald; es gab aber auch viele Bilder der wüsten Anden oder von der Weite der Pampa. Fotos und Bildpostkarten aus Südamerika weckten so die Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer, nach einem einfachen und ehrlichen Leben in einer rauen Umgebung, das für zivilisationsmüde Europäer des fin-de-siècle die Kontrastfolie zur Dekadenz und übermäßigen Sicherheit des eigenen Lebens darstellte. Diese Form des Eskapismus speiste sich aus einer Tradition kolonialer Fantasien, die auf die ersten Berichte über die Neue Welt aus dem 16. Jahrhundert zurückging und die, wie Susanne Zantop gezeigt hat, auch im früheren 19. Jahrhundert in Romanen, Stücken und Liedern über (fiktive) deutsche Conquistadoren auf zivilisatorischer Mission in Südamerika sehr rege war.273 Die in diesem Kapitel untersuchten literarischen und visuellen Beiträge des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts stellen eine Kontinuität dieser Vorstellungen von Südamerika dar. Der Verlust der deutschen Kolonien nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg 1919 hatte im Unterschied zur postkolonialen Imagination der ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika und im Pazifik keine (nennenswerten) Auswirkungen auf die kolonialen Vorstellungen von Südamerika. Kolonialfantasien und -sehnsüchte ebenso wie tatsächliche „kolonisatorische“ Bemühungen von Auswanderern und „Auslandsdeutschen“ gab es schon seit dem 19. Jahrhundert und sie dauerten während der Weimarer Republik und auch noch danach fort. Konkrete politische Ziele hinsichtlich einer formellen Kolonisierung verfolgten dabei allerdings die allermeisten Akteure nicht. Die Kontinuität der „Kolonialfantasien“ wird deutlich in den Handbüchern für Auswanderer, die seit dem 19. Jahrhundert bis in die 1930er (teilweise sogar noch länger) erschienen. Diese ähnelten sich nicht nur in Inhalt und Ausrichtung, manche erschienen sogar in unterschiedlichen Auflagen vor und nach 1919, ohne dass sich die koloniale Zäsur widerspiegelte.274 Wie Susanne Zantop gezeigt hat, funktionierten deutsche „Kolonialfantasien“ sehr gut, auch ohne dass es vor 1884 tatsächliche deutsche Kolonien, ja sogar ohne dass es vor 1870/71 überhaupt ein Deutsches Reich gegeben hätte. Die kolonialen Vorstellungen von Südamerika, das ja ohnehin nie zum deut-

272 Vgl. z.B. Preusse-Sperber, Perú. 273 Vgl. Zantop, Colonial Fantasies. 274 Otto Preusse-Sperbers Wegweiser für Argentinien erschien in unterschiedlichen Auflagen 1897 (Buenos Aires: Herpig & Stoeveken), 1905 (Flöha in Sachsen: Peitz & Sohn) und 1920 (Hannover: König & Ebhardt). Für die dritte Auflage 1912 (Flöha in Sachsen: Peitz & Sohn) firmiert ein L.H. Rethmar als Herausgeber; die 4. Auflage ist wieder von Preusse-Sperber. Vgl. ebenfalls Schüler, Brasilien: Ein Land der Zukunft, 1. Aufl. 1912, weitere Auflagen ²1912, ³1912, 41919, 51921 und 61924. Wilhelm Sievers Band Süd- und Mittelamerika aus der Reihe der Allgemeinen Länderkunde erschien ebenfalls 1894, ²1903 und ³1914, die Reihe wurde dann bis in die 1930er Jahre fortgeführt. Vgl. dazu auch Onken, „Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit“.

254 | Ambivalente Bilder

schen Kolonialreich gehörte, bestätigen das. Dabei wirkte die koloniale Erfahrung bei den Vorstellungen von Südamerika als Verstärker in die postkoloniale Ära der Weimarer Republik fort. Die indigene Bevölkerung stellte – dem Anschein nach, den die meisten Bilder erweckten – offenbar kein Hindernis für Moderne und Fortschritt dar. Vielmehr konnte sie die Unternehmer mit den benötigten Arbeitskräften versorgen – jedenfalls solange, bis sie aufgrund ihrer „rassischen“ Unterlegenheit dem Prinzip des survival of the fittest zum Opfer fiel und ausstarb. Auch in Bezug auf die indigene Bevölkerung gab es jedoch, wie zuletzt geschildert, mit den erotischen Fantasien und sexuellem Verlangen eine weitere (mögliche) Wahrnehmungsebene. Die Funktion des (kolonialen) Sehnsuchtsortes hat Südamerika übrigens bis heute behalten und sie wird auch visuell weiterhin (re-)produziert: z.B. in Postkartenformat im „Sehnsuchtskalender“ von Harenberg. Es handelt sich dabei, so Ernst Bloch, um die Sehnsucht des kalten (europäischen) Nordens nach „Lebensfülle, Vitalität und sinnlich-orgiastischem Glück im tropischen und subtropischen Süden.“275 Die in diesem Kapitel untersuchten Bildmedien, die ganz unterschiedliche Sehnsüchte visualisierten bzw. die sehnsüchtige, von Sehnsucht geprägte Vorstellungen von Südamerika bedienten oder diese Vorstellungen hervorriefen, lassen sich – gemeinsam mit weiteren – aber auch noch in einer anderen Perspektive „lesen“ oder besser „sehen“. Dieser historisierende Blick klang bereits an, wenn von den kolonialen Fantasien die Rede war, die eine glorreiche und deutsche Zukunft auf Südamerika projizierten, oder wenn die Visualisierungen der Möglichkeiten, die das zeitgenössische Südamerika Auswanderern und Investoren bot, untersucht wurden. Das teilweise sexualisierte Bild natürlicher und ursprünglicher Indigener verwies dagegen ebenso wie die im ersten Kapitel untersuchten „konservierenden“ wissenschaftlichen Bilder vom Aussterben bedrohter Indigener auf eine Vergangenheit, da die technischen und moralischen „Errungenschaften“ der „Moderne“ und der „Zivilisation“ die Bewohner Südamerikas noch nicht erreicht hatten. Alle Bildmedien lassen und ließen sich so auch der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft zuordnen

275 Zitiert nach Küchler Williams, Erotische Paradiese, S. 81.

Der historisierende Blick

Neben der wissenschaftlichen und der sehnsüchtigen Perspektive auf Bilder aus Südamerika gab es eine weitere mögliche Betrachtungsweise: den historisierenden Blick. Diesem entsprechend erscheinen die bereits erwähnten Motive von Indigenen und Ruinen, aber auch Landschaftsaufnahmen oder costumbristische Motive typischer Gruppen wie z.B. Gauchos als Geschichte; urbane Motive, Fabriken oder Eisenbahnen bilden dagegen die Gegenwart und die Zukunft Südamerikas ab. Vor allem das visuelle Medium der Bildpostkarte transportierte alle diese Motive, die von zeitgenössischen Fotografen, Verlegern und/oder Betrachtern historisiert werden konnten.

BILDPOSTKARTEN UND GEDRUCKTE FOTOGRAFIEN ALS VERMITTLER VON „MODERNE“ Die Verleger in Buenos Aires, Santiago de Chile, Lima und anderen urbanen Zentren bildeten als Angehörige der Eliten indirekt die „innere Kolonisierung“ z.B. durch die später ausführlicher behandelte conquista del desierto, die Eroberung der Wüste, ab, indem sie eine Dichotomie von Geschichte und Gegenwart, von der modernen, zivilisierten, kultivierten, zukunftsfesten Metropole einerseits und der rückständigen, barbarischen, natürlichen, dem Untergang geweihten Peripherie andererseits produzierten.1 Anschließend an die Überlegungen von Jens Andermann in seiner Studie The Optic of the State wirkten diese Bilder Identität stiftend im Prozess des Nationbuil-

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Der Identität stiftende Gegensatz von Barbarei und Zivilisation wirkte in Südamerika schon seit Jahrzehnten. Vgl. Sarmiento, Facundo: Civilización y barbarie. Die sogenannte conquista del desierto (1878-1885) bezeichnet einen Feldzug der argentinischen Armee gegen indigene Gruppen wie vor allem die Tehuelche und Mapuche, der das von der Regierung beanspruchte Territorium in der Pampa und in Patagonien unter ihre militärische, wirtschaftliche und administrative Kontrolle brachte. Bis in die zweite Dekade des 20. Jahrhunderts führte die Armee ähnliche Eroberungsfeldzüge im Norden (Chaco) durch. Ziel war auch hier, das beanspruchte Territorium, um das es noch sehr viel später Auseinandersetzungen mit Paraguay gab, unter Kontrolle zu bringen. Die Besiedelung des Chaco durch Weiße und Mestizen erfolgte aber nur in sehr geringem Ausmaß. Zur conquista del desierto vgl. knapp Carreras/Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens, S. 95-102 und s.u. ausführlich.

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ding. Denn wie konnten Eliten besser am Entstehen der imagined community mitwirken, als durch die Produktion von Bildern, images?2 So wurden sie zugleich dem Modernisierungsauftrag, den sich die Eliten selbst gaben, gerecht. Die visuellen Medien waren dabei aber, wie in den zuvor behandelten Fällen, auch in diesem Fall eingebunden in einen medienübergreifenden Diskurs, der auch wissenschaftliche und literarische Werke prägte. Die hier behandelten Bilder von Eisenbahnen, Infrastruktur, Städten, Parks, Zoos, Fabriken usw. sind Bestandteil eines weltumspannenden Diskurses: Sie zeugten von Modernität – und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht. Modern waren nämlich nicht nur die Motive selbst, modern war es auch, fotografische Bilder anzufertigen. Ebenso war es modern, auf Grundlage dieser Fotos Bildpostkarten anzufertigen. Und weiterhin war es modern, mittels Bildpostkarten zu kommunizieren. Gemäß der Definition des britischen Historikers Christopher Alan Bayly ist die Moderne zugleich eine historischen Epoche, die Ende des 18. Jahrhunderts begann und in unterschiedlichen Formen bis heute andauert, wie auch ein Prozess der Emulation und der Adaption: „[A]n essential part of being modern is thinking you are modern. Modernity is an aspiration ‚to be up with the times.‘“3 Zahlreiche Bildpostkarten zeigen Stätten moderner Staatlichkeit: Regierungspaläste, nationale ebenso wie regionale‘ Parlamente und Gebäude der staatlichen Verwaltung oder Nationalbanken.4 Auch Bilder von Militärparaden sowie Motive mit nationaler Symbolik wie Wappen, Fahnen oder Bildern von wichtigen nationalen Persönlichkeiten (in erster Linie Präsidenten und Militärs), Ereignissen (in erster Linie Schlachten) und Denkmälern widersprachen der Vorstellung nationalen und staatlichen Chaos’, das aus den vermeintlich ständigen Revolutionen und Bürgerkriegen

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Laut Andermann, The Optic of the State, S. 1-6 zeigen, inszenieren und ver-sichern Fotos bzw. Bilder generell Staat und Staatlichkeit. Insofern seien Orte von Ausstellungen, insbesondere das (naturkundliche und/oder historische) Nationalmuseum Ausdruck und Ansicht nationaler Souveränität. Vgl. ebd., S. 26-38 und weiter Schuster (Hg.), La nación expuesta sowie grundlegend Anderson, Imagined Communities. Bayly, The Birth of the Modern World, S. 10. Vgl. z.B die Bildpostkarten „No. 2. Congreso Nacional. Santiago (Chile).“, Fotografie und Verlag: Thomas Schenk, datiert 25.11.1930, ungelaufen; „Palacio del Congreso, Buenos Aires“, Verlag: Carmelo Ibarra, Buenos Aires, gedruckt von J. de Lemos & Hess, Hamburg, nach 1905, ungelaufen und „Cuzco-Perú. Casa Prefectural“, Verlag: H.G. Rozas, Cuzco, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 2009/13,2; 1965/258, 378 und 2008/14,85 sowie die Bildpostkarten „Palacio de Gobierno – Santa Fe, República Argentina“, Verlag: Talleres Peuser, Buenos Aires, nach 1905, ungelaufen; „Tucumán. – Palacio de Gobierno, No. 213“, Verlag: Prebisch & Violetto, Tucumán, nach 1905, gelaufen (Poststempel unleserlich); „Rosario – Plaza Mayo – Intendancia Municipal“, Verlag unbekannt, Argentinien, gelaufen 28.08.1928; „Buenos Aires – Consejo Nacional de Educación“, Verlag unbekannt (F. Riudavets?), Buenos Aires (?), gelaufen 05.12.1912 und „Buenos Aires – Banco de la Nación“, Fotografie und Verlag: F. Riudavets, Buenos Aires, gelaufen 24.11.1929, Sammlung von Hinnerk Onken.

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resultiere, und vermittelten nationale Identität5 und das Bild stabiler Staatlichkeit. Außerdem betonten Bilder von Bahnhöfen und Eisenbahnen, dem Symbol des Fortschritts, von Häfen, von Fabriken als modernen Produktionsstätten oder von anderen Aspekten der modernen Stadt, dass es sich bei den Ländern Südamerikas um moderne Staaten mit modernen Gesellschaften handelte. Zu diesen Ansichten gehörten beispielsweise die 1912/13 eingeweihte Seilbahn auf den Zuckerhut (die vom Kölner Ingenieur Julius Pohlig (1842-1916) gebaut worden war, wie etwa Arthur Rehbein im Bericht über seine Reise mit dem Zeppelin von Friedrichshafen nach Rio de Janeiro 1933 stolz erwähnte6), die 1913 eröffnete U-Bahn Subterráneo de Buenos Aires (bzw. der Eingang zur Linie A der „Subte“ an der Plaza de Mayo, Abb. 83), Zoologische und Botanische Gärten, breite Avenuen, 7 Hotels, Bildungseinrichtungen oder der Depósito de Aguas Corrientes in Buenos Aires (Abb. 84). Das letztgenannte Gebäude steht nicht nur für moderne Architektur, sondern ebenso für eine moderne Stadtplanung sowie für Hygiene. Nach mehreren großen Epidemien (Cholera 1867, Typhus 1869 und Gelbfieber 1871) beschloss die argentinische Regierung den Bau des „Wasserpalastes“, mit dem 1887 begonnen wurde. Im Zuge der Arbeiten an dem Bau, der bald privatisiert wurde – den Zuschlag erhielt die mit dem Bau beauftragte Firma Bateman, Parsons & Bateman –, kam es zu einem Korruptionsskandal: Den britischen Investoren wurde Bestechung vorgeworfen. 8 1894 wurde das Gebäude fertig gestellt. Seine Bedeutung macht der vergleichende Blick etwa auf Hamburg deutlich, wo es keine Wasseraufbereitung gab und Trinkwasser ungefiltert der Elbe entnommen wurde. Im Sommer 1892 kam es dort wegen verschmutzten Trinkwassers zur letzten großen Cholera-Epidemie in Europa.9

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Vgl. dazu Onken, Visiones y visualizaciones. Für entsprechende Abbildungen s.u. Abb. 392 und 393. Vgl. Rehbein, Über Schwellen und Wellen und Wolken, S. 245 sowie die Bildpostkarte „Caminho Aereo do Pao de Assucar. Rio de Janeiro“, Verlag: Maison Chic, Rio de Janeiro, gelaufen 20.04.1915, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1978/505-5. Karl Alexander Wettstein brachte in seinem 1907 erschienenen Bericht Brasilien und die deutsch-brasilianische Kolonie Blumenau ebenfalls eine Abbildung der „neuangelegte[n] 30 m breite[n] Hauptstraße in Rio de Janeiro“. Wettstein, Brasilien und die deutschbrasilianische Kolonie Blumenau, Abb. 2, S. 11. Vgl. außerdem z.B. die Bildpostkarte „Buenos Aires. Avenida Sarmiento, Nro. 47.“, Verlag: Zaverio Fumagalli, Buenos Aires, gelaufen 07.01.1909, Sammlung von Hinnerk Onken. Vgl. Ruderer, Crisis and Corruption. Vgl. Evans, Tod in Hamburg. Dass es trotz Wasseraufbereitung zu Epidemien kommen konnte, zeigt die Typhusepidemie in Gelsenkirchen 1901. Dort hatte die Wasserversorgungsgesellschaft Trinkwasser mit verschmutztem Wasser gemischt.

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Abbildungen 83 und 84: Bildpostkarten „Buenos Aires – Avenida de Mayo“, Verlag: Gastón Bourquin y Cía., Buenos Aires, um 1920, ungelaufen, Sammlung von Hinnerk Onken und „Buenos Aires. Deposito de Aguas Corrientes“, Verlag: Adolfo Kapelusz, Buenos Aires, gelaufen 16.10.1909, Sammlung von Hinnerk Onken.

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Abbildung 85: Bildpostkarte „Club de Regatas ,La Marina‘. Buenos Aires, Rep. Argentina“, Fotografie: Eugenio Avanzi, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, datiert 16.12.1911, gelaufen (Poststempel unleserlich), SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 2004/5/182.

Abbildung 86: Bildpostkarte „Buenos Aires – Hipodromo Argentino“, Verlag unbekannt (F. Riudavets?), Buenos Aires (?), nach 1907 (die abgebildete Beaux-Arts-Tribüne wurde 1908 errichtet), ungelaufen, Sammlung von Hinnerk Onken. Vgl. weiterhin die chilenischen Bildpostkarten „Club Hípico Santiago de Chile“, Verlag unbekannt, Santiago (?), datiert 24.03.1932, gelaufen (Poststempel unleserlich) und „Santiago Polígono de Tiro al blanco“, Verlag: Kirsinger y Cía, Valparaíso, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1992-84,129 und 1966/658,79.

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Ein weiteres Set Modernität vermittelnder visueller Medien sind Bildpostkarten mit Ansichten von Zoos, Botanischen Gärten und Parks sowie von Sport- und Freizeitangeboten. Besonders verbreitet waren dabei Ansichten von Buenos Aires. Dazu gehören beispielsweise Motive des Zoologischen Gartens10 (eröffnet 1875) und des angrenzenden Botanischen Gartens (eröffnet 1898) sowie des Parks Tres de Febrero (eröffnet 1875), die im am Río de la Plata gelegenen Stadtteil Palermo eine zusammenhängende Grünfläche bilden. Auch das bonaerensische Naherholungsgebiet Tigre, das Anfang des 20. Jahrhunderts noch einigermaßen ländlich geprägt war, lieferte zahlreiche beliebte Bildpostkartenmotive.11 Wegen ihrer Schönheit, der Nähe zu Buenos Aires und des Anschlusses an das Bahnnetz wurde die Gegend zunehmend touristisch erschlossen. Darüber hinaus waren Sportstätten als Motive für Bildpostkarten verbreitet. In Buenos Aires waren das etwa das Vereinsgelände des Regattaklubs La Marina und das 1876 errichtete Hippodrom (Abb. 85 und 86). Das ebenfalls im Stadtteil Palermo gelegene Hippodrom wurde seit 1883 vom Jockey Club geleitet. Der am 15. April 1882 gegründete Club war der erste, vornehmste und wichtigste Verein in Buenos Aires und damit in Argentinien, in dem Angehörige der höchsten gesellschaftlichen Kreise ihr soziales Prestige zur Schau stellten und mehrten.12 Er war der vielleicht beste Beleg dafür, dass die Damen und Herren der besseren Gesellschaft in Buenos Aires ein ihrem Rang entsprechendes Leben zu führen wussten. Der 1897 fertig gestellte repräsentative Sitz des Clubs in der Calle Florida war ebenfalls ein Motiv für Bildpostkarten (Abb. 87). Darüber hinaus bewiesen auch Bilder von Theatern, dass es sich bei Südamerika nicht überall um eine kulturelle Einöde handelte. So gab es Ansichten nicht nur von bonaerensischen Theatern wie dem Teatro Colón, dessen Neubau 1908 mit der Verdioper Aida eingeweiht wurde,13 sondern auch von Theaterhäusern in kleineren Städten, etwa dem Teatro Politeama in Bahía Blanca (Abb. 88). Natürlich darf an dieser Stelle auch der Verweis auf das prächtige Opernhaus im brasilianischen Manaus nicht fehlen. Das Teatro Amazonas wurde mithilfe der zeitweise schier unerschöpflichen finanziellen Mittel der Gummibarone in den 1880er und 1890er Jahren unter Verwendung von Baumaterialien aus Europa errichtet und 1896 eröffnet.14 Bereits 1907 allerdings kam es zur vorerst letzten Auf-

10 Vgl. z.B. die Bildpostkarte „Jardin Zoologico, Buenos Aires, Rep. Argentina“, Fotografie: Harry Grant Olds, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, gelaufen 21.06.1904, Sammlung Adolf Feller, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Bildcode Fel_038667-RE, http:// www.e-pics.ethz.ch/ [26.08.2018] 11 Vgl. z.B. die Bildpostkarte „Bellezas naturales de la R.A. Paisaje en el Tigre“, Verlag: La Nación, Buenos Aires, gelaufen 20.08.1904, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1975/455276. 12 Vgl. Hora, El turf como arena de disputa social und Losada, La alta sociedad en la Buenos Aires de la Belle Époque. 13 Vgl. die virtuelle Ausstellung auf der Website von Cisilino, Antiguas postales argentinas, http://www.antiguaspostales.com.ar/postales.htm [07.04.2016, diese Seite ist mittlerweile nicht mehr abrufbar]. 14 Vgl. zur Modernisierung und Stadtentwicklung von Manaus z.B. Mesquita, La belle vitrine. Ein weiteres groß angelegtes Modernisierungsprojekt im Amazonasgebiet war in den 1920er Jahren Henry Fords (1863-1947) letztlich gescheitertes Fordlândia. Ford hatte am

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führung; die hohen Betriebskosten konnten wegen des Preisverfalls von Kautschuk auf dem Weltmarkt nicht mehr bestritten werden.15

Abbildung 87: Bildpostkarte „Jockey Club. Buenos Aires, No. 89“, Fotografie: Harry Grant Olds, Verlag: Mitchell’s Book Store, Buenos Aires, nach 1905, ungelaufen, Sammlung von Hinnerk Onken.

Rio Tapajós eine Kautschukplantage errichtet, um vom Weltmarkt unabhängig zu werden. Aber wegen diverser Probleme – darunter Aufstände der Arbeiter, die sich an die ihnen vorgeschriebenen amerikanischen Lebens- und Ernährungsgewohnheiten nicht gewöhnten, Pflanzenkrankheiten und Schädlingsbefall – kam das Unternehmen nie richtig in Gang und wurde 1945 von Henry Ford II (1917-1987) für eine Viertelmillion Dollar an den brasilianischen Staat verkauft; im Laufe der Jahre hatte das Unternehmen über 25 Millionen Dollar investiert. Vgl. Grandin, Fordlandia und die literarische Bearbeitung des Stoffes von Sguiglia, Fordlandia. Zum Kautschukboom s.u. mehr und vgl. die klassische Studie von Weinstein, The Amazon Rubber Boom. 15 1876 hatte der britische Naturforscher Henry Wickham (1846-1928) Kautschuksamen, die nicht exportiert werden durften, als Orchideensamen getarnt aus Brasilien geschmuggelt. In London wurden daraus etwa 2.000 Kautschukbäumchen gezüchtet, die zunächst nach Malaysia exportiert wurden. Zwar überlebten nur acht Pflanzen die Reise, doch reichte dies aus, um in den folgenden Jahren und Jahrzehnten Kautschukplantagen in Südostasien anzulegen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts das brasilianische Kautschukmonopol brachen. Vgl. Jackson, The Thief at the End of the World.

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Abbildung 88: Bildpostkarte „Teatro Politeama, Bahía Blanca, Rep. Argentina“, Fotografie: Voltz Hnos., Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, gelaufen 14.12.1905, Sammlung von Hinnerk Onken. Das Teatro Politeama wurde wenig später geschlossen. Erst mit der Einweihung des Teatro Municipal de Bahía Blanca 1913 (ebenfalls mit der Verdioper Aida) verfügte die Stadt wieder über ein Theater.

Weitere Bilder aus dem Bereich der populären Alltags- und Freizeitkultur zeigen Badeanlagen in Buenos Aires und anderen Orten vor allem in Argentinien.16 Alle diese

16 Vgl. auch die Bildpostkarten „Rosario. Saladillo. Pileta Natación“, Verlag: M.A.R., Rosario, nach 1905 und „Buenos Aires – Avenida Costanera y Balneario“,Verlag: Bourquin & Kohlmann, Buenos Aires, nach 1920, ungelaufen, Sammlung von Hinnerk Onken sowie die Bildpostkarte „Valparaíso. Balneario. Torpederas.“, Verlag: Col. Fajardo, Argentinien, zwischen 1908 und 1924, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1996/110/26, datiert anhand des Fotopapiers von Artura mithilfe der Datenbank des Online-Auktionshauses Playle.com, http://www.playle.com/realphoto/ [26.08.2018]. Fußball spielte im Untersuchungszeitraum noch nicht die überragende Rolle, die er in den Gesellschaften Südamerikas heute einnimmt. Zur Entwicklung des Fußballs in Südamerika vgl. z.B. Miller, Football in the Americas und zur visuell nicht oder kaum repräsentierten städtischen Arbeiterkultur sowie zur Ausdifferenzierung von Freizeitaktivitäten die Fallstudie zu Lima Mitte des 20. Jahrhunderts von Hansen, Die Arbeiterschichten von Lima.

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Bilder zeigen, dass das Leben in den Metropolen Südamerikas und besonders in der Weltstadt Buenos Aires modern und sehr angenehm sein konnte. Tatsächlich war die argentinische Millionenmetropole (eine Million Einwohner um 1905; 1,2 Millionen 1912 und knapp 1,6 Millionen Einwohner 1914) eine der größten Städte der Welt: Insgesamt gab es weltweit nur zwölf Millionenstädte (am größten war London mit über sieben Millionen Einwohnern vor New York mit knapp fünf Millionen und Paris mit knapp drei Millionen Einwohnern; Berlin und Wien hatten eine Bevölkerung von jeweils etwa zwei Millionen). Die meisten Reisenden waren beeindruckt von der argentinischen Hauptstadt, die Carl Kircheiß etwa mit New York verglich. Stolz berichtete der Kapitän über die Präsenz von Deutschen in der Stadt: „Im Geschäftsviertel geht man auch kaum mehr als 20 Schritte, ohne Deutsch sprechen zu hören.“ 17 Der Reisende Richard Katz dagegen hasste Buenos Aires, die linealgeraden Straßen, die protzigen Häuser (Abb. 89), den Lärm, die großstädtische Hektik und „die üble feuchte Luft“. Die Stadt sei hässlich und der Fluss so schmutzig, dass er „wie Erbsensuppe aussieht.“ Auch am Naherholungsgebiet Tigre ließ er kein gutes Haar. Da man wegen der vielen Schiffe im Hafen die „Erbsensuppe“ nicht sehen könne, „fährt man vielmehr an die dreißig Kilometer durchs tischflache Land. Ins sumpfige Mündungsdelta des La Plata, das ‚Tigre‘ heißt. Und das tun die Buenarenser [sic!] denn auch in ihrer Verzweiflung. Im Tigre haben sie ihre Ruderklubs und ihre Dampfjachten und Wochenendhäuser, und nichts ist bezeichnender für die Trostlosigkeit dieser Stadt, als daß ihre Bürger eine übelriechende und moskitoverseuchte Flußmündung zur Erholungsstätte machen.“ 18

Über andere Orte berichtete Katz dagegen viel wohlwollender. Valparaíso sei wie Hamburg, diese und andere chilenische Städte hätten einen deutschen oder europäischen Charakter. In den Geschäften gebe es gute Waren, es gebe Straßen, Trams, Autos, Kinos, Blumenbeete, Villen und vieles mehr. Auch die Chilenen selbst seien den Nord- und Mitteleuropäern ähnlich: Sie arbeiteten tüchtig, seien zäh und ruhig.19 Vergleiche von südamerikanischen mit europäischen oder US-amerikanischen Städten zogen auch viele andere Schriftsteller. Karl May etwa schrieb über die uruguayische Hauptstadt Montevideo (freilich ohne je dort gewesen zu sein): „Kein Gaucho reitet durch die Straße, indianische Gesichtszüge sind nur selten zu sehen, und Neger trifft man nicht häufiger als zum Beispiel in London oder Hamburg. Die Tracht der Menschen ist französisch, bei den Männern wie bei den Frauen. Es können Tage vergehen, bis man einmal eine Dame erblickt, die die spanische Mantilla trägt. Über die Hälfte der Einwohnerschaft ist europäischen Ursprungs. […] Kurz und gut, solange man sich innerhalb der Bannmeile der Stadt befindet, ist aus nichts zu ersehen, daß man auf südamerikanischem Boden steht. Man könnte ebensogut meinen, in Bordeaux oder Triest zu sein.“ 20

17 Kircheiß, Polarkreis Süd – Polarkreis Nord, S. 88. Vgl. zum Vergleich mit New York ebd., S. 87. Zur Rolle deutscher Fotografen bei der Produktion von Bildern der modernen Stadt Buenos Aires vgl. zuletzt Méndez, La imagen de una ciudad moderna. 18 Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, S. 230. Zitate zuvor ebd. 19 Vgl. Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, S. 149-151. 20 May, Am Rio de la Plata, S. 15.

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Abbildung 89: Fotografie „Argentinische Bau-Greuel“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre (?), aus Katz, Richard: Schnaps, Kokain und Lamas: Kreuz und quer durch wirres Südamerika, Berlin: Ullstein, 1931, vor S. 225.

Ähnlich schrieb Franz Donat über Paraguays Hauptstadt Asunción: „Hätte man die ewig fluchenden, erbarmungslos auf ihre mageren Maultiere einhauenden Karrenführer samt ihren zweirädrigen Fuhrwerken aus den sich zwischen hohen schönen Häusern abrollenden Straßenbild verbannen können, so hätte ich geglaubt, in einer europäischen Großstadt zu sein.“21

Unter all den Bildern und Vorstellungen von modernen, europäischen Großstädten gleichenden Metropolen ist – obgleich sie mit „Modernität“ thematisch stimmig ist – eine kurz nach der Jahrhundertwende erschienene Bildpostkarte des bonaerensischen Verlegers Peuser ein seltenes Dokument. Sie zeigt mit einem conventillo (Mietskaserne), in denen in erster Linie mittellose Einwanderer und andere arme Bevölkerungsgruppen lebten, die Schattenseiten der Moderne in der Metropole: die soziale Frage, beengte Lebensverhältnisse und Armut (Abb. 90). Unter Verwendung eines Fotos von Harry Grant Olds verlegte Roberto Rosauer eine ähnliche Bildpostkarte

21 Donat, An Lagerfeuern deutscher Vagabunden, S. 29.

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ebenfalls noch vor 1906 (das Jahr, in dem die geteilte Rückseite in Argentinien eingeführt wurde).22

Abbildung 90: Bildpostkarte „Un conventillo – Buenos Aires, No. 244“, Verlag: Jacobo Peuser, Buenos Aires, vor 1906, ungelaufen, aus der Sammlung von Daniel M. Cisilino, http:// www.fotomuseoargentino.com.ar/details.php?image_id=696 [26.08.2016].

Sehr passend als Motiv für eine Bildpostkarte erscheint mir das Foto des Hauptpostamtes in Santiago (Abb. 91). Eine Bildpostkarte des Verlegers J. Cunill aus Buenos Aires, die vermutlich um 1910 erschien, betont die Modernisierung in Form der elektrifizierten Metropole in besonderem Maße (Abb. 92). Erni, der Absender der 1924 aus Buenos Aires verschickten Bildpostkarte, unterstrich den Eindruck noch in seiner Nachricht an die Familie des Bezirksschornsteinfegermeisters von Coppenbrügge bei Hannover, Max Walther, indem er „viele Grüße aus der schönen Weltstadt“ sendete. Ähnliche Bildpostkarten gab es z.B. auch von Callao und von Rio de Janeiro; eine Bildpostkarte des aus der Schweiz stammenden Verlegers Gastón Bourquin zeigt die des Nachts illuminierte Catedral Metropolitana in Buenos Aires. Da die Nachtfotografie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zumindest in Südamerika noch weitgehend unbekannt war,23 wurde das Motiv der nächtlichen Beleuchtung zunächst als Zeichnung verbreitet. Auch für Cunills Bildpostkarte wurde das ihr zugrunde liegende Foto noch manuell bearbeitet. Nachdem der technische Fortschritt auch nächtliches Fotografieren ermöglichte – zu den Pionieren in Südamerika gehörten in der zweiten Hälfte der 1910er und in den 1920er Jahren die Brüder Carlos

22 Vgl. eine Abbildung der Bildpostkarte auf der Website des online-Marktplatzes Delcampe. net, Auktion vom 21.11.2015 bis zum 17.12.2015, http://images-00.delcampe-static.net/im g_large/auction/000/335/918/078_001.jpg [23.11.2015, diese Seite ist mittlerweile nicht mehr abrufbar]. 23 Auf dem amerikanischen Doppelkontinent war, wie erwähnt, George Shiras III einer der Pioniere der Nachtfotografie. Vgl. Wender, Meet Grandfather Flash.

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(1885-1979) und Miguel Vargas (1886-1976) in Arequipa24 – erschienen ab den späten 1920er und 1930er Jahren vermehrt fotografische Ansichten wie die von Rio de Janeiro bei Nacht (Abb. 93). Seit ihrer Einführung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert war die nächtliche Beleuchtung – zunächst mit Gaslaternen, später mit elektrischem Licht – ein Sinnbild nicht nur für Moderne und Fortschritt, sondern auch für Wohlstand und großstädtisches Nachtleben. Sie vermittelte Sicherheit, sie ermöglichte ökonomische und soziale Aktivitäten unabhängig vom Tageslicht, sie war ein Instrument staatlicher Macht und Kontrolle und sie diente der Inszenierung der Stadt als moderne, sichere Metropole.25 Carl Kircheiß etwa war fasziniert von Buenos Aires: „Auf meinem Weg durch die Stadt bewunderte ich die Beleuchtung. Die Stadt schwamm in Licht, vor allem die Plaza de Mayo. Was muß das für unglaubliches Geld kosten. So was an Lichtentfaltung sieht man höchstens noch in Neuyork.“ 26

Abbildung 91: Bildpostkarte „Santiago. Correo Central, No. 136“, Verlag: Adolfo Conrads, Santiago, datiert 23.01.1914, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 2004/5/117.

24 Vgl. einige ihrer Fotografien z.B. in Benavente/Yenne (Hg.), Arequipa en blanco y negro oder in Empresa de Generación Eléctrica de Arequipa S.A. (Hg.), Un siglo de luz en Arequipa. Mit dem bereits mehrfach erwähnten, ebenfalls in Arequipa tätigen Max T. Vargas waren die Gebrüder Vargas nicht verwandt – aber sie lernten bei ihm, wie auch Martín Chambi oder Juan Manuel Figueroa Aznar. 25 Vgl. knapp einführend Moss et al., Verlust der Nacht. 26 Kircheiß, Polarkreis Süd – Polarkreis Nord, S. 87.

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Abbildung 92a+b: Bildpostkarte „Plaza Mayo – Buenos Aires“, Verlag: J. Cunill, Buenos Aires, um 1910, gelaufen 31.03.1924, aus der Sammlung von Hinnerk Onken. Datiert auf ca. 1910 wegen des (schwer lesbaren) Aufdrucks „Centenario Revolución“ (unten links). Eine annähernd identische Karte, welche die nächtlich erleuchtete „Plaza de Congreso – Buenos Aires“ zeigt, ebenfalls von Cunill verlegt, gelaufen 1926, gibt es im Archiv der SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1969/454,83. Vgl. außerdem die Bildpostkarten „Callao. – ,Iglesia y Plaza Matriz‘“, Verlag: Luis Sablich, Callao, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1973/472-903 und „Buenos Aires – La Catedral de Noche“, Verlag: Gastón Bourquin y Cía., Buenos Aires, um 1920, Sammlung von Hinnerk Onken. Die von Sablich herausgegebene Bildpostkarte zeigt, da die Nachtfotografie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zumindest in Südamerika noch weitgehend unbekannt war, eine Zeichnung.

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Abbildung 93: Fotografie „Die Palmen der Mangue“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre (?), aus Katz, Richard: Schnaps, Kokain und Lamas: Kreuz und quer durch wirres Südamerika, Berlin: Ullstein, 1931, vor S. 241.

Um den steigenden Elektrizitätsbedarf zu decken, wurden um die Jahrhundertwende die ersten Wasserkraftwerke in Südamerika gebaut.27 Auch diese Entwicklung moderner Infrastruktur wurde auf Bildpostkarten verbreitet, etwa auf zwei im Jahr 1913 von Buenos Aires aus verschickten Karten. Eine Bildpostkarte zeigt den Dique San Roque im Valle de Punilla in der Provinz Córdoba. Die Arbeiten an dem Staudamm wurden 1884 begonnen und Anfang der 1890er Jahre fertig gestellt. Obwohl es nicht zuletzt aufgrund eines Korruptionsskandals große Schwierigkeiten gab – der Bauunternehmer Juan Bialet Massé und der Ingenieur Carlos Cassaffousth wurden zwischenzeitlich sogar inhaftiert – war der Staudamm der größte seiner Zeit und weltweit bekannt. Die zweite Karte zeigt das heute aufgegebene Wasserkraftwerk in der malerisch schönen Quebrada de Lules am gleichnamigen Fluss in der argentinischen Provinz Tucumán (Abb. 94).28

27 Die Geschichte der Elektrizitätsgewinnung aus Wasserkraft in Südamerika ist bedauerlicherweise bislang kaum erforscht. Vgl. unter den Quellen beispielsweise für Argentinien die Broschüre La energía hidroeléctrica oder für Paraguay Mariotti, Posibilidades del desarrollo de la industria hidroeléctrica. Nach der Entwicklung der Wasserturbine in den 1830er und 1840er Jahren sowie der Erfindung des elektrodynamischen Generators durch Werner von Siemens 1866 wurde das weltweit erste Wasserkraftwerk 1880 in Northumberland, England, in Betrieb genommen. 28 Das damals mit 3.750 Kilowatt leistungsstärkste Kraftwerk Argentiniens wurde zwischen 1900 und 1910 von der Compañía Hidro Eléctrica de Tucumán zur Stromversorgung (die

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Abbildung 94a+b: Bildpostkarte „Rep. Argentina, Pcia. de Tucumán. Hydro Electrica del Rio Lules, No. 207“, Verlag unbekannt, Argentinien, gelaufen 26.07.1913, Sammlung von Hinnerk Onken. Vgl. auch die Bildpostkarten „Sierra de Córdoba – Dique San Roque“, Verlag: Adolfo Kapelusz, Buenos Aires, gelaufen 15.05.1913, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1970/1255214 und „Casa Bamba. Sierras de Córdoba“, Fotograf und Verlag unbekannt, Argentinien, nach 1905, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E Nls 259. Das Kraftwerk Casa Bamba mit dem den Río Suquía stauenden Damm Mal Paso existierte seit 1911. Es hatte eine Leistung von etwa fünf Megawatt; 1964 wurde es vom Netz genommen.

insbesondere für elektrisches Licht benötigt wurde) der Provinzhauptstadt errichtet. Vgl. Budeguer, Conociendo el Cerro San Javier.

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Das Motiv, dessen Modernität noch durch den Eisenbahnanschluss im Bildvordergrund unterstrichen wird, wird dabei auf sehr bemerkenswerte Weise ergänzt durch die Nachricht von Karl Eythropel an Fräulein Erna Ludwig aus der Kopernikusstraße in Berlin: „Liebes Fräulein Ludwig! Besten Dank für die schönen Karten aus dem Harz. Ach, wie schön wäre es doch, wenn ich mal wieder deutsche Waldesluft riechen könnte. Herzliche Grüße sendet Ihr alter Freund Karl Erythropel.“ Der Harz mit seinen Wäldern und der gesunden deutschen „Waldesluft“ stellte sich für den Absender und eventuell auch für die Empfängerin im Vergleich zum modernen Argentinien und der Weltmetropole Buenos Aires als ein Inbegriff von Natur dar. Die gängige dichotomische Vorstellung von Südamerika und Deutschland wurde hier umgekehrt. Da der Modernitätsdiskurs global war, waren auch die visuellen Medien dieses Diskurses global. Das gilt nicht nur für ihre Verbreitung – wie erwähnt, zirkulierten Bildpostkarten weltweit und auch Bildpostkarten aus Südamerika hatten eine große Reichweite (zumindest in Europa und Nordamerika) – es gilt auch für die Motive, die sie verbreiteten. Bildpostkarten mit Motiven von Zoos und Parks, städtischen Ansichten, Eisenbahnen und Bahnhöfen sowie von Strandbädern oder Regattaclubs ähneln sich in aller Welt. Ein weiteres globales städtisches Motiv sind Kirchen; ihre Ansichten zierten damals (wie heute) ebenfalls zahlreiche Bildpostkarten. Allerdings verwiesen Kirchen weniger auf Modernität bzw. in historisierender Perspektive auf Gegenwart und Zukunft, sondern vielmehr auf Tradition, Geschichte und Kontinuität. Trotzdem gehören Ansichten von Kirchen in Südamerika wie in aller Welt zum Kanon der auf Bildpostkarten verbreiteten Motive. Sie durften daher auch im Repertoire südamerikanischer Verleger nicht fehlen (Abb. 95). Das gilt insbesondere für die Länder der Andenregion, vor allem für Peru.

Abbildung 95: Bildpostkarte „Arequipa. Plaza de Armas“, Fotografie und Verlag: M. Mancilla, Arequipa, datiert 1923, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1996/111/23. Vgl. z.B. auch die Bildpostkarten „Catedral – Córdoba, República Argentina“, Verlag: Talleres Peuser, Buenos Aires, nach 1905, ungelaufen, Sammlung von Hinnerk Onken; „Pernambuco. Igreja de

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Penha. Serie Süd-Amerika, Nr. 160“, Verlag: Albert Aust, Hamburg, gelaufen 21.08.1899 und „Cuzco-Perú. Coro de la Iglesia de S. Francisco tallado en madera“, Verlag: H.G. Rozas, Cuzco, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1971/469-243 und 2008/14, 92.

Abbildung 96: Bildpostkarte „Manáos. Tracção aerea por electricidade da M. H. Ltd. Fluctuante das Torres“, Verlag: Georg Hübner & Amaral, Manaus, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1985-495-245.

Die hier behandelten Bilder von Modernität führten – ebenso wie manche der im vorigen Kapitel behandelten kolonialen Bilder, etwa von deutschen Schulen, – den deutschen Betrachtern vor Augen, dass es sich in den Metropolen, allen voran in Buenos Aires, gut leben ließ. Das mochte zum einen potenzielle Auswanderer (zumindest solche, die nicht auf Abenteuer in der Wildnis aus waren) ermutigen, nach Südamerika zu kommen; es mochte zum anderen für die daheimgebliebenen Verwandten und Freunde beruhigend gewesen sein. Aus südamerikanischer Perspektive dienten die Bilder des Weiteren der Selbstdarstellung als moderne Nationen. Die Bilder zeigten außerdem, dass die Möglichkeiten für den Handel gut waren, dass selbst die unzugänglichen Anden durch die Eisenbahn infrastrukturell erschlossen wurden, dass industrielle Betriebe, Bergbau und Landwirtschaft mit moderner Technik betrieben wurden (Abb. 96 und 97) und dass Investitionen sicher waren. Letzteres betonten die erwähnten Bilder von Banken sowie von staatlicher Stabilität. Eine solche Werbung um deutsche Investitionen war auch deswegen nötig, weil das Vertrauen in die südamerikanische Kreditwürdigkeit durch die Venezuelakrise seit 1901 über die ohnehin verbreitete Vorstellung notorischer Instabilität, welche die vermeintlich ständigen Revolutionen mit sich brachten, hinaus erschüttert gewesen sein mag. 29

29 Venezuelas Präsident Cipriano Castro (1859-1924, Präsident 1899-1908) schränkte 1901 die Entschädigungen für während innerer Unruhen zerstörtes oder beschlagnahmtes Eigen-

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Abbildung 97: Bildpostkarte „Zárate F.C.C.A. La Fábrica de papel“, Verlag: Librería Pablo Laforte, Zárate, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 2004/29-293. Für Motive von Eisenbahnen vgl. z.B. die Bildpostkarten „Mendoza. Tunél F.C. Transandino“, Verlag: Adolfo Kapelusz, Buenos Aires, nach 1905, ungelaufen; „Valle de los Paramillos, Cordillera“ und „Valle del Río Mendoza, Cordillera“, Verlag: C. Kirsinger & Cía, Valparaíso, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1966/658,68; 1966-658,189 und 1966658,7 sowie „Rosario. Interior Estación F.C.C.A.“, Verlag: M.A.R., Rosario, nach 1905, ungelaufen; „Buenos Aires – Estaciones de los Ferro Carriles Central Argentino y Central Córdoba“, Verlag: Gastón Bourquin y Cía, Buenos Aires, um 1920, ungelaufen und „Sierras de Córdoba – Capilla del Monte – Puente F.C.A. del N.“, Verlag: Serricchio Hnos., Córdoba, gedruckt in Italien, 1920er Jahre, ungelaufen, Sammlung von Hinnerk Onken. Vgl. zahlreiche weitere Bildpostkarten mit Ansichten von argentinischen Bahnhöfen in der Sammlung von Daniel Cisilino, Dublin/Buenos Aires, http://www.antiguaspostales.com.ar [07.04.2016, diese Seite ist mittlerweile nicht mehr abrufbar]. Vgl. weiterhin die Bildpostkarten „Latest view of the Culebra Cut, looking South, Panama Canal“ und „View oft he Culebra Cut with well drill at Work, Panama Canal“, Verlag: L. Maduro Jr., Panama, datiert 1912, gelaufen (Poststempel unleserlich) und datiert 1910, gelaufen (Briefmarke mit Poststempel entfernt) sowie „Showing

tum von Ausländern ein; 1902 (wie schon einmal 1899) stellte er den Schuldendienst ein. Das Deutsche Reich suchte daraufhin die finanziellen Interessen deutscher Gläubiger und das eigene weltpolitische Interesse mit Kanonenbootpolitik zu vertreten: Von Dezember 1902 bis Februar 1903 blockierte die deutsche gemeinsam mit der britischen und italienischen Marine die venezolanische Küste. Deutsche Kanonenboote begannen dabei mehrfach Gefechte mit der venezolanischen Armee; unter anderem zerstörten das Kanonenboot „Panther“ und die SMS „Vineta“ das Fort San Carlos und erzwangen sich so Zugang zum Maracaibo-See. Vgl. Fiebig-von Hase, Großmachtkonflikte in der Westlichen Hemisphäre und Zeuske, Von Bolívar zu Chávez, S. 311-325 sowie unter den Quellen z.B. Sievers, Venezuela und die deutschen Interessen und zur Zerstörung des Forts San Carlos Wippermann, Deutscher Geschichtskalender für 1903, S. 324.

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Approach to Guard Gates of Upper Lock, East Chamber, Gatun, Panama“, Verlag: Vibert & Dixon, Panama, gelaufen 07.03.1912, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1974/434-85; 1974/ 434-86 und 1965/351-149. Bilder vom Bau des 1914 eröffneten Panamakanals zeugten in besonderem Maße von technischem Fortschritt, infrastruktureller Entwicklung und von moderner Globalisierung. Obgleich sie nicht aus Südamerika stammen, werden sie deswegen und weil sie sehr gängig waren hier erwähnt. Auch in vielen Reiseberichten, etwa dem von Richard Katz, gibt es Bilder vom Panamakanal.

Abbildung 98: Fotografie „Bergwerk in der bolivianischen Kordillere“, Fotograf unbekannt, 1910er Jahre (?), aus Ross, Colin: Südamerika, die aufsteigende Welt, Leipzig: Brockhaus, ²1923 [1922], nach S. 232.

Neben den Bildpostkarten finden sich Visualisierungen von „Moderne“ und „Modernität“ besonders in jenen zeitgenössischen Publikationen, die am ehesten als Handbücher oder in Anlehnung an Reise- als Länderführer bezeichnet werden können. Sie behandeln entweder einzelne Länder, wie z.B. die Werke von Otto Bürger, Otto Preusse-Sperbers Handbuch über Perú oder Fritz Regels Führer über Kolumbien und Argentinien, oder Südamerika als Ganzes, so z.B. Süd- und Mittel-Amerika: Seine Bedeutung für Wirtschaft und Handel ebenfalls von Preusse-Sperber oder Otto Nordenskjölds mehrfach erwähntes Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit – dessen Titel schon auf den historisierenden Blick verweist. Diese Publikationen betonten, wie im vorigen Kapitel dargestellt, in Text und Bild, dass Infrastruktur und Wirtschaft bereits gut entwickelt waren und dem gewillten Kolonisator die Ausbeutung von Bodenschätzen oder das Treiben von Landwirtschaft und Handel ohne große Schwierigkeiten möglich machten. Gleiches gilt für manche Reiseberichte, so etwa für das 1922 erschienene Südamerika: Die aufsteigende Welt von Colin Ross, der ein

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nicht näher bezeichnetes Bergwerk in der bolivianischen Kordillere abbildete (Abb. 98). Hans Schmidt hob in seinem ein Jahr zuvor erschienenen Buch Meine Jagd nach dem Glück hervor, dass deutsche Einwanderer daran beteiligt waren (Abb. 99). Der Historiker und „Rasseforscher“ Albrecht Wirth (1866-1936) vermerkte ebenfalls den Beitrag deutscher Ingenieurskunst bei der Erschließung der Anden in seinem 1922 erschienenen Buch über Deutsche Abenteurer: So bauten Deutsche z.B. Drahtseilbahnen dort.30 Und auch Gunther Plüschow, einer der meistgelesenen Autoren der 1920er Jahre, beschrieb nicht nur moderne südamerikanische Metropolen, sondern war als Flugpionier, der, wie in der Einleitung erwähnt, gemeinsam mit Ernst Dreblow unter anderem die ersten Luftbildaufnahmen der Darwin-Kordillere, von Kap Hoorn und der Großen Feuerlandinsel machte und die erste Luftpost von Punta Arenas nach Ushuaia auslieferte, auch selbst Träger bzw. Mittler von Moderne (Abb. 101).

Abbildung 99: Fotografie „Eine kleine deutsche Quebrachoholz-Fabrik“ von Hans Schmidt, nach 1912, aus Schmidt, Hans: Meine Jagd nach dem Glück in Argentinien und Paraguay: Reise, Arbeits-, und Jagdabenteuer, Leipzig: Voigtländer, 1921, im Anhang, S. 11. S.o. in Kap. 2 auch die Abb. 59 der Fotografie der Challapabrücke aus dem Werk Süd- und Mittel-Amerika von Otto Preusse-Sperber.

30 Vgl. Wirth, Deutsche Abenteurer, S. 152.

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Abbildung 100: Fotografie „Bahn von Paranaguá nach Curityba, von deutschen Ingenieuren erbaut, Staat Paraná“, Fotograf unbekannt, frühes 20. Jh. (?), aus Rohrbach, Paul: Das Deutschtum über See, Karlsruhe: Schille & Co., 1930, Abb. 74, nach S. 220. Die Bahnstrecke zwischen der Hafenstadt Paranaguá und der Bundeshauptstadt Curitiba überwindet auf 80 km Länge (insgesamt ist die einspurige Trasse 110 km lang) durch die Serra do Mar fast 1000 Meter Hö-

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henunterschied. Der 1885 fertig gestellte Bau der Schmalspurbahn wurde von Ferdinand de Lesseps (1805-1894), der auch den Suezkanal gebaut hatte, konzipiert.

Abbildung 101: Fotografie „Urwald, Gletscher, Meer und Flugzeug in Feuerland“ von Kurt Neubert, 1927/29, aus Plüschow, Gunther: Silberkondor über Feuerland, Berlin: Ullstein, 1929, vor S. 125.

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BLICKE IN DIE VERGANGENHEIT I: LANDSCHAFTEN, GAUCHOS UND ANDERE COSTUMBRISTISCHE MOTIVE Um bei abenteuerlustigen und zivilisationsmüden Europäern nicht den Eindruck entstehen zu lassen, Südamerika unterscheide sich gar nicht oder zumindest nicht wesentlich von Europa, gab es, wie im vorigen Kapitel aufgezeigt, auf Bildpostkarten und in Büchern Bilder von unberührten und rauen Landschaften, die den Pioniergeist herausforderten. Beliebte Motive dabei waren der Urwald, die wild-zerklüfteten Anden und die Weite der Pampa. Die peruanische Kunsthistorikerin Natalia Majluf bestätigt, was schon im vorigen Kapitel betont wurde, dass nämlich Menschen in vielen Landschaftsaufnahmen entweder gar nicht abgebildet sind oder nur sehr klein erscheinen (Abb. 102 sowie Abb. 41 in Kap. 1 und Abb. 56 in Kap. 2). 31 Diese Bilder stimulierten, wie erwähnt, die Abenteuerlust, den Pioniergeist und den gedanklichen Eskapismus von Europäern und Europäerinnen, die der Enge und der Dekadenz ihrer Heimat entfliehen wollten. Eine weitere Funktion entsprechender Bilder ist jedoch die Legitimation von Landnahmen durch Siedler/Kolonisten bis hin zu Eroberungsfeldzügen etwa durch die argentinische oder die chilenische Armee, die im Folgenden behandelt werden. So wurden auch die rauen Anden, die weite Pampa und dichte Dschungel in Besitz genommen, als Wirtschaftsräume erschlossen und vom Fortschritt erfasst. Auf Forschungsexpeditionen, Bergsteiger und Kautschuksammler folgten Eisenbahnen, Minen und Plantagen, wie die oben behandelten Fotos und Bildpostkarten zeigten. Der erwähnte Albrecht Wirth betonte auch hier die Leistungen von deutschen Entdeckern, die die „letzten Rätsel“ Argentiniens und Chiles entschleierten. Und Hans Meyer, Walther Schiller, Theodor Herzog, Walther Penck und Rudolf Dienst bestiegen, wie ebenfalls bereits erwähnt, in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts mehrere Gipfel in den ecuadorianischen, argentinischen und bolivianischen Anden, darunter waren die Erstbesteigungen des Huayna Potosí und des Ancohuma durch Dienst.32 Verschont blieben neben einigen wenigen „Naherholungsgebieten“ wie dem Tigre nur gänzlich unzugängliche, unwirtliche und/oder für wirtschaftliche Ausbeutung nicht lohnenswerte Landstriche, etwa im Herzen des Amazonasgebietes, im Chaco oder ganz im Süden des Kontinents, wo Tiere die einzigen Bewohner blieben, wie Bildpostkarten von Kohlmann oder in Polarkreis Süd – Polarkreis Nord von Carl Kircheiß sowie in anderen Büchern veröffentlichte Bilder etwa von Pinguin- oder Seelöwenkolonien zeigten (Abb. 103 sowie Abb. 46 in Kap. 1). Diese bildlich höchstens von Tieren bewohnten entweder öden und wüsten oder undurchdringlich bewachsenen Gegenden stellten das natürliche Habitat der verbleibenden indigenen Bevölkerung dar (Abb. 104). Durch die bildliche Erfassung wurden abgelegene, von Weißen und Mestizen unbewohnte oder kaum bewohnte Regionen angeeignet und auch mental in nationale Territorien eingegliedert. Einen ähnlichen Prozess beschreibt die Historikerin Alison Rowley für Russland, wo Bildpostkarten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert

31 Vgl. Majluf, Rastros de un paisaje ausente. 32 Vgl. Wirth, Deutsche Abenteurer, S. 152; Penck, Puna de Atacama; Dienst, Im dunkelsten Bolivien; Herzog, Bergfahrten in Südamerika und Ross, Südamerika: Die aufsteigende Welt, S. 232.

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ebenfalls der (mentalen) Eingliederung ins imperiale Reich dienten.33 Für die Betrachter im Deutschen Reich hatten die Landschaftsbilder noch eine etwas anders gelagerte Bedeutungsebene: Sie zeigten den Menschen daheim Landschaften des „informellen Kolonialreiches“ in Südamerika, wo deutsche Auswanderer als Kolonisten, als Siedler, Händler und Unternehmer lebten – und als „Auslandsdeutsche“.

Abbildung 102: Fotografie „Das absolute Schweigen. Pflanzenleer und menschenleer liegt dieser Gebirgssee in der sterilen West-Kordillere“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre (?), aus Katz, Richard: Schnaps, Kokain und Lamas: Kreuz und quer durch wirres Südamerika, Berlin: Ullstein, 1931, vor S. 49. Vgl. ähnlich auch die Fotografien „Blick von den Westhängen des Cerro Palca“, „Blick von der Falda de las Cardosas“ und „Der Urwald am Osthang der Cordillere zum Gran Chaco“ von Walther Penck (?), 1912/14, aus Penck, Walther: Puna de Atacama: Bergfahrten und Jagden in der Cordillere von Südamerika, Stuttgart: Engelhorn, 1933, vor S. 153 und vor S. 209 sowie die Bildpostkarte „Los Tres Hermanos visto desde Laguna Los Cántaros (Argentina)“, Verlag unbekannt, Argentinien, nach 1905, Sammlung von Hinnerk Onken.

Die Bilder von Landschaften verwiesen historisierend betrachtet auf die Vergangenheit des Subkontinentes, dessen Zukunft, wie erwähnt, moderne Städte, moderne Infrastruktur und moderne Produktionsanlagen in Landwirtschaft und Bergbau darstellten. Auch der Historiker Sven Schuster betont in seiner Arbeit über das „Kaiserreich Brasilien im Zeitalter der Weltausstellungen“, dass sich die brasilianischen Eliten ständig um die Darstellung des eigenen Landes als jungfräuliches Naturparadies mit schier grenzenlosen Ressourcen einerseits und als moderner, technologisch fortschrittlicher und im Prozess der Industrialisierung begriffener Staat andererseits bemühten.34

33 Vgl. Rowley, Open Letters. 34 Vgl. Schuster, Die Inszenierung der Nation.

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Abbildung 103: Bildpostkarte „Isla Pinguin. Territorio Santa Cruz“, Fotografie und Verlag: Fot. Kohlmann, La Plata, nach 1920, ungelaufen, Sammlung von Hinnerk Onken.

Abbildung 104: Fotografie „Am Rio San Miguel. Streifgebiet der wilden Sirionó-Indianer“ von Theodor Herzog, 1910/12, aus Herzog, Theodor: Vom Urwald zu den Gletschern der Kordillere: Zwei Forschungsreisen in Bolivia, 2., neubearb. Aufl., Stuttgart: Strecker & Schröder, 1923 [1913], Abb. 10, nach S. 40.

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Ebenfalls auf die Vergangenheit verwiesen Bilder von Gauchos in bzw. aus Argentinien. Berittene Viehhirten gab es zwar in fast allen Ländern Südamerikas: in Uruguay, Paraguay und Bolivien ebenso wie in Chile, wo sie auch Huasos heißen, in Brasilien (Vaqueiros), Venezuela (Vaqueros), Peru (Qorilazo) oder Kolumbien (Llanero), jedoch sind sie v.a. für die Vorstellung von Argentinien integral. Repräsentationen von Gauchos waren ein exklusives Symbol männlicher Stärke und damit auch ein positiver Bezugspunkt für die argentinische Nation.35 Bei den Gauchos handelte es sich, so betonten wissenschaftliche ebenso wie literarische Werke, um „Mischlinge“, die sich aber als Weiße betrachteten und die, so konnten es die Menschen bei Karl May nachlesen, „auf die Rassezugehörigkeit sehr stolz sind. […] Der Gaucho hat in seiner Wesensart die wilde Entschlossenheit und den unabhängigen Sinn [der] Ureinwohner und zeigt dabei den Anstand, den Stolz, die edle Freimütigkeit und das vornehme, gewandte Betragen des spanischen Caballero. Seine Neigungen ziehen ihn zum Nomadenleben und zu abenteuerlichen Fahrten. Er ist ein Feind jeden Zwanges, ein Verächter des Besitzes […] und ein Freund glänzenden Tandes […].“36

Bezüglich der „rassischen“ Abstammung der Gauchos, die als einheitliche (Bevölkerungs-)Gruppe wahrgenommen wurden, hob Fritz Regel in seinem Handbuch über Argentinien hervor: „[D]ie Gauchos der Pampas, diese erbitterten Feinde der Indios, darf man nicht schlechthin als Mestizen ansprechen, vielmehr scheint in ihnen viel maurisches Blut zu pulsieren, da die im Mutterland heftig verfolgten Mauren hier eine zweite Heimat fanden.“37 So ließ sich also erklären, warum die offensichtlich – Fotos und andere bildliche Darstellungen zeigten es ja – weißen Gauchos so rückständig sein und leben konnten und nicht wie moderne, „rassisch“ überlegene Weiße. Darstellungen von Gauchos fanden besonders in Form von Bildpostkarten Verbreitung. Gauchos personifizierten die Eroberung, Bändigung und Nutzung wilden, ursprünglichen Landes. Das Konzept der Männlichkeit ist dabei von großer Bedeutung. Es wird deutlich in zahlreichen Motiven vom Gaucho als lonesome rider, der den starken, unabhängigen Mann verkörpert. Weiterhin kommt es zum Tragen in Darstellungen männlicher Tätigkeiten bei der Arbeit, etwa dem Brandmarken von Vieh, und in der Freizeit, beispielsweise von Spielen mit der Bola oder tabas; es wird auch betont im Motiv der Gauchos, die zum Klang der Gitarre („Es gibt selten einen

35 Vgl. Onken, Visiones y visualizaciones sowie zur visuellen Repräsentation von Gauchos auch Giordano, Nación e identidad en los imaginarios visuales de la Argentina; Masotta, Gauchos en las primeras postales fotográficas argentinas und Tell, Gentlemen, gauchos y modernización. 36 May, Am Rio de la Plata, S. 5. Es handelt sich bei dem Zitat um eine Wiedergabe aus dem Buch von Delacour, Le Rio de La Plata. Vgl. sehr ähnlich ders., Das Vermächtnis des Inka, S. 74-75. Eine Vorstellung vom Leben eines Gauchos konnten sich die Menschen auch anhand der Lektüre von Schreiber, Im Schatten des Calafate, erschienen 1928, machen. Schreiber hatte selbst als Gaucho in Patagonien gearbeitet. 37 Regel, Argentinien, S. 40-41.

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Gaucho, der nicht eine Gitarre besitzt“, heißt es bei Karl May38) und – sehr männlich – Alkohol trinkend die Zeit totschlagen (Abb. 105). Einige Bildpostkarten betonen die romantische Seite des Gaucholebens.

Abbildung 105: Bildpostkarte „República Argentina – Campestre Matando el tiempo, Nro. 139“, Verlag: Zaverio Fumagalli, Buenos Aires, nach 1905, gelaufen (Briefmarke mit Poststempel entfernt), Sammlung von Hinnerk Onken. Vgl. auch die Bildpostkarten „Capando animales. Magallanes“, Verlag unbekannt, Chile, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1966/658,84 und „Jugando a la taba – Argentina. No. 519“, Fotograf und Verlag unbekannt, Argentinien, nach 1905, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E Nls 269 sowie die Fotografien „Rohe Pferde und Maultiere werden in den Korral getrieben, und einige von ihnen werden zum Zähmen eingefangen“ von Hans Krieg (?), 1920er Jahre, aus Krieg, Hans: Indianerland: Bilder aus dem Gran Chaco, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1929, Bildtafel im Anhang und „Vieh-Abstempelung auf einer Rinderfarm (Argentinien)“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre (?), aus Edschmid, Kasimir: Südamerika wird photographiert, Bielefeld/Leipzig: Velhagen & Klasing, 1932, Bildteil S. 31.

Fotografische und als Postkarten verbreitete Bilder wie jene von Gauchos und anderen „typischen“ Bewohnern einer Gegend oder solche, die Menschen bei „typischen“ Tätigkeiten – Straßenkehrer, Verkäufer, Wasserträger, Musiker 39 – und in „typi-

38 May, Das Vermächtnis des Inka, S. 91. 39 Oft handelte es sich bei in costumbristischer Manier abgebildeten Menschen um Indigene, wie beispielsweise Keith McElroy festgestellt hat: „Carte-de-visite portraits of Indians are numerous and most often fall within the costumbrista tradition of recording distinctive costumes and activities associated with their culture rather than portraits of individuals.“ McElroy, Early Peruvian Photography, S. 28.

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schen“ Kostümen zeigen, sowie pittoreske Landschaften40 und romantische Sehnsuchtsmotive (Abb. 106-109) waren „moderne“ und „realistische“ Versionen lange bekannter und somit vertrauter malerischer Motive des costumbrismo.41 Die Bilder aus nahezu allen lateinamerikanischen Ländern ähneln einander stark. Sie gleichen auch den Bildern, die Fotografen und Bildpostkartenproduzenten in Europa etwa von der einheimischen ländlichen, bäuerlichen Bevölkerung und ihren traditionellen Trachten anfertigten. Diese wurden im Deutschen Reich im 19. Jahrhundert von der Heimatbewegung (wieder-)entdeckt oder auch erfunden. Noch mehr gilt diese Ähnlichkeit für manche Bilder von der Bevölkerung der Iberischen Halbinsel. Augenscheinlich wird diese Ähnlichkeit etwa in den Motiven der Empanada-Verkäuferin aus Tucumán auf einer Bildpostkarte aus der Sammlung von Daniel Cisilino und des lissabonnischen Obstverkäufers und der lissabonnischen Fischer, die auf Bildpostkarten im Nachlass Max Uhles im Archiv des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin zu sehen sind.42 Sehr ähnlich sind sich auch die Motive der Ochsengespanne auf der südamerikanischen Bildpostkarte „Hacia el Mercado“ (Provinz Córdoba, Argentinien, Abb. 110)43 und des Ochsenkarrens in Santiago de Compostela auf einer Fotografie in Arthur Rehbeins Reisebericht über die „Südwestecke der alten Welt“ von 1926 (Abb. 111). Das ist insofern wenig überraschend, weil der lateinamerikanische costumbrismo die Adaption einer gleichnamigen spanischen literarischen und künstlerischen Strömung des 19. Jahrhunderts ist, die in der Darstellung von Brauchtum und Landessitten (span. costumbres) romantische und realistische Züge vermischte.44 In

40 Vgl. zahlreiche solcher Bilder auch in Masotta, Paisajes en las primeras postales fotográficas argentinas. 41 Arturo Aguilar Ochoa hält für Mexiko (aber diese Annahme kann generalisiert werden) fest, dass costumbristische Motive von pittoresken Landschaften, exotischen Kostümen und fremden Sitten der Einwohner einer Weltgegend, die für viele Europäer noch immer neu war, durch die fotografische Erfassung und Verbreitung „realistisch“ wurden. Diese Fotografien reihten sich ein in eine lange bestehende Tradition der Darstellung von „tipos populares“: Am verbreitetsten waren Bilder von Wasserträgern, Tortilla-Bäckern, Kohlenhändlern, chinas poblanas und charros, den mexikanischen Cowboys. Vgl. Aguilar Ochoa, La fotografía durante el Imperio de Maximiliano, bes. S. 118. Vgl. zur costumbristischen Malerei in Argentinien z.B. den Aufsatz über Argentiniens ersten „wahren“ Maler Carlos Morel (1813-1894), der u.a. Bilder von Gauchos malte, von Amigo, Carlos Morel: El costumbrismo federal und für Mexiko z.B. Velázquez Guadarrama, La pintura costumbrista mexicana. 42 Vgl. die Bildpostkarte „Vendadora de Emapanadas, Tucumán, Rep. Argentina“, gelaufen 1904, aus der Sammlung von Daniel M. Cisilino, http://www.fotomuseoargentino.com.ar/ details.php?image_id=686&sessionid=02ae26c556148cdf4ddc7b83e3d1a4da [26.08.2018] und die Bildpostkarten im Nachlass Max Uhle, Ibero-Amerikanisches Institut – Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signatur N-0035 s 17. 43 Vgl. auch die Bildpostkarte „Trasporte de Pasto“, Verlag: C. Kirsinger & Cía., Valparaíso/ Santiago/Concepción, vor 1906, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1966/658, 191. 44 Vgl. z.B. knapp Gumbrecht/Sánchez, Der Misanthrop, die Tänzerin und der Ohrensessel.

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seiner Einführung zu Jorge Isaacs (1837-1895) 1867 erschienenem costumbristischen Roman María schreibt der Literaturwissenschaftler Donald McGrady: „Die kolumbianischen costumbristischen Gemälde strebten wie die spanischen danach, die Erinnerung an typische Praktiken zu bewahren und gleichzeitig über das Lächerliche der lokalen Bräuche zu spötteln. Dieses Interesse an den volkstümlichen Typen und an regionalem Brauchtum wurde durch die Romantik befördert, auch wenn der costumbrismo offenkundig mit dem Realismus verwandt ist, da er sich vornahm seine Sujets mit einer fast fotografischen Objektivität darzustellen.“45

Abbildung 106: Bildpostkarte „Alrededores de Quito. Costumbres de indios – (Aguador), Nr. 96“, Verlag: Fototip. José Domingo Laso/Librería Roberto Cruz, Quito, nach 1905, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E 4270, erworben 1924 von Paul Traeger.

Costumbristische Darstellungen waren darüber hinaus verwandt mit der kolonialen pintura de castas, die im Vizekönigreich Neuspanien im 17. und 18. Jahrhunderts verbreitet war, und mit der noch älteren Genremalerei des 17. Jahrhunderts, in der flämische und holländische Maler das Alltagsleben einfacher Menschen festhielten.46

45 „Los cuadros de costumbres colombianos, al igual que los españoles, pretendían conservar el recuerdo de las prácticas típicas, y a la vez satirizar lo ridículo en los usos locales. Este interés en los tipos castizos y en las costumbres regionales fue fomentado por el movimiento romántico, aunque el costumbrismo tiene un evidente parentesco con el Realismo, puesto que se proponía representar sus temas con una objetividad casi fotográfica.“ McGrady, Introducción, S. 22, Übersetzung von Hinnerk Onken. 46 Vgl. zur pintura de castas z.B. Katzew, Casta Painting oder Deans-Smith, Creating the Colonial Subject und zur Genremalerei Schneider, Geschichte der Genremalerei. Die Gattung der Genremalerei war beispielsweise auch in Spanien oder deutschen Ländern und weit über das 17. Jahrhundert hinaus verbreitet. Vgl. Moor, Studien zur spanischen Genre-

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Auch Aspekte der Landschaftsmalerei können sich in costumbristischen Motiven finden, die somit nicht nur auf die Darstellung sozialer Schichten und populärer Kultur beschränkt sind.

Abbildung 107: Bildpostkarte „Alrededores de Quito. Costumbres de indios (Barrendero), Nr. 97“, Verlag: Fototip. José Domingo Laso/Librería Roberto Cruz, Quito, nach 1905, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E 4268, erworben 1924 von Paul Traeger. Der offenbar gut informierte Sammler, Privatgelehrte, Ethnologe und Philologe aus Berlin-Zehlendorf Dr. Traeger korrigierte Lasos gedruckte Bildunterschrift und notierte handschriftlich, der Straßenfeger komme (ebenso wie der Wasserträger) nicht aus der Umgebung von Quito, sondern aus dem Distrikt Quito oder der Hauptstadt selbst – was genau gemeint ist, bleibt unklar. Traeger behauptete, der Abgebildete stamme aus Zámbiza, „Kolonie der Inkas“. Tatsächlich gehört Zámbiza zum Distrikt Quito, es

malerei oder Morsbach, Die deutsche Genremalerei. Die neuspanische Casta-Malerei visualisiert sowohl costumbristisch-folkloristisch als auch „rassisch“ „Typen“ und kann somit auch als ein Vorläufer der Typenfotografie gedeutet werden. Wie diese drückt sie „rassisch“ begründete soziale Hierarchien aus. Vgl. knapp Hempel, Facetten der Fremdheit, S. 181, FN 8 sowie ausführlich Carrera, Imagining Identity in New Spain und auch Bustamente, “The Matter Was Never Resolved”.

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liegt aber auch im Nordosten der Stadt und somit in ihrer Umgebung. 47 Vgl. auch die Fotografien „Indianischer Wasserträger“ und „Typen vom Markttag“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre (?), aus Katz, Richard: Schnaps, Kokain und Lamas: Kreuz und quer durch wirres Südamerika, Berlin: Ullstein, 1931, nach S. 80 und vor S. 129.

Abbildung 108: Bildpostkarte „Huancayo, en día de Féria“, Verlag: Bazar Pathé, Lima, nach 1905, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E 5045, erworben 1928 von Cornelia Heller.48 Vgl. auch die Bildpostkarte „Huancayo, Vendedores de mates“, Verlag: Bazar Pathé, Lima, nach 1905, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E 5044.

47 Das Ethnologische Museum erwarb von Traeger im Oktober 1924 27 Bildpostkarten und 140 Fotografien mit Motiven von Indigenen zum Preis von 200 Goldmark. Vgl. Ethnologisches Museum, Berlin, Akten betreffend die Erwerbung ethnologischer Gegenstände aus Amerika, Bd. 40, 01.01.1922-31.12.1924, Pars I B, Vorgang E 681/24 (Träger). 48 Am 11. Oktober 1928 notierte Max Schmidt, der Direktor der südamerikanischen Abteilung des Ethnologischen Museums: „Schwester Cornelia Heller, Berlin, Rudolf Virchow Krankenhaus, Station 10, hat heute dem Museum für Völkerkunde 5 Tonfiguren, Ausgrabungen aus Manta in Nordequador, sowie 9 Gewebestücke aus Alt-Peru geschenkt. Sie bietet dem Museum ausserdem 29 Photographien und 18 Postkarten resp. kleinere Bilder aus Peru zum Kauf an“. Ethnologisches Museum, Berlin, Akten betreffend die Erwerbung ethnologischer Gegenstände aus Amerika, Bd. 42, 01.01.1927-31.12.1928, Pars I B, Vorgang E 1124/1928 (Cornelia Heller). Die Bilder wurden „mit Rücksicht auf ihre gleichzeitige wertvolle Schenkung“ (Max Schmidt, 19.11.1928) zu 60 Mark gekauft. Da Heller als Fotografin von mindestens zwei Bildern, die sie verkaufte, identifiziert werden kann (vgl. die handschriftlichen Notizen auf den Addressseiten der Bildpostkarten mit den Ident.Nr. VIII E 5040 und VIII E 5050), muss sie einige Zeit in Peru verbracht haben. Sehr wahrscheinlich trug sie dort auch ihre Sammlung zusammen.

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Abbildung 109: Bildpostkarte „Chile, Escena de Campo No. 6538“, Verlag: Mattensohn & Grimm, Valparaíso, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1966/658,185.

Abbildung 110: Bildpostkarte „Hacia el mercado – Córdoba. Argentina“, Verlag unbekannt, Argentinien, nach 1905, ungelaufen, Sammlung von Hinnerk Onken.

Obwohl also costumbristische Motive auf der einen Seite fast universell genannt werden können und damit vielen Betrachterinnen und Betrachtern vermutlich sehr vertraut waren, waren auf der anderen Seite die südamerikanischen Versionen dieser Bilder Teil eines visuellen Kanons, der „typische“ Ansichten (egal welchen Landes) repräsentierte. Die modernen Medien der Fotografie und der Bildpostkarte demonstrierten die „gute alte Zeit“ und setzten traditionelle paisanos oder Landschaften in ein romantisches Licht. So stellten sie einen Kontrast zu den ebenfalls populären Repräsentationen von Modernität dar. Für viele Menschen barg der unaufhaltsam schei-

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nende Prozess der Modernisierung auch die Gefahr des Verlustes einzigartiger nationaler Charakteristika in einer globalisierten Welt. Zudem drohten die Errungenschaften der Zivilisation, wie im vorigen Kapitel erwähnt, zu „Degeneration“ zu führen. Bilder von traditionellen Menschen, fest verwurzelt in ihrer Heimaterde, die taten, was sie und ihre Vorfahren schon immer, seit Menschengedenken, getan hatten, wirkten dagegen sehr beruhigend und waren deshalb in der Alten wie in der Neuen Welt sehr verbreitet. Angesichts der staatlich geförderten Massenimmigration und des Kosmopolitismus in Buenos Aires beispielsweise, die in den Augen mancher das Argentinische in der nationalen Kultur zu ersticken drohten, bekräftigten costumbristische Motive und besonders die Bilder von Gauchos die argentinidad, die tradierte Identität einer starken, tapferen und maskulinen Nation und die Geschichte Argentiniens, das sein Territorium der Natur und wilden Indigenen abgerungen hatte. Gauchos verkörperten die Seele des Landes und den starken Charakter einheimischer argentinischer Männer. Paradoxerweise wurden die visuellen Medien, die Gauchos und damit die Essenz originaler ruraler argentinischer Männlichkeit abbildeten, von porteños und europäischen Einwanderern hergestellt.

Abbildung 111: Fotografie „Ochsenkarren in Santiago“, Fotograf unbekannt, vor 1926, aus Rehbein, Arthur: Vom Polarstrande zum Wüstenrande, Berlin: Peter J. Oestergaard, ²1930 [1927], vor S. 289.

Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang eine Bildpostkarte, die vermutlich Mitte der 1910er Jahre von Adolfo Conrads, einem deutschen Einwanderer, der in seiner Buch- und Musikalienhandlung in der Calle Estado No. 357 in Santiago auch Bildpostkarten, Papier- und Schreibwaren verkaufte, herausgegeben wurde (Abb. 112). Das „Costumbres chilenas, Gringo bailando la Cueca“ betitelte costumbristische Motiv ermöglichte visuell die Integration von europäischen und nordamerikanischen Einwanderern und Reisenden – „Gringos“ – in die chilenische Gesell-

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schaft: Die Betrachter konnten sich bzw. den Verwandten oder Freund, der ihnen die Karte geschickt hatte, mit dem „Gringo“ identifizieren. Dieser zeigte seine Integrationswilligkeit und -fähigkeit, indem er den (seit 1979 auch offiziellen) chilenischen Nationaltanz, die Cueca, tanzte. Ähnlich zeigten auch Bilder von matetrinkenden Deutschen die Anpassung an die (guten) Lebensgewohnheiten in der Neuen Welt (Abb. 113). Aber auch die Figur des Gauchos konnte eine ähnliche Integrationskraft haben, wie Alberto Gerchunoffs (1883-1950) Buch über jüdische Gauchos verdeutlicht: „Gerchunoff schrieb sein ‚Jüdische Gauchos‘ nicht für Juden, sondern für Argentinier, in spanischer Sprache. Er wollte das Leben der jüdischen Kolonisten bekannt machen und zeigen, dass diese zu Argentinien gehören.“49 Die Ausführungen zu den costumbristischen Motiven abschließend soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass der Blick auf diese Bilder eine weitere Dimension hat. (Wie in der Einleitung erwähnt, gibt es nicht nur eine und auch nicht eine korrekte Version, ein Bild zu interpretieren.) So könnten costumbristische und romantische Ansichten auch als Belege für die Disparität und Rückständigkeit des ländlichen Lebens herangezogen worden sein. Dann hätten Bilder etwa von Gauchos indirekt, quasi als „Kontrastfolie“, eher die urbane Modernität betonen und so beispielsweise zur Rechtfertigung zentralistischer, hauptstädtischer Hegemonie herangezogen werden können.50

Abbildung 112: Bildpostkarte „Costumbres chilenas, Gringo bailando la Cueca No. 535“, Verlag: Adolfo Conrads, Santiago, nach 1905, gelaufen (Briefmarke mit Poststempel entfernt), SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1965/598-103.

49 Töpferwein, Gerchunoff, Alberto: Jüdische Gauchos. Vgl. weiter Gerchunoff, Los gauchos judíos. 50 Zentralistische Ideen und Konzepte waren fundamental für die Staats- und Nationsbildungsprozesse vieler südamerikanischer Länder – gerade im Widerstreit mit dezentralistischen und regionalistischen Entwürfen.

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Abbildung 113: Fotografie „Rast beim Tee“, Fotograf unbekannt, 1893/95, aus Funke, Alfred: Aus Deutsch-Brasilien: Bilder aus dem Leben der Deutschen im Staate Rio Grande do Sul, Leipzig: Teubner, 1902, S. 177. Viele literarische Werke greifen das Thema des Genusses von Mate ebenfalls auf. Am eindrücklichsten wird es wohl beschrieben von Schreiber, Otto: Im Schatten des Calafate: Patagonisches, Allzupatagonisches (Männer der Wildnis), Berlin: Brunnen, 1928, S. 36-38.

BLICKE IN DIE VERGANGENHEIT II: „VERKOMMENE INDIOS“, KEINE „EDLEN WILDEN“ Auch die indigene Bevölkerung wurde auf gedruckten Fotografien sowie auf Bildpostkarten historisierend in den Blick genommen. Anders als in der postkolonialen Herangehensweise an Bilder von Indigenen, die sich auszeichnet durch die Suche nach Würde und agency, wurde zeitgenössisch das Bild des Indigenen als rückständig, degeneriert, „verlottert“ und faul, barbarisch und mitunter gefährlich gezeichnet – und Fotos und Bildpostkarten wurden von den Betrachtern entsprechend wahrgenommen. Der Aspekt der „verlotterten“, faulen, degenerierten und daher zum Untergang verurteilten Indigenen wird deutlich in einer Bildpostkarte, die unter Verwendung einer Fotografie eines nicht näher genannten Mitglieds der 1889 von Francisco Ayerza (1860-1901) gegründeten bonaerensischen Sociedad Fotográfica de Aficionados vor 1906 von Roberto Rosauer mit dem zunächst unverfänglichen Titel „Erinnerung aus der Republik Paraguay“ herausgegeben wurde. Das also vermutlich aus Paraguay

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stammende Motiv zeigt, so erläutert es auch der weniger unverfängliche Untertitel, eine Essensausgabe der Armee an von der „weißen“ „Moderne“ besiegte, unterworfene und abhängige Indigene (Abb. 114). Die Menschen waren nicht in der Lage für sich selbst zu sorgen.

Abbildung 114: Bildpostkarte „Recuerdo de la República del Paraguay. Reparto Víveres á los Indios“, Foto: S.F.A. de Afdos, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, vor 1906, gelaufen (Briefmarke mit Poststempel entfernt), zitiert nach der Website Portal Guaraní, http://www.port alguarani.com/detalles_museos_otras_obras.php?id=16&id_obras=1558&id_otras=243 [26.08. 2018]. Vgl. die Bildpostkarte außerdem in der Sammlung Stefano Cavazzuttis im Museo Ravennate di Scienze Naturali „Alfredo Brandolini“, digitalisiert http://www.miniereromagna.it/ Cavazzutti/index.htm [26.08.2018].

Diese Vorstellung, die das Motiv der Bildpostkarte von Rosauer den Betrachtern vermittelte bzw. vermitteln konnte, entsprach dem Bild, das in zahlreichen fiktionalen und non-fiktionalen Texten von Indigenen entworfen wurde.51 Bei Gunther Plüschow war etwa über die patagonischen „Kanalindianer“, einst stolze „Herren und Gebieter des ganzen ungeheuren Kanalgewirrs“, zu lesen, dass sie von der expandierenden Moderne zu zitternden und frierenden Bettlern gemacht wurden, die aufgrund der Verdrängung aus ihrem Lebensraum gezwungen waren, um „Hartbrot und Essensreste“ zu betteln.52 Auch in Otto Schreibers Im Schatten des Calafate (1928) kamen die Indigenen Patagoniens nicht gut weg:

51 S.o. etwa die Beschreibung „der Indios“ als eine „zum Tode verurteilte“ „Sklavenrasse“, verwahrlost, schmutzig und unmenschlich, „seit Jahrhunderten an Kokain und Alkohol gewöhnt“ und wie die Lamas und Alpacas, „Geschöpfe einer uralten Rasse, […] aber auch ein wenig rassig ohne Inhalt, […] ein wenig hochgezüchtet ohne Hirn“ von Edschmid, Glanz und Elend Süd-Amerikas, S. 210 u. 214. 52 Plüschow, Silberkondor über Feuerland, S. 240.

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„Übrigens darf sich der Leser unter südamerikanischen und besonders patagonischen Indianern beileibe keine adlerfedergeschmückten Idealisten vorstellen, sondern im Gegenteil Mißtrauen erweckende Zeitgenossen, die wie Felscheschokolade aussehen, nach gehacktem Fleisch und rohen Zwiebeln riechen und sich durch nichts auszeichnen als durch mangelhafte Hautpflege, Fertigkeit im Reiten, Trunksucht und vollendete Technik im edlen Sport des Messerstechens. Ärmlich, jedoch unsauber gekleidet, hocken sie vor ihren Zelten aus ungegerbtem Pferdeleder und trinken Mate. Sie riechen den Rauch ihres Feuers, hören den Wind durch die Steppe pfeifen und sehen die Sonne von Angesicht zu Angesicht. Womit im allgemeinen ihre Beschäftigungsmöglichkeiten erschöpft sind. Nur in besonders hartnäckigen Fällen, wenn der Hunger in ihren Eingeweiden bellt wie Nguru, der Pampafuchs, der unter dem Dornbusch wohnt, satteln sie einen ihrer mageren Klepper und jagen den Strauß und das Guanaco.“ 53

Nur der Reisende Richard Katz war um eine Relativierung dieser Eindrücke, deren auch er sich nicht in Gänze erwehren konnte, bemüht: Die Indigenen in den Anden etwa seien arm nur nach „europäischen“ Maßstäben und im kapitalistischen System; nicht jedoch nach den Maßstäben ihrer angestammten Lebensweise.54 Der Vergleich der Indigenen Südamerikas – in diesem Falle denen Patagoniens, in anderen Fällen denen der Anden, des Amazonas oder des Chaco – mit den Indigenen Nordamerikas findet sich häufiger und ist von einiger Bedeutung für die Vorstellung von Südamerika und den indigenen Bewohnern des Subkontinents, die durch den Vergleich mit den „edlen Rothäuten“ Nordamerikas noch weiter abgewertet wurden. Gegenstand des Vergleichs waren allerdings weniger Angehörige der zahlreichen, real existierenden heterogenen indigenen Gemeinschaften Nordamerikas. Vielmehr war es die Vorstellung von den Indigenen Nordamerikas, wie sie zahlreiche Romane des 19. und 20. Jahrhunderts von James Fenimore Cooper (1789-1851) über Charles Sealsfield (1793-1864), Friedrich Gerstäcker, Sophie Wörishöffer und Karl May bis Liselotte Welskopf-Henrich (1901-1979), Frederik Hetmann (19342006) und Nanata Mawatani (*1937) bevölkerten: fiktive Gestalten wie Winnetou, Tokeah, Unkas, Harka und Schwarzes Pferd oder Red Cloud, Sitting Bull und Crazy Horse, die wirklich gelebt haben.55 Susanne Zantop hat festgestellt, dass „Indianer“ den Deutschen manchmal näher waren als Juden oder „Zigeuner“.56 Der Historiker H. Glenn Penny sieht als Gründe für diese Affinität, die fast schon eine transkulturelle Identifikation genannt werden könnte, die Selbstwahrnehmung „der Deutschen“ als polizentristische, aus mehreren Stämmen (Sachsen, Preußen, Bajuwaren usw.) bestehende Gesellschaft; außerdem sähen sich „die Deutschen“ – wie „die Indianer “ – als freiheitsliebendes und widerständiges Volk, das sich schon den Römern erfolgreich im Kampf entgegenstellte. Die Identifikation mit dem verlorenen, aussichtslosen Kampf der „Indianer“ bediente dabei die melancholische Vorstellung eines geteilten Schicksals.

53 Schreiber, Im Schatten des Calafate, S. 97-98. 54 Vgl. Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, bes. S. 57-60. 55 Vgl. dazu auch die klassische, populär(wissenschaftlich)e Darstellung von Brown, Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses. Zur visuell vermittelten Vorstellung von nordamerikanischen Indigenen vgl. Coward, Indians Illustrated. 56 Vgl. Zantop, Kolonialphantasien, S. 28.

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„The widespread fascination with American Indians among Germans began with a triumvirate: Cornelius Tacitus, Alexander von Humboldt, and James Fenimore Cooper. When the Roman Senator Tacitus wrote Germania during the first century CE, he portrayed Germans as a noble tribal people with an existential connection to the forests and lands of Central Europe, who suffered at the hands of an expansive, colonial civilization. Indeed, he wrote about Germans much in the same way German authors would later write about American Indians, as noble savages and formidable, violent warriors with painted faces, living in forest dwellings, whose most honorable qualities exposed the decadence and failings of the civilized world.“ 57

Besonders deutlich wird der Gegensatz zwischen den „edlen Wilden“ in Nordamerika und den „zerlumpten“ Indigenen Südamerikas bei Karl May, der mit der Figur des Winnetou die Allegorie schlechthin des moralischen, des „guten Indianers“ schuf und so die populäre Vorstellung von „den Indianern“ prägte wie wohl kaum ein anderer – und sogar noch heute prägt. In Mays Südamerikaerzählungen kommen Indigene – in Übereinstimmung mit den nationalen Diskursen und der politischen Realität des 19. Jahrhunderts der Länder, in denen die Handlung spielt: Argentinien, Uruguay, Paraguay und Bolivien – zumindest als handelnde Personen relativ selten vor. 58 Um seinen Lesern klarzuma-

57 Penny, The German Love Affair with American Indians. Vgl. weiterhin Grewling, Blood Brothers? sowie ausführlich Penny, Kindred by Choice und zur andauernden Kontinuität dieses Phänomens z.B. Kalshoven, Crafting “The Indian”. 58 Die Nationsdiskurse konstruierten in den La-Plata-Staaten eine Gemeinschaft aus städtischen und großgrundbesitzenden Kreolen, Mestizen und weißen europäischen Einwanderern sowie ländlichen Gauchos als „traditionellem“ Element. Die indigene Leerstelle wird besonders deutlich in der Wüstenmetapher. Aber auch in anderen Ländern waren Indigene lange „unsichtbar“, vgl. für Peru z.B. Mücke, Die unsichtbaren Indios. Wie erwähnt holten unter anderem Wissenschaftler, Anthropologen und Ethnographen sowie Sozialreformer und in den Anden die Indigenisten Indigene ins nationale Bild. Vgl. aus der reichen Sekundärliteratur zum Indigenismus z.B. die in Kap. 1 in FN 107 erwähnten Arbeiten. Mit seiner Studie über Indigene als Akteure gewissermaßen einen Gegenentwurf zu diesen Analysen über die Anwaltschaft für Indigene liefert Flores Galindo, Buscando un Inca. Besonders eindrucksvoll ist, trotz einiger berechtigter Kritik, in diesem Zusammenhang auch das Bild der zwei Mexikos in der Arbeit von Bonfil Batalla, El México profundo. Der mexikanische Ethnologe und Anthropologe stellte die These auf, es gebe zwei Mexikos, ein México profundo und ein México imaginario. Er hob die in präkolumbische Zeit zurückreichenden Wurzeln der Kultur eines Teils der Bevölkerung hervor und kontrastierte sie mit der Kultur der imagined community der modernen mexikanischen Nation, deren staatlichen Indigenismus er kritisierte, da er den Indigenen Handlungsmacht abspreche und ethnisch-kulturelle Unterschiede verstärke. Die mestizische Gesellschaft müsse sich ihrer inhärenten indigenen Komponenten bewusst werden, sie würdigen, anstatt sie zu negieren. Ein so gearteter Indigenismus sei aber, so die Kritik der brasilianischen Anthropologin Alcita Rita Ramos, „an Americas-style, amplified form of Orientalism“ und präsentiere Indigene als Latour’sche quasi-Objekte, „a hybrid hatched in the nest of interethnic misunderstandings.“ Ramos, Cutting through State and Class, S. 275. Vgl. zu den Konzepten Orientalismus und quasiObjekt Said, Orientalism bzw. Latour, Wir sind nie modern gewesen, bes. S. 71-77. Der

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chen, dass die südamerikanischen Indigenen in der Regel keine „edlen Wilden“ waren, sprach May die Unterschiede explizit an: Die „Indianer“ machten „aber keineswegs den Eindruck […] wie etwa die Sioux, Apatschen und Komantschen. Sie sahen verkommen, unselbstständig und gedrückt aus.“ An anderen Stellen werden südamerikanische Indigene von May u.a. als unverschämte Diebe, als „affenartig“ und „dummdreist“, als zivilisationsfern, als „Mißgeburt“ sowie als „häßlich“ bezeichnet und entsprechend dargestellt. Indigene hätten „nichtssagende Gesichter“ und seien „kaum halb bekleidet“. Auch die Liebe zur Mutter sei bei diesen Menschen selten, das „Weib“ sei für die Arbeit da und weder als Frau noch Mutter geachtet. Eine „Indianerin“ wird beschrieben als „halb Weib, halb wilde Katze“. Aufgrund des „indianischen Blutes“ seien die Menschen unbeherrscht und der Ich-Erzähler und seine Gefährten müssen feststellen, dass sie sich „nicht unter vernünftigen Leuten“ befinden. Indigene seien „wie ein Kind“ von Wuchs und „Begriffsvermögen“. Ein Indigener, „keineswegs schöner als die übrigen Roten, auch nicht besser gekleidet“, fällt ihnen deshalb besonders auf, „weil er mehr Geist [hat], als man bei diesen Leuten zu finden gewohnt ist.“ Zu allem Überfluss seien Indigene auch noch überheblich und feige, wie in einem Gespräch zwischen dem weitgereisten, aus dem Deutschen Reich stammenden Vater Jaguar und seinem Gefolgsmann Geronimo in Das Vermächtnis des Inka deutlich wird. Geronimo sagt zu dem Deutschen: „Es tut dir leid um die roten Völker in den Vereinigten Staaten, die so elend umkommen müssen. Ja, es ist wirklich schade um die tapferen kühnen Männer, von denen du uns erzählt hast. Aber unsere südlichen Indianer besitzen diese Tugenden nicht. Sie sind feige, mutlos und niederträchtig. Sie brechen aus ihren Wäldern hervor, um nachts zu stehlen und die Schläfer zu ermorden. Finden sie aber Gegenwehr oder werden sie gar selbst angegriffen, so rennen sie davon wie geprügelte Hunde. Leute, die mit vergifteten Pfeilen schießen, kann man weder achten noch bemitleiden.“59

Hier wird durch May die allgemeine Vorstellung bestätigt (oder gar mitbegründet?), die nordamerikanischen Indigenen hätten sich wenigstens gewehrt und seien dabei auch noch fair und ehrenhaft vorgegangen, während die Indigenen Südamerikas vornehmlich Opfer gewesen seien – die es, wie gerade deutlich wurde, auch gar nicht anders verdient hatten. An anderen Stellen differenziert May allerdings auch zwi-

peruanische Politiker und Philosoph Manuel González Prada, ein später vom Positivisten zum Anarchisten gewandelter Indigenist, formulierte schon Ende der 1880er Jahre ein Konzept, das dem Bonfil Batallas sehr ähnlich ist: „No forman el verdadero Perú las agrupaciones de criollos i estranjeros que habitan la faja de tierra situada entre el Pacífico i los Andes; la nación está formada por las muchedumbres de indios diseminadas en la banda oriental de la cordillera.“ González Prada, Discurso en el Politeama, S. 67. 59 May, Das Vermächtnis des Inka, S. 154. Vgl. für die vorangegangenen Beschreibungen und Zitate ebd.; ders., Am Rio de la Plata, S. 206-208, 210, 317-318 u. 359 sowie ders., In den Kordilleren, S. 85 u. 106. Eventuell in Anlehnung an May schrieb auch Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, S. 32 über die „Indianer“ in Südamerika: „[D]as sind gar keine Rothäute, sondern Braunhäute und nicht so wie Sioux oder Apachen, sondern kleine Geschäftsleute oder Kellner oder Bauern.“

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schen verschiedenen Ethnien. Ähnlich wie es Old Shatterhand mit den Apachen Winnetous hält, während Kiowas, Sioux und Komantschen die Rollen der „Bösen“ zugeschrieben bekommen, werden auch die indigenen Gemeinschaften des Chaco, der, wie in den vorangegangen Kapiteln deutlich wurde, als „wildes Indianerland“ galt, in „gut“ und „böse“ unterteilt. In Das Vermächtnis des Inka werden die Camba60 als „die Guten“ und die Abipones als „die Bösen“ dargestellt; im zweiten Teil der Sendador-Erzählung, In den Kordilleren, sind es die Toba (die „an Gesittung über den anderen roten Völkern stehen“, „friedfertig und den Weißen freundlich gesinnt“ sind und die „der schönste Schlag der hiesigen Indianer“ sind), mit denen sich die Gruppe um Charley verbündet und gemeinsam gegen die „verkommenen“ Mocoví kämpft. 61 Alle diese indigenen Gruppen des Chaco gibt bzw. gab (im Fall der heute ausgestorbenen Abipones) es tatsächlich. Wie im ersten Kapitel deutlich wurde, bemühten sich zeitgenössisch zahlreiche Anthropologen und Ethnologen um ihre Erforschung. Während negative Darstellungen „primitiver“ südamerikanischer Indigener in der Literatur überwogen und auch in der Wissenschaft verbreitet waren, wie in Kapitel 1 gezeigt wurde, galt die Vorstellung vom „edlen Wilden“ dennoch auch für südamerikanische Indigene – nur eben sehr viel eingeschränkter, als für die autochthonen Bewohner der nördlichen Hälfte des Doppelkontinents.62 (Ähnlich ambivalent war auch die Wahrnehmung von Afrikanern, wie schon im Titel der Arbeit von Peter Martin deutlich wird: Schwarze Teufel, edle Mohren.) Das positive Bild des „edlen Wilden“, das vor allem vom Aufklärer Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) geprägt wurde, hat eine lange Tradition und war zeitgenössisch sehr geläufig. 63 Der Aspekt der Kulturkritik, die auf den angeblich von der Zivilisation unverdorbenen Naturmenschen verweist, spielt bei dieser Form der Wertschätzung, wie schon im vorangegangenen Kapitel deutlich wurde, eine Rolle. Aber auch die Achtung vor den präkolumbischen Hochkulturen, im südamerikanischen Fall der Inka, kam dabei, wie im Zusammenhang mit den Ausführungen zu Erland Nordenskiöld, Max Uhle,

60 Heute positiv gewendete Eigenbezeichnung der weißen und mestizischen bolivianischen Tieflandbevölkerung; zeitgenössisch hatte Camba laut Florian Quitzsch, Bolivien-Experte und Mitarbeiter bei Quetzal, dem Verein für Politik und Kultur in Lateinamerika in Leipzig, „eine negative Konnotation, welche die arme bzw. indigene Landbevölkerung im Tiefland bezeichnete.“ Quitzsch, Camba und Colla. Nach anderen Darstellungen, etwa der des US-amerikanischen Anthropologen Dwight B. Heath, der in den 1950er Jahren Feldforschung bei Camba im Grenzgebiet des Amazonasbeckens und des Chaco betrieb, handelt es sich um eine von Indigenen und spanischen Siedlern abstammende mestizische Bevölkerungsgruppe, deren Sprache eine Mischung aus lokalen indigenen Sprachen und andalusischem Spanisch des 17. Jahrhunderts war. Vgl. Heath, Camba: A Study of Land and Society in Eastern Bolivia. 61 Vgl. May, In den Kordilleren, Zitate S. 124 u. 151. 62 Diese wurden allerdings in nicht wenigen Fällen (wie etwa dem der Kiowa in Winnetou I) ebenfalls als falsch und – einmal abgesehen vielleicht von moralischen Aspekten – immer auch als den Weißen unterlegen markiert. 63 Vgl. z.B. den „Klassiker“ von Kohl, Entzauberter Blick sowie für einen knappen Überblick zur ambivalenten europäischen Wahrnehmung gegenüber Amerika und seinen Bewohnern z.B. Rinke, Kolumbus und der Tag von Guanahani, bes. S. 143-149.

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Arthur Posnansky und anderen Wissenschaftlern ebenfalls bereits erwähnt, zum Tragen. Auch Karl May vermittelte seinen Lesern die Größe (nicht nur hinsichtlich der territorialen Ausdehnung) des Inkareichs. In Das Vermächtnis des Inka etwa berichtet Haukaropora, der letzte Nachkomme der Inka, Anton, einem jungen Deutschen: „Du wunderst dich? Dann weißt du nichts von den Schätzen, die in den beiden Sonnentempeln zu Cuzco und Tschukitu, in den Tempeln von Huanakauri, Katscha, Vilikanota, und an den vielen anderen heiligen Orten, die Huakas genannt wurden, zu finden waren. Im Sonnentempel zu Cuzco gab es über viertausend Priester und Diener. Alle Türen hatten massive goldene Pfosten, die Fensteröffnungen waren mit Smaragden und anderen Edelsteinen ausgekleidet. Alle Wände waren mit Goldplatten getäfelt. Da standen die Bildsäulen der Götter und Göttinnen aus purem Gold und die der Inka aus reinem Silber. Es gab da unzählige Gefäße und Gerätschaften aus Edelmetall. Aus den fünf Quellen der umliegenden Berge führten goldene Röhren das Wasser in goldene oder silberne Becken, zum Trinken, zum Reinigen der Gefäße und zum Baden der Opfertiere. Soll ich dir noch mehr erzählen? Hast du eine Zahl, ein Maß für den Wert solcher Reichtümer?“64

Während diese Schilderung historisch nicht ganz korrekt, mindestens nicht gesichert ist und als literarische Freiheit zu begreifen ist, gab es neben den im ersten Kapitel geschilderten wissenschaftlichen auch politische Bestrebungen, den Deutschen Größe und Reichtum des Inkareichs zu demonstrieren. Neben zahlreichen Artefakten, die z.T. unter äußerst fragwürdigen Umständen nach Europa gelangten und in Völkerkundemuseen im ganzen Reich präsentiert wurden, förderte sogar der peruanische Staat entsprechende Unternehmungen. Schon 1907, vier Jahre vor der Wiederentdeckung Machu Picchus, ermöglichte er eine Ausstellung peruanischer Antiken in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. Die Popularität und die positive Wahrnehmung der Hochkultur der Inka färbte zumindest ein wenig auf die als Nachfahren der Inka wahrgenommene indigene Bevölkerung ab: In der limeñischen Hauptstadtpresse wurde daraus in einem Artikel in La Prensa „El triunfo del indio“. 65 Bei der Verfasserin handelte es sich um die deutschstämmige Dora Mayer (18681959). Mayer war 1873 als Kind mit ihrer Familie von Hamburg nach Peru gekommen und setzte sich dort seit der Jahrhundertwende zunächst publizistisch für die unterdrückte indigene Bevölkerungsmehrheit ein. 1909 gründete sie gemeinsam mit dem Ingenieur Joaquín Capelo (1852-1925) und dem Philosophen Pedro Zulen (1889-1925), ihrem Liebhaber (nach dem Tod Zulens nannte sie sich Dora Mayer de Zulen), in Lima die Asociación Pro-Indígena. Mayer war die Herausgeberin von El Deber Pro-Indígena, dem Organ der Gruppe. Später schrieb sie in der von José Carlos Mariátegui (1894-1930) herausgegebenen indigenistischen Zeitschrift Amauta, die Asociación Pro-Indígena war „ein Experiment der Befreiung der indigenen Rasse aus der Rückständigkeit und Sklaverei mittels eines ihr fremden schützenden Kör-

64 May, Das Vermächtnis des Inka, S. 413. 65 Mayer de Zulen, El triunfo del indio, S. 1.

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pers, der gratis und auf legalen Wegen versucht hat, ihr als Anwalt zu dienen bei ihren Protesten vor den Mächten des Staates.“66 Durch ihre Lobbyarbeit brachte die Organisation Übergriffe gegen die indigene Bevölkerung ans Licht und die cuestión indígena in das öffentliche Bewusstsein. „Die Öffentlichkeitsarbeit stellte im Großen und Ganzen den Mittelpunkt der Aktion der ProIndígena dar. Es war die Angst vor der öffentlichen Sanktion, verursacht durch die Öffentlichkeitsarbeit, die als Zügel diente für Missbrauch und die die Regierungs- und Justizfunktionäre dazu brachte, sich der Beschwerden anzunehmen, welche die Asociación im Namen derer, die sie verteidigte, vorbrachte; es war die Öffentlichkeitsarbeit, die den Zeitungslesern eine Vorstellung der Probleme gab, die sie zuvor nicht gekannt hatten […].“ 67

Während so in den Andenländern, allen voran in Peru, zumindest Grundlagen für eine positivere Wahrnehmung der indigenen Bevölkerung gelegt wurden,68 sah die Situation in anderen Ländern deutlich anders aus. Das gilt besonders für Länder, in denen Kriegszüge gegen Indigene, wie etwa die conquista del desierto in Argentinien oder die verbrämend pacificación genannte Eroberung Araukaniens südlich des Bío

66 „[...] un experimento de rescate de la atrasada y esclavizada Raza Indígena por medio de un cuerpo protector extraño a ella, que gratuitamente y por vías legales ha procurado servirle como abogado en sus reclamos ante los Poderes del Estado.“ Mayer de Zulen, Lo que ha significado la Pro-Indígena, S. 20, Übersetzung von Hinnerk Onken. Aufgrund dieses selbst formulierten Anspruchs ist die Charakterisierung als paternalistisch durch Günther Maihold gerechtfertigt, dient sie doch der Unterscheidung von anderen Ausprägungen des Indigenismus, etwa des empirischen von Hildebrando Castro Pozo (1890-1945). Vgl. Maihold, José Carlos Mariátegui: Nationales Projekt und Indio-Problem, Kap. 7 u. 8, S. 207321. Vgl. ausführlich zur Asociación Pro-Indígena Kapsoli, El pensamiento de la Asociación Pro-Indígena oder Arroyo Reyes, Nuestros años diez. Nachdem sich die Assoziation 1916 aufgelöst hatte, wurde 1919 das Comité Central ProDerecho Indígena Tahuantinsuyo gegründet. Auch hier waren Dora Mayer und Pedro Zulen führende Köpfe, gemeinsam z.B. mit Hildebrando Castro Pozo. Anders als die positivistisch-paternalistisch ausgerichtete Asociación Pro-Indígena stand das Komitee für einen andinen Mix aus Anarchismus und Indigenismus. Vgl. z.B. Leibner, La Protesta y la andinización del anarquismo; Arroyo Reyes, La experiencia del Comité Central Pro-Derecho Indígena Tahuantinsuyo oder Kapsoli Escudero, Ayllus del sol. 67 „La publicidad constituía en buena cuenta el eje de la acción de la Pro-Indígena. Era el temor a la sanción pública provocada por la publicidad el motivo que servía de freno a los abusivos y que inducía a los funcionarios gubernamentales y judiciales a ocuparse de las reclamaciones presentadas por la Asociación en nombre de sus defendidos; era la publicidad que daba a los lectores de periódicos una noción de los problemas relativos de que habían carecido por completo [...].“ Mayer de Zulen, Lo que ha significado la Pro-Indígena, S. 21, Übersetzung von Hinnerk Onken. 68 Der aus Cuzco stammende Historiker José Tamayo Herrera hat festgestellt, dass auch manch peruanischer Mestize Aspekte der indigenen Vergangenheit als Teil des eigenen und auch des gemeinsamen nationalen kulturellen Erbes betrachtete. Tamayo Herrera, Historia del indigenismo cuzqueño, bes. S. 140.

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Bío in Chile, noch nicht lange zurück lagen oder sogar, wie im argentinischen Chaco, aktuell waren. Auch im brasilianischen Amazonasgebiet gab es immer wieder und gibt es noch bewaffnete Konflikte zwischen Indigenen und Siedlern, Holzfällern, Goldsuchern und anderen. Die Darstellung der indigenen Bevölkerungen dieser Länder scheint diesen Konflikten Rechnung zu tragen und fällt entsprechend negativer aus. Das gilt für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert ebenso wie für die Bewertung im Hinblick auf die Vergangenheit. So urteilte der Geograf Fritz Regel in seinem Argentinien-Handbuch gar: „Argentinien kennt keine alte Kultur: die Spanier fanden indianische Jägervölker, die bis auf geringe Reste im Chaco und in Patagonien aufgerieben worden sind.“69 Für die einheimische Bevölkerung konnten daher anthropologische Ausstellungen eine Art Begegnung mit der indigenen Vergangenheit, „native“ und „alien“ zugleich, sein, wie Jens Andermann in seinen Ausführungen zur nationalen Anthropologischen Exposition 1882 in Brasilien in The Optic of the State feststellt.70 So wurde im Museum und auf Bildern schon früh die gängige und Identität stiftende Dichotomie aus Zivilisation und Barbarei (bzw. aus Weißen und Indigenen, bzw. aus Betrachtern und Objekten, aus aktivem und passivem Part) auch sichtbar und erfahrbar.71 Popularisiert wurde diese Dichotomie in Argentinien (und darüber hinaus) durch das 1845 zuerst erschienene Werk des späteren Präsidenten Faustino Domingo Sarmiento Zivilisation und Barbarei über das Leben Juan Facundo Quirogas (1788-1835). In dem Buch wird zwar vor allem der Caudillo Facundo (stellvertretend für die argentinische Politik) mit Barbarei identifiziert, jedoch traten neben Gauchos schon bald die in der Vorstellung zu einer Gruppe homogenisierten Indigenen an diese Stelle – auch im Denken Sarmientos, der in seinem bekanntesten Werk ein auf Geheiß des Diktators Juan Manuel Ortiz de Rosas (1793-1877) verübtes Massaker, bei dem in Buenos Aires mehrere Dutzend Indigene ermordet wurden, noch verurteilt hatte.72 Dass es bei der im Museum zu besichtigenden Dichoto-

69 Regel, Argentinien, S. 40. Zum Thema der aussterbenden Indigenen s. auch Kap. 1 und vgl. die wenn auch schon etwas ältere, so doch immer noch wunderbar zu lesende Studie über die ebenfalls in Kap. 1 mehrfach erwähnten Aché bzw. Guayaki von Clastres, Chronique des indiens Guayaki. 70 Vgl. Andermann, The Optic of the State, S. 8, auch 58-85. 71 Vgl. Andermann, The Optic of the State, S. 52. 72 Vgl. Sarmiento, Facundo: Civilización y barbarie. Eine deutsche Übersetzung liegt erst seit wenigen Jahren vor: Ders., Barbarei und Zivilisation. Besonders deutlich wird diese Haltung Sarmientos auch in einem sehr bekannten Zitat: „¿Lograremos exterminar los indios? Por los salvajes de América siento una invencible repugnancia sin poderlo remediar. Esa canalla no son más que unos indios asquerosos a quienes mandaría colgar ahora si reapareciesen. Lautaro y Caupolicán son unos indios piojosos, porque así son todos. Incapaces de progreso, su exterminio es providencial y útil, sublime y grande. Se los debe exterminar sin ni siquiera perdonar al pequeño, que tiene ya el odio instintivo al hombre civilizado.“ Vgl. Domingo Faustino Sarmiento in: El Progreso, 27.09.1844 und in El Nacional, 25.11.1876, zitiert nach https://es.wikiquote.org/wiki/Domingo_Faustino_Sarmie nto [26.08.2018]. Die Dichotomie von Zivilisation und Barbarei wirkt in Argentinien bis heute nach und fort, wie beispielsweise ein 2004 in der argentinischen Zeitung La Nación erschienener apologe-

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mie von Zivilisation und Barbarei letztlich um Leben und Tod ging, macht auch Jens Andermann deutlich, unter anderem anhand eines Adorno-Zitates: „Der Ausdruck ‚museal‘ hat im Deutschen eine unfreundliche Farbe. Er bezeichnet Gegenstände, zu denen sich der Betrachter nicht mehr lebendig verhält und die selber absterben.“ 73

Abbildung 115: Fotografie „Der Grundstein des neuen Missionshauses wird geweiht“ von Gustaf Bolinder, 1914/16, aus Bolinder, Gustaf: Die Indianer der tropischen Schneegebirge: Forschungen im nördlichsten Südamerika, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1925 [schwed. 1916], Tafeln 57, vor S. 169.

Im Zusammenhang mit dem historisierenden Blick auf untergehende, „verkommene“ Indigene ist also auch ein weiterer Aspekt der „indigenen Frage“ von Bedeutung, nämlich die Frage nach der „Zivilisierbarkeit“ oder „Zivilisationsfähigkeit“ der „Wilden“. Diese Frage beschäftigte, notgedrungen mitunter, einheimische Eliten, wie erwähnt, z.B. in Argentinien, in Peru und Bolivien oder in Brasilien. Sven Schuster etwa hat in seiner Habilitationsschrift über die Inszenierung Brasiliens auf den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts gezeigt, wie die brasilianischen Eliten die „Illusion eines sich rasant entwickelnden Schwellenlandes“ zu vermarkten suchten und im Zuge dessen „zivilisationsfähige“ Indigene zum präkolumbischen Kern der entstehenden Nation verklärten und „rückständige“ und „barbarische“ Indigene größtenteils ausblendeten. Offenbar pochten v.a. die europäischen Organisatoren der Ausstellungen auf die Präsenz von Indigenen. Die weißen brasilianischen Ausstellungs-

tischer Artikel des rechten Historikers José Juan Cresto, ehemaliger Direktor des Museo Histórico Nacional und Präsident der Academía Argentina de la Historia über die conquista del desierto und General Roca zeigt. Vgl. Cresto, Roca y el mito del genocidio. 73 Adorno, Valéry Proust Museum, S. 181. Vgl. Andermann, The Optic of the State, S. 11.

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macher hätten die Indigenen, die für das europäische Bild von Südamerika so zentral waren, eventuell lieber unsichtbar gelassen.74

Abbildung 116: Fotografie „Die Ijca-Knaben üben Schwedisches Turnen in der Missionsschule“ von Gustaf Bolinder, 1914/16, aus Bolinder, Gustaf: Die Indianer der tropischen Schneegebirge: Forschungen im nördlichsten Südamerika, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1925 [schwed. 1916], Tafeln 59, nach S. 184.

Auch deutsche Schriftsteller (und somit ihre Leser) beschäftigte das dichotomische Thema von Zivilisation und Barbarei. Das gilt etwa für Karl May, der sich offenbar mit Sarmiento, der als Figur des Präsidenten in Am Rio de la Plata am Rande und namentlich in Das Vermächtnis des Inka eine Rolle spielt, auseinandergesetzt hatte. Grundsätzlich erscheinen Indigene in den Südamerika-Erzählungen Mays als zivilisierbar. Die Segnungen der Zivilisation werden den Indigenen dabei gerne auch von Deutschen gebracht. Wie bereits im vorangegangenen Kapitel angeführt, war es ein Deutscher namens Alfred Herbst, genannt El viejo Desierto (der stark an eine Schmalspurausgabe von Klekih-petra, dem „weißen Vater“ der Apachen aus Winnetou I, erinnert), der in der Erzählung In den Kordilleren den Toba im Chaco, in tiefster Wildnis also, als Berater und Anführer zur Seite stand.75 El viejo Desierto war außerdem missionarisch tätig und übersetzte die Bibel in die Sprache der Toba. Damit

74 Vgl. Schuster, Die Inszenierung der Nation, bes. S. 111 u. 146, Zitat zuvor auf S. 396. 75 El viejo Desierto brachte den Toba auch militärische Techniken und Taktiken bei, mit welchen sie ihren Feinden, den Mocoví überlegen waren. Außerdem führte er sie in die Kunst der Herstellung von Wurst ein und spielte ihnen Walzer vor. Zudem zählt die effektivste Form der Folter zu den deutschen Errungenschaften, an denen die Toba teilhaben können. Vgl. May, In den Kordilleren, bes. S. 221-223 zur Folter, 290 zur Wurst und 291 zum Walzer. Vgl. weiterhin Niehaus, Foltern lassen: Zu einer Episode in Karl Mays „In den Cordilleren“.

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griff May ein Thema auf, das durch die Missionsfotografie auch visuell einige Verbreitung hatte. In Missions- und anderen einschlägigen Zeitschriften sowie auch in Form von Bildpostkarten erschienen z.T. von Missionaren selbst aufgenommene Bilder, die missionarische Arbeit und Erfolge sowie die zu Missionierenden und ihre bisherigen Lebensumstände zeigten. Mitunter griffen auch wissenschaftliche und Reiseberichte das Thema Mission in Wort und Bild auf (Abb. 115 und 116). Im historisierenden Blick ließen sich durch Bildproduzenten wie durch Betrachter auch diese Bilder leicht der Vergangenheit und der Gegenwart und Zukunft zuordnen. 76 Während neben May, der an vielen Stellen seiner Südamerika-Erzählungen ein positivistisches Bild der Indigenen des Subkontinents zeichnet,77 auch andere Schriftsteller wie z.B. Franz Donat die Zivilisationsfähigkeit von Indigenen betonen, gab es doch durchaus Stimmen, die dem kritisch gegenüberstanden. In Stallers Erzählung Zwei Deutsche im Urwald beispielsweise hieß es: „Kultur wird nicht in einem Menschenalter erworben.“78 Dieser Widerstreit wurde auch auf bildlicher Ebene vermittelt. Unter anderem griffen – im Unterschied zu (fast) allen anderen hier behandelten Bildmotiven – Indigene auch selbst als bildgestaltende Akteure in diesen Prozess ein.79 Zwar wurden Indigene, wie bereits die vorangegangenen Kapitel gezeigt haben, fotografisch als der, die oder das „Andere“, als wild, gefährlich und barbarisch, mitunter auch als exotisch und erotisch inszeniert, doch gibt es auch einige Aufnahmen von Indigenen, die diese z.B. in europäischer Kleidung zeigen. Im 19. Jahrhundert waren es in Argentinien v.a. die Kaziken genannten Anführer indigener Gruppen, die sich so in den Fotostudios in Buenos Aires oder anderen Städten porträtieren ließen, z.B. wenn sie in politischen Geschäften in der Hauptstadt waren. Europäische Kleidung zu tragen, kann dabei ebenso gut eine politische Strategie gewesen sein, um als Verhandlungspartner ernst genommen zu werden und/oder sich der Umgebung anzu-

76 Vgl. zum rege bearbeiteten Feld der Missionsfotografie z.B. García Jordán, Unas fotografías para dar a conocer al mundo la civilización de la República Guaraya; dies., „Yo soy libre y no indio: Soy guarayo“ sowie die Arbeiten von Flores Chávez/Azócar Avendaño, Tarjetas postales de los capuchinos; dies., Fotografía de capuchinos y anglicanos; Odone C./Purcell, El espacio de la Misión de San Rafael und Azócar Avendaño et al., La tarjeta postal fotográfica y la escuela misional en la Araucanía sowie unter zahlreichen Studien zur afrikanischen Missionsfotografie z.B. Krüger, Schrift und Bild oder mehrere der Beiträge in Albrecht et al. (Hg.), Getting Pictures Right. 77 Vgl. z.B. May, In den Kordilleren, S. 170-71 oder die Betonung der erzieherischen Aufgabe ebd., S. 288. Besonders deutlich wird diese Sicht in Das Vermächtnis des Inka. Haukaropora, ein Inka-Nachfahre hängt dem Traum einer Wiedergeburt des Inka-Reiches an. Aufgrund von Gesprächen mit dem Bankierssohn Anton Engelhardt, einem jungen Deutschen, entschließt sich der letzte Inka jedoch, seinen milenaristischen Traum aufzugeben und gemeinsam mit Anton nach Deutschland zu gehen und eine moderne wissenschaftliche Ausbildung aufzunehmen. Vgl. zur positivistischen Idee, dass Indigene durch Erziehung zivilisiert werden können, neben den erwähnten Arbeiten zum Indigenismus zuletzt auch Spieker, Die Entstehung des modernen Erziehungsdenkens. 78 Staller, Zwei Deutsche im Urwald, S. 74. 79 Vgl. zur begrenzten Handlungsmacht von Indigenen im Zuge anthropologischer Typenaufnahmen im Studio auch Reinert, Das Antlitz der Anderen, bes. S. 239-241.

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passen, wie es für manche Indigene, die zumindest bis zu einem gewissen Grad in die kreolische Mehrheitsgesellschaft integriert waren, alltäglich gewesen sein mag. Jedenfalls widersprach das Anlegen eines zwei- oder mehrteiligen Anzugs, eines gestärkten Hemdes und einer Krawatte dem Eindruck, beim Träger handele es sich um einen „primitiven Wilden“. In anderen Fällen wurden Porträtaufnahmen von Kaziken daher durch den Fotografen manipuliert, um den Sehgewohnheiten des städtischen Publikums zu genügen. Schließlich handelte es sich bei diesem um potenzielle Kunden, die sicherlich mehr Bilder abnahmen, als der Porträtierte. Und die Kunden erwarteten Bilder, die ihren Vorstellungen von Indigenen entsprachen. So inszenierte beispielsweise der italienische Fotograf Benito Panunzi (1819-1894) in den 1860er Jahren einen Kaziken der Aonikenk (Tehuelche), Casimiro Biguá (1819/20-1874), und dessen ältesten Sohn Sam Slick (1851-1874) antikisierend als exotische Fremde, als diese als freie Männer nach Buenos Aires gekommen waren, um die Sache der Ihren zu vertreten.80 Trefflich könnte allerdings in diesem wie in anderen Fällen darüber gestritten werden, ob das Publikum mit seinem Wunsch nach solchen Bildern das Angebot des Fotografen prägte, oder ob der Fotograf mit seinem exotisierenden fotografischen Angebot, das nur wenig Konkurrenz hatte, die Nachfrage bestimmte. Als 1884 in El Tigre inhaftierte Tehuelche fotografiert wurden, verweigerten sich mehrere Personen der Inszenierung als „primitive“ und „barbarische Wilde“, darunter der Kazike Modesto Inakayal (1833-1888): Sie trugen ausschließlich europäische Kleidung oder eine Mischung aus „traditionellen“ Umhängen und europäischen Kleidungsstücken. Inakayal war einer der letzten Anführer, die sich der argentinischen Armee im Zuge der conquista del desierto ergaben. Mit etwa 3.000 Kriegern hatte er bis zuletzt Widerstand gegen die Eroberung geleistet. 1884 stellte er sich im Fort von Junín de los Andes und wurde gemeinsam mit Angehörigen nach El Tigre überführt. Nach anderthalbjähriger Haft wurden die Indigenen von Francisco Pascasio Moreno „gerettet“ und gezwungen, als lebende Ausstellungsobjekte im von Moreno geleiteten Museo de Ciencias Naturales de La Plata zu leben und dort quasi als lebende Fossilien die Nähe der Patagonier zum prähistorischen Menschen zu demonstrieren. Moreno hatte Inakayal und seine Gruppe bereits 1880 auf einer Forschungsexpedition besucht und fühlte sich dem Kaziken offenbar verpflichtet. Als Inakayal 1888 im Museum starb, wurden seine Überreste dort fast triumphierend zur Schau gestellt.81

80 „Pero si observamos atentamente las fotos, se advierte que el cacique y su hijo se hallan en identica posicion frente a la camara, con sus pieles dispuestas a modo de tunicas antiguas, lo que da por resultado elaboradas composiciones de taller que combinan sabiamente la intencion realista y el uso de convenciones visuales[.]“ Penhos, Frente y perfil, S. 39. Vgl. das Motiv „Argentina – Cacique Casimiro Biguá y su hijo“ (1864), auf der Website Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Argentina_-_Cacique_Ca simiro_Bigu%C3%A1_y_su_hijo.jpg [26.08.2018] sowie bei Mondelo, Tehuelches: Danza con fotos. 81 Vgl. Andermann, The Optic of the State, S. 55 sowie Luz Endere, Cacique Inakayal und zum Foto Reinert, Das Antlitz der Anderen, S. 240-241.

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Abbildung 117: Fotografie „Chanéindianer. Rio Itiyuro“ von Erland Nordenskiöld, 1908/09, aus Nordenskiöld, Erland: Indianerleben: El Gran Chaco (Südamerika), übers. v. Carl Auerbach, Leipzig: Albert Bonnier, 1912 [schwed. 1910: Indianlif i el Gran Chaco (Syd-Amerika)], Abb. 75, S. 150. Vgl. auch die Bildpostkarte „Indio Caduveo (Mbayá), ‚Uililli‘, Rio Nabiléque“, Nr. 10 der Kollektion Boggiani, hg. v. Robert Lehmann-Nitsche, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, 1904, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E 1431.

Weitere Bilder von Indigenen in europäischer Kleidung stammen beispielsweise vom bereits mehrfach erwähnten Martín Chambi, der, selbst indigener Abstammung, ab den späten 1910er und frühen 1920er Jahren in Cuzco und anderen Gegenden Südperus einfache Menschen, oft Indigene, in würdevoller Weise, d.h. auf gängige Inszenierungen verzichtend, porträtierte. Diese indigenistischen Fotografien Chambis (und anderer Fotografen) waren den Menschen im Deutschen Reich allerdings, im Gegen-

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satz etwa zu Chambis Aufnahmen von Machu Picchu, vermutlich unbekannt – Reisende und Autoren illustrierten ihre Berichte vermutlich eher mit „typischen“ Bildern von fremden und exotischen Indigenen. Neben den erwähnten Fotos und Bildpostkarten aus Argentinien stellt somit eine mit „Chanéindianer“ unterschriebene fotografische Abbildung in Erland Nordenskiölds Indianerleben sehr wahrscheinlich eher eine Ausnahme bei der visuellen (Re-)Präsentation von Indigenen dar (Abb. 117). Indigene in europäischer Kleidung mögen von europäischen (und weißen südamerikanischen) Betrachtern sogar als bedrohlich empfunden worden sein, denn das unterlief das othering und verwischte die vermeintlich eindeutigen Grenzen von Natur und Kultur, von Barbarei und Zivilisation.

Abbildung 118: Bildpostkarte „Indios Churupies – San Pedro - Jujuy“, Verlag unbekannt, Argentinien, nach 1905, gelaufen (Poststempel unleserlich), Sammlung von Daniel Cisilino. Vgl. auch die Bildpostkarten „Indio Caduveo (Mbayá), ‚Capitancinho‘, Rio Nabiléque“, Nr. 14 u. 15 der Kollektion Boggiani, hg. v. Robert Lehmann-Nitsche, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, 1904, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E 1435 und VIII E 1436.

Neben der Möglichkeit, sich nicht fotografieren zu lassen (solches passierte, wie in Kapitel 1 geschildert, Hans Schmidt, der Indigene für fotografische Aufnahmen nicht bezahlen wollte und deshalb nur Fotos von Indigenen mit dem Rücken zur Kamera machen konnte, s.o. Abb. 12) oder der Möglichkeit, Typenaufnahmen zu verweigern, weil sie der Methode Bertillons ähnlich die Fotografierten als Kriminelle markierten,82 stellt die hier geschilderte Praxis, sich in „untypischer“ Kleidung fotografieren zu lassen, eine weitere und vielleicht die effektivste Form von agency dar. Verbreitet

82 Vgl. Reinert, Das Antlitz der Anderen, bes. S. 240.

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waren dabei auch Aufnahmen von Indigenen in Uniformen des Militärs. Im 19. Jahrhundert war es etwa in Argentinien üblich, mit der Regierung „befreundete“ Gruppen zu versorgen. Dem Staat wohlgesonnene und sich „wohl“ verhaltende Kaziken wurden mit militärischen Rängen belohnt und erhielten von staatlichen Institutionen wie der Armee v.a. aus Schnaps, Zucker, Tüchern und Uniformen bestehende Rationen, die sie unter den Angehörigen ihrer Gruppe verteilen konnten. Solchermaßen „zivilisierte“ Indigene und besonders hochgestellte Persönlichkeiten sind auf Fotografien häufig in Uniform zu sehen (Abb. 118). Diese Aufnahmen von Indigenen als Angehörige des Militärs stehen in direktem Gegensatz beispielsweise zur Aufnahme von Indigenen als Empfänger von Almosen durch das Militär (s.o. Abb. 114) oder solchen, die im Folgenden behandelt werden und Indigene als gefährlich und als militärischen Gegner präsentieren.

Abbildung 119: Bildpostkarte „Indios Tehuelches, celebrando el 25 de Mayo en Rio Gallegos/Santa Cruz, Rep. Argentina“, Foto: Charles Lane, 1899, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, nach 1905, ungelaufen, aus der Sammlung von Daniel Cisilino.

Ein letztes Beispiel für diese Form der visuellen Integration oder beginnenden Assimilation ist ein Foto von Charles Lane, das spätestens ab den 1910er Jahren als Postkarte relativ weite Verbreitung fand. Es zeigt Tehuelche, die 1899 im argentinischen Río Gallegos, einem kleinen Weiler, der aber Hauptort des patagonischen Territorio Nacional de Santa Cruz war, gemeinsam mit lokalen staatlichen Würdenträgern, darunter der gobernador von Santa Cruz, Matías Mackinlay Zapiola, den 25. Mai, den Feiertag zur Erinnerung an die Konstituierung des primer gobierno patrio (die erste vaterländische Regierung) und die Erklärung der Unabhängigkeit von Spanien am Ende der Mai-Revolution 1810, begingen (Abb. 119).83 Die vermeintliche oder tat-

83 Vgl. zum der Bildpostkarte zugrunde liegenden Foto und weiteren Mondelo, Tehuelches: Danza con fotos sowie die Facebook-Seite des Archivo General de la Nación Argentina, https://www.facebook.com/ArchivoGeneraldelaNacionArgentina/photos/a.1419237924995 12.21231.138633046161920/599613073397246/?type=3&permPage=1 [26.08.2018]. Das Foto befindet sich im Archivo General de la Nación Argentina, Departamento de Documentos Fotográficos, Inv.-Nr. 303105. Vgl. ein weiteres, sehr wahrscheinlich falsch datier-

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sächliche, freiwillige oder erzwungene Integrationsbereitschaft der unterworfenen Indigenen wurde besonders dadurch betont, dass sie sich um die sich im Zentrum befindliche Flagge als Nationalsymbol versammelten und mit ihr fotografieren ließen. Die Symbolik dieser und anderer Bilder sollte zwar nicht unterschätzt werden, steuerten sie doch einen weiteren Aspekt zum ambivalenten Gesamtbild Südamerikas und seiner Bewohner bei, jedoch überwogen v.a. visuell, weniger auf der textlichen Ebene, Bilder von fremden Indigenen, deren Integration in moderne staatliche Strukturen und deren Anpassung an kulturelle Moderne unwahrscheinlich oder sogar unmöglich schien. Wie bereits die Ausführungen zu erotischen und sexuellen Sehnsüchten im letzten Kapitel gezeigt haben, betrafen visuelle und gedankliche Hybridisierungen 84 weiblicher wie männlicher Indigener eher eine persönlich-intime Ebene als große Strukturen wie Staat und Gesellschaft. Es wurde deutlich, dass othering gleichzeitiges Begehren nicht ausschloss, sondern vielmehr befördern konnte. „Wilde“ konnten nicht nur edel, sondern, da sie für Sexualität standen, auch begehrenswert und sogar „schön“ sein. Das galt für die Angehörigen vieler südamerikanischer Ethnien. Der britische Marineoffizier und Reisende George Chaworth Musters, der 1869 einige Zeit mit Tehuelche lebte, etwa beschrieb sogar die Schönheit der sonst in Museen und auf Völkerschauen als „lebende Fossilien“ und „Urmenschen“ ausgestellten patagonischen Tehuelche – der Frauen wie der Männer.85 Mehr als ein halbes Jahrhundert später beschrieb Franz Donat ein „Indianermädchen“ vom Pilcomayo, das zu schön für die eigentlich als „Halbaffen“ wahrgenommenen Indigenen war. Das galt sogar für ihre „Seele, die eines weißen Mädchens würdig“ war.86 Ebenfalls im Chaco lebt Unica, die fiktive Anführerin der Toba, die „sich mit ihrer Schönheit mit jeder weißen Señorita [hätte] messen können.“87 Unica wird vom Ich-Erzähler und seinen Gefährten zunächst für eine Indigene gehalten, insbesondere auch wegen ihres Hasses auf alle Weißen, tatsächlich aber ist sie eine Mestizin: Ihre Mutter, die Tochter des Königs der Toba, liebte und heiratete einen Weißen,88 Unicas Vater, der die Toba dann aber bestahl, fortging und später dafür ermordet wurde. Die Mestizin bzw. der Mestize sind dabei im Wortsinn die Verkörperung des Hybriden.89 Ein „Sinken“ des (männlichen, weniger der weiblichen) Weißen in der dauernden sexuellen und Liebesbeziehung mit einer (weniger einem) Indi-

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tes Motiv „Integrantes del pueblo tehuelche festejando el 25 de mayo en 1889 en Río Gallegos, enarbolando la bandera argentina,“ auf der Website Wikimedia Commons, https:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Tehuelches_festejando_d%C3%ADa_patrio_1889.JPG [26.08.2018]. Vgl. zur Kategorie des Hybriden Bhabha, The Location of Culture und Young, Colonial Desire. Vgl. Musters, Unter den Patagoniern. Donat, An Lagerfeuern deutscher Vagabunden, S. 52-53, Zitat auf S. 54. May, In den Kordilleren, S. 155. Vgl. dazu auch die Aufsätze zur Möglichkeit romantischer, „wahrer“ Liebe bei Nichteuropäern von Goody, Love and Religion, der betont, die romantische Liebe sei kein exklusives europäisches Phänomen, sowie dagegen Reddy, The Rule of Love. Vgl. dazu auch Kien Nghi Ha, Unrein und vermischt.

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genen, ähnlich dem „Verkaffern“ oder „Verkanakern“ deutscher Kolonisatoren in Afrika oder in der Südsee scheint dabei nicht oder zumindest weniger als Problem wahrgenommen worden zu sein.90 Aber auch Indigene konnten, wie erwähnt, Hybride darstellen, weil sie fremd (es handelte sich eben um Indigene) und vertraut (weil schön) zugleich sein konnten. Manche Forscher beurteilten ihre Studienobjekte, wie erwähnt, nach ästhetischen Kriterien. Dabei verweisen „Urteile über die vorhandene oder mangelnde ‚Schönheit‘ bestimmter Typen und Attribute wie ‚edel‘, ‚wild‘, ‚fein‘ oder ‚grob‘ […] allerdings auf ein Referenzsystem, das für den klassisch gebildeten Wissenschaftler durchaus universelle Gültigkeit [… haben] und damit als objektiv gelten konnte.“91

Paul Ehrenreich führte als ein Argument für seine Kritik an der Methode der Typenfotografie an, dass einige seiner Kollegen „nur die hässlichsten Typen [reproducierten], um beim europäischen Publikum damit Effekt zu machen.“92 Unter den im ersten Kapitel behandelten Forschern waren es insbesondere Erland Nordenskiöld, aber auch Koch-Grünberg, die betonten, dass Indigene durchaus „schön“ sein können. Das konnten die Betrachter mancher Fotografien und Bildpostkarten, etwa aus der Kollektion Boggiani, auch sehen. Die Vorstellung von schönen Indigenen hat darüber hinaus eine Entsprechung in der positivistischen Idee, dass Indigene v.a. durch Erziehung zivilisiert werden könnten. Im Kulturkontakt – und wenn er nur aus der Betrachtung einer Fotografie oder dem Lesen einer Reiseerzählung bestand – konnten sich also die Dichotomien zwischen europäischen Betrachtern/Lesern/Forschern/Reisenden/Unternehmern und indigenen Forschungsobjekten/Sehenswürdigkeiten/Angestellten aufheben. Die Wahrnehmung von Indigenen durch Europäer und damit auch die europäischen Betrachter selbst veränderten sich; die gedachte Grenze zwischen Kultur und Natur, zwischen Zivilisation und Barbarei verwischte. Diese Hybridisierung wird auch in der medialen Repräsentation sichtbar, die deshalb nicht einseitig zu untersuchen ist, weil so eine ganze Bedeutungsebene ausgeblendet würde. Hybride sind auch schon das Foto und die Bildpostkarte selbst. Es sind per se gegenwärtige, objektive bzw. objektivierende und moderne Medien, die aber Vergangenes konservieren, subjektive Empfindungen wecken und „erfundene Traditionen“ bzw. „genuine fakes“ vermitteln konnten.93

90 Vgl. Axster, Vom Sinken; ders., Die Angst vor dem Verkaffern und ausführlich ders., Die Angst vor dem Verkaffern (Magisterarbeit) sowie knapp auch Onken, „Wir sind Deutsche, wir sind Weiße und wir wollen Weiße bleiben!“ 91 Hempel, Facetten der Fremdheit, S. 200. Eine Referenz waren griechische Statuen, insbesondere der Apoll von Belvedere als Repräsentation des europäischen oder kaukasischen Typs. Vgl. z.B. Dietz, Phrenologie des Fremden. 92 Ehrenreich, Ueber die Botocudos, S. 14. 93 Vgl. Hobsbawm/Ranger, The Invention of Tradition und Brown, Genuine Fakes. S. auch Kap. 1.

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Abbildung 120: Fotografie „Wo Urwald und Kultur sich begegnen. Ein Kampa-Indianer belauscht das Grammophon“ von George Miller Dyott, um 1920, aus Nordenskjöld, Otto: Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit. Natur/Mensch/Wirtschaft, übers. v. Ignaz Schlosser, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1927 [schwed. 1923: Människor och Natur i Sydamerika], Abb. 55, vor S. 145.

Mochten die Zivilisationsbestrebungen gegenüber Indigenen nun mindestens theoretisch erfolgreich sein können oder nicht, klar war, dass die Indigenen in ihrer „traditionellen“, „natürlichen“, „primitiven“ Lebensweise zum Aussterben verurteilt waren. Lediglich durch Assimilation vermochten sie die totale Niederlage im survival of the fittest abzuwenden. Besonders deutlich wird der Kontrast von vermeintlich rückständigen und dem Untergang geweihten Indigenen und der modernen Nation in Bildern, auf denen Gegenwart/Zukunft und Vergangenheit kollidieren. Einen solchen „clash“ (verstanden als ein Aufeinanderprallen, nicht als ein Kampf im Sinne Samuel Huntingtons) der Kulturen zeigen z.B. George Miller Dyotts Foto „Wo Urwald und Kultur sich begegnen. Ein Kampa-Indianer belauscht das Grammophon“ (Abb. 120) in Otto Nordenskjölds Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit oder eine Bildpostkarte aus der Sammlung Daniel Cisilinos, die zur Hundertjahrfeier der argentinischen Unabhängigkeit erschien (Abb. 121). Sie zeigt im Vordergrund einen nur mit einem Lendenschurz bekleideten und mit einer Lanze bewaffneten Indigenen, im Hintergrund einen herannahenden Zug. Hier wird der Indigene förmlich vom Fortschritt überrollt.

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Abbildung 121: und Bildpostkarte „Centenario de la República Argentina. Exposición Internacional de Ferrocarriles y Transportes Terrestres. Buenos Aires Mayo à Noviembre 1910“, Verlag unbekannt, Argentinien, um 1910, Sammlung von Daniel M. Cisilino, Dublin/Buenos Aires.

BLICKE IN DIE VERGANGENHEIT III: GEFÄHRLICHE INDIGENE Neben der (bzw. ergänzend zur) Darstellung als rückständig, „verlottert“, faul und barbarisch wurden Indigene in visuellen Medien häufig auch als „gefährlich“ präsentiert. Das trifft v.a. auf Indigene in frontier-Regionen, besonders im Amazonasgebiet und im bereits oft erwähnten wilden und gefährlichen „Indianerland“ des Chaco sowie (zeitlich früher) in der Pampa und in Patagonien im Süden Argentiniens und Chiles, zu.94 Dieses Bild des gewalt- und kampfbereit voll Hinterlist am Rande der Zivi-

94 Vgl. zur Geschichte der frontier im Süden Argentiniens z.B. knapp Riekenberg, Kleine Geschichte Argentiniens, bes. S. 47-55; für Literatur zum Chaco als frontier s. Kap. 1, FN 51 und zum Amazonas als frontier vgl. Serna Salcedo, Visiones del progreso, otredad y fron-

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lisation lauernden „Wilden“ diente insbesondere auch einheimischen Eliten zur Rechtfertigung repressiven, aggressiven, gewaltsamen oder sogar kriegerischen Vorgehens gegen die indigene Bevölkerung. Bezeichnend ist das Bild eines tribu en armas, eines bewaffneten Stammes, aus dem argentinischen Chaco (Abb. 122). Eingedenk der zeitgenössisch breit diskutierten Umstände des Todes von Boggiani (und anderer Forscher) wirkten die Waffen vermutlich bedrohlicher, als es heutigen Betrachtern – vor allem wegen der zahlreichen Kinder auf dem Bild – auf den ersten Blick scheinen mag. Die argentinische Historikerin Mariana Giordano stellte diesbezüglich fest, dass die Kinder und Jugendlichen auf dem um die Jahrhundertwende von Theo Fumière aufgenommenen Bild dazu gebracht wurden, mit Lanzen und Pfeil und Bogen zu posieren.95 Das Foto zirkulierte schon früh auch als Bildpostkarte und war als solche offenbar recht populär, das heißt, sie verkaufte sich vermutlich ganz gut. Die abgebildete Version wurde vor 1906 von Rosauer herausgegeben, um 1915 erschien eine kolorierte Version im Verlag von Zaverio Fumagalli (Nr. 687), ebenfalls in Buenos Aires. Noch bemerkenswerter ist der Fall einer gleichfalls bei Fumagalli erschienenen Bildpostkarte mit dem Titel „República Argentina – Tribu en armas“ (Abb. 123). Auf der vermutlich ebenfalls um 1915 erschienenen und kolorierten Karte, die aus derselben Serie stammt (Nr. 688), ist eine Gruppe Indigener, darunter wiederum zahlreiche Kinder und Frauen, zu sehen – gänzlich unbewaffnet.

Abbildung 122: Bildpostkarte „Tribu en Armas. Indios del Chaco Austral, Rep. Argentina“, Fotografie: Theo Fumière, um 1900, Verlag: Roberto Rosauer, Buenos Aires, vor 1906, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E Nls 232.

teras internas; García Jordán (Hg.), Fronteras, colonización y mano de obra indígena oder Paredes Pando, De las comunidades fronterizas a la cuenca del Pacífico. 95 Vgl. Giordano, Memoria de una alteridad periférica, S. 300-301.

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Abbildung 123: Bildpostkarte „República Argentina – Tribu en armas“, Verlag: Zaverio Fumagalli, Buenos Aires, nach 1905, ungelaufen, Sammlung von Hinnerk Onken.

Dass Bilder von „gefährlichen“ Indigenen gestellt wurden, wenn die zu fotografierenden Indigenen nicht gefährlich genug aussahen, war eine bereits seit Langem gängige Methode, wie Kathrin Reinert im Anschluss an die argentinische Kunsthistorikerin Marta Penhos und an Carlos Masotta feststellt: „Eine entsprechende Inszenierung war beispielsweise 1878 im Falle von Pincén erfolgt. Der cacique kam als Gefangener der Bundesarmee in das Fotostudio, wo er in verschiedenen Posen, teilweise gemeinsam mit Familienangehörigen, von Antonio Pozzo abgelichtet wurde. Der Wissenschaftler Francisco P. Moreno, der sich mit Pincén in dessen Muttersprache unterhalten konnte, bat ihn, sich für eines der Motive vor der Kamera so zu verhalten, als sei er auf der Jagd. Pincén entledigte sich daraufhin teilweise seiner Bekleidung und Stiefel und nahm eine kraftvolle Körperhaltung ein. Die Quelle berichtet weiter, dass er freudig ein Ausstellungsstück aus dem Museum angenommen hatte, das Moreno ihm aus dem Hintergrund anreichte: ‚Sie holten ihm eine Lanze und, ihrer ansichtig, begannen seine Augen zu blitzen und seine Nasenflügel weiteten sich.‘ So ausgestattet, wurde er vor einer Studioszenerie abgelichtet, deren künstliche Felsen und Horizontlinie eine wilde, leere Landschaft suggerieren sollten. […] Die Quelle beschreibt auch seine Reaktion auf die ihm gereichte Waffe. Laut der Überlieferung habe er seine Zustimmung körperlich affektiv, wie ein Tier, statt in einem zivilisierten Akt menschlicher Kommunikation geäußert.“96

96 Reinert, Das Antlitz der Anderen, S. 242-243. Vgl. das Bild, in dem Fall in Form einer Bildpostkarte, ebd., S. 243 sowie Penhos, Frente y perfil, bes. S. 40 und Masotta, El atlas invisible, bes. S. 5-6. Zitat zur Lanze ebd., S. 6, nach Galíndez, Notas a La Conquista del Desierto, S. 59.

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Wenigstens die Menschen in Buenos Aires wussten allerdings, dass Pincén ein Gefangener war und als solcher nicht oder nur bedingt freiwillig fotografiert wurde, denn die Bevölkerung der Stadt sah die Gefangenentransporte. So sieht Pincén, der Kazike der Ranquel, zwar „wild und gefährlich aus, aber alle wissen, dass er es nicht mehr ist.“97 Die Wildheit und Gefährlichkeit von Indigenen vermittelte den Betrachtern auch eine Bildpostkarte aus Peru, die eine Gruppe Amazonasindigener, darunter Kinder, eine Familie vielleicht, zeigt (Abb. 124). Vor der Kamera scheinen die Personen, vermutlich handelte es sich um Cashibos (Autonym: Uni), eher schüchtern zu agieren. Die kolorierte und retuschierte Karte basiert auf einem 1888 aufgenommenen Foto des deutschen Fotografen und Amazonasforschers Charles Kroehle. 98 Die Indigenen auf dem ursprünglich ethnografisch intendierten Bild werden in der Unterschrift auf der vom deutsch-limeñischen Verleger Eduardo Polack herausgegebenen Bildpostkarte, wie schon im Zusammenhang mit dem Original-Foto, als indios antropófagos, als menschenfressende „Indios“ bezeichnet und bestätigen so ein seit den frühesten Berichten aus der Neuen Welt bestehendes Bild, das unter anderem schon von Amerigo Vespucci und in Hans Stadens oben erwähnter Wahrhaftiger Historia oder bei Schmidel und in den Stichen Theodor de Brys verbreitet wurde.99 Diese Berichte folgten einer langen Tradition im Umgang mit fremden Völkern und Kulturen.

97 „Pincén se ve salvaje y peligroso pero todos saben que ya no lo es.“ Penhos, Frente y perfil, S. 40, Übersetzung von Hinnerk Onken. Masotta erwähnt, dass gefangene Indigene mitunter gar zu Sympathieträgern wurden. Dies galt wohl auch für Pincén. Vgl. Masotta, El atlas invisible, S. 5. 98 Vgl. Kohl, Land und Leute in Ost-Peru, S. 85. 99 Vgl. die Hans Stadens Bericht illustrierenden Stiche von de Bry z.B. in Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Cannibals.23232.jpg [26.08.2018] sowie https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hans_Staden,_Tupinamba_portrayed_in_canniba listic_feast.jpg [26.08.2018]. Gerhard Paul oder Horst Bredekamp haben oft darauf verwiesen, dass „moderne“ Bildmedien in einem visuellen Zusammenhang mit älteren Darstellungen stehen und teils bewusst, oft unbewusst, auf diese Bezug nehmen. Vgl. z.B. Bredekamp, Theorie des Bildakts sowie Jäger, Globalisierte Bilder, . Berichte über Kannibalen in Amerika gab es schon 1503 in der ersten Ausgabe von Amerigo Vespuccis Mundus Novus. In späteren Ausgaben des weit verbreiteten Werkes wurde das Phänomen dann noch stärker betont. Vgl. neben den in der Einleitung in FN 10 erwähnten Arbeiten auch Jáuregui, Canibalia; Menninger, Die Macht der Augenzeugen und knapper dies., Unter „Menschenfressern“? sowie den populärwissenschaftlichen Aufsatz von Brauns, „Sofort ziehen sie den Toten über das Feuer“. Vgl. außerdem anthropologische Arbeiten zu Kannibalismus im Amazonasgebiet etwa von Basso, The Last Cannibals oder Conklin, Consuming Grief sowie zu den Guayaki Clastres, Guayaki Cannibalism. Ein weiterer Bericht aus dem Untersuchungszeitraum, der – sicher verkaufsfördend – Kannibalen schon im Titel erwähnt, stammt von Whiffen, The North-West Amazons: Notes of Some Months Spent among Cannibal Tribes. Auch Alfred Métraux (1902-1963) oder der unten ausführlicher behandelte Percy Harrison Fawcett thematisierten Kannibalismus. Vgl. Métraux, The Native Tribes of Eastern Bolivia and Western Matto Grosso und Fawcett, Bolivian Exploration 1913-1914 sowie ders., Exploration Fawcett.

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Schon seit der Antike hatten Autoren von Homer und Herodot bis hin zu Marco Polo (ca. 1254-1324) den Fremden, Unbekannten Kannibalismus zugeschrieben. Ähnliches gilt für fabelhafte Wesen wie die patagonischen Riesen, die erstmals Antonio Pigafetta (ca. 1480-1530er Jahre) in seinem Bericht über Magellans Weltumsegelung beschrieb: Ungeheuer und Monstrositäten waren ebenso wie Wunder nichts Ungewöhnliches für die Menschen in der frühen Neuzeit, sie bevölkerten schon seit der Antike in der Vorstellung der Menschen unbekannte Gegenden der Welt (und dienten zur Illustrierung der weißen Flecken auf den Weltkarten). Reisende, Menschen, die diese Orte, wo legendäre, mythische Lebewesen und Stätten angesiedelt wurden, dann tatsächlich besuchten, waren in dem, was sie sahen und berichteten, geprägt von den tradierten Vorstellungen. Diese Kenntnis bestimmte schon vor der Abreise, was sie zu sehen erwarteten und dann tatsächlich sahen: So begegnete Marco Polo Einhörnern, deren Existenz zu seinen Lebzeiten nicht in Zweifel zu ziehen war (tatsächlich beschrieb er ein Nashorn). Und auch der elisabethanische Reisende Edward Webbe begegnete 1567 im Serail des Sultans in Indien gleich drei Einhörnern; im 17. Jahrhundert traf der portugiesische Jesuit Jerónimo Lobo (1595-1678) sie in Abessinien an und der schottische Reisende John Bell (1691-1780) 1713 in Tartarien, einem Land jenseits des Urals.100 Dass Reisende Kannibalen antrafen oder zumindest von ihnen berichteten, war daher für Leser von Berichten und Erzählungen oder die Betrachter von Bildern auch noch in späteren Jahrhunderten nicht nur wenig verwunderlich, sondern sogar zu erwarten. Zwar schreibt Zantop, dass „im Verlauf des 18. Jahrhundert [...] das Bild des ,Kannibalen‘, der die früheren Reiseberichte bevölkert hatte, in den Hintergrund [trat], um einem weitaus ansprechenderen Bild der Eingeborenen Raum zu machen“, doch liegt sie damit ganz offensichtlich nicht ganz richtig: „Phantastische Geschichten über gefährliche Völker, Totmacher und Kannibalen hatten zu Zeiten der Weimarer Republik Hochkonjunktur.“101 Diese Feststellung der Historikerin Eva Bischoff trifft auch auf manche Bilder von und Erzählungen aus bzw. über Südamerika zu, ebenso etwa auf Hanns Heinrich Ewers’ Die Mamaloi.102

100 Vgl. Eco, Die Geschichte der legendären Länder und Städte, bes. S. 109-114 und neuerdings Davies, Renaissance Ethnography and the Invention of the Human. Vgl. für frühe Berichte aus Südamerika neben den bereits erwähnten Arbeiten u.a. etwa von Schülting, Wilde Frauen, fremde Welten und Mahlke, Offenbarung im Westen, außerdem Burghartz (Hg.), Berichten, Erzählen, Beherrschen; Kiening, Das wilde Subjekt und Pinheiro, Aneignung und Erstarrung. 101 Bischoff, Kannibale-Werden, S. 10. Zitat zuvor bei Zantop, Kolonialphantasien, S. 24. 102 Vgl. z.B. Mergenthaler, Völkerschau – Kannibalismus – Fremdenlegion, bes. S. 85-148. Besonders stark – und sexuell aufgeladen – wurde auch die Südsee mit Kannibalismus assoziiert. Vgl. Küchler Williams, Erotische Paradiese, bes. S. 138-150 sowie Haberberger, Kolonialismus und Kannibalismus oder zeitgenössisch Francé-Harrar, Südsee: Korallen – Urwald – Menschenfresser. Manche Kontinuitäten bestehen bis heute, wie die reißerische Berichterstattung über den vermeintlichen „Kannibalen-Mord“ (inklusive homosexueller Gewalt und heterosexueller Belästigung) an dem Segler Stefan Ramin aus dem Kreis Pinneberg, der sich im Oktober 2011 auf der zu Französisch-Polynesien gehörenden Insel Nuku Hiva ereignete, zeigt. Mittlerweile hat seine Lebensgefährtin ein Buch über die Ereignisse, die auch verfilmt wurden, geschrieben. Vgl. Dorsch, Blauwasserle-

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Dem Betrachter oder der Betrachterin der Bildpostkarte (im Fall der hier abgebildeten Karte war die Empfängerin ein Fräulein Martha Boy in der Erichstraße 81, Hamburg, St. Pauli) ließ die also vermutlich nicht unbekannte Vorstellung von menschenfressenden Wilden im Urwald, die ja zumindest in dem Land lebten, aus dem der Absender die Karte geschickt hatte, möglicherweise einen angenehmen Schauer über den Rücken laufen, handelte es sich doch um eine wohldosierte Portion Grauen. Ob es sich bei den abgebildeten Personen tatsächlich um Anthropophagen handelte, kann nicht abschließend geklärt werden. Zwar berichtete auch der französische Reisende Olivier Ordinaire (1845-1914), dass die Cashibos am Río Pachitea Kannibalen seien,103 doch muss diese Übereinstimmung nicht heißen, dass beide Berichte wahr sind. Die europäischen Reisenden können auch nur dieselbe Fehlinformation weitergegeben haben. Bemerkenswert ist, dass das Foto für die Verwendung als Bildpostkarte bearbeitet wurde: Nicht nur wurde es koloriert, um lebensechter zu wirken, die Indigenen wurden für das Postkartenmotiv vom Verleger (bzw. in seinem Auftrag) auch mit Tüchern zur Bekleidung ausgestattet. Eventuell wirkten nackte Indigene in den Augen Polacks zwar exotisch, aber nicht gefährlich genug.

Abbildung 124: Bildpostkarte „Indios Antropófagos, Rio Pachitea (Perú), No. 154“, Fotografie: Charles Kroehle, 1888, Verlag: Eduardo Polack, Lima, gelaufen 01.05.1906, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1965/702-32. Vgl. auch die der Bildpostkarte zugrunde liegende Fotografie „Eine Gruppe als ‚Menschenfresser‘ bezeichneter Cashibo, die Opfer einer Sklavenjagd waren (vermutlich Santenique, Rio Pachitea)“ von Charles Kroehle, 1888, zitiert nach Kohl, Frank Stephan: Land und Leute in Ost-Peru 1888-1891, dokumentiert von Kroehle & Hübner, in: Forscher und Unternehmer mit Kamera: Geschichten von Bildern und Fotografen aus der Fo-

ben sowie den Spielfilm Blauwasserleben, Film von Judith Kennel (Drehbuch: Christoph Silber und Stefan Schaefer, Produktion: Network Movie Film- und Fernsehproduktion GmbH & Co. KG, Hamburg, Deutschland 2015). 103 Vgl. Ordinaire, Del Pacífico al Atlántico, S. 64 u. 85-94 und noch ausführlicher ders., Les anthropophages du Pérou.

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tothek des Ibero-Amerikanischen Instituts, hg. v. Gregor Wolff, Berlin: Ibero-Amerikanisches Institut, 2014, S. 85.

Abbildungen 125 und 126: Fotografien „Chained Indian Rubber Gatherers in the Stocks. On the Putumayo River“ und „An Incident of the Putumayo: Indian Woman Condemned to Death by Hunger. On the Upper Putumayo“, reproduziert nach Variedades, Lima, Fotograf(en) unbe-

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kannt, 1900er Jahre (?), aus Hardenburg, Walter Ernest: The Putumayo: The Devil’s Paradise. Travels in the Peruvian Amazon Region and an Account of the Atrocities Committed upon the Indians therein, hg. u. mit e. Einl. v. Charles Reginald Enock, zus. mit Auszügen aus dem Report von Sir Roger Casement, London: T. Fisher Unwin, 1912, Frontispiz und gegenüber S. 53.

Tatsächlich waren die auf dem Foto und der Bildpostkarte abgebildeten Indigenen offenbar Opfer einer Sklavenjagd. Zum einen wurden also hier Opfer (Sklaven) zu mindestens potenziellen Tätern (Kannibalen) gemacht; zum anderen wurde die Versklavung mit der Gefährlichkeit und der Unmenschlichkeit der vermeintlichen Menschenfresser implizit gerechtfertigt, mindestens relativiert.104 Den historischen Kontext stellt der im späten 19. Jahrhundert einsetzende Kautschukboom dar. Kautschuk wurde in den Urwaldregionen Perus, Brasiliens und anderer südamerikanischer Länder gewonnen. Infolge des Arbeitskräftemangels in der dünn besiedelten und infrastrukturell nicht erschlossenen Region wurden Indigene für die Arbeit zwangsrekrutiert. Die Arbeits- und Lebensbedingungen für die (zumeist indigenen) Zwangsarbeiter waren miserabel; formell handelte es sich dabei aber nicht um Sklaverei.105 Das Thema ist in jüngerer Zeit vom peruanischen Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa in seinem Roman Der Traum des Kelten, der vom Leben Sir Roger Casements (1864-1916) handelt, aufgegriffen worden.106 Casement, der durch die Aufdeckung der kolonialen Gräuel im Kongo international bekannt geworden war, kam 1906 als Konsul in Pará nach Brasilien, später wurde er Konsul in Santos und Generalkonsul in Rio de Janeiro. 1910 reiste er für mehrere Monate zunächst nach Iquitos in Peru und später in das Amazonasgebiet am Río Putumayo, um Vorwürfen gegen die von Julio César Arana (1864-1952) geführte britisch-peruanische Peruvian Amazon Company nachzugehen. In seinem Bericht bestätigte Casement, dass sich das an der Börse in London notierte Unternehmen bei der Kautschuk-Gewinnung eines der Sklaverei ähnlichen Systems der Zwangsarbeit bediente, das Zehntausende Indigene, v.a. Angehörige der Uitoto,107 das Leben kostete. Infolge von Casements Bericht, der auszugsweise 1912 in dem Buch The Putumayo: The Devil’s Paradise des Journalisten Walter Ernest Hardenburg erschien, wurde das Unternehmen geschlossen. 108 Har-

104 „Jedes Foto wartet auf eine Bildlegende, die es erklärt – oder fälscht“. Susan Sontags Feststellung über das Verhältnis von Bild und Text ist auch in diesem Fall sehr treffend. Sontag, Das Leiden anderer betrachten, S. 17. Vgl. weiter dazu auch Mitchell, Picture Theory. 105 Vgl. z.B. Stanfield, Red Rubber, Bleeding Trees; Abad González, Etnocidio y resistencia en la Amazonía peruana oder Paredes Pando, Explotación del caucho-shiringa; Valen, Indigenous Agency in the Amazon untersucht Prozesse der Anpassung von Indigenen an die sich verändernden Bedingungen. 106 Vgl. Vargas Llosa, Der Traum des Kelten. 107 Auch die im ersten Kapitel erwähnten Konrad Theodor Preuss und Theodor Koch-Grünberg besuchten und erforschten die Lebensweise, Sitten und Gebräuche der Uitotos. Vgl. Preuss, Religion und Mythologie der Uitoto sowie Koch-Grünberg, Les indiens ouitoto und ders., Die Uitoto Indianer. 108 Vgl. Hardenburg, The Putumayo: The Devil’s Paradise. „[T]his book […] stands as perhaps the most terrible page in the whole history of commercialism“, schrieb der britische

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denburgs Buch schockierte Leser und Öffentlichkeit. Es erreichte große Bekanntheit sicher nicht zuletzt durch die im Buch abgedruckten Fotos, welche die geschilderten Gräuel veranschaulichten (Abb. 125 und 126). Auch die bereits mehrfach erwähnten Charles Kroehle und Georg Hübner wurden mit der unerträglichen Situation der Indigenen in den Gebieten der Kautschukgewinnung konfrontiert; Hübner berichtete auch über die indigene Arbeitssklaverei. 109 Dabei entstanden viele Fotografien aus dem Amazonasgebiet, vor allem solche von Indigenen, überhaupt erst im Zug der Kautschukgewinnung. Der Kautschukboom ermöglichte Ende des 19. Jahrhunderts die fotografische Erschließung der frontier der Amazonasregion, die so unter anderem visuell zwar als ein fremder, wilder Teil, aber eben als ein Teil des nationalen Territoriums z.B. in Peru oder Bolivien konstruiert wurde. Fotografen und Expeditionen besuchten Kautschukunternehmer, machten bei diesen Station und arbeiteten mit ihnen zusammen. So handelte es sich bei vielen von Forschern untersuchten und von Fotografen bildlich festgehaltenen Indigenen um „Angestellte“ bzw. um Zwangsarbeiter und „Sklaven“.110 Insofern und weil Amazonasfotografien sowohl weiß oder mestizisch konnotierten Fortschritt (Schifffahrt auf den Flüssen, Anwesen von Kautschukunternehmern) als auch rückständige, primitive und unterdrückte Indigene zeigen, werden sie nicht ganz zu Unrecht mitunter der Kolonialfotografie zugerechnet. Allerdings entstanden auch anders lesbare anthropologische oder ethnografische Fotos – und das nicht nur während großer wissenschaftlicher Expeditionen wie der mit den Namen Ehrenreich und von den Steinen verbun-

Ingenieur und Forscher Charles Reginald Enock (1868-1970) in seinem Vorwort. Vgl. außerdem Goodman, The Devil and Mr. Casement oder Lagos, Arana, rey del caucho. Zahlreiche Fotografien von der Reise wurden jüngst veröffentlicht von Chirif Tirado et al. (Hg.), Álbum de fotografías: Viaje de la Comisión Consular al Río Putumayo y Afluentes. 109 Vgl. Hübner, Iquitos und die Kautschuksammler am Amazonenstrom und Valentin, The Kroehle-Hübner Photographic Collection, S. 197. Auch Erland Nordenskiöld berichtete von der Versklavung von Indigenen und der prominente Forscher Theodor Koch-Grünberg schilderte die Situation in den Gebieten der Kautschukgewinnung mit drastischen Worten: „Der Pesthauch einer Pseudozivilisation geht über die rechtlosen braunen Leute hin. Wie alles vernichtende Heuschreckenschwärme dringen die entmenschten Scharen der Kautschuksammler immer weiter vor. Schon haben sich die Colombianer an der Mündung des Cuduiarý festgesetzt und führen meine Freunde weit weg in die todbringenden Kautschukwälder. Rohe Gewalttaten, Mißhandlungen, Totschlag sind an der Tagesordnung. Am unteren Caiarý machen es die Brasilianer nicht besser. Die Dorfplätze veröden, die Häuser fallen in Asche, und von den Pflanzungen, die der pflegenden Hände entbehren, nimmt der Urwald wieder Besitz. So wird eine kraftvolle Rasse, ein Volk mit prächtigen Anlagen des Geistes und Gemütes vernichtet. Ein entwicklungsfähiges Menschenmaterial wird durch die Brutalitäten dieser modernen Kulturbarbaren zugrunde gerichtet.“ Koch-Grünberg, Zwei Jahre unter den Indianern 2, S. 309. 110 Vgl. z.B. die Fotografie eines „italienische[n] Kautschukhändler[s] (mit Pistole im Gürtel) umgeben von Conibo, Shipibo und wahrscheinlich Mayoruna in einer Siedlung am Rio Ucayali (1888)“ bei Kohl, Land und Leute in Ost-Peru, S. 81.

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denen deutschen Xingu-Expedition, sondern auch bei kleineren Unternehmungen wie z.B. der von Kroehle und Hübner.111 Der 1862 in Dresden als Sohn eines einigermaßen wohlhabenden Holzhändlers geborene Georg Hübner ging 1885 nach Südamerika. Über Belém und Manaus in Brasilien und Iquitos in Peru kam er zunächst an den Río Ucayali, wo er für anderthalb Jahre eine Partnerschaft mit dem aus Holstein stammenden Kautschukkleinunternehmer Wilhelm Franzen aus Chuchurras einging. 112 Die Gründe für deren Ende sind nicht bekannt; Hübner blieb anschließend eine Zeit lang in der nicht weit entfernten deutsch-tirolerischen Siedlung Pozuzo, bevor er nach Lima kam, wo er Charles Kroehle traf. 1888 brachen die beiden Deutschen zu einer Expedition ins Amazonasgebiet auf, die am Ende drei Jahre dauern sollte und deren Ziel es war, Land und Leute zu erforschen und vor allem „eine recht reichhaltige Sammlung von Bildern und Typen zu schaffen“.113 Die Reise führte sie z.T. in Gegenden und Orte, die Hübner schon zuvor besucht hatte. Das oben abgebildete Foto der vermeintlichen indigenen Anthropophagen beispielsweise entstand am Río Pachitea, einem Zufluss des Ucayali in der Gegend, wo Hübner als Partner von Franzen im Kautschukgeschäft tätig gewesen war.114 Auch in Iquitos blieben Kroehle und Hübner längere Zeit und richteten sogar ein Fotostudio ein. Über Tarapoto am Fuße der Anden, wo sie öffentliche Veranstaltungen mit einer laterna magica abhielten und Cajamarca, wo sie Abzüge ihrer Fotografien anfertigten, kehrten sie Anfang 1891 an die Westküste zurück.115 Im Rahmen der dreijährigen Expedition entstanden Hunderte Fotos. Die hohe Verbreitung der Fotografien in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in wissenschaftlichen Nachlässen und Archiven,116 in zahlreichen Büchern und illustrierten Zeitschriften sowie als Bildpostkarten bestätigt zum einen Kroehles und Hübners Kalkül, es gebe eine Nachfrage für Fotos aus dem unbekannten Amazonasgebiet des östli-

111 Vgl. z.B. Biffi, Notas para la construcción de un archivo sobre historia visual amazónica; zur Fotografie im Amazonasgebiet als Kolonialfotografie z.B. Flores, Etnografía visual y colonización cauchera sowie zur Konstruktion des Gebietes García Jordán, Cruz y arado, fusiles y discursos. 112 Vgl. zu Franzen den Bericht von Ordinaire, Del Pacífico al Atlántico, S. 70-75. 113 Hübner, Meine Reise von Lima nach Iquitos, S. 18. 114 Ein Foto von Kroehle und Hübner im Archiv des Musée d’Ethnographie in Genf zeigt auch Franzen selbst, umgeben von Indigenen, die für ihn arbeiteten. Vgl. eine Reprodruktion des Bildes bei Flores, Etnografía visual y colonización cauchera, S. 213. 115 Vgl. für die Reise neben Kohl, Land und Leute in Ost-Peru und Valentin, The KroehleHübner Photographic Collection auch König, Mit der Kamera zu den Indianern im Osten Perus; dies., Charles Kroehle und Georg Huebner und Illius, „Nichts zu lachen“: Die Indianer im Osten Perus. 116 Fotografien von Kroehle und Hübner gibt es u.a. in der Fotothek des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin, im Ethnologischen Museum in Berlin, im Museum für Völkerkunde in Hamburg, im Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig, im Nachlass Theodor Koch-Grünbergs in der Völkerkundlichen Sammlung der Philipps-Universität Marburg, in der Biblioteca Nacional in Peru oder in der Smithsonian Institution in Washington, D.C.

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chen Peru. Zum anderen spricht dies für die Qualität der unter äußerst schwierigen Bedingungen entstandenen Bilder, die auch in der Literatur immer wieder betont wird.117 Einige generelle Schwierigkeiten, Indigene zu fotografieren, sind im ersten Kapitel unter den Stichworten Inszenierung und vermeintlicher Authentizität bereits kurz angesprochen worden. Darüber hinaus jedoch reagierten viele Indigene feindselig, scheu oder ängstlich, wenn Weiße sie fotografieren wollten (Abb. 127 und 128).118 Das galt besonders dann, wenn sie bislang keinen oder wenig Kontakt mit Forschern und anderen Weißen hatten oder aber schlechte Erfahrungen gemacht hatten. Mitunter hielten Indigene das Objektiv der Kamera offenbar für eine Waffe oder sie befürchteten, die fotografische Aufnahme würde ihr Gesicht und damit ihre Seele und Identität nehmen.119 Kroehle und Hübner meisterten diese Schwierigkeiten im Laufe der Zeit dank ihrer wachsenden Erfahrung, ihres Einfühlungsvermögens und weil sie sich für ihre fotografischen Studien mehr Zeit nahmen als viele andere Forscher,120 immer besser. So gelangen Aufnahmen, fotografische Begegnungen, deren Intimität außergewöhnlich ist. Während Kroehle nach Abschluss der Expedition zurück nach Lima ging, kehrte Hübner 1891 zunächst nach Dresden zurück. Dort baute er Kontakte zum bekannten Fotografen Hermann Krone (1827-1916) und zu mehreren Wissenschaftlern auf, darunter Alphons Stübel und Oscar Schneider (1841-1903). Krone hatte sicher Einfluss auf Hübners zukünftige Tätigkeit als Fotograf. 121 Auf Vermittlung von Schneider, dem Leiter des Dresdner Vereins für Erdkunde, hielt Hübner Lichtbild-Vorträge bei Versammlungen des Vereins. Wegen des großen Interesses verfasste er auch mehrere Berichte über die Expedition, die begleitet von fotografischen Abbildungen in der Deutschen Rundschau für Geographie und Statistik und im Globus erschienen. 122 1894 reiste Hübner erneut nach Südamerika, diesmal nach Manaus. Von dort aus unternahm er eine achtmonatige Reise in die Region des oberen Orinoco, entlang des

117 Vgl. z.B. Kohl, Land und Leute in Ost-Peru und Valentin, The Kroehle-Hübner Photographic Collection, bes. S. 199-204. 118 Paul Ehrenreich etwa berichtete über seine Arbeit am Xingu: „Das Photographiren [sic!] machte keine Schwierigkeiten, ausser dass die Leute dabei vor Angst oft heftig zitterten und so den natürlichen Gesichtsausdruck verloren.“ Ehrenreich, Mittheilungen über die zweite Xingu-Expedition in Brasilien, S. 97. 119 Wie Ehrenreich beschrieb auch George Miller Dyott die Schwierigkeiten, die er beim Fotografieren von Indigenen noch in den 1920er Jahren hatte, sehr eindrücklich. Der Wille, sich fotografieren zu lassen war für Dyott mehr noch als Kleidung ein Indikator für den Grad der „Zivilisierung“ von Indigenen. Vgl. Dyott, Silent Highways of the Jungle, bes. S. 99 sowie die Studie über kanadische Indigene von Silversides, The Face Pullers. 120 Für den zeitlichen Druck, unter dem z.B. Ehrenreich und von den Steinen arbeiteten, vgl. Hempel, Paul Ehrenreich – the Photographer in the Shadows, bes. S. 222-223. Kroehle und Hübner dagegen legten auf ihrer Reise, wie erwähnt, mehrere z.T. sehr lange Aufenthalte ein. 121 Vgl. zu Krone Hesse/Starl, Photographie und Apparatur. 122 Vgl. Hübner, Meine Reise von Lima nach Iquitos; ders., Vom Amazonenstrom nach der peruanischen Westküste und ders., Iquitos und die Kautschuksammler am Amazonenstrom.

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Rio Branco, einem Nebenfluss des Rio Negro im heutigen brasilianischen Bundesstaat Roraima. Sein Hauptanliegen war es offenbar, Orchideen zu sammeln. 123 Während der Reise traf er Theodor Koch-Grünberg, mit dem er noch lange korrespondierte. Als Hübner 1896 nach Dresden zurückkehrte, brachte er außerdem eine beachtliche anthropologisch-ethnografische Sammlung mit, darunter auch 60 Fotografien. 1897 übersiedelte Hübner endgültig nach Manaus, wo er 1899, ausgestattet mit neuester sächsischer Technologie, das Fotostudio Photographia Allemã eröffnete. Schnell avancierte Hübners Fotostudio, das auch Bildpostkarten herausgab, zu einem der besten und erfolgreichsten. 1906 übernahm Hübner, der sich nun George Huebner nannte, gemeinsam mit seinem Kompagnon Libanio Amaral (18??-1920) das Studio des verstorbenen portugiesischen Fotografen Felipe Augusto Fidanza (18471903) in Belém;124 1910 eröffnete eine Filiale in Rio de Janeiro. Nach dem Kautschuk-Crash verkaufte Hübner 1920 die Studios (das in Belém hatte er schon 1910 an einen anderen deutschen Fotografen verkauft) und zog sich in ein Landhaus am Rande von Manaus zurück, wo er 1935 starb. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit der Zucht von Orchideen und anderen Pflanzen, die er v.a. ins Deutsche Reich, aber z.B. auch für die heute zu London gehörenden Kew Gardens im englischen Surrey exportierte. Eine Orchidee, die Huebneria yauperiensis, ist nach Hübner benannt. 125

Abbildungen 127 und 128: Fotografien „Das Ehepaar will sich nicht photographieren lassen“ und „Das Mädchen fürchtet meine Kamera“ von Gustaf Bolinder, 1914/16, aus Bolinder, Gus-

123 Vgl. Hübner, Reise in das Quellgebiet des Orinoco und ders., Nach dem Río Branco. Vgl. für weitere fotgrafische Bilder der indigenen Bewohner der Gegend die spätere Arbeit von Ule, Unter den Indianern am Rio Branco. 124 Vgl. Nazaré Sarges/Cerqueira Pereira, Photografia Fidanza. 125 Vgl. zum Leben Hübners neben den erwähnten Arbeiten ausführlich Schoepf, George Huebner und Valentin, A fotografia amazônica de George Huebner sowie für den Namen der Orchidee Bosshart, George Huebner. Zum Abenteuer des Orchideensammelns vgl. auch Löhndorff, Blumenhölle am Jacinto und Ottmann, Der Orchideenjäger.

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taf: Die Indianer der tropischen Schneegebirge: Forschungen im nördlichsten Südamerika, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1925 [schwed. 1916], Tafel 38, vor S. 121.

Über Charles Kroehle ist im Unterschied zu Hübner nur sehr wenig bekannt. Vermutlich wurde er in den 1860er Jahren geboren; wo ist nicht überliefert. 126 Bevor er mit Hübner zu der Amazonasexpedition aufbrach, betrieb er in den 1880er Jahren ein Fotostudio in Lima. Sein Leben nach der Reise mit Hübner ist ebenfalls nicht erforscht. Vermutlich nahm er als Fotograf an weiteren Expeditionen ins Amazonasgebiet teil. Er starb 1902 in Lima, offenbar an den Folgen einer Verwundung, die ihm mutmaßlich ein Indigener mit einem Pfeil zugefügt hatte. 127 Die Unkenntnis der Vita Charles Kroehles ist gerade angesichts seiner Bedeutung als Fotograf des Amazonasgebiets und der internationalen Verbreitung seiner Fotografien in zeitgenössischen Veröffentlichungen sowie in den Archiven zahlreicher wissenschaftlicher Einrichtungen ein dringendes Forschungsdesiderat. Fotografien von Kroehle, der auch Korrespondent für die südamerikanische Photo-Art Co. war, wurden in peruanischen Publikationen wie der wöchentlich erscheinenden Lima-Peru oder in El Perú Ilustrado gedruckt. Auch in Fernando Garreauds (1870-1929) Álbum República Peruana 1900 wurden Aufnahmen von Kroehle abgedruckt – allerdings unter dem Namen des chilenischen Fotografen. Therese von Bayern dagegen erwähnte in ihrem 1908 in zwei Bänden erschienenen Bericht über die Reise, die sie 1898 durch das westliche Südamerika führte, dass Kroehle ihr die zwölf verwendeten „Indianerphotographien“ (Abb. 129 und 130) in Lima persönlich übergeben und sie ausführlich über seine gemeinsame Expedition mit Hübner unterrichtet habe. (Die Prinzessin verwendete außerdem weitere Fotografien von einheimischen und anderen Fotografen, darunter etwa Alberto Vojtěch Frič; die von ihr selbst aufgenommenen Fotografien, von denen ebenfalls mehrere abgedruckt sind, sind qualitativ deutlich schlechter.) Noch zwanzig Jahre nach ihrer Aufnahme erschien eine Fotografie von Kroehle im oben erwähnten Skandalbuch The Putumayo: The Devil’s Paradise von Walter Ernest Hardenburg und auch der Anglikaner Arthur Miles Moss (1873-1948) verwendete in seinem 1909 in Lima gedruckten, reich illustrierten A Trip into the Interior of Peru Fotografien von Kroehle.128

126 Einigen Angaben zufolge, etwa im Katalog der Archives, Manuscripts & Photographic Collections des Smithsonian Institution Research Information System, http://www.siris. si.edu/ [26.08.2018], wurde er 1876 geboren. Das kann aber nicht sein, denn als er zu seiner Reise mit Hübner aufbrach, war er sicher älter als zwölf Jahre. Eventuell handelt es sich um einen Zahlendreher, nach Angaben des Ibero-Amerikanischen Instituts ist Kroehles Geburtsjahr 1867, allerdings ist dafür kein Nachweis angeführt. Vgl. Schumacher/ Wolff, Nachlässe, Manuskripte, Autographen und Fotosammlungen, S. 57. 127 Vgl. z.B. Valentin, The Kroehle-Hübner Photographic Collection, S. 193. 128 Vgl. Schumacher/Wolff, Nachlässe, Manuskripte, Autographen und Fotosammlungen, S. 57 und Weber-Unger/Moschik, Reisen, so sagt man, ist eine Wissenschaft, S. 71 sowie Therese von Bayern, Reisestudien aus dem westlichen Südamerika 2, Zitat auf S. 18, Fotografien von Kroehle auf S. 6-18 und Reisestudien aus dem westlichen Südamerika 1, S. 276; Moss, A Trip into the Interior of Peru und Hardenburg, The Putumayo: The Devil’s Paradise, nach S. 74.

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Abbildung 129: Fotografie „Campa-Indianerin“ von Charles Kroehle, 1888/89, aus Therese Prinzessin von Bayern: Reisestudien aus dem westlichen Südamerika (Bd. 2), Berlin: Reimer, 1908, S. 9.

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Abbildung 130: Fotografie „Orejon-Indianer“ von Charles Kroehle, 1888/89, aus Therese Prinzessin von Bayern: Reisestudien aus dem westlichen Südamerika (Bd. 2), Berlin: Reimer, 1908, S. 18.

Kroehle und Hübner machten ihre Fotografien von Indigenen in ethnografischer und sicher auch in kommerzieller Absicht. Dabei nutzten sie, wie erwähnt, auch die durch die Kautschukunternehmer verursachten Abhängigkeiten von Indigenen aus. Ihre Bilder und Hübners Texte sind aber oft auch voller Anteilnahme angesichts der unmenschlichen Lebensbedingungen von Indigenen im Kautschukgebiet. Doch obwohl sie sich bemühten, nicht das Klischee des „gefährlichen Wilden“ abzubilden, wurden, wie oben deutlich wurde, auch ihre Bilder genau in diesem Sinn genutzt. Sowohl auf

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bildlicher wie auf textlicher Ebene war dieses Motiv einfach stärker – im Untersuchungszeitraum und darüber hinaus.129 Immer neue Geschichten, erfundene und solche, die sich tatsächlich zugetragen hatten – wenn auch nicht immer so, wie sie geschildert wurden – lieferten Belege für die Gefährlichkeit der Indigenen im Amazonasgebiet. Ein auch schon zeitgenössisch überaus populäres Beispiel ist die abenteuerliche Geschichte des Verschwindens von Percival Harrison („Percy“) Fawcett. Der britische Oberstleutnant, Abenteurer, Forschungsreisende und Ethnologe hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Auftrag der Royal Geographical Society in London mehrere Expeditionen im bolivianischen und brasilianischen Amazonasgebiet durchgeführt. 1925 brach er, da er der Ansicht war, Indigene reagierten weniger feindselig auf kleine Gruppen von Weißen, nur begleitet von seinem Sohn Jack und dessen Freund Raleigh Rimell zu einer weiteren Expedition in den brasilianischen Amazonasdschungel auf. Im Bundesstaat Mato Grosso, in der Serra do Roncadur in der Nähe des Rio Xingu suchte er nach einer sagenhaften, untergegangenen Zivilisation, einer Stadt, die er Z nannte und von deren Existenz er seit Jahren aufgrund eines von ihm im Staatsarchiv in Rio de Janeiro entdeckten Dokumentes aus dem 18. Jahrhundert überzeugt war. Nach vielen Verzögerungen (neben fehlenden finanziellen Mitteln verhinderte auch der Erste Weltkrieg eine frühere Reise) konnte Fawcett schließlich erneut die Royal Geographical Society und weitere Unterstützer, darunter die North American Newspaper Alliance gewinnen. Zu dem Zeitungskonsortium, das später auch Ernest Hemingway als Korrespondenten im Spanischen Bürgerkrieg verpflichtete und Thor Heyerdahls (1914-2002) Pazifiküberquerung auf dem Floß Kon-Tiki 1947 finanzierte, gehörten u.a. die Los Angeles Times, der Houston Chronicle oder der Toronto Star. Sie sollten exklusiv schon während der Expedition mit Berichten versorgt werden, die Fawcett telegrafisch und durch indigene Waldläufer zu übermitteln gedachte. Insofern war die Expedition ein transnationales Medienereignis, ähnlich wie die im vorigen Kapitel behandelte sogenannte Galápagos-Affäre. Von Rio de Janeiro ging es für die drei Briten zunächst nach Cuiabá, wo die eigentliche Expedition am 20. April 1925 gen Norden startete. Das letzte Lebenszeichen von Fawcett war eine an seine Frau telegrafierte Nachricht vom 29. Mai. Darin hieß es, sie solle sich keine Sorgen wegen eines Misserfolges der Unternehmung machen. Und da Fawcett vorab selbst angekündigt hatte, die Reise könne lange dauern, eventuell würde er sich auch für längere Zeit nicht melden können und es sollte nicht nach ihm gesucht werden, dauerte es tatsächlich lange, bis die Öffentlichkeit sich Sorgen machte. Im Mai 1928 brach schließlich der bereits mehrfach erwähnte George Miller Dyott, wie Fawcett Mitglied der Royal Geographical Society, zu einer ersten großen Such- und Rettungsexpedition auf, um das Schicksal des „Livingstone von Südamerika“, das die Weltöffentlichkeit beschäftigte, aufzuklären. Auch Dyotts Expedition wurde von der North American Newspaper Alliance fi-

129 Der australische Anthropologe Michael Taussig, der in seiner 1987 erschienenen Studie Shamanism, Colonialism, and the Wild Man die „culture of terror“ am Putumayo (von ihm als „space of death“ bezeichnet) in Kolumbien zur Zeit des Kautschukbooms untersucht, erklärt diese mit der Angst vor dem Unbekannten, dem Überlieferten, dem Gehörten und dem sozusagen aus zweiter Hand Erlebten. Vgl. Taussig, Shamanism, Colonialism, and the Wild Man.

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nanziert und auch er sendete per Funk Berichte schon während der Expedition, die von Presse und Rundfunk sensationslüstern und mit Spannung verfolgt wurde. Dyott, der auf einer früheren Amazonas-Expedition selbst schon von Schrumpfköpfen herstellenden Indigenen entführt und nur knapp mit dem Leben davon gekommen war, kam zu dem Ergebnis, dass Fawcett von Indigenen, genauer von Angehörigen der Nahukwá, umgebracht worden war. In deren Dorf hatte er Ausrüstungsgegenstände von Fawcett gefunden, darunter eine Metallkiste und ein dazugehöriges Messingschild. Dyott wusste sich und seine Abenteuer gut zu vermarkten: In seinem 1930 als Buch unter dem Titel Man Hunting in the Jungle: Being the Story of a Search for 3 Explorers Lost in the Brazilian Wilds veröffentlichten Bericht schilderte er, wie er selbst und seine Begleiter den Nahukwá und mit diesen verbündeten Indigenen ebenfalls nur mit knapper Not entkamen. Auf der Flucht gelang es einem Techniker, das Funkgerät, das zwischenzeitlich den Dienst versagt hatte, wieder in Gang zu bringen und eine Nachricht abzusetzen: „Ich muss leider berichten, dass die Fawcett-Expedition Opfer feindlicher Indianer geworden ist. Unsere eigene Lage ist kritisch […] habe nicht einmal genug Zeit, um Einzelheiten per Funk zu senden. Müssen das Xingu-Gebiet unverzüglich verlassen, sonst werden wir selbst gefangen.“

Anschließend ließ die Gruppe den Apparat wegen der Last, die er darstellte, zurück. Zeitungsmacher und Leser sorgten sich um ihr Schicksal, bis Dyott und seine Männer Monate später „krank, ausgezehrt, bärtig und voller Moskitostiche“ aus dem Dschungel zurückkehrten. Sie wurden als Helden gefeiert. Später, 1933, wurde Dyotts Bericht als Savage Gold (mit Dyott, der sich selbst spielte) und noch einmal 1958 als Manhunt in the Jungle verfilmt.130 Seine Behauptungen bezüglich der vermeintlichen Mörder Fawcetts und seiner Begleiter stellten sich jedoch schon bald als falsch heraus. Tatsächlich hatte Fawcett die Kisten, die Dyott bei den Nahukwá entdeckt hatte, wohl schon 1920 bei einer früheren Expedition verloren. Und so machten sich im Laufe der nächsten Jahre und Jahrzehnte zahlreiche weitere Expeditionen auf die Suche nach Fawcett, seinem Sohn und Rimell. Es wurde sogar ein Preis ausgesetzt. In den 1930er und 1940er Jahren und auch später noch starben mehrere Abenteurer auf der Suche nach Fawcett oder blieben verschollen. Darunter war neben Peter Fleming, der 1932 an einer Rettungsexpedition teilnahm, auch der englische Hollywoodschauspieler Albert de Winton Jones (1879-1934), der offenbar von zwei Angehörigen der Kamayurá erschlagen wurde, als diese ihn nackt und dem Wahnsinn

130 Vgl. Grann, Die versunkene Stadt Z, S. 278-286, Zitate auf S. 285 sowie Dyott, Man Hunting in the Jungle und ders., Silent Highways of the Jungle zu seiner früheren Entführung durch Amazonas-Indigene. Bevor Grann, Journalist beim Magazin The New Yorker, die Geschichte von Fawcett und der Suche nach diesem mit seinem 2009 erschienen Buch wieder populär machte, gelang dies in den 1980er Jahren dem Dänen Arne FalkRønne. Vgl. Falk-Rønne, Goldgräber, Gauchos und Banditen, S. 246-251. 2016 erschien basierend auf Granns Buch der Spielfilm Die versunkene Stadt Z, Film von James Gray (Drehbuch: James Gray, Produktion: MICA Entertainment, Northern Ireland Screen, Plan B Entertainment, Keep Your Head und MadRiver Pictures, USA 2016).

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nahe in einem Kanu treibend fanden.131 Diese und ähnliche spektakuläre und mysteriöse Geschichten – auch das irische Medium Geraldine Cummins (1890-1969) beschäftigte sich spiritistisch mit dem Fall – sowie das von Fawcetts zweitem Sohn Brian (1906-1984) 1953 veröffentlichte Buch Exploration Fawcett, das auf den Aufzeichnungen seines Vaters beruhte, trugen erheblich zur Legendbildung um Percy Fawcett bei.132 Das Rätsel um das Ende der beiden Fawcetts und Rimells konnte bis heute nicht mit endgültiger Sicherheit geklärt werden. Eventuell starben sie an Krankheiten und/oder Unterernährung oder sie wurden von wilden Tieren angegriffen; jedoch ist auch eine Ermordung durch Indigene (lange galten die Kalapalo als Hauptverdächtige, wenn, dann kommen aber wohl eher Suyás, Kayapós oder Xavante in Frage) nicht ausgeschlossen. Gefahr durch Angriffe wilder Indigener drohte im Amazonasgebiet aber nicht nur Forschern, sondern auch Siedlern, die sich am Rande des Dschungels niederließen und den Wald rodeten, um Ackerbau oder Viehzucht zu betreiben. Von solchen Angriffen wurde in vielen Abenteuererzählungen berichtet. Unter den Autoren befanden sich auch solche, die vermeintlich Authentisches widergaben; so etwa der Auswanderer Franz Donat. Auch Rudolf Dienst, der lange Zeit in Bolivien lebte, schilderte in seinem 1927 erschienenen Roman Die Wildnis ruft: Die seltsamen Schicksale des Lord Greybroke in Bolivien den Überfall einer Gruppe Indigener auf eine estancia im Dschungel Boliviens.133 Die Vorstellung vom gefährlichen Dschungel und seinen mordlustigen indigenen Bewohnern dauerte im Übrigen über den Untersuchungszeitraum hinaus und sogar bis heute fort.134 Der dänische Reiseschriftsteller Arne Falk-Rønne (1920-1992) und der deutsche Abenteurer Heinz Rox-Schulz (1921-2004) griffen in den 1970er und 1980er Jahren in ihren populären Südamerika-Reiseberichten die Geschichte der evangelikalen US-amerikanischen Missionare Jim Elliot, Nate Saint, Peter Fleming (es handelt sich nicht um den eben erwähnten britischen Schriftsteller), Ed McCully und Roger Youderian auf. Bei dem Versuch, mit den Huaronis (abwertend auch Auca) im ecuadorianischen Regenwald in Kontakt zu kommen, wurden die fünf Männer im Januar 1956 von diesen getötet, nachdem es bereits zuvor gewaltsame Konflikte zwischen Huaronis und Mitarbeitern des Ölkonzerns Shell gegeben hatte. Elliots Frau Elisabeth und Saints Schwester Rachel setzten die Missionsarbeit unter den Mördern ihres Mannes bzw. Bruders fort und vermarkteten die Geschichte in mehreren Publikationen, u.a. im Magazin Life. Auch wegen ihrer und weiterer Bücher gelten Elliot und seine Kollegen manchen in evangelikalen Kreisen als Märty-

131 132 133 134

Vgl. Grann, Die versunkene Stadt Z, S. 289. Vgl. Fawcett, Exploration Fawcett sowie Cummins, The Fate of Colonel Fawcett. Vgl. Dienst, Die Wildnis ruft, S. 41 und Donat, Paradies und Hölle, S. 10 u. 28. Zu denken ist in der Populärkultur an Filme wie den vierten Teil von Indiana Jones (Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels, Film von Steven Spielberg, Drehbuch: George Lucas, Produktion: Paramount Pictures und Lucasfilm, USA 2008). Die Figur des von Harrison Ford gespielten Protagonisten kreierte George Lucas nach dem Vorbild Hiram Binghams und möglicherweise auch in Anlehnung an die Person Fawcetts.

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rer,135 von anderen Seiten gibt es dagegen starke und nur allzu berechtigte Kritik an diesen und anderen Missionaren, die zum Aussterben indigener Gemeinschaften und Kulturen beitragen.

Abbildung 131: Fotografie „Jivaro-Indianer mit dem Schrumpfkopf eines Feindes“ von Jørgen Bitsch (?), 1950er Jahre, aus Bitsch, Jørgen: Jivaro: Geheimnisse des Amazonas, Gütersloh: Bertelsmann, 1958 [dän. 1958], S. 175. Vgl. auch die Fotografie „Ein Schrunpfkopf (tsantsa) ist Anlaß für eine lebhafte Unterhaltung zwischen Verfasser und seinem Jivaro-Freund“, Fotograf unbekannt, 1950er Jahre, ebd., S. 197 sowie die Bildpostkarte „,Tsantsa‘ war trophy. Shrunken human head used in the Victory Ceremony to gain prestige and power. Jivaro Tribe, Lowland Ecuador“, Verlag: Museum of the American Indian, Heye Foundation, New York 1957, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E Nls 314.

Ebenso wie die Huaronis galten auch andere indigene Gruppen im Amazonasgebiet, v.a. in dessen Westen, etwa die Jivaros, als Kopfjäger und besonders gefährlich. Die von diesen Indigenen hergestellten Schrumpfköpfe (tsantsa) wurden in vielen Berichten erwähnt – in den 1920er Jahren etwa von Eduard Seler und auch noch in dem

135 Vgl. z.B. Hitt, Jungle Pilot sowie Elliot, Shadow of the Almighty; Falk-Rønne, Goldgräber, Gauchos und Banditen, S. 124-134; Rox-Schulz, Der Ruf des Condor, S. 176-177.

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1958 erschienenen populären Werk Jivaro des Dänen Jørgen Bitsch (1922-2005) – und waren auf vielen Abbildungen zu sehen (Abb. 131 und 132). 136 Sie erfüllten die Leser und Betrachter sicher mit großem Schrecken.

Abbildung 132: „Cacique Salupe, Tribo Taira Gaira – Rio Vaipo, Ecuador“, Verlag: Jorge Allan, Valparaíso, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1966-658,114.

Auch heute noch gibt es immer wieder Berichte über aggressives Verhalten isolierter oder unkontaktierter (dieser Begriff ist jedoch nicht immer ganz passend) indigener Gruppen im Amazonasgebiet. Meistens geht es dabei um illegal operierende Holzfäller oder Goldsucher, die von Indigenen, deren Wald geschlagen und deren Wasser verseucht wird, getötet wurden. Allerdings stecken hinter vielen dieser Geschichten, die nicht immer wahr sein müssen, oft politische Absichten: Sie dienen zum einen der Legitimation von Gewalt, die in vermeintlicher Notwehr gegen die Indigenen angewendet wird; zum anderen verschleiern sie, dass tatsächlich Holzfäller, Goldsucher

136 Vgl. neben den späteren Berichten von Rox-Schulz und Falk-Rønne u.a. Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, S. 93-96 sowie wissenschaftlich Seler, Präparierte Feindesköpfe bei den Jivaro-Stämmen. Sehr ausführlich widmete sich den Jivaro auch der populäre Bericht von Bitsch, Jivaro.

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und andere Eindringlinge viel mehr Indigene töten, direkt und indirekt durch Krankheiten, als andersherum.137 Neben der Gefahr, die von kriegerischen Indigenen ausging, lauerten im Amazonasgebiet, das wusste das interessierte Publikum im Deutschen Reich aus zahlreichen Publikationen, viele weitere Gefahren. Ernst Friedrich Löhndorff etwa berichtete in seinem als authentisch wahrgenommenen Abenteuerroman Blumenhölle am Jacinto nicht nur von gefährlichen Indigenen, die ihm und seinem Kompagnon bei der Suche nach Orchideen mit Blasrohren und Giftpfeilen bewaffnet nach dem Leben trachteten – auch nachdem die beiden Gast bei ihnen waren. Eindringlich beschrieb er zudem das Habitat der gefährlichen Amazonasbewohner, die lebensfeindliche Umwelt des Dschungels. Diese barg für Forscher und Abenteurer vielerlei Gefahren und Plagen: Jaguare, Pumas, Krokodile, Piranhas, Zitteraale, Gift- und Würgeschlangen, Tucandera- oder 24-Stunden-Ameisen, Candirús (Harnröhrenwelse), giftige Tausendfüßler, Blutegel, Zecken, Sandflöhe, Moskitos, Malaria, Gelbfieber, Fieber, Sümpfe und Dornen.138 Die Allgegenwärtigkeit und Stärke dieses Motivs des gefährlichen Dschungels mit seinen gefährlichen Bewohnern wurde nur sehr selten und in der Reiseliteratur fast nie in Frage gestellt. Eines der sehr seltenen Beispiele ist Peter Flemings 1933

137 Gemeinsam mit Umweltschützern wehren sich Indígena-Aktivisten im Amazonasgebiet gegen den Raubbau an der Natur und die Zerstörung der Lebensgrundlagen sowie gegen Enteignungen der indigenen comunidades. Ihre Gegner sind neben den Ölmultis, Holzfällern und meist illegal operierenden Goldsuchern, die das Wasser mit Quecksilber verseuchen, auch die politischen Eliten. Der ehemalige peruanische Präsident Alan García stellte in einem im Oktober 2007 in El Comercio erschienenen Artikel für die Erschließung Amazoniens, u.a. für die Erdölförderung, argumentierend die historische Kontinuität des Widerstandes heraus: „[E]l viejo comunista anticapitalista del siglo XIX se disfrazó de proteccionista en el siglo XX y cambia otra vez de camiseta en el siglo XXI para ser medioambientalista. Pero siempre anticapitalista, contra la inversión, sin explicar cómo, con una agricultura pobre, se podría dar un salto a un mayor desarrollo. Y contra el petróleo, han creado la figura del nativo selvático ‘no conectado’; es decir, desconocido pero presumible, por lo que millones de hectáreas no deben ser exploradas, y el petróleo peruano debe quedarse bajo tierra mientras se paga en el mundo US$90 por cada barril. Es preferible para ellos que el Perú siga importando y empobreciéndose.“ García Pérez, El síndrome del perro del hortelano. Nahezu folgerichtig erscheint angesichts dessen die gewaltsame Niederschlagung der Proteste von Indigenen in Amazonien im Juni 2009. Es gab zahlreiche Tote sowohl unter den indigenen Protestlern als auch auf Seiten der Polizei. Vgl. z.B. Hohmann, Blutroter Teppich für Investoren. Ähnliche Konflikte gibt es immer wieder, auch in Bolivien, Brasilien und Ecuador. Vgl. zur politischen und medialen Konstruktion von Amazonas-Indigenen als kriegerisch und/oder wild in Peru auch Espinosa de Rivero, ¿Guerreros o salvajes? Isolierte oder nicht kontaktierte Gruppen gibt es in den Amazonasregionen von Kolumbien, Venezuela, Surinam, Guyana, Französisch-Guayana, Ecuador, Bolivien, Peru und Brasilien sowie im paraguayischen und bolivianischen Chaco. 138 Vgl. Löhndorff, Blumenhölle am Jacinto. Ähnliches gilt für Mader, El Dorado.

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zuerst erschienener, überaus amüsanter Bericht über die Expedition zur Rettung Fawcetts, an der er 1932 teilgenommen hatte. „Verschieden, wie es von den meisten Berichten über Expeditionen ist, so verschieden ist dieses Buch auch von den meisten Berichten über das Innere Brasiliens. Es unterscheidet sich von ihnen durch strenge Wahrheit in allen Teilen. Anfangs hatte ich vor, die Sensationen ordentlich zu häufen; ich hatte das Gefühl, dies würde von mir erwartet. Bei der Behandlung des Großen [sic!] Unbekannten hat man freie Hand, und meine wenigen Vorgänger auf diesem Sondergebiet hatten ein großes Theater mit den Schrecken des Dschungels gemacht. Die Alligatoren, die Schlangen, die menschenfressenden Fische, die lauernden Wilden und die furchtbaren Insekten – das ganze Zubehör des tropischen Hokuspokus lag für mich greifbar dar. Aber als es ernst wurde, hatte ich doch nicht die Stirn, dies auszunutzen. Der Leser muß mir also verzeihen, wenn mein Bild des Matto Grosso nicht mit seinen düsteren Vorgefühlen übereinstimmt. Die Härten und Entbehrungen, die man von uns zu ertragen forderte, waren sehr unbedeutend, die Gefahren, welche wir auf uns nahmen, waren erheblich geringer als die, denen ein Blutgefäß während einer Hitzewelle begegnen muß. Wenn ich in irgendeinem Teil dieses Buches einen gegenteiligen Eindruck hervorgerufen habe, so ist dies unwissentlich geschehen. Die Expedition kann beanspruchen, ein wenig (aber nicht viel) Licht auf das Geheimnis geworfen zu haben, das Oberst Fawcetts Verschwinden umgibt. Im übrigen wurde, abgesehen von der Durchführung einer Reise von 3000 Meilen, zumeist unter erheiternden Umständen, durch einen wenig bekannten Weltteil und der Entdeckung des Nebenflusses eines Nebenflusses von einem Nebenfluss des Amazonas, nichts von Bedeutung erreicht.“

Fleming konterkarierte die Gefahren der Expedition und unterlief den Topos des gefährlichen Dschungels mit seinen tierischen und menschlichen Bedrohungen für Leib und Leben: „Die ganze Forschungstechnik ist mit so unmißverständlichen und so oft verspotteten Konventionen durchsetzt, hat einen so geschmacklos eindrucksvollen und so leicht verrissenen Jargon, daß es demjenigen sowohl an Scham wie Humor fehlen muß, der schon beim ersten Versuch die Konventionen annimmt und den Jargon anwendet. Selbst in London hatten wir eine Unterhaltung über unsere Pläne unmöglich gefunden, ohne entschuldigend die Anmaßung solcher Begriffe wie Standlager in Anführungsstriche zu hüllen. Wir gaben uns Mühe, vom ‚Beginn der Regenzeit‘, nicht vom ‚Losbruch des Tropenregens‘ zu sprechen. Wir sprachen davon, ‚flußaufwärts zu gehen‘, aber nicht davon, ‚flußaufwärts vorzudringen‘. Als wir nun unser Tätigkeitsfeld erreicht hatten, hielt diese Gewohnheit vor. Vieles von dem, was wir sahen und hörten, war wirklich zu gut, um wahr zu sein. Das Leben war immer gefährlich nahe an den Seiten der Bücher, welche die Verleger unter dem Titel ‚Reisen und Abenteuer‘ anzeigen. Aus Gründen der Selbstverteidigung wendet man sich der Parodie zu, in instinktiver Verfolgung der Politik des nil admirari, die das gemeinsame Erzeugnis von Unterdrückung, Sophisterei und all des hitzigen Getues ist, dessen Zeuge man wird. Wenn sich Indianer näherten, so bezeichneten wir sie als die ‚angreifenden Wilden‘. Wir fragten nie: ‚War das ein Schuß?‘, sondern immer: ‚War das nicht das wohlbekannte Gebelfer eines Mausers?‘ Wir wiesen uns alle Insekten harmloser Art und lächerlichen Aussehens als Geschöpfe, ‚deren Blick schon Tod bedeutet‘. Jedem Vogel, der größer als eine Drossel war, schrieben wir die Fähigkeit zu, ‚den Arm eines Mannes mit einem einzigen Schlag seines kraftvollen Flügels zu brechen‘. Vom Wasser sprachen wir stets als dem ‚kostbaren Naß‘. Wir sagten nicht, daß wir äßen, son-

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dern daß wir ‚einer frugalen Mahlzeit umfassende Gerechtigkeit widerfahren ließen‘. Für jeden, der das nicht so komisch fand wie wir, muß das ein unerträglicher und ermüdender Spaß gewesen sein.“139

Eine mit „Prosit Neujahr“ überschriebene Bildpostkarte aus der Sammlung Curt Bassens im Altonaer Museum in Hamburg ist ebenfalls Ausdruck dieser Form der Ironie. Das Bild eines vermeintlich gefährlichen, wilden, halbnackten Indigenen mit Federschmuck, einem Speer oder Stab, den Mund zum furchteinflößenden Kriegsschrei weit geöffnet, wurde hier augenzwinkernd als Neujahrsgruß verschickt (Abb. 133). Dass der „Wilde“ nicht wirklich gefährlich war, wurde auch dadurch deutlich, dass er neben einer Ziegelmauer, also in einem zumindest halbwegs „zivilisierten“ Umfeld aufgenommen wurde.

Abbildung 133: Bildpostkarte, Fotograf und Verlag unbekannt, Argentinien, 1907-1917, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum Inv.-Nr. 2004/5/75. Vgl. zudem die Bildpostkarte, Fotograf und Verlag unbekannt, Argentinien, 1907-1917, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum Inv.-Nr. 2004/5/3. Wann, wo und von wem die Motive aufgenommen wurden, um wen es sich bei dem abgebildeten Mann handelt und wer der Verleger der Bildpostkarten war, kann nicht geklärt werden. Der Federschmuck des abgebildeten Mannes deutet auf eine im Chaco beheimatete

139 Fleming, Brasilianisches Abenteuer, S. 124-125. Zitat zuvor ebd., S. 5-6.

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Ethnie hin. Jedoch handelt es sich vermutlich um eine Verkleidung. Lediglich die Zuordnung zur Sammlung Curt Bassens ist durch die Inventarnummern möglich; datiert anhand des Fotopapiers von Velox mit vier Rauten in den Ecken der Briefmarken-Box und mithilfe der Datenbank des Online-Auktionshauses Playle.com, http://www.playle.com/realphoto/ [26.08.2018].

Auch außerhalb Amazoniens gab es in der Vorstellung vieler Menschen von Südamerika gefährliche Indigene wie etwa die Bilder der „bewaffneten Stämme“ mit und ohne Waffen gezeigt haben. Das galt (und gilt zum Teil noch heute), wie bereits deutlich wurde, besonders für den Chaco, den der Ethnologe und Zoologe Hans Krieg als „Indianerland“ bezeichnete.140 Dort war nicht nur Guido Boggiani 1902 von Indigenen getötet worden, auch der baskische Forscher Pedro Enrique de Ibarreta y Uhagon war 1899 im Chaco zu Tode gekommen. Beider Überreste wurden 1900 bzw. 1904 vom spanischen Abenteurer José Fernández Cancio gefunden. Und bereits 1882 war der französische Forscher Jules Crevaux (1847-1882) zusammen mit fast allen Teilnehmern seiner Expedition von Tobas am Pilcomayo getötet worden. 141 Diese und zahlreiche ähnliche Berichte von Überfällen, die Indigene angeblich oder tatsächlich auf Siedler im Chaco verübten, bestätigten ein Bild, das deutschen Lesern vor allem durch die Südamerika-Erzählungen Karl Mays vertraut war. Die indigene Bevölkerung des Chaco wurde dort als so kriegerisch dargestellt, dass sie sogar Händel untereinander anfing, wenn sie nicht gerade weiße Reisende, Forscher oder Siedler überfiel: In Das Vermächtnis des Inka bekämpften sich Camba und Abipones; im zweiten Teil der Sendador-Erzählung, In den Kordilleren, sind es die Toba und die Mocoví, die sich im Krieg gegeneinander befanden. Ein Menschenleben schien im Chaco nicht viel zu zählen. Besonders gefährlich erschienen die Chaco-Indigenen – die ja auch ganz anders waren als die edlen, mutigen und tapferen Apachen Winnetous – wegen ihrer Tücke und Hinterlist. Diese Eigenschaften manifestierten sich in der Waffe der vergifteten Pfeile, die mit Blasrohren unbemerkt, lautlos, heimtückisch und zielsicher (bis zu einer Entfernung von 40 Schritten und mehr, wie es bei Karl May heißt) abgeschossen wurden.142 Und als seien die Indigenen nicht Gefahr genug, handelte es sich auch beim Chaco, zumindest in den Schriften Karl Mays, um eine menschenfeindliche Umwelt, in der es von Schlangen, Jaguaren und Pumas nur so wimmelte. Ganz so gefährlich wie der Amazonasdschungel erschien der Chaco in dieser Hinsicht allerdings meistens nicht. Insbesondere Schlangen aber waren (und sind für manche noch heute) ein Inbegriff an hinterlistiger Gefährlichkeit. Sie gelten als falsch, bewegen sich leise und töten ebenso leise mit Gift – wie die Indigenen mit

140 Krieg, Indianerland. 141 Vgl. Vogel, Europäische Forschungsreisen in den Cono Sur, bes. S. 157-163. 142 Vgl. May, Am Rio de la Plata, z.B. S. 205-206, wo die Herstellung des Pfeilgiftes und seine Wirkung beschrieben wird; ebenso bei ders., Das Vermächtnis des Inka, S. 94-95. Auch bei Löhndorff, Blumenhölle am Jacinto begegnen mit Giftpfeilen bewaffnete Indigene immer wieder. Für Überfälle auf weiße Siedler, bei denen es die Indigenen meist auf das Vieh abgesehen hatten, vgl. auch Preusse-Sperber, Unter Ansiedlern, Gauchos und Indianern, S. 13 u. 18.

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ihren vergifteten Pfeilen, „die sich mit der Unhörbarkeit einer Schlange zu bewegen verstehen.“143 Gewaltsame Konflikte zwischen Indigenen auf der einen und weißen oder mestizischen Siedlern, Holzfällern und anderen in ihren Lebensraum eindringenden Arbeitern auf der anderen Seite gab es im Chaco noch bis in jüngste Zeit. Die (vermutlich willentlich) bis heute ohne Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft im Grenzgebiet Paraguays und Boliviens lebende indigene Gruppe der Totobiegosode wehrte sich noch in den 1990er und 2000er Jahren teilweise mit Pfeil und Bogen sowie Speeren gegen Eindringlinge. 2010 führten Sorgen um die Gefährdung der isoliert lebenden Totobiegosode durch Krankheiten und vor gewaltsamen Konflikten zur Absage einer vom Natural History Museum in London geplanten Expedition, die nach unbekannten Arten suchen sollte. In den 1960er, 1970er und 1980er Jahren gab es jedoch regelrechte „Jagden“ auf zuvor isoliert lebende Indigene. Vor allem Angehörige der Ayoreo, zu denen auch die Totobiegosode gehören, wurden von evangelikalen New-TribesMissionaren (auf-)gesucht und in Missionen regelrecht verschleppt. Viele Indigene starben dabei an Krankheiten. 1986 endete ein Versuch, die Totobiegosode zu kontaktieren und zu missionieren damit, dass fünf der Missionare (es handelte sich um zuvor missionierte Ayoreos) getötet wurden.144 Während es heute Bestrebungen zum Schutz von indigener Kultur und von Indigenen selbst, insbesondere von isoliert lebenden Gruppen, gibt (die wenigstens mitunter auch Erfolg haben) sowie manchmal sogar Verständnis für gewaltsame Proteste von Indigenen, wurde Überfällen von Indigenen zeitgenössisch nur äußerst selten Verständnis entgegengebracht. Die im ersten Kapitel geschilderten Ansichten Erland Nordenskiölds, Max Uhles oder Fritz Regels, dass nicht nur die vermeintliche „rassische Unterlegenheit“ Schuld am Untergang der indigenen Völker war, sondern dass dieser vor allem auf die Verdrängung durch Weiße und durch den Raubbau an der Natur zurückzuführen war, war nicht besonders weit verbreitet – oder genauer gesagt: Sie wurde von den meisten nicht verinnerlicht. Denn sogar der vielgelesene Karl May griff die Problematik des Eindringens weißer Siedler und Unternehmer in die Lebensräume indigener Gruppen im Chaco auf. Gleich zu Beginn der Erzählung In den Kordilleren, deren Handlung anfangs der 1870er Jahre spielt, erklärt Gomez (trotz seines spanischen Namens ein Angehöriger der Abipones) in einem typischen, literarisch etwas ungelenk daherkommenden Karl-May-Dialog dem Ich-Erzähler Charley: „,Wer hat uns aus unseren früheren Wohnsitzen vertrieben, so daß wir nun in den Wildnissen leben müssen, die man uns nun auch nicht länger gönnen will? Müssen wir nicht die Weißen hassen? Müssen wir uns nicht ihrer zu erwehren suchen, wenn sie immer wieder auf uns eindringen, so daß wir nicht einmal im wilden Chaco in Ruhe gelassen werden?‘ ‚Sie mögen nicht unrecht haben. Ich gebe zu, daß Sie erbittert sein müssen. […]‘ […]

143 May, Am Rio de la Plata, S. 169. 144 Vgl. Weiss, Gefährdete Ureinwohner Paraguays und allgemein zum Volk der Ayoreo Bessire, Behold the Black Caiman oder die Website von Survival International, http:// www.survivalinternational.org/tribes/ayoreo [26.08.2018].

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‚Sie wollen in unserem Gebiet wohnen, wollen hier Yerba suchen und die Wälder niederschlagen, die uns gehören und ohne die wir nicht leben können. Ist das nicht Überfall? Haben sie uns um Erlaubnis gefragt? Werden sie uns bezahlen, was sie uns nehmen, den Fluß, die Wälder, die Yerba? Nein! Aber wenn wir uns gegen diesen Raub sträuben, so greifen sie zu den Waffen und wenden Gewalt an. Wie viele von uns dabei getötet werden, – das erzählen sie nicht. Und wenn sie je davon sprechen, so rühmen sie sich dessen. Habe ich recht oder nicht, Señor?‘ Ich zögerte mit der Antwort, denn ich konnte ihm nicht unrecht geben. Er aber sprach weiter: ‚Wenn Sie also von Raub und Mord sprechen, so klagen Sie die Weißen an, aber nicht uns. Denn diese sind die Angreifer, während wir uns nur verteidigen. […] Vergleichen Sie den Schaden, den wir durch die Weißen erlitten, mit den Verlusten, die sie uns zufügten! Sie werden zu der Erkenntnis kommen, daß wir sehr im Nachteil sind!‘ ‚Da berühren Sie ein eigenartiges Thema. Vermutlich ahnen Sie nicht, welchen Schaden die Indianer allein in den La-Plata-Staaten anrichten: während der letzten fünfzig Jahre haben sie ungefähr elf Millionen Rinder, zwei Millionen Pferde und ebenso viele Schafe gestohlen. Dabei sind dreitausend Häuser zerstört und fünfzigtausend Menschen getötet worden.‘ ‚Und das glauben Sie, Señor?‘ ‚Ich muß es allerdings glauben, denn es ist berechnet worden!‘ ‚Das haben die Indianer nicht getan. Die Weißen sind die größten Spitzbuben. Was sie selbst tun, dessen klagen sie uns an. Wenn ein Weißer Pferde stiehlt, so sind wir es gewesen. Wenn ein Weißer den andern ermordet, so sind wir die Mörder. Die Hälfte, wenigstens die Hälfte von dem, was Sie sagten, haben Weiße verschuldet. Und wenn diese Leute an ihren eigenen Genossen so handeln, wie mögen sie sich da erst gegen uns verhalten! Nein, Señor, was Sie da vorbringen, spricht mehr zu unseren Gunsten als zu unserem Schaden.‘ ‚Hm. Ich hörte allerdings schon Ähnliches.‘ ‚Man hat Ihnen die Wahrheit gesagt. Und selbst wenn die Zahlen, die Sie vorhin brachten, die volle Wahrheit enthielten, so wäre der Schaden, den die Weißen uns verursachten, doch viel größer. Das ganze Land gehörte uns. Was darauf lebt und wächst, ist also unser Eigentum. Wenn ich mir ein Rind, ein Pferd fange, so stehle ich nicht, sondern nehme nur das, was mir gehört.‘ So sagen alle südamerikanischen Indianer. Sie sind überzeugt, völlig in ihrem Recht zu sein, und niemand kann das Gegenteil beweisen. Wenn sie einmal von dem Grundsatz ausgehen, die rechtmäßigen Herren des Landes zu sein, dann hilft keine Überredungskunst gegen die daraus gezogenen Schlüsse. ‚Schweigen wir lieber‘, sagte ich. ‚Keiner von uns beiden kann dem Schicksal der Eingeborenen eine andere Richtung geben. […]‘“145

Denn klar wird bei Karl May auch: „Es war wieder die alte Streitfrage gewesen, die Streitfrage über die Berechtigung der weißen Rasse, die rote von der Erde zu verdrängen. Der Weiße versprach Liebe und Frieden und gab Haß und Blut. Der Rote muß weichen, Schritt um Schritt, immer weiter zurück, aber er wird sich wehren, bis der letzte von ihnen dem Andrängen der Fremden zum Opfer gefallen ist. Der Rote kämpft um sein gutes Recht, aber vergeblich, er ist ein sterbender Mann.“ 146

145 May, In den Kordilleren, S. 11-13. 146 May, In den Kordilleren, S. 15.

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Das differenzierte Bild, das indigene Überfälle wenn auch nicht unbedingt rechtfertigte, so doch zumindest rational nachvollziehbar machte, war vielen vielleicht zu anstrengend. Sich gefährliche, wilde, barbarische, blutrünstige, aufgrund ihrer „Rassenmerkmale“ kriegerisch und bestialisch handelnde Indigene vorzustellen, die gar nicht anders konnten, war vermutlich einfacher – und für die eigene, weiße, europäische, zivilisierte Identitätskonstruktion, die auf othering beruhte, auch sicher attraktiver. Durch nichts zu rechtfertigen war es beispielsweise, wenn wilde Banden von Indigenen Überfälle begingen und dabei weiße Frauen erbeuteten, die dann als Gefangene, Sklavinnen beim Stamm leben mussten und – ganz sicher, waren doch indigene Frauen fast immer hässlich, besonders im Vergleich zu weißen Frauen – sexuell missbraucht und zwangsweise mit einem „Wilden“ verheiratet wurden. Hier gab es nichts zu verstehen oder zu erklären. Hier wurde einfach die ganze Schlechtigkeit einer indigenen „Rasse“ deutlich, die bloß verabscheuungswürdig war und die eine Gefahr darstellte, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen galt, wenn nicht das eigene Überleben oder zumindest Wohlergehen gefährdet werden sollte. Zudem war es eine Frage der männlichen, bürgerlichen, nationalen und/oder weißen Ehre, die Überlegenheit der weißen „Rasse“ und der Nation mit aller Härte zu demonstrieren. Das Motiv der cautiva (span. für Gefangene) war im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem in Argentinien, aber auch darüber hinaus, sehr geläufig. 147 Allerdings wurde es fast ausschließlich in Texten verbreitet. Der prägendste ist vermutlich die 1837 veröffentlichte Dichtung La Cautiva des Argentiniers Esteban Echeverría (mit vollem Namen José Esteban Antonio Echeverría Espinosa, 1805-1851), Mitglied der sogenannten Generación del 37 und einer der bedeutendsten romantischen Schriftsteller Lateinamerikas.148 Fotografische Bilder konnte es von verschleppten Frauen, die von Indigenen gefangen gehalten wurden, ja auch schlechterdings nicht geben. So mussten sich die Menschen das Aussehen der cautiva vorstellen; neben den Texten halfen dabei Gemälde und Zeichnungen der Fantasie auf die Sprünge. Am bekanntesten sind unter den Gemälden sicher die Bilder La vuelta del Malón (1892) des argentinischen Malers Ángel Della Valle (1852-1903), La Cautiva (1880) des aus Montevideo stammenden Juan Manuel Blanes (1830-1901) und El Malón (1845) von Johann Moritz Rugendas.149 Rugendas beschäftigte sich auch in etlichen weiteren Ge-

147 Vgl. z.B. Rotker, Captive Women oder knapp Giordano, Nación e identidad, S. 12851288. Das Motiv lässt sich bis in die Kolonialzeit zurückverfolgen. Und auch in vorkolonialer Zeit war etwa bei den Azteken der Raub von Frauen der besiegten Völker verbreitet. Vgl. Potthast, Von Müttern und Machos, S. 16. 148 Vgl. Echevarría, La cautiva. Für die bis heute andauernde Präsenz des mythischen Motivs, mit dem sich mittlerweile auch kritisch auseinandergesetzt wird, vgl. z.B. den Roman von Aira, Ema, la cautiva. 149 Vgl. Ángel Della Valle: La vuelta del malón, 1892, Öl auf Leinwand, 192 x 131 cm, Museo Nacional de Bellas Artes, Buenos Aires, Digitalisat auf der Website Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%C3%81ngel_DELLA_Valle_-_La_vue lta_del_mal%C3%B3n_-_Google_Art_Project_%28cropped%29.jpg [26.08.2018], Juan Manuel Blanes: La cautiva, 1880, Öl auf Leinwand, 46 x 71 cm, Colección de Arte Amalia Lacroze de Fortabat, Buenos Aires, Digitalisat auf der Website Biblioteca virtual Miguel de Cervantes, http://www.cervantesvirtual.com/portales/esteban_echeverria/imagen_

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mälden sowie in einem aus 24 Zeichnungen bestehenden Album mit dem Motiv der cautiva.150 Allerdings werden diese Bilder im Untersuchungszeitraum nur ein begrenztes Publikum im Deutschen Reich gehabt haben – so sie denn überhaupt nach Europa gelangten (bei den drei oben erwähnten Gemälden beispielsweise war das nicht der Fall). Sie bezogen sich auf (später ausführlicher behandelte) Überfälle von Indigenen in Patagonien. Das Motiv der cautiva war Menschen im Deutschen Reich jedoch durch die Werke Karl Mays und anderer Abenteuerschriftsteller bekannt. Allerdings stand hier die Erpressung von Lösegeld im Vordergrund. May brachte in seinen Werken sogar ein gewisses Verständnis dafür auf. So fragt Charley in dem bereits erwähnten Gespräch mit Gomez: „,Aber verteidigt man sich durch die Entführung von Frauen und Mädchen?‘ ‚Ja, wenn einem sonst kein Mittel bleibt.‘ ‚Sie haben andere Mittel: Ihre Waffen.‘ ‚Das können Sie sagen, weil Sie fremd im Land sind. Die Weißen haben Feuerwaffen, wir aber besitzen nur Spieße und Pfeile, mit denen wir gegen sie unterliegen müssen. Folglich sind wir bestrebt, auch Gewehre zu erhalten. Kaufen können wir sie uns nicht, denn wir haben kein Geld. Die Weißen nahmen uns das gute Land, so daß wir weder Estanzias noch Ranchos besitzen. Wir können uns nichts verdienen. Darum nehmen wir, wenn sich uns die Gelegenheit bietet, die Frauen und Töchter der Weißen gefangen und geben sie gegen Lösegeld zurück, wofür wir uns dann kaufen, was wir brauchen.‘ ‚Aber die Männer und Knaben tötet ihr bei solchen Gelegenheiten!‘ ‚Sollen wir sie leben lassen? Sie würden uns bei der nächsten Veranlassung umbringen! Wir können uns nur so verteidigen. […]‘“151

la_cautiva/imagen/imagen_la_cautiva_la_cautiva_blanes_1880 [26.08.2018] und Johann Moritz Rugendas: El Malón (auch: Raub der Frauen), 1845, Öl auf Leinwand, 36,5 x 44,5 cm, Museo Nacional de Bellas Artes de Chile, Santiago, Digitalisat auf der Website Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:RaptodeDo%C3%B1ari nidadSalcedo.jpg [26.08.2018]. 150 Zu den Bildern gehören u.a. El regreso de la cautiva, 1845, Öl auf Leinwand, 78 x 95,5 cm, Sammlung Bonifacio del Carril, Buenos Aires; El rapto de la cautiva, um 1848, Öl auf Leinwand, Privatbesitz, Ibero-Amerikanisches Institut, Berlin; El rescate de una cautiva (auch: Der Raub), um 1848, Öl auf Leinwand, 80,8 x 104 cm, Augsburg, Kunstsammlungen und Museen, Graphische Sammlung und El rapto de Trinidad Salcedo: Araucano con una cautiva en el bosque, um 1848, Öl auf Leinwand, 51 x 43 cm. Vgl. Delfín Guillaumin, El tema del cautiverio; Ibero-Amerikanisches Institut, „... und hüten Sie sich vor Chili.“ und Telesca, Rugendas, Juan Mauricio sowie nicht nur zu Rugendas, sondern auch zu Della Valle und Blanes Vázquez, Entre el arte y la política. 151 May, In den Kordilleren, S. 12. Vgl. auch ders., Das Vermächtnis des Inka, S. 102. Auch bei Franz Donat taucht das Motiv der cautiva auf. Allerdings verliebt sich hier die geraubte weiße Frau in den Wilden, der ihretwegen unter Weiße geht. Vgl. Donat, An Lagerfeuern deutscher Vagabunden, S. 71.

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Gleichzeitig überschnitt sich der Topos der von Indigenen entführten weißen Frau mit ähnlichen, in Europa sehr populären orientalistischen Narrativen wie etwa dem der Entführung weißer Frauen durch „Eingeborene“ in den Kolonien oder durch arabische Sklavenjäger und Piraten. Die Vorstellung von der weißen Sklavin im orientalischen Harem war sehr geläufig. Dieses und ähnliche Motive finden sich in vielen Darstellungen der orientalistischen Malerei, so etwa bei Delacroix, Kandinsky oder Benjamin-Constant.152 Die Erotik, die diesen Bildern innewohnt, findet sich auch im argentinischen cautiva-Motiv.153 Aufgrund eingeübter Gewohnheiten in der Rezeption dürften sich die Bilder in der europäischen Imagination überlagert und ergänzt haben. Das Motiv der gefährdeten weißen Frau war also kennzeichnend auch für rassistische Vorstellungen von südamerikanischen Indigenen, nicht nur für Rassismus gegenüber Schwarzen, die im Kolonial- und „Rassendiskurs“ als sexuelle Bedrohung konstruiert wurden.154 Allerdings war genau diese Vorstellung von schwarzen Männern als sexuelle Gefahr für weiße Frauen auch in Bezug auf Südamerika wirkmächtig: Peter August Staller schilderte in seiner Erzählung Zwei Deutsche im Urwald wie Anna, die heranwachsende Tochter eines deutschen Schwarzbrenners am brasilianischen Ufer des Rio Uruguay, eine sexuelle Beziehung zu einem Mulatten eingeht – sehr zum Schrecken des weißen deutschen Ich-Erzählers, der selbst ein Auge auf Anna geworfen hatte, und sicher auch zum Schrecken der Leserinnen und Leser. 155 Üblicherweise waren weiße Frauen in Südamerika allerdings eher durch Prostitution gefährdet. Mindestens theoretisch bestand auf diesem Weg auch die Möglichkeit, dass schwarze oder indigene Männer in sexueller Hinsicht über weiße Frauen verfügten. Wirtschaftliche Not zwang besonders in den Krisenzeiten nach dem Ersten Weltkrieg auch europäische Einwanderinnen, etwa in Buenos Aires, sich zu prostitu-

152 Vgl. z.B. Jean-Joseph Benjamin-Constant, La Favorite de l'émir, 1879, Öl auf Leinwand, 142,24 x 220,98 cm, National Gallery of Art, Washington, D.C., Digitalisat auf der Website Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1879_Benjamin-Co nstant_-_Favorite_of_the_Emir.jpg [26.08.2018]. S. auch Kap. 2, FN 190. 153 Vgl. neben den erwähnten Arbeiten auch Malosetti Costa, El rapto de cautivas blancas. 154 Besonders deutlich wird das in der Kampagne der „Schwarzen Schmach am Rhein“, die sich besonders zu Beginn der 1920er Jahre gegen den Einsatz französischer Kolonialtruppen während der alliierten Besetzung des Rheinlandes richtete. Vgl. z.B. Koller, „Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt“ oder knapp El-Tayeb, Schwarze Deutsche, S. 158-171. Vgl. allgemeiner zur Vorstellung des bedrohten Europäers auch Dinkel et al., „Murder of a European“. 155 Vgl. Staller, Zwei Deutsche im Urwald, S. 19-23. Auch auf dem Deutschen Kolonialkongress 1902 in Berlin stellte der Mediziner A. Siegmund besorgt fest, dass in Gegenden, in denen die Deutschen in „buntester Mischung“ mit Brasilianern und Angehörigen anderen Nationalitäten lebten, namentlich in Barão do Triunfo, einer Gemeinde in Rio Grande do Sul, besonders unter den Mädchen „die Sitte und Sittlichkeit […] in bedauerlichster Weise [schwindet]“. Diskussionsbeitrag von A. Siegmund in Staudinger (Hg.), Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1902, S. 671.

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ieren.156 Zudem gab es ein transatlantisches Netzwerk der Zwangsprostitution über das, verbunden mit dem Namen der Organisation Zwi Migdal, Tausende Frauen aus Osteuropa, die meisten waren jüdischen Glaubens, nach Südamerika, auch hier v.a. nach Buenos Aires, aber auch nach Rio de Janeiro sowie nach Montevideo, gelangten. Es gibt Schätzungen, wonach Zwi Migdal in Buenos Aires Ende der 1920er Jahre mehr als 2.000 Bordelle betrieb und dass um die Jahrhundertwende fast ein Viertel aller eingetragenen Prostituierten in Buenos Aires Jüdinnen waren, 4.000 an der Zahl; im Hafen von Rio de Janeiro sollen von 1867 bis 1900 jährlich im Schnitt weit über 500 jüdische Prostituierte von Bord der aus Europa kommenden Schiffe gegangen sein.157 „Das Phänomen des transkontinentalen Frauenhandels und der Prostitution, der trata de blancas, wurde bereits seit der Jahrhundertwende öffentlich diskutiert. Damals erreichte eine internationale Kampagne gegen White Slavery und White Slave Trade ihren Höhepunkt, die ihren Fluchtpunkt in den von der Abolitionimusdiskussion angestoßenen Menschenrechtsforderungen hatte. Die begriffliche Gleichsetzung des von ‚Weißen‘ betriebenen Sexgewerbes mit der Sklaverei zielte darauf ab, die weltweite Ablehnung der Sklaverei auf die Prostitution zu übertragen, eine Debatte mit rationalen Argumenten zu vermeiden und den öffentlichen Druck für restriktive Maßnahmen zu erhöhen. In Europa, den USA und Lateinamerika bildeten sich zahlreiche Organisationen zur Unterbindung der ‚weißen Sklaverei‘.“ 158

Der transnationale Diskurs über Prostitution und Frauenhandel in Südamerika war einer sehr breiten Öffentlichkeit bekannt. Auch Kurt Tucholsky schrieb 1927 in der Weltbühne über das Thema, das durch die in dem Jahr erschienene Reportage Le chemin de Buenos Aires: La traite des blanches von Albert Londres (1884-1932) viel Aufmerksamkeit erfuhr.159 Ein Jahr später erschien das Werk u.a. in deutscher Über-

156 Zur Prostitution in Buenos Aires, Rio de Janeiro und andernorts in Südamerika s. auch Kap. 2. Für das britische Kolonialreich vgl. Fischer-Tiné, “White Women Degrading Themselves to the Lowest Depths”. 157 Vgl. zu diesem ausführlich untersuchten Phänomen z.B. Fischer, Der Weg nach Buenos Aires; ders., Frauenhandel und Prostitution; Glickman, The Jewish White Slave Trade; Guy, Sex and Danger in Buenos Aires; dies., White Slavery, Public Health, and the Socialist Position on Legalized Prostitution in Argentina und für Brasilien Kushnir, Baile de máscaras, Mulheres Judias e Prostituição sowie knapp auch Eisenbürger, Doppelt ausgegrenzt oder Peteranderl, Jüdische Prostitution in Südamerika. Vgl. zum Frauenund Mädchenhandel außerdem Hepke, „Amerikas schönste Geliebte“ und allgemeiner auch den Ausstellungskatalog von Stratenwerth, Der Gelbe Schein sowie für die Situation in England z.B. den Artikel über die 1885 in der Folge des im vorigen Kapitel untersuchten Skandals um Kinderprostitution gegründete National Vigilance Association von Attwood, Stopping the Traffic. 158 Fischer, Frauenhandel und Prostitution – das Beispiel Buenos Aires, S. 231-232. 159 Allerdings setzte sich Tucholsky sehr kritisch mit dem Buch von Londres auseinander. Vgl. Tucholsky, Mädchenhandel in Buenos Aires sowie Londres, Le chemin de BuenosAires. Vgl. zum „transnationalen Diskurs über Prostitution und Frauenhandel“ auch Tschurenev et al., Einleitung: Sittlichkeitsreform, Biopolitik und Globalisierung, S. 13.

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setzung. Tatsächlich betont die neuere Forschung jedoch, dass es sich bei der white slavery eher um einen Mythos handele und es nur wenige bewiesene Fälle von weißen Sklavinnen gebe.160 Die populäre Vorstellung von der weißen Sexsklavin war nicht nur ein Moment und ein Ausdruck der Angst vor der Degeneration der weißen „Rasse“, es handelte sich auch um die Umkehrung der Vorstellung von der immerwährenden sexuellen Verfügbarkeit indigener Frauen. Das Bild der von Indigenen (oder Afrikanern oder Arabern) entführten und sexuell bedrohten weißen Frau stand somit in einem reziproken Verhältnis zu Bildern von (halb-)nackten indigenen (oder afrikanischen oder orientalischen) Frauen, wie sie im vorigen Kapitel untersucht wurden. Gleichfalls wurde im vorigen Kapitel bereits dargelegt, dass „interrassische“ Beziehungen sowohl mit Sexualität als auch mit Gewalt verbunden und entsprechend markiert waren. Während der vermeintliche zügellose sexuelle Appetit und die sexuelle Verfügbarkeit von indigenen Frauen und Männern in der „Natürlichkeit“ der „Rasse“ begründet war, wurde die Gewalt gegen südamerikanische Indigene mit ihrer Gefährlichkeit begründet: Indigene stellten vielerorts eine Bedrohung für die Zivilisation und für weiße Frauen (und Männer) dar oder zumindest ein Hemmnis für den Fortschritt und somit für die Entwicklung und Entfaltung der Nation. Dafür gab es massenhaft visuelle Belege. Sie verdeutlichten, dass frühere Kriege, Eroberungsfeldzüge und andere Militäraktionen gegen Indigene nicht nur legitim, sondern sogar notwendig waren. Das galt auch für gegenwärtige und etwaige zukünftige Gewalt gegen Indigene. Und noch heute kommt, wie oben kurz angesprochen wurde, diese Argumentation zum Tragen: Das vermeintliche Partikularinteresse einzelner indigener Gruppen, die z.B. auf nicht durch Quecksilber oder anderweitig verseuchtes Wasser bestehen, hat demnach hinter den angeblich nationalen Interessen, z.B. dem Rohstoffexport durch multinationale Konzerne, zurückzustehen. Wenn nötig, wird dazu auch heute Gewalt angewendet. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert kam es nicht nur, aber besonders in den Gebieten, wo noch als „wild“ und „gefährlich“ markierte Indigene lebten, zu gewaltsamen Konflikten in besonderer Intensität und von größerer Dimension. Das betraf v.a. Gebiete, die von wirtschaftlichem Interesse waren (z.B. für die Rohstoffgewinnung oder die Landwirtschaft), und/oder solche Territorien, die noch nicht staatlich kontrolliert waren. Gewaltsame Konflikte zwischen Indigenen und Weißen oder Mestizen gab es z.B. im peruanischen Altiplano immer wieder, besonders wenn Großgrundbesitzer sich Land von Indigenen aneigneten.161 Im Unterschied zu den oben beschriebenen Fällen aus dem Amazonasgebiet oder dem Chaco wurden die Indigenen in den peruanischen Anden allerdings nicht als gefährlich dargestellt. Da sie bereits seit der Kolonialzeit unterdrückt wurden, bedurfte es anscheinend keiner weiteren (visuellen) Legitimation, um sie zu enteignen, zu entrechten und auszubeuten. Das war im Fall der militärischen Gewalt gegen Indigene in Argentinien und Chile sowie im Fall der „Indianerjagden“ im Amazonasgebiet oder in Patagonien anders.

160 Vgl. Chaumont, Le mythe de la traite des Blanches oder Heerma van Voss, The Worst Class of Workers, bes. S. 156. 161 Vgl. z.B. Jacobsen, Mirages of Transition.

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BLICKE IN DIE VERGANGENHEIT IV ODER VOM VERSCHWINDEN: BESIEGTE INDIGENE Die „Eroberung der Wüste“ Die bereits mehrfach angesprochene und in der Forschung stark beachtete conquista del desierto (auch campaña al desierto) war ein 1878-1880 durchgeführter Kriegszug der argentinischen Armee gegen die indigene Bevölkerung im Süden des Landes. Angeführt vom General und späteren Präsidenten Julio Argentino Roca (1843-1914) sollten zuvor nicht staatlich kontrollierte Gebiete der Pampa und Patagoniens endgültig in das nationale Territorium integriert werden. Die „Wüstenkampagne“ stellte dabei den Höhe- und im argentinischen Süden auch den Schlusspunkt einer ganzen Reihe von Militärexpeditionen dar: Bereits seit den 1820er Jahren wurde die indigene Bevölkerung Patagoniens und der Pampa im Zuge der Grenzkolonisation von den Truppen der „argentinischen Nation“ bekämpft – und schließlich vernichtet.162 Wegen der gesteigerten Nachfrage nach Getreide aber auch für die wegen der Einwanderung aus Europa schnell wachsende Bevölkerung Argentiniens, die sich vor allem in Buenos Aires ballte, sollten neue Siedlungsgebiete zunächst „befriedet“ und dann infrastrukturell erschlossen werden. Dies geschah nicht nur im Interesse der Siedler; es war auch bzw. sogar vor allem im nationalen Interesse, das vom Staat beanspruchte Territorium effektiv unter Kontrolle zu bringen und staatlich zu durchdringen („gobernar es popular“) sowie die dort lebende indigene Bevölkerung in wirtschaftlicher Hinsicht kapitalistischen Produktionsmodi zu unterwerfen. 163 Überfälle von Indigenen (malón) mussten dazu zunächst endgültig unterbunden werden. 1859 etwa hatten mehrere Tausend indigene Krieger des longko (oder lonco, Mapucheführer) Juan Calfucurá (1770er-1873) Bahía Blanca sowie 1872 die Siedlungen General Alvear, Veinticinco de Mayo und Nueve de Julio überfallen und dabei mehrere Hundert Siedler getötet und Hunderttausende Stück Vieh erbeutet, die sie auf chilenisches Territorium trieben.164 Darüber hinaus gab es Befürchtungen, die widerständigen Indigenen könnten im Falle eines bewaffneten Konfliktes mit Chile, dessen Regierungen ebenfalls Gebietsansprüche in Patagonien erhoben, das Nachbarland unterstützen. So wurde 1879 während des „Wüstenfeldzuges“ auch eine wissenschaftliche

162 Vgl. zum Begriff Grenzkolonisation einführend Osterhammel/Jansen, Kolonialismus: Geschichte, Formen, Folgen, S. 10-11 und den knappen Überblick zur conquista del desierto bei Carreras/Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens, S. 95-102 oder Riekenberg, Kleine Geschichte Argentiniens, bes. S. 104-105 sowie den Dokumentarfilm Awka Liwen, Film von Mariano Aiello, Kristina Hille und Osvaldo Bayer (Produktion: Mariano Aiello, Vertrieb: Macanudo Films, Argentinien 2010). 163 Armee, Siedler/Grundbesitzer und Kirche würden aus unproduktiven „Wilden“ produktive Arbeitskräfte machen und einem Dreiklang der Kontrolle von Land, Arbeit und Geld unterwerfen, so Andermann, The Optic of the State, S. 171-172. 164 In den 1870er Jahren wurde deshalb zunächst eine 56.000 Kilometer lange Befestigungslinie errichtet, die nach dem Kriegsminister Adolfo Alsina Maza (1829-1877) benannte Zanja de Alsina. Die bildhafte Woge der barbarischen Indigenen vermochte sie aber nicht aufzuhalten. Vgl. z.B. Andermann, The Optic of the State, S. 164-165.

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Expedition zur Bestimmung und Vermessung der Grenze durchgeführt; die Leitung hatte Francisco P. Moreno, der Leiter des Museo de La Plata. 1881 unterzeichneten der chilenische Generalkonsul und der argentinische Außenminister in Buenos Aires den Grenzvertrag zwischen beiden Ländern, der bis heute Bestand hat. 165 Das bei der „Eroberung der Wüste“ verfolgte Ziel der internen oder inneren Kolonisierung war aber kein genuin argentinisches. Die Kolonisierung von frontierRegionen ereignete sich ähnlich auch in Nordamerika oder in Russland. 166 Der Vorstellung oder der Behauptung nach wurde dabei jungfräuliches, leeres, wüstes und/oder lediglich von Barbaren bewohntes Land von Menschen in Besitz genommen, die es (mehr) verdienten, weil sie das Land im Gegensatz zu seinen etwaigen früheren Bewohnern bewirtschafteten und es sich damit rechtmäßig aneigneten oder ganz einfach weil sie Angehörige einer überlegenen „Rasse“ waren. (Mitunter kam eine religiöse Rechtfertigung hinzu, nämlich dass Gott solches vorgesehen habe.) Wie Michael Riekenberg gezeigt hat, stammt die Idee, bei weiten Teilen Argentiniens handele es sich um „Wüste“, zumindest in zivilisatorischer Hinsicht, schon aus der Kolonialzeit. Auch in Europa wurde diese Vorstellung bekannt: Charles Darwin (1809-1882), der mit der HMS Beagle unter Kapitän Robert FitzRoy 1832 nach Patagonien kam, etwa hatte geschrieben, der „Fluch der Unfruchtbarkeit“ liege über dem Land.167 Der Auswanderer und Schriftsteller Otto Schreiber wählte als Sinnbild für die „Wüste“ Patagoniens, deren Unwirtlichkeit, Traurigkeit, Leere und Ödnis er in seiner 1928 erschienenen autobiografischen Erzählung Im Schatten des Calafate eindrücklich beschrieb, den Calafate, einen niedrigen Dornbusch.168 Jedoch war auch die Idee der zu kolonisierenden und zu zivilisierenden Wüste, wo barbarische „Eingeborene“ hausten, kein argentinisches Spezifikum. Alexis de Tocqueville (1805-1859) schrieb in seinem vielbeachteten Werk Ueber die Demokratie in Nordamerika: „Obgleich das große eben beschriebene Land von zahlreichen eingebornen Stämmen Eingeborener bewohnt wurde, so kann man doch mit Wahrheit behaupten, daß es zur Zeit der Entdeckung nur noch eine Wüste bildete. Die Indianer bewohnten solches, besaßen es aber nicht. Erst durch den Ackerbau eignet sich der Mensch den Boden zu, und die vorgefundenen Einwohner Nordamerika’s lebten von dem, was die Jagd lieferte. Ihre unversöhnlichen Vorurtheile, ihre unzähmbaren Leidenschaften, ihre Laster, und vielleicht noch mehr ihre wilden Tugenden, überlieferten solche einer unvermeidlichen Vernichtung. Der Untergang dieser Völker be-

165 Vgl. Perry, Argentina and Chile: The Struggle for Patagonia sowie den Tratado de límites entre Chile y Argentina 1881, Wikisource, https://es.wikisource.org/wiki/Tratado_de_ l%C3%ADmites_entre_Chile_y_Argentina_1881 [26.08.2018]. 166 Vgl. Ėtkind, Internal Colonization und zur Kontinuität des Phänomens in Russland/in der UdSSR Loring, “Colonizers with Party Cards”. 167 Darwin, Naturwissenschaftliche Reisen 1, S. 210. Vgl. außerdem z.B. Riekenberg, Of Vague War and Vague Peace und Navarro Flora, El desierto y la cuestión del territorio sowie Penhos, Textos e imágenes del extremo sur de América. 168 Vgl. Schreiber, Im Schatten des Calafate, bes. S. 12-13.

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gann mit dem Landungstage der Europäer in Nordamerika, er wurde immer fortgesetzt und scheint in unsern Tagen sich zu vollenden.“169

Die argentinische „Eroberung der Wüste“ wurde, wie erwähnt, auch visualisiert. Roca brachte sozusagen die Wüste in die Stadt, denn die „Wüstenkampagne“ war zugleich eine Medienkampagne. Im Zuge der medialen und wissenschaftlichen Begleitung des Feldzugs entstanden während und nach der Kampagne auch zahlreiche Fotografien, die z.T. auch außerhalb der Wissenschaft zu kommerziellen oder politischen Zwecken genutzt wurden.170 Zu den beteiligten Fotografen gehörten beispielsweise der Italiener Antonio Pozzo (1829-1910), der auch das bekannte Foto des Kaziken Pincén aufgenommen hatte, und Pedro Morelli, von dem die Bilder in den bekannten Alben der Ingenieure Carlos Encina (1838-1882) und Edgardo Moreno (Lebensdaten unbekannt) stammen; verbreitet wurden sie außerdem etwa durch den 1881 zuerst erschienenen Bericht Viaje al país de los araucanos: Descripción amena de la República Argentina des Politikers, Intellektuellen und Publizisten Estanislao Severo Zeballos (1854-1923).171 Die Fotografien zirkulierten aber offenbar nicht im Deutschen Reich. Dort bekamen die Menschen in der Regel nur mittelbar Bilder der „Eroberung der Wüste“ und anderer Feldzüge zu sehen: solche von unterlegenen Indigenen, wie sie im Verlauf der Arbeit mehrfach vorgestellt wurden, und (seltener) Fotografien etwa von militärischen Paraden oder militärischer Infrastruktur sowie von der infrastrukturellen und wirtschaftlichen Erschließung des Territoriums. 172 Bei der nachfolgend abgebildeten Ansicht von unterlegenen Indigenen handelte es sich jedoch tatsächlich um Mapuche-Frauen aus dem Süden Chiles (Abb. 134). Da die besiegten Indigenen im Süden Argentiniens denen im Nachbarland in ihrer Unterlegenheit jedoch sehr ähnlich waren (auch die Mapuche in Chile waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Armee besiegt worden, dazu im Folgenden

169 Tocqueville, Ueber die Demokratie in Nordamerika 1, S. 31-32. 170 In dem und durch das Album von Encina und Moreno beispielsweise wurden, so Martha Penhos, „paisajes salvajes“ zu „espacios naturales“. Penhos, La Patagonia entre paisaje y espacio geográfico. Vgl. außerdem Alimonda/Ferguson, La producción del desierto; Vezub, Indios y soldados; Tell, La Toma del Desierto und Masotta, Telón de fondo sowie Fiore/Butto, Violencia fotografiada y fotografías violentas. 171 Zeballos, Viaje al país de los araucanos. Vgl. weiterhin Yujnovsky, Viajeros a la sombra de Darwin, S. 79-138 und für eine Fotografie von Pozzo z.B. „El Ejército en la ribera del Río Negro“ (1879), auf der Website Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia. org/wiki/File:Campa%C3%B1a_del_Desierto_1879.JPG [26.08.2018]. 172 Vgl. die Bildpostkarten „Vista general del puerto Militar – Bahía Blanca – República Argentina, Nr. 216“, Verlag: Jacobo Peuser, Buenos Aires, gelaufen 26.11.1911 und „Muelle de Bariloche. Nahuel Huapí, No. 3“, Verlag: Foto Hahn, Bariloche, nach 1905, ungelaufen, Sammlung von Hinnerk Onken. sowie die Fotografien „Argentinische Pampa“ von der die Prinzessin von Bayern begleitenden Hofdame, 1898, aus Therese Prinzessin von Bayern, Reisestudien aus dem westlichen Südamerika 2, S. 273 und „,Autostraße‘ bei Bariloche (Süd-Argentinien)“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre (?), aus Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, vor S. 209.

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mehr), bediente sich der unbekannte Verleger der Bildpostkarte einfach einer Fotografie des bekannten Kanadiers Odber Heffer Bissett.

Abbildung 134: Bildpostkarte „Indias Araucanas – Rep. Argentina“, Fotografie: Odber Heffer Bissett, um 1900, Verlag unbekannt, Argentinien, nach 1905, ungelaufen, Sammlung von Hinnerk Onken. Tatsächlich sind auf dem Bild Mapuche-Frauen aus dem Süden Chiles zu sehen. Da die Indigenen im Süden Argentiniens denen im Nachbarland in ihrer Unterlegenheit jedoch sehr ähnlich waren (auch die Mapuche in Chile waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Armee besiegt worden, s. dazu ausführlich weiter unten), bediente sich der unbekannte Verleger der Bildpostkarte einfach der Fotografie des bekannten Kanadiers.

Neben der fotografischen Dokumentation wurden, wie Jens Andermann in seiner Studie The Optic of the State herausgearbeitet hat, die ehemals „weißen Flecken“ auf den Landkarten zum einen kartografisch und zum anderen auch mit weiteren, künstlerischen Bildern seiner „wilden“ Bewohner gefüllt.173 Darüber hinaus wurde die „Eroberung der Wüste“ umfassend wissenschaftlich begleitet. Involviert waren u.a. Hermann Burmeister und der Schweizer Maler, Naturforscher und Archäologe Adolf Methfessel (1836-1909), der u.a. als Zeichner für das Naturhistorische Museum in La Plata arbeitete, sowie federführend dessen Direktor, Francisco P. Moreno. Im Anschluss an den Feldzug gelangten, wie erwähnt, Artefakte der materiellen Kultur, menschliche Überreste und auch lebende Indigene als Ausstellungsgegenstände in

173 Andermann analysiert zum einen Juan Manuel Blanes: Ocupación militar del Río Negro en la expedición al mando del General Julio A. Roca (auch La Conquista del Desierto), 1889, Öl auf Leinwand, 350 x 750 cm, Museo Histórico Nacional, Buenos Aires, Digitalisat auf der Website Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Ocupaci%C3%B3n_militar_del_R%C3%ADo_Negro_en_la_expedici%C3%B3n_al _mando_del_General_Julio_A._Roca.jpg [26.08.2018], zum anderen die Karte von Manuel José Olascoagas Plano del territorio de La Pampa y Río Negro (1880). Vgl. Andermann, The Optic of the State, S. 167-183.

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das Museum. Die besiegten Indigenen wurden dem städtischen, bürgerlichen Publikum präsentiert. „Damit trug das Museum als symbolischer Ausdruck des Kampfes zwischen ‚Zivilisation‘ und ‚Barbarei‘ zur Bildung der nationalen Identität Argentiniens bei.“174 Für Jens Andermann ist das Museum als der Ort, an dem sich die Zähmung des „Wilden“ manifestiert, folglich eine (institutionelle) Entsprechung der „Eroberung der Wüste“.175 Die Eroberung des Chaco Neben der Eroberung der Wüste gab es, wie ebenfalls bereits erwähnt, weitere Eroberungsfeldzüge der argentinischen Armee im Gebiet des argentinischen Chaco. Nur allmählich waren die verstärkt seit den 1870er und 1880er Jahren durchgeführten militärischen Operationen, um das Territorium unter Kontrolle zu bringen und Indigene zu bekämpfen, erfolgreich. Doch auch nachdem die Eroberung des Chaco Ende des Jahres 1917 als abgeschlossen galt (tatsächlich wurde der Chaco erst deutlich später stärker staatlich durchdrungen176), kam es zu Angriffen und Überfällen durch Indigene, wie sie etwa auch in den Werken Karl Mays beschrieben wurden. Im März 1919 überfiel eine Gruppe Indigener – vermutet wird heute, dass es sich um Makás aus dem paraguayischen Chaco Boreal handelte – die Garnison in der Festung Yunká am Pilcomayo in der heutigen argentinischen Provinz Formosa. 15 Menschen: der kommandierende Oberfeldwebel, seine Männer sowie einige Angehörige kamen ums Leben. Im Zuge der anschließenden Straf- und Vergeltungsexpedition gegen die Pilagás, die zeitgenössisch des Angriffs verdächtigt wurden, wurden mehrere Hundert Indigene getötet und ihr Kazike Garcete gefangen genommen.177 In den 1920er Jahren und auch noch später kam es im Chaco zu weiteren Massakern an der indigenen Bevölkerung, zumeist als Reaktion auf behauptete vorherige Angriffe oder Aufstände: Das Massaker von Napalpí im Juli 1924, bei dem mehrere Hundert Toba und Mocovíes getötet wurden, weil sie in einen Streik getreten waren, und dessen Zeuge Lehmann-Nitsche wurde, wurde im ersten Kapitel bereits erwähnt; im Oktober 1947 wurden beim Massaker von Rincón Bomba, ebenfalls in der Provinz Formosa, etwa 600 Pilagás von Gendarmen getötet, viele weitere wurden verhaftet und zahlreiche

174 Hoffmann/Wolff, Ethnologie Argentiniens und internationale Wissenszirkulation, S. 313314. Vgl. weiter Larson, Our Indigenous Ancestors oder Peñaloza, On Skulls, Orgies, Virgins and the Making of Patagonia as a National Territory und neben den zahlreichen bereits erwähnten Titeln zur wissenschaftlichen und fotografischen Erschließung der „Wüste“ im Anschluss an den Feldzug das Beispiel der anthropologischen Forschung bei Costilla et al., La fotografía como fuente antropológica. 175 Vgl. Andermann, The Optic of the State, S. 45-57. 176 Vgl. neben den zahlreichen bereits erwähnten Arbeiten auch Leoni/del Mar Solís Carnicer, Peronismo, diseño institucional y centralización política. 177 Vgl. Punzi, Historia de la conquista del Chaco, bes. S. 744-745 und Gordillo/Leguizamón, El Río y la Frontera, S. 39.

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Frauen vergewaltigt.178 Darüber hinaus kam es im Untersuchungszeitraum und auch noch später immer wieder zu kleineren gewaltsamen Konflikten zwischen Siedlern, Holzfällern oder anderen Unternehmern und Indigenen. Die Geschichte von Damiana, die im September 1896 in die Hände von weißen Siedlern fiel und später zur deutschen Familie Korn nach San Vicente in der Provinz Buenos Aires kam, ist ein Beispiel dafür. Die Siedler hatten eine Gruppe Guayaki, die für den Diebstahl bzw. die Tötung eines Pferdes verantwortlich sein sollte, überfallen und dabei zwei Männer und eine Frau getötet; Damiana musste vom Rest der Gruppe auf der Flucht zurückgelassen werden. – Dass Indigene im Chaco notorische Vieh- und Pferdediebe waren, konnten deutsche Leser im Übrigen nicht nur bei Karl May nachlesen, sondern später auch bei Erland Nordenskiöld, der gleich noch einen fotografischen Beleg dazu lieferte (Abb. 135): Die Fotografie zeigt eine „Ashluslayfrau auf der Wanderung. Das Pferd ist von den Weißen gestohlen.“ Allerdings rechtfertigte Nordenskiöld den Viehdiebstahl an gleicher Stelle: „Daß die Indianer zuweilen eine Kuh stehlen und schlachten, wenn der Magen leer ist, ist nicht zu verwundern. Das würde unter ähnlichen Umständen ein Weißer auch tun. Die Weißen nehmen den Indianern das Land stückweise ab, zwingen sie weit ab vom Flusse, wo kein Vieh in der Nähe ist, zu bauen, ohne den Indianern Arbeit zu geben.“ 179

Die weiße Besiedelung des Chaco war dünn – auf die Besiedelung des paraguayischen Chaco durch Mennoniten seit den 1920er Jahren wurde bereits im vorigen Kapitel eingegangen –, doch sie war als Motiv vor allem in der südamerikanischen Abenteuerliteratur, aber auch in wissenschaftlichen Arbeiten sehr präsent. Die frontier des Chaco wurde von Hans Krieg, Erland Nordenskiöld und anderen Forschern ebenso beschworen180 wie etwa in den Erzählungen Karl Mays und anderer. Wie im Falle der südlichen frontier Argentiniens wurde auch der Chaco als leere Wüste, mindestens als unwirtlich wahrgenommen; seine indigenen Bewohner galten als kulturlose Barbaren. Der argentinische Anthropologe Gastón Gordillo bringt dies mit der Bezeichnung „the void“ (das Nichts) sehr treffend zum Ausdruck. 181 Und wiederum wie im Falle der südlichen frontier handelte es sich auch bei dieser Wahrnehmung des Chaco um eine Kontinuität seit der Kolonialzeit.182 Die Metapher der Wüste war vielen deutschen Lesern durch den Namen des „Klekih-petra der Toba“ bekannt: Der Deutsche Alfred Herbst wird im Chaco El viejo Desierto genannt. Fotografische Bilder der Ödnis waren in vielen Berichten von Forschungsreisenden, wel-

178 Vgl. knapp Fedyszak, Una masacre aborigen con comprobación científica sowie den Dokumentarfilm Octubre Pilagá: Relatos sobre el silencio, Film von Valeria Mapelman (Produktion: Valeria Mapelman und Georgina Barreiro, Argentinien 2009). 179 Nordenskiöld, Indianerleben, S. 145-146, Zitat zuvor Tafel 15, nach S. 146. Vgl. auch ebd., S. 144. 180 Sicher spielten für diese – bewusst oder unbewusst – auch die Ermordungen von Guido Boggiani, Pedro Enrique de Ibarreta y Uhagon oder Jules Crevaux’ eine Rolle. 181 Vgl. Gordillo, The Void: Invisible Ruins on the Edges of Empire. 182 Vgl. Odone C., Sobre la visualidad del Chaco und dies., La práctica del chaco desde las voces coloniales.

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che die Imagination des wilden „Indianerlandes“ offenbar in vielen Fällen genauso faszinierte wie Schriftsteller und ihre Leser, zu sehen. Erland Nordenskiöld z.B. schrieb über den Besuch einer Gruppe Chané (auch Izoceños) einleitend über die karge Wildnis: „Im Mai 1908 besuchte ich, wie gesagt, den Chanehäuptling Vocapoy am Rio Itiyuro in Argentinien nahe der bolivianischen Grenze. Dies ist einer der Flüsse, der vergebens den Wildnissen des Chaco zu entrinnen sucht. Er entspringt den äußersten, urwaldbestandenen Quellen der Anden und verschwindet in den Trockenwäldern des Chaco.“183

Die wüste Landschaft konnten die Leser dann auf einem Foto von Vocapoys Dorf am Río Itiyuro (auch Río Caraparí, heute in der Provinz Salta) sehen (Abb. 136).

Abbildung 135: Fotografie „Ashluslayfrau auf der Wanderung. Das Pferd ist von den Weißen gestohlen“ von Erland Nordenskiöld, 1908/09, aus Nordenskiöld, Erland: Indianerleben: El Gran Chaco (Südamerika), übers. v. Carl Auerbach, Leipzig: Albert Bonnier, 1912 [schwed. 1910: Indianlif i el Gran Chaco (Syd-Amerika)], Tafel 15, zwischen S. 146 und 147.

183 Nordenskiöld, Indianerleben, S. 148-149.

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Abbildung 136: Fotografie „Vocapoys Dorf am Rio Itiyuro“ von Erland Nordenskiöld, 1908/09, aus Nordenskiöld, Erland: Indianerleben: El Gran Chaco (Südamerika), übers. v. Carl Auerbach, Leipzig: Albert Bonnier, 1912 [schwed. 1910: Indianlif i el Gran Chaco (SydAmerika)], Abb. 74, S. 149.

Bilder von der militärischen Seite der Eroberung, von der großdimensionalen Gewalt gegen Indigene und von ihrer physischen Vernichtung bekamen die Menschen aber auch im Fall des Chaco nur mittelbar zu sehen: unterlegene, besiegte Indigene (Abb. 137), die etwa Lebensmittel von der paraguayischen Armee empfingen (s.o. Abb. 114) oder eine Militärparade.184 Im Unterschied zur „Eroberung der Wüste“ im Süden Argentiniens betont die argentinische Anthropologin Patricia Arenas für die „Eroberung des Chaco“, dass es hier nicht (nur) um die Vernichtung der Indigenen gegangen sei, sondern in erster Linie um ihre Unterwerfung als Arbeitskräfte (Abb. 138) – deren Arbeits- und Lebensbedingungen meist miserabel waren, wie etwa der dem Massaker von Napalpí vorausgehende Streik vermuten lässt.

184 Vgl. die Bildpostkarte „Ejercito Argentino. Colegio Militar“, Fotografie und Verlag: Fot. Kohlmann, Buenos Aires, datiert 17.10.1931, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1987/461,84. Das der Karte zugrundeliegende Motiv einer Militärparade stammt zwar aus den 1920er oder frühen 1930er Jahren, allerdings endete die Eroberung des Chaco offiziell ja auch erst 1917 – und noch in den 1920er Jahren und auch danach noch gab es militärische „Operationen“, wie beispielsweise das Massaker von Napalpí.

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Abbildung 137: Fotografie „Freiheit verloren, alles verloren! Schmutzig, verlaust und von Seuchen heimgesucht wird die den Weißen hörige Sippe dieses Sanapaná bald zugrunde gehen“ von Hans Krieg (?), 1920er Jahre, aus Krieg, Hans: Menschen, die ich in der Wildnis traf (Deutsche Hausbücherei Hamburg), Stuttgart: Strecker & Schröder, 1935, nach S. 80. „Der junge Nationalstaat dehnte seine Grenzen aus. So konsolidierte sich eine landbesitzende Klasse, die sich in der Aufgabe, die pueblos originarios zu vertreiben, mit dem Militär verbündete; die Idee der Leere der Wüste des Südens und des jungfräulichen Dschungels des Nordostens diente als Legitimation, das Kreuz als Standarte. Dazu bedurfte es Maßnahmen territorialer Kontrolle, Kolonien und Missionen, die im Beichtstuhl und in der städtischen Presse als Brückenköpfe gegen eine undurchdringliche wilde Natur präsentiert wurden, was unsichtbar machte, dass es sich um bewohnte Territorien handelte. So wie die Conquista im Süden der Pampas in der Vernichtung gründete, so zielte sie im Norden auf die Unterwerfung von Arbeitskräften für die Landgüter, forstwirtschaftlichen Betriebe und Zuckerrohrpflanzungen.“185

185 „[E]l joven Estado Nación expandiera sus fronteras. Se consolidaba de tal modo una clase terrateniente aliada a un partido militar en la faena de desplazar a los pueblos originarios con la idea del vacío desierto al sur y la virginal selva al nordeste como legitimación, y la cruz como estandarte. Esa primera línea requería de dispositivos de control territorial, las colonias y misiones, presentadas ante el confesionario y la prensa citadina como cabezas de playa frente a una impenetrable naturaleza salvaje que invisibilizara territorios habita-

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Abbildung 138: Fotografie „,Zahme‘ Indianer, die in den Baumwoll-Pflanzungen arbeiten“ von Hans Schmidt, nach 1912, aus Schmidt, Hans: Meine Jagd nach dem Glück in Argentinien und Paraguay: Reise-, Arbeits-, und Jagdabenteuer, Leipzig: Voigtländer, 1921, im Anhang, S. 5.

Hinsichtlich der Bewertung der „Eroberung der Wüsten“ der Pampas, Patagoniens und des Chaco und der damit einhergehenden Vernichtung der indigenen Bevölkerung und ihrer Kultur ist die argentinische Gesellschaft heute tief gespalten. Viele, v.a. rechtsgerichtete Angehörige der Eliten begegnen der Gewalt gegen Indigene, ihrer Enteignung, Vertreibung und Vernichtung apologetisch. Besonders deutlich wird diese (mitunter) zutiefst rassistische Sicht in einem 2004 in der argentinischen Zeitung La Nación erschienenen Artikel des rechten Historikers José Juan Cresto, ehemaliger Direktor des Museo Histórico Nacional und Präsident der Academía Argentina de la Historia über die conquista del desierto und General Roca.186 In der historischen Forschung ist es dagegen mittlerweile gängig, von einem Genozid oder Ethnozid zu sprechen; verbunden ist diese Bewertung v.a. mit den Namen Walter Delrios oder Osvaldo Bayers oder auch Jens Andermanns, der die Wüstenkampagne als „ethnocide, deliberate and concerted,“ bezeichnet.187 Die Besetzung Araukaniens Auch in Chile ist der Umgang mit dem historischen Erbe des Genozids am Volk der Ona (Selk’nam) auf der feuerländischen Isla Grande und mit dem andauernden Mapuche-Konflikt kontrovers.188 dos por memorias y experiencias. Así como la conquista hacia el sur pampeano fue basada en el exterminio, en el norte se apuntó al sometimiento como mano de obra cautiva en estancias, obrajes e ingenios.“ Arenas/Pinedo, Damiana vuelve a los suyos, Übersetzung von Hinnerk Onken. 186 Vgl. Cresto, Roca y el mito del genocidio. Für weitere rechte Literatur zur „Wüstenkampagne“ vgl. Andermann, The Optic of the State, S. 227-228, FN 1. 187 Andermann, The Optic of the State, S. 161. Vgl. außerdem Delrio et al., Discussing Indigenous Genocide in Argentina und Bayer (Hg.), Julio A. Roca y el genocidio de los pueblos originarios sowie Bartolomé, Los pobladores del “desierto”. 188 Vgl. zur Situation der Mapuche im heutigen Chile z.B. Ángeles Alliende et al., Mapuche: Procesos, políticas y culturas.

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Die Mapuche (von den Spaniern zusammen mit anderen Völkern auch als Araukaner bezeichnet) konnten sich den spanischen Conquistadoren zunächst erfolgreich widersetzen, als Pedro de Valdivia (1497-1553) mit seinen Männern 1546 den Río Bío Bío erreichte. Als 1550 schließlich dennoch zunächst Concepción, wenig später Villarica und weitere Festungen gegründet worden waren, erhoben sich die Mapuche unter den toquis (Kriegshäuptlinge) Lautaro, Caupolicán und Colo Colo und schlugen Ende 1553 die spanischen Truppen. Pedro de Valdivia wurde gefangengenommen, gefoltert und getötet – der Legende nach, indem er gezwungen wurde, flüssiges Gold zu trinken. In den folgenden Jahrhunderten kam es immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen (die zusammenfassend als Arauco-Krieg bezeichnet werden) zwischen Mapuche und spanischen Kolonisatoren. Die Mapuche leisteten erbittert und letztlich erfolgreich Widerstand gegen die Eroberung ihres Landes. 189 1641 wurde den Mapuche im Vertrag von Quilín sogar Souveränität gewährt und der Río Bío Bío als Grenze ihres Territoriums festgelegt. Während des Krieges um die chilenische Unabhängigkeit konnten die Royalisten die Unterstützung von Mapuche gewinnen (andere Mapuche schlugen sich auf keine Seite oder spielten Royalisten und Patrioten in ihrem eigenen Interesse gegeneinander aus). Die irregulären und äußerst gewaltsamen Kampfhandlungen sind als Guerra a muerte (Krieg bis zum Tod) bekannt. Nach der Niederlage der spanischen Kräfte, die von Vicente Benavides Llanos (1777-1822) angeführt wurden, wurde 1825 in einem Friedensvertrag zwischen den Mapuche und der republikanischen Regierung unter dem Director Supremo Ramón Freire y Serrano (1787-1851) erneut der Bío Bío als Grenze zwischen Chile und dem weiterhin eigenständigen Araukanien festgelegt. In den folgenden Jahrzehnten kam es jedoch immer wieder und vermehrt zu Konflikten. Auch deutsche Einwanderer waren maßgeblich daran beteiligt. In den späten 1840er und in den 1850er Jahren erwarben deutsche Siedler, unter Verstoß gegen geltende Rechte, aber toleriert vom chilenischen Staat, immer mehr Land im Gebiet der Mapuche. Das Eindringen von Siedlern, darunter zahlreiche deutsche Auswanderer, war ein Grund für einen von Mañil angeführten Aufstand von Mapuche 1859. Dieser Aufstand wiederum war für die chilenische Regierung ein Anlass, das Territorium der Mapuche zu besetzen und zur Besiedlung v.a. durch Einwanderer, in erster Linie aus deutschen Ländern, der Schweiz, Italien und von den Britischen Inseln, freizugeben. Diese Entscheidung wurde bestärkt durch die „kuriose und semi-komische“ Episode der Proklamation des Königreichs Araukanien und Patagonien durch den Franzosen Orélie Antoine de Tounens (1825-1878). Er ließ sich 1860 von Mapuche, die eventuell dachten, ihre Sache würde von einem Europäer besser vertreten, zum König Orélie-Antoine I. wählen. Allerdings wurde die Angelegenheit in Chile wie in anderen Staaten wenig

189 Der Soldat und Poet Alonso de Ercilla y Zúñiga (1533-1594) bezeichnete die Kolonie auch als „Friedhof der Spanier“. Vgl. seinen Versroman La Araucana. Zur Geschichte des Widerstandes der Mapuche in der Kolonialzeit vgl. z.B. Bengoa Cabello, Historia de los antiguos mapuches del sur. Viele deutsche Autoren glorifizierten im Untersuchungszeitraum den „heldenhaften Kampf“ der chilenischen „Urbewohner“, vgl. z.B. Wedemeyer, Durch Südamerika, das Land alter und neuer Wunder, S. 30-32.

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ernst genommen und der König zunächst ignoriert, 1862 dann festgenommen und schließlich ein Jahr später nach Frankreich abgeschoben.190 Zuvor war 1860 General Cornelio Saavedra Rodríguez (1821-1891) damit beauftragt worden, die Besetzung Araukaniens – zeitgenössisch und apologetisch wurde und wird von der Befriedung (pacificación) gesprochen – vorzubereiten. Saavedras Plan sah eine Mischung aus militärischen, infrastrukturellen (Bau von Straßen, Eisenbahn, Schulen, Krankenhäusern) und diplomatischen Elementen vor. 1862 startete die Besetzung Araukaniens von Norden her mit der Gründung der Stadt Angol und der Errichtung zweier Forts; auch von Valdivia im Süden aus rückten chilenische Truppen vor. Während sie zunächst kaum auf Widerstand stießen, formierte sich dieser in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre unter dem longko Quilapán, Mañils Sohn. In der Schlacht von Traiguén wurde 1868 eine chilenische Division geschlagen. Es folgten Vernichtungsfeldzüge der chilenischen Armee. Trotz diverser Gegenoffensiven der Mapuche eroberten chilenische Truppen immer größere Gebiete; Städte und Ortschaften wurden gegründet und Eisenbahnen gebaut. Doch als 1879 der Pazifikkrieg zwischen Chile auf der einen und Bolivien und Peru auf der anderen Seite ausbrach, mussten im Süden des Landes Truppen abgezogen werden. Mehrere indigene Gruppen nutzten diese Gelegenheit und erhoben sich. Erst nachdem die chilenischen Truppen nach dem Sieg im Pazifikkrieg im Süden wieder aufgestockt wurden und nach erbarmungslosen Kämpfen, in denen Tausende Mapuche getötet wurden, konnte der Krieg Anfang der 1880er Jahre entschieden werden. Mit der Neugründung von Villarica wurde 1883 die Okkupation Araukaniens abgeschlossen. Überlebende Mapuche flohen in die Berge, wo sie auf im Zuge der conquista del desierto von der argentinischen Armee vertriebene Pehuenche und andere indigene Gruppen trafen; andere wurden vertrieben und in Reduktionen gezwungen. Ihr Land wurde an Siedler vergeben; darunter waren, wie auch im vorigen Kapitel schon geschildert, viele Deutsche.191 Auch an der weiteren Erschließung Südchiles waren Deutsche maßgeblich beteiligt: Der Geograf Hans Steffen (1865-1936) führte mehrere Expeditionen zur Erforschung und Kartografierung des Landes durch. Die dabei erworbenen Erkenntnisse trugen u.a. zur Regelung der Grenzstreitigkeiten zwischen Chile und Argentinien

190 Collier/Sater, A History of Chile, Zitat auf S. 96. Vgl. auch die Dissertation von Müther, Orélie-Antoine I., König von Araukanien und Patagonien oder Nouvelle France. 191 Vgl. zur Besetzung Araukaniens und zur Geschichte des Widerstandes der Mapuche z.B. Bengoa Cabello, Historia del pueblo mapuche oder Pinto Rodríguez, La formación del estado y la nación, y el pueblo mapuche und ders. (Hg.), Modernización, inmigración y mundo indígena sowie die Überblickswerke von Rinke, Kleine Geschichte Chiles oder Collier/Sater, A History of Chile. Einen guten Überblick liefert auch die Website des Projektes Memoria chilena der Biblioteca Nacional de Chile, http://www.memoriachilena.cl/ 602/w3-article-3630.html [26.08.2018]. Vgl. außerdem zahlreiche Studien zu einzelnen Aspekten, etwa den der kartografischen Veränderungen bei González Leiva/Bernedo Pinto, Cartografía de la transformación de un territorio; für die ökonomische Marginalisierung von Mapuche Flores Chávez, La ocupación de la Araucanía oder zur Rolle deutscher und anderer Siedler in der Region z.B. Brahm G., La Consolidación de una Colonia en la Patagonia Occidental oder Bernedo Pinto, Los industriales alemanes de Valdivia.

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bei.192 Eine weitere bekannte Persönlichkeit war der aus Schlesien stammende Kapitän Herrmann Eberhard. Dieser nutzte in den 1890er Jahren am Última EsperanzaSund in der Nähe des heutigen Nationalparks Torres del Paine zehntausende Hektar Land, die er von der Regierung erhalten hatte, zur Schafzucht. Eberhard war einer der Pioniere der Besiedelung des äußersten Südens Chiles; ihm zu Ehren ist der Eberhard-Fjord benannt. Bekannt wurde Eberhard, der auch deutscher Konsul im argentinischen Río Gallegos war, v.a. durch die im vorigen Kapitel erwähnte Entdeckung von Resten eines Mylodons bei Puerto Natales im Jahr 1895. Während die Privatisierung des Landes seine Regierbarkeit ermöglichte, war der Bau von Eisenbahnen das Symbol der infrastrukturellen Eroberung Araukaniens (Abb. 139). Die Eisenbahn repräsentierte (und ermöglichte die weitere) Modernisierung und Fortschritt in besonderem Maße. Wie im Fall der argentinischen „Eroberung der Wüste“ kann auch in Bezug auf die Expansion Chiles im Gebiet der frontier im Süden des Landes von einem Prozess der inneren oder internen Kolonisierung gesprochen werden. Treffend formulierte der US-amerikanische Kunsthistoriker William J. T. Mitchell über die in den Imperialismus-Diskurs eingebettete vermeintliche Expansion von Kultur und Zivilisation in den „natürlichen“ Raum: „Empires move outward in space as a way of moving forward in time.“ 193

Abbildung 139: Bildpostkarte „Bio-Bio“, Verlag: C. Kirsinger, Valparaíso/Santiago/Concepción, vor 1906, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1966/658,71.

192 Vgl. Gerdes/Schmidt, Hans Steffen (1865-1936) und Pozo Ruiz, Hans Steffen. 193 Mitchell, Imperial Landscape, S. 17. Zu Araukanien als frontier vgl. z.B. León et al., Araucanía: La frontera mestiza oder schon älter Ferrando Keun, Y así nació La Frontera ... Zur weiteren Verwendung des Konzeptes der inneren oder internen Kolonisierung vgl. mit Bezug auf Südamerika zuletzt z.B. Jones, Migration as a Response to Internal Colonialism in Brazil.

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Die indigene Bevölkerung blieb im Zuge dieses Prozesses auf der Strecke. Und so zirkulierten neben ethnologisch-folkloristischen Fotografien und Bildpostkarten viele Bilder von besiegten Mapuche, etwa von Indigenen, die in ärmlichen Verhältnissen hausten.194 Besonders bezeichnend ist eine Fotografie, die um 1900 von Odber Heffer Bissett aufgenommen wurde. Sie zeigt einen Mapuche auf einem Friedhof des indigenen Volkes. Es handelt sich quasi um eine Umkehrung des Bildes von Araukanien als Friedhof der Spanier/der Weißen.195 Das Motiv war recht weit verbreitet196 und zirkulierte auch als Bildpostkarte – und das noch sehr viel später: Die hier abgebildete Karte aus der Sammlung des Altonaer Museums in Hamburg lässt sich anhand des verwendeten Fotopapiers von Azo auf die späten 1920er bis 1940er Jahre datieren (Abb. 140). Die Bildpostkarte ist Bestandteil einer ganzen Serie von Karten mit fotografischen Ansichten von Mapuche, die nicht gelaufen sind und offenbar für eine Sammlung angeschafft wurden. Auf der Adresseite einer der Karten, die zwei Mapuchefrauen zeigt, ist handschriftlich festgehalten: „Mutter und Tochter mit primitiver Trommel“ (Abb. 141). Das Adjektiv betont die indigene Unterlegenheit. Auch missionsfotografische Bilder etwa von Salesianern oder Kapuzinern sowie von Anglikanern zeigten, dass von den Indigenen im Süden Chiles und Argentiniens keine Gefahr mehr ausging (Abb. 142). Die Indigenen wurden in den Missionen zivilisiert und Schritt für Schritt assimiliert; die Kinder erhielten Schulunterricht und wurden so

194 Vgl. z.B. die Bildpostkarten „Indias Araucanas – Temuco“ und „Ruca Mapuche“, Verlag unbekannt, Chile (?), späte 1920er-1940er Jahre, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1966/659,130 und 1966/659,134; datiert anhand des Fotopapiers von Azo mit vier Quadraten in den Ecken der Briefmarken-Box und mithilfe der Datenbank des Online-Auktionshauses Playle.com, http://www.playle.com/realphoto/ [26.08.2018]. Das Motiv der Indigenen zu Pferd und ihrer Begleiterin war sehr populär, allein in der Sammlung des Altonaer Museums ist es drei Mal vertreten (Inv.-Nr. 1966/659,124 und 1998/89136). Zu weiteren fotografischen Bildern von Mapuche vgl. die Arbeiten von Margarita Alvarado Pérez, z.B. Alvarado Pérez et al. (Hg.), Mapuche: Fotografías Siglo XIX y XX oder Toledo, Imágenes de la Frontera. 195 In der Fotosammlung des Museo Histórico Nacional in Santiago de Chile gibt es weitere Bilder (z.B. von den Franzosen José Badie und León Moock) von Friedhöfen und Beerdigungen von Mapuche aus den Jahren bis 1930. Vgl. die Digitalisate der Fotografien auf der Website Fotografía Patrimonial, Colección de Fotografía del Museo Histórico Nacional, Santiago de Chile, Inventarnummern FA-4955 (Cementerio Mapuche Llollelhue, Río Toltén, Fotografie von Badie und Moock), FA-4957, PFA-366, PFA-367, PFA-335, PFA-337, PFA-338, http://www.fotografiapatrimonial.cl [26.08.2018] und zum 1875 in Santiago eröffneten Fotostudio der beiden Franzosen Badie und Moock knapp Rodríguez Villegas, Fotógrafos en Chile durante el Siglo XIX, S. 72 u. 133-134. 196 Das Foto wurde z.B. gedruckt in Porter (Hg.), Trabajos del cuarto Congreso científico 14, S. 36. Vgl. außerdem Digitalisate der Fotografie auf der Website Fotografía Patrimonial, Colección de Fotografía del Museo Histórico Nacional, Santiago de Chile, Inventarnummern S-1357 und FC-3999, http://www.fotografiapatrimonial.cl/p/34113 und http:// www.fotografiapatrimonial.cl/p/20398 [26.08.2018].

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nicht nur im Glauben erzogen, sondern auch in die Nation integriert. 197 Der Fortschritt war nicht aufzuhalten und der Untergang der indigenen Kultur, wie sie zuvor bestanden hatte, unvermeidlich. Eine weitere Bildpostkarte aus dem Bestand des Altonaer Museums schließlich zeigt „Mapuches mestizos“ (Abb. 143). Sie deutet ebenfalls an, dass die indigene Kultur der Mapuche im Aussterben begriffen war. Während die bildliche Überlieferung so stark den Untergang und die Vernichtung der Mapuche als Resultat der Eroberung Araukaniens betont, ist für die Vorstellung von Patagonien allerdings die widerständige Mapuche-Bevölkerung bis heute von großer Bedeutung – mal als Relikt der Vergangenheit,198 mal als Akteur in aktuellen politischen und sozialen Kämpfen.

Abbildung 140: Bildpostkarte „Cementerio Araucano“, Fotografie: Odber Heffer Bissett, um 1900, Verlag unbekannt, Chile (?), späte 1920er-1940er Jahre, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1966/659,128; datiert anhand des Fotopapiers von Azo mit vier Quadraten in den Ecken der Briefmarken-Box und mithilfe der Datenbank des Online-Auktionshauses Playle.com, http://www.playle.com/realphoto/ [26.08.2018]. Vgl. dasselbe Motiv schon auf der Bildpostkarte „Cementerio de Indios Patagones“, Verlag: Jacobo Peuser, Buenos Aires, datiert Dezember 1904, gelaufen (Poststempel unleserlich), in Beukers, Alan: Der Reiz des Exotischen: Postkarten aus einer fremden Welt, mit e. Essay v. Paul Theroux, Hamburg: National Geographic Deutschland, 2007 [engl. Originalausg. 2007], S. 105.

197 Vgl. Flores Chávez/Azócar Avendaño, Tarjetas postales de los capuchinos; dies., Fotografía de capuchinos y anglicanos; Odone C./Purcell, El espacio de la Misión de San Rafael und Azócar Avendaño et al., La tarjeta postal fotográfica y la escuela misional en la Araucanía. 198 So etwa bei Schreiber, Im Schatten des Calafate, bes. S. 11-12; Bürger, Aus der Wildnis des Huemuls oder bei Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, S. 150. Schreiber stellte jedoch auch fest, aufgrund der fortschreitenden Zivilisation degenerierten die indigenen Patagonier. Vgl. Schreiber, Im Schatten des Calafate, S. 32.

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Abbildung 141a+b: Bildpostkarte „Madre e hija. Tipos indias araucanas“, Verlag unbekannt, Chile (?), späte 1920er-1940er Jahre, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1966/ 659,133; datiert anhand des Fotopapiers von Azo mit vier Quadraten in den Ecken der Briefmarken-Box und mithilfe der Datenbank des Online-Auktionshauses Playle.com, http://www. playle.com/realphoto/ [26.08.2018].

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Abbildungen 142 und 143: Bildpostkarten „Indios ninos del tierra del fuego. Mision de la Isla Dawson. Estrecho de Magallhanes. Chile.“, Verlag: Roberto Mulach, Punta Arenas, vor 1906, ungelaufen, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Ethnologisches Museum, Ident.Nr. VIII E 4179, erworben 1924 von Paul Traeger, und „Mapuches mestizos. No. 56“,

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Fotografie: B. Herrmann, Verlag: Carlos Brandt, Concepción, gelaufen 22.10.1900, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1968/323-1.

Private „Indianerjagden“ In vielen frontier-Regionen Südamerikas gab es neben staatlich organisierter und durchgeführter Gewalt gegen Indigene auch private sogenannte „Indianerjagden“. Einer der bekanntesten Protagonisten ist in diesem Zusammenhang sicherlich Julius (oder spanisch: Julio) Popper (1857-1893). Der in Bukarest als Sohn wohlhabender jüdischer Eltern geborene spätere Freimaurer Popper kam 1885 nach Argentinien, wo er sich mit den Möglichkeiten der Suche nach Gold beschäftigte. Schon bald wurde Popper, der in Paris studiert hatte und Ingenieur war (u.a. entwarf er einen Stadtplan von Havanna), auf der Isla Grande Feuerlands fündig. Aufgrund seiner technischen Kenntnisse gewann er zwischen 1886 und 1893 große Mengen Gold aus dem Sand am Strand der Nehrung El Páramo. Popper wurde zu einem sehr mächtigen Mann: Seine Compañía de Lavaderos de Oro del Sud war an der Börse in Buenos Aires notiert, wo sie enorme Kapitalgewinne machte, und auf Feuerland herrschte er mit einer Privatarmee. Unabhängige Goldsucher, Diebe und andere Gegner und Feinde, v.a. die indigenen Bewohner der von ihm beanspruchten Ländereien, wurden gnadenlos verfolgt und oft auf grausame Art getötet. Bei der argentinischen Regierung setzte Popper immer größere Gebietsansprüche durch. Er gab sogar eigene Briefmarken und eine eigene Währung (Goldmünzen) heraus, die heute bei Sammlern äußerst gefragt sind. Mit seinem plötzlichen Tod 1893 zerfiel Poppers Reich jedoch ebenso schnell, wie es entstanden war.199 Die von Popper oder in seinem Auftrag durchgeführten „Indianerjagden“ trugen in den 1880er und 1890er Jahren nicht unwesentlich zum Genozid an den Selk’nam bei. Popper und andere Großgrundbesitzer, Schaffarmer und Goldgräber machten einen regelrechten Sport aus der Jagd auf Indigene und heuerten „Indianerjäger“ an. Staatliches und privates Handeln griffen bei der Vernichtung von indigenen Völkern sowohl im argentinischen und chilenischen Süden200 sowie im Chaco ebenso ineinander wie in anderen frontier-Regionen Südamerikas. Poppers und die von ihm veranlassten Morde an feuerländischen Indigenen sind sogar fotografisch überliefert. 1887 widmete Popper dem argentinischen Präsidenten Miguel Juárez Celman (1844-1909, Präsident 1886-1890) ein Album mit in den Jahren 1886 und 1887 aufgenommenen Fotografien von den „Indianerjadgen“. Bei diesen abscheulichen Veranstaltungen wurden menschliche Trophäen gesammelt, Frauen wurden die Brüste abgeschnitten, Männern die Ohren. Heute sind diese grausamen Bilder, die es unter anderem im argentinischen Archivo de Fotografías Etnográficas de Fuego-Patagonia de la Asociación de Investigaciones Antropológicas und im Archiv der Royal Geographical Society in London gibt, relativ weit verbreitet – z.B. bei

199 Vgl. zu Popper die schon ältere Arbeit von Ansel, European Adventurer in Tierra del Fuego; Ares, Das Gold von Patagonien hat Poppers Biografie literarisch bearbeitet. 200 Zur Vernichtung der Indigenen auf Feuerland s. auch die Ausführungen zu Martin Gusinde in Kap. 1.

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Wikipedia und in zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten.201 Im 19. und frühen 20. Jahrhundert aber waren diese Bilder, im Unterschied zu den Fotografien von rückständigen, in Felle gewandeten Ona (Abb. 144), sicherlich den wenigsten Menschen im Deutschen Reich bekannt.

Abbildung 144: Fotografie „Die Feuerländer“, Fotograf unbekannt, nach 1900 (?), aus Rohrmann, Adolf (Hg.): E. von Seydlitzsche Geographie für höhere Lehranstalten. 3. Heft: Außereuropäische Erdteile, 15. Aufl., Breslau: Ferdinand Hirt, 1924, Abb. 84, Bildteil im Anhang. Vgl. für dasselbe Bild auch die Bildpostkarte „Indios Onas Tierra del Fuego.“, Verlag: G. M. Grossi, Punta Arenas, nach 1905, ungelaufen, SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1966/658,83.

Anders verhielt es sich vermutlich im Falle von „Indianerjagden“, die in Südbrasilien, das ebenfalls eine frontier-Region war,202 stattfanden und an denen deutsche Einwanderer und Siedler beteiligt waren. Sie organisierten private Jagden und Strafex-

201 Vgl. z.B. Odone C./Palma Behnke, La Muerte Indígena; Bajas Irizar, Montaje del álbum fotográfico de Tierra del Fuego; Fiore/Butto, Violencia fotografiada y fotografías violentas oder auch Andermann, The Optic of the State, S. 190. Andermann nutzte für seine Arbeit die Fotografien der Royal Geographical Society in London; Dánae Fiore und Ana R. Butto nutzten die im Archivo de Fotografías Etnográficas de Fuego-Patagonia de la Asociación de Investigaciones Antropológicas. Vgl. außerdem die Website Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Popper_en_caceria.jpg [26.08.2018] oder https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Expedici%C3%B3n_Popper_9.jpg [26.08. 2018]. 202 Vgl. Vogel, Europäische Forschungsreisen in den Cono Sur, S. 163.

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peditionen gegen Indigene, die tatsächlich oder angeblich verantwortlich waren für Vieh- und andere Diebstähle, Überfälle auf Siedler und Morde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es deswegen zu einem Konflikt zwischen der deutschen community in Südbrasilien und dem tschechischen Ethnologen und Botaniker Alberto Vojtěch Frič, der 1906-1908 auf Forschungsreise in Brasilien war. Auf dem 16. Internationalen Amerikanistenkongress 1908 in Wien warf Frič deutschen Siedlern vor, sie heuerten „Indianerjäger“ (bugreiros) an. Dies löste einen Skandal aus. Die Angelegenheit wurde zunächst in der deutschen Presse, schon bald aber auch in Brasilien diskutiert. 1910 gründete Cândido Rondon mit Unterstützung der brasilianischen Regierung zum Schutz von Indigenen den Serviço de Proteção ao Índio (SPI), den Vorläufer der 1967 gegründeten FUNAI (Fundação Nacional do Índio) und die erste Organisation ihrer Art in Brasilien.203 Im Deutschen Reich waren vermutlich viele Menschen über die „Indianerjagden“ in Brasilien informiert, denn im Nachgang des Wiener Amerikanistenkongresses wurde nicht nur in der Presse berichtet, sondern auch literarische Werke griffen das Thema auf. Franz Donat schilderte in Paradies und Hölle (1926) eine „Indianerjagd“, die als Vergeltung für angebliche Überfälle durchgeführt wurde. In seiner Schilderung werden nur leichte Gewissensbisse deutlich: „Die Wilden, Männer, Frauen und Kinder, etwa sechzig bis siebzig Köpfe, schliefen in einer einzigen kümmerlichen Hütte […]. M. schlich hinein und bemächtigte sich der Waffen, worauf ein fürchterliches Pistolenfeuer auf die Hütte eröffnet wurde. Die entsetzten Schläfer sprangen in die Höhe und versuchten, da sie waffenlos waren, zu fliehen, wobei sie von ihren unerbittlichen Feinden einzeln abgeschossen wurden. Kampfesrufe, Todesschreie, Flüche, das Ächzen Sterbender und das Wehklagen Verwundeter vermischte sich zu einem höllischen Getöse. Als sie erkannten, daß ihnen die Hauptgefahr am Eingange drohte, durchbrachen sie die Hütte, aber nur wenigen gelang es, dem Tod zu entgehen. Dieses Blutbad spielte sich in kürzester Zeit ab, dann lag der Urwald wieder friedlich und still und harrte des jungen Tages. Hier und da durchstachen die Jäger noch einem Verwundeten die Kehle, sie schienen sich nicht bewußt zu sein, daß die Erschlagenen Menschenbrüder waren, für die sie einst zur Rechenschaft gefordert würden. Die verängstigten Kinder hatten sich in die tiefsten Winkel der Behausung verkrochen, sie wurden samt den Müttern, die sich nicht von ihnen trennten, gefangengenommen, obwohl sie sich durch Beißen und Kratzen wehrten. Sie boten auf dem Rückzuge die einzige Bürgschaft gegen Überfälle. Später sollten die Kinder zur Erziehung an Kolonistenfamilien verteilt werden. […] Die Bugerjagd ist natürlich ein sehr rohes Beginnen, und nur der Umstand, daß sie einen Racheakt bedeutet, mildert einigermaßen den Frevel. Heute sind in Santa Catharina [sic!] diese Jagden durch ein Indianerschutzgesetz verboten und können nur noch ganz im geheimen [sic!] abgehalten werden.“204

Auch Karl Alexander Wettstein, der als Ingenieur, Kolonisationsbeamter und Leiter von Bahnbauvorarbeiten zweieinhalb Jahre in Blumenau tätig gewesen war, berichte-

203 Vgl. Ritz-Deutch, Alberto Vojtěch Frič, bes. S. 1 sowie Penny, The Politics of Anthropology. 204 Donat, Paradies und Hölle, S. 30-31.

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te ganz Ähnliches. Der in seiner Studie über Blumenau erwähnte bugreiro Marcellino Martinho mag dabei identisch mit dem mit M. abgekürzten „Indianerjäger“ aus Donats Bericht sein; eventuell beziehen sich sogar beide Autoren auf dasselbe Ereignis. Wettstein schilderte ausführlich die gewaltsamen Konflikte zwischen deutschen Siedlern und indigenen Bewohnern der Gegend und ging dabei auch auf die Rolle von Frič ein: „Eine Bevölkerungsrasse ist […] bisher noch gar nicht erwähnt worden: der alte Bewohner der Urwälder, der Botokude oder, wie man die Indianer gewöhnlich nennt, der Buger. Von diesem halbwilden Urwaldbewohner, der unbekleidet, vielfach noch mit Steinbeilen ausgerüstet, von Schnecken und Gewürm und von Erde als Zukost lebt, in rein okkupatorischem Gewerbe als Sammler, Fischer und Jäger das Hinterland von Blumenau durchstreift und keinerlei Handwerk, sondern nur tierischen Kampf ums Dasein kennt, trennt uns abgrundtief die Verschiedenheit der Kultur. […] Von Zeit zu Zeit überfallen sie die äußersten Kolonisten, mehr mordend als raubend und an der Straße von der Subida nach Pouso redondo sprechen zahlreiche Kreuze, alte und ganze neue, eine ernste Sprache, wie diese Wilden den Verkehr auf diesem so wichtigen Zugangspfad zum Hochland durch ihre blutigen Überfälle auf die Maultierkarawanen lebensgefährlich gestalteten. Sie fördern nie, sie hemmen stets! Wo die einen Platz greifen, müssen die andern hier weichen. Es ist ein tragisches Geschick für die alte indianische Bevölkerung Blumenaus, die Botokuden, daß als schlimmste Feinde ihnen ähnlich wilde Buger, die Corvados, entgegentreten. Für gewöhnlich läßt man diese Buger ganz in Frieden, aber sobald ihre Überfälle auf Kolonisten Menschenblut gekostet haben, wird eine Strafexpedition ausgesandt, die in der Regel Frauen und Kinder mitbringt, welch letztere dann an Kindesstatt angenommen und von den Deutschen oder Brasilianern erzogen werden [Abb. 145]. So waren wieder einmal die Buger Ende vorigen Jahres in die Kolonie Hansa eingefallen. Sie drangen in das Haus des Kolonisten Krause ein, erschlugen mit Knüppeln ein 13 Jahre altes Mädchen, während dessen kleiner Bruder mit geringen Verletzungen davon kam, und raubten die Decken und Kleidungsstücke im Gegensatz zu früheren Überfällen, bei denen sie nur Werkzeuge mitnahmen, freilich möglichst den gesamten Hausrat zerstörten. Eine unter dem Waldläufer Marcellino Martinho nachgesandte Strafexpedition faßte die Räuber nach langen Streifzügen im Walde ab und brachte zwei Weiber und acht Kinder, nämlich sieben Corvados und drei Botokuden als Gefangene zurück [Abb. 146]. Etwa ein Jahr früher waren zwei Frauen und zwölf Kinder der Corvados zwangsweise zur Kultur geführt worden.“205

Wettsteins Bericht über die „Indianer-“ oder „Bugerjagden“, der mitunter stark an die Bildpostkarte zur Hundertjahrfeier der argentinischen Unabhängigkeit erinnert (s.o. Abb. 121),206 war mit zwei Fotos illustriert. Das eine zeigte den „Sohn des Botoku-

205 Wettstein, Brasilien und die deutsch-brasilianische Kolonie Blumenau, S. 55-58. 206 Die Karte zeigt einen nur mit einem Lendenschurz bekleideten und mit einer Lanze bewaffneten Indigenen sowie einen herannahenden Zug – der Indigene wird vom Fortschritt förmlich überrollt werden. Bei Wettstein heißt es: „Dem Deutschtum aber erwächst die Aufgabe, durch mittelbare Hilfsmittel, durch verbesserte Verkehrsmittel, namentlich Bah-

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denhäuptlings Monjan (der Starke) Bacharel Francisco Cogogn-Topp als Kind im Urwald gefangen und von den Franciskanern [sic!] erzogen“; das andere „gefangene Bugerfrauen und Kinder“ (Abb. 145 und 146).

nen, das Unwesen der Buger unschädlich zu machen und durch schnell vorwärts geführte Kolonisation diese wilden Völker in rückständigere Nachbargebiete abzuschieben.“ Wettstein, Brasilien und die deutsch-brasilianische Kolonie Blumenau, S. 59. Der neben Frič in dem Bericht ebenfalls erwähnte Direktor des Museums von São Paulo, Hermann von Ihering, der von Wettstein mit drastischen, vor Rassismus strotzenden Worten zitiert wurde, bestätigte die Legitimität der Indianerjagden auch später noch: Indigene trügen „weder zur Volkswirtschaft noch zum Fortschritt“ bei, Brasilien habe „keine Alternative, als sie auszurotten“, zitiert nach Grann, Die versunkene Stadt Z, S. 356, EN 32. (Leider macht Grann keine näheren Angaben zum zitierten Werk, sondern nennt lediglich von Ihering als Autor und 1909 als Erscheinungsjahr.) Vgl. außerdem Ihering, The Anthropology of the State of S. Paulo. Der brasilianische Naturwissenschaftler João Batista de Lacerda (1846-1915), zunächst stellvertretender Leiter der Sektion Anthropologie, Zoologie und Paläontologie des Naturgeschichtlichen Museums in Rio de Janeiro, später dessen Direktor, Gründer des dort angesiedelten Labors für experimentelle Physiologie und späterer Präsident der Academia Nacional de Medicina, war zu einem ganz ähnlichen Schluss gekommen. Vgl. knapp Andermann, The Optic of the State, S. 41 sowie Lacerda, Fastos do Museu Nacional do Rio de Janeiro.

Der historisierende Blick | 361

Abbildungen 145 und 146: Fotografien „Sohn des Botokudenhäuptlings Monjan (der Starke) Bacharel Francisco Cogogn-Topp als Kind im Urwald gefangen und von den Franciskanern [sic!] erzogen“ und „Gefangene Bugerfrauen und Kinder“, Fotograf unbekannt, um 1900/05 (?), aus Wettstein, Karl Alexander: Brasilien und die deutsch-brasilianische Kolonie Blumenau, Leipzig: Engelmann, 1907, Abb. 6, S. 55 und Abb. 7, S. 57.

Mochte es im Deutschen Reich von den Eroberungen der „Wüste“ und des Chaco, der Besetzung Araukaniens oder den Grausamkeiten Julio Poppers zwar Informationen, aber nur mittelbar Bilder geben, über die „Indianerjagden“, an denen deutsche Siedler in Brasilien beteiligt waren, war eine relativ breite Öffentlichkeit auch visuell informiert. Gewissenskonflikte, wie sie etwa bei Franz Donat anklangen, vermittelten Bilder wie das des zur Kultur emporgehobenen Sohn des Botokudenhäuptlings nicht – ganz im Gegenteil: Diesem Mann war Gutes widerfahren!

ZWISCHENFAZIT III Die zu Beginn dieses Kapitels behandelten Bilder von Siedlungen im Urwald, von Gauchos, die Vieh brandmarken, und besonders die von Eisenbahnen und anderen infrastrukturellen Erschließungen verweisen auf den Siegeszug des Fortschritts, der Moderne und der weißen „Rasse“. Mindestens indirekt verweisen sie auch auf das Verschwinden und den Untergang der Indigenen, die ursprünglich den ganzen Kontinent, dann immer kleiner werdende Teile davon und schließlich nur noch die unzugänglichsten und wirtschaftlich uninteressantesten Gebiete bevölkerten. Die Unterlegenheit der Indigenen war, wie bereits im ersten Kapitel dargelegt, auch auf vielen Bildern zu sehen. Und da in Folge dieser Unterlegenheit das Aussterben der Indigenen unvermeidlich war – nur die am besten Angepassten konnten überleben, das war common knowledge – waren Wissenschaftler wie etwa Theodor Koch-Grünberg,

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Martin Gusinde oder Robert Lehmann-Nitsche begierig und bemüht, indigene Völker und Individuen wenigstens fotografisch zu konservieren. 207 So wird noch einmal die Multiperspektivität der Blicke auf Südamerika und seine Bevölkerung und die Ambivalenz der Bilder deutlich. Während das Verschwinden der indigenen Bevölkerung für Wettstein, von Ihering und viele, viele andere Autoren der unvermeidliche „natürliche“ Lauf der Dinge und sogar wünschenswert war, sahen nicht nur Wissenschaftler (wie insbesondere etwa Erland Nordenskiöld, der sich immer wieder sehr kritisch zum Umgang der südamerikanischen Gesellschaften mit den Indigenen äußerte und sich damit von vielen Kollegen unterschied; allen voran von Lehmann-Nitsche, der sogar schwieg, als er während seiner Reise in den Chaco im Juli 1924 Zeuge des Massakers von Napalpí wurde), das eher mit einem weinenden Auge. Der Auswanderer und Abenteuerschriftsteller Otto Schreiber beispielsweise beklagte, dass wegen des zivilisatorischen Fortschritts und der um sich greifenden Moderne er und andere ihre Abenteuer in immer abgelegeneren Regionen Patagoniens (oder des Amazonas oder des Chaco) suchen müssten. „Chile, mein Lieber, ist heutzutage ein hochgradig zivilisiertes Land. Ein Land, in dem man unter durchaus menschlichen Verhältnissen als Mensch unter Menschen leben kann. Wo früher sich die Silberlöwen rudelweise zum Flußgabelfrühstück zu versammeln pflegten, kannst du heute Bier trinken und Sandwichs essen, soviel du willst. Wo noch vor einem halben Menschenalter die reifere männliche Jugend der kriegerischen Araukanerstämme rachebrütend am qualmenden Bambusfeuer saß, drehen heute elegant gekleidete Bankbeamte zahllose Zigaretten aus gelbem Packpapier. Und wo in grauer Vorzeit die Lieblingsfrau des großen Caupolican diesem, weil er lebend in die Hände der spanischen Eroberer gefallen war kurzerhand ihren Erstgeborenen vor die Füße schleuderte, bereitet heute die nicht minder temperamentvolle ultramoderne Chilenin ihrem Gatten, dem vielgeplagten Geschäftsmanne oder Politiker, eine ähnlich geartete Szene wegen eines neuen Sommerhutes.“208

Die Suche nach „echten“ Abenteuern in den entlegensten Gegenden Südamerikas, insbesondere bei den letzten „wilden“ Indigenen im Amazonasregenwald, ist ein Thema, das sich durch zahlreiche Reise- und Abenteuerberichte auch der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zieht. Die Berichte von Jørgen Bitsch, Heinz Rox-Schulz, Arne Falk-Rønne, Leosch Schimanek (*1946), Rüdiger Nehberg (*1935) und einigen anderen, die die Vorstellung von Südamerika ebenfalls mehr oder minder stark beeinflussten, lohnten und verdienten eine eigenständige Untersuchung. 209

207 S. dazu neben weiteren Ausführungen beispielhaft den im ersten Kapitel auf S. 65 zitierten Brief Theodor Koch-Grünbergs an Karl Weule von 1921. 208 Schreiber, Im Schatten des Calafate, S. 11-12. 209 Vgl. neben den bereits erwähnten Titeln von Bitsch, Jivaro; Rox-Schulz, Der Ruf des Condor und Falk-Rønne, Goldgräber, Gauchos und Banditen außerdem Schimanek, Vom Eismeer nach Feuerland und Nehberg, Yanonámi: Überleben im Urwald; ders., Die letzte Jagd; ders., Über den Atlantik und durch den Dschungel; ders., Die Yanomami-Indianer oder ders., Abenteuer Urwald.

Fazit und Ausblick

„Südamerika ist für die Mehrzahl der gebildeten Europäer noch unbekannter als Afrika und Asien“ – so beginnt Kasimir Edschmids 1932 veröffentlichtes Buch Südamerika wird photographiert und mit diesem Zitat begann auch die vorliegende Arbeit.1 Bis heute scheint diese Aussage eine gewisse Gültigkeit zu haben: Auch wenn sich nur schwer messen lässt, wie bekannt oder unbekannt ein Kontinent denn nun sein mag, so ist festzuhalten, dass Südamerika im Bewusstsein vieler Deutscher zumindest keinen sehr hohen Stellenwert hatte und hat. Waren es im 19. und frühen 20. Jahrhundert das Thema der deutschen Auswanderung nach Südamerika, der TripelAllianz-Krieg, die Europareisen Sarmientos und des brasilianischen Kaisers Dom Pedros II. oder die Venezuelakrise, die Medien und Öffentlichkeit im Deutschen Reich im Hinblick auf Südamerika beschäftigten, handelte es sich im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts v.a. um politische Ereignisse, allen voran den Putsch gegen Salvador Allende, Militärdiktaturen oder den Falklandkrieg. Bis heute berichtet beispielsweise die Tagesschau, das „Flaggschiff“ der deutschen Fernsehnachrichten, äußerst selten über südamerikanische Themen. 2 Gleiches gilt für viele große deutsche Tageszeitungen.3 Dass transnationale, globale Medienereignisse wie die im vorigen

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Edschmid, Südamerika wird photographiert, S. 3. Noch seltener wird vermutlich nur über Australien und Ozeanien berichtet. Vgl. zur marginalen Rolle Australiens z.B. Summo-O'Connell (Hg.), Imagined Australia. Tatsächlich gab es in den 1890er Jahren mit dem fehlgeschlagenen Versuch William Lanes (1861-1917), ein sozialistisches „New Australia“ in Paraguay zu errichten, eine eher unbedeutende, aber dennoch sehr spannende Verbindung zwischen Australien und Südamerika. Vgl. Taylor, “Heaven on Earth” was a Hell in Reality. Ansonsten sind die Beziehungen zwischen den beiden Weltregionen eher wirtschaftlich von der Konkurrenz bzw. vom Transfer im Bergbau und in der Wollproduktion geprägt. Vgl. dazu auch Karnofsky, Zur Lateinamerika-Berichterstattung der deutschen Tagespresse. Wenn nicht gerade ein deutscher Politiker den Subkontinent bereist, sind v.a. große Sportereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft 2014 oder die Olympischen Spiele 2016 in Brasilien bzw. in Rio de Janeiro Schlagzeilen wert; weiterhin wird zumeist nur sehr knapp über Naturkatastrophen, bedeutende Wahlen und andere wichtige politische Ereignisse oder größere gewaltsame Ereignisse (Proteste, Unruhen, Bürgerkriege, Kriege) berichtet. Für Überblicke zu den Beziehungen zwischen Deutschland und Lateinamerika vgl. Birle/Schmidt-Welle (Hg.), Wechselseitige Perzeptionen und schon etwas älter Mols/Wag-

364 | Ambivalente Bilder

Kapitel geschilderte Expedition Oberst Fawcetts 1925 bzw. die Suche Dyotts und anderer nach ihm oder die im zweiten Kapitel angeführte Galápagos-Affäre das Interesse der deutschen und sogar der Weltöffentlichkeit auf Südamerika richteten, war die Ausnahme. Andere nichteuropäische Weltregionen standen eher im Fokus deutscher Medien: Afrika, China und die Südsee wegen der deutschen kolonialen Politik und Bestrebungen; die USA,4 nicht zuletzt wegen der großen Zahl deutscher Einwanderer, oder der Orient, z.B. wegen der Erfolge deutscher Expeditionen und Ausgrabungen.5 Die deutschen Wissenschaftler, die sich mit Südamerika befassten, sind dagegen von großer Bedeutung zwar für die Weltregion, aber hinter dem Ruhm Schliemanns stand und steht der von Max Uhle etwa weit zurück. Uhle erhielt aus dem Deutschen Reich kaum Förderung für seine archäologischen Forschungen in Südamerika (er war angestellt bei Institutionen in Peru, Ecuador und Chile sowie in den USA) – im Gegensatz zu Schliemann und anderen Archäologen. Die Ausgrabungen von Babylon etwa waren sehr repräsentativ für die archäologische Wissenschaftsförderung im Deutschen Kaiserreich.6 Ähnlich wie für Uhle und Schliemann gilt auch, dass der Schwede Erland Nordenskiöld in Deutschland lange nicht so populär war und ist wie sein Landsmann Sven Hedin, obwohl (oder vielleicht gerade weil?) Nordenskiöld nicht für nationalsozialistische Zeitschriften schrieb.7 Es lassen sich zahlreiche weitere Beispiele finden; zwei führt der Ethnologe Martin Rössler unter der bezeichnenden Zwischenüberschrift „Jenseits des Mainstreams“ in seinem Überblick zur deutschsprachigen Ethnologie an:

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ner (Hg.), Deutschland – Lateinamerika oder Kohut et al. (Hg.), Deutsche in Lateinamerika – Lateinamerika in Deutschland sowie für den Untersuchungszeitraum auch Fiebig-von Hase, Lateinamerika als Konfliktherd der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Hinsichtlich des Verhältnisses der Vorstellungen von Süd- und Nordamerika ist sehr interessant, dass viele Schriftsteller, die über Südamerika schrieben, auch über den nördlichen Teil des Doppelkontinents schrieben. Meist waren und sind in diesen Fällen die Geschichten aus Nordamerika weitaus bekannter, das gilt für Karl Mays Winnetou- und Old Surehand-Romane, den Ölprinzen oder den Schatz im Silbersee ebenso wie für Friedrich Gerstäckers Flusspiraten des Mississippi (1847) oder Die Regulatoren von Arkansas (1846) oder Sophie Wörishöffers Im Goldlande Kalifornien (1891). Der Grund hierfür dürfte, wie erwähnt, das größere Interesse der Leser an Nordamerika bzw. der geringe Stellenwert, den Südamerika in der deutschen Öffentlichkeit hatte, sein. Vgl. Sammons, Ideology, Mimesis, Fantasy; Janeck, Zwischen Gartenlaube und Karl May und Grewling, Inventing America. Das gilt auch für Zentralasien, wo das Deutsche Reich handfeste geostrategische und koloniale Interessen verfolgte, wie Mark, Im Schatten des Great Game oder Torma, TurkestanExpeditionen gezeigt haben. Vgl. Steineck, Die Ausgrabung von Babylon sowie zum Thema neuerdings Beigel/Mangold-Will (Hg.), Wilhelm II.: Archäologie und Politik um 1900. Zu Schliemanns Ruhm und Popularität vgl. Samida, Heinrich Schliemann oder zeitgenössisch Seiffert, Heinrich Schliemann, der Schatzgräber. Hedin schrieb für die nationalsozialistische deutsch-argentinische Zeitschrift Der Weg. Vgl. zum Weg Meding, „Der Weg“: Eine deutsche Emigrantenzeitschrift.

Fazit und Ausblick | 365

„So befasste sich Fritz Krause (1881-1963), der ab 1927 Direktor des Leipziger Museums war (und später ein überzeugter Parteigänger der Nationalsozialisten werden sollte), bereits früh mit dem Struktur- und Funktionsgedanken, ohne dass dies spürbaren Einfluss auf die deutsche Ethnologie haben sollte. […] Eine Außenseiterstellung bekleidete auch der Amerikanist Max Schmidt (1874-1950), von 1919 bis 1929 Leiter der Südamerika-Abteilung am Berliner Museum, der langjährige Feldforschungen in Südamerika durchführte. Einigermaßen bekannt ist sein Werk Grundriß der ethnologischen Volkswirtschaftslehre (2 Bde. 1920-21), mit dem er einen der frühesten (wenngleich wenig beachteten) deutschen Beiträge zur Wirtschaftsethnologie vorlegte. Er lebte ab 1931 in Paraguay, wo er bis heute als Mitbegründer der nationalen Ethnologie angesehen wird, während er in Deutschland fast vollständig in Vergessenheit geraten ist.“8

Angesichts der geringen Bedeutung, die Südamerika in vielen Bereichen der Wissenschaft zugemessen wurde, spekuliert auch Thomas Bremer, warum Robert LehmannNitsche nach Argentinien ging, um eine Anstellung an einem „Provinzmuseum“ anzunehmen.9 Südamerika scheint zumindest in den Augen mancher eher eine Art „Abstellgleis“ (gewesen) zu sein oder eine Notlösung – auch in wissenschaftlicher Hinsicht.10 So schrieb Karl von den Steinen 1888 in einem Brief aus Brasilien an Rudolf Virchow: „Mato Grosso ist wirklich eine ethnologische Goldgrube. Ich danke alle Tage den Göttern, dass ich Afrikareisender in Südamerika geworden bin. Es giebt unendlich viel zu thun, es ist höchste Zeit, es zu thun, aber das Land ist aus der Mode.“11 Zwar sorgte von den Steinens 1894 erschienener Bericht über seine zweite Forschungsexpedition nach Brasilien für einen zeitweiligen Anstieg des öffentlichen Interesses an dieser Weltregion – das Buch Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens war nicht zuletzt wegen des erschwinglichen Preises von 12 Reichsmark ein Bestseller und verkaufte sich so gut, dass 1897 eine gekürzte und noch günstigere „Volksausgabe“ erschien – doch schon wenige Jahre später legte Friedrich Wilhelm Mader einem Forscher in seiner 1903 erschienenen Abenteuererzählung El Dorado folgende Worte in den Mund:

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Rössler, Die deutschsprachige Ethnologie bis ca. 1960, S. 17. Eigentlich käme das, wie im ersten Kapitel bereits erwähnt, für den Sohn eines preußischen Rittergutsbesitzers nur in Frage, wenn man „enorme Spielschulden hat, einem unabweisbaren Duell entgehen möchte oder die Familie findet, dass man nur so einer sozial vollkommen unpassenden Liebesbeziehung entzogen werden kann.“ Bremer, Stichwort Argentinische Popularkultur, S. 7. 10 Da die Pyramiden in Ägypten von anderen beforscht wurden, keine spektakulären Funde mehr erhoffen ließen und Troja bereits ausgegraben wurde, blieben nur Ausgrabungen in Südamerika, so ließe sich diese Haltung beschreiben. Mitunter wurde (und wird?) der Arbeit von europäischen Wissenschaftlern, die sich mit „Außereuropa“ befassen, sogar mindere Qualität vorgeworfen. Vgl. z.B. Alatas, Intellectual Imperialism, bes. S. 26-27. 11 Brief von Karl von den Steinen an Rudolf Virchow, Cuyabá, 09.03.1888, in: Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 20, 1888, S. 217.

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„Alles wird erforscht, den Nord- und Südpol will man mit aller Gewalt entdecken trotz der schauerlichen Kälte, die im ewigen Eis herrscht. Nach Tibet und ins Innerste von Afrika dringt man unter tausend Gefahren, – aber Südamerika ist vergessen: es ist als ob die tollen Goldfahrten mit ihren Enttäuschungen Europa so entmutigt hätten, dass alles geographische und sonstige wissenschaftliche Interesse für diese überaus merkwürdige Wildnis ein für allemal erloschen sei.“12

Immerhin, einige wissenschaftliche Entdeckungen waren doch ziemlich bekannt. Das gilt beispielsweise für den erwähnten Fund von Resten eines Mylodons in einer Höhle bei Puerto Natales im südchilenischen Última Esperanza im Jahr 1895 durch Herrmann Eberhard. 1899 untersuchten auch Erland Nordenskiöld und Rudolf Hauthal die Höhle und in den 1920er Jahren berichtete etwa der Schriftsteller Otto Schreiber darüber. Bis heute ist der Fund, der sich im British Museum in London befindet, recht populär, vor allem wegen Bruce Chatwins berühmtem Reisebericht über Patagonien. Schon früher war die Suche nach Skeletten von prähistorischen Tieren Thema etwa in der Südamerikaerzählung Das Vermächtnis des Inka von Karl May gewesen.13 Einzig auf dem Gebiet der Wirtschaftsbeziehungen war Südamerika insbesondere für die norddeutschen Hafenstädte von größerer Bedeutung. Die südamerikanischen Handelsverbindungen von Kaufleuten vor allem in Hamburg, aber auch andernorts, reichten bis ins 18. Jahrhundert und, wie etwa Klaus Weber gezeigt hat, mitunter auch noch weiter zurück.14 Auch die Schiffsverbindungen der Hamburg Süd (Hamburg Südamerikanische Dampfschifffahrts-Gesellschaft), der HAPAG (HamburgAmerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft) und des Norddeutschen Lloyd aus Bremen verbanden das Deutsche Reich und Südamerika. Mit den Dampfern wurden nicht nur Auswanderer und Güter transportiert, sondern – zugegebenermaßen in begrenztem Umfang bzw. mit begrenzter Reichweite – auch Wissen von dem fremden Kontinent. Wie eingangs erwähnt, boten jedoch gerade die eher spärliche Informations- und Nachrichtenlage und das begrenzte konkrete Wissen viel Raum für Fantasien, Projektionen, Träume und sehnsuchtsvolle Vorstellungen von Südamerika. 15 Und so spielte der Subkontinent im Bewusstsein vieler Menschen eben doch eine große Rolle. (Hin-

12 Vgl. Mader, El Dorado, zitiert nach der Ausgabe Auf den Spuren der Inkas, S. 73. 13 Vgl. May, Das Vermächtnis des Inka und zur wissenschaftlichen Bedeutung des Fundes in der Cueva del Milodón z.B. Martin et al., Land of the Ground Sloths sowie popularisierend Schreiber, Im Schatten des Calafate, S. 102 oder Chatwin, In Patagonia. 14 Vgl. Weber, Deutsche Kaufleute im Atlantikhandel sowie Arfs/Mücke (Hg.), Händler, Pioniere, Wissenschaftler; Moreira/Weber, A importância do mercado brasileiro; Vogt, Ein Hamburger Beitrag zur Entwicklung des Welthandels oder das Dissertationsprojekt von Catherine Aristizábal (Universität Hamburg): „Handelsbeziehungen zwischen deutschen und kolumbianischen Kaufleuten von 1750 bis 1820“, https://www.geschichte.uni-hambur g.de/arbeitsbereiche/globalgeschichte/personen/aristizabal.html [26.08.2018]. 15 In Anlehnung an den Titel des oben angeführten von Renata Summo-O'Connell herausgegebenen Sammelbandes Imagined Australia könnte das Thema der Arbeit daher auch „Imagined South America“ genannt werden.

Fazit und Ausblick | 367

sichtlich exotischer Fantasien und Träumereien gibt es allerdings deutlich mehr Literatur für die Südsee wie auch für den Orient, dem sich im Zuge der OrientalismusForschungen Edward Said und andere gewidmet haben. 16 Daraus muss aber nicht zwangsläufig folgen, dass diese Regionen auch hier einen größeren Stellenwert im Bewusstsein der meisten Deutschen hatten.) Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist also, wie in der Einleitung dargelegt, neben dem konkreten Wissen, das es im Deutschen Reich von Südamerika gab, auch und v.a. die Vorstellung der Menschen im Deutschen Reich von Südamerika. Diese Vorstellung wurde den Menschen u.a. durch Fotografien und Bildpostkarten vermittelt. Beides – die Bilder wie die daraus resultierenden Vorstellungen – war, wie im Titel bereits vorweggenommen, sehr ambivalent. Das lag nicht nur an den höchst unterschiedlichen Motiven – die hier präsentierte Auswahl lässt diese Fülle hoffentlich erahnen –, es ist auch auf die unterschiedlichen Blicke, die unterschiedliche Rezeption der visuellen Medien zurückzuführen. Und auch wenn es, wie eingangs erwähnt, keine Quellen gibt, in denen überliefert ist, wie ein bestimmtes Bild von wem, wann und unter welchen Umständen betrachtet wurde und welche Wirkung das auf den Betrachter oder die Betrachterin hatte, konnte durch die diskursanalytische Untersuchung der Kontexte, in denen die Bilder standen, gezeigt werden, welche möglichen Blicke es gab, wie diese Bilder diskursiv eingebettet waren und welche Vorstellungen von Südamerika sich daraus ergaben oder ergeben konnten. So ist es zwar ein unmögliches Unterfangen, die in dieser Arbeit analysierten Perspektiven: den wissenschaftlichen, den sehnsüchtigen und den historisierenden Blick auf die Bilder einzelnen Betrachtern (immer) zweifelsfrei und methodisch einwandfrei nachzuweisen. Es ist somit ebenfalls nicht möglich, den impact von Bildern en detail zu bestimmen. Es kann aber festgestellt werden, dass die Bilder Teil von Diskursen, wissenschaftlichen ebenso wie nicht-wissenschaftlichen, waren. Diese Diskurse, die ihrerseits Teil von Metadiskursen, wie z.B. dem Rassen-, dem Sexual- oder dem Kolonialdiskurs, waren, konstruierten Menschen und Umwelt in Südamerika; sie bestimmten die deutsche (auch die europäische oder generell die „außer-südamerikanische“, um die Wendung vom „Außereuropäischen“ aufzugreifen) Vorstellungswelt von Südamerika. Mögliche Blicke auf bzw.

16 Vgl. für die Südsee Reiseberichte von Bougainville und Forster über Gerstäcker, Die Südsee-Inseln bis Hartenau-Thiel, Im Reich des Königstigers und Katz, Heitere Tage mit braunen Menschen sowie Hassert, Die neuen deutschen Erwerbungen in der Südsee; aus der Sekundärliteratur knapp einführend Wendt, Die Südsee oder ausführlich Hiery (Hg.), Die deutsche Südsee 1884-1914; bildgeschichtlich ders., Bilder aus der deutschen Südsee; Sperlich, Samoa in Miniatur; Quanchi, The Imaging of Samoa in Illustrated Magazines; Köpke/Schmelz (Hg.), Blick ins Paradies; Mesenhöller, Kulturen zwischen Paradies und Hölle; außerdem Thode-Arora, From Samoa with Love?; Loosen, Deutsche Frauen in den Südsee-Kolonien des Kaiserreichs; Küchler Williams, Erotische Paradiese; Gründer, Deutsche Südseeträume sowie literaturgeschichtlich Hall, Paradies auf Erden?; Dürbeck, Stereotype Paradiese und Liebersohn, The Travelers’ World oder im Bereich der Belletristik z.B. Kracht, Imperium und zu Krachts Werk Dürbeck, Ozeanismus im postkolonialen Roman. Zum Orient/Orientalismus vgl. neben Said, Orientalism und für die auch in visuellen Medien vermittelte erotische Komponente z.B. Alloula, The Colonial Harem oder Sebbar/Belorgey, Femmes d’Afrique du nord.

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die Wahrnehmung oder Vorstellung von Südamerika konnte so erfasst und analysiert werden. Wissenschaft, Sehnsucht, Historisierung – das sind drei Kategorien, die das visuelle Material strukturieren und grundsätzliche Rezeptionsweisen darlegen, die auch zeitgenössisch anzunehmen sind. Damit ist gleichzeitig zu begründen, dass es niemals nur eine Bedeutung von Bildern geben kann. Wegen der ihnen zeitgenössisch zugeschriebenen Eigenschaften (Objektivität, Wirklichkeit, Echtheit des Abgebildeten) und wegen ihrer unmittelbaren Wirkung sind Fotografien als Quellen durchaus etwas Besonderes. Ein Text kann viel behaupten, einer Fotografie wurde (und wird) geglaubt. Vielleicht aus genau diesem Grund, wegen ihrer Wirkungsmacht, wird Fotografien als Quellen oft (immer noch) besondere Skepsis entgegengebracht. Dabei werden dann häufig schärfere Forderungen bezüglich der Interpretation und Analyse der Quellen erhoben, als dies im Umgang mit Texten der Fall ist. Selten wird die Reichweite von Texten so gründlich debattiert, wie die von Fotografien in der vorliegenden Arbeit. Im Fall der vorliegenden Untersuchung ist dabei festzuhalten, dass es hinsichtlich der Vorstellung, die sie von Südamerika vermittelten, zwischen Texten und Bildern kaum Unterschiede gibt. Eine signifikante Ausnahme ist allerdings die literarische Figur des „edlen Wilden“, die sich zwar in Texten, jedoch kaum auf Bildern findet. In Zusammenhang damit steht eventuell das Vorurteil, die weit verbreitete Vorstellung, die Indigenen in Südamerika hätten sich ja auch „nicht richtig“ gewehrt, anders als etwa die Sioux oder die Apachen. Der jahrhundertelange Widerstand der Mapuche beispielsweise wurde dabei auf der bildlichen Ebene offenbar ausgeblendet. Die unterschiedlichen Blicke, die im Verlauf der Untersuchung analysiert wurden, spiegeln mehrheitlich medienübergreifende – um ein Schlagwort zu schaffen, könnte man sagen: transmediale – Diskurse wider: Die Modernität, v.a. urbane Modernität, oder die Sehnsucht nach einem freien und selbstbestimmten Leben beispielsweise finden gleichermaßen Ausdruck in Fotografien und Bildpostkarten, wie in literarischen und wissenschaftlichen Texten. Dabei wird, wie immer wieder betont wurde, die Ambivalenz der Vorstellung von Südamerika sowie der diese Vorstellung vermittelnden Bilder deutlich. Anthropologische und ethnografische Bilder von Indigenen vermittelten nicht nur den sozialdarwinistisch informierten Betrachtern, dass Angehörige dieser „Rasse“ dem Untergang geweiht waren, leichtbekleidete oder nackte Indigene konnten in ihrer Exotik auch erotisch wirken und sexuelle Fantasien wecken – und wilde, bewaffnete (oder unbewaffnete) Indigene konnten bedrohlich wirken. In fotografischen Bildern und Bildpostkarten wird und wurde so auch für die Zeitgenossen sowohl „Fortschritt“ als auch „Barbarei“ sichtbar und gegenwärtig. Und ganz entgegen der in Texten oft behaupteten Auffassung, dass die Indigenen im Verschwinden begriffen seien, sind sie in visuellen Medien auch zum Ende des Untersuchungszeitraumes hin doch sehr präsent. Ebenso zeigen die Bilder des „modernen“, „zivilisierten“ Südamerikas ein funktionierendes Gemeinwesen, das der allgemeinen Vorstellung des aus ständigen Revolutionen, Rebellionen und Umstürzen resultierenden Chaos südamerikanischer Staatlichkeit eher nicht entspricht. Das könnte aufmerksamen deutschen bzw. europäischen Nutzern von Bildmedien sogar präsenter gewesen sein als etwa Südamerikanern in ihrem Alltag. Dieses sind wichtige Spannungen gerade in der Bilderwelt. Angesichts der Heterogenität der Bilderwelten – und angesichts der enormen geografischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Unterschiede zwischen den Ländern und Regionen Südamerikas – ist

Fazit und Ausblick | 369

die Ambivalenz im Übrigen letztlich nicht überraschend; interessant ist jedoch, dass diese Ambivalenz teilweise auch im Einzelbild sichtbar wird. Ambivalenzen gibt es aber nicht nur hinsichtlich der unterschiedlichen Blicke, auch intraperspektivisch stehen etwa im historisierenden Blick Bilder von den von „indigenen Hochkulturen“ hinterlassenen Ruinen und „degenerierten Indios“ ambivalent nebeneinander. Mitunter geht es vor lauter Ambivalenz in Bild und Text auch etwas durcheinander. Die Bildpostkarte zum Film Stern von Rio des Regisseurs Karl Anton (1898-1979) von 194017 beispielsweise vermengt im begrenzten Format Gauchos, Urwald und im Bild ein leichtbekleidetes Mädchen, das auch aus der Südsee kommen könnte (Abb. 147).

Abbildung 147: Bildpostkarte „Stern von Rio“, Verlag: Rheingold-Verlag Johannes Böttger, Bad Godesberg, 1940 (?), ungelaufen, Sammlung von Hinnerk Onken.

Da sich die vorliegende Arbeit auf die Rolle der visuellen Medien Fotografie und Bildpostkarte für die Vorstellung der Menschen von Südamerika konzentriert, wird die textliche Überlieferung, auch wenn sie sehr präsent ist, nicht vollumfassend behandelt. Hier gilt es, die Befunde der Arbeit durch weitere Studien abzusichern. Zwangsläufig ergeben sich weitere Desiderata aus dem ambitionierten Unterfangen, den ersten umfassenden Überblick der visuell vermittelten Ideen und Imaginationen von Südamerika im Deutschen Reich zu geben. Wegen der Vielfalt der behandelten Themen aus Wissenschaft, Literatur und anderen Künsten oder Politik konnte manches nur gestreift werden.18 Zudem ist die Arbeit in ihrem Fokus zeitlich begrenzt,

17 Vgl. Stern von Rio, Film von Karl Anton (Produktion: Tobis, Deutsches Reich 1940). 18 Anderes wurde nahezu ganz ausgelassen. So wurde z.B. die Missionsfotografie kaum berücksichtigt, obwohl, wie in Kapitel 3 erwähnt, entsprechende Bilder in Missions- und anderen einschlägigen Zeitschriften sowie auch als Bildpostkarten erschienen. Da viele Studien auch zu Missionsfotografie in Afrika vorliegen, bietet dieses Feld gute Möglichkeiten

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wenn ich mich auch bemüht habe, Kontinuitäten19 der bildlichen Überlieferung seit der Kolonialzeit punktuell herauszustellen. Auch ist die Perspektive der Arbeit eurozentristisch, Rückwirkungen auf Südamerika bzw. Eigenwirkungen der Bilder in Südamerika konnten nur mitunter und nur ganz am Rande gestreift werden. Jedoch hoffe ich, mit meiner Arbeit Ansätze und Impulse für weitere Forschungen zu Vorstellungen und zu Ansichten von und über Südamerika zu geben: Künftige Untersuchungen könnten weitere, hier vernachlässigte Medien (etwa Filme und Illustrierte), weitere Themen und Motive und weitere Zeiträume (etwa die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts20) in den Blick nehmen und die Befunde der vorliegenden Arbeit ergänzen, fortführen und gegebenenfalls korrigieren. Weiterhin ist festzuhalten, dass es für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert quasi einen bildlichen Kanon Südamerikas gibt, der z.B. als Bildpostkartenmotiv oder in (literarischen wie wissenschaftlichen) Reiseberichten auftaucht. Dieser Kanon gilt nicht nur für übergeordnete Themen wie z.B. allgemein Bilder von Moderne, von Indigenen, von den Anden, vom Dschungel, von deutschen Kolonisten, die in gesunder Arbeit „ein Stück Altdeutschland im fernen Urwald“ schufen, 21 oder vom Leben der Gauchos: Auf der Motivebene wird dieser Kanon mitunter ganz konkret sichtbar (Abb. 148 und 149 sowie Abb. 150-152), wie etwa die Beispiele der häufig abgebildeten „chilenischen Schweiz“ mit dem Vulkan Osorno, der deutschen Siedlungen in Südbrasilien, des Sonnentores in Tiahuanaco oder der Rutschpartie bei Cuzco verdeutlichen.

für weitere Arbeiten etwa mit globaler Perspektive. S. zur Missionsfotografie die in Kap. 3, FN 76 erwähnten Arbeiten. 19 Insbesondere handelt es sich um die Kontinuitäten der Gewalt und des Landraubs, denen Indigene seit der Conquista ausgesetzt waren, sowie die Kontinuität der sexualisierten Vorstellung von den Bewohnern Südamerikas. Speziell die Überlegungen zu den erotischen und sexuellen Aspekten des sehnsüchtigen Blicks haben, wenn ich sie auf Konferenzen präsentierte, immer wieder Kritik erfahren. Viele Wissenschaftler_innen scheinen sich gegen eine vermeintliche Befleckung der Leistung von Wegbereitern der Anthropologie und der Ethnologie zu sträuben. Die Vorstellung, dass die Bilder in Publikationen und in den Archiven von Museen und anderen Einrichtungen auch anderweitig als wissenschaftlich nutzbar waren, ist ihnen vielleicht unangenehm. Auch dass ich als männlicher Forscher diesen sicher eher männlichen Blick untersuche, mag Anstoß erregen. 20 Mir scheint, dass es eine besondere Persistenz, Dauerhaftigkeit, Konstanz oder Kontinuität vieler Bilder bzw. Blicke gibt, die in dieser Arbeit geschildert wurden. Sie bestanden bis in die 1950er Jahre und länger fort – z.T. bis heute. Das Sammelalbum Mittel- und Südamerika der Margarine-Union AG von 1952 beispielsweise greift eigentlich alle in der vorliegenden Untersuchung behandelten Motive und Perspektiven auf: moderne Städte, traditionelle und heruntergekommene, edle und gefährliche Indigene, die „grüne Hölle“ des Dschungels, raue andine oder patagonische Landschaften usw. 21 Breitenbach, Wilhelm: Die ersten Jahre eines deutschen Kolonisten in Südbrasilien, in: Das Ausland. Wochenschrift für Erd- und Völkerkunde 61:1, 1888, S. 49, zitiert nach Vogel, Europäische Forschungsreisen in den Cono Sur, S. 163.

Fazit und Ausblick | 371

Abbildungen 148 und 149: Fotografien „Die altspanische Kirche San Francisco in Quito (Ekuador)“ und „Kreuzgang und Kirche San Francisco in Quito“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre (?), aus Edschmid, Kasimir: Südamerika wird photographiert, Bielefeld/Leipzig: Velhagen & Klasing, 1932, Bildteil S. 5 und aus Katz, Richard: Schnaps, Kokain und Lamas: Kreuz und quer durch wirres Südamerika, Berlin: Ullstein, 1931, vor S. 112.

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Abbildungen 150-152: Fotografien „Übermannshohes Bildnis in Tiahuanaco“ von Rudolf Dienst (?), um 1920 (?), aus Dienst, Rudolf: Im dunkelsten Bolivien: Anden-, Pampa- und Urwaldfahrten, mit e. Geleitw. v. Theodor Herzog, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1926, Abb. 57, nach S. 200; „Übermannshohes Skulpturbild aus altperuanischer Zeit in Tiahuanaco“ von Rudolf Dienst (?), um 1920 (?), aus Nordenskjöld, Otto: Südamerika: Ein Zukunftsland der Menschheit. Natur/Mensch/Wirtschaft, übers. v. Ignaz Schlosser, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1927 [schwed. 1923: Människor och Natur i Sydamerika], Abb. 38, nach S. 128 und „Reste einer Trümmerstadt am Titicacasee in Höhe von fast 4000 Metern“, Fotograf unbekannt, 1920er Jahre (?), aus Edschmid, Kasimir: Südamerika wird photographiert, Bielefeld/Leipzig: Velhagen & Klasing, 1932, Bildteil S. 43. Für ein weiteres Bild der Skulptur s.o. Abb. 21 in Kap. 1.

Fazit und Ausblick | 373

Jenseits der Ebene des konkreten bildlichen Kanons funktioniert das in der vorliegenden Arbeit angewendete Analysemodell so oder zumindest ganz ähnlich auch für andere Weltgegenden. Auf Analogien zu Afrika (wo der bildliche Kanon sicher das Motiv des Kilimandscharo beinhaltet), zur Südsee (mit dem kanonischen Motiv einer blumenbehängten Südseeschönheit) und zum Orient (obligatorisch vermutlich das Bild eines angeblichen Harems) und mitunter sogar zu Bildern aus und Vorstellungen von manchen Gegenden an den Rändern Europas wurde mehrfach hingewiesen. Diese Analogien ergaben sich erstens aus der Konstruktion von Alterität: Weiße, europäische/deutsche, bürgerliche Identität wurde hergestellt durch othering, durch Differenz zu indigenen Südamerikaner_innen genauso wie zu Afrikaner_innen, Südseeinsulaner_innen oder Orientalen, aber auch zu Ost- und Südeuropäer_innen, Samen sowie Armen, „Irren“ oder trachtentragender Landbevölkerung. Zweitens war die Wahrnehmung der Welt im Deutschen Kaiserreich und auch noch in der postkolonialen Weimarer Republik von kolonialen Rastern bestimmt. Davon ausgenommen scheint das Bild der USA (und der britischen Dominion Kanada?) gewesen zu sein, deren Eigenständigkeit als Nation wahrgenommen wurde – obwohl die meisten südamerikanischen Staaten seit den 1810er/1820er Jahren ebenfalls unabhängig waren. U.a. aus diesem Umstand ergeben sich allerdings auch zahlreiche Besonderheiten, die die Vorstellung von Südamerika von den Vorstellungen anderer Weltregionen unterscheidet. Anders als im kolonialen Afrika, insbesondere südlich der Sahara (die südafrikanischen Buren vielleicht ausgenommen), oder in der Südsee etwa gab es in den Ländern Südamerikas einheimische Intellektuelle, welche die Diskurse mitbestimmen konnten und mitbestimmten, in denen die Bilder entstanden und von denen die Bilder Teil waren. Zwangsläufig gab es aus dem kolonialen Afrika keine Bilder von afrikanischen nationalen Helden und Führern – im Unterschied zu den bildlichen Ehrungen südamerikanischer Generäle und Präsidenten, wie etwa in Form der Bildpostkarte mit dem Porträt von Bernardino Rivadavia (1780-1845), des ersten Präsidenten Argentiniens (Abb. 155), oder in Form der Bildpostkarte „Saludo de Venezuela“ mit dem Motiv der 1874 errichteten „Estatua del Libertador“ auf der Plaza Bolívar in Caracas (Abb. 156). Besonders ist an der Vorstellung von Südamerika im Unterschied zu anderen „globalen Peripherien“ ebenfalls, dass es dort moderne Metropolen gab, die auch bildlich erfasst und so einem breiten Publikum bekannt gemacht wurden – allen voran Buenos Aires und Rio de Janeiro, aber auch Montevideo, Lima oder Santiago sind hier zu nennen. Fotografische Bilder und Bildpostkarten von Eisenbahnen gab es dagegen mit Ausnahme der Südsee von allen Kontinenten. Ansichten von Eisenbahnen in Afrika und Asien bildeten jedoch das Ergebnis der europäischen mission civilatrice und der kolonialen Modernisierungsbestrebungen sowie die Überlegenheit der „weißen Rasse“ und ihrer Ingenieurskunst ab. 22 In Südamerika handelte es sich dagegen um Projekte, die, wenn sie auch mithilfe europäischen Kapitals und europäischer Technik realisiert wurden, dennoch (auch) nationale Projekte waren.

22 Zum Eisenbahnbau in Afrika vgl. auch Müllendorff, Ost-Afrika im Aufstieg und aus der Sekundärliteratur zuletzt Castryck (Hg.), From Railway Juncture to Portal of Globalization.

374 | Ambivalente Bilder

Abbildung 153: Bildpostkarte „Centenario 1810-1910. Rivadavia. Casa de Gobierno“, Verlag unbekannt, Buenos Aires, um 1910, ungelaufen, Sammlung von Daniel Cisilino, Dublin/Buenos Aires.

Abbildung 154: Bildpostkarte „Saludo de Venezuela. Estatua del Libertador“, Verlag: Quincalla y Ferretería al Sol Dallmeier und Vera León, Carácas/La Guaira, datiert 17.05.1924, gelaufen (Briefmarke mit Poststempel entfernt), SHMH/Altonaer Museum, Inv.-Nr. 1966/179-114.

Fazit und Ausblick | 375

Angesichts – oder im wahrsten Sinne der Worte: in Anbetracht – der hier untersuchten fotografischen Bilder und Bildpostkarten von Südamerika wird deutlich, dass die Weltregion auch schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert „irgendwo dazwischen“ lag: Südamerika, obwohl geografisch gesehen westlicher als Europa, gehört nicht zum „Westen“, zum „Osten“ gehört es aber ebenfalls nicht.23 Gleichwohl lassen sich Überlegungen zum Orientalismus auf Südamerika übertragen; manche versuchen dies als Okzidentalismus zu fassen. Am ehesten lässt sich Südamerika wohl im „Süden“ verorten. Doch auch im Rahmen der Süd-Süd-Beziehungen im „globalen Süden“ betrachtet ist Südamerika sehr verschieden etwa von Afrika. Südamerika – oder noch schwieriger: Lateinamerika – im Rahmen einer Weltordnung oder einer globalen Einteilung konzeptuell zu erfassen ist nahezu ein unmögliches Unterfangen. Das zeigt sich u.a. auch im komplizierten Verhältnis der lateinamerikanischen Geschichte zur Globalgeschichte.24 Ein wesentlicher Grund hierfür dürfte neben der angesprochenen postkolonialen Vorreiterrolle, die große Teile Süd- bzw. Lateinamerikas in einer sehr stark kolonial geprägten Welt einnahmen, auch sein, dass Südamerika „an und für sich“ kein homogenes Gebilde war und es auch heute nicht ist: weder in naturräumlicher, noch in politischer, noch in sprachlicher, noch in ethnischer, noch in sozialer Hinsicht.25 Der Reisende Richard Katz versuchte Südamerika – ein „Erdteil […], dessen Kenntnis Voraussetzung eines geordneten Weltbilds ist“ – folgendermaßen in eine solche Weltsicht einzuordnen: „Zu Unrecht halten wir [diesen Erdteil] gemeinhin nur für ein Anhängsel des energischeren und reklamesüchtigeren Nordamerika. [… Er ist] mehr als das, mehr als Kolonialland unter eigener Verwaltung […]. So ist Südamerika ein interessanter Erdteil, weil seine Erfüllung noch in der Zukunft liegt, artverschieden vom greisen Osten, vom mannesreifen Europa und vom pubertätstollen Nordamerika. Ein Erdteil in der Kindheit. Reich an Oberfläche und deshalb oberflächlich, kindlich weich oder kindlich trotzig, je nach Laune, und – vor allem – kindlich unfertig im Mißverhältnis zwischen großer Geste und kleiner Tat. Aber es ist ein an Möglichkeiten reicher Erdteil, und die Zeit scheint nahe, in der er sich mündigspricht und seine Berufung erkennt.

23 Südamerika war auch weder Erste noch Zweite noch Dritte Welt; in keines der die Welt ordnenden Schemata ließ und lässt sich der Subkontinent so richtig einfügen. 24 Vgl. dazu z.B. Brown, The Global History of Latin America. 25 Zu unterscheiden sind naturräumlich etwa die Karibik, die Anden, Amazonien, der Chaco, die Wüste der Pazifikküste, die Pampas und Patagonien, Feuerland usw.; politisch stechen z.B. die Gegensätze zwischen Föderalismus und Zentralismus oder links und rechts sowie unterschiedliche Haltungen zur Politik der USA hervor; sprachliche Unterschiede bestehen zwischen den Einwohnern der spanischsprachigen Länder, dem portugiesischsprachigen Brasilien und den französisch-, englisch- und niederländischsprachigen ehemaligen Guayanas sowie den Sprechern indigener Sprachen; in ethnischer Hinsicht ist zwischen weißer (Nachfahren europäischer und nordamerikanischer Einwanderer), schwarzer, asiatischer, indigener und mestizischer Bevölkerung zu differenzieren. Am hervorstechendsten ist vermutlich aber die immense soziale Ungleichheit: Großem Reichtum steht extreme Armut gegenüber; die Unterschiede zwischen Stadt und Land sind ebenfalls sehr groß.

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Die Berufung zur neuen Kultur zwischen West und Ost. Denn so wie sein enormes Dreieck zwischen West und Ost liegt, nicht diesem zugehörig, noch jenem, so wie in seinen Völkern Orientblut mit westlichem verschmilzt: so keimt aus seiner Erde und aus seinen Völkern eine neue Kultur auf, kindlich unbekümmert noch in der Form, doch wahrnehmbar jedem, der hinter Stuck und Schnörkeln die Linie des Stils zu erkennen vermag.“26

Um es in Anlehnung an Stuart Hall zu formulieren: Südamerika (oder generell Lateinamerika) ist weder der Westen, noch der Rest.27

26 Katz, Schnaps, Kokain und Lamas, S. 5-6. Weiter schrieb Katz: „Dieser Lebensstil ist verschieden von West und Ost, und er ist Ausdruck nicht nur der Mischlinge zwischen deren Rassen, sondern auch jener Europäer, die dem Land erst kürzlich zugewandert sind. Ihnen nämlich ergeht es wie den Heckenrosen, die der Botanische Garten in Rio de Janeiro importierte. Es sind europäische Heckenrosen, gewiß, und diese Namenstafel steht zu Recht vor ihrem Strauch. Aber Boden, Klima und Umgebung haben ihre Blätter derber gemacht und so blaugrün wie die der brasilianischen Nachbarsträucher; und ihre Blüten wachsen üppiger, aber sie haben den Duft verloren.“ Ebd., S. 6-7. 27 Hall, Der Westen und der Rest.

Quellen- und Literaturverzeichnis

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378 | Ambivalente Bilder

Museum am Rothenbaum, Kulturen und Künste der Welt, Hamburg - Fotoarchiv: Fotografien im Nachlass Hans Hinrich Brüning Privatsammlung Daniel M. Cisilino, Dublin/Buenos Aires - Bildpostkarten Privatsammlung Hinnerk Onken, Soltau - Bildpostkarten Gedruckte Quellen Adalbert von Preußen: Reise seiner königlichen Hoheit des Prinzen Adalbert von Preußen nach Brasilien (Aus fernen Zonen: Sammlung berühmter Reisen der neueren Zeit, Bd. 1), nach dem Tagebuche seiner königlichen Hoheit mit höchster Genehmigung auszüglich bearb. u. hg. v. Hermann Kletke, Berlin: Hasselberg’ sche Verlagshandlung, 1857 Agassiz, Louis: A Journey in Brazil, Boston, MA: Ticknor & Fields, 1868 Agostini, Alberto Maria de: Zehn Jahre in Feuerland: Entdeckungen und Erlebnisse, Leipzig: Brockhaus, 1924 [ital. 1923] Alcock, Frederick: Trade and Travel in South America, London/Liverpool: George Philip & Son, 21907 [1903] Aldinger, Paul: Das Itajahy-Tal: Deutsche Siedlung im brasilianischen Urwald, Blumenau und Hansa, Hamburg: H. O. Persiehl, [ca. 1910] Alemann, Moritz: Am Rio Negro: Ein Zukunftsgebiet germanischer Niederlassung. Drei Reisen nach dem argentinischen Rio-Negro-Territorium. Ein Führer für Ansiedler, Unternehmer und Kapitalisten, Berlin: Reimer, 1907 Alencar, José Martiniano de: Ubirajara: Roman aus den Urwäldern Brasiliens, Leipzig: Friedrich, 1886 Anschütz, Ottomar: Gruppe von Gepards (Einige allgemeine Erläuterungen über die Aufnahme wilder Tiere), in: Photographische Mitteilungen 25, Nr. 386, 1889, S. 304, 307-308 Anwandter, Carl: Meine Uebersiedelung nach der Provinz Valdivia in Chile (SüdAmerika): Ein Beitrag zur Kenntniß dieses Landes und Rathgeber für dahin Auswandernde, Rudolstadt: Froebel, 1851 Arent, Alfred [Pseud. Deutscher Offizier]: Ein Land der Zukunft: Ein Beitrag zur näheren Kenntnis Argentiniens, 1. Aufl., München: Verlag der „Südamerika“, 1906 [²1910, ³1913] Backhaus, Alexander: Welche Aussichten bieten sich den Deutschen in Südamerika? (Koloniale Abhandlungen, Bd. 51), Berlin: Süsserott, 1911 Baer, Heinrich: Argentinien: Volkswirtschaftliche und handelspolitische Vorträge, Bern: Wälchi, 1909 Baldus, Herbert: Indianerstudien im nordöstlichen Chaco (Forschungen zur Völkerpsychologie und Soziologie, Bd. 11), Leipzig: Hirschfeld, 1931 Bates, Henry Walter: Elf Jahre am Amazonas: Abenteuer und Naturschilderungen, Sitten und Gebräuche der Bewohner unter dem Äquator, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1924 [engl. 1863] Beebe, William: Dschungelleben: Forscherfreuden in Guayanas Urwäldern, übers. v. Lothar Tobias, Leipzig: Brockhaus, 1927 [engl. 1925]

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380 | Ambivalente Bilder

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398 | Ambivalente Bilder

Ders.: I. Eine falsche Kritik Max Uhle’s/II. Ein paar Worte der Kritik über Stübel und Uhle’s ‚Tiahuanaco‘ (Teil Uhle), Berlin: Gebr. Unger, 1913 Ders.: Eine praehistorische Metropole in Südamerika = Una metrópoli prehistórica en la América del Sud, Berlin: Reimer, 1914 Ders.: Guia General ilustrada para la Investigación de los Monumentos prehistóricos de Tihuanacu é Islas del Sol y la Luna (Titicaca y Koaty), La Paz: Heitmann, 1912 Ders.: La lengua “chipaya”: Carangas, Bolivia, La Paz: Inst. Tihuanacu de Antropología, Etnografía y Prehistoria, 1915 Ders.: Praehistorische Ideenschriften in Südamerika, in: ZfE 45:2, 1913, S. 261-273 Ders.: Tihuanacu = Tihuanacu (dt./span., 4 Bde), New York: J.J. Augustin, 1945 [Bd. 1+2] und 1957 [Bd. 3+4] Ders.: Tihuanacu: The Cradle of American Man (engl./ span., 4 Bde), übers. v. James F. Sheaver, New York: J.J. Augustin, 1945 [Bd. 1+2] und 1957 [Bd. 3+4] Preuss, Konrad Theodor: Forschungsreise zu den Kágaba: Beobachtungen, Textaufnahmen und sprachliche Studien bei einem Indianerstamme in Kolumbien, Südamerika (2 Bde), Mödling bei Wien: Anthropos, 1926-1927 Ders.: Lehrbuch der Völkerkunde, 1. Aufl., Stuttgart: Enke, 1937 [²1939] Ders.: Religion und Mythologie der Uitoto: Textaufnahmen und Beobachtungen bei einem Indianerstamm in Kolumbien, Südamerika (2 Bde), Göttingen/Leipzig: Vandenhoeck & Ruprecht/J. C. Hinrichs, 1921-23 Preusse-Sperber, Otto: Perú: Eine Skizze seines wirtschaftlichen und staatlichen Lebens (Angewandte Geographie: Hefte zur Verbreitung geographischer Kenntnisse in ihrer Beziehung zum Kultur- und Wirtschaftsleben, 4. Serie, Heft 7), Frankfurt a.M.: Keller, 1913 Ders.: Süd- und Mittel-Amerika: Seine Bedeutung für Wirtschaft und Handel. Ein Ratgeber für Exporteure, Importeure, Ansiedler, Minen-Interessenten, Kapitalisten usw., Berlin: Salle, 1913 Ders.: Unter Ansiedlern, Gauchos und Indianern: Erlebtes und Erlauschtes eines deutschen Auswanderers in Südamerika, Leipzig: Dieterich, 1925 Ders.: Wegweiser für Argentinien: Ein Leitfaden für Auswanderer und Kapitalisten, 4., rev. Aufl., Hannover: König & Ebhardt, 1920 [1897] Regel, Fritz: Argentinien (Angewandte Geographie: Hefte zur Verbreitung geographischer Kenntnisse in ihrer Beziehung zum Kultur- und Wirtschaftsleben, 4. Serie, Heft 10), Frankfurt a.M.: Keller, 1914 Ders.: Das lateinische Amerika (Südamerika, Mittelamerika und Mexiko mit den umschlossenen europäischen Besitzungen), in: Karl Andree’s Geographie des Welthandels: Eine wirtschaftsgeographische Schilderung der Erde (Bd. 3), hg. v. Franz Heiderich und Robert Sieger, vollst. neu bearb. Ausg., Frankfurt a.M.: Keller, 1913, S. 87-301 Ders.: Die Deutschen in Argentinien und die deutschen Interessen daselbst, in: Forschungen und Versuche zur Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit (FS Dietrich Schäfer), hg. v. seinen Schülern, Jena: Fischer, 1915, S. 747-796 Ders.: Kolumbien (Bibliothek der Länderkunde, Bd. 7/8), Berlin: Schall, 1899 Rehbein, Arthur: Über Schwellen und Wellen und Wolken, Berlin: Peter J. Oestergaard, 1935

Quellen- und Literaturverzeichnis | 399

Ders.: Vom Polarstrande zum Wüstenrande, Berlin: Peter J. Oestergaard, ²1930 [1927] Reiß, Wilhelm und Stübel, Alphons: Das Todtenfeld von Ancon zu Peru: Ein Beitrag zur Kenntniss der Cultur und Industrie des Inca-Reiches nach den Ergebnissen eigener Ausgrabungen (3 Bde), Berlin: Asher, 1880-1887 Dies.: Reisen in Süd-Amerika (4 Bde), Berlin: Asher, 1890-1904 Dies.: Skizzen aus Ecuador dem VI. deutschen Geographentage gewidmet: Illustrierter Katalog ausgestellter Bilder, Berlin: Asher, 1886 Reitzenstein, Ferdinand von: Eine Erklärung zu den altperuanischen Grabvasen, in: Anthropophyteia 7, 1910, S. 232-234 Reuter, Gabriele: Kolonistenvolk: Roman aus Argentinien, Leipzig: Friedrich, 1891 Riedel, Heinrich: Die Töchter der Liebe, in: Die Aufklärung 3:11, 1931, S. 265-266 Riet, Ulrich von: Goldsucher im Urwald: Roman aus der brasilianischen Dschungelwelt (Auf weiter Fahrt, Bd. 3), Berlin: Weichert, 1933 Ritter, Friedrich: Als Robinson auf Galapagos, Leipzig: Grethlein & Co., 1935 Ders.: Der moderne Robinson: Dr. Ritter auf der Galapagos-Insel, Berlin: Willahn, 1931 Rittlinger, Herbert: Ganz allein zum Amazonas, Wiesbaden: Brockhaus, 1958 Ders.: Ich kam die reißenden Flüsse herab, Wiesbaden: Brockhaus, 1938 Ders.: Im Meer der Ströme und Wälder, Wiesbaden: Brockhaus, 1953 Ritz, Franz: Kautschukjäger im Urwald, Zürich: Orell Füssli, 1934 Robertson, James Alexander: Recent Accessions of German Books in the Library of Congress Referring to Hispanic America, in: HAHR 12:4, 1932, S. 522-529 Roehle, Reinhard: Durch Urwald und Sertao (Kamerad-Bibliothek, Bd. 25), 4. Aufl., Stuttgart/Berlin/Leipzig: Union, [ca. 1916] Rohde, Capt. Juan: Die Expedition des General Victoria nach dem Gran-Chaco (Argentinien), in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 21:1, 1886, S. 59-82 Rohrbach, Paul: Amerika und wir: Reisebetrachtungen, Berlin: Oestergaard, 1925 Ders.: Das Deutschtum über See, Karlsruhe: Schille & Co., 1930 Rohrmann, Adolf (Hg.): E. von Seydlitzsche Geographie für höhere Lehranstalten. 3. Heft: Außereuropäische Erdteile, 15. Aufl., Breslau: Ferdinand Hirt, 1924 Romero, Genaro: Notizen für Einwanderer, Asunción: Staatsdruckerei, 1914 Ders.: Republik Paraguay: Das Land des Sonnenscheins, der Blumen und Früchte. Handbuch für Einwanderer, Asunción: Staatsdruckerei, 1914 Romero, Sílvio: O Allemanismo no sul do Brasil: Seus perigos e meios de os conjurar, Rio de Janeiro: Heitor Ribeiro, 1906 Ross, Colin: Das Buch der Fernen Welt: Asien – Afrika – Australien – Amerika, Berlin: Paul Franke, 1931 Ders.: Südamerika, die aufsteigende Welt, Leipzig: Brockhaus, ²1923 [1922] Ders.: Südamerikanisches Auswanderer-ABC: Praktische Winke und Ratschläge für Auswanderer nach Südamerika auf Grund von Reisen und Studien in Argentinien, Brasilien, Chile, Uruguay und Bolivien in den Jahren 1919-1921, Stuttgart: Ausland und Heimat Verlagsaktiengesellschaft, 1921 Röthlisberger, Ernst: El Dorado: Reise- und Kulturbilder aus dem südamerikanischen Columbien, Bern: Schmid & Francke, 1898

400 | Ambivalente Bilder

Rugendas, Johann Moritz: Malerische Reise in Brasilien, Faks.-Ausg. d. Orig.-Ausg., Stuttgart: Daco-Verl. Bläse, 1986 [1835] Runge, Emil: Wie wandere ich nach Südamerika aus? Ratgeber für Auswanderungslustige: Argentinien, Bolivia, Chile, Ecuador, Kolombien, Paraguay, Peru, Uruguay, Venezuela, 2. Aufl., Berlin: Süsserott, 1919 Saint-Exupéry, Antoine de: Vol de nuit, mit e. Vorw. v. André Gide, Paris: Gallimard, 1931 Sapper, Karl Theodor: Die Tropen: Natur und Mensch zwischen den Wendekreisen, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1923 Ders.: Mittelamerika (Auslandswegweiser, Bd. 5), Hamburg: Friederichsen & Co., 1921 Sarmiento, Domingo Faustino: Deutsche Auswanderung und Colonisation (Beiträge zur Kunde von Süd-Amerika, Bd. 1: Die Provinzen des Rio de la Plata und Bolivia), hg., übers. u. komm. v. Johann Eduard Wappäus, Leipzig: J.C. Hinrichssche Buchhandlung, 1848 Ders.: Facundo: Civilización y barbarie (Letras hispánicas, Bd. 323), hg. v. Roberto Yahni, Madrid: Cátedra, 1990 [1845, dt. Ausg.: Barbarei und Zivilisation: Das Leben des Facundo Quiroga (Die Andere Bibliothek), übers. u. komm. v. Berthold Zilly, Frankfurt a.M.: Eichborn, 2007] Scheurmann, Erich: In Menschenspuren um die Welt: Ein Buch der Sehnsucht und der Erfüllung (Männer der Wildnis), Berlin: Brunnen, 1929 Schillings, Carl Georg: Mit Blitzlicht und Büchse, Leipzig: Voigtländer, 1905 Schindler, Max: Brasilien: Wegweiser zur Bearbeitung des brasilianischen Urwaldes. Lebensführung und Erwerb im Urwald, Hamburg: Thaden, 1919 Schmidel, Ulrich: Vierte Schiffart: Warhafftige Historien: Einer wunderbaren Schiffart, welche Ulrich Schmidel von Straubing, von Anno 1534 biss Anno 1554. in Americam oder Neuwewelt, bey Brasilia vnd Rio della Plata gethan. Was er in diesen neuntzehen Jahren aussgestanden, vn[d] was für seltzame wunderbare Länder vnd Leut er gesehen: durch ermelten Schmidel selbst beschrieben, an jetzt aber an Tag geben mit Verbesserung und Corrigierung der Stätt, Länder vnd Flüss Namen, dessgleichen mit einer nothwendigen Landtaffel, Figuren, vnd anderer mehr Erklerung, gezieret, Frankfurt a.M.: Erasmo Kempffern, in Verlegung Levini Hulsii Wittibe, 1612 [Erstausg.: Neue Welt: das ist, Warhafftige Beschreibunge aller schönen Historien von Erfindung viler vnbekanten Königreichen, Landschafften, Insulen unnd Stedten, Frankfurt a.M.: Sigmund Feyerabend, 1567], https://archive.org/details/vierteschiffartw00schm [27.08.2018] Schmidt, Hans: Meine Jagd nach dem Glück in Argentinien und Paraguay: Reise-, Arbeits-, und Jagdabenteuer, Leipzig: Voigtländer, 1921 Schmidt, Max: Die Arauken: Ein Beitrag zum Problem der Kulturverbreitung (Studien zur Ethnologie und Soziologie, Heft 1), Leipzig: Veit & Comp., 1917 Ders.: Indianerstudien in Zentralbrasilien: Erlebnisse und ethnologische Ergebnisse einer Reise in den Jahren 1900 bis 1901, Berlin: Reimer, 1905 Ders.: Unter Indianern Südamerikas: Erlebnisse in Zentralbrasilien (Wege zum Wissen, Bd. 18), Berlin: Ullstein, 1924 Schneider, Oscar (Hg.): Schneiders Typen-Atlas: Naturwissenschaftlich-geographischer Hand-Atlas für Schule und Haus, Dresden: C.C. Meinhold & Söhne, Königl. Hofbuchdruckerei, 1881[weitere Aufl. 1885, 1892 u. 1909]

Quellen- und Literaturverzeichnis | 401

Schöffer, Carl: Das nördliche Südamerika: Deutschtum und Auswanderung (Schriften des Instituts für Auslandkunde und Auslanddeutschtum, Bd. 8), Berlin: Süsserott, 1920 Schomburgk, Moritz Richard: Reisen in Britisch-Guiana in den Jahren 1840-1844 (3 Bde), Leipzig: Weber, 1847-1848 Schomburgk, Robert Hermann: Reisen in Guiana und am Orinoco während der Jahre 1835-1839, nach seinen Berichten und Mitteilungen an die Geographische Gesellschaft in London bearb. v. Otto Alfred Schomburgk, mit e. Vorw. v. Alexander von Humboldt und dessen Abhandlung über einige wichtige astronomische Positionen Guiana’s, Leipzig: Wigand, 1841 Schonegger, Karl: Erlebnisse eines deutschen Kolonisten im brasilianischen Urwald: Ein Warnruf an Auswanderer!, Kiel: Haase, [ca. 1919] Schott, Egon: Himmel und Hölle einer Tierwelt: Begegnungen mit Tieren in den Urwäldern Zentralbrasiliens, Wien: Steiner, 1932 Schreiber, Otto: Columbien, Tapire und Don Otto: Ein Abenteurerleben am Äquator, Berlin: Brunnen, 1943 Ders.: Ein Rauhbein am Äquator: Columbianisches (Männer der Wildnis), Berlin: Brunnen, 1938 Ders.: Im Schatten des Calafate: Patagonisches, Allzupatagonisches (Männer der Wildnis), Berlin: Brunnen, 1928 Schück, Walter: Brasilien: Volk und Land, Berlin: Paetel, 1928 Schüler, Heinrich: Brasilien: Ein Land der Zukunft, 1. Aufl., Stuttgart/Leipzig: Dt. Verl.-Anst., 1912 [²1912, ³1912, 41919, 51921, 61924] Ders.: Brasilien von heute: Ein Rückblick auf die Regierungszeit des Präsidenten Dr. Campos Salles, Berlin: D. Dreyer & Co., [1904] Schultze, C.F.E.: Das Paraguayfieber: Eine kolonial-pathologische, satirisch-kritische Abhandlung, Bremen: Schünemann, 1893 Ders.: Kolonialverein und Paraguayschwindel: Ein Lehrbüchlein für Kolonialgimpel und solche, die es werden wollen, Ratzeburg: Freystatzky, 1894 Schulz-Kampfhenkel, Otto: Rätsel der Urwaldhölle: Vorstoß in unerforschte Urwälder des Amazonenstromes, Berlin: Deutscher Verlag, 1938 Schuster, Adolf Nikolaus: Argentinien: Land, Volk, Wirtschaftsleben und Kolonisation (2 Bde), mit e. Beitrag v. Otto Schlaginhaufen u. e. Vorw. v. Conrad Keller, Diessen vor München: Huber, 1913 Ders.: Paraguay: Land, Volk, Geschichte, Wirtschaftsleben und Kolonisation, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1929 Seiffert, Otto: Heinrich Schliemann, der Schatzgräber (Sammlung belehrender Unterhaltungsschriften für die deutsche Jugend, Bd. 50), Berlin: Paetel, 1913 [²1929] Seler, Eduard: Präparierte Feindesköpfe bei den Jivaro-Stämmen des oberen Marañon und bei den alten Bewohnern des Departements Ica an der Küste von Peru, in: Baessler-Archiv 6, 1922, S. 82-86 Seler-Sachs, Caecilie: Die Photographie auf Forschungsreisen, in: Deutscher Camera Almanach 2, 1906, S. 103-111 Sellin, Albrecht Wilhelm: Das Kaiserreich Brasilien (2 Teile in einem Bd.) (Der Weltteil Amerika in Einzeldarstellungen, Bde 2 u. 3) (Das Wissen der Gegenwart, Bde 36 u. 37), Leipzig/Prag: Freytag und Tempsky, 1885

402 | Ambivalente Bilder

Shippee, Robert: Lost Valleys of Peru: Results of the Shippee-Johnson Peruvian Expedition, in: Geographical Review 22:4, 1932, S. 562-581 Ders.: The “Great Wall of Peru” and Other Aerial Photographic Studies by the Shippee-Johnson Peruvian Expedition, in: Geographical Review 22:1, 1932, S. 1-29 Sievers, Wilhelm: Die Cordillere von Mérida nebst Bemerkungen über das Karibische Gebirge: Ergebnisse einer mit Unterstützung der Geographischen Gesellschaft zu Hamburg 1884-1885 ausgeführten Reise (Geographische Abhandlungen, Bd. 3, Heft 1), Wien/Olmütz: Hölzel, 1888 Ders.: Die Cordillerenstaaten (2 Bde) (Sammlung Göschen, Bde 652 u. 653), Berlin: Göschen, 1913 Ders.: Die Quellen des Marañón-Amazonas, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde 45:8, 1910, S. 511-524 Ders.: Reise in der Sierra Nevada de Santa Marta, Leipzig: Gressner & Schramm, 1887 Ders.: Reise in Perú und Ecuador ausgeführt 1909 (Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Leipzig, Bd. 8), München/Leipzig: Duncker & Humblot, 1914 Ders.: Südamerika und die deutschen Interessen: Eine geographisch-politische Betrachtung, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1903 Ders.: Süd- und Mittelamerika (Allgemeine Länderkunde, Bd. 3b), 3., neubearb. Aufl., Leipzig 1914 Ders.: Venezuela (Auslandswegweiser, Bd. 1), Hamburg: Friederichsen & Co., 1921 Ders.: Venezuela und die deutschen Interessen (Angewandte Geographie: Hefte zur Verbreitung geographischer Kenntnisse in ihrer Beziehung zum Kultur- und Wirtschaftsleben, 1. Serie, Heft 3), Halle a.d.S.: Gebauer-Schwetschke, 1903 Simenon, Georges: Das Geheimnis der Galapagos-Inseln, in: Schwarze Beute (Thriller Magazin, Bd. 1), hg. v. Norbert Klugmann und Peter Mathews, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1986, S. 93-118 Ders.: Hotel „Zurück zur Natur“, übers. v. Irène Kuhn, Zürich: Diogenes, 2006 [frz. 1938 u.d.T. Ceux de la soif] Speiser, Felix: Im Düster des brasilianischen Urwalds, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1926 Spillmann, Joseph: In der Neuen Welt: Ein Buch mit vielen Bildern für die Jugend (Bd. 1: Westindien und Südamerika), 2., verm. Aufl., Freiburg i. Br.: Herder, 1904 Spix, Johann Baptist von und Martius, Carl Friedrich Philipp von: Reise in Brasilien auf Befehl Sr. Majestät Maximilian Joseph I. Königs von Baiern in den Jahren 1817 bis 1820 gemacht und beschrieben (3 Bde u. ein Atlas), München: Lindauer, 1823-1831 Squier, Ephraim George: Peru: Reise- und Forschungs-Erlebnisse in dem Lande der Incas, Leipzig: Spohr, 1883 [engl. Peru: Incidents of Travel and Exploration in the Land of the Incas, New York: Harper, 1877] Staden, Hans: Brasilia (Americae, Bd. 3), Frankfurt a.M.: de Bry, 1593, Digitalisat der Universitätsbibliothek Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/bry1 593bd3 [27.08.2018] Ders: Ein deutscher Landsknecht in der Neuen Welt (Alte Reisen und Abenteuer, Bd. 23), bearb. v. Robert Lehmann-Nitsche, Leipzig: Brockhaus, 1929

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404 | Ambivalente Bilder

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Personenverzeichnis

Adalbert von Preußen 65 (24) Adolph, Alphons 33 Affonso, V.J.S. 31 Agassiz, Louis 15 Alberdi, Juan Bautista 164 Aldinger, Paul 195 Alejos, Baldomero 98 Allan, Jorge 31 Álvarez C., Francisco 31 Alves Brasil, Manuel 32 Amaral, Libanio 138, 237 (228), 271, 319 Andersson, W. 23, 90 Andree, Richard 158 (29) Anton, Karl 369 Anwandter, Carl 196 Arana, Julio César 315 Arancibia, Alamiro 31 Aust, Albert 33, 271 Avanzi, Eugenio 30, 259 Ayerza, Francisco 289 Bachmann, H. 30 Badie, José 352 (195) Bailey, R. W. 31 Baker, Josephine 244 Baldus, Herbert 76 Bandelier, Adolph Francis Alphonse 108 Bartmann, Sarah 244 Bassen, Curt 37, 38, 330, 331 Bastian, Adolf 64 (20), 65 (24) Baudelaire, Charles 244 Baumeister, Carlos 74 Baumeister, Christian 134

Beerbohm, Julius 136 Bell, John 312 Bellermann, Ferdinand Konrad 41 Benavides Llanos, Vicente 349 Benjamin-Constant, Jean-Joseph 225 (190), 336 Bennett, Wendell 104 Benque, Francisco 15 Berardi, E. 33 Berg, Albert 41 Bernatzik, Hugo Adolf 64 Bialet Massé, Juan 268 Bidschovsky, J. 31 Biener, Adolf 30 (76) Biguá, Casimiro 301 Bingham, Hiram 104, 113, 325 (134) Birle, Carlos 30 Bismarck, Otto von 47, 171 Bitsch, Jørgen 326, 327, 362 Bivort, Carlos 31 Black, James Wallace 127 Blanes, Juan Manuel 334, 342 (173) Blumenau, Hermann 199 Boas, Franz 91, 98, 234 Bock, A. 31 Boggiani, Guido 75-79, 80, 82, 90, 96, 218, 219, 238 (235), 239, 241, 250, 309, 331, 344 (180) Bolinder, Gustaf 13, 92-94, 99, 298, 319 Bonaparte, Roland 243 (243) Bonpland, Aimé 7 Bougainville, Louis Antoine de 246, 367 (16) Bouquet, Ana L.B. de 32

494 | Ambivalente Bilder

Bouquet Rives, Juan 32 Bourquin, Gastón Aquiles 29, 30, 128, 258, 265 Boy, Martha 313 Brackebusch, Ludwig 147 (228) Brandt, Carlos 31, 355 Braun, Otto Philipp 157 (25) Brehme, Hugo 30 (76) Bruch, Carlos 71, 74 Brüning, Hans Hinrich (Heinrich, Enrique) 13, 14, 65 (22), 99, 102, 106-110, 211, 212, 231, 232, 247 Bruyne, Peter de 32 Bry, Theodor de 9, 228 (199), 311 Bryce, James 224 Bulling, Carlos 32 Burgemeister, L. 31 Bürger, Otto 17, 151, 155, 273 Burmeister, Hermann 24, 147 (228), 154, 342 Buschan, Georg 64, 78, 225, 234, 243, 248 Butler, Josephine 251 Calderon Kunduri, Epiphania 73, 74, 104, 223 Calegari, Virgilio 16, 208 Calfucurá, Juan 339 Calvet, Juan L. 30 Capelo, Joaquín 295 Carluccio, A. 31 Carstens, Federico 32 Casement, Roger 315 Cassaffousth, Carlos 268 Castro Pozo, Hildebrando 296 (66) Caupolicán 297 (72), 349, 362 Cavazzutti, Stefano 27, 38, 78, 80 Chamberlain, Alexander Francis 78, 141 Chambi, Martín 16, 17, 31, 266 (24), 302, 303 Chodowiecki, Daniel Nikolaus 219 (176) Cogogn-Topp, Monjan (der Starke) Bacharel Francisco 360 Colo Colo 349

Conrads, Adolfo 31, 266, 287, 288 Cooper, James Fenimore 291 Cortés, Hernán 11, 227 Crevaux, Jules 331, 344 (180) Cummins, Geraldine 325 Cunill, J. 30, 265, 267 Damiana (Kryygi) 68-71, 69, 74, 223, 248, 344 Damman, Carl Victor 14, 64 Daniel, Hermann Adalbert 146 Dargue, Herbert 126 Darwin, Charles 340 Dauthendey, Max 179, 180 Debat-Ponsans, Édouard 225 (190) Delacour, Adolphe 24 Della Valle, Ángel 334 Dellazoppa, E. 31 Dienst, Rudolf 119, 185, 186, 277, 325, 372 Dixie, Florence 136 Döblin, Alfred 216 Doggenweiler, F. 32 Donat, Franz (Franz Stehmann) 2123, 84, 89, 131, 136, 155, 157, 161, 166, 171-173, 175, 178, 179, 182, 193, 206, 210, 211, 230, 236, 248, 264, 300, 305, 325, 335 (151), 358, 359, 361 Dreblow, Ernst 43, 44, 126, 129 Droonberg, Emil 166 Dyott, George Miller 24, 25, 42 (106, 107), 117, 118, 126, 133, 175, 183, 185, 211, 307, 318 (119), 323, 324, 364 Eberhard, Hermann 155 (20), 351, 366 Ebert, Friedrich 212 Echeverría Espinosa, José Esteban Antonio 334 Edschmid, Kasimir 7, 8, 11, 17, 20, 21, 26, 113, 114, 156, 157, 166, 167, 171, 175, 197, 230 (205), 290 (51), 363, 371, 372

Personenverzeichnis | 495

Ehrenreich, Paul 13, 62, 65 (24), 71 (42), 73, 87, 123, 158 (29), 306, 316, 318 (118-120) Eichenberger, Emilio 30 (76) Eichenberger, Roberto 30 (76) Ellert, Jorge 31, 208, 209 Elliot, Elisabeth 325 Elliot, Jim 325 Emmerich, Ferdinand 12, 153, 157, 166, 179, Encina, Carlos 341 Engel, Franz 238 Engelhardt, August 182 Enock, Charles Reginald 316 (108) Ercilla y Zúñiga, Alonso de 349 (189) Erythropel, Karl 270 Ewers, Hanns Heinrich (Heinz) 225, 249, 312 Faber, Kurt 186 Facundo Quirogas, Juan 297 Falk-Rønne, Arne 324 (130), 325, 362 Faupel, Wilhelm 156 (25) Fawcett, Brian 325 Fawcett, Jack 25, 323, 324 Fawcett, Percival Harrison („Percy“) 25, 149, 311 (99), 323-325, 329, 364 Feller, Adolf 27 (68), 38 Fernández Cancio, José 76, 77 (55), 331 Ferrez, Marc 15 Fidanza, Felipe Augusto 319 Figueroa Aznar, Juan Manuel 17 (36), 98, 113, 266 (24) FitzRoy, Robert 340 Flaherty, Robert J. 246 Fleming, Peter 166, 324, 325, 328, 329 Flower, Charles Edwin 33 Ford, Henry 260 (14) Ford, Henry II 261 (14) Foresti, Carlos 32 Förster, Bernhard 207 Förster, Elisabeth 207 Francé-Harrar, Annie 133

Franzen, Wilhelm 317 Freire y Serrano, Ramón 349 Freud, Sigmund 234 Frič, Alberto Vojtěch 77, 320, 358, 359, 360 (206) Friedemann, Carlos 31 Frisch, Albert Christoph 14 Fritsch, Gustav Theodor 244 Frond, Victor 14 Fumagalli, Zaverio 29, 281, 309, 310 Fumière, Theo 309 Funke, Alfred 167, 193, 199, 289 Galeno, Oscar 31 Gallo, Domingo 31 Gänsli, Wilhelm (Guilherme Gaensly) 31 García, Alan 328 (137) Garreaud, Fernando 320 Garreaud, Pedro Emilio 16, 31 Gedult von Jungenfeld, Wilhelm Ernst 155, 156 (22), 159, 171, 174, 175, 187, 205, 211 Gerchunoff, Alberto 288 Gerstäcker, Friedrich 12, 19, 153155, 157, 161, 166, 170, 175, 291, 364 (4) Gerstmann, Robert (Roberto) 122 Gloeden, Wilhelm von 251, 252 (271) Godoy Fuentealba, Dagoberto 125 Goering, Anton 123 González Prada, Manuel 97, 293 (58) Grashof, Otto 41 Green Robertson, Merle 104 Grossi, G.M. 32, 357 Grumbkow, Georges B. von 100, 101, 104 Grün, C. A. W. 33 Grüter, Guillermo (Wilhelm Freiherr von Diepenbroick-Grüter) 31, 33, 222, 248 Gusinde, Martin 64, 65 (22), 138 (205), 362 Gutzlaff, Karl Heinrich 15 Guyon, René 249, 250

496 | Ambivalente Bilder

Hagenbeck, Carl 45-47, 56, 243 (243) Haire, Norman 249 Hancock, George Allan 181 Hardenburg, Walter Ernest 315, 320 Harth-Terré, Emilio 104 Hartt, Charles Frederick 15 Hauthal, Rudolf 13, 21, 119, 121, 123, 155 (20), 366 Hedin, Sven 93, 96, 147, 364 Heffer Bissett, Odber 16, 98, 342, 352, 353 Heller, Cornelia 285 (48) Hellgrewe, Rudolf 147, 148 Helling, Victor (Kurt Wilhelm Schmidt) 12 (18) Hemingway, Ernest 323 Henschel, Albert 15 Hernmarck, Arvid Gustaf Michael 102 Herzog, Theodor Carl Julius 13, 21, 22, 119, 129-132, 134, 186, 234, 277, 279, Hesse, Hermann 179 Hetmann, Frederik 291 Hettner, Alfred 123 (175) Heydel, Máximo 31 Heyerdahl, Thor 323 Hildebrandt, Eduard 41 Hirschfeld, Magnus 234, 240, 249 Hitte, Charles de la 68, 73 Hofmann, Ida 179 (96) Hohmann, José 31 Holck, Rodolfo 32 Horgan Jr., John 16, 118, 146 (219) Hormann, Sofia 107 Hornbostel, Erich Moritz von 109 (147) Hübner, Georg 13, 31, 138, 237 (228), 271, 316-320, 322 Humboldt, Alexander von 7, 9, 41, 59, 91, 110, 129, 153, 292 Hurter, Gottfried 30 (76) Ibarra, Carmelo 30 Ibarreta y Uhagon, Pedro Enrique de 77 (55), 331, 344 (180)

Ihering, Hermann von 13, 108, 134, 146, 155, 199 (130), 360 (206) Inakayal, Modesto 301 Isaac, Jorge 283 Jacques, Norbert 179 (94) Johnson, Emory 181 Johnson, George R. („Tuck“) 126 Jones, Robert 31 Jonin, Alexander 236 Juárez Celman, Miguel 356 Junginger, Jacobo 32 Kapelusz, Adolfo (Adolf) 29, 258 Karstulovic, Juan 31 Karutz, Richard 145 Kate, Herman Frederik Carel ten 68, 147 (228) Katz, Richard 9, 17, 20, 127, 155, 157, 159, 166, 170, 173, 175, 197, 198, 200, 206, 235, 263, 264, 268, 273, 278, 291, 371, 375 Keibel, Anna 73, 74 Keller, Franz 14 Kiefer, Mathias 135 Kinsey, Alfred Charles 230 Kircheiß, Carl 42 (107), 121, 139, 140, 170, 226 (193), 235, 263, 266, 277 Kirsinger, Carlos 31, 120, 351, Kleibömer, Guillermo 32 Klein, Hedwig 33 Klimt, Gustav 219 (176) Klumb, Revert Heinrich 15 Kniestedt, Friedrich 170 (73), 179 (96) Knittel, Roberto 15 (28) Koch, Robert 88 (84) Koch-Grünberg, Theodor 13, 21, 65, 73, 88, 91, 95, 97, 119, 123, 144, 306, 315 (107), 316 (109), 317 (116), 319, 361 Koerwin, Dore (geb. Strauch) 180, 181 Kohlmann, Federico (Friedrich) 30, 139, 277, 279, 346 (184) Korn, Alejandro 68, 223, 344

Personenverzeichnis | 497

Kraus, Karl 40 Krause, Fritz 13, 21, 365 Krauss, Friedrich Salomon 217, 218, 234 Krickeberg, Walter 63, 64, 233, 234 Krieg, Hans 13, 21, 76, 92, 134-136, 189, 331, 344, 347 Kroeber, Alfred Louis 108 Kroehle, Charles 13, 100, 311, 313, 316-318, 320-322 Krone, Hermann 318 Krupp, Friedrich Alfred 252 Kryygi (s. Damiana) Kwasny, Adolfo 32 Lacerda, João Batista de 360 (206) Lacruz Salas, R. 31 Laforte, Pablo 30, 272 Landrock, Ernst Heinrich 18 (39), 225 Lane, Charles 304 Lane, William 363 (2) Lang, Fritz 42 (107), 43 (108), 179 (94) Larsen, Carl Anton 139 Laso, José Domingo 31, 145 (219), 283, 284 Lautaro 297 (72), 349 Lawrence, D.H. 218 Leblanc, Félix 16 Leguía, Augusto B. 107, 156 (25), 166 Lehmann, Walter 76 (53) Lehmann-Nitsche, Robert 13, 14, 20, 24, 27 (68), 38, 65 (22), 66-72, 74-83, 87-89, 95, 97, 102-104, 106, 108, 109, 119 (166), 134, 141, 143, 149, 187, 211, 212, 218, 219, 220, 223, 234, 239, 241, 247, 250, 343, 362, 365 Lehnert, Rudolf Franz 18 (39), 225 Lesseps, Ferdinand de 276 Leuzinger, Georg 14, 15 Lévi-Strauss, Claude 91 Levy-Lenz, Ludwig 243 Liebert, Eduard von 200 Light, Richard Upjohn 126, 127 (184)

Liguori, Salvatore 30 Lobo, Jerónimo 312 Löhndorff, Ernst Friedrich 12, 206 (141), 236-238, 328 Londres, Albert 337 López, José 32 López Álvarez, Jorge 31, 241, 242 Lorenz, Rudolf 180, 181 Lowie, Robert Harry (Robert Heinrich Löwe) 95, 98 Ludwig, Erna 270 Luedecke, Hugo 238 Lumpert, Stephan 29 Luschan, Felix von 64 Lütgens, Rudolf 13, 123, 124 Mackinlay Zapiola, Matías 304 Mader, Friedrich Wilhelm 12, 157, 166, 171, 365 Maler, Teobert 106 Malinche (Malintzin) 227 Malinowski, Bronisław 91, 233, 246 Mancilla, M. 31, 270 Mañil 349, 350 Markham, Clements Robert 108 Marques Pereira, J. 31 Martínez, Agustín 32 Martinho, Marcellino 359 Matonte, Mauro 32 Mariátegui, José Carlos 295 Maudslay, Alfred 104 Maull, Otto 119, 175, 203 Mauri, A. 30 Mawatani, Nanata 291 Maveroff, C. 31 May, Karl 12, 22-26, 97, 153-155, 157, 161, 163, 166, 171-173, 175, 186, 236, 263, 280, 281, 291-295, 299, 300, 331-333, 335, 343, 344, 364 (4), 366 Mayer de Zulen, Dora 295, 296 (66) Mayntzhusen, Friedrich Christian 13, 71, 72, 102, 219, 220 Mayr Kopitch, Oscar 32 McCully, Ed 325 Mead, Margaret 246

498 | Ambivalente Bilder

Meader, Rachael Mary 126, 127 (184) Methfessel, Adolf 342 Meyer, Hans 13, 117, 118, 144, 145 (219), 147, 173 (81), 185, 186, 277 Meyer, Hermann 65 Middendorf, Gottlieb Ernst Wilhelm Friedrich 122 Milet, Gustavo 98 Moberg, Carl 23, 90, 91 Moneda, Enrique 31 Moock, León 352 (195) Mora, E. 32 Morel, Carlos 282 (41) Morelli, Pedro 341 Moreno, Edgardo 341 Moreno, Francisco Pascasio („Perito“) 66, 301, 310, 340, 342 Morice, A. 31 Morla, Juvenal 31 Morley, Sylvanus 104 Moss, Arthur Miles 320 Muecke, Edw. E. 31 Mulach, Roberto 32, 355 Mülack, Carlos 31 Müller, Wilhelm 63 (15) Musters, George Chaworth 96 (100), 305 Neff, Curt 13 Nehberg, Rüdiger 362 Neubert, Kurt 43, 44, 247, 276 Neuhauss, Richard 63 Niemeyer, Carlos 31 Nietzsche, Friedrich 177, 207 Nordenskiöld, Adolf Erik 88, 118 Nordenskiöld, Erland (Nils Erland Herbert) 13, 14, 21-23, 84, 86, 88-93, 95-98, 102, 104, 110, 118, 131, 221, 222, 229, 234, 240, 248 (262), 294, 302, 303, 306, 316 (109), 332, 344-346, 362, 364, 366 Nordenskiöld, Olga 96

Nordenskjöld, Otto (Nils Otto Gustaf) 13, 14, 21, 24, 25, 114, 116-119, 122, 125, 127, 128, 131-133, 139, 151, 175, 183, 185, 188, 197, 203, 209, 211, 273, 307, 372 Noske, Gustav 212 Nuggerud, Trygve 181 Obst, Bernhard Hermann 234 Oedenkoven, Henri 179 (96) Oenike, Karl 147 (228) Olds, Harry Grant 16, 260 (10), 261, 264 Ordinaire, Olivier 313 Ortiz de Rosas, Juan Manuel 297 Panunzi, Benito 301 Parra, Agustín 31 Paton, W. G. 31 Paul, Hermann 38 Pease, Benjamin Franklin 16 Pedro II. (bras. Kaiser) 8 Pedrocchi, G.B. 30 Pellicer, Eustaquio 74 (48) Penck, Walther 13, 136, 186, 277, 278 Perry, William James 99 (112) Peschke, Rudolf 22, 171 Peters, Carl 11, 147, 153 Petersen, Georg 110 Petersen, Lorenzo 31 Peuser, Jacobo (Jacob) 29, 119, 256 (4), 264, 265, 270, 341 (172), 353 Pfeiffer, Ida 19 Philippi, Bernhard Eunom (Bernardo) 196 Philippson, Robert 180, 181 Phillips, Allan D. 31 Pigafetta, Antonio 312 Pincén 310, 311, 341 Pinnau, Carlos 31 Pinner, Erna 17, 113 (160), 156, 157 Piwonka, Ernesto 32 Plüschow, Gunther 43-45, 126, 129, 138, 174, 206, 247, 248, 251 (269), 274, 276, 290

Personenverzeichnis | 499

Plüschow, Wilhelm 251 Pohlig, Julius 257 Poirier, Henry (Herman Birnbaum) 32 Polack, Eduardo 31, 311, 313 Polo, Marco 312 Pomar Vega, Julio 31 Pontes, M. 31 Popper, Julius (Julio) 356, 361 Posnansky, Arthur (Arturo) 13, 73, 74, 99-107, 110,111 (157), 113, 121, 146, 223, 295 Pozzo, Antonio 310, 341 Preuss, Konrad Theodor 13, 64, 76 (53), 92, 109 (147), 233, 315 (107) Preusse-Sperber, Otto 17, 133, 155, 171, 175, 184, 190, 191, 252, 273, 274 Prieto, Enrique 31 Pringsheim, Erik 187 (111) Quidde, Hugo 31, 202, 204 Quilapán 350 Regel, Fritz (Christian Friedrich Leopold) 13, 17, 97, 122, 273, 280, 297, 332, Rehbein, Arthur 18 (39), 257, 282, 287 Reiß, Wilhelm 13, 88, 100, 116, 123, Reitzenstein, Ferdinand von 233 Remarque, Erich Maria 44 Reschreiter, Rudolf 144, 145, 147 (229) Reuter, Gabriele 199 (130) Ribeiro, A. 31 Rimell, Raleigh 25, 323-325 Ritter, Friedrich Adolf 180, 181 Rittlinger, Herbert 21 Rivet, Paul 89 Riudavets, F. 30, 256 (4), 259 Roca, Julio Argentino 298 (72), 339, 348 Rocha, Annibal 31

Rohrbach, Paul 128, 172, 175, 192, 194, 196, 198, 199, 202, 203, 208, 209, 212, 275 Romero, Genaro 164 Romero, Sílvio 164, 165, 169 Rondon, Cândido 25, 358 Roosevelt, Franklin D. 181 (99) Roosevelt, Theodore 25 Rosauer, Roberto (Robert) 29, 30, 33, 75, 77, 80-82, 218 (176), 239, 241, 247, 250, 251, 259, 260 (10), 262, 264, 289, 290, 302304, 309 Rösner, Max 31 Ross, Colin 133, 155, 175, 186, 190 (115), 193, 203, 204, 273 Rosswaag, Bernardo 31 Rousseau, Jean-Jacques 294 Rox-Schulz, Heinz 325, 362 Rozas, H. G. 31, 112, 115, 121, 256 (4), 271 Rugendas, Johann Moritz 40, 41, 334 Saavedra Rodríguez, Cornelio 350 Sablich, Luis 31, 267 Sains Peña, M. 31 Saint, Nate 325 Saint-Exupéry, Antoine de 126 (181) Sánchez Cerro, Luis Miguel 166 Sandrock, Reinaldo 32 Sapper, Karl 119 Sarmiento, Domingo Faustino 8, 163, 297, 299, 363 Schaedel, Richard Paul 107 Schäfer, Paul 170 (71) Schauer, Paul 32 Schenck, Johann Heinrich Rudolf 129 Scheurmann, Erich 179 (93) Schiller, Walther 13, 186, 277 Schimanek, Leosch 362 Schliemann, Heinrich 364 Schmidel, Ulrich 20 (47), 228, 230, 311 Schmidt, Hans 84, 85, 136, 146, 151, 186, 187, 210, 274, 303, 348 Schmidt, Max 13, 21, 65 (24), 285 (48), 365

500 | Ambivalente Bilder

Schmidt, Theodor 196 Schmidt, Wilhelm 98 (112) Schmitt, Waldo L. 181 Schneider, Oscar 14, 64, 318 Schomburgk, Moritz Richard 155 (20) Schomburgk, Robert Hermann 155 (20) Schreiber, Otto 155, 157, 235, 280 (36), 289, 290, 340, 353 (198), 362, 366 Schüler, Heinrich 151 Schultze, Arnold 220 (178) Schultze, C.F.E. 207 Schultze-Ast, Carlos 31 Schulz-Kampfhenkel, Otto 175 Schwartz, Jerman 31, 36, 37 Sealsfield, Charles 291 Seel, Adolf 225 (190) Seler, Eduard 60 (6), 106, 326 Seler-Sachs, Caecilie 60 (6), 106 Seliger, Walter 32 Sellin, Albrecht Wilhelm 180 (97) Sepúlveda V., Juan M. 31 Shippee, Robert 126 Shiras, George III 134 (194), 265 (23) Siegmund, A. 249 (264), 336 (155) Sievers, Wilhelm 13, 17, 122-124, 144, 147, 208 Simenon, Georges 181 Slick, Sam 301 Smith, Grafton Elliot 98 (112) Springmüller, Pablo 31 Squier, Ephraim George 101, 111 (157) Staden, Hans 9, 20, 152, 157 (25), 228 (199), 311 Stahl, August 15 Staller, Peter August (PAS) 155, 157, 166, 205, 206, 300, 336 Stanke, Alberto 31 Stead, William Thomas 251 Steffen, Hans 350 Stegmann, Adolfo 31 Steinen, Karl von den 13, 65 (24), 87, 234, 316, 318 (120), 365 Steiner, Rudolf 180 (97)

Stelzner, Alfred Wilhelm 147 (228) Stosch-Sarrasani, Hans 205, 240 Strauss, Richard 252 Stübel, Alphons 13, 81, 88, 100, 101, 104, 110, 116, 318 Stucken, Eduard 42 (107) Swift, Jonathan 22 Tamargo, Juan 31 Tangermann, Alma 209 Tessmann, Günther 145 Therese Prinzessin von Bayern 120, 147, 320-322, 341 (172) Tocqueville, Alexis de 340 Tounens, Orélie Antoine de 349 Traeger, Paul 222, 283, 284, 285 (47), 355 Traven, B. 13, 97 Tschudi, Johann Jakob von 101, 111 (157) Tucholsky, Kurt 156 (23), 225, 337 Tuck, Adolph 33 Tuck, Raphael 33 Turner, W.E. 32 Uhle, Max 13, 14, 27 (68), 38, 64, 72, 80, 81, 97, 99-104, 106-108, 110, 143, 144, 212, 282, 294, 332, 364 Ule, Wilhelm 123 (174), 197 (129) Umlauff, Heinrich 42 (107) Vaachú-gi (?) 219, 220 Valck, Christian Heinrich 15 Valck, Enrique 15 (28), 38, 39 Valck, Fernando Maximiliano 15 (28), 31 Valck, Jorge 15 (28) Valdivia, Pedro de 349 Vallentin, Wilhelm 18, 145, 155 Vargas, Carlos 265 Vargas, Max T. 17, 31, 33, 100, 112, 266 (24) Vargas, Miguel 266 Veiga Iglesias, Cándido 32 Velasco Astete, Alejandro 17, 125 Viereck, A. 31

Personenverzeichnis | 501

Virchow, Hans 69, 74 Virchow, Rudolf 47, 69, 71 (42), 122, 365 Vogt, Paul F. 73, 74 Wagner, Richard 173 Wagner de Bousquet, Eloise (oder Elvira, auch Wehrborn de Wagner-Bosquet) 180, 181 Wahnschaffe, Hermann 15 Walther, Max 265 Webbe, Edward 312 Weberbauer, August 129-131, 143, 144, 211, 212 Weiss, F. 29 Welskopf-Henrich, Liselotte 291 Wettstein, Karl Alexander 137, 160, 172, 184, 195, 200, 201, 203, 211, 257 (7), 358-362 Weule, Karl 65 Wickham, Henry 261 (15) Wiederhold, Carlos 32

Wiederhold, Ricardo 32 Wiederhold, Roberto 31 Wilde, Oscar 252 Wilhelm II. (deutscher Kaiser) 201, 252 Wimmer, H. 30 (76) Winkler, Emilio 32 Winton Jones, Albert de 324 Wirth, Albrecht 274, 277 Wissmann, Hermann von 147 Witt, Heinrich 45 (114) Wolf, R. 32 Wörishöffer, Sophie 12, 155, 157, 291, 364 (4) Youderian, Roger 325 Zeballos, Estanislao Severo 341 Zöller, Hugo 24, 155 Zulen, Pedro 295 Zweig, Stefan 235, 249 (264)

Danksagung

Die vorliegende Arbeit zu schreiben wäre unmöglich gewesen ohne die großartige Unterstützung von Barbara Potthast. Sie bahnte mir den Weg von der Arbeitergeschichte zur historischen Bildkunde, half mir, die Richtung zu finden, und gab mir, wenn nötig, einen kleinen oder größeren Schubs. Sie lotste mich nicht nur durch alle Untiefen etwa bei Anträgen oder im Habilitationsverfahren, sondern vor allem auch durch die Untiefen meiner Ideen. Auch Jens Jäger bin ich zu unendlichem Dank verpflichtet. Er führte mich in die Thematik ein, begleitete und korrigierte mich, während ich meine Ideen entwickelte, diskutierte sie mit mir und stellte mir großzügig eigene Forschungsentwürfe zur Verfügung. Thomas Fischer hat mich auf meinen Weg gebracht und unterstützt mich seitdem wo immer er kann. Er und Wolfram Nitsch waren nicht nur wegen ihrer Gutachten im Habilitationsverfahren eine wertvolle Hilfe. Für unzählige kleine und große Gefallen, Gespräche und Diskussionen bedanke ich mich bei meinen ehemaligen Kolleg_innen der Abteilung für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte des Historischen Instituts der Universität zu Köln: Albert Manke, Antonio Sáez-Arance, Elisabeth Pütz, Holger Meding, Kathrin Reinert, Michael Zeuske, Milagros Pacco, Sarah Albiez-Wieck, Stefanie Gänger und Vanessa Höse. Dank schulde ich außerdem Matías Wolosewicz und seiner Frau Michelle für ihre Hilfe, wenn ich meine Arbeit auf Spanisch präsentierte. Sven Pötting, Anne-Katrin Heinen, Judith Große und Johanna Fernández Castro halfen mir mit Informationen und Hinweisen zu unterschiedlichen Themen vom frühen Film über schwedische Bildpostkarten oder sexualwissenschaftliche Zeitschriften bis zu den Veröffentlichungen Theodor Koch-Grünbergs. Möglich gemacht hat meine Arbeit die DFG 2012 mit einer großzügigen Sachmittelbeihilfe. Christine Hatzky gibt mir die Freiheit, meine Arbeit so zu machen, wie ich sie mache, vielen Dank dafür. Für Kommentare, Zuspruch, Kritik und vielerlei weitere Hilfe bedanke ich mich bei Gisela Cánepa Koch, Inés Yujnovsky, Jessica Stites Mor, Nils Jacobsen, Pilar García Jordán, Steven Hirsch und Verónica Tell sowie insbesondere bei Silke Hensel und Ulrich Mücke, in deren Kolloquien ich wertvolle Anregungen erhielt. Herzlich gedankt sei auch dem Altonaer Museum in Hamburg, besonders dem Team der digitalen Inventarisierung um Sylvia Jodat und Peter Adler, Birgit Staack aus dem Archiv sowie Nicole Tiedemann-Bishop, für die produktive und fröhliche Zusammenarbeit. Genau wie das SHMH/Altonaer Museum gewährte mir auch das Ethnologische Museum in Berlin Zugang zu den Archivbeständen bzw. deren Digita-

504 | Ambivalente Bilder

lisaten. Manuela Fischer sei hierfür besonders gedankt. Von der Offenheit dieser beiden Museen, deren Linie sich zum Glück, so mein Eindruck aus Forscher-/Nutzersicht, nach und nach durchsetzt, können sich andere Häuser etwas abschauen. Herzlich gedankt sei weiterhin Gudrun Schumacher im Ibero-Amerikanischen Archiv in Berlin für ihre Hilfe. Dafür, dass sie großzügig Scans Ihrer Bildpostkarten und ihr Wissen mit mir teilten, danke ich außerdem Daniel Cisilino, der seine Sammlung nicht von Buenos Aires nach Dublin mitnehmen konnte, und Humberto Currarino (QEPD) in Callao. Erste Ergebnisse meiner Forschung zu südamerikanischen Fotos und Bildpostkarten stellte ich auf verschiedenen Konferenzen und in mehreren Aufsätzen vor. Für die Zusammenarbeit dabei und für die Ideen, die sie zur weiteren Entwicklung meiner Forschung beigesteuert haben, bedanke ich mich bei Herausgeber_innen und Redakteur_innen, u.a. bei Christine Bartlitz von Visual History, Wolfgang Hesse vom Rundbrief Fotografie, Michael Kraus, Florian Krobb, Irene Ziehe, Didier Guignard und Iris Seri-Hersch, sowie bei den zahlreichen Kolleg_innen, die mit mir auf Workshops, Tagungen und Kongressen diskutiert haben, insbesondere Sven Schuster und Tamara Loos, die ihren Vortrag über René Guyon mit mir teilte. Im Sommersemester 2014 habe ich das Thema dieser Arbeit in einem Hauptseminar an der Universität zu Köln „ausprobiert“. Ich danke den Studierenden, die überaus engagiert und fruchtbar mit mir und untereinander diskutiert haben; Gerhard H. Ehlers bereicherte das Seminar und meine Arbeit mit seinem Wissen zu Gunther Plüschow. Mein Freund Rolf Königshausen schenkte mir seinen Scanner, der mir bei der Arbeit mit gedruckten Fotografien und Bildpostkarten sehr gute Dienste leistete. Vielen Dank für die Großzügigkeit; es tut mir leid, dass meinetwegen so viele Proben ausgefallen sind. Meine Mutter hat die Arbeit Korrektur gelesen, dafür bedanke ich mich. Mein Bruder Lennart Onken besorgte mir auf den letzten Drücker Scans in der Bibliothek des Ethnologischen Museums in Berlin, auch dafür herzlichen Dank! Meine lieben Freundinnen Sandra von der Heide und Brigitte Erdweg beherbergen, umsorgen und bekochen mich und sind mir Familie, wann immer ich in Köln bin, dafür danke ich ihnen und Conni und Manu. Für ihre Unterstützung, Nachsicht und Geduld danke ich Punkt, Thea und Alma, ich liebe Euch! Soltau, im September 2018

Geschichtswissenschaft Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.)

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Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Geschichtswissenschaft Alban Frei, Hannes Mangold (Hg.)

Das Personal der Postmoderne Inventur einer Epoche 2015, 272 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3303-0 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3303-4

Manfred E.A. Schmutzer

Die Wiedergeburt der Wissenschaften im Islam Konsens und Widerspruch (idschma wa khilaf) 2015, 544 S., Hardcover 49,99 € (DE), 978-3-8376-3196-8 E-Book: 49,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3196-2

Pascal Eitler, Jens Elberfeld (Hg.)

Zeitgeschichte des Selbst Therapeutisierung – Politisierung – Emotionalisierung 2015, 394 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3084-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3084-2

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