Althochdeutsche und altsächsische Literatur 9783110245509, 9783110245493

This volume presents in alphabetical order revised articles on Old High German literature from the second edition of the

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German Pages 576 Year 2013

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Table of contents :
Einleitung
Althochdeutsche und altsächsische Literatur
Abkürzungen für Bibliotheken
Abkürzungen für Sprachen und Dialekte
Abkürzungen für Zeitschriften und Sammelwerke
Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur
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Althochdeutsche und altsächsische Literatur
 9783110245509, 9783110245493

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De Gruyter Lexikon Althochdeutsche und altsächsische Literatur

Althochdeutsche und altsächsische Literatur Herausgegeben von

Rolf Bergmann

De Gruyter

ISBN 978-3-11-024549-3 e-ISBN 978-3-11-024550-9 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen 앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Althochdeutsche und altsächsische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungen für Bibliotheken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 Abkürzungen für Sprachen und Dialekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 Abkürzungen für Zeitschriften und Sammelwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . 546 Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549

Einleitung

Die letzte lexikographische Behandlung der althochdeutschen und altsächsischen Überlieferung in Einzelartikeln erfolgte im Rahmen der gesamten deutschen Literatur des Mittelalters in der zweiten Auflage des ‘Verfasserlexikons’, die von 1978 bis 2008 erschienen ist1. Das hier vorgelegte Werk bietet eine vom Verlag angeregte Neubearbeitung für den Bereich der althochdeutschen und altsächsischen Überlieferung. Eine solche auf die Überlieferung des 8. bis 11. Jahrhunderts konzentrierte Darstellung kann in der gegenwärtigen Situation des Althochdeutschen und Altsächsischen in Forschung und Lehre die wichtige Aufgabe übernehmen, den heutigen Kenntnisstand und die verbleibenden Desiderate zu dokumentieren und damit auch die weitere Erforschung und Rezeption der frühmittelalterlichen deutschen Literatur zu fördern. Deshalb wurde besonderer Wert darauf gelegt, möglichst die an der Erarbeitung des aktuellen Forschungsstandes beteiligten Wissenschaftler als Autoren der Artikel zu gewinnen, so dass das Lexikon durchgehend den Forschungsstand des Jahres 2012 bietet. Das gilt auch für die überarbeiteten Artikel der zweiten Auflage des ‘Verfasserlexikons’, die dadurch kenntlich sind, dass die Verfasser der früheren Artikel und die jetzigen Bearbeiter gemeinsam für die Artikel zeichnen. Mit der Herausnahme des althochdeutschen und altsächsischen Bereichs aus dem Gesamt der mittelalterlichen Überlieferung stellte sich die Frage seiner Abgrenzung. In Abstimmung mit dem Verlag und im Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen wurde hier eine eher engere Festlegung des Althochdeutschen getroffen und in Anlehnung an Rudolf Schützeichels ‘Althochdeutsches Wörterbuch’ die Grenze im 11. Jahrhundert nach Williram und Otloh gezogen2. Die Abgrenzung des Altsächsischen erfolgte in Überein-

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Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hg. v. Kurt Ruh, Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger u. Franz Joseph Worstbrock, I-XIV, Berlin/New York 1978-2008. R. Schützeichel, Althochdeutsches Wörterbuch, 7. A. Berlin/Boston 2012, S. 13-19.

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Einleitung

stimmung mit Heinrich Tiefenbachs ‘Altsächsischem Handwörterbuch’3. Für die Aufstellung der Stichwortliste wurden die zweite Auflage des ‘Verfasserlexikons’ und R. Schützeichels und H. Tiefenbachs Siglenlisten abgeglichen und darüber hinaus das Paderborner Repertorium4 konsultiert. Neu aufgenommen gegenüber der zweiten Auflage des ‘Verfasserlexikons’ wurden für das Althochdeutsche die ‘Zeitzer Beichte’ sowie kleinere Zeugnisse wie die ‘Binger Inschrift’ und der ‘Hicila-Vers’, für das Altsächsische die Sentenz Leos von Vercelli und das Paderborner Fragment einer Interlinearversion des Psalters. Da bei R. Schützeichel seit der 6. Auflage seines Wörterbuchs einige kleinere Texte wie ein ‘Admonter Segen’ und ein ‘Salzburger Bienensegen’ neu berücksichtigt sind, die bisher nicht zum Althochdeutschen gerechnet wurden, erhalten auch diese sowie einige andere, bisher im ‘Verfasserlexikon’ nicht berücksichtigte sehr kurze Zeugnisse wie etwa die ‘Weingartner Buchunterschrift’ wenigstens Kurzartikel. Neu ist in dem vorliegenden Werk die weitaus stärkere Berücksichtigung der Glossen- und Glossarüberlieferung als kultur- und bildungsgeschichtliche Zeugnisse des Frühmittelalters. In der zweiten Auflage des ‘Verfasserlexikons’ waren bereits eine Reihe von althochdeutschen und altsächsischen Glossaren und Glossierungen in eigenen Artikeln behandelt worden, so ‘Abrogans’, ‘Essener Evangeliarglossen’, ‘Merseburger Glossen’, ‘Salomonische Glossare’, ‘Samanunga worto’, ‘Schlettstadter Glossar’, ‘Summarium Heinrici’, ‘Versus de Volucribus’, ‘Vocabularius Sti. Galli’. Diese Stichwörter werden nun um weitere für die Glossare ‘Ja’, ‘Jb’ und ‘Jc’, für ‘Rb’ und für die ‘Mondseer Bibelglossen’ ergänzt. Die zweite Auflage des ‘Verfasserlexikons’ enthielt auch schon eine Reihe von Artikeln zur mittelalterlichen Rezeption lateinischer Autoren der Antike und Spätantike, nämlich zu Ambrosius, Avian, Boethius, Gregor dem Großen, Hieronymus, Isidor von Sevilla, Macer, Persius, Prudentius, Pseudo-Apuleius, Sedulius und Vergil, sowie Artikel zu lateinischen Autoren des frühen Mittelalters wie Alkuin, Beda, Hrabanus Maurus und Walahfrid Strabo. In diesen Artikeln wurden die althochdeutschen Glossierungen der Werke dieser Autoren in der Regel kurz erwähnt; nur der Prudentius-Artikel von Stefanie Stricker im Nachtragsband bot bereits ausführliche Informationen dazu. Der hier am Ende der zweiten Auflage gemachte Anfang wird in der vorliegenden Neubearbeitung des althochdeutschen Bereichs weiter ausgebaut. Angesichts der sehr unterschiedlichen quantitativen Verhältnisse bei der Glossierung nicht3 4

Heinrich Tiefenbach, Altsächsisches Handwörterbuch. A Concise Old Saxon Dictionary, Berlin/New York 2010, S. xiii-xxxviii: Verzeichnis der Texte. Paderborner Repertorium der deutschsprachigen Textüberlieferung des 8. bis 12. Jahrhunderts (http://www.paderborner-repertorium.de/).

Einleitung

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biblischer Texte musste hier aber eine Auswahl getroffen werden. Berücksichtigung finden nur die Autoren, zu denen nach dem heutigen Kenntnisstand wenigstens 100 volkssprachige Glossen überliefert sind. Außer für die genannten Autoren wurden daher nun auch für Aldhelm, Arator, Avitus von Vienne, Cassianus, Eusebius, Haimo von Auxerre, Horaz, Juvenal, Juvencus, Lucan, Orosius, Phocas, Priscian, Pseudo-Abdias, Sallust, Sedulius Scottus, Smaragdus von St. Mihiel und Sulpicius Severus Artikel mit der Darstellung ihrer volkssprachigen Glossierung aufgenommen. Damit finden über 90% der Glossierung nichtbiblischer Texte in dem vorliegenden Werk Berücksichtigung. Die nicht behandelten 154 Autoren und Werke mit jeweils unter 100 Glossen machen nur etwa 3% dieses Teils der Glossenüberlieferung aus5. Die prinzipiell personenorientierte Ausrichtung des ‘Verfasserlexikons’, die in diesem Untertitel zum Ausdruck kommt, greift bekanntlich im Althochdeutschen weitgehend ins Leere, insofern es nur wenige bekannte Verfasser althochdeutscher Texte gibt, die natürlich unter ihren Namen Notker und Otfrid, Otloh und Williram behandelt werden. Für weite Bereiche der althochdeutschen und altsächsischen Überlieferung ist freilich Anonymität die Regel, so dass entsprechende Werke wie das ‘Hildebrandslied’, der ‘Weißenburger Katechismus’ usw. unter ihren von der Forschungstradition bestimmten Titeln behandelt werden. Für den Überlieferungsbereich der Beichtformulare bot sich allerdings zur Vermeidung von Wiederholungen eine zusammenhängende Darstellung unter dem Sammeltitel ‘Beichten’ an, auf den von den Einzeltiteln aus darauf verwiesen. Durch die Forschungsgeschichte bedingte Änderungen in der Titelgebung und sonstige Schwankungen in den Bezeichnungen der Denkmäler werden durch entsprechende Verweise berücksichtigt. Forschungsgeschichtliche Gründe bedingen auch Unterschiede im Umfang und in der Anlage der Artikel. Der Individualität der beteiligten Forscher wurde hier bewusst Spielraum gewährt. Auch die redaktionelle Gestaltung zielte nicht auf völlige Gleichmäßigkeit der Artikelgestalt ab. Aus Raumgründen werden die Bibliotheksbezeichnungen, Angaben von Sprachen und Dialekten sowie Titel von Zeitschriften und Sammelwerken abgekürzt. Häufig zitierte Werke werden mit verkürzten Angaben angeführt, selten zitierte Literatur wird in dem jeweiligen Artikel vollständig angegeben. Soweit in einem Artikel Abkürzungen und verkürzte Literaturangaben stehen, sind die entsprechenden Verzeichnisse am Ende des Buches heranzuziehen. Als Herausgeber und Redakteur danke ich an erster Stelle allen Autorinnen und Autoren sehr herzlich für ihre Mitwirkung. Für die verlegerische Betreu5

Vgl. Rolf Bergmann, Umfang und Verteilung volkssprachiger Textglossierung und Textglossare: Nichtbiblische Texte, in: BStH I, S. 118f.

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Einleitung

ung danke ich zunächst Herrn Prof. Dr. Heiko Hartmann, sodann Frau Birgitta Zeller-Ebert und Herrn Dr. Jacob Klingner, für die herstellerische Betreuung Frau Susanne Mang und Frau Lena Ebert. Ich danke Frau Prof. Dr. Stefanie Stricker für manchen guten Rat und meiner Frau Bruni für die ausdauernde Arbeit am Layout und an der Druckvorlage. Mit allen Beteiligten gemeinsam hoffe ich, dass von dem vorliegenden Werk neue Impulse für die Erforschung der Frühzeit unserer Sprache und Literatur ausgehen und die Faszination der in vielem trümmerhaften und an ungeklärten Problemen reichen Überlieferung neue Forschung anregt.

Bamberg, im Februar 2013

Rolf Bergmann

Abdias Ú Pseudo-Abdias, Althochdeutsche Glossierung ‘Abecedarium Nordmannicum’ Überlieferung: St. Gallen, StB 878, p. 321 (durch Reagenzien stark beschädigt); Digitalisat: CESG; vgl. PadRep. Ausgaben: Nachzeichnung (durch Ildefons von Arx) bei W. C. Grimm, Tab. II, eine nach Reagenzanwendung entstandene Nachzeichnung veröffentlichte W. Grimm (= v. Arx2 bei E. Wadstein), häufig reproduziert, so bei J. H. Gallée, As. sprachdenkm., Facs. Slg., Nr. XIIb; RGA XXV, 2003, S. 520; K. Düwel Abb. 25. Stärker abweichend die Nachzeichnung bei H. Hattemer, Denkmahle, I, Tafel I (mit Buchstabenverlust durch Beschnitt am rechten Rand). Drucke (Auswahl): MSD Nr. V, I, S. 19f. (Runenzeichen separat vor dem Text), II, S. 55-57; E. Wadstein, Kleinere as. sprachdenkm., Nr. VI, S. 20; 129-131 (Runenzeichen nur im Kommentar; mit den Varianten der vorgängigen Ausgaben). Die handschriftennächste Form bei P. Piper, S. 445.

Der inhaltsreiche Codex, der das Gedicht überliefert, enthält eine große Zahl von Texten und Auszügen (Übersicht bei B. Bischoff, Mittelalt. Stud., II, S. 38-41) und ist ausweislich einer Notiz zum Erdbeben des 1. Juni 849 von einem Hauptschreiber zusammengestellt worden, der dieses Ereignis wohl miterlebt hat. Dass es sich bei ihm um den zuletzt als Abt des Klosters Reichenau wirkenden Ú Walahfrid Strabo († 18. August 849) handelt, dessen persönliches Vademecum der Codex darstellt, der ihn über viele Jahre seines Lebens begleitet hat, hat B. Bischoff (Mittelalt. Stud., II, S. 3451) in einer umfangreichen Analyse der Handschrift plausibel gemacht. Walahfrids Eintrag des ‘A. N.’ bewahrt das älteste der überlieferten Runengedichte (zum ‘A. N.’ A. Bauer, S. 58-77), das neben dem altenglischen, dem altnorwegischen, dem altisländischen und dem schwedischen trotz typologischer Unterschiede wie diese eine Merkdichtung zur Erlernung der Runennamen und ihrer Abfolge ist. Das Gedicht bildet den Schluss einer Reihe von Alphabeten. Er folgt auf ein hebr. und ein griech. Alphabet (jeweils mit den zugefügten Buchstabennamen in lat. Umschrift, beim griech. auch mit den Zahlenwerten) und ein ags. Fuþorc, die sich an ein Exzerpt aus Isidors Etymologien (I,3,4 bis I,4,1) anschließen, wo über die lat. und griech. Buchstaben gehandelt wird. Diese Einträge zeigen Walahfrids Schrift im Stadium der Jahre 829-849. Der Codex, der auch ahd. Glossen von Walahfrids Hand enthält (BStK-Nr. 249, mit weiterer Lit. zur Hs.), ist aus dem Nachlass des Polyhistors Aegidius Tschudi im Jahre 1768 nach St. Gallen gelangt. Nach einem Eintrag im Katalog der Churer Dombibliothek vom Jahre 1457 (Nr. G 29) könnte er sich zuvor in deren Beständen befunden haben (P. Lehmann, S. 184 und Anm. 18, mit Hinweis auf Walahfrids Hand). Der

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‘Abecedarium Nordmannicum’

Archivar und Bibliothekar des St. Galler Stifts I. von Arx hat vom Text des ‘A. N.’ im Anfang des 19. Jh.s einige unbeholfene Nachzeichnungen angefertigt, auf die seit W. Grimms Erstveröffentlichung alle späteren Editionen zurückgreifen müssen, da der originale Bestand durch Reagenzanwendung teilweise unlesbar geworden ist. Somit bleibt im Textbefund mancherlei unsicher. Das ‘A. N.’ ist mit der originalen Überschrift ABECEDARIUM NORD[] (Rest unlesbar) eingetragen. In ähnlicher Weise ist das vorausgehende (erweiterte) Fuþorc, das nur die Runenzeichen enthält, mit (ALFABETUM) ANGULISCUM überschrieben (R. Derolez 1954). Das ‘A. N.’ bietet die sechzehn Runenzeichen des jüngeren (auch ‘dänischen’) Futhąrks, sodann in karolingischer Minuskel die ausgeschriebenen Runennamen und die Memorialverse in drei Zeilen. In dieser Anordnung hat man die Gliederung der drei æ ´ ttir (‘Geschlechter’) wiedererkennen wollen. Doch zeigt die Hs. statt der sonst üblichen Folge 6 + 5 + 5 eine Gliederung 5 + 6 + 5, wobei der Abschluss der ersten Zeile durch den Merktext rat en(d)os uuritan ‘rƗt zuletzt geschrieben’ und das Bemühen, durch Weiterschreiben von Versteilen unter der Zeile den Zeilenumbruch einzuhalten, deutlich markiert wird. Zwischen den Zeilen sind vereinzelt altenglische Runenzeichen eingetragen worden. Die Kurzverse, bei denen der Runenname in denkbar knapper Weise durch ein stabendes Wort eingebunden ist, werden in der Regel durch vertikale Striche voneinander getrennt. Inhaltlich ist meist die Position der Rune im Alphabet angegeben. Aufgrund des zerstörten Textes ist nicht alles sicher zu deuten, doch werden die Regeln der Stabreimdichtung erkennbar nicht überall befolgt. Nach verbreiteter Ansicht beruht das ‘A. N.’ auf einer dänischen Vorlage, die ins Nd. umgesetzt und in einer hd. beeinflussten Fassung niedergeschrieben wurde. G. Baesecke hält den Fuldaer Abt Hrabanus Maurus und dessen Interesse für Orthographie und fremde Alphabete für die vermittelnde Instanz, doch ist die gelehrte Befassung mit Runen auch andernorts durch entsprechende Manuskripteinträge vielfach zu belegen (R. Derolez 1965). Nach B. Bischoff (Mittelalt. Stud., III, S. 86) könnte Walahfrid die Vorlage am Hof Ludwigs des Frommen erhalten haben. Der Gedanke an Zusammenhänge mit der Missionierung in Skandinavien (dazu Th. Klein, S. 313) verlangt dem kleinen Denkmal vielleicht doch etwas zu viel ab, dessen Eintragungskontext kaum in diese Richtung weist. Nutzung von Runen im Rahmen des karolingischen Schulbetriebs ist über die antiquarische, grammatische oder gelehrte Beschäftigung mit diesem Stoff hinaus neuerdings sogar bei der Aufzeichnung ahd. Glossen zutage getreten (A. Nievergelt). Wieweit ein Gebrauch von Runen in Zauber und Magie das Interesse an ihnen gefördert haben könnte, bleibt offen. Der Text des ‘A. N.’ selbst gibt darüber keine Aufschlüsse. Der häufig verwendete Begriff ‘Mischsprache’ beschreibt den Sprachbefund des ‘A. N.’ nicht präzise genug. Die altnordische Sprachbasis zeigen allein die entlehnten Runennamen. Bei einigen von ihnen ist diese ursprüngliche Sprachform noch deutlich

‘Abrogans deutsch’

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zu erkennen, so etwa beim j-Schwund in Ɨr ‘Jahr’ oder beim w-Umlaut und dem bewahrten Nominativ-Flexiv in r ‘Eibe, Bogen’. Andere Runennamen korrespondieren mit den weitgehend ähnlichen Formen des As., etwa njr, ǀs, hagal, Ưs. Bei rƗt (zu germ. *raiÿǀ ‘Fahrt’) kann ebenfalls vereinzelt belegtes as. Ɨ < germ. ai vorliegen (Th. Klein, S. 312, dort S. 309-314 insgesamt zum as. Sprachcharakter des ‘A. N.’), doch kann der Schreiber an das ahd. Wort für ‘Rat’ gedacht haben. Ahd. Schreibgewohnheiten sind sodann für die die Runennamen verbindenden Memorialverse erkennbar, wohl sicher bei der Geminata in thri(tten) ‘dritten’, vielleicht auch bei der Anlautgraphie des Runennamens chaon (vermutlich zu an. kaun ‘Beule’), weniger sicher bei den -Graphien, die meist unbesehen als Zeugnisse für den Verschlusslaut und als Hauptargumente für ahd. Spracheinfluss angesehen werden (daneben mit sicherer Reibelaut-Graphie cliu(o)t ‘angefügt sein’). Die häufige Verwendung von -Schreibungen in der Heliandhs. M (auch in C vor Eingriff des Korrektors) sollte aber vor übereilten Zuweisungen warnen. Literatur: H. Arntz, Handbuch der Runenkunde, Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte. B. Ergänzungsreihe Nr. 3, 2. A. Halle/Saale 1944; G. Baesecke, Das ‘A. N.’, in: G. Baesecke, Kleinere Schriften, S. 237-248 (zuerst 1941); A. Bauer, Runengedichte. Texte, Untersuchungen und Kommentare zur gesamten Überlieferung, Studia Mediaevalia Septentrionalia 9, Wien 2003; B. Bischoff, Eine Sammelhandschrift Walahfrid Strabos (Cod. Sangall. 878), in: B. Bischoff, Mittelalt. Stud., II, S. 34-51 und Tafel II und III (zuerst 1950); B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 73-111 (zuerst 1971); R. Derolez, Runica Manuscripta, 1954, S. 72-83 und passim; R. Derolez, Scandinavian Runes in Continental Manuscripts, in: Franciplegius. Medieval and Linguistic Studies in Honor of Francis Peabody Magoun, Jr. Edited by J. B. Bessinger, Jr. and R. P. Creed, New York 1965, S. 30-39; K. Düwel, Runenkunde, Sammlung Metzler 72, 4. A. Stuttgart/Weimar 2008, S. 191-193; W. C. Grimm, Ueber deutsche Runen, Göttingen 1821 (Nachdruck Berlin 1987), S. 138-147 mit Tab. II; W. Grimm, Zur Litteratur der Runen, in: W. Grimm, Kleinere Schriften, III, Berlin 1883, S. 85131, zum Sangallensis 878: S. 111-114 (zuerst 1828); Th. Klein, Studien; P. Lehmann, Ein Bücherverzeichnis der Dombibliothek von Chur aus dem Jahre 1457, in: P. Lehmann, Erforschung des Mittelalters, II, 1959, S. 171-185 (zuerst 1920); A. Nievergelt, ZDA Beihefte 11, 2009; P. Piper, Aus Sanct Galler Handschriften. III, ZDPh 13 (1882) S. 305-337; 445-479; St. Sonderegger, in: 2VL I, Sp. 7f.

HEINRICH TIEFENBACH

‘Abrogans deutsch’ 1. Überlieferung: Paris, BNF lat. 7640 (BStK-Nr. 747), f. 124r-132v (= Pa); Vollfaksimile bei G. Baesecke, Lichtdrucke, S. 1-20. – St. Gallen, StB 911 (BStK-Nr. 253), S. 4-289 (= K); Vollfaksimile bei B. Bischoff – J. Duft – St. Sonderegger. – Karlsruhe, BLB Aug. CXI (BStK-Nr. 298), f. 76r-90r (= Ra); Faksimile von f. 76r u. f. 90r bei G. Baesecke, Lichtdrucke, S.24f.; f. 84r bei Th. Längin, S. 687.

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‘Abrogans deutsch’

Pa ist interlinear, von mehreren Schreibern in einheitlicher, für Glossen ungewöhnlich prächtiger Reinschrift geschrieben. Sie bricht mit dem Buchstaben I ab; trotz vieler Bemühungen konnte die zweite Hälfte von Pa (vgl. G. Baesecke, Über die verschollene Hälfte von Pa, in: Festgabe Philipp Strauch zum 80. Geburtstage, hg. v. G. Baesecke u. F. J. Schneider, Halle (Saale) 1932, S. 48-52) bisher nicht aufgefunden werden. Dieser Verlust wie auch der der ersten sieben Blätter, die den Anfang des lat.lat. Glossars ‘Abavus maior’ enthielten, ist bereits im Mittelalter eingetreten, als die Hs. nach Frankreich gekommen sein muss (B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 97). Das ergibt sich aus der mittelalterlichen, in französischer Weise geschriebenen Foliierung und der Differenz zur Foliierung in arabischen Ziffern im 17. Jh. Die in den Anfang des 9. Jh.s zu datierende Hs. ist entgegen G. Baesecke nicht in Murbach entstanden, sondern sehr wahrscheinlich dem Regensburger Kreis um Bischof Baturich zuzuordnen (B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 96ff.). In K (früher fälschlich als ‘Keronisches Glossar’ bezeichnet) sind die ahd. Interpretamente hinter die lat. Lemmata gestellt. Die noch dem Ende des 8. Jh.s zuzurechnende Hs. ist von mehreren Schreibern in einer wenig sorgfältigen Schrift geschrieben. Sie ist nicht in St. Gallen entstanden (K. Löffler, S. 44f.); über die Zugehörigkeit zur südwestdeutschen Schreibprovinz hinaus ist keine präzisere Lokalisierung möglich. Grundlegend für K sind die sehr ausführliche Hss.-Beschreibung (B. Bischoff), die Transskription (St. Sonderegger) und die Hs.-Geschichte (J. Duft) im Kommentarband zum Vollfaksimile. – Ebenfalls oberrhein., aber nicht auf der Reichenau geschrieben (K. Preisendanz bei G. Baesecke, Der dt. Abrogans, S. 17) ist die aus dem frühen 9. Jh. stammende Hs. Ra. Die ahd. Glossierung ist hier gleichfalls eingereiht; die Schrift ist einheitlich und wirkt, verglichen mit Hss. des Reichenauer Skriptoriums, wie ‘ungepflegter Wildwuchs’ (B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 95). Nicht zur Hauptüberlieferung zu rechnen sind die Freher-Petau’schen Bruchstücke (StSG IV, S. 681; G. Baesecke, Der dt. Abrogans, S. 6) und die in der größtenteils reskribierten Hs. Prag, UK MS XXIII E 54 (früher: cod. 434, Fürstl. Lobkowitzsche Bibl., Prag) (BStK-Nr. 786) auf f. 22r-47v überlieferten, nur vereinzelt lesbaren Glossenfragmente (StSG IV, S. 604; Faksimile von f. 22r, 23r, 33r, 46r, 47r bei G. Baesecke, Lichtdrucke, S. 36-38). 2. Ausgaben: E. G. Graff, Diutiska I, S. 122-279 (Pa u. Ra); H. Hattemer, Denkmahle, I, S. 139-218 (K); maßgebliche Edition zusammen mit der Ú ‘Samanunga worto’ ist die Ausgabe von E. Steinmeyer – E. Sievers, StSG I, S. 1-270 (dazu Berichtigungen: StSG V, S. 87-89; J. Splett, Textkritisches zum Abrogans, LB 64 [1975] S. 23-42); Text und Rekonstruktion des Archetypus für den Anfangsteil: G. Baesecke, Der deutsche ‘Abrogans’. Text *ab1, ATB 30, Halle (Saale) 1931.

3. Vorlage: Der dt. Abrogans (‘A.’) ist die Übersetzung eines alphabetisch geordneten lat.-lat. Glossars, des lat. ‘A’. Dieses Glossar, das ohne ahd. Glossierung nur in einem

‘Abrogans deutsch’

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textkritisch belanglosen Fragment im cod. Aug. CCXLVIII, f. 40r-59r, der BLB Karlsruhe (Probeabdruck bei R. Brans, S. 96-100) überliefert ist, ist nicht direkt aus glossierten Texten (Terenz bis Aldhelm), sondern aus spätantiken und frühmittelalterlichen Glossaren zusammengestellt worden. Besonders ausgeprägt sind die Beziehungen zum ‘Abba-Glossar’ (CGL IV, S. 199-298; Glossaria Latina V, S. 7143), dem ‘Abavus minor’ (CGL IV, S. 301-403), dem ‘Affatim-Glossar’ (CGL IV S. 471-581) und dem zweiten Erfurter Glossar (CGL V S. 269-337), ohne dass sich die Entlehnungsrichtung im Einzelfall eindeutig bestimmen ließe. Der bisher ungedruckte ‘Abavus maior’ (Exzerpte im CGL IV, S. 589-599; V, S. 625-632) hat dagegen aus dem ‘A.’ geschöpft, allerdings aus einer weniger verderbten Version als der uns überlieferten. Wenn auch aufgrund der Überlieferungslage und der spezifischen Textsorte eine kritische Edition des lat. ‘A.’ nicht möglich ist, so lassen sich doch gewisse Spuren seiner Entwicklungsgeschichte erkennen. So sind am Ende jeder Buchstabenreihe die Erklärungen zu biblischen Namen eingeschoben, die den ‘Instructiones’ des Eucherius entnommen sind (J. Stalzer, S. 83-86). Im ‘Abavus maior’ findet man diese dagegen in die alphabetische Reihenfolge der übrigen Glossen eingeordnet. Zudem sind am Ende des Buchstabens G nach dem Eintrag ‘Gamalihel: retributio dei’ in Pa ein Asteriscus und in K der Eintrag ‘finit’ zu finden. Dass diese beiden Entstehungsstufen vor der ahd. Glossierung liegen, ist vor allem der einheitlichen Übersetzungsweise zu entnehmen. 4. Entstehungszeit und -ort: Nach G. Baesecke, Der dt. Abrogans, ist der lat. ‘A’ aus der Lombardei nach Bayern gekommen und um 765 unter Aufsicht, möglicherweise unter Mitarbeit von Bischof Arbeo von Freising, verdeutscht worden. G. Baesecke stützt sich dabei auf einen Vergleich von Orthographie und Lautstand mit den in Freisinger Urkunden bezeugten deutschen Eigennamen. Da er aufgrund der Überlieferungslage Rekonstruiertes mit Rekonstruiertem vergleichen muss – der ‘A.’ liegt ja nur in den genannten drei Abschriften vor und die betreffenden Urkunden sind nur in Kopien des Mönches Cozroh aus den 20er Jahren des 9. Jh.s erhalten –, sind seine Schlussfolgerungen mehr Hypothesen als gesicherte Ergebnisse. Ähnliches gilt für die Gegenthese von D. Kralik (DLZ 52 [1931] Sp. 1461-1468), der den ‘A.’ mit Virgil von Salzburg und der ags. Mission in Verbindung bringt. Dass eher angelsächsischer als langobardischer Einfluss in Frage kommt, hat W. Wissmann (in: Festgabe für Ulrich Pretzel, S. 308-315) zu Recht betont. Als gesichert kann immerhin gelten, dass der dt. ‘A.’ etwa Mitte des 8. Jh.s im obd. Sprachgebiet abgefasst worden ist. Überlieferungslage – K und Ra gehen auf eine gemeinsame Vorlage zurück, die wiederum zusammen mit Pa den Archetypus konstituiert – und durch die Textsorte bedingter fehlender Kontext lassen eine wohlfundierte Rekonstruktion des Originals nicht zu. Hinzukommt, dass Ra bereits eine verbessernde und stark kürzende Überarbeitung

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‘Abrogans deutsch’

darstellt. Der uneinheitliche Dialekt der Hss. – Pa ist bair. mit alem. Einflüssen, K in seinem ersten, sprachlich altertümlicheren Teil (Ka) alem., in seinem zweiten (Kb) alem. mit frk. Besonderheiten, Ra alem. mit bair. Spuren (R. Kögel, Über das Keronische Glossar, und Gesch. d. dt. Litt. I, 2, S. 426-433; G. Baesecke, PBB 55 [1931] S. 321-376) – verhindert ebenfalls sichere Rückschlüsse auf ein bestimmtes Skriptorium. 5. Zweckbestimmung: Der lat. ‘A.’ und seine volkssprachige Glossierung ist als ein ‘sekundäres Bibelglossar’ einzustufen; das heißt als ein Glossar, das mittels nicht direkt aus der Vulgata exzerpierten und dann erläuterten Wörtern, sondern aus vorliegenden Glossaren entnommenen Glossengruppen, die sich auf Bibelstellen beziehen lassen, in erster Linie der Erklärung der heiligen Schrift gedient hat (J. Splett, in: Collectanea Philologica. FS Helmut Gipper, S. 725-735). Die Überschrift INCIPIUNT CLOSAS EX NOUO ET UETERIS TESTAMENTI, die auch für den Archetypus gesichert ist (G. Baesecke, PBB 55 [1931] S. 321-376) und in lat. Bibelkommentaren irischen Ursprungs Parallelen hat (B. Bischoff, Mittelalt. Stud., I, S. 205273; J. Splett, in: Typen der Ethnogenese, S. 235-241), ist entgegen R. Kögel (Gesch. d. dt. Litt. I, 2, S. 426) und G. Baesecke (Frühgeschichte, 2. Lfg., S. 101) ernst zu nehmen. Schon J. Stalzer (S. 80-90) hatte für 9% der 2.439 Glossengruppen die Vulgata als Quelle nachgewiesen. Tatsächlich sind es im ‘A.’ aber 45% (J. Splett, in: Collectanea Philologica. FS Helmut Gipper, S. 725-735, und in: Typen der Ethnogenese, S. 235-241). Die These G. Baeseckes, dass es sich hier um ein „unkirchlich-antikes Wörterbuch“ (Frühgeschichte, 1. Lfg., S. 40; vgl. auch Der dt. Abrogans, S. 160) zum Erlernen ausgefallener lat. Wörter handelt, ist hinfällig. Die äußere Form des ‘A.’ spricht für einen Wörterbuchtyp, der der Texterklärung und nicht der Textproduktion dient, da die lat. Lemmata und ihre entsprechenden ahd. Übersetzungen in der Mehrzahl nicht in der Normalform stehen, sondern die Wortformen der exzerpierten Texte bieten. Durch die genannte Zweckbestimmung ordnet sich der ‘A.’ nahtlos ein in die von den Iren und Angelsachsen auf dem Festland gegründete Schriftkultur im Rahmen ihres kirchlich-missionarischen Wirkens. 6. Übersetzungsstil und Wortschatz: Die Übersetzung ist sehr fehlerhaft, was hinsichtlich der besonderen Schwierigkeiten – es sind nicht nur die lat. Lemmata, die schon den Lateinern erklärungsbedürftig waren, sondern auch die lat. Interpretamente glossiert – nicht verwundert. Wieviel zudem der Überlieferung, wieviel der schon verderbten lat. Vorlage anzulasten ist, lässt sich nicht genau abschätzen. Die Beibehaltung der innerhalb einer lat. Glossengruppe vorliegenden Synonymik ist vom ahd. Glossator bzw. von den ahd. Glossatoren – eine Entscheidung ist nicht möglich – bei der Übertragung nicht eigens intendiert worden. Der Glossenzusammenhang ist nur bei unverstandenen lat. Wörtern herangezogen worden, um diesen dennoch eine

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‘Übersetzung’ zuordnen zu können. Dies geschieht auf vielfache Weise: durch sog. gili- hhida-Glossierung, durch Glossierung mittels eines übergeordneten Begriffs, durch Übersetzung nach einer Fehlübersetzung, durch Übersetzung vom lat. Interpretament bzw. Lemma her, das fälschlich als Synonym aufgefasst ist, oder durch eine der weiteren sechs vorkommenden Verfahrensweisen (J. Splett, Abrogansstudien, S. 32ff.). Im Rahmen der Glossierung unabhängig vom lat. Glossenzusammenhang begegnen einfache Wortwiederholungen, Wortverwechslungen, Wortvertauschungen und silbische Übersetzungen. Außerdem kommen Doppelglossierungen und Zusätze, Gegensätzliche Doppelglossierungen sowie deutende Wiedergaben vor (J. Splett, Abrogansstudien, S. 39ff.). Ausschließlich der Namen und der nicht-ahd. Glossen überliefern die Hss. 3.682 ahd. Wörter in 14.699 Belegen; davon in Pa, K und Ra jeweils 2.406, 3.227 bzw. 2.170 Wörter in 4.469, 6.995 bzw. 3.235 Belegen. Gegen 700 Wörter sind nur im ahd. ‘A.’ überliefert (J. Splett, Samanunga-Studien, S. 21f. und in: BStH I, S. 734f.). 7. Literatur: Bibliographie bis 1930 bei G. Baesecke, Der dt. Abrogans, S. 161-163; L. Füglistaller (1768-1840), [Kommentierte Kopie von K] Kantonsbibl. Aarau, Sign. Ms. Bibl. Mur. 50 (forschungsgeschichtlich von Interesse; s. E. Studer, Leonz Füglistaller, Diss. Freiburg/Schweiz 1952, S. 227-250); K. Albers, Der lateinische Wortschatz des Abrogans, Diss. Münster masch. 1956; G. Baesecke, Der dt. Abrogans (dazu D. Kralik, DLZ 52 [1931] Sp. 1461-1468); G. Baesecke, Frühgeschichte, 1. Lfg., 2. Lfg.; G. Baesecke, Lichtdrucke; G. Baesecke, Die Sprache des Deutschen Abrogans, PBB 55 (1931) S. 321-376 (revidierter Abdruck in: G. Baesecke, Kleinere Schriften, S. 181-220); W. Betz, Der Einfluß des Lateinischen auf den althochdeutschen Sprachschatz, I. Der Abrogans, Heidelberg 1936; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134 (revidierter Abdruck in: B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 73-111); B. Bischoff, Wendepunkte in der Geschichte der lateinischen Exegese im Frühmittelalter, in: B. Bischoff, Mittelalt. Stud., I, S. 205-273; B. Bischoff – J. Duft – St. Sonderegger, Das älteste deutsche Buch. Die Abrogans-Handschrift der Stiftsbibliothek St. Gallen. Im Facsimile hg. u. beschrieben, St. Gallen 1977; R. Brans, Das Reichenauer Glossar Rf nebst seinen näheren Verwandten Bib. 9 und Bib. 12, Untersuchungen zur deutschen Sprachgeschichte 5, Straßburg 1914, S. 92-119; U. Daab, Die Affatimglossen des Glossars Jc und der Deutsche Abrogans, PBB 82 (Tübingen 1960) S. 275-317; U. Daab, Zur althochdeutschen Glossierung des Abrogans (ab1), PBB 88 (Tübingen 1967) S. 1-27; Glossaria Latina iussu Academiae Brittannicae edita V, Paris 1931; E. Karg-Gasterstädt, Zum Wortschatz des Abrogans, in: Altdeutsches Wort und Wortkunstwerk. Georg Baesecke zum 65. Geburtstage 13. Januar 1941, Halle (Saale) 1941, S. 124-137; F. Kauffmann, Das Keronische Glossar. Seine stellung in der geschichte der ahd. orthographie, ZDPh 32 (1900) S. 145-173; G. Köbler, Verzeichnis der Übersetzungsgleichungen von Abrogans und Samanunga, Göttingen 1972; R. Kögel, Über das Keronische Glossar. Studien zur althochdeutschen Grammatik, Halle 1879; R. Kögel, Zu den Murbacher denkmälern und zum Keronischen glossar, PBB 9 (1884) S. 301360; R. Kögel, Gesch. d. dt. Litt., I,2, S. 426-437; Th. Längin, Altalemannische Sprachquellen aus der Reichenau, in: Die Kultur der Abtei Reichenau, II, S. 684-699; K. Löffler, Die Sankt Galler Schreibschule in der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts, Palaeographia Latina 6 (1929) S. 5-

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66; E. Rooth, Studien zu drei Adjektiven aus der althochdeutschen Frühzeit. Arundi, unmanalomi, widarzomi, Scripta minora Regiae Societatis Humaniorum Litterarum Lundensis 1970-1971 2, Lund 1971; O. Schenck, Zum Wortschatz des ‘Keronischen Glossars’, Diss. Heidelberg 1912; J. Splett, Abrogansstudien. Kommentar zum ältesten deutschen Wörterbuch, Wiesbaden 1976 (Bibliographie S. XIII-XXVII); J. Splett, Zur Frage der Zweckbestimmung des Abrogans, in: Collectanea Philologica. FS Helmut Gipper, S. 725-735; J. Splett, Samanunga-Studien; J. Splett, Arbeo von Freising, der deutsche Abrogans und die bairisch-langobardischen Beziehungen im 8. Jahrhundert, in: Die transalpinen Verbindungen der Bayern, Alemannen und Franken, S. 105-123; J. Splett, Der Abrogans und das Einsetzen althochdeutscher Schriftlichkeit im 8. Jahrhundert, in: Typen der Ethnogenese, S. 235-241; J. Stalzer, Zu den hrabanisch-keronischen Glossen, in: ȈIJȡȦȝĮIJİ¥Ȣ. Grazer Festgabe zur 50. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner, Graz 1909, S. 80-90; W. Wissmann, Die Bildungen auf -lih von Partizipien und der Abrogans, in: Festgabe für Ulrich Pretzel zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern, hg. v. W. Simon – W. Bachofer – W. Dittmann, Berlin 1963, S. 308-315; W. Wissmann, Zum Abrogans, in: Fragen und Forschungen. FS Theodor Frings, S. 80-113. – Letzte zusammenfassende Darstellung des Forschungsstandes: J. Splett, Das ‘Abrogans’-Glossar, in: BStH I, S. 725-741.

JOCHEN SPLETT

‘Ad catarrum dic’ Ú ‘Trierer Blutsegen’ ‘Ad signandum domum contra diabolum’ Ú ‘Zürcher Hausbesegnung’ ‘Admonter Segen’ Überlieferung: Admont, StB 393, f. 160v Die im 12./13. Jh. entstandene Hs. wurde 1985 als Glossenhs. bekannt gemacht und im Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften (Nr. 8a) behandelt. Sie enthält keine Glossen im engeren Sinne, sondern einen lat. Wurmsegen, in dessen Text vier deutsche Wörter integriert sind. R. Schützeichel hat den Text ab der 6. Auflage im Althochdeutschen Wörterbuch (Sigle AS.) ausgewertet. Edition: K. Bartsch, Zu dem Engelberger Segen, Germania 18 (1873) S. 234. Literatur: M. Schulz, Beschwörungen, S. 43; BStK-Nr. 8a. ROLF BERGMANN

Aldhelm, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Aldhelm (um 640-709), angelsächsischer Geistlicher und Dichter, verfasste Briefe und Gedichte, ein metrisches Werk mit einer Rätselsammlung (Aenigmata), eine Prosaschrift De virginitate (Prosa De virg.) zum Lob der

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jungfräulichen Askese, deren Versifizierung De laudibus virginum (Carmen De laud. virg.) in 2.904 Hexametern, wovon der letzte Teil (ab V. 2.446) über die Hauptsünden in manchen Hss. mit eigener Überschrift als De octo principalibus vitiis (De o. princip. vit.) bezeichnet wird. Seine Werke wirkten über die Vermittlung durch angelsächsische Missionare auch auf dem Festland, wo sie in karolingischer Zeit in der Poesie vielfach zitiert wurden. Deutschsprachige Glossierung ist vom 9. bis 12. Jh. in 15 Hss. überliefert. Literatur: R. Düchting, in: LexMA I, Sp. 346; H.C. Graef, in: LThK I, Sp. 299. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Admont, StB 718 (BStK-Nr. 7): 10 Kontextgll. in Textglossar zum Carmen De laud. virg.; as. und ahd., Mitte 12. Jh. – Ed. H. Naumann, ZDA 64 (1927) S. 77f. – 2. Bremen, SB Ms. b. 52 (BStK-Nr. 75): 38 Kontextgll. in Textglossar zum Carmen De laud. virg., 8 Interlineargll. in Textglossierung zu Aenigm.; alem., 10. Jh. – Ed. StSG II, S. 10 (Nr. DXII), S. 12f. (Nr. DXV). – 3. Einsiedeln, StB cod 32 (1060) (BStK-Nr. 112): 26 Kontextgll. in Textglossar zum Carmen De laud. virg.; alem., 10. Jh. – Ed. StSG II, S. 12 (Nr. DXIV). – 4. Florenz, BML Plut. 16.5 (BStK-Nr. 151): 22 Interlineargll. in Textglossar zu Aenigm., 67 Interlineargll. in Textglossar zum Carmen De laud. virg., 16 Interlineargll. in Textglossar zu De o. princip. vit.; alem., Ende 12. Jh. – Ed. StSG II, S. 10 (Nr. DXI), S. 13-17 (Nr. DXVIa), S. 22f. (Nr. DXIX). – 5. St. Gallen, StB 242 (BStK-Nr. 208): 76 Interlinear- und 17 Marginalgll. in Textglossierung zu Aenigm., 1 Interlinear- und 58 Marginalgll. in Textglossierung zum Carmen De laud. virg., 12 Marginalgll. in Textglossierung zu De o. princip. vit.; alem., 10. Jh. – Ed. StSG II, S. 8-10 (Nr. DX), S. 14-17 (Nr. DXVIa), S. 22f. (Nr. DXIX). – 6. St. Gallen, StB 263 (BStK-Nr. 212): 3 Interlinear- und 2 Marginalgll. in Textglossierung zum Carmen De laud. virg., 1 Marginalgl. in Textglossierung zu De o. princip. vit.; Sprache unbest., wohl St. Gallen; undatiert (Hs. 1. Hälfte 9. Jh.) – Ed. StSG II, S. 13f. (Nr. DXVIa), S. 22 (Nr. DXIX). – 7. Kassel, UB, LB und MB 8º theol. 61 (BStK-Nr. 338b): 2 Interlineargll. in Textglossierung zum Carmen De laud. virg.; Sprache unbest., 10. Jh. – Ed. [F. K. Weber], in: Gymnasium zu Cassel, S. 35, 37. – 8. München, BSB Clm 14747 (BStK-Nr. 611): 8 Kontextgll. in Textglossar zum Carmen De laud. virg.; bair., 9. Jh. – StSG IV, S. 311 (Nr. DXVIIIb). – 9. München, BSB Clm 19440 (BStK-Nr. 665): 72 Kontextgll. in Textglossar zum Carmen De laud. virg., 27 Kontextgll. in Textglossar zu De o. princip. vit.; bair., 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 14-17 (Nr. DXVIa), S. 22f (Nr. DXIX). – 10. München, BSB Clm 23486 (BStK-Nr. 688): etwa 173 Interlinear- und 12 Marginalgll. zum Carmen De laud. virg.; frk. oder bair., undatiert (Hs. 11. Jh.) – Ed. StSG II, S. 18-20 (Nr. DXVIb). – 11. Paris, BNF lat. 16668 (BStK-Nr. 768): 15 Interlinear- und 5 Marginalgll. in Textglossierung, 7 Kontextgll. in Textglossar zum Carmen De laud. virg., 18 Interlinear- und 21 Marginalgll. in Textglossierung, 3 Kontextgll. in Textglossar zu De o. princip. vit.; rhfrk., 10. Jh. – Ed. StSG II, S. 14 (Nr. DXVIa), S. 22 (Nr. DXVIII), S. 23 (Nr. DXIX), S. 24 (Nr. DXX). – 12. Wien, ÖNB Cod. 969 (BStK-Nr. 930): 91 Interlineargll. in Textglossierung zum Carmen De laud. virg., 1 interlineare Griffelglosse in Textglossierung zu De o. princip. vit.; rhfrk., undatiert (Hs. 9. Jh.) – Ed. StSG II, S. 21f. (Nr. DXVII), Nachtrag V, S. 99, Z. 15-18; II, S. 771 (Nr. DXXb). – 13. Wolfenbüttel, HAB Cod. Guelf. 365 Helmstadiensis (BStK-Nr. 965): 28 Interlinear-, 2 Marginalgll. und 1 Kontextgl. in Textglossierung zur Prosa De virg.; Sprache unbest., undatiert (Hs.

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10. oder frühes 11. Jh.) – Ed. StSG II, S. 11 (Nr. DXIII). – 14. Würzburg, UB M. p. th. f. 21 (BStK-Nr. 985): 29 Interlinear- und 3 Marginalgll. in Textglossierung zur Prosa De virg.; ofrk., 2. Drittel 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 11 (Nr. DXIII); I. Frank, Aus Glossenhss., S. 98-106. – 15. Zürich, ZB C 59 (BStK-Nr. 1002): 27 Interlinear- und 35 Marginalgll. sowie 3 interlineare Griffelgll. in Textglossierung zum Carmen De laud. virg., 3 Interlinear- und 4 Marginalgll. in Textglossierung zu De o. princip. vit.; alem., 9. u. 10. Jh. – Ed. StSG II, S. 13-17 (Nr. DXVIa), Nachtrag V, S. 99, Z. 14f.; II, S. 22f. (Nr. DXIX); Ed. der Griffelgll. bei A. Nievergelt, Die Glossierung der Hs. Clm 18547b, S. 763-765.

Zu den in den Ú ‘Vocabularius Sti. Galli’ (St. Gallen, StB 913, BStK-Nr. 254) eingegangenen Aldhelmglossen vgl. unten Abschnitt 6; ob sich die zu Rom, BAV Pal. lat. 235 gemeldete Glosse (BStK-Nr. 836k) auf den in der Hs. enthaltenen Aldhelm-Text bezieht, ist unbekannt. 3. Forschungsstand: H. Mettke hat in seiner Jenenser Dissertation von 1950 im Rahmen der Methodik seines Lehrers G. Baesecke die zu seiner Zeit bekannten volkssprachigen Aldhelm-Glossen auf ihre Verwandtschaft untersucht und ein Stemma der nach seinen Ergebnissen zusammengehörigen Hss. bzw. Glossierungen aufgestellt (vgl. Abschnitt 6). H. Mettkes Schülerin K. Riedel hat in einer auf den Prolog zum Carmen De laud. virg. begrenzten Untersuchung der ahd. und lat. Glossen Mettkes Ergebnisse modifiziert. In ihrer ungedruckten Dissertation (Jena 1990) gibt sie eine Analyse des Lautstandes der Glossen zum Carmen De laud. Virg und zu den Rätseln. Eine eingehende funktionale Untersuchung der gesamten Aldhelm-Glossen im Hinblick auf Lemmaauswahl und Übersetzungstechnik fehlt. Eine inhaltliche Würdigung der volkssprachig glossierenden Aldhelm-Erschließung und -Rezeption auf dem Festland ist daher ein Desiderat. 4. Glossographische Aspekte: Zur Prosa De virg. ist nur Textglossierung in zwei Hss. überliefert (Wolfenbüttel 365 Helmstadiensis mit 31 Gll., Würzburg M. p. th. f. 21 mit 32 Gll.). Zu den poetischen Werken gibt es in sechs Hss. Textglossierung: St. Gallen 242 (164 Gll.), St. Gallen 263 (6 Gll.), Kassel 8º theol. 61 (2 Gll.), Clm 23486 (185 Gll.), Wien 969 (92 Gll.), Zürich C 59 (72 Gll.); fünf Hss. enthalten Textglossare: Admont 718 (10 Gll.), Einsiedeln 32 (1060) (26 Gll.), Florenz Plut. 16.5. (105 Gll.), Clm 14747 (8 Gll.), Clm 19440 (99 Gll.); zwei Hss. überliefern beides: Bremen Ms. b. 52 (8 Gll. in Textglossierung, 38 in Textglossar), Paris lat. 16668 (59 Gll. in Textglossierung, 10 in Textglossar). Der Anteil der Textglossierung liegt etwa bei zwei Drittel. Für einen quantitativen Vergleich bietet sich inhaltlich am ehesten die Glossierung spätantiker Dichter wie Arator oder Prudentius an, bei denen die Textglossierung sehr deutlich überwiegt (Arator: nur 13 von fast 1.500 Gll. in Glossaren, Prudentius: über 1.000 von über 12.000 Gll. in Glossaren; R. Bergmann, in: BStH I, S. 88f.). Der relativ hohe Anteil der Textglossare gibt der Aldhelm-Glossierung vielleicht eine gewisse Eigenstellung. Im Übrigen erscheint sie wie die sons-

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tige Glossierung nichtbiblischer Texte auch durchgehend in eine umfangreiche lat. Glossierung eingebettet. In zwei Hss. sind einige wenige Griffelgll. überliefert (Wien 969, Zürich C 59). 5. Räumliche und zeitliche Verteilung: Die ältesten ahd. Aldhelm-Glossen sind die am Ende des Sachglossars Ú ‘Vocabularius Sti. Galli’ eingetragenen 23 nur noch teilweise lesbaren Glossen zum Carmen De laud. virg. (ediert StSG III, S. 8,2-24), die aus der 2. Hälfte des 8. Jh.s stammen und sprachgeographisch nicht bestimmbar sind. – Eine alem. Gruppe von Glossierungen des 9. und 10. Jh.s lässt sich zum Teil sicher mit St. Gallen verbinden: St. Gallen 263, Zürich, C 59, Bremen, Ms. b. 52, St. Gallen 242, Einsiedeln, cod. 32 (1060). Eine jüngere alem. Überlieferung vom Ende des 12. Jh.s enthält die Hs. Florenz, Plut. 16.5. – Bair. Überlieferung des 9. Jh.s bietet der aus Regensburg stammende Codex München, Clm 14747; bair. sind auch die Glossen in der Tegernseer Hs. Clm 19440 und in dem Clm 23486. – Umfangreiche rhfrk. Textglossierung überliefert die im 9. Jh. vielleicht in Mainz entstandene Hs. Wien, Cod. 969; rheinfrk. ist auch die im 10. Jh. eingetragene Glossierung in der im 9. Jh. in Lorsch entstandenen Hs. Paris, lat. 16668. – Die 2 Interlineargll. des 10. Jh.s in dem Fragment Kassel, 8º theol. 61 sind sprachlich unbestimmt. – Die einzige Textglossierung zur Prosa De virg. in der Hs. Würzburg, M. p. th. f. 21 ist ofrk.. und im 2. Drittel des 9. Jh.s wohl in Würzburg entstanden; die daraus genommene Kopie in Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 365 Helmstadiensis hat fuldische und Mainzer Bezüge. – Wenige as. Glossen finden sich neben ahd. in der Mitte des 12. Jh.s in Admont entstandenen Hs. Admont 718. 6. Beziehungen zwischen den Glossierungen: Die Textglossierung zur Prosa De virg. in der Hs. Würzburg, M. p. th. f. 21 (und ihre Abschrift in der Hs. Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 365 Helmstadiensis) hat nach H. Mettke enge Beziehungen zur altenglischen Aldhelm-Glossierung, lässt sich aber mit der Überlieferung der Glossierung des Carmen und der Rätsel nicht verbinden. – Für die gesamte übrige Überlieferung (außer für das H. Mettke unbekannte Kasseler Fragment) stellt er nach der von G. Baesecke auf die Glossen angewandten textkritischen Methode ein Stemma auf. Das Auftreten in Textglossierung oder in Textglossaren wird dabei berücksichtigt; manchmal werden auch lat. Glossen in die Beweisführung einbezogen. Eine durchgehende Berücksichtigung der lat. Glossierung hat erst K. Riedel, allerdings nur für die Glossierung des Prologs zum Carmen, vorgenommen. H. Mettkes Stemma (S. 56) benötigt für die Rückführung auf ein Original O nicht weniger als 13 verlorene Hss. als Vorstufen einzelner Hss., kleinerer Hss.-Gruppen und größerer Überlieferungszweige. Von O sollen dann auch über zwei weitere verlorene Zwischenstufen die wenigen Aldhelm-Glossen im ‘Vocabularius Sti. Galli’ abstammen. O sei in Fulda entstanden, die nächste Stufe z ebenfalls in Fulda von Walahfrid Strabo bearbeitet

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worden, auf den die sprachliche Kennzeichnung von Glossen durch f = francice und die Benutzung altenglischer Glossen zurückgingen. Diese frühe frk. Glosssierung sei alsbald im 9. Jh. an alem. Klöster weitergegeben worden. Die Verbindung mit Walahfrid und die Argumentation mit den f-Glossen hat H. Mettke in einem als Anhang der Dissertation abgedruckten Aufsatz zurückgenommen. W. Schröder hat H. Mettke dafür kritisiert, dass er „der für die Baesecke-Schule offenbar unwiderstehlichen Versuchung erlegen [sei], ein lückenloses System der Filiationen erzwingen zu wollen.“ (S. 174), die Carmen- und Rätsel-Glossierung auf die alem. Klöster St. Gallen, Reichenau und Murbach zurückgeführt und frk. Ursprünge abgelehnt. H. Mettke hat demgegenüber in einem ‘Nachtrag’ zu der Druckfassung seiner Dissertation an frk. Ursprung festgehalten. 7. Umfang und Bedeutung: Die ahd. Aldhelm-Glossierung, zu der hier der Einfachheit halber auch die wenigen as. Glossen mitgezählt werden, nimmt mit einem Umfang von knapp 1.000 Gll. Rang 11 der ahd. Glossen zu nichtbiblischen Texten ein, wobei man aber sehen muss, dass die knapp 1.000 Gll. lediglich etwa 1,6% dieses Überlieferungskomplexes ausmachen. Nach den beiden Schwerpunkten Ú Gregor der Große und Ú Prudentius mit 23,1% und 20,0% sowie der Glossierung zu Ú Vergil und zu den Ú Canones mit 11,0% bzw. 10,5% steht die Aldhelm-Glossierung in einer Gruppe von Autoren mit einem von 1,0% bis 3,2% reichenden Anteil, zu der Ú Boethius, Ú Arator, Ú Hieronymus, Ú Priscian, Ú Sulpicius Severus, Ú Isidor von Sevilla und Ú Smaragdus von St. Mihiel gehören. Freilich sagen diese Zahlen noch nichts über die quantitativen Verhältnisse bei der lat. Glossierung aus, und insgesamt steht eine inhaltliche Würdigung der ahd. Aldhelm-Glossierung ohnehin noch aus. 8. Literatur: BStK- Nr. 7, 75, 112, 151, 208, 212, 254, 338b, 611, 665, 688, 768, 836k, 930, 965, 985, 1002; R. Bergmann, in: BStH I, S. 97f.; H. Mettke, Die althochdeutschen Aldhelmglossen, Jena 1957; H. Naumann, Glossen aus Admont, ZDA 64 (1927) S. 77f.; K. Riedel, Grammatik der althochdeutschen Glossen zum Carmen ‘De laudibus virginum’ und zu den Rätseln Aldhelms von Malmesbury, Diss. Jena 1991 masch.; K. Riedel, Lateinisch-althochdeutsche Prologglossen zum Carmen de virginitate Aldhelms vom Malmesbury, in: Septuaginta quinque. FS Heinz Mettke, S. 295-315; W. Schröder, ZDA 87 (1957) S. 174-190; [F. K. Weber], Fragmenta Codicum manuscriptorum in bibliotheca Gymnasii Cassellani servata, in: Gymnasium zu Cassel Lyceum Fridericianum genannt. Einladungsschrift zu den im Gymnasialgebäude dahier am 30. 31. März und 1. April stattfindenden Prüfungen und Schulfeierlichkeiten, Kassel 1846, S. 35, 37.

ROLF BERGMANN

‘Alemannische Hausbesegnung’ Ú ‘Zürcher Hausbesegnung’

Alkuin-Glossierung

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Alkuin, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Alkuin (*730/735 in Northumbrien, † 19.5.804), 778 Leiter der Schule von York und ab 782 für anderthalb Jahrzehnte am Hof Karls des Großen als dessen wichtigster theologischer und wissenschaftlicher Berater sowie Leiter der Hofschule. Alkuin war beteiligt an der Formulierung königlicher Erlasse, z.B. 789 an der programmatischen Admonitio generalis. Karl belohnte ihn mit der Abtswürde der Klöster von Ferrières und St. Lupus (Troyes); weitere Klöster und Güter kamen hinzu, als wichtigstes 796 die Abtei St. Martin (Tours). Alkuins Werk umfasst neben Briefen und Gedichten dogmatische Schriften, darunter sein 802 Karl dem Großen gewidmetes Hauptwerk De fide sanctae et individuae trinitatis sowie weitere Schriften zur Trinität, Quaestiones de trinitate XXVIII (Lehrbrief an seinen Schüler Fridugis) und De animae ratione ad Eulaliam (d.i. Gundrada, Verwandte Karls). Daneben verfasst Alkuin exegetische Schriften und Kommentare zu mehreren biblischen Büchern. Große Bedeutung erlangt auch sein grammatisches Lehrwerk (zu seinem Schrifttum ausführlich D. Schaller, in: 2VL I, Sp. 241-253). Die Grammatik Alkuins ist ein didaktischer Traktat über die Grammatik in Form eines Dialogs zwischen einem Lehrer, einem fränkischen und einem angelsächsischen Schüler (M.-H. Jullien – F. Perelman, II. Alcuin, S. 21). Literatur: D. Schaller, in: 2VL I, Sp. 241-253; M.-H. Jullien – F. Perelman, Clavis des auteurs latins du moyen âge, CSLMA 1. Territoire français. 735-987, II. Alcuin, Thurnhout 1999; M. Folkerts, Alkuin, in: LexMA I, Sp. 417-420.

2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Fulda, HLB Aa 2 [f. 20-35] (BStK-Nr. 163 I): 86 Gll. im Kontext des Textglossars zu De Orthographia; alem., 3. Drittel 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 5f. (Nr. DV). – 2. München, BSB Clm 6404 (BStK-Nr. 537): 39 Interlineargll. in Textglossierung von Grammatica; bair., Glossen undatiert (Hs. spätes 9. Jh.). – Ed. StSG II, S. 6f. (Nr. DVI). – 3. München, BSB Clm 14510 (BStK-Nr. 596): 68 Interlineargll. in Textglossierung, davon 50 Gll. zu dem Text De fide sanctae et individuae trinitatis, 16 Gll. zu De trinitate und 2 Gll. zu Invocatio ad ss. trinitatem et fidei symbolum; durchgehend Griffelgll.; Sprache unbestimmt (Hs. Bayern, für St. Emmeram erworben), Glossen undatiert (Hs. 1. Viertel 9. Jh.). – Ed. B. Bischoff, PBB 52 (1928) S. 164-166; Korrektur E. Glaser – A. Nievergelt, in: Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach, S. 126. – 4. München, BSB Clm 14737 [f. 204-226] (BStK-Nr. 608 II): 7 Gll. im Kontext des Textglossars zu Grammatica; Sprache unbestimmt, 9./10. Jh. – Ed. StSG II, S. 7 (Nr. DVII). – 5. München, BSB Clm 14823 (BStK-Nr. 615): 6 Interlineargll. in Textglossierung von Grammatica; Sprache unbestimmt (Hs. bayerischer Raum), 2. H. 11. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 94. – 6. München, BSB Clm 15813 (BStK-Nr. 618): 7 Marginalgll. (davon 2 Griffelgll.) in Textglossierung zu De fide sanctae et individuae trinitatis; Griffelgll. bair. (Hs. St. Amand), 1 Griffelgl. aus Zeit der Hs. zwischen 800 und 820, 1 aus dem Ende des 9. Jh.s. – Ed. StSG. II, S. 8 (Nr. DIX), Griffelglossen bei A. Nievergelt, Sprachwissenschaft 36 (2011) S. 327f. – 7. Rom, BAV Pal. lat. 289 (BStK-Nr. 799): 1 Marginalgl. (von textfremder Hand) in

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Textglossierung von Quaestiunculae in Genesim; Sprache unbestimmt (Hs. Mainz); Glossen undatiert (Hs. um 825). – Ed. StSG V, S. 22 (Nr. DVIIIb). – 8. Rom, BAV Reg. lat. 356 (BStK-Nr. 823): 1 Interlineargl. in Textglossierung von Grammatica; frk. (Hs. St. Gallen), 10./11. Jh. (Hs. 9./10. Jh.). – Ed. StSG II, S. 7 (Nr. DVIII). – 9. Wien, ÖNB Cod. 795 (BStKNr. 924): 2 Marginalgll. in Textglossierung von De Orthographia; Sprache unbestimmt (Hs. St. Amand), 9. oder 10. Jh. (Hs. kurz vor 800, geschrieben für Erzbischof Arn, Abt von St. Amand und Erzb. von Salzburg). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 142. – 10. Wien, ÖNB Cod. 808 (II) (BStK-Nr. 957i): 4 Griffelgll. in Textglossierung zu Epistola 130 ad Arnonem; bair., 9.Jh. – Ed. A. Nievergelt, ZDPh. 129 (2010) S. 12f. – 11. Wien, ÖNB Cod. 2484 (BStKNr. 946): 1 Interlineargl. in Textglossierung von Dialogi duo de rhetorica et dialectica; Sprache unbestimmt (Hs. wohl in Westdeutschland), 10. Jh. (Hs. Ende 9. Jh.). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 145.

3. Glossographische Aspekte: Ahd. Glossen zu Alkuin begegnen in 11 Hss. aus dem 1. Fünftel des 9. Jh.s bis in die 2. Hälfte des 11. Jh.s (insgesamt 222 Gll.) mit einer hohen Entstehungsdichte der Hss. im 9. Jh. Auf nur zwei Hss., eine mit einem Textglossar (86 Gll.: Fulda, Aa 2), eine mit Textglossierungen (68 Gll.: Clm 14510), entfällt der Großteil der Alkuinglossen. Die Glossen begegnen in 11 Hss. in Textglossierungen, in zwei Hss. in Textglossaren. Sie verteilen sich auf mehrere dogmatische und didaktische Werke und einen Brief, wobei sich mit den Traktaten über die Trinität und den grammatischen Schriften zwei stark glossierte Bereiche herausbilden. Der im 1. Viertel des 9. Jh.s in Bayern entstandene Clm 14510, der die glossenreichste Textglossierung zu Alkuin enthält, weist durchgehend Griffelglossen auf. Griffelglossen haben auch der Clm 15813 (BStK-Nr. 618) und der Vindobonensis 808 (II) (BStK-Nr. 957i). Alle weiteren Alkuin-Glossierungen sind Federeintragungen. Textglossierung: De fide sanctae et individuae trinitatis (VI,1): Der Clm 14510 enthält 50 Interlineargll. zu diesem Text, 16 Interlineargll. zu der Schrift De trinitate (VI,2) und 2 Interlineargll. zu Invocatio ad ss. trinitatem et fidei symbolum (VI). Er ist im 1. Viertel des 9. Jh.s in Bayern entstanden und Ende des 9. Jh.s für St. Emmeram erworben worden. Die Glossen dieser glossenreichsten Textglossierung zu Alkuin sind durchgehend Griffelglossen. Die Schrift De fide sanctae et individuae trinitatis (VI,2) wird im Clm 15813 mit 5 Feder- und 2 Griffelgll. versehen. Die Hs. ist zwischen 800 und 820 in St. Amand entstanden. – Quaestiunculae in Genesim (VII,2): Der Text wird nur in der Hs. Rom, Pal. lat. 289 aus der Zeit um 825 (Mainz) mit einer Marginalglosse von textfremder Hand glossiert. – Alle weiteren Glossen begegnen zu Alkuins grammatischen Schriften. Die meisten Glossen stehen in seinem grammatischen Hauptwerk, der Grammatica (X,3): Der Clm 6404 aus dem späten 9. Jh. (Freising) enthält 39 Interlineargll. Nur vereinzelte Glossen tradieren der Clm 14823 mit 6 Interlineargll. aus der 2. Hälfte des 11. Jh.s und die Hs. Rom, Reg. lat. 356 mit nur einer Interlinearglosse des 10./11. Jh.s. – De Orthographia (X,4) ist mit 2 Marginalgll. des 9. oder 10. Jh.s in der Hs. Wien, Cod. 795 glossiert, die Dialogi duo

Alkuin-Glossierung

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de rhetorica et dialectica mit 1 Interlineargl. des 10. Jh.s in der Hs. Wien, Cod. 2484 und die Epistola 130 ad Arnonem mit 4 Griffelgll. in der Hs. Wien, Cod. 808 (II). – Textglossar: Unter den zwei Textglossaren enthält die aus dem 3. Drittel des 9. Jh.s stammende Hs. Fulda, Aa 2 [f. 20-35] 86 im Glossartext stehende Glossen zu De Orthographia, der Clm 14737 [f. 204-226] 7 Kontextgll. aus dem 9./10. Jh. zur Grammatica. 4. Räumliche und zeitliche Verteilung: Die Hss. mit einer Glossierung Alkuins kommen bevorzugt aus dem 9. Jh., reichen aber mit dem Clm 14823 bis in die 2. Hälfte des 12. Jh.s. Datierungen zu den Glossen liegen nur für fünf Hss. vor. Die Glossierung beginnt mit einer Hs. im 1. Fünftel des 9. Jh.s (Clm 15813), einer Hs. im 9. Jh. (Wien 808 II) und zwei Hss. im 9./10. Jh. bzw. 9. oder 10. Jh. (Clm 14737 [f. 204-226], Wien, Cod. 795), setzt sich im 10. Jh. (Wien, Cod. 2484) und im 10./11. Jh. (Rom, Reg. lat. 356) fort und reicht mit einer Hs. bis in die 2. Hälfte des 11. Jh.s (Clm 14823). – Zu fünf der elf Hss. liegen sprachgeographische Bestimmungen der Glossen vor. Die Glossen in Reg. lat. 356 sind frk., die des Clm 6404, die Griffelgll. des Clm 15813 sowie die Gll. in Wien, Cod. 808 (II) bair. und die der Hs. Fulda, Aa 2 alem. 5. Umfang und Bedeutung: Alkuins Werk steht im Bereich des grammatischen Schrifttums mit deutlichem Abstand zu Ú Priscian (57,8%) und Ú Phocas (13,1%) an dritter Stelle (8,4%). Sieben der elf Hss. und 142 der 216 Gll. gehören zum Bereich der Grammatik (BStK-Nr. 163 I: 86 Gll., BStK-Nr. 537: 39 Gll., BStK-Nr. 608 II: 7 Gll., BStK-Nr. 615: 6 Gll., BStK-Nr. 924: 2 Gll., BStK-Nr. 823, 946: je 1 Gl.). Die weitaus meisten Glossen enthält das Textglossar des Fuldensis Aa 2 zu De Orthographia mit 86 Gll. aus dem 3. Drittel des 9. Jh.s sowie die Textglossierung des Clm 6404 mit 39 Gll. aus dem späten 9. Jh. – Hinter der Glossierung des grammatischen Werkes tritt die Glossierung des theologischen Schrifttums von Alkuin, das nahezu ausschließlich der Trinität gewidmet ist, zurück. Es handelt sich um drei Hss. (BStKNr. 596, 618, 799) mit 76 Gll., von denen der Clm 14510 mit 68 Gll. den deutlich größten Glossierungsanteil ausmacht. – Eine nähere Untersuchung der Glossierung Alkuins, etwa im Hinblick auf die Auswahl der glossierten Lemmata, fehlt bislang. 6. Literatur: BStK-Nr. 163 I, 537, 596, 608 II, 615, 618, 799, 823, 924, 946; StSG II, S. 5-8; V, S. 22; R. Bergmann, in: BStH I, S. 108, 110; A. Nievergelt, Sprachwissenschaft 36 (2011) S. 327f.; A. Nievergelt, ZDPh 129 (2010) S. 12f.; C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberl., S. 289f.

STEFANIE STRICKER

‘Allerheiligenpredigt, Altsächsische’ Ú ‘Altsächsische Allerheiligenpredigt’

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‘Altsächsische Allerheiligenpredigt’

‘Altalemannische Interlinearversion des Psalters’ Ú Psalter: ‘Fragmente einer altalemannischen Interlinearversion’ ‘Altbairische Beichte’ Ú Beichten, Althochdeutsche und altsächsische ‘Altbairisches Gebet’ Ú Beichten, Althochdeutsche und altsächsische ‘Altdeutsche Gespräche’ Ú ‘Pariser Gespräche’ ‘Althochdeutsche Übersetzung der Lex Salica’ Ú ‘Lex Salica, Bruchstück einer althochdeutschen Übersetzung’ ‘Althochdeutscher Physiologus’ Ú ‘Physiologus, Althochdeutscher’ ‘Altmittelfränkische Interlinearversion des Psalters’ Ú Psalter: ‘Fragmente einer altmittelfränkischen und altniederfränkischen Interlinearversion’ ‘Altniederfränkische Interlinearversion des Psalters’ Ú Psalter: ‘Fragmente einer altmittelfränkischen und altniederfränkischen Interlinearversion’ ‘Altniederländische Interlinearversion des Psalters’ Ú Psalter: ‘Fragmente einer altmittelfränkischen und altniederfränkischen Interlinearversion’ ‘Altsächsische Allerheiligenpredigt’ Überlieferung: Düsseldorf, ULB B 80, f. 153r, f. 152v; vgl. PadRep. Ausgaben: MSD Nr. LXX, I, S. 233, II, S. 371f.; E. Wadstein, Kleinere as. sprachdenkm., Nr. IV, S. 18; 126f. – Faksimile (f. 153r): J. H. Gallée, As. sprachdenkm., Facs. Slg., Nr. IIIc; K. Bodarwé, Sanctimoniales litteratae, S. 103; (f. 153r, 152v): V. Santoro; K. O. Seidel, S. 53, 55.

Der Text gehört zu den frühen deutschsprachigen Denkmälern für die Gattung Predigt. Er steht auf der Vorderseite des Schlussblatts einer Hs. mit Homilien Gregors des Großen zu den Evangelien (die Fortsetzung des unvollständigen letzten Satzes auf der vorausgehenden Seite), auf dessen Rückseite sich das vielleicht von gleicher Hand eingetragene as. Heberegister befindet (Ú ‘Essener Heberegister’; Gleichhändigkeit

‘Altsächsische Allerheiligenpredigt’

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wird vom Düsseldorfer Handschriftenkatalog, S. 269 bestritten). Die im 2. Viertel des 10. Jh.s in Essen geschriebene Hs. ist as. glossiert (BStK-Nr. 104 mit Lit.). Die paläographische Beurteilung der volkssprachigen Nachtragstexte schwankt zwischen dem Ende des 10. Jh.s (K. Bodarwé) und der Mitte des 11. Jh.s (E. Wisplinghoff, S. 79f.). Beide Denkmäler wurden noch kurz vor der Aufhebung des Essener Frauenstifts erstmals von V. N. Kindlinger aus den dortigen Beständen veröffentlicht. Die Predigt gibt in knapper Form Auskunft über die Ursprünge des Allerheiligenfestes. Sie beruht auf dem in Homiliaren und Martyrologien weit verbreiteten Sermo Legimus in ecclesiasticis historiis, der in der älteren Forschung fälschlich Beda Venerabilis zugeschrieben wurde (dazu J. E. Cross mit kritischem Text des Sermo und Hinweisen auf sein Weiterwirken in altenglischen Übersetzungen; speziell zur Vorlage der Allerheiligenpredigt V. Santoro, S. 225-235). Beda bringt die Erzählung von der Umwidmung des Pantheons in seiner Kirchengeschichte (II,4), jedoch ohne Erwähnung des Allerheiligenfestes, das erst unter irischem Einfluss und zur Zeit Ludwigs des Frommen an kalend nouember gefeiert wurde (LThK3 I, 1993, Sp. 405f.). Dass die neue Kirche neben der Gottesmutter und allen Märtyrern auch an njses drohtines êra geweiht wird, berichtet, abweichend vom Sermo-Text, auch die frühmhd. Kaiserchronik (V. 190). Über die heortologische Funktion hinaus ist die Erzählung von der Austreibung der afgoda und der statt ihrer nun gefeierten Heiligen im damaligen Sachsenland nicht ohne zeitaktuelle Bezüge (V. Santoro, S. 245-247). Der as. Text ist eine freie Wiedergabe des einleitenden Abschnitts der lat. Vorlage, deren syntaktische Komplexität bei der Umsetzung in die Volkssprache geschickt reduziert wird (dazu H. Tiefenbach, S. 118f.). Trotz seiner Kürze ist der as. Predigttext wohl vollständig, wie auch aus der Schlussformel helpandemo njsemo drohtine, ein absoluter Dativ als Entsprechung eines Ablativus absolutus, zu folgern ist. Die Sprache stimmt insgesamt zum westfäl. Sprachstand der Essener Denkmäler, doch sind die Umlautbezeichnungen in gƝfi, bƝdi (~ quƗmi) auffällig. Der konsequente Ausfall von präkonsonantischem h- (wan, vuat, gewarf, gewilƯk) und die häufige Verwendung von machen eine Datierung wahrscheinlich, die nicht mehr vor der Jahrtausendwende liegt. Literatur: L.-E. Ahlsson, Die altsächsische Bedahomilie, NM 29 (1973) S. 30-41; K. Bodarwé, Sanctimoniales litteratae, S. 385f.; J. E. Cross, ‘Legimus in ecclesiasticis historiis’: A Sermon for All Saints, and its Use in Old English Prose, Traditio 33 (1977) S. 101-135; Die mittelalterlichen Handschriften der Signaturengruppe B in der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf. Teil 1. Ms. B 1 bis B 100. Beschrieben von E. Overgaauw, J. Ott und G. Karpp, Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf. Kataloge der Handschriftenabteilung 1, Wiesbaden 2005, S. 268-273; T. Hofstra, Vui lesed: Zur volkssprachlichen Allerheiligenhomilie, ABÄG 52 (1999) S. 105-115; V. N. Kindlinger, Zwei alte BruchStücke Teutscher Schrift, Allgemeiner Litterarischer Anzeiger Nr. 110, July 1799, Sp. 1081-1084; Einige Verbesserungen der Uebersetzung von zwei alten BruchStücken Teutscher Schrift, Allgemeiner

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‘Altsächsisches Glaubensbekenntnis’

Litterarischer Anzeiger Nr. 21, Februar 1800, Sp. 207; Th. Klein, Studien, S. 539-543; W. Sanders, 2VL I, Sp. 317f., XI, Sp. 81; V. Santoro, La versione in sassone antico della prima lectio del sermone In festiuitate omnium sanctorum, Romanobarbarica 12 (1992-93) S. 223-249; K. O. Seidel, Vui lesed … Geistiges Leben im Essener Damenstift im Spiegel einer Handschrift des 10. Jahrhunderts, Essener Unikate 26 (2005) S. 50-59; H. Tiefenbach, in: Essen u. d. sächs. Frauenstifte, S. 113-128; E. Wisplinghoff, Untersuchungen zu niederrheinischen Urkunden des 11. und 12. Jahrhunderts, Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 157 (1955) S. 12-40.

HEINRICH TIEFENBACH

‘Altsächsische Genesis’ Ú ‘Genesis, Altsächsische’ ‘Altsächsischer Segen, Wiener’ Ú ‘Wiener altsächsischer Segen’ ‘Altsächsisches/frühmittelniederdeutsches Glaubensbekenntnis’ auch ‘Niederdeutscher Glaube’ Auf der Grundlage des Symbolum Apostolicum konzipiertes, mit Erweiterungen versehenes Glaubensbekenntnis, von der Forschung entweder der nordniedersächsischen Sprachregion in der ersten Hälfte des 12. Jh.s zugeordnet (E. Rooth) oder ins nordwestliche Westfalen der Zeit um 1200 (W. Foerste) gesetzt. 1. Überlieferung: Druck in Marcus Zuerius Boxhornius (1602 oder 1612-1653), Historia universalis. Lugdunum Batavorum 1652, S. 102-103. (Online lesbar in der Bayerischen Staatsbibliothek München, Signatur4 H.un. 25). Die Druckvorlage ist unbekannt. Boxhorn merkt zur Handschrift nur an: Habet … versio … Saxonica antiquissima Symboli Apostolici, haud dubie scripta tunc cum Geraniae nostrae nationibus Euangelica et Apostolica doctrina primum traderetur. Antiuitatis studiosis rem non ingratam facturum me opinor, si eam hic ex antiquissimo Codice MS. Bibliothecae Palatinae olim descriptam ego hic exhibeam (S. 101); ferner: ... in editam vetustissimam Symboli Apostolici Germanicam Paraphrasin hic edimus; et ex Codice membranaceo antiquissimo addemus … (S. 102). Nach der Angabe ex antiquissimo Codice MS. Bibliothecae Palatinae wird es sich um eine der Pfälzer Handschriften aus der Heidelberger Bibliothek gehandelt haben, die in den Vatican verbracht worden waren. 2. Ausgaben: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LXI, S. 362-364 (Zitate); MSD I, Nr. XCVIII, S. 318f.; II, S. 461f.; H. F. Massmann, Abschwörungsformeln, Nr. 13, S. 83f.; Die Schriften Notkers und seiner Schule. Hg. v. P. Piper. III, Freiburg/Tübingen 1883, S. XXVI. 3. Zum Text: Grundlage ist der bis heute in Liturgie und Katechese gültige Wortlaut des apostolischen Symbols (textus receptus), zuerst um 724 überliefert. Er wurde

‘Altsächsisches Glaubensbekenntnis’

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durch die Liturgiereform Karls d. G. im Frankenreich offiziell (B. Altaner, S. 86f.). Im ‘As. G.’ wird die Formel erheblich erweitert. Darin stimmt der Text so weitgehend zu der lat. Confessio-Formel des Honorius Augustodunensis in dessen Speculum ecclesiae (12. Jh., 1. Hälfte; PL 172, Sp. 823f. abgedruckt MSD II, S. 461f. [Zitate]), dass man das ‘As. G.’ als deren „ziemlich genaue Übersetzung“ ansprechen konnte (MSD II, S. 461). Die gelegentlich erwogene umgekehrte Annahme, dass der Text des Honorius eine deutsche Vorlage übersetze, hat wenig für sich. Die entsprechende Meinung, nach der eine lat. Beichte des Honorius aus dem Deutschen übersetzt sei, hat sich widerlegen lassen (V. Honemann). Im ‘As. G.’ sind gegenüber dem Apostolicum folgende Abweichungen/Ergänzungen festzustellen: Zum ersten Artikel (Schöpfung): Hier steht über das apostolische Bekenntnis zu Gott Vater und Sohn als Schöpfer des Himmels und der Erde hinaus noch das Bekenntnis zum Heiligen Geist mit trinitarischen Umschreibungen (Ic kelave in thene helgen gest … that the thre genenneden the vader en the sune en the helge gest en war godhid is … that the sulve godes sune, theter ge was ven ambeginne, that he gemmer mer wisen scel ane aller slach ende; vgl. Honorius: Et credo in spiritum sanctum. Credo quod istae tres personae, pater et filius et spiritus sanctus, una vera deitas est, quae semper fuit sine initio et semper erit sine fine; vgl. auch MSD II, S. 439, Z. 2-5). Zum zweiten Artikel (Erlösung): Jesus ist auf die Erde gekommen thur use notthrutthe; vgl. Honorius: propter nostram salutem / necessitatem; vgl. Confessio Nicaena-Constantinopolitana: propter nos homines et propter nostram salutem). – Zu passus zusätzliche Elemente einer Compassio-Frömmigkeit: gevangen wart, gebunnen wart, bespottet wart, gehalslaged wart, gevillet wart; vgl. Honorius: captus est, ligatus est, irrisus est, flagellatus est). – Jesus starb nur als Mensch, nicht als Gott (mitter mennisgid, niuwet mitter godhit; vgl. Honorius: in humanitate, non in deitate). Seine Seele, (nicht sein Leib) fuhr zur Hölle (thiu helge siele tu ther helle vor). – Er nahm aus der Hölle alle, die seinen Willen gewirkt hatten (end thar ut nam alle the thar bevaren sinen willen gedaen hadden; vgl. Honorius: inde sumpsit qui suam voluntatem fecerant). – Auferstehung als wahrer Gott und wahrer Mensch (war god, war mennesche). – Nach der Auferstehung aß und trank Jesus mit Seinen Jüngern zum Beweis seiner Rückkehr ins Leben (ahter siner ubstannisse at inde drang mit sinen iungheren, us te bewarende sine waren ubstannisse; vgl. Honorius: post resurrectionem comedit et bibit cum suis discipulis ad probandam veram suam resurrectionem). – Jesus lebte nach der Auferstehung 40 Tage und Nächte auf der Erde wie ein gewöhnlicher Mensch, jedoch ohne Sünde (hir wunede XL dage XL nochte als en ander mennische, an that ene, that he ne gesundigede). – Vor den Augen aller, die dessen als Zeugen würdig waren, fuhr er zum Himmel auf (aller there ancie, the ther

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‘Altsächsisches Glaubensbekenntnis’

werthig waren, the the sine uffart scuen mosten: vgl. Honorius: sursum ad caelos ivit suis discipulis inspicientibus). Zum dritten Artikel (Heiligung): Das im Apostolicum hier stehende Bekenntnis zum Heiligen Geist kam verändert in der ‘As. B’ schon im ersten Artikel vor (s. o.). – Der zum Himmel aufgefahrene Sohn ist mit dem Vater gleicherhaben und gleichmächtig (ime evenher ende evenweldig; vgl. Honorius: ei coaeternus et compotentilis). – Im letzten Gericht wird jeder gemäß der Gnade und seinen Werken gerichtet (enen gewiliken al na sinen genathen ende na usen werken; vgl. Honorius: unumquemque secundum opera sua et secundum ipsius misericordiam). – Zusatz zu remissio peccatorum: ther ic mikelig habbe en there nu gebot habbe ende sin nuet furniet nehabbe; vgl. Honorius: de quibus paenitentiam egi et confessionum feci et ultra non iteravi). – Erweiterung zu carnis resurrectionem: in theme sulven live, the ic hir nu scine, sterven scel (vgl. MSD II, S. 440, Z. 13-14) … gode rithe given scel aller there thinge, the ic ge gefrumede, godere gif uvelere. Ic kelave, that ic then thar lan enfan scel, al na thu, thet ic fundin werthe te minen iungesten tiden; vgl. Honorius: Et ibi retributionem accipiam secundem hoc quod in ultimis inventus fuero). – Ergänzung zu vitam aeternam: that ewge life, that god sulve is. Die Erweiterungen betreffen im ersten Artikel die Trinitäts- und Schöpfungslehre sowie die Lehre von der Präexistenz des Sohnes. – Die meisten Erweiterungen finden sich zum zweiten Artikel. Hier zeigt sich ein besonderes Interesse an der GottMensch-Natur Jesu bezogen auf die verschiedenen Stationen seines irdischen Heilswirkens. In das Bekenntnis zur Passion fließen Elemente der Compassio-Frömmigkeit ein. Auch das Deszensus-Thema wird näher ausgeführt. – Der dritte Artikel erweitert vor allem die Gerichtsthematik mit moraldogmatischen Aussagen, zu denen besonders Bemerkungen mit Bezug auf die Thematik des Beicht- und Bußwesens gehören. All diese Erweiterungen gehören selbstverständlich bis zur Formelhaftigkeit in die Tradition kirchlicher Lehre und Frömmigkeitspraxis. Insgesamt gestalten sie aber die Formel des Apostolicum in bemerkenswerter Weise und Ausführlichkeit um. Dem ‘As.G’ kommt damit gegenüber den älteren und zeitgleichen Texten des gleichen Gebrauchstyps eine bemerkenswerte Eigenständigkeit zu. 4. Literatur: Die ältere Literatur (bis 1980) bei A. Masser, ‘Niederdeutscher Glaube’, in: 2

VL VI, Sp. 990-992. – B. Altaner – A. Stuiber, Patrologie. Leben, Schriften und Lehre der Kirchenväter, 9. A. Freiburg/Basel/Wien 1978; W. Foerste, in: 2RL I, Sp. 40; V. Honemann, Die ‘Beichte’ des Honorius Augustodunensis – eine Rückübersetzung aus dem Deutschen?, PBB 102 (1980) S. 155-159; E. Rooth, Zur Heimat des frühmittelniederdeutschen Glaubens, StN 10 (1937/38) S. 124-159.

ERNST HELLGARDT

‘Altsächsisches Taufgelöbnis’

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‘Altsächsisches Taufgelöbnis’ Überlieferung: Rom, BAV Pal. lat. 577, f. 6v-7r; aus dem Mainzer Domstift stammende und wohl auch hier (?) oder in Fulda (?) kurz vor 800 verfertigte wichtige Hs. der Dionysianischen Kanonessammlung (A. Strewe [Hg.], Die Canonessammlung des Dionysius Exiguus). Das Ganze in gut durchgebildeter ags. geprägter Minuskel von einer Hand, offenbar Kopie einer älteren Vorlage (B. Bischoff, FMSt 5 [1971] S. 109111); vgl. PadRep. Ausgaben: E. G. Graff, Diutiska II, S. 191f.; H. F. Massmann, Abschwörungsformeln, Nr. 1, S. 21-28, 67 (mit Faks.); MSD Nr. LI, I, S. 198, II, S. 316-319; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. III, S. 20-22 (mit Angabe weiterer älterer Ausgaben); E. Wadstein, Kleinere as. Sprachdenkm., Nr. I, 3; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. XVI, 2, II. Faksimile ferner bei J. H. Gallée, As. Sprachdenkm., Tafel XIa; H. Foerster, Mittelalterliche Buch- und Urkundenschriften, Tafel V (f. 6v).

Literatur: B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S.101-134; Die Canonessammlung des Dionysius Exiguus in der ersten Redaktion, hg. v. A. Strewe, 1931.

Charakterisierung: Zur allgemeinen Einordnung der altdt. Taufformeln Ú ‘Fränkisches Taufgelöbnis’. Das ‘Altsächsische T.’, für das G. Baesecke zusammen mit dem ‘Fränkischen T.’ und dem Ú ‘Kölner T.’ eine gemeinsame, spätestens 776 hergestellte volkssprachige (frk.) Urfassung in Anspruch genommen hat, ist besser als eigenständige, im letzten Drittel des 8. Jh.s angefertigte Übersetzung eines altertümlich-knappen, außerhalb der römisch-fränkischen Liturgietradition stehenden lat. Formulars zu werten (W. Foerste), das im übrigen noch ganz auf drei Abschwörungsund eben soviele Glaubensfragen beschränkt ist. In Sprache und Haltung spiegelt das dem Mainzer Missionsbereich entstammende Stück die Situation der Bekehrungszeit. Hinter dem überlieferten Text ist als ursprünglicher Verfasser ein Angelsachse zu erkennen, und ags., nicht heimisch-sächsisch, sind auch die in die Abschwörungsformel namentlich eingefügten unholdun, denen der Täufling entsagen soll: Thunaer ende Uuoden ende Saxnot(e). Im übrigen ist eine nähere dialektale Bestimmung und aus ihr folgend eine lokale Zuweisung schwierig und umstritten. Literatur: G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 296-298 (Zusammenstellung älterer Lit.); A. Lasch, NPhM 36 (1935) S. 92-133 (= A. Lasch, Ausgew. Schriften, S. 18-59); G. Baesecke, Der Voc. St. Galli, S. 111f., 160; G. Baesecke, Die ahd. und as. Taufgelöbnisse, S. 63-85 (= G. Baesecke, Kleinere Schriften, S. 325-342); G. Baesecke, FF 21/23 (1947) S. 266-268 (= G. Baesecke, Kleinere Schriften, S. 343-347); W. Foerste, Untersuchungen, S. 92-98; W. Foerste, in: 2RL I, S. 40; M. Gysseling, Die nordniederländische Herkunft des Helianddichters und des ‘Altsächsischen’ Taufgelöbnisses, JVNSp 103 (1980) S. 14-31; L. Machielsen, De ags. herkomst van de zogenaamde Oudsaksische doopbelofde, LB 50 (1961) S. 97-124; J. Rathofer, Altsächsische Literatur, in: Kurzer Grundriß, II, S. 245f.; J. Rathofer, NW 16 (1976) S. 16f.;

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H. de Boor, Die dt. Lit., S. 25; A. Masser, in: 2VL VIII, Sp. 471-472; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 232-235; St. Krogh, Zur Sprache des ‘Sächsischen Taufgelöbnisses’, ZDA 124 (1995) S. 143-159; St. Krogh, Die Stellung des Altsächsischen im Rahmen der germanischen Sprachen, StA 29, Göttingen 1996; H. Tiefenbach, RGA XXVI, 2004, S. 546-549.

ACHIM MASSER

Ambrosius von Mailand, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Ambrosius (um *339 in Trier, † 4.4. 397 in Mailand), Bischof von Mailand, Heiliger der römisch-katholischen Kirche, der erste der vier großen Kirchenlehrer. Ambrosius leistete Großes in der Seelsorge und Armenpflege, förderte Mönchtum und Virginität und bereicherte den Gottesdienst durch eigene Antiphonien und Hymnen. Die Schriften des Ambrosius sind zum großen Teil aus seiner Predigtarbeit und Seelsorge hervorgegangen. Zu seinen Werken gehören die exegetischen Schriften Hexaemeron (I-VI) sowie der Kommentar zum Lukas-Evangelium (I-X), zu den Psalmen und den Paulusbriefen. Zu seinen dogmatischen Schriften gehören die Schrift gegen die Arianer, De fide (I-V), sowie die Schrift gegen die Macedonianer, De spiritu sancto (I-III), sowie gegen die Novatianer, De poenitentia (I-II). Schließlich hat Ambrosius moralasketische Schriften, Reden, Briefe und Hymnen verfasst. Literatur: F. W. Bautz, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, I, Sp. 142-144; Chr. Jacob, in: LThK. I, Sp. 495-497; H. Kraft, in: LexMA I, Sp. 524f. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Augsburg, AB Hs 16 (BStK-Nr. 16): 34 Interlinear- und 10 Marginalgll. in Textglossierung zu Hexaemeron; alem., 11./12. Jh. – Ed. G. Müller, Die althochdeutschen Glossen der Handschrift Augsburg Arch. 16, BEDSp. 6 (1986) S. 50f., 53-58, 61. – 2. St. Gallen, StB 102 (BStK-Nr. 180): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu De spiritu sancto; alem., 11. Jh. – Ed.: StSG II, S. 25 (Nr. DXXIV). – 3. Karlsruhe, BLB Aug. CXXV (BStK-Nr. 324a): 3 Marginalgll. in Textglossierung zu Hexaemeron; Sprache unbestimmt (Hs. viell. Süddeutschland oder Schweiz), undatiert (Hs. 1. Drittel 9. Jh.). – Ed. K. Beyerle, Zur Einführung in die Geschichte des Klosters, in: Die Kultur der Abtei Reichenau, I, S. 211; A. Holder, Die Reichenauer Hss., I, S. 312; B. Bischoff, Katalog, I, S. 346, Nr. 1652 (Berichtig.); K. Siewert, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 85-87 (Berichtig. u. Ergänz.). – 4. München, BSB Clm 4535 (BStK-Nr. 475): 1 Interlineargl. in Textglossierung zum Kommentar zur Bibel, Psalmen; Sprache unbestimmt (Hs. ev. aus Benediktbeuern), frühes 11. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 49. – 5. München, BSB Clm 4557 (BStK-Nr. 480): 1 Interlineargl. in Textglossierung zum Kommentar zur Bibel, Lukas-Evangelium; Sprache unbestimmt (Hs. Benediktbeuern), 12. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 68. – 6. München, BSB Clm 13079 (BStK-Nr. 560): 11 Interlinear- und 3 Marginalgll. in Textglossierung zu Hexaemeron; bair., undatiert (Hs. 12. Jh.). – Ed. StSG II, S. 24 (Nr. DXXI); V, S. 99, Z. 19f. – 7. München, BSB Clm 14117 (BStK-

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Nr. 566): 22 Interlineargll. in Textglossierung zum Kommentar zur Bibel, Lukas-Evangelium; bair., um 900, einige Glossen etwas später eingetragen. – Ed. StSG II, S. 24f. (Nr. DXXII). – 8. München, BSB Clm 18522b (BStK-Nr. 646): 14 Gll. (f. 5r-169v), 10 interl., 4 marg., bair., Hs.: um 1000 auf Veranlassung des Tegernseer Abtes Gozpert (982-1001). – Ed. StSG II, S. 25 (Nr. DXXIII); Neuedition durch A. Nievergelt in Vorbereitung. – 9. Stuttgart, WLB Cod. theol. et phil. 2º 210 (BStK-Nr. 862): 2 Marginalgll. in Textglossierung zu Hexaemeron; Sprache unbest. (Hs. Zwiefalten in Oberschwaben), um 1100 bis 1110. – Ed. StSG IV, S. 616, Nr. 559.

3. Glossographische Aspekte: Zu Schriften von Ambrosius begegnen in 9 Hss. insgesamt 102 ahd. Gll., die durchgängig in Textglossierungen vorkommen. Die Glossen stehen in 4 Hss. zu der Schrift Hexaemeron, in 3 Hss. zum Kommentar zum LukasEvangelium und in je einer Hs. zum Psalmenkommentar und zu De spiritu sancto. – Die Glossierung wird, abgesehen von 5 Hss. mit vereinzelten Glossen (1 bis 3 Gll.), von 4 Hss. (zusammen 94 Gll.) gebildet, wobei die beiden Hss. mit dem Kommentar zum Lukas-Evangelium (München, Clm 14117, Clm 18522b) den Hss. zu Hexaemeron (Augsburg, Hs 16, München, Clm 13079) um mehr als ein Jh. vorausgehen. 4. Räumliche und zeitliche Verteilung: Die Glossen sind sprachgeographisch zu etwa gleichen Anteilen als alem. (Augsburg, Hs 16, St. Gallen 102) oder bair. (München, Clm 13079, Clm 14117, Clm 18522b) bestimmt worden. Zeitlich zeigt sich eine Streuung vom 9. bis 12. Jh. Die älteste Glossierung aus dem 1. Drittel des 9. Jh.s enthält die Hs. Karlsruhe, Aug. CXXV mit nur 3 Gll. Aus der Zeit um 900 stammen die 22 Interlineargll. des Clm 14117. Je eine Glosse findet sich im Clm 4535 aus dem 10./11. Jh. und im Sangallensis 102, der aus der 2. Hälfte des 9. Jh.s stammt, aber erst im 11. Jh. mit einer Glosse versehen wurde. Der um 1000 auf Veranlassung des Tegernseer Abtes Gozpert (982-1001) angefertigte Clm 18522b weist 14 Gll. auf. Dem 11./12. Jh. werden die 44 Gll. der Hs. Augsburg, Hs. 16 zugewiesen. Zwischen 1100 und 1110 sind 2 Gll. in Stuttgart, Cod. theol. et phil. 2º 210 eingetragen worden. Aus dem 12. Jh. stammt die 14 Gll. umfassende Glossierung des Clm 13079 und die Einzelglosse im Clm 4557. Insgesamt zeigt die Glossierung zu Ambrosius einen Schwerpunkt im 11./12. Jh. 5. Umfang und Bedeutung: Über Einzelglossen im Psalmenkommentar (Clm 4535) sowie der Schrift De spiritu sancto (St. Gallen 102) hinaus sind nur der Kommentar zum Lukas-Evangelium und Hexaemeron stärker glossiert worden. Dabei enthält der Kommentar 37 Gll. (Clm 14117: 22 Gll.; Clm 18522b: 14 Gll.; Clm 4557: 1 Gl.), die Schrift Hexaemeron 63 Gll. (Augsburg, HS 16: 44 Gll.; Clm 13079: 14 Gll.; Karlsruhe, Aug. CXXV: 3 Gll.; Stuttgart, Cod. theol. et phil. 2º 210: 2 Gll.). Die Augsburger Hs. weist allein gut 60% des Glossenbestandes zu Ambrosius auf. – Ambrosius nimmt mit einem Umfang von 102 Gll. in 9 Hss. Rang 9 der ahd. Glossen zu kirch-

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lich-theologischem Schrifttum der Spätantike ein. Die Glossen machen aber nur 0,6% dieses Überlieferungskomplexes aus. Nach Ú Gregor dem Großen, der mit 76,6% drei Viertel der Überlieferung allein ausmacht, sowie Ú Hieronymus (5,6%), Ú Sulpicius Severus (4,8%), Ú Eusebius von Cäsarea (3,9%), Ú Isidor von Sevilla (3,3%), Ú Cassianus (1,3%), Ú Orosius (1,1%) und Ú Pseudo-Abdias (1,0%) steht Ambrosius an der Spitze einer Gruppe von Autoren mit einem unter 1,0% reichenden Anteil. Diese Zahlen sagen aber nichts über den Anteil der lat. Glossierung aus. Eine nähere Untersuchung, etwa im Hinblick auf die Auswahl der glossierten Lemmata, fehlt bislang. 6. Literatur: BStK-Nr. 16, 180, 208, 324a, 475, 480, 560, 566, 646, 862; StSG II, S. 24-25; R. Bergmann, in: BStH I, S. 91, 95f.

STEFANIE STRICKER

Apuleius Ú Pseudo-Apuleius, Althochdeutsche Glossierung Arator, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Arator (*wohl um 490 in Ligurien – 550), nach Studium und juristischer Ausbildung in Mailand und Ravenna Anwalt und Staatsdiener, Hinwendung zum Glauben, Übersiedlung nach Rom, um 540 Weihe zum Subdiakon (unter Papst Vigilius, 537-555). Als Hauptwerk Arators gilt das Versepos De actibus apostolorum, eine um kommentierende Teile ergänzte Apostelgeschichte (2.326 Hexameter in zwei Büchern). Mit ihr zusammen überliefert sind drei Widmungsgedichte in Distichen, die Epistola ad Florianum (an einen Abt Florianus), die Epistola ad Vigilium (an Papst Vigilius) und die Epistola ad Parthenium (an Parthenius, Lehrer Arators und Neffe seines Gönners Ennodius von Pavia). Im Jahr 544 wurde das Werk von Arator selbst in der Kirche Sancti Petri ad Vincula in Rom verlesen. Es steht in der Tradition von Juvencus’ Evangeliorum libri quattuor und Sedulius’ Carmen Paschale. Arator gehört bis zum ausgehenden 12. Jh. zu den Auctores maiores des klösterlichen Schulbetriebs. Davon zeugen beispielsweise die Codices Einsiedeln 302 (BStK-Nr. 126) und Vat. Pal. Lat. 1716 (BStK-Nr. 814). Literatur: H. Kraft, in: LexMA I, S. 868; A. P. McKinlay, Arator; J. Schwind, AratorStudien, S. 9-29; J. Schwind, in: Der Neue Pauly, I, Sp. 955-956. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Dresden, SLUB A 199 (BStK-Nr. 99; bildete mit BStK-Nr. 422c einen Codex): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu De actibus apostolorum; vielleicht bair., undatiert (Hs. 2. Hälfte 10. Jh.). – Ed. B. Bischoff, PBB 52 (1928) S. 168; Neuedition bei A. Schlechter, Die althochdeutschen Aratorglossen, S. 328. – 2. Einsiedeln, StB cod 302 (450) (BStK-Nr. 126): 40 Interlinear- und 11 Marginalgll. in Textglossierung zu De actibus apostolorum; obd.-alem. mit wenigen nicht obd. Formen, 2. Hälfte 10. Jh. – Ed. StSG II, S. 26-28 (Nr. DXXVIII); Neuedition mit Korrekturen und Ergänzungen bei A.

Arator-Glossierung

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Schlechter, Die althochdeutschen Aratorglossen, S. 270-292. – 3. Frankfurt, Stadt- und UB Ms. Barth. 139 (BStK-Nr. 158): 119 Interlinear- und 6 Marginalgll. in Textglossierung zu De actibus apostolorum; frk. (wohl rhfrk.), 12. Jh. – Ed. StSG II, S. 34-36 (Nr. DXXIX). – 4. St. Gallen, KB (Vadiana) Vadianische Sammlung Ms. 317 (BStK-Nr. 171): 84 Interlinear- u. 6 Marginalgll. in Textglossierung zu De actibus apostolorum; alem., undatiert (Hs. 2. Hälfte 9. o. 10. Jh.). – Ed. StSG II, S. 36f. (Nr. DXXX). – 5. Gotha, FB Membr. II 115 (BStK-Nr. 267d): 6 Interlineargll. in Textglossierung zu De actibus apostolorum; bair., 9. Jh. – Ed. H. Tiefenbach, Althochdeutsche Aratorglossen, S. 52. – 6. Kassel, UB, LB und MB 8º Ms. theol. 60 (BStK-Nr. 338a; bildete ehemals mit BStK-Nr. 1039 einen Codex): 2 Interlineargll. in Textglossierung zu De actibus apostolorum; Sprache unbestimmt, 2. Drittel 11. Jh. – Ed. 2 Interlineargll. bei A. Schlechter, Die althochdeutschen Aratorglossen, S. 323f., weitere, von R. Schützeichel gemeldete Glossen nicht ediert. – 7. London, BL Egerton 267 [f. 40-42] (BStKNr. 409 II): 9 Interlinear- und 6 Marginalgll. in Textglossierung zu De actibus apostolorum; alem., Ende 10. o. Anfang 11. Jh. – Ed. StSG V, S. 22 (Nr. DXXVIIa); Korrekturen und Nachträge bei H. Thoma, PBB 73 (1951) S. 231; Neuedition bei A. Schlechter, Die althochdeutschen Aratorglossen, S. 308-315. – 8. London, BL Harl. 3121 (BStK-Nr. 420): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu De actibus apostolorum; Sprache unbestimmt, undatiert (Hs. 11./12. Jh.). – Ed. H. Thoma, PBB 73 (1951) S. 234. – 9. London, BL Add. 18363 (BStK-Nr. 422c; bildete mit BStK-Nr. 99 einen Codex): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu De actibus apostolorum; vielleicht bair., undatiert (Hs. 2. Hälfte 10. Jh.). – Ed. A. Schlechter, Die althochdeutschen Aratorglossen, S. 328. – 10. München, BSB Clm 686 (BStK-Nr. 458): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu De actibus apostolorum; Sprache unbestimmt, undatiert (Hs. 11./12. Jh.). – Ed. H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 221. – 11. München, BSB Clm 19451 (BStK-Nr. 667): 31 Interlinear- und 7 Marginalgll. in Textglossierung zu De actibus apostolorum; bair. (südrhfrk. Vorlage?), 10. Jh. – Ed. StSG II, S. 37f. (Nr. DXXXI). – 12. München, BSB Clm 29338/3 (früher Clm 29033c) (BStK-Nr. 703): 2 Interlineargll. in Textglossierung zu Epistola ad Florianum, 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Epistola ad Vigilium; bair., Anfang 11. Jh. – Ed. 2 Gll. bei B. Bischoff, PBB 52 (1928) S. 167, Neuedition mit Ergänzung bei A. Schlechter, Die althochdeutschen Aratorglossen, S. 332f. – 13. München, BSB Clm 29330/3 (früher Clm 29035c) (BStK-Nr. 704): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu einem nicht näher bestimmten Werk Arators; Sprache unbestimmt, undatiert (Hs. 11. Jh.). – Ed. StSG II, S. 775 (Nr. DXXXIVb Nachtr.). – 14. München, BSB Clm 29330/1 (früher Clm 29035b.d) (BStK-Nr. 710u): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu De actibus apostolorum; obd., undatiert (Hs. 10. Jh.). – Ed. B. Bischoff, PBB 52 (1928) S. 167. – 15. Paris, BNF lat. 8318 (BStK-Nr. 750): 225 Interlinear- und 99 Marginalgll. in Textglossierung zu De actibus apostolorum, 7 Interlinearund 2 Marginalgll. zu Epistola ad Florianum, 3 Interlineargll. zu Epistola ad Vigilium; alem. und rhfrk., 11. Jh. – Ed. H. Tiefenbach, Althochdeutsche Aratorglossen, S. 17-29. – 16. Rom, BAV Pal. lat. 1716 (BStK-Nr. 814): 332 zumeist interlinear eingetragene Glossen in Textglossierung zu De actibus apostolorum, 6 Interlineargll. zu Epistola ad Florianum, 4 Interlineargll. und 1 Marginalgl. zu Epistola ad Vigilium, 2 Gll. in Textglossar zu De actibus apostolorum; rhfrk. nach (spät-)alem. Vorlage, 1. Hälfte 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 771-775 (Nr. DXXVIII Nachtr.); Korrekturen und Nachträge bei H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 239f.; Neuedition mit Korrekturen und Nachträgen bei A. Schlechter, Die althochdeutschen Aratorglossen, S. 56-204. – 17. Rom, BAV Pal. lat. 1717 (BStK-Nr. 815): 3 Interlineargll. in Text-

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glossierung zu De actibus apostolorum; Sprache unbestimmt (Hs. deutschsprachiger Raum), undatiert (Hs. 12. Jh.). – Ed. H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 220. – 18. Schlettstadt, BH Ms 7 (früher Ms. 100) (BStK-Nr. 849): 4 Interlineargll. im Kontext des Textglossars zu Arator, die erste wohl zu Epistola ad Florianum, die 3 weiteren nicht zuweisbar; alem., 1. Viertel 12. Jh. – Ed. StSG II, S. 39 (Nr. DXXXVI). – 19. Trier, BA Abt. 95 Nr. 17 (früher Bibliothek des Domcapitels 17 F) (BStK-Nr. 878): 29 Interlineargll. in Textglossierung zu De actibus apostolorum; frk. nach obd. Vorlage, undatiert (Hs. Ende 10. o. Anfang 11. Jh.). – Ed. [] Nolte, Germania 20 (1875) S. 140f.; StSG II, S. 38 (Nr. DXXXII). – 20. Trier, StadtB 1093/1694 (früher 1464) (BStK-Nr. 881): 250 Interlinear- und 127 Marginalgll. in Textglossierung zu De actibus apostolorum, 6 Interlinear- und 3 Marginalgll. zu Epistola ad Florianum, je 2 Interlinear- und Marginalgll. zu Epistola ad Vigilium; moselfrk. nach obd. Vorlage, undatiert (Hs. Ende 10. Jh.). – Ed. StSG II, S. 26-33 (Nr. DXXVIII), Nachtrag StSG V, S. 99; Neuedition mit Korrekturen bei H. v. Gadow, Die althochdeutschen Aratorglossen, S. 26-81. – 21. Trier, StadtB Mappe I, Arator-Fragment (BStK-Nr. 883 II)): 10 Interlineargll. in Textglossierung zu De actibus apostolorum; mfrk., undatiert (Hs. 12. Jh.). – Ed. StSG II, S. 38f. (Nr. DXXXIII). – 22. Wien, ÖNB Cod. 275 (BStK-Nr. 905): 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Epistola ad Vigilium; Sprache unbestimmt (Hs. Süddeutschland), wohl 12. Jh. – Ed. StSG II, S. 39 (Nr. DXXXIV). – 23. Wien, ÖNB Cod. 2171 (BStK-Nr. 942): 4 Interlineargll. im Kontext des Textglossars zu De actibus apostolorum, 3 Interlineargll. zu Epistola ad Florianum; Sprache unbestimmt (Hs. wohl Süddeutschland), 3. Viertel 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 39 (Nr. DXXXV). – 24. Marburg, HSA Hr 4,16c-d (BStK-Nr. 1039; bildete ehemals mit BStK-Nr. 338a einen Codex): 11 Interlinear- und 6 Marginalgll. in Textglossierung zu De actibus apostolorum; Gl. auf f. 16cv obd., Gll. auf f. 16dr-f. 16dv frk., Glosse auf 16cv um 1000 eingetragen, weitere 2. Drittel 11. Jh. – Ed. A. Schlechter, Die althochdeutschen Aratorglossen, S. 363-369.

3. Glossographische Aspekte: Ahd. Aratorglossen sind in 24 Hss. überliefert, und zwar fast ausschließlich zu dem Versepos De actibus apostolorum und/oder den dazugehörigen Widmungsschreiben an Florianus und Vigilius (Der glossierte Text in BStK-Nr. 704 ist Arator zugewiesen, aber nicht näher bestimmt.). Die Glossen sind insbesondere durch die Publikationen von H. v. Gadow, A. Schlechter und H. Tiefenbach sehr gut erschlossen (mit Berücksichtigung der ersten Aratorglossen-Monographie von I. Kelling). 21 Hss. tradieren den glossierten Werktext, zwei Hss. Glossare dazu (BStK-Nr. 849, 942), eine Hs. enthält sowohl den glossierten Werktext als auch ein Glossar (BStK-Nr. 814). In die Glossare sind insgesamt nur 13 ahd. Gll. eingetragen, während im Rahmen der Werktextglossierung über 1.465 ahd. Gll. überliefert sind. 1.071 der Gll. (über 72%) sind auf nur drei Hss. verteilt (Paris, lat. 8318, Rom, Pal. lat. 1716, Trier 1093/1694). 75% der Überlieferungsträger (18 Hss.) enthalten unter 50 ahd. Gll., davon wiederum rund 67% (12 Hss.) unter zehn. Die ältesten AratorGlossen stammen aus dem 9. Jh. (Textglossierung: Gotha, Membr. II 115, BStK-Nr. 267d; Textglossar: Wien, Cod. 2171, BStK-Nr. 942). Die Werktextglossierung verteilt

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sich ansonsten recht gleichmäßig über das 10. bis 12. Jh., wobei in sechs Fällen zwar die Handschriften, nicht aber die Glossen datiert sind. Textglossare liegen aus dem 11. und 12. Jh. vor. Ist für die Codices, die unter zehn ahd. Gll. überliefern, eine räumliche Zuweisung überhaupt möglich, so ist dies der obd. Raum (bair. o. alem.). Die umfangreichste ahd. Glossierung ist vom alem. in den mittelrhein. Raum weitertradiert; H. Tiefenbach (Althochdeutsche Aratorglossen, S. 41) bringt sie mit dem Neueinsatz der Glossierungstätigkeit nach dem Niedergang am Ende der Karolingerzeit in Verbindung. Textglossierung: Die ahd. Glossen der Werktextglossierung zu Arator sind recht ungleichmäßig auf 22 Hss. verteilt (s.o.). Viele der Arator überliefernden Codices sind (reich) lat. kommentiert und/oder glossiert, so der viele ahd. Glossen überliefernde Codex Rom, Pal. lat. 1716, aber beispielsweise auch die Hss. London, Harl. 3121 und München, Clm 686, die jeweils nur eine einzige ahd. Glosse enthalten. Auffallend viele Arator überliefernde Hss. (10 von 24, also rund 43%) enthalten volkssprachige Glossen in Geheimschrift, bis auf eine Ausnahme bfk-Geheimschrift, in der die Vokale durch den folgenden Konsonanten ersetzt werden (B = bfk-Geheimschrift, P = Punktegeheimschrift): 126: B, 158: B, 171: B, 338a: B, 409 (II): B, 667: BP, 750: B, 814: B, 881: B, 1039: B. Textglossar: Die drei Textglossare sind ganz unterschiedlicher Art: Das Glossar in der Hs. Rom, Pal. lat. 1716 ist insofern singulär, als im selben Codex der Werktext überliefert ist. Beide Glossierungen stehen aber in keinem unmittelbaren Zusammenhang. Schlettstadt Ms. 7 ist ein Codex, der von der angelsächsischen Tradition beeinflusst ist. Neben der wohl Arator zuweisbaren Strecke (s.o.) enthält er eine Vielzahl anderer Glossarstrecken, die Werktexten zuordenbar sind. Das Arator-Glossar der Hs. Wien, Cod. 2171 ist vergleichsweise unauffällig. A. Schlechter, Die althochdeutschen Aratorglossen, stellt die größte zusammenhängende Gruppe von acht ahd. glossierten Arator-Hss. basierend auf der Hs. Rom Pal. lat. 1716 zusammen, wobei Dresden, A 199 und London, Add. 18363 sowie Kassel, 8º Ms. theol. 60 und Marburg Hr 4,16c-d ehemals zu einem Codex gehörten: Dresden, A 199, Einsiedeln, cod 302 (450), Kassel, 8º Ms. theol. 60, London, Egerton 267 [f. 40-42], London, Add. 18363, München, Clm 29338/3 (früher Clm 29033c), Rom, Pal. lat. 1716, Marburg Hr 4,16c-d. 4. Umfang und Bedeutung: Neben Ú Prudentius und Ú Boethius gilt Arator als einer der meistglossierten spätantiken Autoren (s. auch BStH I, S. 90), wobei die ahd. Arator-Glossen mit nur 9,1% an dritter Stelle stehen, die Boethius-Glossen mit nur 9,8% an zweiter Stelle, die Prudentius-Glossen aber mit 74,1% fast drei Viertel der Überlieferung ausmachen. Das Ganze ist dann aber wieder zu relativieren mit Blick

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‘Augsburger Gebet’

auf die Plätze 4 bis 6: Ú Sedulius (2,6%), Ú Juvencus (1,7%), Ú Avitus von Vienne (1,5%). Im Kontext der Glossierung nichtbiblischer Texte insgesamt sieht die Überlieferung prozentual folgendermaßen aus: 1. Gregor der Große (23,1%), 2. Prudentius (20,0%), 3. Vergil (11,0%), 4. Canones (10,5%), 5. Smaragdus von St. Mihiel (3,2%), 6. Boethius (2,7%), 7. Arator (2,5%), 8. Herrad von Landsberg (2,0%), 9. Hieronymus (1,7%), 10. Priscian (1,6%) (s. auch BStH I, S. 118). Das Versepos De actibus apostolorum gehörte im Mittelalter zur elementaren Lektüre im klösterlichen Unterricht, gleichwohl können die volkssprachig glossierten Hss. nicht automatisch dem Schulunterricht zugewiesen werden. 5. Literatur: BStK-Nr. 99, 126, 158, 171, 267d, 338a, 409 (II), 420, 422c, 458, 667, 703, 704, 710u, 750, 814, 815, 849, 878, 881, 883 (II), 905, 942, 1039; StSG II, S. 26-39, 771-775; StSG V, S. 22, 99; R. Bergmann, in: BStH I, S. 108, 110; B. Bischoff, PBB 52 (1928) S. 153168; H. v. Gadow, Die althochdeutschen Aratorglossen der Handschrift Trier 1464, Münstersche Mittelalter-Schriften 17, München 1974; I. Kelling, Die althochdeutschen Aratorglossen, Diss. Jena 1964 masch.; A. Nievergelt, in: BStH I, S. 240-268; A. Schlechter, Die althochdeutschen Aratorglossen der Handschrift Rom Biblioteca Apostolica Vaticana Pal. Lat. 1716 und verwandte Glossierungen, StA 20, Göttingen 1993; H. Tiefenbach, Althochdeutsche Aratorglossen. Paris lat. 8318. Gotha membr. II 115, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Dritte Folge 107, Göttingen 1977; C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberl., S. 289f.

CLAUDIA WICH-REIF

‘Augsburger Gebet’ Überlieferung: München, BSB, Clm 3851, f. 1r, spätes 9. Jh., aus dem Augsburger Domstift. Die Hs. ist eine Sammlung von Bußordnungen, kanonistischen Schriften u. ä. Auf der ursprünglich freien ersten Seite ganz oben das Gebet, und zwar vom gleichen Schreiber zunächst in zwei Zeilen der lat. Gebetstext, dann in drei Zeilen der deutsche. Lat. und ahd. Text sind durch jeweils herausgerückte schlichte Initialen abgesetzt. Aufgrund des Schriftcharakters denkt B. Bischoff an lothringische Herkunft der Hs.; vgl. PadRep. Ausgaben: MSD Nr. XIV, I, S. 34, II, S.88f.; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XVIII, S. 92f. (lat. und ahd. Text sowie Angabe älterer Ausgaben); W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd.Lb., Nr. XXXVII,1 (nur der ahd. Text); Faksimile bei E. Petzet – O. Glauning, Dt. Schrifttafeln, Tafel X. Das ahd., seiner Sprache nach rhfrk. Gebet ist in vier anspruchslosen Otfridschen Reimpaaren abgefasst. Es ist die Übersetzung der mit übereinstimmendem Wortlaut bereits im Sacramentarium Gregorianum, Nr. 201,12 vorhandenen, im 9. Jh. in verschiedenen Sacramentarien u. ä. bezeugten Gebetsformel Deus cui proprium est mise-

Avianus-Glossierung

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reri semper et parcere ..., in der Sündenvergebung erfleht wird (Textliche Varianten sieh Corpus orationum. Inchoante Eugenio Moeller, subsequente Ioanna Clément, CCL 140A, II, Turnholti 1993, S. 133-136, Nr. 1139-1144). Das Gebet ist bis heute gebräuchlich und hat seinen Platz unter den Schlussgebeten der Allerheiligen-Litanei. Mögliche Funktionszusammenhänge des ahd. Textes sind nicht zu erkennen. Die Übersetzung in poetischer Form führt über das Ziel einer reinen Verständlichmachung der lat. Formel hinaus, und die Art der Überlieferung zeigt ein offensichtlich gleichberechtigtes Nebeneinander von lat. und ahd. Text. Andererseits ist natürlich eine wie immer geartete liturgische Verwendung des ahd. Textes von vornherein auszuschließen. Desgleichen möchte man den Gedanken, hier sei eine volkssprachige Entsprechung des lat. Gebets zur privaten Verwendung beabsichtigt gewesen, für diese Zeit fernhalten. So dürfte es einen konkreten Verwendungszweck für diese poetische Übersetzung nicht gegeben haben. Literatur: B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 117; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 246; W. Haubrichs, in: Lotharingia, S. 225f.; Das Sacramentarium Gregorianum nach dem Aachener Urexemplar, hg. v. H. Lietzmann, Liturgiegeschichtliche Quellen, H. 3, Münster 1921; A. Masser, in: 2VL II, Sp. 822-824. ACHIM MASSER

Avianus, Althochdeutsche Glossierung Leben und Werk: Avianus verfasste um 400 eine lateinische Fabelsammlung in Versform (Distichen); zu Text- und Überlieferungsgeschichte sowie zur mittelalterlichen lateinischen und deutschen Rezeption M. Baldzuhn, in: 2VL XI, Sp. 237-242. Literatur: M.F., in: Der Kleine Pauly I, Sp. 787; J. Gruber, in: LexMA I, Sp. 1298; M. Baldzuhn, Schulbücher im Trivium. Überlieferung: 1. Paris, BNF nouv. acquis. lat. 1132 (BStK-Nr. 773): 2 Interlineargll. in Textglossierung zu Ad Theodosium, 4 Interlineargll. zu Fabulae; obd., 9./10. Jh. – Ed.: J. Vendryes, Gloses en Vieux Haut-Allemand dans un Manuscrit d’Avianus, MSLP 22 (1922) S. 274; H. Omont, Manuscrit illustré des Fables d’Avianus. Notice du ms. latin n.a.1132, du Xe siècle, récemment entré à la Bibliothèque Nationale, BÉC 83 (1922) S. 5-10; U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 424f. – 2. Rom, BAV Urb. lat. 674 (BStK-Nr. 832): 1 Interlineargl. in Geheimschrift im Rahmen lat. Textglossierung und Kommentierung; Sprache unbestimmt, 11. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 117. – 3. Trier, StadtB 1093/1694 (früher 1464) (BStKNr. 881): etwa 90 Interlinear- und 8 Marginalgll.; mfrk., Ende 10. Jh., Echternach. – Ed. StSG II, S. 42-44 (Nr. DXLIV), V, S. 99.

Charakterisierung: Die ahd. Avian-Glossierung steht unter der Glossierung nichtbiblischer Texte mit etwas über 100 Gll. etwa an 40. Stelle und auch unter der engeren Perspektive auf glossierte spätantike Dichtung hat die Avian-Glossierung nur einen

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Avitus-Glossierung

Anteil von weniger als 1%. Sie ist zudem sehr ungleich verteilt, insofern in zwei Hss. nur einige wenige Textglossen überliefert sind, die übrigen knapp hundert Textglossen (etwa 90 Interlinear- und 8 Marginalgll.) hingegen in einer einzigen Hs. Dieser Ende des 10. Jh.s in Echternach entstandene großformatige Trierer Codex 1093/1694 enthält neben Avians Fabeln die Werke des Prudentius, Arators De actibus apostolorum, das Carmen Paschale des Sedulius, die De consolatione philosophiae des Boethius, die Disticha Catonis mit umfangreicher lat. Glossierung und insgesamt etwa 780 mfrk. Glossen. Er wird als „umfangreiche[r], hier gar repräsentativ gestaltete[r] Bibliotheksband“ charakterisiert, „der als Wissensspeicher Texte prospektiv für verschiedenste künftige Nutzung bereithält“ (M. Baldzuhn, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 498). Literatur: BStK-Nr. 773, 832, 881; zur lat. und volkssprachigen Glossierung M. Baldzuhn, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 485-512 (S. 508f. Liste von Avian-Hss. und AvianGlossen bis etwa 1100); M. Baldzuhn, Schulbücher im Trivium des Mittelalters und der Frühen Neuzeit: Die Verschriftlichung von Unterricht in der Text- und Überlieferungsgeschichte der ‘Fabulae’ Avians und der deutschen ‘Disticha Catonis’, Berlin/New York 2009, S. 705-711, 757-759 und 781-791 zu den drei Hss. ROLF BERGMANN

Avitus von Vienne, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk$YLWXVYRQ9LHQQH XP‚LQ9LHQQH %XUJXQG  Bischof von Vienne in Nachfolge seines Vaters; 517 leitete er das von ihm einberufene erste burgundische Konzil in Epao. Er bekämpfte den Arianismus und konnte 497 Sigismund, den Sohn des Burgundenkönigs Gundobad, zum Katholizismus bekehren. Grundlage seines Ruhms ist die Nacherzählung der Weltschöpfung in fünf Büchern, Libelli de spiritalis historiae gestis (5 Bücher bestehend aus 2.552 Hexametern). Er schildert darin die Schöpfung, den Sündenfall mit dem Gottesurteil und dem Verlust des Paradieses, die Sintflut sowie den Durchzug durch das Rote Meer. Bedeutsam sind auch zwei Trostgedichte für seine Schwester, die Nonne Fuscina, Versus de consolatoria castitatis laude und De virginitate. Seine Briefsammlung von 96 Briefen stellt eine wichtige Quelle für die Geschichte der Jahre 499 bis zu seinem Tod 518 dar. In einem dieser Schreiben beglückwünscht er den Frankenkönig Chlodwig I. zu seiner Taufe. Von den 34 bekannten Homilien sind nur drei ganz erhalten. Literatur: LThK I, 1154f.; F. W. Bautz, Avitus, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, I, 1990, Sp. 311; Der Kleine Pauly, I, Sp. 790; K.Sm., Avitus, Alcimus Ecdicius, in: Der neue Pauly, II, Sp. 372f.

2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Dresden, SLUB Dc 159 (BStK-Nr. 100): 8 Gll. (7 interlinear, 1 marginal) in Textglossierung zu Libelli de spiritalis historiae gestis;

Avitus-Glossierung

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Sprache unbestimmt (Hs. Augsburg), Glossen undatiert (Hs. 10. oder 11. Jh.). – Ed. StSG IV, S. 311 (Nr. DIVd). – 2. St. Gallen, StB 197 (BStK-Nr. 201): 6 Interlineargll. in den Werken; Sprache unbestimmt (Hs. St. Gallen), Glossen undatiert (Hs. 9. Jh.). – Ed. StSG II, S. 4 (Nr. DI). – 3. St. Gallen, StB 198 (BStK-Nr. 202): 2 Interlineargll. in Textglossierung zu Libelli de spiritalis historiae gestis; Sprache unbestimmt; Glossen undatiert (Hs. 10. Jh.). – Ed. StSG II, S. 4 (Nr. DIII). 4. München, BSB Clm 330 [f. 1-58] (BStK-Nr. 448 I): 23 Gll. (14 interlinear, 9 marginal) in Textglossierung zu Libelli de spiritalis historiae gestis; bair., Glossen undatiert (Hs. 11. Jh.). – Ed. StSG II, S. 3 (Nr. CCCCXCIX); Nachtrag V, S. 99. – 5. München, BSB Clm 4652 (BStK-Nr. 490): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Libelli de spiritalis historiae gestis ; Sprache unbestimmt (Hs. Benediktbeuern), 11. Jh. – Ed. H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 221f. – 6. München, BSB Clm 14420 [f. 162-199] (BStK-Nr. 583 II): 14 fast durchgehend interlinear eingetragene Glossen in Textglossierung zu Libelli de spiritalis historiae gestis; Sprache unbestimmt (Hs. St. Emmeram Regensburg), Glossen undatiert (Hs. 11. Jh.). – Ed. StSG II, S. 4 (Nr. DII). – 7. München, BSB Clm 19450 (BStK-Nr. 666): 150 Interlineargll. in Textglossierung zu Libelli de spiritalis historiae gestis; bair., Ende 10. oder Anfang 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 1-3 (Nr. CCCCXCVIII). – 8. München, BSB Clm 23480 (BStK-Nr. 687): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Libelli de spiritalis historiae gestis; Sprache unbestimmt, Glossen undatiert (Hs. 12. Jh.). – Ed. StSG II, S. 4 (Nr. DIVa). – 9. München, BSB Clm 29332/1 (BStK-Nr. 702 I): 32 Interlineargll. in den Werken; bair., Glossen undatiert (Hs. 9./10. Jh.). – Ed. StSG II, S. 770 (Nr. DIVb). – 10. München, BSB Clm 29332/3 (BStK-Nr. 702 II): 1 Interlineargl. in den Werken; Sprache unbestimmt (Hs. Regensburg ?), Glossen undatiert (Hs. 1. Hälfte 12. Jh.). – Ed. StSG II, S. 770 (Nr. DIVc). – 11. Wien, ÖNB Cod. 261 (BStK-Nr. 902): 13 Interlineargll. in Textglossierung zu Libelli de spiritalis historiae gestis; bair., 11. oder 12. Jh. – Ed. StSG II, S. 4 (Nr. D).

3. Glossographische Aspekte: Ahd. Glossen zu den Werken des Avitus von Vienne begegnen in elf Hss. aus dem 9. bis 12. Jh. (insgesamt 251 ahd. Gll.). Sie stehen ausnahmslos in Textglossierungen, in acht Hss. zu den Libelli de spiritalis historiae gestis, in drei Hss. allgemein zu den Werken. Die vereinzelt vorliegenden Glossenbestimmungen weisen durchgehend auf den bair. Raum (München, Clm 330 [f. 1-58], Clm 19450, Clm 29332/1, Wien, Cod. 261). – Die acht Hss. mit Glossen zu der Hauptschrift Libelli de spiritalis historiae gestis enthalten 203 Gll., wobei der Clm 19450 mit 150 Interlineargll. aus dem Ende des 10. oder Anfang des 11. Jh.s den Hauptbestand an Glossen trägt. 14 Interlinear- und 9 Marginalgll. enthält der Clm 330, 14 fast durchgehend interlinear eingetragene Glossen tradiert der Clm 14420 [f. 162199]. Beide Hss. stammen aus dem 11. Jh. Der Vindobonensis 261 aus dem 11. oder 12. Jh. enthält 13 Interlineargll., die Hs. Dresden, Dc 159 aus dem 10. oder 11. Jh. 7 Interlineargll. und 1 Marginalgl. Die drei verbleibenden Überlieferungen zeigen nur 2 (St. Gallen 198, Hs.: 10. Jh.) bzw. 1 Interlineargl. (Clm 4652, Gll.: 11. Jh.; Hs.: 2. Hälfte 11. Jh., Benediktbeuern; Clm 23480, Hs.: 12. Jh.). Die drei Hss. mit Glossierungen zu den Werken enthalten 39 Gll., wobei der Clm 29332/1 mit 32 Interlineargll. die glossenreichste Überlieferung darstellt. Der Sangal-

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‘Basler Rezepte’

lensis 197 aus dem 9. Jh. enthält 6 Interlineargll. und das Fragment Clm 29332/3 aus der 1. Hälfte 12. Jh. 1 Interlineargl. 4. Räumliche und zeitliche Verteilung: Von den elf Hss. mit ahd. Glossen weisen nur drei eine Datierung der Glossen auf, die vom Ende des 10. bis in das 11. oder 12. Jh. reicht: Die Glossierung des Clm 19450 stammt aus dem Ende des 10. oder Anfang des 11. Jh.s, die des Clm 4652 aus dem 11. Jh. und die des Vindobonensis 261 aus dem 11. oder 12. Jh. Die Hss. selbst sind im 9. bis 12. Jh. entstanden. Eine sprachgeographische Bestimmung der Glossen liegt nur für die Hss. Clm 29332/1, Clm 330 [f. 1-58], Clm 19450, Wien, ÖNB Cod 261 vor. Sie werden als bair. bestimmt. 5. Umfang und Bedeutung: Nach dem mit über 12.000 Gll. und damit fast drei Viertel der Glossen zur Literatur der Spätantike umfassenden Autor Ú Prudentius (74,1%) sowie nach Ú Boethius (9,8%), Ú Arator (9,1%), Ú Sedulius (2,6%) und Ú Juvencus (1,7%) nimmt Avitus mit einem Anteil von 1,5% der Glossen Rang 6 im Bereich der Literatur der Spätantike ein. Im Rahmen der Glossierung aller nichtbiblischen Werke macht die Glossierung von Avitus 0,42% aus. Das Werk des Avitus gehört damit zur durchschnittlich stark glossierten Literatur dieses Bereichs. Vor allem sein Hauptwerk, die Libelli de spiritalis historiae gestis, weist deutsche Glossen auf. Der Glossierungsschwerpunkt liegt in dem Clm 19450 mit 150 Gll. aus dem Ende des 10. oder Anfang des 11. Jh.s. Die Glossierung des Avitus ist durchgehend als Textglossierung bezeugt, die in den bairischen Raum vornehmlich des 10. und 11. Jh. weist. Sie hat möglicherweise im Elementarunterricht Verwendung gefunden. Eine nähere Untersuchung, etwa im Hinblick auf die Auswahl der glossierten Lemmata, fehlt bislang. 6. Literatur: BStK-Nr. 100, 201, 202, 448 I, 490, 583 II, 666, 687, 702 I, 702 II, 902; StSG II, S. 1-4, 770; IV, S. 311; R. Bergmann, in: BStH I, S. 88, 90, 119.

STEFANIE STRICKER

‘Basler Rezepte’ 1. Werkbeschreibung: Bezeichnung für drei noch vor 800 in Fulda von verschiedenen ags. Händen in die aus dem 8./9. Jh. stammende Fuldaer Hs. Basel, UB F. III. 15a (f. 17r) eingetragene Rezepte, von denen das erste lat., die beiden folgenden ahd. sind. Da die Hs. unmittelbar von einer fuldischen Hs. engl. Herkunft abhängt, steht Entstehung in Fulda fest. Die Texte gelten als die ältesten Denkmäler ahd. medizinischer Prosa und wohl die ältesten zusammenhängenden dt. Texte überhaupt. 2. Überlieferung: Die Hs. Basel, UB F. III. 15a umfasst 32 Pergamentblätter mit 2 Teilen: f. 1-23 und f. 24-32; sie ist im 8./9. Jh. wohl in der Benediktinerabtei Fulda

‘Basler Rezepte’

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entstanden; 1630 wurde sie von dem Baseler Professor Remigius Faesch (1595-1667) erworben und gelangte 1823 mit dessen Museum an den heutigen Aufbewahrungsort. Die Hs. tradiert von f. 1v-23v Isidor von Sevilla, De natura rerum; f. 24r-29v Isidor von Sevilla, Differentiae; f. 29v-32r Hieronymus, Epistola LX ad Heliodorum epitaphium Nepotiani (Exzerpte); f. 31v Segen; f. 32r-32v De quinque synodis universalibus; auf den ursprünglich frei gebliebenen f. 17-18 verschiedene Nachträge: f. 17ra-17rb Basler Rezepte’; f. 17v-18v ältestes Bücherverzeichnis des Klosters Fulda (Palimpsest; mit einem ahd. Wort auf dem oberen Rand von f. 18r; dazu BStK-Nr. 29); f. 18r lat. Blutsegen. ‘Basler Rezepte’: ags. Minuskel des 8./9. Jh.s von verschiedenen insularen Händen; erstes (lat.) und zweites (ahd., erweiterte Fassung) Rezept zweispaltig hintereinander, drittes (ahd./ae.) Rezept langzeilig darunter, aber wohl vor dem zweiten Rezept eingetragen; Entstehung der Rezepte noch vor 800 in Fulda; Schreibsprache des zweiten Rezepts (= erstes ahd. Rezept) ofrk. mit bair. Einschlag, des dritten Rezepts ags.-bair. Mischung; vgl. PadRep. Ausgaben: H. Hoffmann (von Fallersleben), Vindemia Basiliensis, Basel 1834 (Erstveröffentlichung.); MSD Nr. LXII, I, S. 222f., II, S. 356f.; K. Sudhoff, Die gedruckten mittelalterlichen medizinischen Texte in germanischen Sprachen. Eine literarische Studie, Archiv für Geschichte der Medizin 3 (1910) S. 273-303, Nr. 1, S. 274; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. VII, S. 39-42; G. Eis, Altdt. Hss., S. 26; H. Broszinski – S. Heyne, Fuldische Handschriften aus Hessen. Mit weiteren Leihgaben aus Basel, Oslo, dem Vatikan und Wolfenbüttel. Katalog zur Ausstellung anläßlich des Jubiläums ‘1250 Jahre Fulda’. Hessische Landesbibliothek Fulda, 19. April bis 31. Mai 1994, Veröffentlichungen der Hessischen Landesbibliothek Fulda 6, Fulda 1994, S. 59, Nr. 19. – Abbildungen: M. Enneccerus, Die ältesten dt. Sprachdenkm., Tafel 17; G. Eis, Altdt. Hss., S. 27, Tafel 6.

3. Inhalt: Das erste Rezept (lat.) enthält ein Fiebermittel oder ein Mittel gegen Epilepsie (letzteres nach E. v. Steinmeyer, S. 41), das daran anschließende zweite Rezept (ahd.) eine auf mehr als den doppelten Umfang erweiterte, im einzelnen abweichende Nachbildung des gleichen Rezepts. Der kürzere dritte Text (ahd.) überliefert unter der Überschrift uuidhar cancur (E. v. Steinmeyer, S. 39, 22) ein Rezept gegen Hautgeschwüre (Räude, ev. Aussatz), die mit einem Gemisch aus gebranntem Salz, Seife und Austernschalen (aostorscala: E. v. Steinmeyer, S. 39, 22) gerieben werden sollen unz dĊz iz blode (E. v. Steinmeyer, S. 39, 24). Aus Parallelen bei Albertus Magnus (De animalibus) und einer arabischen Quelle des 14. Jh.s hat G. Eis (in: Studien z. altdt. Fachprosa, S. 23ff.) die Anwendung bei Pferden gefolgert. Da es „in der arabischen Rezeptparallele des Abu Bekr ibn Bedr aber auch für Menschen empfohlen wird, sind vermutlich … auch humanmedizinische Anwendungen möglich“ (J. Riecke, S. 116f.). Das zweite Rezept bietet bei der Aufzählung der Vorschriften zur Einnahme des Mittels Anklänge an rituell magische Gebräuche (U. Schwab, S. 350). – Die ags.-bair. Sprachmischung des dritten Rezepts wurde entweder mit einer ags.

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‘Basler Rezepte’

Vorlage (W. Wackernagel, S. 8f.; G. Ehrismann, I, S. 362f.) oder als missglückter Versuch eines ags. Schreibers erklärt, einen ahd. Text aufzuzeichnen (R. Kögel, I.2, S. 497-499; E. v. Steinmeyer, S. 41f.; R.-M. S. Heffner,). G. Baesecke (S. 114-118) glaubte die Annahme einer ags. Quelle durch Parallelen aus Rezepten des ins 9. Jh. zurückreichenden Laeceboks (Edition bei G. Leonhardi, Bibliothek der angelsächsischen Prosa 6, Hamburg 1905, S. 1-109) erhärten zu können, doch hat G. Eis (in: Studien z. altdt. Fachprosa) dies mit dem Hinweis entkräftet, dass dort gerade die für den Fuldaer Text charakteristischen Stellen fehlen (Austernschalen, Reibevorschrift). – Mit Berufung auf die antike Austernschalentherapie (Gaius Plinius Secundus, Historia naturalis, XXXII, 21, S. 64f.) spricht G. Eis sich für eine lat. Vorlage aus, die in Bayern übertragen und dann von einem ags. Mönch mit Interesse „an der medizinischen Literatur Deutschlands“ kopiert worden sei (S. 26f.). Doch könnte eine lat. Quelle auch über die insulare Tradition vermittelt worden sein. Das lehrt die Provenienz des lat. Blutsegens f. 18r (dazu A. A. Barb, Die Blutsegen von Fulda und London, in: Fachliteratur des Mittelalters. FS Gerhard Eis, S. 485-493). Einige über E. v. Steinmeyer hinausführende Textbesserungen hat – in erneutem Rekurs auf das Laecebok, aber ohne Ansatz einer ags. Vorlage – R.-M. S. Heffner gewinnen können. 4. Literatur: G. Baesecke, Der Voc. Sti. Galli, S. 114-118; B. Bischoff, Katalog, I, S. 61; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134 (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 73-111, hier S. 87), hier S. 112; BStK-Nr. 29; W. Crossgrove, Die dt. Sachlit., S. 32; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 362f.; G. Eis, Austernschalen, in: G. Eis, Studien z. altdt. Fachprosa, S. 11-29; R.-M. S. Heffner, The third Basel recipe (Ba. III), JEGPh 46 (1947) S. 248-253; Th. von Grienberger, Althochdeutsche Texterklärungen, II, 9 Basler Rezepte, PBB 45 (1921) S. 212216, 404-413; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 349, 379; W. Haubrichs, Die Angelsachsen und die germanischen Stämme des Kontinents im frühen Mittelalter. Sprachliche und literarische Beziehungen, in: Irland und die Christenheit. Bibelstudium und Mission, Kolloquium Dublin 27.-31.8.1984, hg. v. M. Richter, Stuttgart 1987, S. 387-412, hier S. 400f.; R. Kögel, Gesch. d. dt. Litt., I, 2, S. 497-499; E. Meineke – J. Schwerdt, Einführung, S. 122; H. Mettke, Älteste dt. Dichtung, S. 256-259 (mit Abbildung der Seite); R. Nedoma, enti danne geoze zisamane: Die althochdeutsche Fassung des Ersten Basler Rezepts (BR Ib), Die Sprache 39 (1997) S. 168-200 (mit ausführlicher graphematisch-phonologischer Untersuchung); J. Riecke, Die Frühgeschichte, S. 37f., 116f. (mit Textwiedergabe); U. Schwab, Glossen zu einem neuen mediaevistischen Handbuch, StM 35 (1994) S. 321-365, hier S. 326, 349f.; E. Seebold, Chronolog. Wb. [I], S. 23f., 39; H.-H. Steinhoff, in: 2VL I, Sp. 628f.; W. Wackernagel, Die altdeutschen Handschriften der Basler Universitätsbibliothek, Basel 1836, S. 8f.; vgl. PadRep. STEFANIE STRICKER

Beda-Glossierung

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Beda Venerabilis, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Beda Venerabilis (673/674-735), angelsächsischer Mönch und bedeutender kirchlicher Schriftsteller im Kloster Jarrow. Bedas Werk reicht von Handbüchern für den Unterricht (De orthographia = Glossar zur Bedeutung und zum Gebrauch der Wörter, De metrica ratione = Sammlung und Erklärung von Versformen, De schematibus et tropis = Erklärung der rhetorischen Figuren in der Bibel) über Chronologie (De temporibus [kurze Schrift] und De temporum ratione [Handbuch]), Kosmologie (De natura rerum) bis zu Geschichtsschreibung (Viten, Martyrologium, Historia ecclesiastica gentis Anglorum) und Bibelexegese (Kommentare und Homilien zu Büchern des Alten und Neuen Testaments); zur mittelalterlichen BedaRezeption insgesamt vgl. V. Honemann, in: 2VL I, Sp. 660-663. Literatur: H. Bacht – W. Becker – M. Folkerts – H. Schmid – D. K. Fry, in: LexMA I, Sp. 1774-1779; B. Thum, in: LThK II, Sp. 93f. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Berlin, SBPK Ms. Phillipps. 1832 (BStKNr. 43): 2 Wörter in einem lat. Marginaleintrag zu De temporibus; sprachlich unbestimmbar, im 1. Viertel des 9. Jh.s in Verona eingetragen. – Ed. W. Stach, PBB 73 (1951) S. 348. – 2. St. Gallen, StB 251 (BStK-Nr. 210): 1 interlineare Textglosse zu De temporum ratione; sprachlich unbestimmt, wohl in St. Gallen in die Hs. des 9. Jh.s eingetragen. – Ed. StSG II, S. 47 (Nr. DLV). – 3. St. Gallen, StB 260 (BStK-Nr. 211): 1 Interlinear- und 1 Marginalgl. in Textglossierung zum Kommentar zur Apostelgeschichte; sprachlich unbestimmt, wohl im 11. Jh. in St. Gallen eingetragen. – Ed. StSG II, S. 44 (Nr. DXLVI). – 4. St. Gallen, StB 299 (BStKNr. 225): 3 Gll. in Textglossar zu De temporum ratione, 2 Gll. in Textglossar zu Chronicon; alem., 2. Hälfte 9. Jh., St. Gallen. – Ed. StSG II, S. 45 (Nr. DXLIX), S. 46 (Nr. DLIII). – 5. Augsburg, UB (früher Fürstl. Oettingen-Wallerstein’sche Bibliothek Schloss Harburg) Ms. I, 2, 4º 14 (BStK-Nr. 276): 37 Interlineargll. und 1 Marginalgl. in Textglossierung zu De Temporum ratione; obd., 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 47f. (Nr. DLVI); C. Cigni, AION Ns. 6 (1996) S. 36-53. – 6. Karlsruhe, BLB Aug. LXIV (BStK-Nr. 293): 1 Interlineargl. in Textglossierung zum Kommentar zum Lukas-Evangelium; sprachlich unbestimmt, 9. oder 10. Jh. – Ed. StSG IV, S. 312 (Nr. DLIb Nachtr.). – 7. Karlsruhe, BLB Aug. CIC (BStK-Nr. 310): 1 Marginalgl. in Textglossierung zum Kommentar zum Matthäus-Evangelium; sprachlich unbestimmt, 10. Jh. – Ed. StSG II, S. 46 (Nr. DLII). – 8. Karlsruhe, BLB Aug. CCXXXVII (BStK-Nr. 315): 2 Interlinear- und 7 Kontextgll. in Textglossar, das aus Bedas Kommentar zum Lukas-Evangelium geschöpft ist; die deutsch glossierten Lemmata stammen alle aus dem Ev., nicht aus Beda (StSG V, S. 55, Z. 34f.); alem. 9./10. oder 1. Hälfte 10. Jh. – Ed. StSG V, S. 19 (Nr. CCCLXXXb). – 9. Kassel, UB, LB und MB 2º Ms. astron. 2 (BStK-Nr. 325): 26 Interlinear- und 2 Marginalgll. in Textglossierung zu De temporum ratione; ofrk., 11. Jh., Fulda. – Ed. StSG II, S. 47 (Nr. DLIV). – 10. Köln, EDDB Dom Hs. 19 (BStK-Nr. 346): 17 Gll. in einem 166 Artikel umfassenden Textglossar zu Historia ecclesiastica gentis Anglorum; mfrk., 2. Hälfte 9. Jh. Köln. – Ed. StSG II, S. 45f. (Nr. DLI). – 11. Leiden, UB B. P. L. 191 E (BStK-Nr. 362): 3 Interlineargll. in Textglossar zu De Orthographia; nd.?, 2. Hälfte 12. Jh. – Ed. StSG IV, S. 314 (Nr. DLIIb). – 12. London, BL Add. 23931 (BStK-Nr. 400): 61 Inter-

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Beda-Glossierung

linear- und 33 Marginalgll. zum Kommentar zum Matthäus-Evangelium, zahlreiche Glossen in bfk-Geheimschrift; alem.-rhfrk., 10. Jh., Speyer. – Ed. StSG IV, S. 313f. (Nr. DLIIa Nachtr.; Berichtigungen und Nachträge bei H. Thoma, PBB 73 (1951) S. 227f. – 13. München, BSB Clm 6404 (BStK-Nr. 537): 10 Interlineargll. in Textglossierung zu De arte metrica; bair., undatiert, Hs. 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 44f. (Nr. DXLVII). – 14. München, BSB Clm 12625 (BStK-Nr. 555): 51 Interlineargll. in Textkommentar zum Buch Sprüche, die Lemmata überwiegend aus dem Bibeltext; obd., Zeit unbekannt, Hs. 11. Jh. – Ed. StSG I, S. 528-531 (Nr. CCXXIX); V, S. 94, Z. 22; Nachtrag bei St. Stricker, Sprachwissenschaft 18 (1993) S. 97. – 15. München, BSB Clm 14420 [f. 1-20] (BStK-Nr. 583(I): 1 Marginalgl.- und 16 Interlineargll. in Textglossierung zu De schematibus et tropis; sprachlich unbestimmt, undatiert, Hs. 9. Jh.– Ed. StSG II, S. 48f. (Nr. DLVIII). – 16. München, BSB Clm 14478 (BStK-Nr. 592): 5 Interlinear- und 10 Marginalgll. in Textglossierung zum Kommentar zur Apostelgeschichte; sprachlich unbestimmt, Zeit unbekannt, Hs. 1. Drittel 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 44 (Nr. DXLV). – 17. München, BSB Clm 18119 (BStK-Nr. 636): 6 Interlineargll. in Textglossierung zum Kommentar zu den Katholischen Briefen; bair., gegen Ende des 1. Viertels des 11. Jh.s, Tegernsee. – Ed. StSG V, S. 23 (Nr. DXLIXb). – 18. München, BSB Clm 18665 (BStK-Nr. 655): 1 Interlineargl. in Textglossierung zum Kommentar zur Apokalypse; sprachlich unbestimmt, 10./11. Jh., Tegernsee. – Ed. St. Stricker, Sprachwissenschaft 18 (1993) S. 102. – 19. Paris, BNF lat. 7539 (BStK-Nr. 745): 1 Kontextgl. in Textglossierung zu Exzerpten aus De orthographia; sprachlich unbestimmt, ausgehendes 8. Jh. – Ed. P. Lehmann, PBB 52 (1928) S. 169. – 20. Paris, BNF lat. 16668 (BStK-Nr. 768): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu De arte metrica; sprachlich unbestimmt, undatiert, Hs. Ende 8./Anfang 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 45 (Nr. DXLVIII). – 21. Schaffhausen, StadtB Ministerialbibliothek Cod 61 (BStK-Nr. 848): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu De temporum ratione; sprachlich unbestimmt, wohl 10. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 132. – 22. Schlettstadt, BH Ms. 7 (früher 100) (BStK-Nr. 849): 3 Gll. in Textglossar zu De temporum ratione, 2 Gll. in Textglossar zu Chronicon; alem. 1. Viertel 12. Jh. – Ed. StSG II, S. 45 (Nr. DXLIX), S. 46 (Nr. DLIII). – 23. Stuttgart, WLB Cod. theol. et phil. 2º 218 (BStK-Nr. 863): 2 Gll. in Textglossar zu De tabernaculo; alem., 12. Jh. – Ed. StSG II, S. 49 (Nr. DLIX). – 24. Wien, ÖNB Cod. 2723 (BStK-Nr. 949): 1 Glosse zu Exzerpt aus De temporum ratione; sprachlich unbestimmbar, 11. Jh., Mondsee. – Ed. StSG II, S. 48 (Nr. DLVII). – 25. Zürich, ZB Ms. C 42 (BStK-Nr. 1000): 4 Interlineargll. in Textglossierung zu Homilien; sprachlich unbestimmt, undatiert, Hs. 9. Jh. – Ed. StSG V, S. 24 (Nr. DLIa). – Die Handschrift Rom, BAV Pal. Lat. 220 (BStK-Nr. 836b) wird hier nicht weiter berücksichtigt, da sie nach der neuesten ausführlichen Beschreibung keinen Beda-Text enthält: Bibliotheca Laureshamensis digital. www.ub.uni-heidelberg.de/digi-pdf-katalogisate/sammlung51/ bav_pal_lat_220.pdf

3. Glossographische Aspekte: Die ahd. Glossierung verteilt sich auf viele Werke Bedas, sodass zunächst eine Übersicht nach Werken gegeben wird: Kommentare zur Bibel: München, Clm 12625: 51 Interlineargll. in Textkommentar zum Buch Sprüche, die Lemmata überwiegend aus dem Bibeltext. – Karlsruhe, Aug. CIC: 1 Marginalgl. in Textglossierung zum Kommentar zum Matthäus-Evangelium. – London, Add. 23931: 61 Interlinear- und 33 Marginalgll. zum Kommentar zum Matthäus-Evangelium, zahlreiche Glossen in bfk-Geheimschrift. – Karlsruhe, Aug. LXIV: 1 Interline-

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argl. in Textglossierung zum Kommentar zum Lukas-Evangelium. – Karlsruhe, Aug. CCXXXVII: 2 Interlinear- und 7 Kontextgll. in Textglossar, das aus Bedas Kommentar zum Lukas-Evangelium geschöpft ist. – St. Gallen 260: je 1 Interlinear- und Marginalgl. in Textglossierung zum Kommentar zur Apostelgeschichte. – München, Clm 14478: 5 Interlinear- und 10 Marginalgll. in Textglossierung zum Kommentar zur Apostelgeschichte. – München, Clm 18119: 6 Interlineargll. in Textglossierung zum Kommentar zu den Katholischen Briefen. – München, Clm 18665: 1 Interlineargl. in Textglossierung zum Kommentar zur Apokalypse. Insgesamt 179 Gll. in 9 Hss. – Homilien: Zürich, Ms. C 42: 4 Interlinearglossen in Textglossierung. – Historia ecclesiastica gentis Anglorum: Köln, Dom Hs. 19 : 17 Gll. in einem 166 Artikel umfassenden Textglossar. – De arte metrica: München, Clm 6404: 10 Interlineargll. inTextglossierung. – Paris, lat. 16668: 1 Interlineargl. in Textglossierung. Insgesamt 11 Gll. in 2 Hss. – De Orthographia: Leiden, B. P. L. 191 E: 3 Interlineargll. in Textglossar. – Paris, lat. 7539: 1 Kontextgl. in Textglossierung zu Exzerpten. Insgesamt 4 Gll. in 2 Hss. – De schematibus et tropis: München, Clm 14420 [f. 1-20]: 1 Marginalgl. und 16 Interlineargll. in Textglossierung. – De tabernaculo: Stuttgart, Cod. theol. et phil. 2º 218: 2 Gll. in Textglossar. – De temporibus: Berlin, Ms. Phillipps. 1832: 2 Wörter in einem lat. Marginaleintrag. – De temporum ratione: St. Gallen 251: 1 interlineare Textglosse. – St. Gallen 299: 3 Gll. in Textglossar. – Augsburg, Ms. I, 2, 4º 14: 37 Interlineargll.- und 1 Marginalgl. in Textglossierung. – Kassel, 2º Ms. astron. 2: 26 Interlinear- und 2 Marginalgll. in Textglossierung. – Schaffhausen, Cod 61: 1 Interlineargl. in Textglossierung. – Schlettstadt, Ms. 7 (früher 100): 3 Gll. in Textglossar. – Wien, Cod. 2723: 1 Gl. zu Exzerpt aus De temporum ratione. Insgesamt 75 Gll. in 7 Hss. – Chronicon: St. Gallen 299: 2 Gll. in Textglossar. – Schlettstadt, Ms. 7 (früher 100) (BStK-Nr. 849): 2 Gll. in Textglossar. Insgesamt 4 Gll. in 2 Hss. 4. Umfang und Bedeutung: Die volkssprachige Beda-Glossierung nimmt mit 323 Gll. zu 16 verschiedenen Werken in 25 Hss. gemessen am Umfang der BedaÜberlieferung und an der Bedeutung des Autors für das Mittelalter einen bescheidenen Rang ein (0,5% der Glossierung nichtbiblischer Texte). Wegen der Disparatheit der Überlieferung und ihrer fehlenden Erforschung lässt sich auch keine strukturierte Übersicht erstellen. Gewisse Schwerpunkte bilden die Glossen zu De temporum ratione sowie die etwas umfangreicheren Einzelfälle London, Add. 23931 mit 61 Interlinear- und 33 Marginalgll. zum Kommentar zum Matthäus-Evangelium und München, Clm 12625 mit 51 Interlineargll. in Textkommentar zum Buch Sprüche, wobei die Lemmata überwiegend aus dem Bibeltext stammen. Parallelglossierungen sind in der Edition von StSG nur für die auch sonst verwandten Hss. St. Gallen 299 und Schlettstadt, Ms. 7 (früher 100) mit 2 Gll. im Textglossar zum Chronicon und

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Beichten, Althochdeutsche und altsächsische

3 Glossen im Textglossar zu De temporum ratione erkennbar. Eingehende Untersuchungen liegen auch zu den größeren Beda-Glossierungen nicht vor. 5. Literatur: BStK- Nr. 43, 210, 211, 225, 276, 293, 310, 315, 325, 346, 362, 400, 537, 555, 583 (I), 592, 636, 655, 745, 768, 848, 849, 863, 949, 1000, R. Bergmann, in: BStH I, S. 99105. ROLF BERGMANN

‘Beichte, Zeitzer’ Ú ‘Zeitzer Beichte’ Beichten, Althochdeutsche und altsächsische 1. Gegenstand des Artikels: Im Folgenden werden die ältesten deutschen Beichtformulare (E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XLI-LI) zusammenfassend behandelt, das sind: die ‘Altbairische Beichte’ (AB), das ‘Altbairische [St. Emmeramer] Gebet’ (AG), die ‘Jüngere Bairische Beichte’ (JBB), die ‘Würzburger Beichte’ (WB), die ‘Essener altsächsische Beichte’ (EB), die ‘Lorscher Beichte’ (LB), die ‘Vorauer Beichte’ [= ‘Bruchstück einer Beichte’] (VB), die ‘Fuldaer Beichte’ (FB), die ‘Mainzer Beichte’ (MB), die ‘Pfälzer Beichte’ (PB) und die ‘Reichenauer Beichte’ (RB). Nicht berücksichtigt sind hier die jüngeren, frmhd. Beichten (E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LII-LXI). Diese sind überliefert im Verbund mit einem voranstehenden Glaubensbekenntnis, manchmal auch einer kurzen Abschwörungsformel sowie meist in Predigthandschriften und im typischen Fall integriert in einen ordo sermonarius. Von den älteren Beichten überliefert – ohne erkennbaren Zusammenhang mit Predigten – nur die VB vorab das Fragment eines Glaubensbekenntnisses und die Ú ‘Zeitzer Beichte’ ganz knapp und ebenfalls vorab eine Abschwörungsformel sowie ein kurzes Glaubensbekenntnis. Fragmentarisch überliefert sind ohne den Anfang VB, ohne das Ende JBB, WB, VB, PB und RB. VB ist auch im Textinneren fragmentarisch. Deshalb ist auch in der folgenden, zusammenfassende Darstellung mit Leerstellen zu rechnen. 2. Lateinische Grundlage: Die Beichten gestalten sämtlich als Ichrede eines Pönitenten formelhafte Vorlagen, die letztlich alle nach lat. Mustern gestaltet sind. Eine unmittelbare Vorlage ist in keinem Fall ermittelt worden. Nur selten bieten die Editionen lat. Vergleichstexte, die den jeweiligen Beichten mehr oder weniger nahe stehen (zu WB MSD II, S. 393-394; zu EB E. Wadstein, zu EB und LB E. v. Steinmeyer, S. 322-323; vgl. auch F. Hautkappe zu WB, EB, LB, FB, MB, PB, RB). Die einzelnen Stücke sind sicherlich alle filiatorisch untereinander und über lat. Vorlagen verwandt. Doch Versuche, dies im Einzelnen zu klären mit dem ambitionierten Ziel der Rekonstruktion einer deutschen, durch Karl d. Gr. veranlassten und für das ge-

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samte Reich verordneten „Urbeichte“ (G. Baesecke, H. Eggers), überfordern die Möglichkeiten philologischer Methodik und gelten heute als gescheitert. Jedes Stück kann grundsätzlich als eine Neukomposition verstanden werden, dies freilich immer im Rahmen des Gebrauchstyps und seiner Tradition. 3. Datierung: Für die Datierung der Textentstehung stehen als termini post quos die paläographischen Zeitansätze vom späten 8. (AB) bis in die erste Hälfte des 11. Jh.s (FB) zur Verfügung, darüber hinaus vor allem und fast nur sprachhistorische Erwägungen in diesem zeitlichen Rahmen. Die später überlieferten Stücke MB, FB, RB und EB lassen Spielraum für eine entstehungsgeschichtliche Datierung, die u. U. wesentlich vor die Zeit ihrer erhaltenen Aufzeichnung zurückführt. 4. Liturgischer Zusammenhang: Sämtliche Beichten außer AB und AG sind ursprünglich im liturgischen Zusammenhang des Bußverfahrens als Teil eines elaborierten ordo ad dandam poenitentiam zu denken, der wiederum seinen funktionalen und überlieferungsgeschichtlichen Ort im Rahmen lateinischer Pontifikalien und Sakramentare hat. Hierzu ausführlich S. Hamilton. Tatsächlich in den Kontext lat. Sakramentare und dort in die ordines ad dandam poenitentiam integriert sind EB, LB und FB. Zu diesen Stücken ausführlich W. Foerste (EB), C. Staiti (LB) sowie V. Honemann und S. Hamilton (FB); in vergleichbarem liturgischem Zusammenhang sind auch MB und RB überliefert. Darüber hinaus gibt es manchmal zumindest kurze lat. bzw. dt. Vor- oder Nachsprüche, welche die Texte mehr oder weniger unmittelbar in ihren liturgischen Handlungszusammenhang setzen. In FB ist es ein kurzes dt. Abschlussgebet. In WB sind es Übersetzungsfetzen lat. Texte, die sich zum Teil als abschließende Indulgenzformeln verstehen lassen. Mit der Überlieferung im liturgischen Kontext von ordines ad dandam poenitentiam heben sich die Beichten ab von der Überlieferung der präskriptiven, nicht als Ichrede formulierten Bußbücher (Pönitentialien), in denen für eine große Zahl von Vergehen Bußmaße tarifmäßig vorgeschrieben sind. Die dt. Beichten, in denen die Vergehen nur aufgezählt und in Ichrede formuliert, aber nicht gewertet sind, erscheinen nie im unmittelbaren Kontext mit Bußbüchern. Gelegentlich aber gibt es Trägerhandschriften von Beichten, die im weiteren Textensemble auch Bußbücher enthalten (WB, LB). 5. Textaufbau: Die Beichten zeigen einen dreiteiligen Aufbau, wie es der Dramaturgie der Beichthandlung entspricht: (1) Einleitung: Der Pönitent erklärt seine Beichtabsicht, (2) er spricht ein detailliertes Bekenntnis konkreter Einzelsünden, (3) er bestätigt abschließend unter Rückgriff auf den Einleitungsteil nochmals im Allgemeinen seine Sündhaftigkeit, bittet Gott um Vergebung und den Beichtpriester um Fürbitte für sich. Eine Indulgenzformel kann sich in dritter Person als Anweisung für den

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Beichtpriester anschließen (WB, EB, LB, FB). Nur AB und AG enthalten weder im Einleitungs- noch im Schlussteil Bezugnahmen auf den Beichtpriester. Sie stehen im Kontext lat. Gebetssammlungen und sind auch von daher als unliturgische, private Beichtgebete zu verstehen. Dafür sprechen schließlich noch die sehr knappe Ausführung ihres Mittelteils und der Umstand, dass nur sie mit einem ausführlichen Gebet um Vergebung, Gnade, Erlösung und Schutz vor allem Bösen schließen. 5.1. Teil 1 und Teil 3: Anrufung/Nennung der Beichtadressaten: truhtin (im Anfangsteil AB, AG, JBB, WB; wohl als Anrede Gottvaters zu verstehen); allmächtiger Gott (JBB; im Schluss- und Anfangsteil WB, nur im Schlussteil FB, MB); Gott, allmächtiger Vater (im Anfangsteil EB, LB, FB, MB, PB, RB); Maria als vornehmste Fürbitterin (im Anfangsteil JBB, RB); alle Heiligen (im Anfangsteil JBB, WB, EB, FB, MB, PB, RB; [WB, EB, FB; MB auch im Schlussteil]); Michael (im Anfangsteil RB), der als Besieger der abtrünnigen Engel Garant für den Schutz vor allem Bösen ist; Petrus (im Anfangsteil RB), der die Verfügungsmacht zum Lösen und Binden von allen Sünden hat; alle Engel (im Anfangsteil JBB, MB, RB) und der Beichtpriester (sowohl im Schluss- als auch im Anfangsteil alle außer AB und AG [s. o.]). Auch die Reliquie, auf deren Gegenwart die Beichte abgelegt wird, kann hier genannt werden (im Anfangsteil EB, LB). Schematische Umschreibungen für die Vollständigkeit der Beichte: für alles, was ich genannt und nicht genannt habe (EB im Schlussteil); Bekenntnisse für Sünden in Worten, Werken und Gedanken (alle Beichten im Anfangsteil; FB; MB auch im Schlussteil; die Formel geht letztlich auf das liturgische Confiteor zurück: – peccavi nimis cogitatione, verbo, opere); Bekenntnisse für Sünden, die ich wissentlich und nicht wissentlich begangen habe (im Schlussteil EB, LB, RB); glaubend oder nicht glaubend (EB im Schlussteil); willentlich oder nicht willentlich (im Anfangsteil WB); schlafend oder wachend (im Anfangsteil AB, AG, JBB, PB; im Schlussteil EB, FB, MB; FB im Anfangsteil auch gehend, stehend, sitzend, liegend) – reitend ergänzt PB und verschiebt dieses Bekenntnis auf den Hauptteil; bei Tag und bei Nacht (EB und LB im Schlussteil). Auf Ort und Zeit bezogen: zu welcher Zeit und an welchem Ort auch immer (im Anfangsteil JBB; im Schlussteil EB); seit ich zu sündigen begann (im Anfangsteil EB); seit meiner Taufe (im Anfangsteil JBB); für Sünden, derer ich mich erinnere und nicht erinnere (im Anfangsteil AB, AG, JBB; im Schlussteil FB, MB). Auf die Bedingungen bezogen, unter welchen die Sünden begangen wurden: gleichgültig ob unter Umständen, welche mich von Schuld entlasten könnten (im Schlussteil RB [betrunken], im Hauptteil FB [als Kind oder betrunken]), gleichgültig aus welchem Grunde auch immer (im Anfangsteil VB). Auf Sünden anderer bezogen: Sünden, die ich sah, oder von denen ich hörte und die ich zuließ (im Anfangsteil MB, PB), auch für solche, zu denen ich andere verführte (im Anfangsteil PB; im Schluss-

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teil MB), für Sünden gegen mein Christsein (Taufe), für Sünden gegen das Glaubensbekenntnis (im Anfangsteil LB; im Hauptteil EB); schließlich begegnet noch die Formel: ich bekenne dies alles und vieles Weitere, hier und im Folgenden (aus Vergesslichkeit) nicht Erwähnte (im Anfangsteil FB, RB, LB, MB). 5.2. Hauptteil: Register konkreter Einzelsünden. Die Auflistung erfolgt nach keiner durchgängigen Sachordnung, wohl aber auch wie im Anfangs- und Schlussteil vielfach nach bestimmten Memorierschemata: unterlassene Werke der Barmherzigkeit nach Mt. 26, 34-36 (Rede vom Weltgericht); sündigen durch Körperhaltungen und bewegungen, Körperglieder und Sinnesorgane. Nicht als festes Schema ist die von Gregor d. Gr. entwickelte Reihe der Hauptlaster greifbar, die Hauptlaster begegnen aber mit unterschiedlicher Vollständigkeit in den einzelnen Beichten an verstreuten Stellen: superbia (hohmuoti JBB, ovarmodi EB, ubermuodi EB); avaritia/invidia meist gemeinsam (nid/abunst JBB, LB, FB, abunst WB, nith endi auunst EB); ira (abulgi JBB, WB, LB, RB, abolganhed EB); gula (WB, EB, LB, PB, RB) und vielleicht auch acedia, wenn uueichmuot (JBB) so verstanden werden darf; zu luxuria vgl. die unten unter ‘Sexualität’ zusammengefassten Einzelsünden. – Ähnlich verhält es sich mit der öfters möglichen Einwirkung des Lasterkatalogs Gal. 5,19-21; bei Paulus ist auch 2. Tim. 4,4 einschlägig, wo es um unrechtes Hören geht (fabulae/spel); hierher gehören auch die Erwähnung von Verstößen gegen einzelne Gebote des Dekalogs (Exod. 20:1-17) und bestimmte Stellen des Evangeliums: wie erwähnt Mt. 26, 34-36 und auch Mt. 5,4, die zweite Seligpreisung der Bergpredigt sowie Mt. 6, 12 (vierte Vaterunserbitte). Einen eigenen Komplex bilden Stellen, an denen spezielle Vorschriften der Benediktsregel (Reg. Ben.) deutlich durchscheinen. Die Sündenregister benennen manchmal Vergehen, die einen Laien, bzw. einen Kleriker als Pönitenten ausschließen. Doch keine der Beichten ist im Ganzen konsequent als Kleriker- bzw. Laienbeichte gefasst. EB stammt aus dem Essener Frauenstift, ist jedoch nicht spezifisch als Beichte für Frauen formuliert. Andere Stücke der Trägerhandschrift sind allerdings für Frauen umformuliert. Im Folgenden seien die Vergehen des Sündenregisters, so gut es gehen mag, nach Sachgruppen und innerhalb der Gruppen nach Häufigkeit der Belege aufgezählt. Nach Möglichkeit wird dabei auf die – meist biblischen – Erstquellen verwiesen: auf den Dekalog (Exod. 20:1-17), auf Stellen der Bergpredigt, besonders Mt. 6,12 und 15, auf Gal. 5,19-21 und 2. Tim. 4,4, auch auf die Hauptlasterreihe und auf die Benediktsregel (Reg. Ben.). Sünden in Bezug auf die Religion: Fluchen (WB, EB, FB, MB, PB, RB; vgl. 2. Gebot); Zauber (JBB, WB; vgl. Gal. 5,20); Götzendienst, Heidentum (heidangelt WB, hethinussia endi unhrenia sespilo EB; vgl. 1. Gebot und Gal. 5,20).

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Sünden gegen geistliche Einrichtungen: Sonn- und Feiertage, die Messe nicht ehren (EB, LB, VB, FB, MB, PB, RB; vgl. 3. Gebot); Fasten nicht halten (WB, LB, FB, MB, PB; vgl. Reg. Ben. 4,13; 41,2 und 6-7; 49; vgl. gula); Leib und Blut des Herrn nicht ehren (EB, LB, FB, MB, PB, RB); Geistliche nicht ehren (EB, VB); gegen die Beichte, d. h. wohl bei Nichterfüllung vorangegangener Beichtversprechen (EB, LB); beim Gottesdienst Unrechtes denken, andere stören (LB, RB), gegen das Glaubensbekenntnis (EB, LB), vgl. Unglaube (JBB); gegen die Taufe (LB); heilige Lesung nicht ehren (VB); Gedankenabirrung im Gottesdienst (WB: mit unnuzun spellun ente mit italen so uuas ich bifangan; vgl. fabulae 2. Tim. 4,4); Gedankenlosigkeit im Gottesdienst und beim Gebet (WB); das Kreuz nicht ehren und (bei Prozessionen?) nicht tragen (LB). Rituelle Vergehen: unterlassene Fußwaschung (WB; vgl. Reg. Ben. 35,9; 53,13); heilige Speise und heiligen Trank verschütten (EB); Tierblut essen (WB; vgl. gula); unrechtes Singen, Lesen (EB; vgl. Reg. Ben. 45); vomieren (die Hostie) (WB, MB). Verstöße gegen Vorschriften der Benediktsregel: Schlafen/Wachen (AB, AG, WB, LB, FB, MB, PB; vgl. acedia und Reg. Ben. 4,37); Ungehorsam (JBB, WB, EB, LB, MB, PB; vgl. Reg. Ben. 5); Geben/Nehmen ohne Erlaubnis (des Abtes) (EB, FB, MB, PB; vgl. Reg. Ben. 54); viel Reden vs. Schweigen (WB, EB, LB, VB; vgl. Reg. Ben 4,52; 6,2-5; 6; 7,56-58); Tagzeiten (curs) nicht einhalten (MB, PB, LB; vgl. Reg. Ben. 16); albernes Reden (JBB, WB; vgl. Reg. Ben. 4,53; 6,8; Murren (JBB, WB; vgl. Reg. Ben. 4,39; 5,14-19; 34,6-7und öfter); Sachen der Obrigkeit verschwenden (EB, RB; vgl. Reg. Ben. 31,12;32,3-4). Rechtliches: Eid, Meineid (AB, AG, JBB, WB, EB, LB, FB, MB, PB [auf Reliquie EB, LB]); Lüge (AB, AG, JBB, WB, SG, FB, MB, PB);Verleumdung (JBB, WB, EB, LB, FB, MB, PB, RB; vgl. 8. Gebot); falsches Zeugnis (JBB, WB, EB; vgl. 8. Gebot); Schwören (EB, LB [auf Reliquie], RB; vgl. Mt.5,33-37); Untreue (JBB, LB); Unrechtes raten (FB); unrechtes Urteil (JBB); Eid brechen (LB). Konflikte; vgl. Gal. 5,19-20: Zwietracht stiften/schlichten (WB, EB, LB, MB, PB, RB); Streit/Zwietracht stiften (JBB, EB, VB, MB); Hass (JBB, WB, EB). Verbrechen und Vergehen: Diebstahl (JBB, WB, EB, LB, VB, FB, MB, PB, RB; vgl. 7. Gebot); Totschlag, Mord (JBB, WB, EB, LB, FB, MB, PB; vgl. 5. Gebot und Gal. 5,21); Raub (JBB, WB); Betrug (JBB); List (AB, AG); Gestohlenes essen (EB, LB, VB; vgl. 7. Gebot; vgl. gula). Sexualität (luxuria; vgl. 6. Gebot und Gal. 5,19): Hurerei (AB, JBB, WB, LB, MB, PB, RB); böse Lüste, böser Wille (EB, LB, VB, MB, PB); Selbstbefriedigung/unreht anafang (JBB, WB, EB, LB, VB); sexuelles Verlangen (WB [huorlustig, geili], EB [huoruuillo], LB [huoruuillo], VB [geili]); Ehebruch (JBB, WB); (sexuell) unreine/unrechte Gedanken (WB, LB; vgl. Reg. Ben, 7,44); Küssen (EB, LB); Umhalsen (EB); Sodomie (WB); Bestialität (WB). – Anmerkung: Inzest erscheint nicht in den Sündenregistern der Beichten. In den ordines ad dandam poenitentiam begegnet die Vorschrift, Personen, die in inzestuösen (Ehe)verbindungen lebten, nicht zur Beichte zuzulassen, s. den ordo bei EB; vgl. ferner S. Hamilton, S. 124, S. 199-201. Mangelnde Pflichterfüllung: Zehnten nicht zahlen (EB, LB, RB); Pflicht (reht) nicht erfüllen (EB); Schuldigkeit vernachlässigen (WB). Charakterliche Schwächen: Zorn (JBB, WB, EB, LB, RB; vgl. Gal. 5,20); Gier (AB, AG, JBB, WB, FB); Ungeduld (LB); Heuchelei (JBB); Ruhmsucht (JBB); Schadenfreude (WB);

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Zugeständnisse an den Leib (JBB); übermäßig und zur Unzeit Essen, Trinken (alle außer VB; vgl. Gal. 5,21; s. auch vomieren unter Verbrechen und Vergehen). Sünden durch Sprechen: Sprechen gegen Gottes Willen (WB); schändliches Reden (JBB); unkeusche Reden (WB; vgl. 6. Gebot; vgl. Sexualität); Sprechen gegen meinen (geistlichen?) Stand (heit) (WB). Verhalten gegenüber Mitmenschen: Nicht lieben/ehren: Verwandte, Nächste, Freunde (EB, LB, VB, MB, RB); Schüler (iungro) und Patenkinder (fillul) (EB, LB, VB, RB); Weib und Kind (LB, VB); meinen Herrn (EB, LB); meinen Lehrer (mestar EB); fremdes Gut begehren (10. Gebot) (WB); Schuld nicht vergeben (vgl. Mt. 6,15 und vierte Vaterunserbitte) (MB); Menschenverachtung (firmanod menniscono) (WB). Werke der Barmherzigkeit unterlassen: In deutlichen Ansätzen spielt das Schema der Unterlassungssünden aus dem Gleichnis vom Weltgericht eine Rolle (Mt. 26, 34-36; vgl. Reg. Ben. 4,14-19): Kranke nicht besuchen (JBB, WB, EB, LB, VB, RB); Hungrige nicht speisen (JBB, RB), Durstige nicht tränken (JBB, RB), Fremde nicht aufnehmen (WB; vgl. Reg. Ben. 35,9; 53,13), Nackte nicht kleiden (JBB), Gefangene nicht besuchen (WB). Nahe steht dem im Anschluss an die zweite Seligpreisung (Mt. 5,4) als Unterlassungssünde: Traurige nicht trösten (EB, LB, VB). – Vgl. ferner: Bedürftige nicht aufnehmen (FB, PB, RB); Almosen nicht geben (FB, MB, PB); Hartherzigkeit, Verachtung gegenüber Armen und Fremden (WB, EB); Arme und Fremde nicht ehren (EB). Verwerfliche Körperhaltungen und -bewegungen: Sitzen (WB, EB, LB, MB, PB); Stehen (EB, LB, VB, MB, PB); Gehen (EB, LB; Füße WB); Liegen (EB, LB). Verwerflicher Gebrauch der Körperglieder und Sinnesorgane: Augen/Sehen (WB, EB, LB, VB, FB, MB); Ohren/Hören (WB, EB, LB; vgl. 2. Tim. 4,4 [fabulae/spel]); sündhafte Handlungen sehen und zulassen (MB, PB); Hände (WB); Füße (WB).

6. Die Beichten und ihr „Sitz im Leben“: Die Tatsache, dass die Beichten als Teile von ordines ad dandam poeniteniam zu verstehen sind, ist für diese Frage von herausragender Bedeutung. Die Kenntnis der zu büßenden Vergehen, wie sie in der Beichte manifest zu machen sind, ist Voraussetzung für die einem Pönitenten zuzumessende Bußleistung und ist nach erbrachter Buße bzw. offenkundiger Reumütigkeit des Pönitenten Voraussetzung für die Erteilung der Absolution durch den Bischof oder Priester. Daraus entwickelt ist der Ablauf des Verfahrens nach bestimmten Terminen und nach Ritualen, wie sie die Sakramentare und ihre ordines liturgisch vorschreiben. Deren Analyse zeigt, dass die Bußverfahren zugleich mit Handlungen, die nur individuell denkbar sind, so besonders der Beichte, die Züge einer Prozedur aufweisen, die man in neuerer Zeit als öffentlich verstehen würde: kollektiver, geradezu dramaturgisch auf Öffentlichkeitswirkung angelegter Vollzug der Selbsterniedrigung der Pönitenten, ihrer Bußleistungen und ihrer Rekonziliation im Rahmen offizieller liturgischer Veranstaltungen am Aschermittwoch und Gründonnerstag. Die in der Forschung öfters an die ahd. Beichten herangetragene Vorstellung einer „Ohrenbeichte“ ist demnach jedenfalls anachronistisch. Dennoch bleiben Fragen offen. Denn da die Beichten erschöpfende Aufzählungen beinahe aller denkbaren Sünden enthalten, kann

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ihre alleinige, wörtliche Rezitation für den individuellen Einzelfall nicht verwendbar gewesen sein. Können die Beichten als Beichtspiegel und Musterbeichten gedient haben? In diesem Fall wären sie Handreichungen für die Gewissenserforschung des Beichtwilligen. Das wäre denkbar, dann aber sind sie in einem Bußordo eigentlich fehlplatziert. Oder sollten sie als gemeinsam zu sprechende Formeln für ein Allgemeinbekenntnis (die später sogenannte „offene Schuld“) der Gemeinde dienen? In diesem Fall könnten sie im Rahmen des Bußordo ergänzend gesprochen worden sein, vor oder nach einer Leerstelle für das jeweils individuelle Bekenntnis wirklich begangener Sünden und zur Absicherung für den Fall, dass der Pönitent vergessen hatte, eine begangene Sünde zu beichten. Auch diese Auffassung kann aber nicht recht befriedigen, bleibt es doch immerhin befremdlich, dass jemand in einem „Allgemeinbekenntnis“ konkrete Sünden als begangen beichtet, die er nicht begangen hat oder an die er sich nicht erinnert. 7. Zum sittengeschichtlichen Dokumentationswert der Beichten: Die Sündenregister der Beichten sind im frühen Mittelalter kaum aufgrund von Beobachtung irgendwelcher Wirklichkeiten zusammen gekommen. Sie sind vor allem aus Memorierschemata und literarischen Quellen geschöpft, wie sie oben bei der Analyse von Teil 2 angeführt wurden. Außer diesem Quellenhintergrund hat F. Hautkappe für viele Züge der Beichten überzeugend auf ihre zum Teil wörtliche Herleitbarkeit vor allem aus dem Korpus der Bußpredigten des Caesarius von Arles (um 470-542) hingewiesen. So wäre es verfehlt oder zumindest im Einzelnen sehr problematisch, die Beichten als Sittenspiegel ihrer Zeit zu verstehen und von ihnen aus im Einzelnen oder im Ganzen auf Verhältnisse der frühmittelalterlichen Wirklichkeit zu schließen. 8. Allgemeine Literatur: G. Baesecke, Die altdeutschen Beichten, PBB 49 (1925) S. 268355; G. Baesecke, Beichtformel, in: RL I, 1925/26, S. 125-127; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134; D. Briesemeister – I. W. Frank – L. Hödl – H. Sauer – U. Schulze, Beichtformeln, in: LexMa I, Sp. 1812-1818; U. Bruchhold, Deutschsprachige Beichten im 13. und 14. Jahrhundert. Editionen und Typologien zur Überlieferungs-, Text- und Gebrauchsgeschichte vor dem Hintergrund der älteren Tradition, Berlin/New York 2010; H. Eggers, Die altdeutschen Beichten, PBB 77 (1955) S. 89-123; 80 (1958) S. 372-403; 81 (1959) S. 78-122; H. Eggers, Beichtformel, in: 2RL I, Sp. 141-144; A. J. Franzen, The Literature of Penance in Anglo-Saxon England, New Brunswick (New Jersey) 1983; S. Hamilton, The Practice of Penance. 900-1050, Royal Historical Society studies in history. New Series,Woodbridge, Suffolk 2001; F. Hautkappe, Über die Altdeutschen Beichten und ihre Beziehungen zu Cäsarius von Arles, Forschungen und Funde IV,5, Münster 1917; E. Hellgardt, Zur Pragmatik und Überlieferungsgeschichte der altdeutschen Beichten (achtes bis zwölftes Jahrhundert), in: Volksspr.-lat. Mischtexte, S. 61-95; E. Hellgardt, Bußpraxis im Mittelalter – eine interdisziplinäre Untersuchung. (Rezension über: S. Hamilton, The Practice of Penance), IASLonline [27.04.2005] URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=24; PadRep; U. Schulze, Beichte, in: 3 RL I, S. 208-211; P. Sprockhoff, Althochdeutsche Katechetik, 1912.

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9. Überlieferung, Ausgaben, Literatur zu den einzelnen Texten (alphabetisch nach den Siglen): AB: Orléans, BM Cod. 184 (161); aus Fleury (Besitzeintrag 10./11. Jh.), aber aus Regensburg stammend. – Wohl in den letzten Jahren des 8. oder in den beiden ersten Jahrzehnten des 9. Jh.s (B. Bischoff, S. 125); E. Hellgardt, S. 88. – Edition: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XLI, S. 309; MSD I, Nr. LXXVIIIA, S. 247; II, S. 396f. – Lit.: A. Masser, in: 2VL I, Sp. 273f. mit der älteren Lit.; U. Bruchhold, S. 473-475, 509-511; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 243, 250; F. Hautkappe, S. 63-66, S. 108. AG: Hs. A: Teplá, Prämonstratenserstift (gegründet 1104), Hs. b 9 (früher ȥ vi, 132); aus Oberaltaich. Die Hs. lag zwischenzeitlich (bis 1997) in Prag, Státní Knihovna Ms. Teplá Cod. 1 b 9; Trägerhs. zwischen 828 und 876, Gebet wohl nicht nach der Mitte des 9. Jh.s (B. Bischoff, S. 123-124); E. Hellgardt, S. 88. – Hs. B: München, BSB Clm 14345, aus Regensburg, St. Emmeram; etwa im zweiten Viertel des 9. Jh.s (B. Bischoff, S. 124); E. Hellgardt, S. 90. – Edition: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XLII, S. 310-314; MSD I, Nr. LXXVIIIB, S. 248f.; II, S. 396-402. – Lit.: A. Masser, in: 2VL I, Sp. 275f. mit der älteren Lit.; U. Bruchhold, S. 473-475, 509-511; R. Gusmani, Altkirchenslavische Übersetzungstechnik bei der Wiedergabe des altbairischen Beichtgebets, in: Althochdeutsch, I, S. 819-827; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 250; F. Hautkappe, S. 11-12, 14, 18-20, 64-73, 108. EB: Düsseldorf, ULB D 2; aus Essen, Damenstift; spätes 10. Jh. (B. Bischoff, S. 130); E. Hellgardt, S. 78, S. 81. – Edition: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XLV, S. 318-323; MSD I, Nr. LXXII, S. 236-238; II, S. 376-380; E. Wadstein, Kleinere as. sprachdenkm., S. 16f., S. 123-126. – Lit.: A. Masser, in: 2VL VIII, Sp. 467f. mit der älteren Lit.; T. Brandis, Zu den altdt. Beichtformularen, in: Deutsche Handschriften 1100-1400, S. 168-178; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 70, 249; F. Hautkappe, S. 23-55, S. 109-110, S. 114; E. Hellgardt, S. 81; R. Jahn, Die ältesten Sprach- und Literaturdenkmäler aus Werden und Essen, Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen 60 (1949) S. 80-94. FB: Hs. A: Göttingen, NSSUB Ms. theol. 231,10. Jh., ungefähr 975 (E. v. Steinmeyer [Anm. 3], S. Hamilton, S. 137, Anm. 3); E. Hellgardt, S. 78. – Textzeuge B: Druck bei Christoph Brower, Fuldensium antiquitatum libri iiii. Antwerpen 1612, S. 158-159; aus einer Fuldaer Hs. (Sakramentar?); E. Hellgardt, S. 79. – Hs. C: Rom, BAV Vat. lat. 3548, 11. Jh., 1. Hälfte, vor 1054, ca. 1015-1025 (E. v. Steinmeyer, S. 329; S. Hamilton, S. 137, Anm. 3); E. Hellgardt, S. 79. – Edition: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XLVIII, S. 327-329; MSD I, Nr. LXXIII, S. 241f.; II, S.385-386. – Lit.: A. Masser, in: 2VL II, Sp. 1007f. mit der älteren Lit.; S. Hamilton, S. 136-150; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 250; F. Hautkappe, S. 55-56, 109-111, 114; E. Hellgardt, S. 78-79.; V. Honemann, Zum Verständnis von Text und Bild der ‘Fuldaer Beichte’, in: Dt. Lit. u. Spr. von 1050-1200. FS Ursula Hennig, S. 111-125. JBB: nur Drucküberlieferung: Sebastian Münster, Cosmographei, Basel 1561, S. CCCCLX. – Edition: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XLIII, S. 314f.; MSD I, Nr. LXXVII, S. 246247; II, S. 395-396. – Lit.: A. Masser, in: 2VL IV, Sp. 915f. mit der älteren Lit.; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 250. LB: Rom, BAV Pal. lat. 485; aus Lorsch; etwa im letzten Viertel des 9. Jh.s (B. Bischoff, S. 113); E. Hellgardt, S. 77, S. 81. – Edition: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XLVI, S. 323326; MSD I, Nr. LXXIIb, S. 238f.; II, S. 380-384. – Lit.: A. Masser, in: 2VL V, Sp. 910f. mit der älteren Lit.; U. Bruchhold, S. 444-446; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 249; F. Hautkappe,

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S. 7, 23-55, 111-112; E. Hellgardt, S. 81; C. Staiti, Agli inizi della produzione catechetica in volgare tedesco. L’ordo per la confessione dei peccati del codice Pal. lat. 485, StM 36 (1995) S. 657-719. MB: Wien, ÖNB Cod. 1888 (Theol. 685); aus St. Alban oder Klingenmünster (Speyergau)? vor 962 (E. v. Steinmeyer, S. 330); E. Hellgardt, S. 77, S. 81. – Edition: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XLIX, S. 329-331; MSD I, Nr. LXXIVa, S. 242f.; II, S. 386-388. – Lit.: A. Masser, in: 2VL V, Sp. 1178f. mit der älteren Lit.; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 249; F. Hautkappe, S. 55-56, 111. PB: Rom, BAV Pal. lat. 555, Trägerhandschrift aus der ersten Hälfte des 9. Jh.s; Beichte: Hand des 10. Jh.s (B. Bischoff, S. 118); E. Hellgardt, S. 81. – Edition: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. L, S. 331f.; MSD I, Nr. LXXIVb, S. 243; II, S. 388-389. – Lit.: A. Masser, in: 2VL VII, Sp. 553-555 mit der älteren Lit.; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 250; F. Hautkappe, S. 55-56, 111. RB: Wien, ÖNB Cod. 1815 (Theol. 149, früher 360); aus Reichenau; späteres 10. Jh. (B. Bischoff, S. 118); E. Hellgardt, S. 77. – Edition: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LI, S. 332-336; MSD I, Nr. LXXV, S. 244f.; II, S. 389-391. – Lit.: A. Masser, in: 2VL VII, 11351137 mit der älteren Lit.; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 249; F. Hautkappe, S. 3-7. VB: Straßburg, BNU Ms. 2540 (früher L. germ. 515 4°), noch aus dem Ende des 9. Jh.s (B. Bischoff, S. 113, Anm. 66); E. Hellgardt, S. 81. – Edition: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XLVII, S. 326f.; MSD I, Nr. LXXIIc, S. 240; II, S. 384-385 – Lit.: A. Masser, in: 2VL X, Sp. 512f. mit der älteren Lit.; U. Bruchhold, S. 586-588; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 249. WB: Würzburg, UB M. p. th. f. 24 (Nr. 85 der ehem. Dombibliothek); Trägerhs. aus dem mittleren 9. Jh., dt. Text „wohl nicht viel später“ (B. Bischoff, S. 113); E. Hellgardt, S. 80. – Edition: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XLIV, S. 316-318; MSD I, Nr. LXXVI, S. 245f.; II, S. 392-394. – Lit.: A. Masser, in: 2VL X, Sp. 1453f. mit der älteren Lit.; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 250; F. Hautkappe, S. 7-23, 64, 111; E. Hellgardt, S. 80-82, 91. Nachweise gedruckter und digitaler Abbildungen in PadRep.

ERNST HELLGARDT

‘Benediktinerregel’, Althochdeutsche Glossierung Einführende Bemerkungen zur Regula Benedicti Ú ‘Benediktinerregel’, Althochdeutsche Interlinearversion. 1. Die Regula Benedicti im Unterrricht: Die lebenslange Auseinandersetzung mit der Regula Benedicti, ihren Aussagen und Anweisungen gehört zu den Selbstverständlichkeiten benediktinischen Mönchtums. Sie beginnt mit der Anweisung (Kap. 58), einem Novizen solle ein älterer Bruder im Verlaufe eines Jahres und hier in vorgeschriebenen Abständen die Regel dreimal zur Gänze vorlesen, damit dieser überdenke, was ihn bei einem endgültigen Eintritt ins Kloster erwartet. Für deutsche Klöster der Karolingerzeit waren derlei Vorschriften ungeeignet. Hier wurde es vielmehr zur Sache des jeweiligen Schulmeisters, seine Schüler zunächst einmal im gemeinsamen Unterricht mit dem Text sprachlich vertraut zu machen und bei dieser

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Gelegenheit das Gemeinte mehr oder weniger tiefgehend zu erläutern. Hierbei mochte der Lehrer fallweise aus eigenem Wissen schöpfen oder sich ansonsten an einschlägige einfache oder auch anspruchsvollere Kommentare halten. Die Schüler wiederum – ob aus eigenem Antrieb oder weil sie dazu vom Schulmeister verhalten wurden – legten sich textbegleitende Vokabellisten an, in denen sie im Unterricht Erarbeitetes festhielten. Es ist wichtig zu erkennen, dass man es bei solchen Vokabellisten zwar überwiegend mit schlichten Wortgleichungen oder auch mit lat. Synonymen zu tun hat, aber keinesfalls immer. Gar nicht so selten erschließt sich eine Glossierung nämlich erst dann, wenn man sie als Ergebnis einer interpretierenden Auseinandersetzung mit dem Basistext begreift, wobei der Glossator dann fallweise festhält, was sich ihm aus den Erklärungen eines Kommentars oder auch aus schulischer Gruppenarbeit und Diskussion ergeben haben mag. Die Glosse kann sich so unter Umständen weit von der vordergründigen Bedeutung des glossierten Basiswortes entfernen; sie ist dann zu einem den ganzen Interpretationszusammen-hang aufreißenden ‘Stichwort’ geworden. Das alles spielt sich prinzipiell im lat.-lat. Bereich ab, wesentlich seltener mit muttersprachlichen Glossierungen. Waren derartige Vokabellisten in ihrer Entstehung anfangs also textbegleitend, so konnten sie mit anderen vereinigt, alphabetisiert und damit zu Spezialglossaren teilweise erheblichen Umfangs ausgestaltet werden. Wobei zu beachten ist, dass die Begriffe ‘Glosse’ und ‘Glossar’ in einem weiten Sinne zu verstehen sind und gegebenenfalls auch Wortdefinitionen, Umschreibungen oder knappe Erklärungen mit umfassen. 2. Althochdeutsche Glossierungen: Ahd. Glossen zur Regula Benedicti begegnen auffallenderweise selten und bestehen dann jeweils nur aus wenigen ahd. Eintragungen, zumeist in der Umgebung von Glossaren und vermischt mit lat.-lat. Glossen. Eine etwas größere Anzahl, nämlich 40, findet sich in der Hs. München, BSB Clm 18140 (BStK-Nr. 637); die Hs. stammt aus Tegernsee, die Glossen sind aus dem 11. Jh. Bis auf Ausnahmen haben wir es in allen Fällen wohl ursprünglich mit Vokabellisten im angedeuteten Sinne zu tun, die teils textbegleitend geblieben, teils alphabetisiert worden sind. Einige dieser Glossierungen zeigen Übereinstimmung mit entsprechenden Wiedergaben in der ahd. Interlinearversion des Cod. Sang. 916 (Ú ‘Benediktinerregel’, Althochdeutsche Interlinearversion), doch ist das Material insgesamt zu wenig umfangreich, als dass sich daraus Sicheres folgern ließe, zumal aus Übereinstimmungen in diesem Bereich nicht unbedingt auf konkrete Beziehungen oder Abhängigkeiten geschlossen werden darf (A. Masser, 2008) Ausgabe: StSG II, S. 52f.; tabellarische Übersicht bei C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberl., S. 294, ergänzend R. Bergmann, in: BStH I, S. 107.

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3. Textglossare: Anders steht es mit den ahd. Glossen der Hs. Oxford, BodlL Ms. Jun. 25 (BStK-Nr. 725). Es handelt sich bei ihnen um zwei Textglossare zur Benediktusregel von insgesamt 143 (89 + 44) textbegleitenden Glossen. Sie sind im unmittelbaren Anschluss an das Glossar Jc vom gleichen Schreiber eingetragen, und zwar das längere Glossar I (Alumnis-Glossar) als Bestandteil des Haupttextes, das zweite (Exestimatis-Glossar) späterhin auf noch freiem Raum des Alumnis-Glossars. Die Aufzeichnung erfolgte im 1. Viertel des 9. Jh.s als Abschrift aus älterer Vorlage. Beide Glossare gehören zusammen und scheinen vom gleichen Verfasser zu stammen, und zwar interessanterweise derart, dass die zweite Vokabelliste, das ExestimatisGlossar, eine ergänzende Nachlese zu dessen eigenem, zuvor abgeschlossenen Alumnis-Glossar ist. Wann und wo das geschehen ist, lässt sich nur vermuten. Die beiden Glossare gehören zu jenem Teil der Hs., der in Murbach geschrieben wurde; da sie Abschrift sind, ist die letztendliche Provenienz zunächst einmal offen. Sprache und Orthographie berühren sich sehr mit der ahd. Interlinearversion der Benediktinerregel, weisen zumindest in den Bodenseeraum. Bestimmte Übereinstimmungen in sehr spezifischen Glossierungen aber lassen überhaupt keinen Zweifel, dass die Vokabellisten zur Regula Benedicti des Cod. Jun. 25 engstens an die Interlinearversion des St. Galler Cod. 916 zu binden sind. Sie sind möglicherweise als Zeugnis einer Auseinandersetzung mit dieser Interlinearversion zu verstehen, bei der deren Lösungen teils übernommen, das heißt akzeptiert wurden, teils aber eine andere Glossierung für richtiger, besser, angemessener gehalten wurde. In diesen Zusammenhang gehört auch ein 194 lat.-lat. Glossierungen zur Regula Benedicti umfassendes Textglossar, das Teil der Hs. Leiden, UB Cod. Voss. lat. q. 69 ist. Es ist mit 47 weiteren Glossaren zur Bibel wie zu den verschiedensten Schriftstellern in der Zeit um a. 800 in St. Gallen angelegt worden. Es verwertet eine nicht näher durchschaubare, wohl angelsächsisch geprägte Vorlage mit einem textbegleitenden Grundstock an RegulaBenedicti-Glossen, die vom St. Galler Bearbeiter mit Material aus St. Galler Schulstubentradition wesentlich erweitert und im übrigen alphabetisiert wurde. So steht dieses lat.-lat. Glossar ebenfalls in offensichtlicher Beziehung sowohl zur ahd. Interlinearversion des St. Galler Cod. 916 wie zu den beiden lat.-ahd. Glossaren des Cod. Jun. 25, sodass wir hier insgesamt vielfältige Reflexe der Arbeit an und mit der Regula Benedicti im Bodenseeraum des 8. und 9. Jh.s wahrnehmen können. 4. Ausgaben und Untersuchungen: A. Masser, Lateinische und althochdeutsche Glossierungen der Regula Benedicti im 8. und 9. Jahrhundert, Innsbruck 2008 (u. a. Ausgabe der Regula-Benedicti-Glossare des Cod. Jun. 25 sowie des Regula-Benedicti-Glossars Leiden, Cod. Voss. lat. q. 69). Erschöpfende Behandlung der Oxforder Hs. Jun. 25 und kritische Edition des Glossars Jc (mit anhangsweisem Abdruck der in Frage stehenden beiden RegulaBenedicti-Glossare) durch E. Krotz, Auf den Spuren des ahd. Isidor; ältere Ausgabe der RBGlossare des Cod. Jun. 25 StSG II, S. 47,7-51, 58, der Handschrift Leiden UB, Cod. Voss. Lat.

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q. 69 durch J. H. Hessels, A Late Eigth-Century Latin-Anglo-Saxon Glossary, preserved in the Library of the Leiden University (Ms. Voss. Qº lat. Nº 69), Cambridge 1906. Weitere Literatur: E. Krotz, in: BStH I, S. 780-828; C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberl.; C. Wich-Reif, Der Glossartyp Textglossar, in: BStH, I, S. 602-618.

ACHIM MASSER

‘Benediktinerregel’, Althochdeutsche Interlinearversion 1. Überlieferung: St. Gallen, StB 916; 172 S. aus St. Gallen; bis S. 159 die Regula Benedicti, beginnendes 9. Jh., auf den restlichen Seiten nachträglich und nicht zugehörig Texte von anderer Hand; sieh auch PadRep. – Die Hs. war ursprünglich für die ausschließliche Aufnahme der Regula Benedicti und ihrer ahd. Interlinearversion angelegt; der lat. Text weitzeilig von nur einem Schreiber, der zwischenzeilig eingetragene ahd. Text von drei einander abwechselnden Schreibern (von denen der zweite freilich nach nur 4 Seiten Tätigkeit wieder ausgeschieden ist). Die Hs. ist getreue Kopie eines nur unwesentlich älteren (nicht erhaltenen) Reichenauer Originals aus dem letzten Jahrzehnt des 8. Jh.s. Die Ansicht, es habe des weiteren eine Abschrift des Cod. Sang. 916 gegeben, die Anfang des 17. Jh.s der Schweizer humanistische Gelehrte Melchior Goldast benutzt habe, ist nicht stichhaltig (s. u.). Ausgaben: A. Masser, Die lateinisch-althochdeutsche Benediktinerregel Stiftsblibiothek St. Gallen Cod. 916, StA 33, Göttingen 1997 (handschriftnahe Ausgabe mit interlinearer Wiedergabe des ahd. Textes); E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XXXVI, S. 190-289 (mit Angabe früherer Ausgaben); nach der Ausgabe von E. v. Steinmeyer unkritisch U. Daab, Die Althochdeutsche Benediktinerregel des Cod. Sang. 916, ATB 50, Tübingen 1959. – Abbildungen unter anderem bei G. Baesecke, Der dt. Abrogans, Tafel III-V; Tafel IV nachgedruckt von G. Eis, Altdt. Hss.; H. Fischer, Schrifttafeln, Tafel 3; St. Sonderegger. Ahd. in St. Gallen, Abb. 11; A. Masser, Ausgabe, Abb. 1-4. – Digitalisat: CESG.

2. Die Regula Benedicti: Die Ordensregel des hl. Benedikt von Nursia († 547 oder später) wurde für das abendländische Mönchtum bestimmend. Ihr Verhältnis zu anderen, älteren Mönchsvorschriften wie ihr Einfluss auf jüngere Regeln sind hier nicht zu erörtern. In dem interessierenden Zusammenhang ist wichtig und festzuhalten, dass sich Karl d. Gr. nach seinem Besuch in Monte Cassino a. 787 eine Abschrift des (vermeintlichen) Originals der Regel beschaffen, im Kloster Inden (Aachen) auflegen ließ und für alle Klöster seines Reiches verbindlich machte (sogenanntes ‘Aachener Normalexemplar’). Ziel von Karls Bemühungen war, Ordnung in die textlichen Überlieferungen zu bringen und eingetretenen Wildwuchs zu beschneiden. Die auf seine Anweisung hin aufgelegte Hs. ist nicht erhalten, jedoch gibt es von einer a. 817 durch zwei Reichenauer Mönche genommenen sorgfältigen Kopie wiederum eine St. Galler Abschrift aus den Jahren gegen a. 820 (Cod. Sang. 914), die heute als die wichtigste Hs. der Regula Benedicti überhaupt gilt. Sie führt die Hss.-Gruppe des sogenannten

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Benediktinerregel – Interlinearversion

‘reinen’ Textes (textus purus) an. Man unterscheidet hiervon eine 2. Klasse von Hss. (zu der auch der Cod. Sang. 916 gehört) mit einem textus interpolatus, der sich eben durch (kleinere) Interpolationen, aber auch durch Beseitigung sprachlicher Härten und anderes auszeichnet; und schließlich den textus receptus einer großen Zahl von Hss., die nicht zu den beiden anderen Klassen gehören, doch oft – vereinfacht gesprochen – zwischen ihnen zu vermitteln suchen. Kritische Ausgabe: R. Hanslik, Benedicti Regula, CSEL 75, Wien 1960; 21970. – Die Benediktus-Regel lateinisch-deutsch. Hg. v. B. Steidle, Beuron 21975; Regula Benedicti. Die Benediktusregel lateinisch / deutsch. Hg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz, Beuron 1992 u. ö. – Faksimile-Ausgabe von Cod. Sang. 914: Regula Benedicti de codice 914 in bibliotheca monasterii S. Galli servato ... edita a B. Probst, St. Ottilien 1983; Digitalisat: CESG. – Für die Textgeschichte grundlegend L. Traube, Textgeschichte der Regula S. Benedicti, 2. A. hg. v. H. Plenkers. Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosoph.philol. und hist. Klasse. 25,2, München 1910. – M. Puzicha, Kommentar zur Benediktusregel. Mit einer Einführung von Chr. Schütz, St. Ottilien 2002; M. Puzicha, Quellen und Texte zur Benediktusregel. In Zusammenarbeit mit J. Gartner und P. Hungerbühler, St. Ottilien 2007.

3. Schulunterricht und Muttersprache: Die Anweisung der Benediktusregel (Kap. 58), einem ‘Neuankömmling’ solle ein erfahrener Bruder die Regel in Abständen dreimal vorlesen und erläutern, damit dieser wisse, worauf er sich gegebenenfalls einlasse, ließ sich in deutschen Klöstern des 8./9. Jh.s naturgemäß so nicht umsetzen, schon weil ein ‘Neuer’ im allgemeinen keine Lateinkenntnisse hatte. Daher wurde es Aufgabe des jeweiligen Schulmeisters, im Unterricht das primäre Verständnis des lat. Textes zu erarbeiten wie darauf aufbauend später auch das tiefere Eindringen in den Geist der Regel zu vermitteln. Der lat. Text der Regula Benedicti ist streckenweise einfach zu verstehen, nicht selten aber schwierig und deshalb nicht immer leicht zu erfassen. Helfender Einsatz der Muttersprache ist daher zur Erklärung im schulischen Unterricht unabdingbar. Derlei Erklärung einzelner Wörter oder ganzer Zusammenhänge im Schulunterricht schlägt sich verschriftlicht in der Anlage individueller ‘Vokabellisten’, die sich zu Glossaren verdichten konnten, nieder. Im vorliegenden Fall war es sicher ein glücklicher, wenngleich ebenfalls schulmeisterlicher Gedanke, mit einer muttersprachlichen Interlinearversion des lat. Regeltextes diesen notwendigen Lernprozess zu erleichtern. In der hier in Frage stehenden Zeit war engagierter Schulmeister im Kloster auf der Reichenau Heito, der nachmalige Abt (a. 806) und Bischof (a. 803) von Konstanz, der später eine wichtige Rolle im Rahmen der kirchlichen Reformbestrebungen spielen sollte (W. Haubrichs, in: Sprache, Literatur, Kultur. FS Wolfgang Kleiber). Die Annahme ist naheliegend, dass er es war, der das Projekt einer solchen Interlinearversion initiiert und seine Durchführung kontrolliert hat (A. Masser, Kommentar; A. Masser, in: Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach, S. 287-302).

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Der Cod. Sang. 916 ist als sehr genaue Kopie dieses Reichenauer bilingualen Originals anzusprechen, die deshalb mutatis mutandis für dieses genommen werden kann. Bei der Planung der St. Galler Hs. ist von vornherein nicht daran gedacht gewesen, eine repräsentative Hs. anzufertigen, vielmehr eine schlichte für den ‘täglichen Gebrauch’ zu Studium und Schulzwecken. Das zeigen das geringe Blattformat von lediglich etwa 19,5 x 12,4 cm, die mindere Qualität des oft löchrigen Pergaments, das man für den erstrebten Zweck für ausreichend befand, sowie die insgesamt bescheidene und schmucklose Aufmachung. Zahlreiche abgegriffene, fleckige und speckige Blätter zeugen denn auch in der Tat von einer regen Benutzung (A. Masser, Ausgabe, S. 31ff.; A. Masser, Cod. Sang. 915, S. 19f.). Abgesehen von zahlreichen kleineren Korrekturen verschiedenster Art fällt im heutigen Erscheinungsbild der Hs. das umfangreiche Wirken eines Korrektors auf, der wohl nach der Mitte des 9. Jh.s den vielfach fehlerhaften lat. Text nach dem in St. Gallen offiziösen Text des Cod. Sang. 915, der die Grundlage für die Lesungen im täglichen Offizium war, durchgebessert hat. Auch das ist ein Zeichen für die intensive Benutzung dieser Interlinearversion. Ausgabe: A. Masser (Hg.), Regula Benedicti des Cod. 915 der Stiftsbibliothek von St. Gallen, StA 37, Göttingen 2000; Digitalisat von Cod. Sang. 915: CESG. – J. Autenrieth, Der Cod. Sang. 915. Ein Beitrag zur Erforschung der Kapiteloffiziumsbücher, in: Landesgeschichte und Geistesgeschichte. FS für Otto Herding zum 65. Geburtstag, Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B. 92, Stuttgart 1977, S. 42-55.

4. Geschichte und Verbreitung: Die in älterer Forschung entwickelten Modelle von ersten Glossierungsentwürfen, verschiedenen Zwischenstufen, unterschiedlichen Vorlagen für den lat. Text wie für die ahd. Glossierung und dergleichen (insbesondere E. v. Steinmeyer, G. Baesecke, U. Daab) beruhten auf unzutreffenden Voraussetzungen und haben gelegentlich Verwirrung gestiftet. Demgegenüber ist nochmals zu betonen, dass man es hier mit einem aus den konkreten Gegebenheiten der Bodenseeklöster erwachsenen und auf ihre Bedürfnisse abgestellten einmaligen Unternehmen einer Interlinearversion der Benediktusregel zu tun hat, das im Ergebnis im letzten Jahrzehnt des 8. Jh.s zu einem anzunehmenden Reichenauer Original sowie bald hernach und aufgrund gleich gelagerter Interessen zu einer im Cod. Sang. 916 vorliegenden St. Galler Abschrift geführt hat (A. Masser, Ausgabe, S. 37-50). Eine darüber hinausgehende Verbreitung hat diese Interlinearversion als solche nicht erfahren und ist auch nicht intendiert gewesen. Doch ist darauf hinzuweisen, dass in ihrem räumlichen und geistigen Umfeld mehrere Glossare zur Benediktusregel entstanden sind, von denen die beiden lat.-ahd. Vokabellisten der Oxforder Hs. BodlL, Ms. Jun. 25 in enger Be-

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ziehung zur lat.-ahd. Interlinearversion des Cod. Sang. 916 stehen (Ú ‘Benediktinerregel’, Althochdeutsche Glossierung). Eine nochmalige Kopie des Cod. Sang. 916 hat es nicht gegeben. Für die des öfteUHQIlOVFKOLFKVRJHQDQQWHµ(GLWLRSULQFHSV¶GXUFK0HOFKLRU*ROGDVW ‚.HURQLV monachi S. Galli interpretatio vocabvlorum barbaricorum [id est Alamanicorum] in regvlam S. Benedicti abbatis, in: Alamannicarum rerum scriptores ... II, Frankfurt a. M. 1606, S. 94-122) hat dieser keine andere als die St. Galler Hs. 916 benutzt (A. Masser, Sprachwissenschaft 34 [2009] S. 207ff.). Im übrigen ist seine Veröffentlichung keine Ausgabe des Textes der Interlinearversion, vielmehr ein anhand der Glossierungen erarbeitetes alphabetisiertes lat.-ahd. Textglossar, das den ahd. Wortschatz der Interlinearversion weithin vollständig, den lat. nur insoweit berücksichtigt, als er ahd. glossiert worden ist. – Die Annahme M. Goldasts, der Verfasser der Interlinearversion sei ein Mönch namens Kero gewesen, beruhte auf einem (von anderen aufgegriffenen) Missverständnis. Ausgabe und Untersuchungen: U. Wessing. Interpretatio Keronis in Regulam Sancti Benedicti. Überlieferungsgeschichtliche Untersuchungen zu Melchior Goldasts Editio princeps der lateinisch-althochdeutschen Benediktinerregel, StA 18, Göttingen 1992 (dazu A. Masser, BNF NF 27 [1992] S. 445-447).

5. Prinzipien der Glossierung: Der lat. Text der Regel ist nicht vollständig glossiert. Vielmehr werden nur die Anfangspartien (fast) durchgehend interlinear übersetzt, während etwa ab Kap.15 Partien intensiverer mit solchen geringerer Glossierung wechseln, die Übertragung insgesamt zunehmend dünner wird und gegen Ende gänzlich unterbleibt. Hierfür erlahmenden Arbeitseifer des Glossators verantwortlich zu machen, liegt nahe, würde aber dem eben vorgestellten Gedanken an ein klares und in seiner Ausführung überwachtes Konzept, dem der Glossator untergeordnet war, widersprechen. Zudem scheinen auch in späteren Teilen vorkommende Glossierungen ganz bewusst erfolgt zu sein. Möglicherweise hat man deshalb in der abnehmenden Glossierung ein ‘pädagogisches Prinzip’ zu sehen, demzufolge die Erarbeitung des lat. Textes zunächst durch massive Hilfeleistung erleichtert und dann allmählich reduziert wurde (A. Masser, Kommentar, S. 34-37; 45-51). Für eine derartige Annahme spricht auch die auffällige Tatsache, dass es in den späteren, oft nur spärlich glossierten Partien keineswegs automatisch die inhaltlich bedeutsamsten Wörter sind, die verdeutscht werden, vielmehr oft solche, die scheinbar völlig unwichtig und zudem in ihrer Bedeutung unzweifelhaft sind. Die Erklärung ist, dass es da in nicht wenigen Fällen offensichtlich darum geht, Hilfestellung im Blick auf eine grammatisch richtige Übersetzung des lat. Textes zu geben. Oder es sind die für die Durchschaubarkeit des syntaktischen Gerüsts wesentlichen Konnektoren, die glossiert, auf diese Weise markiert werden und so gewissermaßen als syntaktische Stützen den Verständnisfortgang

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erleichtern sollen. Aus diesem Zusammenspiel von Basistext und (gelegentlicher) Glossierung, ergibt sich ein verständlicher und flüssig lesbarer lat.-volkssprachiger Mischtext, der vielleicht Gewohnheiten und Methoden des klösterlichen Unterrichtsbetriebes erahnen lässt (Beispiele bei A. Masser, Kommentar, S. 44-51). 6. Übersetzungsleistung: Im Unterschied zu einer eigentlichen Übersetzung, bei der man nach muttersprachlicher Emanzipierung gegenüber der Vorlage fragen kann, verfolgt eine Interlinearversion von vornherein andere Ziele, ist sie auch in der Wiedergabe muttersprachlich unüblicher Konstruktionen ganz eng an den lat. Basistext gebunden, ist sie eben Glossierung. Was die Übersetzungsleistung des Glossators angeht, so sind hier in älterer Forschung zuweilen sehr schiefe und ungerechtfertigt negative Beurteilungen erfolgt (sieh besonders U. Daab 1929; H. Ibach 1956). Wenn man hingegen die grundsätzliche Andersartigkeit einer Interlinearversion und die sich daraus ergebenden spezifischen Erfordernisse ernst nimmt und dementsprechend gebührend berücksichtigt, so hat der Glossator insgesamt gute Arbeit geleistet. Dem steht gelegentliches Missverstehen des lat. Regeltextes, der im übrigen, was das spezielle Exemplar angeht, an zahlreichen Stellen fehlerhaft war, nicht entgegen. Darüber hinaus ist der lat. Text von Vulgarismen geprägt, die beim Glossator vor allem im Bereich der verbalen Grammatik (Infinitive, Deponential- und Passivformen) zu Irritationen und in der Folge eben auch zu für uns auffälligen Fehlwiedergaben geführt haben. Dem stehen beispielsweise bewusste Umschichtungen konjunktivischer und indikativischer Verbformen gegenüber, die von gegenwartsbezogener Verständnisperspektive und Angleichung an aktuelle klösterliche Situationen zeugen (A. Masser, in: Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach, S. 287-302). Der Wortschatz der ahd. Interlinearversion weist zahllose Neubildungen auf, mit denen der Glossator versucht hat, den lat. Basistext adäquat wiederzugeben. Welche Akzeptanz sie im aktuellen Schulbetrieb gefunden haben mögen, muss dahingestellt bleiben. Viele dieser übersetzenden Ausdrücke begegnen anderwärts und späterhin nie wieder. Nicht wenige haben, wie auch anderwärts zu beobachten ist, offensichtlich nur die Aufgabe, das jeweilige lat. Basiswort in seiner Bildung durchschaubar zu machen (N. Henkel 1996 u. ö.). Wie weit der Glossator mit seinen Bemühungen um passende volkssprachige Wortwahl insgesamt in einer ‘Schulstubentradition’ stehen könnte, ist bislang nicht hinreichend abgeklärt worden. 7. Weitere Literatur: Ältere Literatur bei G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit. I, S. 266f. sowie St. Sonderegger, Althochdeutsch auf der Reichenau. Neuere Forschungen zur ältesten Volkssprache im Inselkloster, in: Die Abtei Reichenau. Neue Beiträge zur Geschichte des Inselklosters. Hg. v. H. Maurer, Bodensee-Bibliothek 20, Sigmaringen 1974, S. 71f.; G. Baesecke, Unerledigte Vorfragen der ahd. Textkritik und Literaturgeschichte. IV. Die Interlinearversion der Benediktinerregel, PBB 69 (1947) S. 372-384; W. Berschin, De moribus perfectionis. Beitrag zur Lokalisierung und Datierung der ‘althochdeutschen Benediktinerregel’ St. Gallen

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Benediktinerregel – Interlinearversion

Stiftsbibliothek 916, in: Nova de veteribus. Mittel- und neulateinische Studien für Paul Gerhard Schmidt. Hg. v. A. Bihrer und E. Stein, Berlin/New York/München/Leipzig 2004, S. 145154; W. Betz, Die Heimat der althochdeutschen Benediktinerregel, PBB 65 (1941) S. 182-185; W. Betz, Deutsch und Lateinisch. Die Lehnbildungen der althochdeutschen Benediktinerregel, Bonn 1949, 2. A. 1965; U. Daab, Studien zur althochdeutschen Benediktinerregel, Hermaea 24, Halle (Saale) 1929; U. Daab, Die Schreiber der Althochdeutschen Benediktinerregel im Cod. Sang. 916, PBB 80 (Tübingen 1958) S. 379-403; A. Greule, Syntaktisches Verbwörterbuch zu den althochdeutschen Texten des 9. Jahrhunderts. Altalemannische Psalmenfragmente, Benediktinerregel, Hildebrandslied, Monseer Fragmente, Murbacher Hymnen, Otfrid, Tatian und kleinere Sprachdenkmäler, Regensburger Beiträge zur deutschen Sprachund Literaturwisssenschaft. Reihe B. 73, Frankfurt am Main u. a. 1999; W. Haubrichs, Das monastische Studienprogramm der ‘Statuta Murbacensia‘ und die altalemannischen Interlinearversionen, in: Sprache, Literatur, Kultur. FS Wolfgang Kleiber, S. 237-261; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 195-200; N. Henkel, Die althochdeutschen Interlinearversionen. Zum sprach- und literarhistorischen Zeugniswert einer Quellengruppe, Wolfram-Studien XIV, Berlin 1996, S. 46-72; N. Henkel, in: Theodisca, S. 387-413; B. Hertenstein, Joachim von Watt; H. Ibach, Zu Wortschatz und Begriffswelt der althochdeutschen Benediktinerregel, PBB 78 (Halle 1956) 1-110; 79 (1957) 106-185; 80 (1958) 190-271; 81 (1959) 123-173; 82 (1960/61) 371-473; R. Knodt, Die Hauptschreiber des Codex St. Gallen Stiftsbibliothek 916 (Althochdeutsche Benediktinerregel), Scriptorium 47 (1993) S. 37-42; A. Masser, Kommentar zur lateinisch-althochdeutschen Benediktinerregel des Cod. 916 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Untersuchungen, Philologische Anmerkungen, Stellennachweis, Register und Anhang, StA 42, Göttingen 2002; A. Masser, in: Volksspr.-lat. Mischtexte, S. 37-60; A. Masser, Der Glossator der lateinisch-althochdeutschen Benediktinerregel, in: Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach, S. 287-302; A. Masser, Der, diu, daz. Zum Vorkommen des bestimmten Artikels in der lateinisch-althochdeutschen Benediktinerregel, in: Strukturen und Funktionen. FS Franz Simmler, S. 71-93; A. Masser, Der sprechende Schreiber. Bemerkungen zur Orthographie in der Interlinearversion der lateinisch-althochdeutschen Benediktinerregel, in: Studien zu Literatur, Sprache und Geschichte. FS Wolfgang Haubrichs, S. 133-142; A. Masser, Melchior Goldast und das Phantom einer zweiten Handschrift der lateinisch-althochdeutschen Benediktinerregel, Sprachwissenschaft 34 (2009) S. 207-225; H. Neuhold, Die althochdeutsche Interlinearversion der Benediktinerregel und ihre lateinischen Vorlagen, Diss. Wien 1956 (masch.) (dazu H. Menhardt, PBB 81 [Tübingen 1959] S. 223-225).

ACHIM MASSER

Bibel, Althochdeutsche und altsächsische Dichtung: Altes Testament: Ú ‘Genesis, Altsächsische’, Psalter: ‘Psalm 138’ Neues Testament: Ú ‘Christus und die Samariterin’, ‘Heliand’, Otfrid von Weißenburg

Bibel, Althochdeutsche und altsächsische Glossierung: Bibelglossierung und Bibelglossare: Ú ‘Abrogans deutsch’, ‘Essener Evangeliarglossen’, ‘Ja’, ‘Jb’, ‘Jc’, ‘Mondseer Bibelglossen’, ‘Rb’, ‘Samanunga worto’

‘Binger Inschrift’

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Glossierung von Bibeldichtung und Bibelkommentaren: Ú Arator, Avitus von Vienne, Beda Venerabilis, Gregor der Große, Haimo von Auxerre, Hieronymus, Hrabanus Maurus, Juvencus, Sedulius, Smaragdus von St. Mihiel, Walahfrid Strabo

Bibel, Althochdeutsche und altsächsische Übersetzung: Altes Testament: Ú Psalter: ‘Fragmente einer altalemannischen Interlinearversion’, Psalter: ‘Fragmente einer altmittelfränkischen und altniederfränkischen Interlinearversion’, Psalter: ‘Fragmente einer rheinfränkischen Interlinearversion der Cantica’, Psalter: ‘Gernroder Fragmente eines altsächsischen Psalter-Kommentars’, Psalter: ‘Lublin/Wittenberger Fragmente einer altsächsischen Interlinearversion’, Psalter: ‘Paderborner Fragment einer altsächsischen Interlinearversion’, Ú auch Notker III. von St. Gallen (Abschnitt II.1.5); Ú Williram von Ebersberg, Hoheliedkommentar Neues Testament: Ú ‘St. Galler Interlinearversion zu Joh. 19,38’, ‘St. Pauler Interlinearversion zu Lc 1,64-2,51’, Ú Isidor von Sevilla ‘De fide catholica’, Althochdeutsche Übersetzung und ‘Mon(d)seer Fragmente’ (Fragmente einer Übersetzung des Matthäus-Evangeliums), ‘Tatian’ (althochdeutsche Übersetzung der Evangelienharmonie)

Bienensegen Ú ‘Lorscher Bienensegen’, ‘Salzburger Bienensegen’ ‘Binger Inschrift’ Überlieferung: Landesmuseum Mainz, Grabstein des Dietrich. S. 3089. – Das Denkmal ist das einzige erhaltene volkssprachige epigraphische Zeugnis des Ahd. Ein weiteres, ebenfalls rheinisches Inschriftendenkmal ist die Ú ‘Kölner Inschrift’, die jedoch nur in einer Abbildung überliefert ist. Aufgefunden wurde die ‘B. I.’ im Januar 1900 beim Abbruch der Binger Domkellerei unmittelbar neben der Kirche St. Martin und ihrem Friedhof. Sie ist auf einem mit figürlichen Darstellungen versehenen Stein im unteren Teil zweizeilig angebracht und nur in ihrem linken Teil erhalten. Auf der (vom Betrachter aus) rechten Seite fehlt etwa ein Drittel des Text(raum)es. Von den Figuren ist die des Mittelteils mit dem als + DIE·DE·RIH bezeichneten Dedikanten in Orantenhaltung mit geringen Beschädigungen vollständig erhalten, die Figur zu seiner rechten Hand nur mit Füßen und unterem Teil der Bekleidung. Zu seiner linken Hand sind lediglich Teile eines Fensterrahmens zu sehen, der auch rechts von ihm erkennbar ist und der es erlaubt, den offenbar symmetrisch gestalteten Stein in seiner Grundanlage mit fünf Feldern zu rekonstruieren. Die (ohne Worttrennung eingehauene) Inschrift GEHVGI DIEDERIHES·GO[] | INDE DRVLINDA·SON[] (nach -N wohl Rest eines E) ‘gedenke des Dietrich, [des] Sohn[es] von Go[] und Drulinda’ erweist das Denkmal als Memorienstein. Die

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Boethius-Glossierung

sprachlichen Kennzeichen führen in das Rheinfränkische etwa um die Wende des ersten Jahrtausends. Auf der Rückseite sind noch die oberen Buchstabenreste LF (?) G(?)OT erkennbar, die, wenn es sich um Steinmetzproben handelt, aus dem vorlorenen Teil der Inschrift stammen könnten und sich dann zu [HI]LF GOT ergänzen ließen, was zu einer Grabinschrift passt. Von J. Como ist der Verstorbene mit einem Grundherrn Thidrich identifiziert worden, dessen Stiftung der Pfarrkirche zu Mörschbach im Hunsrück im Jahre 1006 durch Erzbischof Willigis von Mainz bestätigt wird (Mainzer Urkundenbuch, I, 1932, Nr. 242). Sollte der in dieser Urkunde genannte Ort Kozzolfes auf einem Namen aus der Familie der Stifters beruhen, so böte sich die Möglichkeit, den fragmentarischen Vatersnamen der Inschrift als Go[zzolfes] zu rekonstruieren (H. Tiefenbach). Ausgaben: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LXXXV, S. 403; H. Tiefenbach, Zur Binger Inschrift. Mit drei Abbildungen und einer Karte, RhVB 41 (1977) S. 124-137. Literatur: J. Como, Der Dietrichstein von Bingen und die Gründung der Pfarrei Mörschbach (Hunsrück), Mainzer Zeitschrift 37/38 (1942/43) S. 50-54; Das erste Jahrtausend, Tafelband, 1962, Nr. 448. HEINRICH TIEFENBACH

Blutsegen Ú ‘Trierer Blutsegen’, ‘Zürcher Blutsegen’ Boethius, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Boethius Anicius Manlius Severinus (*um 480 Rom, † 524 Pavia) gehörte dem Kreis römischer Vornehmer an, die sich als Verwaltungsbeamte König Theoderich zur Verfügung stellten, aber doch die Wiederherstellung der (ost)römischen Herrschaft in Italien wünschten. Als sich Boethius für den Consular Albinus einsetzte, wurde die gegen diesen erhobene Beschuldigung auf Boethius ausgedehnt. Er wurde nach langer Kerkerhaft ungehört verurteilt. Boethius hat alle vier Fächer des Quadriviums bearbeitet. Das meist gelesene Werk ist das im Kerker entstandene Werk De consolatione philosophiae, in dem Boethius einen Dialog mit Frau Philosophia führt. Die Consolatio galt durch ihr logisches Deduzieren im Dialog als Vorbild der Dialektik und durch ihre prosimetrische Form, eine Mischung aus Prosa und Versen, sowie durch ihre literarische Allegorie als didaktisch geeigneter Gegenstand der Unterweisung in der Rhetorik. Mit der Entstehung von Kommentaren zur Consolatio ab dem 9. Jh. wurde das Werk für den Schulgebrauch aufbereitet (dazu R. Bergmann – St. Stricker, Die althochdeutschen Boethiusglossen. Ansätze zu einer Überlieferungstypologie, ABÄG 43/44 [1995] S. 16f.). – Weitere, auch ahd. glossierte Schriften sind: Institutio arithmetica (I-II), De institutione musica (I-V), Kommentare zu Porphyrios, Isagoge.

Boethius-Glossierung

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Obwohl Boethius nicht für seinen Glauben gestorben ist, wurde er im Mittelalter vielfach als Heiliger und Märtyrer gesehen. Man hat aber auch immer wieder das Fehlen spezifisch christlicher Inhalte in seinen Schriften festgestellt. Dazu ist stimmig, dass Boethius in der Gefangenschaft seinen Trost aus der Philosophie schöpft. Boethius, der noch ganz in der Antike verwurzelt ist, gehört zu den großen Vermittlern der europäischen Kultur. Das Mittelalter hat in ihm einen seiner wichtigsten Lehrer erkannt. Literatur: F. Rädle (I-II) und F. J. Worstbrock (III), Boethius, Anicius Manlinus Severinus, in: 2VL I, Sp. 908-927; J. Gr., Boëthius, Anicius Manlius Severinus, in: Der Neue Pauly, II, Sp. 719-723; Der Kleine Pauly, Sp. 915f.; D. K. Kranz, Boethius, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, XXIV, 2005, Sp. 259-310. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Bamberg, SB Msc. Class. 3 [f. 1-90] (BStK-Nr. 23 I): 1 Interlineargl. in Textglossierung von De cons. phil.; ofrk. (vielleicht Bamberg), 11. Jh. – Ed. StSG V, S. 24 (Nr. DLXXXb). – 2. Berlin, SBPK Fragment 83 (BStK-Nr. 43a): 1 Gl. in Textglossierung von De cons. phil.; Sprache unbestimmt, Glossen undatiert (Hs. 10. Jh.). – Ed. Glossen noch unediert. – 3. Berlin, SBPK Ms. lat. 4º 939 (BStK-Nr. 45): 102 Gll. (82 interlinear, 20 marginal, 1 in Geheimschrift) in Textglossierung von De cons. phil.; mfrk. (2 von anderer Hand stammende Gll. obd.), von Froumund von Tegernsee im letzten Jahrzehnt des 10. Jh.s in Köln eingetragen. – Ed. StSG II, S. 66-69 (Nr. DLXXI). – 4. Bonn, ULB S 175 Kriegsverlust (BStK-Nr. 69): 8 Interlineargll. (davon 3 in Geheimschrift) in Textglossierung von De cons. phil., rhfrk. oder obd., Sprache unbestimmt, Glossen undatiert (Hs. Mitte 13. Jh.). – Ed. StSG II, S. 75 (Nr. DLXXVIII); H. Naumann, Notkers Boethius, S. 22. – 5. Cambridge, UL Additional MS. 2992 (BStK-Nr. 90): 25 Gll. (22 interlinear, 3 marginal) in Textglossierung von De cons. phil., mfrk., Glossen undatiert (Hs. 13. Jh.). – Ed. StSG IV, S. 318 (Nr. DLXXVIb); M. Chappell, MLR 82 (1987) S. 377. – 6. Einsiedeln, StB cod 149 (558) (BStK-Nr. 117): 59 Interlineargll. (davon 44 in Geheimschrift) in Textglossierung von De cons. phil.; obd., Glossen undatiert (Hs. 10. Jh.) – Ed. StSG II, S. 63-64 (Nr. DLXVIII). – 7. Einsiedeln, StB cod 179 (482) (BStK-Nr. 120): 219 Gll. (165 interlinear, 54 im Kontext, 219 in Geheimschrift, 10 f-Glossen) in Textkommentar von De cons. phil.; alem., Glossen undatiert (Hs. 10. Jh.). – Ed. StSG II, S. 54-63 (Nr. DLXVII). – 8. Einsiedeln, StB cod 302 (450) (BStK-Nr. 126): 75 Gll. (73 interlinear, 2 marginal, 69 in Geheimschrift) in Textglossierung von De cons. phil.; alem., Glossen undatiert (Hs. 10. Jh.). – Ed. StSG II, S. 54-63 (Nr. DLXVII). – 9. Einsiedeln, StB cod 322 (888) (BStK-Nr. 132): 11 Gll. (9 interlinear, 2 marginal, 2 in Geheimschrift) in Textglossierung von De cons. phil.; alem., Glossen undatiert (Hs. 11. Jh.). – Ed. StSG II, S. 66 (Nr. DLXX). – 10. St. Florian, StB XI 75 (BStK-Nr. 154): 1 Interlineargl. in Textglossierung von De cons. phil.; Sprache unbestimmt; Glossen undatiert (Hs. 11. Jh.). – Ed. StSG II, S. 81 (Nr. DLXXX). – 11. St. Gallen, StB 831 (BStK-Nr. 241): 2 Interlineargll. in Textglossierung von Übersetzung zu Porphyrios, Isagoge; Sprache unbestimmt (Hs. Elsass), Glossen undatiert (Hs. 10./11. Jh.). – Ed. StSG V, S. 31 (Nr. DCCLXIIa). – 12. St. Gallen, StB 844 (BStK-Nr. 242): 44 Gll. (16 interlinear, 28 marginal, 3 f-Glossen) in Textglossierung von De cons. phil.; alem., Glossen undatiert (Hs. 10. Jh.). – Ed. StSG II, S. 65-66 (Nr. DLXIX). – 13. St. Gallen, StB 845 (BStK-Nr. 243): 10. Jh. St. Gallen, 174 Gll.

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(65 interlinear, 109 kontextuell, 172 in Geheimschrift, 9 f-Glossen) in Textkommentar von De cons. phil., 10. Jh. St. Gallen, alem. – Ed. StSG II, S. 54-63 (Nr. DLXVII). – 14. Heiligenkreuz, StB 130 (BStK-Nr. 281): 9 Interlineargll. in Textglossierung von De cons. phil.; bair., 12. Jh. – Ed. StSG IV, S. 317 (Nr. DLXXIa). – 15. Koblenz, LandeshauptA Best. 701 Nr. 759 (Boethius-Fragment, verschollen) (BStK-Nr. 343 (II)): 2 Gll. in Textglossierung zu De cons. phil. (Teile von I, 4); 1 Gl. as., 1 Gl. ahd.; 10./11. Jh. (?) (Hs. 3. Drittel 9. Jh.). – Ed. E. Krotz, Der Schatz der Wörter, Absatz 86 (mit Hinweis auf B. Bischoff, Katalog, I, Nr. 1865). – 16. Kopenhagen, Det Kongelige Bibliotek Thott 167, fol. (BStK-Nr. 356): 1 Interlineargl. in Textglossierung von Kommentar und Übersetzung zu Porphyrios, Isagoge; Sprache unbestimmt (Hs. Frankreich), 2. Hälfte 11. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 43. – 17. London, BL Arund. 514 (BStK-Nr. 408): 370 Gll. (336 interlinear, 34 marginal) in Textglossierung von De cons. phil., frk., ofrk. o. frk.-alem.; Glossen undatiert (Hs. 10./11. Jh.). – Ed. StSG II, S. 75-81 (Nr. DLXXIX); H. Thoma, PBB 73 (1951) S. 197-199. – 18. London, BL Harl. 2685 (BStK-Nr. 413): 1 Interlineargl. in Textglossierung von De cons. phil.; mfrk., Glossen undatiert (Hs. 10. Jh.). – Ed. H. Thoma, PBB 73 (1951) S. 240. – 19. London, BL Harl. 3095 (BStK-Nr. 418): 47 Gll. (44 interlinear, 3 marginal) in Textglossierung von De cons. phil.; mfrk., 10. Jh. – Ed. H. Thoma, PBB 73 (1951) S. 234-237. – 20. Melk, StB Nr. 740 (früher 228, davor G 31) (BStK-Nr. 430): 1 Interlineargl. in Textglossierung von Kommentar zu De trinitate; Sprache unbestimmt, 10. Jh. Tegernsee (Froumund). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 47. – 21. München, BSB Clm 14324 (BStK-Nr. 572): 19 Gll. (14 interlinear, 5 marginal) in Textglossierung von De cons. phil.; bair., 11./12. Jh.? – Ed. StSG II, S. 74 (Nr. DLXXVI). – 22. München, BSB Clm 15825 (BStK-Nr. 619): 25 Gll. (16 interlinear, 9 marginal) in Textglossierung von De cons. phil.; bair., 11. Jh., 1 Gl. 13. Jh. – Ed. StSG II, S. 73-74 (Nr. DLXXV); IV, S. 554. – 23. München, BSB Clm 18480 (BStK-Nr. 644): 1 Interlineargl. in Textglossierung von De institutione musica; Sprache unbestimmt (Hs. Tegernsee), 2. Hälfte 11. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 96. – 24. München, BSB Clm 18764 (BStK-Nr. 656): 6 Interlineargll. in Textglossierung von Institutio arithmetica; bair., 993-995 in Feuchtwangen von Froumund und Schülern geschrieben. – Ed. StSG V, S. 24 (Nr. DLXXXc). – 25. München, BSB Clm 18765 (BStK-Nr. 657): 75 Gll. (56 interlinear, 19 marginal, 2 z.T. in Geheimschrift) in Textglossierung von De cons. phil.; bair., 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 72-73 (Nr. DLXXIV). – 26. München, BSB Clm 19452 (BStK-Nr. 668): 9 Interlineargll. in Textglossierung von De cons. phil.; bair., Anfang 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 75 (Nr. DLXXVII). – 27. Neapel, BNN ms. IV. G. 68 (BStK-Nr. 713): 58 Gll. (4 interlinear, 54 marginal, 2 z.T. in Geheimschrift, 4 f-Glossen) in Textglossierung von De cons. phil.; alem.?, frühes 10. Jh. – Ed. T. Starck, in: Medieval Studies, S. 304-308. – 28. Paris, BNF lat. 11129 (BStK-Nr. 761): 1 Marginalgl. in Textglossierung von Kommentare zu Porphyrios, Isagoge; mfrk., 10./11. Jh. Echternach. – Ed. StSG V, S. 31 (Nr. DCCLXIIb). – 29. Paris, BNF lat. 13953 (BStK-Nr. 766): 91 Kontextgll. (davon 13 in Geheimschrift, 3 f-Glossen) in Textglossar von De cons. phil.; alem., 10. Jh. Corbie. – Ed. StSG IV, S. 315-317 (DLXVII); U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 169-206. – 30. Pommersfelden, Graf Schönbornsche SchlossB 39 (2786) (BStK-Nr. 782): 2 Interlineargll. in Textglossierung von De cons. phil.; Sprache unbestimmt (Hs. Erfurt?), 11. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 113. – 31. Seligenstadt, Prälatur (Landschaftsmuseum) Fragm. (BStK-Nr. 1075): Fragment mit 3 Gll. in Textglossierung von De cons. phil. – Ed. in Vorbereitung durch M. Godden, R. Jayatilaka, R. Love, Boethius in

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Early Medieval Europe (Glossen entdeckt von Rohini Jayatilaka). – 32. Stuttgart, WLB HB XII 21 (BStK-Nr. 875f): Textglossierung von De cons. phil. – Ed. Glossen noch nicht gehoben und nicht ediert. – 33. Trier, StadtB 1093/1694 (BStK-Nr. 881): 13 Gll. (10 interlinear, 3 marginal) in Textglossierung von De cons. phil.; mfrk., 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 69 (Nr. DLXXII). – 34. Trier, StadtB Mappe I, Boethius-Fragment (BStK-Nr. 883 I): 10 Gll. (8 interlinear, 2 marginal) in Textglossierung von De cons. phil.; Sprache unbestimmt (Hs. Trierer Raum), Glossen undatiert (Hs. 11. Jh.). – Ed. StSG II, 69 (Nr. DLXXII). – 35. Wien, ÖNB Cod. 271 (BStK-Nr. 904): 109 Gll. (59 interlinear, 50 marginal) in Textglossierung von De cons. phil.; bair., Ende 10. Jh. – Ed. StSG II, S. 70-72 (Nr. DLXXIII); R. Reiche, ZDA 99 (1970) S. 94-95. – 36. Wien, ÖNB Cod. 311 (BStK-Nr. 907): 23 Interlineargll. in Textglossierung von Übersetzung zu Porphyrios, Isagoge; Sprache unbestimmt, 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 366f. (Nr. DCCLXII).

3. Glossographische Aspekte: Ahd. Glossen zu Boethius begegnen in 36 Hss. aus dem 9. bis 12. Jh. (mindestens 1.598 Gll.). Vier Hss. (mit 27 Gll.) haben eine Textglossierung zu einem Kommentar oder einer Übersetzung zu Porphyrios, Isagoge (St. Gallen, 831, Kopenhagen, Thott 167, f., Paris, lat. 11129, Wien, Cod. 311). Je eine Hs. enthält eine Glossierung zu einem Kommentar zu De trinitate (Melk Nr. 740), zu De institutione musica (Clm 18480) und zu Institutio arithmetica (Clm 18764). 28 Hss. glossieren die Hauptschrift De consolatione philosophiae. Nur die Pariser Hs. lat. 13953 weist die Glossen im Rahmen eines Textglossars auf. Die Hss. Einsiedeln, cod 179 (482) und St. Gallen 845 tradieren die Glossen zu einem Kommentar des Textes. Die verbleibenden 25 Hss. tradieren den Werktext mit einer Textglossierung (BStK-Nr. 23 I, 43a, 45, 69, 90, 117, 126, 132, 154, 242, 281, 343 (II), 408, 413, 418, 572, 619, 657, 668, 713, 782, 875f, 881, 883 I, 904). – Zu dem Seligenstadter Fragment (BStK-Nr. 1075) fehlen noch weitere Erkenntnisse. Ein Spezifikum der Boethiusglossen ist die gehäuft auftretende bfk-Geheimschrift, die etwa bei einem Drittel der ahd. Glossen (528 von 1.598) vorliegt und in zehn Hss. anzutreffen ist (BStK-Nr. 45, 69, 117, 120, 126, 132, 243, 657, 713, 766). Damit liegt der hier auftretende Anteil deutlich höher als bei anderen ahd. glossierten Autoren. Auch sogenannte f-Glossen (dazu auch unter 4.) treten in 29 Fällen und damit gehäuft auf: 10 Gll. in Einsiedeln, cod 179 (482), 9 in St. Gallen 845, 3 in Paris, lat. 13953, 4 in Neapel, ms. IV. G. 68 und 3 in St. Gallen 844. Dabei wird folgende Verteilung erkennbar: Die nicht-alem. Glossenhss. (BStK-Nr 23, 90, 154, 281, 408, 413, 418, 572, 619, 668, 782, 881, 883, 904) enthalten weder bfk- noch f-Glossen. Alle alem. (und allgemein obd.) Hss. enthalten bfk-Glossen und zum Teil f-Glossen, in einem Fall f-Glossen ohne bfk-Glossen (BStK-Nr. 242) (R. Bergmann – St. Stricker, ABÄG 43/44 (1995) S. 13-47). Zu der alem. Gruppe mit Geheimschrift verwendenden Hss. gehören alle drei Hss. mit Kontextgll. (BStK-Nr. 120, 243, 766), die nicht den Boethiustext, sondern nur

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einen Kommentar bzw. ein Glossar überliefern. Die ganze Gruppe stammt aus dem 10. Jh., bis auf BStK-Nr. 132 (11. Jh.). Keine dieser Hss. enthält die Federzeichnung des Boethius, die in sechs anderen Glossenhss. enthalten ist: BStK-Nr. 45, 154, 281, 619, 782, 904. 4. Räumliche und zeitliche Verteilung: Die Glossen werden zu etwa gleichen Anteilen als mfrk., bair. und alem. bestimmt. Dem Mfrk. werden die Glossen von sechs Hss. zugewiesen (189 Gll.): Berlin, Ms. lat. 4º 939 (2 Gll. obd.), Cambridge, MS. 2992, London, Harl. 2685, London, Harl. 3095, Trier, 1093/1694 (früher 1464), Paris, lat. 11129. Die 8 Gll. der Bonner Hs. S 175 Kriegsverlust werden als rhfrk. oder obd. bestimmt. Allgemein obd. sind die Glossen (59) der Hs. Einsiedeln cod 149 (558), ofrk. die Glosse der Bamberger Hs. Class. 3 [f. 1-90]. Die 370 Gll. der Londoner Hs. Arund. 514 sind frk.-alem. Dem Alem. sind die Glossen (672 insgesamt) von sieben Hss. zugewiesen worden: Einsiedeln, cod 302 (450), Einsiedeln, cod 322 (888), St. Gallen 844, Neapel ms. IV. G. 68, Paris, lat. 13953, Einsiedeln, cod 179 (482), St. Gallen 845. Ebenfalls sieben Hss. weisen bair. Glossen (252 insgesamt) auf: Heiligenkreuz, 130, Clm 14324, Clm 15825, Clm 18765, Clm 19452, Wien, Cod. 271, Clm 18764. Zumindest eine Glosse ist as., und zwar in dem verschollenen Koblenzer Fragment. Von den 1.551 lokalisierbaren Glossen gehören damit 12,2% dem Mfrk., 16,3% dem Bair. und 67,2% dem Alem. bzw. Frk.-Alem. an. Die Boethius-Glossierung stellt sich unter dem Aspekt ihrer Entstehung als homogen dar. Sie setzt im 10. Jh. ein, dem die Glossen (588 Gll.) von acht Hss. zugeordnet werden können: Berlin, Ms. lat. 4º 939, St. Gallen 845, Melk Nr. 740, London, Harl. 3095, Clm 18764, Paris, lat. 13953, Neapel, ms. IV. G. 68 (frühes 10. Jh.), Wien, Cod. 271 (Ende 10. Jh.). Dem 10./11. Jh. gehören die 370 Gll. der Londoner Hs. Arund. 514 an und möglicherweise die zwei Gll. des Koblenzer Fragments. Die Glossen (151) von zehn Hss. stammen aus dem 11. Jh.: Bamberg, Msc. Class. 3 [f. 1-90], St. Florian, XI 75, Clm 15825 (1 Gl. 13. Jh.), Clm 18765, Clm 19452 (Anfang), Pommersfelden 39 (2786), Trier, 1093/1694 (früher 1464), Clm 18480, Kopenhagen, Thott 167, f., Wien, Cod. 311. Aus dem 11./12. Jh. stammen die 19 Gll. des Clm 14324. Aus dem 12. Jh. (9 Gll. in Heiligenkreuz 130) und dem 13. Jh. (25 Gll. in Cambridge, MS. 2992) stammen die Glossen je einer Hs., womit die Überliefeung dann auch abbricht. Das 10. bis 11. Jh. stellt sich damit als dominierende Hochzeit der BoethiusGlossierung heraus. 5. Forschungsstand: Handschriftenfiliationen und Beziehungen zwischen den ahd. Glossen: U. Blech (Germ. Glossenstud., S. 164f.) kommt im Kontext ihrer Untersuchung der Pariser Hs. (BStK-Nr. 766) auf der Basis von E. Steinmeyers Edition und W. Bachs Stemma (dazu weiter unten) zu einer St. Gallen-Einsiedeln-Gruppe von acht Hss.: BStK-Nr. 243, 120, 126, 766, 117, 242, 132, 713. Die Pariser Hs.

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(BStK-Nr. 766) stellt sie unter anderem wegen der vergleichsweise niedrigen bfkGlossenzahl (13 von 91 Gll.) zu BStK-Nr. 713 (2 von 58 Gll.) und BStK-Nr. 242 (keine von 44 Gll.). Nach Merkmalen der Überlieferung, wozu die bfk-Geheimschrift gehört, hebt sich eine Gruppe alem. Glossenhss. aus St. Gallen und Einsiedeln deutlich von den anderen ab. Dieser Befund findet seine Bestätigung in der inneren Zusammengehörigkeit der Glossen. Dass dieser Befund nicht leichthin durch Abschrift der Hss. aus einer gemeinsamen, die gleichen Merkmale aufweisenden Vorlage erklärt werden kann, zeigt sich schon allein an den unterschiedlichen Fassungen des lat. Boethiuskommentars in den alem. Hss. (U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 167). W. Schröder (ZDA 87 [1957] S. 196f., 208-211) hat sich mit den f-Zusätzen der Boethiusglossen befasst. Er hält es für unwahrscheinlich, dass der Boethiusglossator „mit seinen f ein sprachliches Bekenntnis ablegen wollte“ (ebenda, S. 211). Vielmehr sieht er in den f-Zusätzen eine im 10. Jh. nicht mehr verstandene Gewohnheit der Reichenauer Schule, die von einzelnen Schreibern aufgegriffen und nachgeahmt worden ist. Die f-Glossen in der Boethiusglossierung könnten durch Schreibstubengemeinschaft des Boethiusglossators mit dem Glossator des Sangallensis 299 entstanden sein, der die f-Markierung bei 152 Glossen zu verschiedenen Schriften vorgenommen hat (ebenda). In jedem Fall wird die Beobachtung H. Thomas, dass fGlossen „vor allem (...) in St. Galler Hss. begegnen“, durch den hier sichtbar gewordenen Befund bestätigt (in: 2RL I, S. 580). W. P. Tax (Sprachwissenschaft 26 [2001] S. 327-416) hat in einer umfangreichen Einzeluntersuchung der Hs. Einsiedeln, cod 179 (482) gezeigt, dass die lat. Glossen „nicht nur öfter auf die Bedeutung der deutschen eingewirkt haben (Quereinfluss), sondern dass auch in mehreren Fällen nur oder zumindest hauptsächlich die lateinische Glosse verdeutscht wurde“, also sozusagen eine Glossenglossierung vorliegt (P. W. Tax, in: BStH I, S. 520). Die Zusammengehörigkeit von bestimmten Boethius-Hss. und ihrer Glossierung hat E. v. Steinmeyer bereits durch eine gemeinsame Edition unter einer Nummer kenntlich gemacht: BStK-Nr. 120, 243, 126 und 766 (StSG II, S. 54, Nr. DLXVII und IV, S. 315, Nr. DLXVII). Für BStK-Nr. 117 und 242 ist durch die Verweise von E. v. Steinmeyer von einer Editionsnummer zur anderen ein Zusammenhang mit den vier anderen angezeigt: BStK-Nr. 117: bei 50 von 59 Gll., BStK-Nr. 242: bei 21 von 44 Gll. Unter Berücksichtigung der Korrekturen von T. Starck (in: Medieval Studies, S. 304-308) und H. Thoma (PBB 73 [1951] S. 234-237) lassen sich nach P. W. Tax (in: BStH I, S. 515-518) folgende Gruppierungen festhalten: StSG II, S. 54-63: St. Gallen 845, Einsiedeln, cod 179 (482), Einsiedeln, cod 302 (450), Paris, lat. 13953 – StSG II, S. 63f.: Einsiedeln, cod 149 (558) – StSG II, S. 65f.: St. Gallen 844, jetzt auch: Neapel, ms. IV. G. 68 und Wien, Cod. 271 – StSG II, S. 66: Einsiedeln, cod 322 (888)

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– StSG II, S. 66-69: Berlin, Ms. lat. 4º 39; Heiligenkreuz 130 – StSG II, S. 69: Trier, 1093/1694 (früher 1464), Trier, Mappe I, Boethius-Fragment – StSG II, S. 72f.: Clm 18765 – StSG II, S. 73f.: Clm 15825 – StSG II, S. 74: Clm 14324, Cambridge, MS. 2992 – StSG II, S. 75: Clm 19452 – StSG II, S. 75: Bonn, S 175 Kriegsverlust – StSG II, S. 75-81: London, Arund. 514 – StSG II, S. 81: St. Florian, XI 75. Nicht einzuordnen sind nach derzeitigem Kenntnisstand: Bamberg, Msc. Class. 3 [f. 1-90], London, Harl. 2685, Pommersfelden, 39 (2786), Koblenz, LandeshauptA Best. 701 Nr. 759 (Boethius-Fragment, verschollen). Es ist noch nicht untersucht worden, ob die lat. Glossen den Befund bestätigen können. Ausgehend von den lat. Glossen lassen sich drei Gruppen unterscheiden: R (eine in Frankreich und England verbreitete lat. Glossierung; einige Hss. weisen ahd. Glossen auf, die aus G stammen); G (anonyme, vor allem auf dt. Gebiet vorkommende Gruppe mit dem Hauptzentrum St. Gallen; der Anonymus Sangallensis besteht aus einer kürzeren und einer längeren Version: AnSgk. und AnSgl.), O (Hss. mit lat., gelegentlich auch dt. Glossen, die noch kaum untersucht worden sind). Noch nicht untersucht worden ist auch das Verhältnis der ahd. Glossen zum jeweiligen Grundtext und seinen Versionen. Die ältere Untersuchung von W. Bach über die Glossen der Consolatio-Hss. und deren Benutzung in Notkers Bearbeitung des Textes kommt (auf der Grundlage der Edition von StSG) zu dem Ergebnis, dass alle Glossen der Edition von StSG auf nur eine Grundfassung zurückgehen würden. Zudem versucht W. Bach nachzuweisen, dass Notker nur den Sangallensis 845 benutzt hätte. P. W. Tax (in: BStH I, S. 517f.) bezweifelt diese Festlegungen, da einige Hss. in ihrem Glossengut selbstständig sind. Zudem finden sich auch mehrfach Kombinationen von dt. Glossenversionen. Auch die lat. Glossen sprechen gegen eine einheitliche Vorlage. Eine Aufarbeitung aller glossierten Hss. wird derzeit von J. S. Wittig (ASE 11 [1983] S. 186-189) unternommen. Auf der Basis der von J. S. Wittig erarbeiteten, aber noch nicht publizierten Materialien fasst W. P. Tax relevante Beobachtungen zusammen. Demnach lassen sich nur für wenige Hss. sichere Filiationen nachweisen: Die (ursprünglich St. Galler) Version (AnSgk) in der Hs. Neapel ms. IV. G. 68 ist fast sicher unmittelbare Vorlage des schwer oder nicht mehr lesbaren Sangallensis 844. Sie kann als ursprüngliche Fassung der St. Gallener Hss.gruppe betrachtet werden. Diese Glossierung wurde wohl „gegen Ende des 10. Jahrhunderts in Form eines fortlaufenden lateinisch-deutschen ‘Consolatio’-Kommentars in St. Gallen oder Umgebung neu bearbeitet, das heißt, gelegentlich verkürzt, aber öfter mit anderweitigem Material ergänzt zu einer längeren Version (AnSgl). Sie ist in der Einsiedler Hs. 179 vollständig erhalten (Wittig E1), eine direkte, öfter ungeschickte Abschrift davon findet sich in der nicht ganz vollständigen Abschrift St. Gallen 845 (Wittig G, etw 2. Viertel des 11. Jahrhunderts)“. (P. W. Tax, in: BStH I, S. 512f.).

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6. Umfang und Bedeutung: Die Glossierung der Werke des Boethius steht in der Literatur der Spätantike mit großem Abstand zu Ú Prudentius, der mit 74,1% der Glossen fast zwei Drittel dieses Bereichs ausmacht, an zweiter Stelle (9,8%). Damit rangiert Boethius unmittelbar vor Ú Arator (9,1%), während zu Ú Sedulius (2,6%), Ú Juvencus (1,7%) und Ú Avitus von Vienne (1,5%) bereits ein deutlicher Abstand besteht. Alle weiteren Autoren spielen quantitativ keine nennenswerte Rolle. Im Kontext der Glossierung nichtbiblischer Texte insgesamt liegt Boethius mit einem Anteil von 2,7% an 6. Stelle. Voraus gehen Gregor der Große (23,1%), Prudentius (20,0%), Vergil (11,0%), Canones (10,5%) und Smaragdus von St. Mihiel (3,2%). Boethius liegt hingegen vor Arator (2,5%), Herrad von Landsberg (2,0%) und Hieronymus (1,7%), deren Glossenzahlen alle ebenfalls vierstellig sind. Das Werk des Boethius gehört zweifellos zu jenen antiken Werken, die im klösterlichen Schulunterricht des 10. und 11. Jh.s eine Rolle spielten, wobei die ahd. Glossen Instrument des Verständnisses und der Aneignung des Stoffes waren. 7. Literatur: BStK-Nr. 23 I, 43a, 45, 69, 90, 117, 120, 126, 132, 154, 241, 242, 243, 281, 356, 408, 413, 418, 430, 572, 619, 644, 656, 657, 668, 713, 761, 766, 782, 875f, 881, 883 I, 904, 907; R. Bergmann, in: BStH I, S. 89f., 118-121; W. Bach, Die althochdeutschen Boethiusglossen und Notkers Übersetzung der Consolatio, Dissertation Halle/Wittenberg, Würzburg 1934; E. Krotz, Der Schatz der Wörter. Rezension über R. Schützeichel, Althochdeutscher und Altsächsischer Glossenwortschatz, Tübingen 2005, IASLonline, http://iasl.uni-muenchen.de, 2006, Absatz 86; R. Bergmann – St. Stricker, Die althochdeutschen Boethiusglossen. Ansätze zu einer Überlieferungstypologie, ABÄG 43/44 (1995) S. 13-47; M. Bernhard, Boethius im mittelalterlichen Schulunterricht, in: Schule und Schüler im Mittelalter, S. 11-27; U. Blech, Germ. Glossenstud.; D. Bolton, Illustrations in Manuscripts of Boethius' Works, in: Boethius, S. 428-437; M. Chappell, Old High German Glosses to Boethius in MS Cambridge Add. 2992, MLR 82 (1987) S. 376-381; M. Gibson, Boethius in the Carolingian Schools, TRHS 32 (1982) S. 43-56, wiederabgedruckt in: M. Gibson, ‘Artes’ and Bible in the Medieval West, Variorum Collected Studies Series 399, S. 43-56 [= VI]; M. Gibson, Boethius in the tenth century, MJB 24/25 (1989-1990) S. 117-124; M. Godden – R. Jayatilaka – R. Love, Boethius in Early Medieval Europe [in Druckvorbereitung]; H. Naumann, Notkers Boethius. Untersuchungen über Quellen und Stil, QF 121, Straßburg 1913; M. B. Parkes, Copies of Boethius in Anglo-Saxon England: A Note on Vatican, Bibl. Apost., MS Vat. Lat. 3363, in: Boethius, S. 425-427, wiederabgedruckt in: M. B. Parkes, Scribes, Scripts and Readers. Studies in the Communication, Presentation and Dissemination of Medieval Texts, London/Rio Grande 1991, S. 259-262; R. Reiche, Unbekannte Boethiusglossen der Wiener Handschrift 271, ZDA 99 (1970) S. 90-95; G. Schepss, Handschriftliche Studien zu Boethius De consolatione philosophiae, Programm der Königlichen Studien-Anstalt Würzburg für das Studienjahr 1880/81, Würzburg 1881; G. Schepss, Funde und Studien zu Apollonius Tyrius, Chartarium Farfense, Donat, Boethius und zur lat. Glossographie, NAGG 9 (1884) S. 173-194; E. T. Silk, Notes on Two Neglected Manuscripts of Boethius’ Consolatio Philosophiae, TPAPhA 70 (1939) S. 352-356; T. Starck, Unpublished Old High German Glosses to Boethius and Prudentius, in: Mediaeval Studies in Honor of Jeremiah Denis Matthias Ford, S. 301-317; P. W. Tax, Notker der Deutsche.

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Canones-Glossierung

Boethius, ‘De consolatione Philosophiæ’. Buch I/II, Die Werke Notkers des Deutschen. Neue Ausgabe 1, ATB 94, Tübingen 1986; P. W. Tax, Überblick über die Glossierungen der ‘Consolatio Philosophiae’ des Boethius, in: BStH I, S. 511-524; P. W. Tax, Die althochdeutschen ‘Consolatio’-Glossen in der Handschrift Einsiedeln 179: Grundtext- oder Glossenglossierung? Ein neuer systematischer Ansatz, Sprachwissenschaft 26 (2001) S. 327-416; H. Tiefenbach, in: BStH II, S. 1217f.; H. Thoma, PBB 73 (1951) S. 197-271; C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberl., S. 253, 295, 339; J. S. Wittig, ASE 11 (1983) S. 186-189.

STEFANIE STRICKER

‘Buchunterschrift, Weingartner’ Ú ‘Weingartner Buchunterschrift’ Canones, Althochdeutsche Glossierung 1. Vorbemerkung: Unter der Glossierung nichtbiblischer Texte nehmen die Canones nach Gregor dem Großen, Prudentius und Vergil mit über 6.300 Glossen (=10,5%) den vierten Platz ein, der in dem Artikel von R. Bergmann und S. Blum, Überblick über die Canones-Glossierung, in: BStH I, S. 549-561, gewürdigt wird. Auf diesen Artikel wird insbesondere wegen der detaillierten Darstellung der Überlieferung ausdrücklich verwiesen. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: Eine Übersicht über die Hss. mit ihrer Datierung und Lokalisierung sowie der Zahl und Art der Glossen, ihrer Eintragungszeit im Eintragungsort liefert der Artikel in BStH I, S. 549-561. Diese Daten werden hier nicht wiederholt; es wird lediglich zu jeder Hs. die Edition der Gll. angegeben. – 1. Bamberg, SB Can. 2 (BStK-Nr. 22) – Ed. StSG IV, S. 324f. (Nr. DCVIIb Nachtr.). – 2. Berlin, SBPK Ms. Phillipps. 1741 (BStK-Nr. 39) – Ed. StSG IV, S. 318-320 (Nr. DLXXXIII Nachtr.). – 3. Berlin, SBPK Ms. Hamilt. 132 (BStK-Nr. 47) – Ed. StSG IV, S. 321 (Nr. DLXXXVIIa Nachtr.). – 4. Bern, BB Cod. 89 und Cod. 493 (BStK-Nr. 61) – Ed. StSG II, S. 87f. (Nr. DLXXXVI); Nachträge bei H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 14-16. – 5. Einsiedeln, StB cod 32 (1060) (BStK-Nr. 112) – Ed. StSG II, S. 150 (Nr. DC). – 6. Einsiedeln, StB cod 205 (416) (BStK-Nr. 122) – Ed. StSG II, S. 151 (Nr. DCII). – 7. St. Florian, StB III 222 B (BStK-Nr. 152) – Ed. StSG II, S. 105, 115-128 (Nr. DXCI). – 8. Frankfurt, Stadt- und UB Ms. Barth. 50 (BStK-Nr. 156) – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 29; G. Powitz – H. Buck, Die Handschriften des Bartholomaeusstifts und des Karmeliterklosters in Frankfurt am Main, Frankfurt (Main) 1974, S. 105. – 9. Frankfurt, Stadt- und UB Ms. Barth. 64 (BStK-Nr. 157) – Ed. StSG II, S. 144-149 (Nr. DXCVIII). – 10. Fulda, HLB Aa 2 [f. 36-204] (BStK-Nr. 163 (II)) – Ed. StSG II, S. 93-96 (Nr. DLXXXIX); V, S. 100, Z. 7. – 11. St. Gallen, StB 299 (BStK-Nr. 225) – Ed. StSG II, S. 93-96 (Nr. DLXXXIX), S. 138f. (Nr. DXCIII). – 12. Hamburg, SUB Codex 141a in scrin. (BStK-Nr. 272) – Ed. StSG II, S. 26 (Nr. DXXVII). – 13. Karlsruhe, BLB Fragm. Aug. 183 (BStK-Nr. 320) – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 41. – 14. Kassel, UB, LB und MB 4º theol. 1 (BStK-Nr. 335) – Ed. J. Hofmann, PBB 85 (Halle 1963) S. 128; K. Siewert, Glossenfunde, S. 39. – 15. Köln, EDDB Dom Hs. 120 (BStK-

Canones-Glossierung

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Nr. 355b) – Ed. H. Mayer, Vier althochdeutsche Glossen aus Köln und Wolfenbüttel, ABÄG 13 (1978) S. 31f. – 16. Köln, EDDB Dom Hs. 213 (BStK-Nr. 355) – Ed. J. Hofmann, PBB 85 (Halle 1963) S. 43. – 17. Leiden, UB Voss. lat. q. 69 (BStK-Nr. 372) – Ed. StSG II, S. 150 (Nr. DC). – 18. Leipzig, UB Rep. II. 6 (BStK-Nr. 384) – Ed. StSG II, S. 140-144 (Nr. DXCVII), I. Frank, Die althochdeutschen Glossen der Handschrift Leipzig Rep. II. 6, S. 41122. – 19. London, BL Add. 34248 (BStK-Nr. 402) – Ed. StSG II, S. 151 (Nr. DCIV). – 20. London, BL Arund. 393 (BStK-Nr. 407) – Ed. StSG II, S. 149f. (Nr. DXCIX); Berichtigungen und Nachträge bei P. Piper, LBGRPh 3 (1897) S. 76; H. Thoma, PBB 73 (1951) S. 199f. – 21. Madrid, Biblioteca de la Real Academia de la Historia 46 (BStK-Nr. 425) – Ed. StSG II, S. 83f. (Nr. DLXXXIII). – 22. Metten, KlosterB Fragm. s. n. (BStK-Nr. 1040) – Ed. B. Bischoff, Die südostdt. Schreibschulen, II, S. 254. – 23. Montecassino, Archivio 541 (BStKNr. 438) – Ed. StSG IV, S. 330 (Nr. DLXXXV Nachtr.). – 24. München, BSB Clm 3860a (BStK-Nr. 470) – Ed. StSG II, S. 105-137 (Nr. DXCI); V, S. 100f. – 25. München, BSB Clm 5508 (BStK-Nr. 496) – Ed. StSG IV, S. 323f. (Nr. DXCI Nachtr.). – 26. München, BSB Clm 5525 (BStK-Nr. 498) – Ed. StSG V, S. 24f. (Nr. DCIa). – 27. München, BSB Clm 6028 (BStK-Nr. 499) – Ed. StSG II, S. 775 (Nr. DXCI Nachtr.). – 28. München, BSB Clm 6241 (BStK-Nr. 508) – Ed. StSG II, S. 140 (Nr. DXCVI). – 29. München, BSB Clm 6242 (BStKNr. 509) – Ed. StSG II, S. 105-109, 111-136 (Nr. DXCI). – 30. München, BSB Clm 6244 (BStK-Nr. 510) – Ed. StSG II, S. 151 (Nr. DCIII). – 31. München, BSB Clm 6355 (BStK-Nr. 530) – Ed. StSG II, S. 89f. (Nr. DLXXXVII a), S. 151 (Nr. DCI). – 32. München, BSB Clm 14407 (BStK-Nr. 581) – Ed. StSG II, S. 97-104 (Nr. DXC). – 33. München, BSB Clm 14517 (BStK-Nr. 598) – Ed. StSG II, S. 138 (Nr. DXCII). – 34. München, BSB Clm 14628 (BStKNr. 602) – Ed. StSG IV, S. 342 (Nr. DCCLXb). – 35. München, BSB Clm 14689 (BStK-Nr. 604) – Ed. StSG II, S. 106-137 (Nr. DXCI). – 36. München, BSB Clm 14727 (BStK-Nr. 607) – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 93. – 37. München, BSB Clm 14747 (BStK-Nr. 611) – Ed. StSG II, S. 97-104 (Nr. DXC). – 38. München, BSB Clm 18140 (BStK-Nr. 637) – Ed. StSG II, S. 105-137 (Nr. DXCI). – 39. München, BSB Clm 19417 (BStK-Nr. 663) – Ed. StSG II, S. 97-104 (Nr. DXC), Berichtigungen StSG IV, S. 570, Nr. 446. – 40. München, BSB Clm 19440 (BStK-Nr. 665) – Ed. StSG II, S. 97-104 (Nr. DXC), S. 105-137 (Nr. DXCI), Nachtrag StSG V, S. 100, Z. 42, S. 101, Z. 38. – 41. München, BSB Clm 29552/1 (BStK-Nr. 705) – Ed. B. Bischoff, PBB 52 (1928) S. 168. – 42. St. Omer, Bibliothèque de l'agglomération 150 (BStK-Nr. 718) – Ed. StSG II, S. 150 (Nr. DC); M. Gysseling, Altdeutsches in nordfranzösischen Bibliotheken, Scriptorium 2 (1948) S. 60f.; U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 75-86. – 43. Ottobeuren, Bibliothek der Abtei Ms. o. 66 (BStK-Nr. 1045) – Ed. H. Thoma, Canones-Glossen, PBB 97 (Halle 1976) S. 290. – 44. Oxford, BodlL Laud misc. 436 (BStKNr. 739) – Ed. StSG II, S. 157 (Nr. DCXVIII), Korrekturen bei J. Hofmann, PBB 85 (Halle 1963) S. 95f. – 45. Paris, BNF lat. 3843 (BStK-Nr. 774a) – Ed. H. Mayer, Die althochdeutschen Glossen der Handschrift Paris, BN lat. 3843, ABÄG 15 (1980) S. 55-57. – 46. Paris, BNF lat. 3848 (BStK-Nr. 742) – Ed. StSG II, S. 82-84 (Nr. DLXXXIII); U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 332-353. – 47. Paris, BNF lat. 12445 (BStK-Nr. 764) – Ed. StSG II, S. 89f. (Nr. DLXXXVIIa); U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 270-289. – 48. Paris, BNF lat. 12447 (BStK-Nr. 765) – Ed. StSG II, S. 90 (Nr. DLXXXVIIb); U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 270289. – 49. Paris, BNF Nouv. acquis. lat. 1296 (BStK-Nr. 774d) – Ed. H. Mayer, Althochdeutsche Canonesglossen aus drei spanischen Handschriften, PBB 102 (1980) S. 312-323. – 50.

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Canones-Glossierung

Paris, BNF Nouv. acquis. lat. 1297 (BStK-Nr. 774) – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 112; H. Mayer, PBB 102 (1980) S. 312-323. – 51. Reims, BM 671 (BStK-Nr. 790) – Ed. StSG II, S. 89f. (Nr. DLXXXVIIa). – 52. Rom, BAV Ottob. lat. 3295 (BStK-Nr. 792) – Ed. H. Mayer, Die althochdeutschen Griffelglossen der Handschrift Ottob. Lat. 3295 (Biblioteca Vaticana), Bern/Frankfurt (Main) 1982, S. 20-115. – 53. Rom, BAV Vat. lat. 1347 (BStK-Nr. 836i) – Ed. Spicilegium Casinense, I, S. 349-353. – 54. Rom, BAV Vat. lat. 7222 (BStK-Nr. 836) – Ed. StSG IV, S. 321 (Nr. DLXXXVIIa Nachtr.); Berichtigungen bei H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 242. – 55. Salzburg, Museum Carolino-Augusteum Hs. 2163 (BStK-Nr. 838) – Ed. StSG IV, S. 321-323 (Nr. DXC Nachtr.). – 56. Salzburg, UB M II 279 (BStK-Nr. 846) – Ed. StSG II, S. 131-135 (Nr. DXCI). – 57. Schlettstadt, BH Ms. 7 (BStK-Nr. 849) – Ed. StSG II, S. 93-96 (Nr. DLXXXIX), Nachtrag StSG V, S. 100; StSG II, S. 139f. (Nr. DXCIV), Nachtrag StSG V, S, 102. – 58. Schlettstadt, BH Ms. 132 (BStK-Nr. 850) – Ed. StSG II, S. 366 (Nr. DCCLX). – 59. Straßburg, BNU C. V. 6 verbrannt (BStK-Nr. 856) – Ed. StSG II, S. 26 (Nr. DXXVI). – 60. Stuttgart, WLB HB VI 109 (BStK-Nr. 868) – Ed. StSG II, S. 82-85 (Nr. DLXXXIII), Nachtrag StSG V, S.100. – 61. Stuttgart, WLB HB VI 112 (BStK-Nr. 875c) – Ed. J. Autenrieth, Die Domschule von Konstanz zur Zeit des Investiturstreits, Stuttgart 1956, S. 88. – 62. Wien, ÖNB Cod. 361 (BStK-Nr. 909) – Ed. StSG II, S. 105-137 (Nr. DXCI), Nachtrag StSG V, S. 100. – 63. Wien, ÖNB Cod. 804 (BStK-Nr. 926) – Ed. StSG II, S. 136f. (Nr. DXCI). – 64. Wien, ÖNB Cod. 2171 (BStK-Nr. 942) – Ed. StSG II, S. 152 (Nr. DCVI). – 65. Wien, ÖNB Cod. 2723 (BStK-Nr. 949) – Ed. StSG II, S. 105-137 (Nr. DXCI), S. 152 (Nr. DCV). – 66. Wien, ÖNB Cod. 2732 (BStK-Nr. 950) – Ed. StSG II, S. 105-137 (Nr. DXCI), S. 152 (Nr. DCV). – 67. Wolfenbüttel, HAB 842 Helmst. (BStK-Nr. 967) – Ed. StSG II, S. 86 (Nr. DLXXXV). – 68. Wolfenbüttel, HAB 3 Weiss. (BStK-Nr. 968) – Ed. StSG IV, S. 324 (Nr. DXCIIa Nachtr.). – 69. Würzburg, UB M. p. th. f. 3 (BStK-Nr. 978) – Ed. StSG IV, S. 324 (Nr. DCIVb Nachtr.). – 70. Würzburg, UB M. p. th. f. 28 (BStK-Nr. 987) – Ed. StSG II, S. 152 (Nr. DCVII). – 71. Würzburg, UB M. p. th. f. 146 (BStK-Nr. 995) – Ed. StSG II, S. 85f. (Nr. DLXXXIV), Nachträge bei J. Hofmann, PBB 85 (Halle 1963) S. 84; StSG II, S. 91-93 (Nr. DLXXXVIII). – 72. Würzburg, UB M. p. th. q. 60 [f. 1-6] (BStK-Nr. 998 (I) – Ed. StSG II, S. 135-137 (Nr. DXCI).

3. Charakterisierung: Neben den Canones sind weitere kirchliche Rechtstexte glossiert worden, so Kanonikerregeln, die Benediktinerregel und Poenitentialia; doch spielt deren ahd. Glossierung quantitativ eine weit geringere Rolle (Ú ‘Benediktinerregel’, Althochdeutsche Glossierung). Die Canones werden überwiegend in der redaktionellen Form der sogenannten Dionysio-Hadriana glossiert, und zwar zu fast drei Viertel in Textglossaren, zu einem Viertel in Textglossierung. Dabei zeichnet sich eine funktionale Verteilung ab: Texthss. der Canones enthalten mehr oder weniger umfangreiche Textglossierungen, manchmal auch als Zugabe kürzere Textglossare. Oft sind die Canones in diesen Hss. mit weiteren kirchenrechtlichen Texten zusammen überliefert. Einige Glossierungen sind eingehender untersucht worden: Frankfurt am Main Ms. Barth. 64 (Ausst.17) mit über 300 Glossen von S. Blum, Leipzig, Rep. II. 6 mit 185 Gll. von I. Frank. Daneben stehen die reinen Glossar-Hss., in denen die Canones-Glossare meist mit anderen Glossaren zusammen

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überliefert werden, so mehrfach mit dem Ú ‘Mondseer Bibelglossar’, mit Glossaren zu Werken Ú Gregors des Großen u.a. Diese Glossar-Hss. können funktional der Kleriker-Ausbildung zugeordnet werden, die Text-Hss. eher der kirchlichen Rechtspraxis; in einem Fall (Rom, Ottob. lat 3295) wurde von R. Kottje von einem „auf praktische Bedürfnisse der Diözesanleitung abgestellte[n]“ „Handbuch für den Gebrauch des Bischofs“ gesprochen. 4. Literatur: R. Bergmann – S. Blum, Überblick über die Canones-Glossierung, in: BStH I, S. 549-561; S. Blum, Wortschatz und Übersetzungsleistung in den althochdeutschen Canonesglossen der Handschrift Frankfurt am Main Ms. Barth. 64 (Ausst. 17), SB Leipzig, Philol.-Hist. Klasse, Band 126, Heft 7, Berlin 1986; S. Blum, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 475484; I. Frank, Die althochdeutschen Glossen der Handschrift Leipzig Rep. II.6, Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 7, Berlin/New York 1974; R. Kottje, Zu Geschichte und Inhalt einer rheinischen Handschrift in der Vatikanischen Bibliothek, RQ 59 (1964) S. 79-87.

ROLF BERGMANN

‘Capitulare, Trierer’ Ú ‘Trierer Capitulare’ ‘Carmen ad deum’ Lateinischer, gereimter und alliterierender Gebetshymnus ‘Sancte sator’, 29 Verse, mit intralinearer bairischer Übersetzung, die vor der Mitte des 9. Jh.s entstand und ursprünglich interlinear aufgezeichnet gewesen sein wird. Das lat., typusgemäß anonym überlieferte Original verfasste mit höchster Wahrscheinlichkeit der aus Kilikien stammende Theodor von Tarsus (602-690), der von 668-690 Erzbischof von Canterbury war (Lapidge). Er begründete damit nach griechischem Vorbild eine neue metrisch-rhythmische Form des lat. Hymnus (Achtsilbner aus vier Trochäen mit zweisilbigem Binnenreim). 1. Lateinische Überlieferung: (Hierzu allgemein F. Rädle, in: 2VL I, Sp. 1174-1177, und E. Hellgardt 2008. Der lat. Text ist in acht Hss. erhalten: in sechs weit verstreuten kontinentalen vom 1. Drittel bis zum 3. Viertel des 9. Jh.s, in zwei englischen vom frühen 9. und vom 11. Jh. sowie in einer aus dem 16. Jh., deren Provenienz unbekannt ist; wichtigste Trägerhandschrift ist das Book of Cerne vom Anfang des 9. Jh.s (ed. A. B. Kuypers), ein für die private Verwendung eines Bischofs bestimmtes Andachtsbuch. Auf den Kontinent gelangte ‘Sancte sator’ durch Vermittlung Alcuins, der es in sein weit verbreitetes ‘Enchiridion’ aufgenommen hat und es auch in einem seiner Gedichte (MHG Poetae IV, 3) ausschreibt. Das ‘Enchiridion’ hatte Alcuin dem Erzbischof Arn von Salzburg (ca. 740-821) in einem Brief vom Jahre 802 gewidmet

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(MGH Epist. Karol. Aevi II, Nr. 259) und es für ihn als Andachtsbuch zum privaten Gebrauch zu Hause und auf Reisen bestimmt (E. Hellgardt 2008, S. 6-7). 2. Überlieferung der Bilingue: Trägerhandschrift ist München, BSB Clm 19410 aus Passau (nicht vor 846). Mittelalterliche Bibliotheksheimat war das Benediktinerkloster Tegernsee, wohin die Hs. vermutlich über Ilmmünster gekommen ist. Sie besteht aus 2 Teilen, I: p. 1-62, 9. Jh., Mitte und II: p. 63-67, 9. Jh., Anfang; s. B. Bischoff FMSt 5 (1971) S. 125 und B. Bischoff Katalog II, S. 271, Nr. 3319f. Das Alter der Bindeeinheit ist unbekannt. Inhalt: Ausführliche Beschreibung bei StSG IV, S. 568; neu in BStK-Nr. 660 (mit Lit.). – Teil I: p. 1-23 Frage- und Antwortbüchlein; p. 24-60 ahd. Glossen zur Benediktinerregel, zur Bibel, zu Isidor von Sevilla ‘De officiis ecclesiasticis’ und Sachglossare; dazwischen p. 39-41 das ‘Carmen ad Deum’ und im unmittelbaren Anschluss daran: Dactilus habet semper unam syllabam longam et breues duas. Spondeus uero longas duas; p. 41-51 sieben Brief- und Urkundenformulare Passauer Provenienz (MGH Formulae Merow. et Karol aevi S. 456-460); p. 58 und p. 59 Runen- und griechisches Alphabet mit Glossen; p. 61-62 Enzyklika Erzbischof Arns von Salzburg (s. o.) auf der Synode von Reisbach/Riesbach (799/800). – Teil II: p. 6365 Ephraem Syrus, Predigt; p. 65 Grabschrift eines Eio; p. 66 Grabschrift eines Bischofs und eines Hrotrohc; p. 67 Schreiben eines Schülers an seinen Lehrer; Brief Bischof Hartwigs von Passau (840-866). 3. Ausgaben – Faksimiles – Übersetzungen: Zu den Ausgaben allgemein F. Rädle, 2VL I, Sp. 1174-1177, und E. Hellgardt 2008. – Ausgaben des lat. Originals: C. Blume; A. B. Kuypers, M. Lapidge (Abdruck nach dem Book of Cerne); A. E. Schönbach. – Ausgaben der Bilingue und des lat. Originals: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XXXVII, S.290-292; MSD Nr. LXI, I, S.221-222; II, S. 353-356; G. Baesecke; M. Gretsch – H. Gneuss; E. Hellgardt 2008; St. Müller, Ahd. Lit., S. 212-215, Kommentar S. 367-369. – Zu Abbildungen und Digitalisat vgl. PadRep. – Übersetzungen des lat. Originals: G. Baesecke; E. Hellgardt (auch der ahd. Intralinearversion); M. Lapidge (englisch); St. Müller (auch der ahd. Intralinearversion); A. E. Schönbach.

4. Zum lateinischen Text: (Zitate nach Verszahlen) Der Hymnus ruft den Schöpfergott als „Sämann“ (sator) an, der als rechtsgewaltiger Gesetzgeber (legum lator, iure pollens) ein fester Fels im Himmel ist. Er preist ihn als largus dator (milter kepo), Schöpfer der Meere, auf denen die Schiffe dahingleiten, als Schöpfer von Erde, Licht und Himmel (1-9). Nun folgen Bitten des Sängers an den Himmelsherrscher Christus: er möge ihn vor den grausigen Geschossen seiner Sünden mit seinem Schild und seinen Waffen schützen, vor den Geschossen, die der Teufel als Räuber auf ihn in seiner Fleischlichkeit und Geschlechtlichkeit schießt, auf seine Lenden, seine Rippen und sein Herz (10-23). Den Abschluss bildet ein Fürbittverlangen an Maria als alma

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tutrix atque nutrix: sie möge die Hände des Sünders stützen, damit er trotz sündigem Herzen Christus Dank sagen und sich seiner Gnade erfreuen könne (24-29). Der Hymnus ist mit diesem Aufbau strukturverwandt mit Ú ‘Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet’: Auch im ‘Sancte sator’ werden die Gebetswünsche mit Bezug auf den „Präzedenzfall“ des Schöpfungsgeschenks vorgebracht, und auch hier deutet sich eine funktionale Analogie an mit dem aus „Präzedenz“-historiola und magischem Befehl konstruierten Funktionstyp des Zauberspruchs – bei Gebetstexten ein durchaus nicht seltener Fall. Zur literarischen Charakterisierung des Hymnus kann auf die Arbeit A. E. Schönbachs verwiesen werden. Sie stellt ‘Sancte sator’ typologisch in einen dreifachen Zusammenhang, vor allem in den der sog. Lorica-, d. h. Panzer-Gedichte (nach Ephes. 6,11 und 1. Thess. 5,8). Sodann lässt sich der Hymnus dem Typus glossematischer Gedichte zuordnen, wie sie als Stücke zur Einübung besonderen Vokabulars aus dem Schulbetrieb erwuchsen. Dafür spricht vor allem die besondere Bedeutung poetischen Wortguts aus Vergils ‘Aeneis’, aber auch aus zahlreichen anderen Schulautoren, ferner spricht für diesen Hintergrund, dass etliche Wörter des ‘Sancte sator’ nur aus dem glossographischen Umfeld belegt sind. Neben diese Quellen aus dem Schulbereich tritt als Drittes in vielerlei Überschneidungen mit dem Schulvokabular noch der Wortschatz der Vulgata. Auch die verskundliche lat. Bemerkung im Anschluss an den Text, Dactilus habet semper unam syllabam longam et breues duas. Spondeus uero longas duas führt in die Umgebung der Schulstube. 5. Zur Intralinearversion: (Zitate nach Verszahlen) M. Gretsch – H. Gneuss vermuten als Quellen der ahd. Übersetzung an etlichen Stellen ae. Glossen und Randscholien oder auch as. Glossen, die auf ae. Vorbilder zurückweisen und als Spuren der angelsächsischen Festlandmission zu gelten hätten. Der bairische Übersetzer ist dem schwierigen lat. Text mit seinen Gräzismen und seinem preziösen lat. Vokabular in vieler Hinsicht nicht gewachsen gewesen; darüber vgl. im Einzelnen mit Bezug auf ältere Forschung E. Hellgardt (Kommentar). Von bewusster stilistischer Formung kann keine Rede sein. Unstimmigkeiten der Übersetzung mit dem lat. Text können freilich zum Teil darauf zurückgeführt werden, dass im Clm 19410 der lat. Text aus einer anderen Vorlage stammt als der deutsche, ohne dass die so zustande kommenden Unstimmigkeiten ausgeglichen worden wären. Angeglichen an eine falsche Lesart wurde die Übersetzung aber in Vers 9. Hier ist celum (9) anstelle von (richtig reimendem) polum wohl aus einer Glosse in den Text geraten und nach dieser Fassung wird mit himile auch übersetzt. Aber in Vers 1 könnte statt richtigem sator (1) pater aus einer Glosse in den Text gekommen sein, was zur Übersetzung fater geführt hätte. Statt uerrunt „(durch das Wasser) gleiten“ (6) könnte ferrunt vorgelegen haben, wodurch sich die Übersetzung forrent „führen“ (im Sinne

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‘Carmen ad deum’

von Transportieren) ergeben hätte. Einige Beispiele für eindeutig falsche Übersetzungen: flostra „ruhige Fluten“ (6) ist mit plomun („Blumen“) missverstanden; so auch caeliarche „Himmelbeherrscher“ (11) und arce „wehre ab!“, Imperativ von arceo (20): der Übersetzer hat -arche in caeliarche (11) und arce (20) beide Male falsch von arx „Gipfel, Hügel“ abgeleitet, und entsprechend wird ahd. nol als Interpretament eingesetzt: aus caeli-arche wurde himiles nolle, aus arce wurde nolle (20), im Kontext beide Male sinnlos. An einigen Stellen wurden in der Forschung Adaptationen germanischer Vorstellungen diskutiert, (zuletzt durchweg ablehnend M. Gretsch – H. Gneuss): Für (1) legum lator steht eono sprehho (2); gemeint ist hier natürlich Gott als „Gesetzgeber“ (Bücher Moses, Dekalog), aber sollte dabei doch auch an den germanischen Gesetzessprecher gedacht sein? Und wenn largus dator (2) mit milter kepo übersetzt wird, darf man dann an den druhtin als germanischen Gefolgsherrn denken, der seine Gefolgsleute als milter kepo mit Geschenken ehrt? 6. Literatur: Die ältere Literatur (bis 1978) bei F. Rädle, in: 2VL I, Sp. 1174.1177; zur Trägerhandschrift der Intralinearversion bis 2005 BStK-Nr. 660. – G. Baesecke, Das lateinischalthochdeutsche Reimgebet (Carmen ad Deum) und das Rätsel vom Vogel federlos, Probleme der Wissenschaft in Vergangenheit und Gegenwart 1, Berlin 1948; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134, hier S. 125f. (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud. III, S. 73-111); B. Bischoff, Katalog II, S. 271, Nr. 3319f; C. Blume, Die Hymnen des Thesaurus Hymnologicus H. A. Daniels und anderer Hymnen-Ausgaben, Analecta Hymnica Medii Aevi 51, Leipzig 1908, S. 299-301; F. Brunhölzl, Studien zum geistigen Leben in Passau im achten und neunten Jahrhundert, Abhandlungen der Marburger Gelehrten Gesellschaft 26, München 2001; M. Gretsch – H. Gneuss, Anglo-Saxon Glosses to a Theodorean Poem?, in: Latin learning and English lore. Studies in Anglo-Saxon literature for Michael Lapidge, hg. v. K. O’Brien, O’Keeffe and A. Orchard, Toronto Old English series 14, Toronto/Buffalo/London 2005, I, S. 9-46; E. Hellgardt, Das lateinisch-althochdeutsche Reimgebet ‘Sancte sator’ (sog. ‘Carmen ad Deum’) Theodor von Tarsus/Canterbury zugeschrieben, ZDA 137 (2008) S. S. 1-27; N. Henkel, Die ahd. Interlinearversionen. Zum Sprach- und literarhistorischen Zeugniswert einer Quellengruppe, in: Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Colloquium 1994, Wolfram-Studien 14, Berlin 1995, S. 46-72; The Prayer Book of Aedeluald the Bishop commonly called The Book of Cerne. Ed. by A. B. Kuypers, Cambridge 1902, S. 131-132; M. Lapidge, Theodore and Anglo-Latin Octosyllabic Verse, in: Archbishop Theodore: Commemorative Studies on his Life and Influence, Cambridge Studies in Anglo-Saxon England 11, Cambridge 1995, S. 26280 (= M. Lapidge, Anglo-Saxon Literature 600-899, London 1996, S. 225-245); A. E. Schönbach, Über das ‘Carmen ad Deum’, ZDA 42 (1898) S. 113-121.

ERNST HELLGARDT

Cassianus-Glossierung

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Cassianus, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Iohannes Cassianus (Johannes von Massilia/Marseille), *um 360, wohl in der röm. Provinz Scythia minor, † 430/435 in Marseille, lateinischer Kirchenschriftsteller, trat zwischen 380-390 in ein Kloster in Bethlehem ein; um 415 gründete er in Marseille das Kloster St. Victor für Männer sowie ein Frauenkloster. Cassianus wurde durch seine Schriften zum monastischen Leben ein einflussreicher Lehrer des lateinischen Mönchtums. In der Theologiegeschichte apostrophiert man ihn oft als den Vater des Semipelagianismus; daneben hat er besondere Bedeutung für die Entwicklung der Moraltheologie erlangt. 419-426 schrieb er seine erste große Arbeit, die zwölf Bücher De institutis coenobiorum et de octo principalibus vitiis (auch Institutiones), eine Darstellung des monastischen Lebens und der Gebräuche der Zönobiten auf der Basis persönlicher Erlebnisse sowie eine Beschreibung der acht Hauptsünden sowie eine Darlegung der Mittel zu ihrer Bekämpfung. Sein zweites maßgebendes Werk sind die 24 Bücher Collationes patrum, eine Beschreibung des beschaulichen Lebens der orientalischen Mönche in Gesprächsform. 430 schrieb er auf Bitten des späteren Papstes Leo d. Gr. sieben Bücher gegen Nestorius: De incarnatione Christi. Erst durch diese dritte umfangreiche Arbeit wurden die nestorianischen Wirren auch im Westen bekannt. Literatur: K.-H. Kleber, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, III, 1992, Sp. 300-303; K.-S. F., Cassianus, Johannes, in: Der Neue Pauly, II, Sp. 1003f.; O. H., Cassianus, in: Der Kleine Pauly, I, Sp. 1067; K. S. Frank, Cassian(us), Johannes, in: LexMA IV, Sp. 1550f. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Berlin, SBPK Ms. lat. 4º 676 [f. b 1-2] (BStK-Nr. 44 I): 3 Interlineargll. zu Textglossar zu Institutiones; alem.? (Hs. Reichenau), Glossen zu späterer Zeit nachgetragen (Hs. 2.Viertel 9. Jh.). – Ed. StSG II, S. 155 (Nr. DCXIV). – 2. Freiburg, UB Hs. 380 (BStK-Nr. 161): 2 Interlineargll. in Textglossierung zu Collationes; 2 Gll. in Textglossar zu Collationes; obd., Glossen undatiert (Hs. 10./11. Jh.). – Ed. StSG II, S. 154 (Nr. DCXI) und S. 155 (Nr. DCXIII). – 3. St. Gallen, StB 183 (BStK-Nr. 197): 29 Gll. in Textglossar zu Institutiones; alem., 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 154f. (Nr. DCXII). – 4. St. Gallen, StB 299 (BStK-Nr. 225): 1 Gl. in Kontext eines Textglossars zu Institutiones; alem., 2. Hälfte 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 154 (Nr. DCX). – 5. Leiden, UB Voss. lat. q. 69 (BStK-Nr. 372): 2 Gll. (f. 30vb) und 7 Gll. (f. 35vb-36ra) in Textglossar zu Institutiones; ae. und hd., Hs. und Gll. um 800, St. Gallen. – Ed. StSG II, S. 154 (Nr. DCIX). – 6. München, BSB Clm 4549 (BStK-Nr. 478): 6 marginal stehende Griffelgll. in Textglossierung zu Collationes; Sprache unbestimmt (Hs. Benediktbeuern), Glossen undatiert (Hs. 8./9. Jh.). – Ed. H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 222. – 7. München, BSB Clm 14349 (BStK-Nr. 574): 3 Interlineargll. in Textglossierung zu Institutiones; Sprache unbestimmt (Hs. St. Emmeram), 11. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 87. – 8. München, BSB Clm 18549a (BStK-Nr. 651): 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Collationes; Sprache unbestimmt (Hs. Tegernsee), 11. Jh. (Hs. 2. Viertel 11. Jh.). – Ed. St. Stricker, Sprachwissenschaft 18 (1993) S. 100. – 9. München,

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Cassianus-Glossierung

BSB Clm 18556a (BStK-Nr. 653): 145 vorrangig interlinear, z.T. marginal eingetragene Griffelgll. in Textglossierung zu Collationes; bair., um 1000 u. 11. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 99-103. – 10. Schlettstadt, BH Ms. 7 (früher Ms. 100) (BStK-Nr. 849): 43 Gll. in Textglossar zu Collationes und Institutiones; alem., 12. Jh. – Ed. StSG II, S.152f. (Nr. DCVIII); Nachtrag O. B. Schlutter, Weitere Nachträge zu den althochdeutschen Glossen, JEGPh 20 (1921) S. 387.

3. Glossographische Aspekte: Ahd. Glossen zu Cassianus begegnen in zehn Hss. aus der Zeit um 800 bis zum 12. Jh. (insgesamt 242 Gll.). Cassianusglossen treten in sechs Textglossaren (BStK-Nr. 44 (I), 161, 197, 225, 372, 849) und in fünf Textglossierungen auf (BStK-Nr. 161, 478, 574, 651, 653), wobei eine Hs. (Freiburg Hs. 380) eine Textglossierung und ein Textglossar aufweist. Eine breitere Glossierung zeigen vor allem eine Textglossierung (Clm 18556a: 145 Gll.) sowie ein Textglossar (Schlettstadt Ms. 7: 43 Gll.) aus der Zeit um 1000 bzw. dem 11. Jh. sowie dem 12. Jh. Die weitere Glossierung begegnet nur ganz vereinzelt. Zwei Hss. mit Textglossierungen zu den Collationes tradieren Griffelglossen: Der Clm 18556a enthält 145 Griffelgll., die vorrangig interlinear, z.T. marginal stehen und kurz nach Fertigstellung der Hs. um 1000 und im 11. Jh. in Tegernsee eingetragen worden sind. Eine Griffelglossierung enthält zudem die älteste Hs., der Clm 4549, der 6 marginal stehende Griffelgll. tradiert und im 8./9. Jh. in Benediktbeuern entstanden ist. Die beiden glossenreichsten Textglossare stammen aus dem alem. Raum. Die Schlettstadter Hs. 7 aus dem 12. Jh. (Reichenau?) enthält 43 Gll., der Sangallensis 183 aus dem 11. Jh. (St. Gallen) 29 Gll. 4. Räumliche und zeitliche Verteilung: Eine sprachgeographische Bestimmung weisen die Glossen von sieben Hss. auf. Die meisten Glossen (nämlich 145 von 242) werden als bair. bestimmt. Sie werden aber nur von einer Hs., dem Clm 18556a, tradiert. Vier Hss. enthalten alem. Glossen: Berlin Ms. lat. 4º 676 [f. b 1-2], St. Gallen 183, St. Gallen 299, Schlettstadt Ms. 7 (früher Ms. 100). Diese machen zusammen 76 der insgesamt 242 Gll. aus. Die 4 Gll. der Freiburger Hs. 380 werden als allgemein obd. bestimmt, die zwei Textglossargll. der Hs. Leiden Voss. lat. q. 69 begegnen im Kontext von etwa 120 Gll., die dem ae. und hd. Raum zugewiesen werden. Insgesamt zeigt sich ein klarer Schwerpunkt im obd. Raum. Die Glossen zeigen eine zeitliche Streuung von um 800 bis ins 12. Jh. Dabei liegt die Textglossierung um 1000 (Clm 18556a) bzw. im 11. Jh. (Clm 18549a, Clm 14349), während die Textglossare früher einsetzen und bis ins 12. Jh. reichen. In die Zeit um 800 reicht die Leidener Hs. Voss. lat. q. 69 zurück, die 9 Gll. enthält. Nur vereinzelt glossiert sind der Sangallensis 299 mit Glossen aus der 2. Hälfte des 9. Jh.s und die Freiburger Hs. 380 aus dem 10./11. Jh. Stärker glossiert sind der Sangallensis 183 und die Schlettstadter Hs. 7, deren Glossen in das 11. und 12. Jh. datiert werden.

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5. Beziehungen zwischen den Glossierungen: Eine nähere Beziehung zwischen den Glossierungen wird nicht erkennbar. Indiz dafür ist schon, dass E. Steinmeyer die Glossen nacheinander, aber nicht parallel ediert. 6. Umfang und Bedeutung: Die Glossierung des Cassianus, die sich zu etwa gleichen Teilen auf die beiden Hauptschriften Collationes und Institutiones verteilt, beginnt in der Zeit um 800 und erstreckt sich bis ins 12. Jh. Sie hat ihren Schwerpunkt im obd. Raum des 11. Jh.s. Zwei Textglossierungen weisen Griffelglossen auf, ein Textglossar angelsächsischen Einfluss. Das Werk des Cassianus nimmt mit einem Umfang von 242 Gll. (in 10 Hss.) unter den kirchlich-theologischen Schriften der Spätantike hinsichtlich der Anzahl der glossierten Hss. wie der Glossenzahl eine mittlere Position ein. Cassianus besetzt Rang 6 in diesem Bereich. Die Glossen machen aber nur 1,3% dieses Überlieferungskomplexes aus. Cassianus folgt nach Ú Gregor dem Großen, der mit 76,6% drei Viertel der Überlieferung allein ausmacht, sowie Ú Hieronymus (5,6%), Ú Sulpicius Severus (4,8%), Ú Eusebius von Cäsarea (3,9%) und Ú Isidor von Sevilla (3,3%). Diese Zahlen sagen aber nichts über den Anteil der lat. Glossierung aus. – Eine nähere Untersuchung, etwa im Hinblick auf die Auswahl der glossierten Lemmata, fehlt bislang. 7. Literatur: BStK-Nr. 44 I, 161, 197, 225, 372, 478, 574, 651, 653, 849; StSG II, S. 152155; R. Bergmann, in: BStH I, S. 92, 95, 119; C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberl., S. 262 A., 301f., 339.

STEFANIE STRICKER

‘Christ wart gaboren’ Ú ‘Wiener Hundesegen’ ‘Christus und die Samariterin’ Althochdeutsches Reimgedicht (‘Sam.’) 1. Überlieferung: Wien, ÖNB Cod. 515, f. 4v-5v. ‘Sam.’ wurde im 10. Jh. in die Hs. der Lorscher Annalen eingetragen. Diese wurden im frühen 9. Jh. aufgezeichnet, tragen südwestdeutschen Schriftcharakter und befanden sich um 835 auf der Reichenau. Sie reichen bis f. 5r, Z. 10. Das Gedicht folgt unmittelbar darauf, nimmt den Rest der Seite ein und bricht mit deren letzter Zeile ab. In Z. 14 verweist ein Auslassungszeichen auf zwei Verse, die auf f. 4v unten eingetragen sind; vgl. PadRep. Ausgaben: W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. XXXIV (zit.); W. Haug – B. K. Vollmann, Frühe dt. Lit., S. 138-141 (mit Übers.); H. Mettke, Altdt. Texte, S. 90f.; MSD Nr. X, I, S. 22-24, II, S. 64-71; St. Müller, Ahd. Lit., S. 136-139 (mit Übers.); H. D. Schlosser,

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Ahd. Lit, 1980, S. 120-123 (mit Übers.), 22004, S. 152f. (mit Übers.); E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XVII, S. 89-91. – Faksimile: M. Enneccerus, Die ältesten dt. Sprachdenkm., Tafel 38; H. Fischer, Schrifttafeln, Tafel 21, diplomat. Text ebd., S. 24*, S. 23* weitere Faks.; E. Meineke – J. Schwerdt, Einführung, S. 113.

2. Sprachgeographischer Befund und Datierung: Die Sprache der ahd. Evangelienszene weist alem. Züge auf, doch finden sich daneben andere, die meist als frk. bewertet werden. Die vermeintliche Dialektmischung ist erklärt worden entweder als alem. Einfärbung eines frk. Originals (so G. Baesecke, 1908 u. E. v. Steinmeyer), oder als frk. Einfärbung eines alem. Originals (so A. Leitzmann u. G. Ehrismann), oder durch Entstehung in einem sprachlichen Grenzgebiet (so R. Kögel). Neben die sprachlichen Schwankungen treten graphische, die sich nur teilweise mit den sprachlichen decken und auf Beteiligung zweier Schreiber an der Aufzeichnung (so H. Pongs, E. v. Steinmeyer, H. Menhardt) schließen ließen, die einander mehrmals abgelöst und das Original (ob frk. oder alem.) unterschiedlich treu kopiert hätten. G. Baesecke (1927, 1928) fand ein ähnliches Nebeneinander alem. und frk. Merkmale in den Reichenauer Mönchslisten und sah in ‘Sam.’ einen Zeugen der Reichenauer Schreibsprache. F. Maurer folgte ihm und lehnte die Hypothese der zwei Schreiber ab. Zur Datierung ist mit G. Ehrismann u. a. festzustellen, dass Reime wie unnen : prunnen neben man : brunnan wahrscheinlich erst nach dem weitgehenden Zusammenfall von -an, -in (-en), -on, d. h. infolge der beginnenden Abschwächung der Nebensilbenvokale, möglich waren, also gegen Ende des 9., Anfang des 10. Jh.s (vgl. St. Müller, Ahd. Lit., S. 340). 3. Verhältnis zur Vorlage: Quelle des fragmentarischen Endreimgedichts ist Io 4,620. Der erhaltene Text besteht aus 31 Reimpaaren. Auf einen Erzähleingang folgt das Gespräch zwischen Christus und der samaritanischen Frau, mit zwei Ausnahmen in direkter Rede ohne Verba dicendi. Die Dialogform erinnert an das Heldenlied und das einleitende lesen uuir an Quellenberufungen wie ik gihorta ÿat seggen. Der formelhafte Eingang könnte aber auch auf „Predigt oder Schule“ (E. Meineke – J. Schwerdt, S. 112) verweisen. Die Wiedergabe von discipuli durch thegana war bereits bei Ú Otfrid vorgebildet, und die von patres nostri durch unser altmaga scheint das eher gelehrt anmutende for uns er giborana abzuwandeln. Die Wiedergabe der Szene ist gedrängter als in der biblischen Quelle und arbeitet u. a. mit verdichtenden Komposita aus Adjektiv und Substantiv (vgl. J. Erben), z. B. tu batis dir unnen / sines kecprunnen = tu forsitan petisses ab eo et dedisset aquam vivam. Es gibt jedoch auch Zusätze, auf Reimbedürfnis beruhende (wie die seltsam anachronistische Beteuerung uuizze Christ) oder erzähltechnisch begründete wie die Anrede guot man („eine Anrede für Bettler und Pilger“; E. Meineke – J. Schwerdt, S. 114) vor dem Übergang zum respektvollen herro im Munde der samaritanischen Frau. Die Variation betoton hiar ...

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suohton hia genada für das biblische adoraverunt unterstreicht die theologische Bedeutung der Gesprächsszene. 4. Metrum und Form: Strittig ist, ob die metrische Form nur den otfridschen Reimpaarvers fortsetzt oder (F. Neumann, G. Schweikle u. a. zufolge) an eine durch das Ú ‘Petruslied’ bezeugte vorotfridische (autochthone?) Verstradition anknüpft. F. Maurer, der den Text in alternierende Gruppen von sechs und fünf Reimpaaren gliederte, hat ihn mit dem ebenfalls auf der Reichenau entstandenen Ú ‘Georgslied’ und dem im nahe gelegenen St. Gallen ursprünglich deutsch verfassten Lobgesang Ratperts auf den Hl. Gallus verglichen und die Möglichkeit erwogen, dass alle drei zu derselben Melodie gesungen worden seien. Auch W. Haubrichs meint, dass ein solcher Dialog „eigentlich nur im Vortrag, in differenzierender Stimmgestik zu realisieren“ ist (W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 313; vgl. St. Müller, Ahd. Lit., S. 339; Chr. Wells, S. 175). Im Aufbau des Gedichtes ist ein starker Formwille unverkennbar, der z. B. in der bewusst ungleichstrophigen Gliederung mit ihrem Wechsel von Strophen aus zwei bzw. drei binnengereimten Langzeilen zum Ausdruck kommt (G. Ehrismann, S. 211). 5. Beziehung zum ‘Evangelienbuch’: Aufschlussreich ist ein Vergleich von Otfrid (II,14) mit ‘Sam.’: hier kurze epische Einleitung und knapper Dialog, dort breit kommentierendes Erzählen. ‘Sam.’ bietet im Unterschied zum ‘Evangelienbuch’ „keine theologische Exegese, sondern ist ganz Erzählung und Dialog, ist ganz Szene“ (W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 313). Dass Otfrid ‘Sam.’ kannte, ist unwahrscheinlich, wie O. Erdmann gezeigt hat; dass der Verfasser das ‘Evangelienbuch’ kannte, ist hingegen nicht ausgeschlossen. Auffällig ist das Nebeneinander von brunno und puzzi/ buzza in beiden Stücken (bei Otfrid sogar ausdrücklich als Synonyma gekennzeichnet, s. II,14,8; vgl. Chr. Wells, S. 175) sowie der gemeinsame Gebrauch des seltenen bita. Allerdings könnte das Lehnwort puzzi in beiden Fällen durch das in der Quelle vorkommende Etymon puteus angeregt worden sein, und zu beton ‘adorare’ kam als Abstraktum nur bita ‘adoratio’, nicht das häufiger belegte beta ‘petitio’, in Betracht. 6. Anlass und Gebrauchsfunktion: Form und Ort der zeitgenössischen Rezeption des Gedichtes sind unklar. Es stellt sich insbesondere die Frage, warum ausgerechnet die johanneische Brunnenszene für eine eigene volkssprachige Bearbeitung ausgewählt wurde. Möglicherweise eignete sich der Dialog besonders gut für die paraliturgische Verwendung, z. B. bei der Tischlesung, oder als auf zwei Stimmen verteilte lectio in Stundengebet und Messe. Vielleicht hat aber auch die zentrale Bedeutung der Szene im Kontext der biblisch-theologischen Deutung des Wassers als Bild für ewiges Leben (vgl. LThK X, Sp. 984-989) die Abfassung des deutschen Textes motiviert: U. a. die umfangreiche, ausdeutende Nacherzählung des Gesprächs am Jakobsbrunnen bei Ú Otfrid belegt, welch große heilsgeschichtliche Bedeutung die

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‘Contra Malum Malannum’

karolingischen Theologen dem neutestamentlichen Bericht von der Jesuserkenntnis der Samariter (scimus quia hic est vere salvator mundi; Io 4,42) beimaßen (vgl. D. Kartschoke, Gesch. d. dt. Lit., S. 161f.; LexMA II, Sp. 1943). 7. Literatur: G. Baesecke, Kleine Mitteilungen, ADA 31 (1908) S. 206; G. Baesecke, Das althochdeutsche Schrifttum von Reichenau, PBB 51 (1927) S. 217f.; G. Baesecke, Das Althochdeutsche von Reichenau nach den Namen seiner Mönchslisten, PBB 52 (1928) S. 92148; B. Bischoff, Die südostdt. Schreibschulen, I, S. 145f.; H. de Boor, Die dt. Lit., S. 84f.; J. K. Bostock, Handbook, S. 214-218; W. Braune, Ahd. bita, PBB 32 (1907) S. 153f.; CLA X, Nr. 1482; C. W. Edwards, Christus und die Samariterin, in: German Writers, S. 169-172; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 207-211; J. Erben, Textspezifische Gelegenheitsbildungen des Kompositionstyps Adjektiv + Substantiv in althochdeutschen Texten. Zu den Wertungen in ‘Christus und die Samariterin’ sowie in Otfrieds ‘Evangelienbuch’, in: Althochdeutsch, I, S. 366-370; O. Erdmann, Rez. zu P. Pipers Ausgabe von Otfrieds Evangelienbuch, ZDPh 11 (1880) S. 117f.; Th. v. Grienberger, ‘Christus und die Samariterin’, PBB 45 (1921) S. 221-226; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 312-314; W. Haug – B. K. Vollmann, Frühe dt. Lit., S. 11281130; D. Kartschoke, Gesch. d. dt. Lit., S. 161f.; R. Kögel, Gesch. d. dt. Litt., II, S. 113f.; P. R. Kolbe, Variation in the Old High German Post-Otfridian Poems, MLN 28 (1913) S. 216; A. Leitzmann, Die Heimat der Samariterin, PBB 39 (1914) S. 554-558; LexMA II, Sp. 1943; F. Maurer, Zur Frage nach der Heimat des Gedichts ‘Christus und die Samariterin’, ZDPh 54 (1929) S. 175-179; F. Maurer, Zur Geistlichendichtung des Mittelalters, in: Fragen und Forschungen. FS Theodor Frings, S. 338-341; E. Meineke – J. Schwerdt, Einführung, S. 112114; H. Menhardt, Verz. d. altdt. lit. Hss., I, S. 41f.; St. Müller, Ahd. Lit., S. 339-341; F. Neumann, Otfrieds Auffassung vom Versbau, PBB 79 (Halle 1957) Sonderband S. 303f.; H. Pongs, Das Hildebrandslied, S. 27f., 165f.; H. D. Schlosser, Ahd. Lit, 1980, S. 349; G. Schweikle, Die Herkunft des althochdeutschen Reimes, ZDA 96 (1967) S. 165-212; M. Wehrli, Gesch. d. dt. Lit., S. 87; Chr. Wells, in: German Literature, S. 174-176.

DAVID R. MCLINTOCK (†) – HEIKO HARTMANN

‘Contra Malum Malannum’ Lateinisch-althochdeutscher Segensspruch gegen eine unterschiedlich identifizierte Krankheit malus malannus oder malum malannum, ahd. suaz oder suam. Überlieferung: Bonn, ULB S 218 8º (BStK-Nr. 71), f. 41r, 11. Jh.; vgl. PadRep. Nach R. Reiche ist Entstehungsort der später in Maria Laach aufbewahrten Sammelhs. das Trierer Benediktinerkloster St. Maximin. Der zweisprachige Text ist am unteren Rand von f. 41r im Verbund mit einer ansonsten lat. Sammlung kürzerer Texte mit medizinischem Inhalt eingetragen worden (zur Problematik der Abgrenzung dieser Texte untereinander sieh Chr. M. Haeseli, Magische Performativität, S. 134f.).

‘Contra Malum Malannum’

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Ausgaben: W. Wackernagel, Das Wessobrunner Gebet, Berlin 1827, S. 67-70 (Erstveröffentlichung); MSD Nr. IV.7, I, S. 18, II, 53f. ; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LXXI, S. 383f.; R. Reiche, Ein rhein. Schulbuch, S. 83f.; Abb. bei G. Eis, Altdt. Zauberspr., nach S. 112; farbige Abb. bei Chr. M. Haeseli, Magische Performativität, S. 22f. Digitalisat der ULB Bonn: http://www.manuscripta-mediaevalia.de/dokumente/html/obj31275209. Der Text setzt sich aus lat. Handlungsanweisungen und einer großenteils ahd. Beschwörungsformel zusammen, wobei der ahd. Teil Spuren von Stabreim erkennen lässt. Dreh- und Angelpunkt der Forschungsdiskussion zu diesem Spruch ist die Identifikation der Krankheit, die durch das Beschwören bei Gott und Kreuzzeichen geheilt werden soll. Das in der Hs. eindeutig zu lesende suaz wurde von W. Wackernagel verworfen und suam konjiziert. Die angenommenen Identifikationen sind zum erheblichen Teil von den akzeptierten Bezeichnungen für die Krankheit abhängig (etwa G. Eis: malus malannus/suam ‘Nasenpolyp’; R. Reiche, S. 442: malus malannus/suaz ‘Schwarz’ für den „personifizierten, möglicherweise [...] dämonischen Krankheitserreger“). M. Przybilski, 2010, S. 189f., plädiert dafür, „sich nicht an der Nomenklatur der modernen Medizin zu orientieren“, sondern vielmehr „zwei Emanationsformen ein und derselben Erkrankung“ anzunehmen. Sprachlich ist der kurze volkssprachige Teil, entgegen der häufig in der Forschung ohne weitere Begründung kolportierten Bestimmung als bair.-rhfrk. (seit G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 105), nach R. Reiche, S. 432-435, moselfrk. nach obd. Vorlage. Literatur: A. Beccaria,I codici, S. 204-207; E. Cianci, Incantesimi, S. 159-164; E. Cianci, in: I Germani e la scrittura, S. 51-67; G. Eis, Altdt. Zauberspr., S. 109-116; Chr. M. Haeseli, Magische Performativität, S. 121-157; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 352; M. Höfler, Das Malum malannum, Janus 14 (1909) S. 512-526; E. Hellgardt, in: Deutsche Handschriften 1100-1400, S. 35-81, bes. S. 56 (Nr. 33);E. Hellgardt, Atti della Accademia Peloritana 71 (1997) S. 5-62, bes. S. 12, 41; V. Holzmann, „Ich beswer dich“, S. 68-70, 137; C. L. Miller, The OHG and OS Charms, S. 11f.; M. Przybilski, Von Geschwüren, Polypen, Epilepsie und Milzbrand, oder: Wogegen soll die lateinisch-althochdeutsche Beschwörungsformel ‘Contra malum malannum’ helfen? LB 93 (2004) S. 1-13; M. Przybilski, Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin/New York 2010, S. 180190; R. Reiche (s. Ausg.), S. 432-444; H.-H. Steinhoff, in: 2VL II, Sp. 9f., XI, Sp. 336; R. Wisniewski, Dt. Lit., S. 259. HANS-HUGO STEINHOFF (†) – FALKO KLAES

‘Contra vermes’ Ú ‘Pro nessia’ ‘De Heinrico’ Ú ‘Heinrico, De’ ‘De hoc quod spuriha[l]z dicunt’ Ú ‘Wiener altsächsischer Segen’

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‘Essener Evangeliarglossen’

Eide Ú ‘Klerikereid’, ‘Straßburger Eide’ ‘Engelberger Drei Engel-Segen’ Überlieferung: Engelberg, StB Codex 33 (früher 3/2), f. 1r; vgl. PadRep. Die im 12. Jh. entstandene Hs. wurde 1985 als Glossenhandschriften bekannt gemacht und im Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften (Nr. 138a) behandelt. Sie enthält aber keine Glossen im engeren Sinne, sondern einen lat. Segen, in dessen Text 6 dt. Wörter integriert sind. R. Schützeichel hat den Text ab der 6. Auflage im Althochdeutschen Wörterbuch (Sigle ES.) ausgewertet. Edition: K. Bartsch, Alt- und Mittelhochdeutsches aus Engelberg, Germania 18 (1873) S. 46; M. Schulz, Beschwörungen, S. 42. Literatur: H. Stuart – F. Walla, ZDA 116 (1987) S. 67, 73. ROLF BERGMANN

‘Erster Trierer (Zauber-)Spruch’ Ú ‘Trierer Blutsegen’ ‘Essener altsächsische Beichte’ Ú Beichten, Althochdeutsche und altsächsische ‘Essener Evangeliarglossen’ Überlieferung: Essen, Münsterschatzkammer, Hs. 1. Ausgaben: E. Wadstein, Kleinere as. sprachdenkm., Nr. XI, S. 48-61, 139f.; StSG IV, S. 286293, 294f., 296-300, 301-304, 430. Berichtigungen H. Tiefenbach, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 119-121 (f. 76r is statt ist). Die Edition von J. H. Gallée, As. Sprachdenkm., S. 17-86, berücksichtigt auch viele der rein lat. Einträge. – Abbildungen s. BStK-Nr. 149; BStH I, S. 388f. (f. 34v, 35r). Die von zahlreichen Händen eingetragene Glossierung ist die nach der zu Prudentius im Codex Düsseldorf F 1 umfangreichste as. Glossenhandschrift aus dem Besitz des Essener Frauenstifts. Sie umfasst mehr als 1.050 Einzelwörter. Grundlage der Glossierung ist ein um 800 in Nordostfrankreich oder Nordwestdeutschland geschriebenes Evangeliar (CLA VIII, Nr. 1192), das, älter als das Essener Stift, möglicherweise schon zu seiner Erstausstattung durch Bischof Altfrid von Hildesheim (851-874) gehört haben könnte. Im 10. Jh. wurden auf die freigebliebenen Ränder und interlinear lat. Kommentare und as. Glossen eingetragen, darunter der Erstbeleg für das westf. Kennwort hliuning ‘Sperling’. Paläographisch können die Einträge den Esse-

‘Essener Heberegister’

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ner Kanonissen zugeschrieben werden (H. Hoffmann, S. 124; K. Bodarwé, S. 405-408 und passim). Die Neuverwendung des bereits etwas veralteten karolingischen Codex ist vielleicht durch den Essener Stiftsbrand (vor 947) veranlasst, der zum Ersatz vernichteter Manuskripte zwang (Diplom 85 Ottos I.) und so zum Rückgriff auf dieses (anderweitig aufbewahrte?) Evangeliar führen konnte. Die Eintragungen belegen ein intensives Textstudium anhand der Standardkommentare der Zeit. Bemerkenswert ist das Bemühen, nicht nur bloße Wort-für-WortÜbersetzungen zu liefern, sondern auch in der Volkssprache den Sinn des Textes zu erschließen, bisweilen unter Verwendung kleiner Syntagmen (E. Hellgardt; H. Tiefenbach, in: Essen u. d. sächs. Frauenstifte, S. 120-123; H. Tiefenbach, in: BStH I, S. 387-397). Der Anfang der Matthäus-Glossierung findet sich in ähnlicher, aber nicht gleicher Form im Eltener bzw. Lindauer Evangeliar aus dem 3. Viertel des 10. Jh.s, einem Codex mit unbekanntem Verbleib (BStK-Nr. 385; K. Bodarwé, S. 438f. und passim), der gleichfalls dem Essener Skriptorium entstammt (H. Hoffmann, S. 120). Das macht gemeinsame Vorlagen mit den ‘E. E.’ wahrscheinlich. Gesichert sind ferner weitere Vorlageglossierungen aus dem ahd. Sprachgebiet, aus denen in den ‘E. E.’ gelegentlich hd. Formen durchstehen (I. Rosengren), auch Mischungen hd. und nd. Sprachmerkmale treten auf, deren Ursachen unterschiedlich gedeutet worden sind (Th. Klein, S. 274f.). Literatur: K. Bodarwé, Sanctimoniales litteratae; E. Hellgardt, Philologische Fingerübungen. Bemerkungen zum Erscheinungsbild und zur Funktion der lateinischen und altsächsischen Glossen des Essener Evangeliars (Matthäus-Evangelium), in: Lingua Germanica. FS Jochen Splett, S. 32-69; H. Hoffmann, Das Skriptorium von Essen in ottonischer und frühsalischer Zeit, in: Kunst im Zeitalter der Kaiserin Theophanu, S. 113-153; Th. Klein, Studien; I. Rosengren, Sprache und Verwandtschaft einiger althochdeutschen und altsächsischen Evangelienglossen, 1964; W. Sanders, in: 2VL II, Sp. 633f.; H. Tiefenbach, in: Essen u. d. sächs. Frauenstifte, S. 113-128; H. Tiefenbach, Exemplarische Interpretation altsächsischer Evangelienglossierung, in: BStH I, S. 387-397.

HEINRICH TIEFENBACH

‘Essener Heberegister’ Überlieferung: Düsseldorf, ULB B 80, f. 153v, 152v. Ausgaben: E. Wadstein, Kleinere as. sprachdenkm., Nr. VII, S. 21f., 131f. – Faksimile: J. H. Gallée, As. sprachdenkm., Facs. Sgl., Nr. IIIb (f. 153v, Z. 1-13); Vergessene Zeiten. Mittelalter im Ruhrgebiet. Hg. v. F. Seibt, G. Gleba, H. Th. Grütter, H. Lorenz, J. Müller, L. Tewes. Katalog zur Ausstellung im Ruhrlandmuseum Essen. 26. September 1990 bis 6. Januar 1991, I, Essen 1990, S. 77 (f. 153v vollständig); K. O. Seidel, S. 53 (f. 152v); vgl. PadRep.

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‘Essener Heberegister’

Das as. Heberegister ist auf der ursprünglich leeren letzten Seite (f. 153v) des GregorCodex B 80 aus dem 2. Viertel des 10. Jh.s verzeichnet, nach Ansicht von B. Bischoff (III, S.106; anders: Die mittelalterlichen Handschriften, S. 269) von gleicher Hand wie die vorausgehende Allerheiligenpredigt (f. 153r, Ú ‘Altsächsische Allerheiligenpredigt’; dort Weiteres zu Handschrift und Datierung der volkssprachigen Texte), nach den Beobachtungen E. Wadsteins zu einem Zeitpunkt, als die Predigt bereits eingetragen war. Weiterhin findet sich ein lat. Heberegister von einer anderen Hand auf f. 152v in dem Leerraum unmittelbar im Anschluss an die Gregorhomilien. Der volkssprachige Text zeigt ähnliche sprachliche Merkmale wie die Allerheiligenpredigt mit noch größerer Nähe zum Endsilbenvokalismus der anfrk. Psalmen (Th. Klein, S. 541-543, Ú Psalter: ‘Fragmente einer altmittelfränkischen und altniederfränkischen Interlinearversion’), vielleicht als Resultat der sprachgeographischen Grenzlage Essens. Das as. Heberegister nennt die Abgaben von Malz, Gerste, Holz, dazu Brot und Erbsen von neun Höfen, wobei der Hof Drêne (‘Auf dem Dren’ bei Ahlen) ausschließlich Honig liefert. Mit Ausnahme des letztgenannten Ortes sind sie auch im späteren Einkünfteverzeichnis des Essener Kettenbuchs (um 1410) als Kern der Grundherrschaft aufgeführt. Die Beschränkung auf bestimmte Abgaben im Heberegister zeigt bereits, dass kein vollständiges Stiftsurbar vorliegt, sondern dass nur die Lieferungen an das Brauamt verzeichnet sind. Daher beweist das Fehlen des im Jahre 966 geschenkten Hofes Ehrenzell (Diplom 325 Ottos I.; Rheinisches Urkundenbuch Nr. 166) kein sicheres Datierungkriterium für die Niederschrift des Registers (anders W. Bettecken, S. 37, 48 Anm. 29). Zudem betont die Ehrenzell-Urkunde ausdrücklich den Nutzungsvorbehalt der Einkünfte für den Konvent (nisi moniales et praeposita). Das den Gregorhomilien unmittelbar folgende Einkünfteverzeichnis auf f. 152v zeigt nur bei der Präposition an mit den Ortsnamen Volkssprachiges. Es verzeichnet katalogartig ausschließlich Geldabgaben, keine Naturalien, beginnend mit dem predium der Pröpstin Eila in Kray. Nach zwei Leerzeilen wird unter der Überschrift De nouo predio das stiftsnahe Propsteigut mit seinen Zinseinkünften aufgeführt. Beide Heberegister repräsentieren somit nur Teile der Essener Gefälle, anscheinend aus dem Aufgabenbereich der Pröpstin. Literatur: W. Bettecken, Stift und Stadt Essen. ‘Coenobium Astnide’ und Siedlungsentwicklung bis 1244, Quellen und Studien. Veröffentlichungen des Instituts für kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen 2, Münster1988; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101134 (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 73-111); Die mittelalterlichen Handschriften der Signaturengruppe B in der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf. Teil 1. Ms. B 1 bis B 100. Beschrieben von E. Overgaauw, J. Ott und G. Karpp, Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf. Kataloge der Handschriftenabteilung 1, Wiesbaden 2005, S. 268-273; Th. Klein, Studien; R. Schmidt-Wiegand, in: 2VL II, Sp. 634f.; K. O. Seidel, Vui lesed … Geistiges Leben im Essener Damenstift im Spiegel einer Handschrift des 10. Jahrhunderts, Essener

Eusebius von Cäsarea-Glossierung

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Unikate 26 (2005) S. 50-59; H. Weigel, Aufbau und Wandlungen der Grundherrschaft des Frauenstiftes Essen (852-1803), in: Das erste Jahrtausend, Textband I, 1962, S. 256-295.

HEINRICH TIEFENBACH

Eusebius von Cäsarea, Historia ecclesiastica in der Bearbeitung des Rufinus, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Eusebius (Eusebios) von Cäsarea (Kaisareia) (um 265 bis um 340), Bischof, Historiker und Theologe, verfasste exegetische, dogmatische und historische Werke, darunter die für die spätere Zeit als maßgeblich wirkende Kirchengeschichte, deren Bücher 1-7 die altkirchliche Zeit darstellen, während die Bücher 810 seine Gegenwart behandeln. Dem lat. Mittelalter wurde die griechisch geschriebene Kirchengeschichte durch die bis zum Jahre 395 fortgeführte Übersetzung des Rufinus von Aquileia (um 345-411/412) vermittelt, der zahlreiche griechische kirchliche Werke ins Lateinische übersetzte. Nur diese lat. Bearbeitung der Historia ecclesiastica wurde ahd. glossiert. Literatur: E. Bodart, in: LexMA VII, Sp. 1088f.; O. H., in: Der Kleine Pauly II, Sp. 459-461; K. S. Frank, in: LexMA IV, Sp. 106f.; F. X. Murphy, in: LThK IX, Sp. 91f.; H. Rahner, in: LThK III, Sp. 1195-1197; B. R. V., in: Der Kleine Pauly IV, Sp. 1466. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Bern, BB Cod. 258 (BStK-Nr. 64): 9 Gll. in Textglossar; ahd. und ae., 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 596 (Nr. DCCCXXII). – 2. Einsiedeln, StB cod 32 (1060) (BStK-Nr. 112): 2 Gll. in Textglossar; alem., 10. Jh. – Ed. StSG II, S. 607 (Nr. DCCCXXVIII). – 3. Freiburg im Breisgau, UB Hs. 454 (BStK-Nr. 162b): 5 Interlineargll. in Textglossierung; Sprache unbestimmt, 12. Jh. – Ed. W. Hagenmaier, Die Handschriften der Universitätsbibliothek und anderer öffentlicher Sammlungen in Freiburg im Breisgau, III, Wiesbaden 1980, S. 140. – 4. St. Gallen, StB 299 (BStK-Nr. 225): 21 Gll. in Textglossar; alem. (und 1 womöglich ae. Gl.), 2. Hälfte 9. Jh. St. Gallen. – Ed. StSG II, S. 597 (Nr. DCCCXXIIIa), V, S.105, 35f. – 5. Leiden, UB Voss. lat. q. 69 (BStK-Nr. 372): 16 Gll. in Textglossar; ae. und ahd., Ende 8. Jh. St. Gallen. – Ed. StSG II, S. 597 (Nr. DCCCXXIIIa). – 6. München, BSB Cgm 5248,2 [1. und 3. Doppelblatt] (BStK-Nr. 443 (I)): etwa 55 Gll. (davon 19 Interlineargll.) in Textglossar; bair., 2. Hälfte 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 602-604; Nachtrag bei St. Stricker, Sprachwissenschaft 18 (1993) S. 96. – 7. München, BSB Clm 6028 (BStK-Nr. 499): 1 Gl. in Textglossar; sprachlich unbestimmbar, 13. Jh. – Ed. StSG II, S. 603, 5 (Nr. DCCCXXV). – 8. München, BSB Clm 6375) (BStK-Nr. 532): 10 Gll. in Textglossierung; bair., undatiert (Hs. 9. Jh.) – Ed. StSG II, S. 607 (Nr. DCCCXXVI). – 9. München, BSB Clm 6381 (BStK-Nr. 533): 1 Interlineargl. in Textglossierung; sprachlich unbestimmt, undatiert, Hs. 820-840. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachträge, S. 83. – 10. München, BSB Clm 18140 (BStK-Nr. 637): 350 Gll. in Textglossar; bair., 3. Viertel 11. Jh., Tegernsee. – Ed. StSG II, S. 599-606 (Nr. DCCCXXV). – 11. München, BSB Clm 19440 (BStK-Nr. 665): 87 Gll. in Textglossar; bair., um 1000. – Ed. StSG II, S. 599-606 (Nr.

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Eusebius von Cäsarea-Glossierung

DCCCXXV). – 12. Schlettstadt, BH Ms. 7 (früher Ms. 100) (BStK-Nr. 849): 33 Gll. in Textglossar; alem., 1. Viertel 12. Jh. – Ed. StSG II, S. 598 (Nr. DCCCXXIIIb), V, S. 105, 36f. – 13. Wien, ÖNB Cod. 804 (BStK-Nr. 926): 5 Gll. in Textglossar; bair., Ende 12. Jh. – Ed. StSG II, S. 599, 603, 606 (Nr. DCCCXXV). – 14. Wien, ÖNB Cod. 2732 (BStK-Nr. 950): 75 Gll. in Textglossar; bair., 10. Jh. vermutlich Salzburg. – Ed. StSG II, S. 599-606 (Nr. DCCCXXV). – 15. Würzburg, UB M. p. th. q. 60 [f. 1-6] (BStK-Nr. 998(I)): 5 Gll. in Textglossar; ofrk., 13. Jh. – Ed. StSG II, S. 599, 603, 606 (Nr. DCCCXXV).

3. Forschungsstand: Eine Untersuchung zur Eusebius-Glossierung insgesamt oder zu größeren Überlieferungskomplexen existiert nicht. Zu einer der großen GlossarHandschriften, dem Schlettstadter Codex (BStK-Nr. 849) (Ú Schlettstadter Glossar) gibt es eine Monographie von C. Wesle von 1913. Zum Leidener Glossar (oben Nr. 4 und 5) ist die Edition und Untersuchung von P. Glogger von 1904-1908 zu nennen. – Im August 2012 entdeckte A. Nievergelt in der Handschrift München, BSB Clm 6383 (Ende 8. Jh, Bodenseegebiet) ca. 200 alem. interlineare Griffelglossen zu Eusebius, deren Edition er vorbereitet. 4. Glossographische Aspekte: Nur drei Hss. enthalten spärliche Textglossierung, und zwar 1Gl. in einer Hs. des 9. Jh.s (Clm 6381), 10 Gll. in einer weiteren Hs. des 9. Jh.s (Clm 6375) und 5 Gll. in einer Hs. des 12. Jh.s (Freiburg Hs. 454). Der weit überwiegende Teil der Eusebius-Glossen (687 von 703) entfällt auf Textglossare, die in umfangreichen Glossar-Hss. mit einer ganz charakteristischen Zusammenstellung überliefert sind. So enthält etwa der Clm 19440 außer dem großen Bibelglossar M lat. Glossare zu Gregor dem Großen, Aldhelm, Phocas, den Canones, zum Liber comitis des Smaragdus von St. Mihiel usw., versammelt also Wissen zur Bibellektüre und zum Verständnis zentraler theologischer und kirchlicher Texte. 5. Räumliche und zeitliche Verteilung: Die sprachgeographischen Schwerpunkte der Überlieferung liegen im alem. und bair. Raum. Zeitlich erstreckt sich die Glossierung der Kirchengeschichte des Eusebius vom Ende des 8. Jh.s kontinuierlich bis ins 13. Jh. Der Schwerpunkt liegt mit ca. 500 von ca. 700 Gll. um 1000 und im 11. Jh. im Bairischen. 6. Beziehungen zwischen den Glossierungen: Die Edition der Glossen in der Ausgabe von Steinmeyer-Sievers zeigt in der Anlage die Parallelität zwischen der Leidener Hs. Voss. lat. Q. 69 und der St. Galler Hs. 299 (Nr. DCCCXXIII) sowie zwischen den Hss. des Mondseer Glossars (oben Nr. 6, 7, 10, 11, 13, 14, 15) (Nr. DCCCXXV). 7. Umfang und Bedeutung: Die Kirchengeschichte des Eusebius wurde in der Übersicht über die Glossierung nichtbiblischer Texte (R. Bergmann, in: BStH I, S. 91-96) der Patristik zugeordnet, die mit 30% der Glossen den größten Anteil hat. Dieser An-

‘Exhortatio ad plebem christianam’

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teil beruht freilich vor allem auf der außerordentlich umfangreichen Ú Gregor-Glossierung, die über 75% der Patristik-Glossierung ausmacht. Mit weitem Abstand stehen dahinter die Werke des Ú Hieronymus (5,6%), Ú Sulpicius Severus (4,8%), die Kirchengeschichte des Eusebius (3,9%) usw. In der Liste aller (fast 200) glossierten Autoren steht Eusebius mit einem Anteil von 1,2% an 15. Stelle. – Diese Positionen werden durch die Neuentdeckung von A. Nievergelt (s.o unter 3.) verändert. 8. Literatur: BStK-Nr. 64, 112, 162b, 225, 372, 443 (I), 499, 532, 533, 637, 665, 849, 926, 950, 998 (I); R. Bergmann, in: BStH I, S. 83-122; C. Wesle, Die ahd. Gll.; P. Glogger, Das Leidener Glossar Cod. Voss. lat. 4º 69, I-III, Augsburg 1901-1908.

ROLF BERGMANN

‘Evangeliarglossen, Essener’ Ú ‘Essener Evangeliarglossen’ ‘Exhortatio ad plebem christianam’ 1. Überlieferung: Kassel, UB, LB und MB 4º Ms. theol. 24, f. 13v-15r (A), aus Fulda mit altbayerischem Ursprung, geschrieben im 1. Viertel des 9. Jh.s (B. Bischoff, S. 123). Der auf neuer Seite, doch ohne Überschrift einsetzenden ‘Exhortatio’ gehen die sogenannten Canones apostolorum voran; es folgen ohne Absatz die ‘Glossae Cassellanae’ (Ú ‘Kasseler Glossen’) bis f. 17v, daran anschließend die Beschlüsse des Konzils von Nicäa samt Glaubensbekenntnis und sodann Bußordnungen, Liturgisches u. ä. – München, BSB Clm. 6244, f.144v-146r (B), vielleicht aus Freising, nach B. Bischoff, S. 124, aber kaum dort, doch jedenfalls in einem hochstehenden bayerischen Skriptorium entstanden und im Jahre 805 fertiggestellt. Es ist eine Hs. der Canones conciliorum, deren letzte, übrig gebliebene Blätter vom gleichen Schreiber für weitere Aufzeichnungen benutzt wurden: Ohne Überschrift f. 144v oben beginnend bis f. 146r die ‘Exhortatio’, f. 146v die Beschlüsse der bayerischen Synode von 805. – A und B entstammen einer gemeinsamen, nicht fehlerfreien Vorlage. Die ‘Exhortatio’ ist ohne zeitgenössischen Titel überliefert; die jetzt gebräuchliche Bezeichnung ist erst im frühen 18. Jh. aufgekommen (s. MSD II, S. 323; G. Ehrismann, I, S. 301). Zu beiden Handschriften: PadRep. 2. Ausgaben: Erste Ausgabe durch J. H. Hottinger, Historia ecclesiastica, VIII, Zürich 1667, S. 1219-1222 (Hs. A); B. J. Docen, Miscellaneen I, S. 6-8 (Hs. B); MSD Nr. LIV, I, S. 200f., II, S. 323-331; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. IX, S. 49-54; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. X; vollständige Zusammenstellung der Textabdrucke bei K. Morvay, Bibliographie der deutschen Predigt des Mittelalters. München 1974, S. 2-4 [T2]. – Faksimile der Hs. B bei M. Enneccerus, Die ältesten dt. Sprach-Denkm., Tafel 32 u. 33; E. Petzet – O. Glauning, Dt. Schrifttafeln, I,Tafel II.

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‘Exhortatio ad plebem christianam’

3. Historischer Zusammenhang: Die christliche Unterweisung der Gläubigen ist von Karl d. Gr. in einer Reihe von Verordnungen den mit der Seelsorge betrauten Priestern immer wieder eindringlich zur Pflicht gemacht worden (Zusammenstellung der einschlägigen Bestimmungen MSD II, S. 325ff.). Sie werden angehalten, ut orationem dominicam, id est „Pater noster“ et „Credo in Deum“ omnibus sibi subiectis insinuent et sibi reddi faciant tam viros et feminas quamque pueros (MGH. Cap. reg. franc. 1, 238), wenn es nicht anders geht, auch in der Volkssprache. Säumigen Priestern wie lernunwilligem Kirchenvolk drohen Strafen. Ein unmittelbarer Reflex dieser Anweisungen ist die gegenständliche ‘Exhortatio’ aus den ersten Jahren des 9. Jh.s. Sie ist als ein Muster anzusehen, das dem um die richtigen Worte verlegenen Seelsorger zeigen soll, in welcher Weise und mit welchen Argumenten er seine Gemeinde anzusprechen hat: Glaubensbekenntnis und Vaterunser sind leicht zu erlernen; die wenigen Worte zu wissen, ist heilsnotwendig für jeden Christen, der ihre gewissenhafte Weitergabe an die aus der Taufe gehobenen Kinder beim Jüngsten Gericht verantworten muss. Das ist Gottes Gebot und zudem dominationis nostrae mandatum, der Befehl des Herrschers, was sich auf die erwähnten Anweisungen Karls d. Gr. beziehen dürfte. Von daher den Text als ein von zentraler Stelle ausgegebenes und gewissermaßen offizielles Formular anzusehen, besteht jedoch kein Anlass. 4. Handschriftliche Anlage: Die kurze Rede ist – unter Verwendung etlicher Sätze aus den taufvorbereitenden Skrutinienmessen (sieh Sacramentarium Fuldense saeculi X, hg. v. G. Richter und A. Schönfelder, Fulda 1912, Nr. 2664) – zunächst einmal lat. entworfen und dann recht geschickt ins Bairische übersetzt worden. Das ist für das völlig Ungewohnte, wie es die Abfassung eines volkssprachigen Predigttextes darstellt, ebenso charakteristisch wie die parallele Aufzeichnung von dt. und lat. Text auch in den beiden erhaltenen Abschriften, wobei es allerdings bemerkenswerte Unterschiede gibt: In Hs. A stehen lat. und dt. Text in zwei grob eingeteilten Spalten, deren Abgrenzung von einer nachträglich gezogenen kurvigen Tintenlinie verdeutlicht wird, nebeneinander. Der Schreiber war sichtlich bemüht, das sich Entsprechende möglichst auf gleicher Zeilenhöhe unterzubringen. Für seine Vorlage ist in dieser Hinsicht noch größere Genauigkeit anzunehmen, sodass man für das Original von einer wirklich zeilenweisen Entsprechung von lat. und übersetzendem dt. Text ausgehen kann (A. Masser). Hingegen vertritt Hs. B einen deutlich jüngeren, in vergleichbaren Fällen auch anderwärts zu beobachtenden Überlieferungszustand, bei dem sich lat. und dt. Text nicht mehr zeilenweise entsprechen, sondern nur noch seitenweise, d. h. wir haben auf der jeweils linken Seite der Hs. den lat., auf der gegenüberstehenden rechten den dt. Text. 5. Übersetzungsleistung: Selbst wenn man berücksichtigt, dass der lat. Text der ‘Exhortatio’ dem Zweck entsprechend grammatikalisch einfach strukturiert ist und

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von daher für einen Übersetzer keine sonderlichen Probleme entstehen konnten, so ist doch das Geschick dieses Übersetzers hervorzuheben, der sich mit Erfolg um muttersprachliche Angemessenheit in der Wiedergabe seiner Vorlage bemüht hat. Er konnte so verfahren, weil er im Unterschied etwa zu den Übersetzern des Ú ‘Tatian’ oder dem Verfasser der Interlinearversion der lat.-ahd. Ú ‘Benediktinerregel’ frei von anderwärts notwendigen Wort-für-Wort-Entsprechungen, von syntaktischen oder anderen Gebundenheiten war. So ist dieser kleine ahd. Text ein gutes Beispiel für die Ausdrucksmöglichkeiten, die einem muttersprachlich versierten Übersetzer beim Fehlen hemmenden Zwanges im frühen 9. Jh. zur Verfügung gestanden haben. Die inhaltliche Umgebung, in der das Denkmal überliefert ist, wie seine überaus sorgfältige Niederschrift in der Münchner Hs. zeigen, dass man dieses Muster einer ‘Exhortatio’ offenbar zu schätzen gewusst hat. Als ‘Gemeindepredigt’ wird die ‘Exhortatio’ an üblicher Stelle im sonntäglichen Gottesdienst (an den anschließend man sich den geforderten katechetischen Unterricht denken muss) Verwendung gefunden haben. 6. Literatur: W. Grimm, Exhortatio ad plebem christianam. Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Philosophisch-historische Klasse, 1848, S. 425-437 (= W. Grimm, Kleinere Schriften 3. Berlin 1883, S. 367-381); G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 301-303; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 123f.; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 240f.; A. Masser, in: Volksspr.-lat. Mischtexte, S. 37-60.

ACHIM MASSER

Federproben Ú ‘Fuldaer Federprobe’, ‘Römische Federprobe’ ‘Fränkisches Gebet’ Überlieferung: München, BSB Clm 14468, f. 110r, aus dem Regensburger Domstift St. Emmeram. Die Handschrift wurde – gemäß seinem eigenhändigen Vermerk – auf Veranlassung des Bischofs Baturich 821 geschrieben. Sie enthält hauptsächlich Materialien zu den adoptianischen Auseinandersetzungen, am Ende zwei karolingische Kapitularien, zwischen ihnen das Gebet, erst ahd. dann lat.; vgl. PadRep. Ausgaben: B. J. Docen, Einige Denkmäler, S. 7; MSD Nr. LVIII, I, S. 209f.; II, S. 344f.; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XI, S. 60f. (mit Angabe weiterer älterer Ausgaben); W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. XIV. – Faksimile bei M. Enneccerus, Die ältesten dt. Sprach-Denkm., Tafel 31; E. Petzet – O. Glauning, Dt. Schrifttafeln, Tafel IV; Digitalisat: vgl. PadRep. Die Sprache des Gebetes ist rhfrk.; einige bair. Lautungen gehen zu Lasten wohl erst des Schreibers der Hs. Das Gebet ist die Übersetzung einer sehr geläufigen lat. For-

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‘Fränkisches Taufgelöbnis’

mel, deren Elemente frei kombinierbar waren und die deshalb in allerlei Varianten begegnet, unter den täglich zu sprechenden Gebeten der Klerikergemeinschaft ebenso wie in Verbindung mit Sündenbekenntnissen. Verschieden modifiziert taucht sie auch mehrfach in deutschen Übertragungen auf (u. a. Ú ‘Altbairisches Gebet’, Ú ‘Wessobrunner Gebet’). Die Vorstellung, diese ahd. Fassungen müssten sich alle auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt, d. h. auf ein und dieselbe einmalige Übersetzung zurückführen lassen (G. Baesecke), ist nicht gerechtfertigt und verkennt die lebendige Vielfalt gerade im Bereich des Gebetslebens. Im vorliegenden Falle, wo das deutsche Gebet ohne Zwischenraum, doch mit heraushebender Initiale, unmittelbar dem Text der ‘Admonitio generalis’ Karls d. Gr. folgt, ist es als passende Abschlussformel eines Schreibers, der seine Arbeit beendet hat, zu verstehen und so auch vom Schreiber des Clm 14468 aus seiner Vorlage übernommen worden. Der in dieser konkreten Überlieferung dem ahd. angeschlossene lat. Wortlaut des Gebetes ist nun aber nicht, wie man das normalerweise gewohnt ist, die Vorlage für die voraufstehende volkssprachige Fassung gewesen, vielmehr aus dieser rückübersetzt. Das ist bemerkenswert. Dem Übersetzer war der lat. Gebetstext offensichtlich nicht unbekannt, aber andererseits nicht so geläufig, als dass er nicht bei seiner Übertragung nach der ahd. Vorlage Fehler gemacht hätte. Literatur: G. Baesecke, PBB 46 (1922) S. 452-456; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 336f.; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 243. ACHIM MASSER

‘Fränkisches Taufgelöbnis’ 1. Überlieferung: Der Text ist zweifach überliefert: 1. Merseburg, Domstiftsbibliothek Hs. 136, f. 16r (A), aus Fulda; Sammel-Hs. des 9. Jh.s aus den Überresten von 6 urspr. selbstständigen Codices (Ú ‘Merseburger Gebetsbruchstück’, Ú ‘Merseburger Zaubersprüche’); das Taufgelöbnis gehört in den ersten Teil. Ihm geht eine Erklärung der Messe voraus, und es folgt unmittelbar ein vollständiges (lat.) Taufritual (hg. v. A. Bezzenberger, ZDPh 8 [1877] S. 216-226). Die sorgfältige, ags. geprägte leicht starr wirkende Schrift weist wie die Sprache des Textes auf Fulda u. in die ersten Jahrzehnte des 9. Jh.s (B. Bischoff, FMSt 5 [1971] S. 111). Beim ahd. Taufgelöbnis sind die einzelnen Fragen mit ihren jeweiligen Antworten zeilenweise abgesetzt, die herausgerückten Anfangsbuchstaben der Fragen sowie die gesamten Antworten in roter Schrift. – 2. München, BSB Germ. g. 37, S. 174 (B), ein a. 1607 oder später vorgenommener handschriftlicher Eintrag des Taufgelöbnisses aus einer inzwischen verloren gegangenen Hs. des Speyrer Domstifts in ein Exemplar von M. Goldast, Alamannicarum rerum scriptores, II, 1606; Näheres bei E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 25; vgl. PadRep.

‘Fränkisches Taufgelöbnis’

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2. Ausgaben: J. Grimm, Kleinere Schriften, II, 1865, S. 28 (Hs. A); H. F. Massmann, Abschwörungsformeln, Nr. 2, S. 28-33 u. 68 (Hs. B, mit Faks.); MSD Nr. LII, I, S. 199, II, S. 319-323; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. IV, S. 23-26 (mit Angabe weiterer älterer Ausgaben); W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. XVI, 1. – Faks. d. Hs. A u. a. bei M. Enneccerus, Die ältesten dt. Sprach-Denkm., Tafel 6; H. Fischer, Schrifttafeln, Tafel 8; vgl. PadRep. 3. Einordnung: Das Bekenntnis des christlichen Glaubens bei gleichzeitiger Absage an die bis dahin verehrten Götzen ist seit den Tagen der frühchristlichen Mission die Voraussetzung für die Spendung des Taufsakraments durch den dazu berufenen Diener der Kirche. Wie der Taufe von Erwachsenen grundsätzlich eine katechetische Unterweisung vorauszugehen hat, so muss auch dem Taufwilligen bzw. dessen stellvertretendem Paten verständlich sein, was der Priester fragt und was er selbst zu antworten hat, das heißt, wem er abschwören und was er als seinen neuen Glauben bekennen soll. Das erfordert die Übertragung des lat. Formulars in die jeweilige Volkssprache. Auf deutschem Sprachgebiet schon für die Zeit des Bonifatius bezeugt, ist das Ablegen des volkssprachigen Taufgelöbnisses im 8. und beginnenden 9. Jh. weithin noch die unmittelbare Frucht erster missionarischer Tätigkeit. Deshalb ist für die deutschen Texte charakteristisch, dass durch unterschiedliche Präzisierungen, wer unter dem ‘Teufel’ und was unter ‘Teufelswerk’ konkret zu verstehen sei, etwa durch die namentliche Aufzählung heidnischer Gottheiten und Praktiken heidnischen Kultes, der Täufling unmissverständlich bekennen soll, all dem in Hinkunft entsagen zu wollen (Ú ‘Kölner T.’; Ú ‘Altsächsisches T.’). Die deutschen Taufgelöbnisse machen die noch fehlende Einheitlichkeit der an den verschiedenen Orten im Umlauf befindlichen lat. Formulare offenbar, als deren Übersetzung sie uns entgegentreten. Der Besitz eines den lat. Wortlaut korrekt wiedergebenden muttersprachlichen Textes gehörte also zum unerlässlichen Rüstzeug des die Taufe spendenden Priesters. Daraus ergibt sich, dass man eine Vielzahl einst vorhanden gewesener volkssprachiger Exemplare annehmen kann, von denen jedoch nur ein spärlicher Rest auf uns gekommen ist. Die sorgfältige, sich von den sie umgebenden lat. Stücken in nichts unterscheidende Überlieferung des ‘Fränkischen T.’ wie ebenso des ‘Altsächsischen T.’ zeigt die Bedeutung, die man offensichtlich solchen volkssprachigen Formularen zuerkannt hat. Demgegenüber kennen wir das Ú ‘Kölner T.’ lediglich aus junger Überlieferung, allerdings aus früher Quelle. Wegen der erforderlichen Verlässlichkeit korrekter volkssprachiger Formulare anzunehmen, ihnen müsste eine von offizieller Stelle approbierte gemeinsame ‘Urübersetzung’ zugrunde liegen, besteht ebensowenig Veranlassung wie bei den unterschiedlichen Verdeutschungen des Vaterunsers (Ú ‘Freisinger Paternoster’). Gegen G. Baesecke, der die uns überlieferten altdt. Taufgelöbnisse sämtlich auf eine vor 776 entstandene Mainzer, später durch das

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persönliche Interesse Karls d. Gr. mehrfach erweiterte Urübersetzung zurückzuführen versuchte, ist denn auch zu betonen, dass sich in dem uns Erhaltenen unterschiedliche Übertragungen ungleicher lat. Formulare und damit auch die interessanten Varianten unter diesen damals im Umlauf befindlichen lat. Texten spiegeln (W. Foerste). 4. Verwendung: Was speziell das ‘Fränkische T.’ angeht, so lässt sich über die einst praktische Verwendung des nur in neuzeitlicher Abschrift überlieferten Exemplars B naturgemäß nichts ausmachen. Hingegen bezeugt die Umgebung, in der uns die Fassung A entgegentritt, eindeutig, dass dieses ahd. Taufgelöbnis zu Anfang des 9. Jh.s zu liturgischer Verwendung bestimmt war. Überhaupt dürften diese frühen volkssprachigen Taufgelöbnisse zugleich die ersten Belege für den liturgischen Einsatz der dt. Volkssprache sein. A und B sind Abkömmlinge einer gemeinsamen Vorstufe, die ihrerseits als erweiternde, auf Angleichung an den sich herausbildenden Ordo Romanus bedachte Bearbeitung zu denken ist. Am Anfang der – weit ins 8. Jh. zurückreichenden und wohl vom Missionszentrum Mainz ausgegangenen – Entwicklung dürfte die Übersetzung eines in den Tagen des Bonifatius gebräuchlichen lat. Formulars gestanden haben (W. Foerste), das u. a. durch die Kürze der Glaubensfragen wie durch eine (bis in unsere erhaltenen Texte nachwirkende) altertümliche Formulierung der zweiten Abschwörungsfrage gekennzeichnet war. 5. Literatur: J. Grimm, Über zwei entdeckte Gedichte aus d. Zeit d. dt. Heidentums, in: Kleinere Schriften II, 1865, S. 1-28; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 298-301 (Zusammenstellung älterer Lit.); A. Lasch, NPhM 36 (1935) S. 102f.; G. Baesecke, Die ahd. u. as. Taufgelöbnisse, S. 63-85 (= G. Baesecke, Kleinere Schriften, S. 325-342); G. Baesecke, FF 21/23 (1947) S. 266-268 (= G. Baesecke, Kleinere Schriften, S. 343-347); W. Foerste, Untersuchungen, S. 90-115; D. Geuenich, in: Von der Klosterbibl. z. Landesbibl., S. 99-124; A. Masser, in: 2VL II, Sp. 822-824; H. de Boor, Die dt. Lit., S. 26f.; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 232-235. ACHIM MASSER

‘Fragmente, Mon(d)seer ’ Ú Isidor von Sevilla ‘De fide catholica’, Althochdeutsche Übersetzung und ‘Mon(d)seer Fragmente’ ‘Freckenhorster Heberegister und Heberolle’ As. (spätas./nordwestfäl.) Einkünfteverzeichnis der Grundherrschaft des Frauenklosters und Stifts Freckenhorst bei Warendorf im Bistum Münster, angelegt vielleicht aus Anlass der Neuordnung des Freckenhorster Präbendenwesens durch Erpho, Bf. von Münster (1084-1097, Urkunde von 1090; E. Friedlaender, S. 21f.).

‘Freckenhorster Heberegister und Heberolle’

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1. Überlieferung: Heberegister Handschrift M aus Freckenhorst: Münster, Staatsarchiv, Msc. VII 136a, dort seit der Aufhebung des Stiftes Freckenhorst 1811 im Zuge der Säkularisation. – Heberolle Handschrift K, Paralleltexte zu M, wahrscheinlich kurz vorher angefertigter Entwurf für M als Reinfassung (J. Hartig, 1972; W. Kohl, S. 214; vgl. E. Baßler – E. Hellgardt); Fragment, wohl eines Rotulus, ehemals im Besitz von N. V. Kindlinger (1749-1819), seitdem verschollen (Ausgabe J. G. Fischer); mögliche Erwägungen zu Form und Umfang der Rolle bei E. Friedlaender, S. 19; vgl. E. Baßler – E. Hellgardt, S. 253f. Die gelegentlich erwogene Einschätzung als Fälschung hat sich nicht bestätigen lassen (E. Baßler – E. Hellgardt). 2. Ausgaben – Faksimiles – Übersetzungen: J. G. Fischer, Beschreibung typographischer Seltenheiten und merkwürdiger Handschriften nebst Beyträgen zur Erfindungsgeschichte der Buchdruckerkunst, 5. Lieferung. Nürnberg 1804, S. 156-165: Auszüge aus K mit Faksimile der ersten acht Zeilen. – Die Heberegister des Klosters Freckenhorst nebst Stiftungsurkunde, Pfründeordnung und Hofrecht. Hg. v. E. Friedlaender, Codex traditionum Westfalicarum 1, Münster 1872 (Nachdruck 1956): Hs. M. (mit topographischer Karte). – J. H. Gallée, As. sprachdenkm., S. 169-191: Synopse von M und K (Teildruck nach J. G. Fischer). – E. Wadstein, Kleinere as. sprachdenkm., S. 24-45, S. 133-137: Hss. M und K (nach Fischer). – Zu Abbildungen und Digitalisat vgl. PadRep.

3. Inhalt der Handschrift M: 11 Blätter, davon waren 1r und 11r/v ursprünglich leer. Der Inhalt ist in vier paläographisch-kodikologisch klar markierte Teile gegliedert. Teil 1, f. 1r, Ende 12. Jh.: ein lat., dreieinhalb Zeilen langer Nachtrag über Getreideund Käseabgaben des Hofes Belo. – Teil 2 (Hauptteil) f. 1v-8 v, Zeile 13, zweite Hälfte 11. Jh.: das ursprüngliche Heberegister, deutsch. – Teil 3, f. 8v, Zeile 14 - f. 10r, Ende 11. Jh.: in deutsch-lat. Mischsprache ein Ausgabenverzeichnis, Angaben über Eingänge beim Stiftsspeicher und eine Präbendeneintragung; mit lat. Nachtrag f. 10r; f. 10v ist leer. – Teil 4, f. 11r/v, Anfang 12. Jh.: weitere, lat. Zusätze, eine Mischung aus Einkünfteverzeichnis und Traditionsbuch; an erster Stelle ist eine Schenkung Kaiser Heinrichs V. (1106-1125) erwähnt. 4. Textinhalt und Textsorte: M und K bieten in ihrem Hauptteil eine literarisch durchrationalisierte Darstellung der personalen und regionalen Verhältnisse in der Grundherrschaft Freckenhorst. Für die fünf hier aufgezählten und verwaltungsorganisatorisch übergeordneten Fronhöfe Viehaus (= Freckenhorst), Ennigerloh, Balhorn, Jochmaring und Vadrup werden in klarer Ordnung die dort wirtschaftenden Personen mit ihren Abgabeverpflichtungen gegenüber dem Konvent des Stiftes und der Äbtissin im Besondern verzeichnet. Auf untergeordneter Ebene sind die Ortsnamen und Leistungen zahlreicher den Fronhöfen nachgeordneter und von ihnen verwalteter Einzelhöfe samt Namensnennung der dort wirtschaftenden Personen und ihrer Pflichten festgehalten (E. Hellgardt, S. 66-75). Eine Fülle von Sachgütern,

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‘Freckenhorster Heberegister und Heberolle’

Natural- und auch Geldabgaben wird erwähnt, woraus sich ein lebendiges Bild der reichen Besitz- und vielfältigen Lebensverhältnisse der Grundherrschaft ergibt (W. Kohl, S. 279-285; E. Hellgardt, S. 81-94). – Die zahlreichen Rufnamen sind sprachlich noch durchweg germanischen Ursprungs, meist in Form von Kurz- bzw. Kosenamen, wie sie besonders im Gebrauch waren, wenn mit ihnen Eigenhörige angesprochen wurden; erst im 12. Jh. kommen im Münsterland nichtgerm. Namen in Gebrauch (J. Hartig, 1967, S. 33 mit Übersicht). Dem Quellentypus nach handelt es sich im Hauptteil von M (und K) um ein Verzeichnis von Abgaben und Leistungen, zu denen die am jeweiligen Ort der Grundherrschaft lebenden Eigenhörigen gegenüber dem Grundherrn verpflichtet waren (E. Hellgardt, S. 94f.). Der Akzent liegt auf den Rechten des Grundherrn gegenüber den Personen der Hofsassen und ihren Familien – anders als in den Quellen des Typs Traditionsbuch, wo die Höfe der Grundherrschaft mit ihren zugehörigen Ländereien und Sachgütern als Vermögensobjekte verzeichnet sind, während die dort wirtschaftenden Personen als weniger wichtig erachtet wurden (W. Kohl, S. 214f.). Freilich soll das Grundkonzept von M/K noch gegen Ende des 13. Jh.s im Sinne eines Traditionsbuches nutzbar und gültig gewesen sein (W. Kohl, S. 214), als die in ihm festgehaltenen Personenverhältnisse natürlich nicht mehr zutrafen. Mit der besonderen Anlage von M/K eröffnen sich aber Möglichkeiten, diese Quelle als Text zu lesen und nicht nur als Materialsammlung zur historischen Landes- und historisch-geographischen Personen- und Ortsnamenforschung. Mit ihrer Textsortenzugehörigkeit bietet M/K eine Fülle von Indizien für die interpersonalen Beziehungen innerhalb der Grundherrschaft Freckenhorst zur Zeit der Wende vom 11. zum 12. Jh.. Eine umfassende Analyse des Denkmals, wie sie noch aussteht, könnte so etwas wie eine Prosopographie des Personenverbands der Grundherrschaft Freckenhorst zu dieser Zeit erarbeiten (E. Hellgardt, S. 94f.). 5. Literatur: Die ältere Literatur (bis 1980) bei R. Schmidt-Wiegand, in: 2VL II, Sp. 885887. – E. Baßler – E. Hellgardt, Die Freckenhorster Heberolle – eine Fälschung? (verbesserte Fassung mit Entschuldigungen der Redaktion), ABÄG 65 (2009) S. 251-266 (mit Abbildung nach Fischer); J. Hartig, Die münsterländischen Rufnamen im späten Mittelalter, Niederdeutsche Studien 14, Köln 1967; J. Hartig, Fragen zum Verhältnis der beiden Handschriften des Freckenhorster Heberegisters, NM 28 (1972) S. 97-108; J. Hartig, Das Freckenhorster Heberegister, in: Kirche und Stift Freckenhorst. Jubiläumsschrift zur 850. Wiederkehr des Weihetages der Stiftskirche Freckenhorst am 4. Juni 1979, Freckenhorst 1979, S. 186-192 (mit Abb. aus M); E. Hellgardt, Bemerkungen zum Text des Freckenhorster Heberegisters (Handschrift M). ABÄG 52 (1999) S. 63-95; E. Klueting, Das Bistum Osnabrück, I. Das Kanonissenstift und Benediktinerinnenkloster Herzebrock, Germania Sacra N.F. 21, Berlin 1986, S. 141-144; W. Kohl, Das Bistum Münster, III. Das (freiweltliche) Damenstift Freckenhorst, Germania Sacra N.F. 10, Berlin 1975, besonders S. 212-215; R. Peters – F. H. Roolfs (Hgg.), Plattdeutsch macht Geschichte. Niederdeutsche Schriftlichkeit in Münster und im Münsterland im

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Wandel der Jahrhunderte, Münster 2008, S. 100-102 (Nr. 03) [R. Peters]; G. Ruppert, Freckenhorst, in: LexMa IV, Sp. 883-884; K. Siewert, Mittelalterliches Deutsch in Münster. Handschriften, Handschriftenfragmente, Frühdrucke. Schriften der Universitätsbibliothek Münster 6. Münster/New York 1991, S. 32-38 (Abbildungen von M).

ERNST HELLGARDT

‘Freisinger Paternoster’ 1. Überlieferung: München, BSB Clm 6330, f. 70v-71r (A), aus Freising, nach B. Bischoff, S. 114f., in den ersten Jahren des 9. Jh.s in einem schwer zu lokalisierenden obrh.-alem. Skriptorium aufgezeichnet. Die Hs. ist eine Sammlung von Predigten und Exzerpten der Kirchenväter, an ihrem Ende, zusammen mit einem lat. Glaubensbekenntnis, das dt. Paternoster. – München, BSB Clm 14510, f. 78r-79r (B), 1. Hälfte des 9. Jh.s, aus dem Regensburger Domstift St. Emmeram, doch nicht hier geschrieben (B. Bischoff, S. 123). Der Codex besteht aus zwei ursprünglich selbstständigen Hss., von denen die zweite, in dem sich auf verbliebenem Raum und von anderer, ungelenker Hand unser Stück eingetragen findet, Alkuins Schrift ‘De fide sanctae trinitatis et incarnatione Christi’ enthält. Zu beiden Hss.: PadRep. 2. Ausgaben: B. J. Docen, Miscellaneen II, S. 288-290 (Hs. A); B. J. Docen, Einige Denkmäler, S. 5f. (Hs. B); MSD Nr. LV, I, S. 202f., II, S. 331-335; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. VIII, S. 43-48 (mit Angabe weiterer älterer Ausgaben); W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. XII; Faksimile der Hs. A bei M. Enneccerus, Die ältesten dt. Sprach-Denkm., Tafel 29 u. 30; E. Petzet – O. Glauning, Dt. Schrifttafeln I, Tafel III (Anfang beider Hss.).

3. Katechetische Einordnung: Anders als das Ú ‘St. Galler Paternoster und Credo’ ist dieses nach Sprache und Ursprung altbair. Stück mehr als nur die Übertragung der Oratio dominica: Es bietet – aufgegliedert in die Anrede und die sieben Bitten – jeweils zunächst den lat. Wortlaut der jeweiligen Gebetsphrase, darauf eine (sprachlich saubere) Übersetzung in die Volkssprache und anschließend eine ebenfalls dt. Erklärung dessen, was darunter zu verstehen sei. Dieses Verfahren entspricht einer seit dem frühen Mittelalter fassbaren und im wesentlichen durch die Jahrhunderte unverändert weitergereichten katechetischen Methode. Zusammen mit der annähernd gleichzeitigen Auslegung des Vaterunsers im Ú ‘Weissenburger Katechismus’ steht das ‘Freisinger Paternoster’ am Anfang des bis in die Neuzeit reichenden dt. Zweiges dieser Tradition. Im ‘Freisinger Paternoster’ freilich sind diese Erklärungen keineswegs unmittelbar für das Kirchenvolk gedacht, sondern sie dienen zunächst einmal der Belehrung der Priester, die dann ihrerseits daraus Nutzen für ihre katechetische Unterweisung der ihnen anvertrauten Gläubigen ziehen können. Die Umgebung, in

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‘Freisinger Paternoster’

der sich das ‘Freisinger Paternoster’ überliefert findet, ist dementsprechend: „Beide Handschriften können als pastorale Handbücher gelten“ (W. Haubrichs). 4. Stellung in der Tradition: Die Verfertigung und Weiterbearbeitung solcher volkssprachigen Texte ist letztlich im Zusammenhang mit den seit der Admonitio generalis Karls d. Gr. von a. 789 ständig wiederholten Ermahnungen an Seelsorger und Kirchenvolk zu gewissenhafter Beschäftigung mit den für das Glaubensleben unerlässlichen Stücken zu sehen (Ú ‘Exhortatio ad plebem christianam’, Ú ‘Weissenburger Katechismus’). Jedoch ist nicht daran zu denken (gegen G. Baesecke), dass man in jenen Jahren die Oratio dominica nur ein einziges Mal übertragen und dann als gleichsam autorisierte Übersetzung in die Lande verschickt hat. Ganz im Gegenteil: Von der lat. Oratio dominica gab es zu damaliger Zeit noch textliche Varianten, und dieser Umstand hat auch voll in die verschiedenen ahd. Vaterunser-Übersetzungen durchgeschlagen (A. Masser, PBB 85 [Tübingen 1963] S. 35-45). Das ‘Freisinger Paternoster’, das von den sonstigen ahd. Vaterunsertexten unabhängig ist, stellt in seiner überlieferten Form das Ergebnis mehrfacher Bearbeitung dar: Am Anfang stand eine schlichte Verdeutschung, die auf späterer Stufe durch die Einschaltung des überlieferten lat. Wortlautes und der volkssprachigen Erklärungen erweitert worden ist. Auf dieser (nicht erhaltenen) Fassung fußen als nochmalige, voneinander verschiedene Bearbeitungen unsere Handschriften A und B, wobei B jünger und durch stärkere, vor allem kürzende, teilweise ausgesprochen missglückte Eingriffe in den überkommenen Text charakterisiert ist. So vermag dieses sogenannte ‘Freisinger Paternoster’ einen Einblick zu geben in die hinter seinem überlieferten Text stehende fortgesetzte intensive Beschäftigung und Weitergabe mit dem für das Glaubensleben zentralen Gebet des Herrn. 5. Literatur: G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 304f.; B. Adam, Katechetische Vaterunserauslegungen. Texte und Untersuchungen zu deutschsprachigen Auslegungen des 14. und 15. Jahrhunderts, MTU 55, Zürich/München 1976, S. 10f.; G. Baesecke, Unerledigte Vorfragen der althochdeutschen Textkritik und Literaturgeschichte. I. Die Vaterunser vor Notker, PBB 69 (1947) S. 361-367; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 114f., 123; H. de Boor, Die dt. Lit., S. 27f.; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 239f.; A. Masser, PBB 85 (Tübingen 1963) S. 35-45; A. Masser, in: 2VL II, S. 905-907; H. Tiefenbach, unscripulo. Überlegungen zur Wortwahl im Altbairischen Paternoster und zu den germanischen Verbaladjektiven mit l-Suffix, Sprachwissenschaft 16 (1991) S. 99-115.

ACHIM MASSER

‘Fuldaer Beichte’ Ú Beichten, Althochdeutsche und altsächsische

‘Fuldaer Federprobe’

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‘Fuldaer Federprobe’ Überlieferung: Rom, BAV Reg. lat. 1143. Eine nur noch teilweise lesbare berichtende ahd. Notiz wurde im 10. Jh. auf einem zusätzlichen Blatt vorne recto in eine medizinische Sammelhandschrift des 9. Jh.s eingetragen, die auch ahd. glossierte Pflanzenglossare enthält. Edition und Literatur: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LXXXVIII, S. 405; BStK-Nr. 826; vgl. PadRep.

ROLF BERGMANN

‘St. Galler Haussegen’ Ú ‘Zürcher Hausbesegnung’ ‘St. Galler Interlinearversion zu Joh. 19,38’ Wohl älteste Überlieferung einer althochdeutschen Interlinearversion. 1. Überlieferung und Geschichte des ursprünglichen Codex: Das Blatt, das die ahd. Interlinearversion zu Joh. 19,38 überliefert, entstammt ursprünglich einem lat. Evangeliar, das die vier Evangelien in der Abfolge Matthäus, Johannes, Lukas und Markus in der Version der Vetus Latina enthalten hat. Das in einer sorgfältigen Unziale zweispaltig geschriebene Evangeliar ist im 5. Jh. in Italien entstanden. Das letzte Blatt des Codex (St. Gallen, StB 1394, S. 91-92), ein Ersatz des ursprünglichen Schlussblattes, entstammt erst dem 7. Jh. und enthält, ebenfalls in unzialer Schrift, auf der Rectoseite den Schluss des Markusevangeliums. Die zunächst frei gebliebene Versoseite weist zahlreiche Einträge aus dem 7. bis 10. Jh. auf, darunter auch einen Vermerk, aus dem hervorgeht, dass die Handschrift in der ersten Hälfte des 8. Jh.s noch in Rom aufbewahrt wurde, wo der Codex vielleicht auch entstanden ist (Die Vetus Latina-Fragmente, S. 170). Aufgrund der verschiedenen in der Handschrift enthaltenen ahd. Einträge (s. dazu im Ganzen A. Nievergelt, in: Die Vetus LatinaFragmente, S. 39-60) sowie der Besitzgeschichte ist im Weiteren zu folgern, dass das Evangeliar spätestens gegen Ende des 8. Jh.s nach St. Gallen gelangt sein muss. Im Rahmen einer umfangreichen Erneuerung der St. Galler Klosterbibliothek ist der Codex schließlich 1460/1461 als Buchbindermakulatur verwendet worden, wobei davon auszugehen ist, dass die Handschrift damals bereits nur noch in einem fragmentarischem Zustand vorlag (R. Gamper – Ph. Lenz, in: Die Vetus Latina-Fragmente, S. 67f.). – Der Codex, der ursprünglich wohl einmal insgesamt 218 Blätter aufgewiesen hat (Übersicht über den ursprünglichen und den erhaltenen Bestand: Die Vetus Latina-Fragmente, S. 29), von denen nur noch rund ein Zehntel (25 Blätter) ganz oder teilweise erhalten geblieben sind (R. Gamper – Ph. Lenz, in: Die Vetus

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‘St. Galler Interlinearversion zu Joh. 19,38’

Latina-Fragmente, S. 65 und 67), ist erst jetzt in einem 5-jährigen interdisziplinären Forschungsprojekt genauestens erfasst und untersucht worden. Die Ergebnisse dieses Forschungsunternehmens liegen nun in einem im Jahre 2012 erschienenen umfangreichen Band vor, der in verschiedenen Einzelbeiträgen und in teils gemeinsamen Beiträgen von P. Erhart, R. Gamper, Ph. Lenz, A. Nievergelt und E. Schulz-Flügel unter dem Titel ‘Die Vetus Latina-Fragmente aus dem Kloster St. Gallen’ erstellt worden ist. Dabei werden dann auch die einzelnen Fragmente, von denen einige erst in den letzten Jahren entdeckt bzw. ausgelöst worden sind, ausführlich beschrieben und zur bildlichen Wiedergabe in ihrer ursprünglichen Abfolge innerhalb des Evangeliars zusammengestellt und – sogar in der Position, in der sich die teils nur sehr kleinen Fragmente auf dem jeweiligen Blatt einmal befunden haben – in Originalgröße farbig faksimiliert und ediert, wobei auch alle späteren Zusätze jedweder Art im Apparat Berücksichtigung finden. Der Band geht im Einzelnen wie im Ganzen in vielem weit über das bisher Bekannte hinaus und bildet, auch durch die Art der phototechnischen Zusammenfügung der Fragmente, nunmehr die unabdingbare Grundlage und den Ausgangspunkt für alle weitere Forschung. – Die erhaltenen Fragmente sind insgesamt unter 20 Nummern zusammengefasst und beschrieben worden (Die Vetus Latina-Fragmente, Nr. 1-20, S. 21-29). Sie werden heute in insgesamt vier Bibliotheken und Archiven aufbewahrt: St. Gallen, StB: Die Hauptmasse (rund zwei Drittel) der heute noch erhaltenen Fragmente des ursprünglichen Evangeliars findet sich in der Fragmentensammlung Cod. Sang. 1394, S. 51-92, die auf der seit 1780 betriebenen Sammeltätigkeit der St. Galler Bibliothekare Johann Nepomuk Hauntinger (1756-1823) und Ildefons von Arx (1755-1833) basiert und im Jahre 1822 von Ildefons von Arx angelegt worden ist. Die in der St. Galler Stiftsbibliothek erhaltenen Fragmente des Evangeliars stammen, soweit noch ermittelbar, aus den Handschriften bzw. Buchdeckeln der Codices 14, 76, 100, 172, 243, 553, 831 und 905 (nicht 205 !, wie von B. Bischoff [Die Vetus Latina-Fragmente, Nr. 8, S. 23] vermerkt). (Zu den Fragmenten der Stiftsbibliothek s. insgesamt: Die Vetus LatinaFragmente, Nr. 1-10, S. 21-24; Nr. 14-20, S. 27-29). – St. Gallen, StA, Fragmentensammlung (Die Vetus Latina-Fragmente, Nr. 11, S. 24-26). – St. Gallen, KB, Vadianische Sammlung, Ms. 70a (Die Vetus Latina-Fragmente, Nr. 12, S. 26); (s. dazu weiter unten unter 3.) – Chur, Bischöfliches Archiv (Diözesanarchiv), 041.0.1 (früher über viele Jahrzehnte des 19. und 20. Jh.s als Depositum des Domstifts im Rätischen Museum in Chur aufbewahrt) (Die Vetus Latina-Fragmente, Nr. 13, S. 26f.). – Außer der gesamthaften Faksimilierung (Die Vetus Latina-Fragmente, 2012) finden sich zu den Fragmenten der Stiftsbibliothek St. Gallen und des Bischöflichen Archivs Chur unter anderem auch Abbildungen unter CESG, im PadRep und www.bistumsarchivchur.ch.

‘St. Galler Interlinearversion zu Joh. 19,38’

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2. Althochdeutsche Eintragungen der Handschrift: Das in Italien entstandene Evangeliar enthält in den überlieferten Fragmenten außer dem lat. Bibeltext in der Version der Vetus Latina noch eine Reihe ahd. Eintragungen (s. dazu gesamthaft A. Nievergelt, in: Die Vetus Latina-Fragmente, S. 39-60, mit weiterführender Literatur), die sämtlich dem ältesten überlieferten Ahd. zuzurechnen sind und Zeugnis von der Nutzung der Handschrift in St. Gallen gegen Ende des 8. Jh.s bzw. um 800 ablegen. Dabei können von der Art und der Position der Eintragungen her insgesamt drei verschiedenartige ahd. Bearbeitungen unterschieden werden, die untereinander keinen erkennbaren Zusammenhang aufweisen. Während die mit der Feder eingetragene Interlinearversion zu Joh. 19,38 der Forschung spätestens seit dem Jahre 1864 bekannt war, bestanden bei einigen federprobenähnlichen Einträgen (Cod. Sang. 1394, S. 92 und S. 82) hinsichtlich der Sprache und der Lesungen einige Irritationen, die erst jetzt durch A. Nievergelt (in: Die Vetus Latina-Fragmente, S. 56-59) ausgeräumt wurden (zu den beiden aus insgesamt zwei lat. Lemmata und drei ahd. Interpretamenten bestehenden Glossierungen [Cod. Sang. 1394, S. 92)] s. auch R. Bergmann, in: Sprache und Dichtung in Vorderösterreich, S. 37 mit Abb. 2 [nach S. 40]). Gänzlich unbekannt waren der germanistischen Forschung dagegen die umfangreichen ahd. Griffelglossierungen in den Fragmenten Cod. Sang. 1394 (S. 51-88) geblieben, die sich jedoch nur auf den Bereich zum Matthäusevangelium 17,14(16?)-20,28 beziehen. Zwar hatte schon Ildefons von Arx auf den der Fragmentensammlung Cod. Sang. 1394 beigebundenen Zwischenblättern handschriftlich auf zwei dieser Griffelglossierungen hingewiesen, aber erst A. Nievergelt hat die Fragmente seit dem Jahre 2006 systematisch daraufhin untersucht und damit erst für die Forschung entdeckt und zugänglich gemacht. Die insgesamt 53 identifizierten Griffelglossierungen sind von A. Nievergelt (in: Die Vetus Latina-Fragmente, S. 41-55) nunmehr grundlegend ediert, kommentiert und sprachlich bestimmt worden. 3. Überlieferung, Abbildungen und Ausgaben der ahd. Interlinearversion: St. Gallen, KB Vadianische Sammlung, Ms. 70a: 1 schmaler Streifen (f. 1; f. 1ra: Joh. 19,13-17, Text nur noch sehr resthaft zu Beginn der jeweiligen Zeile der Spalte erhalten; f. 1vb: Joh. 19,24-27, Text nur noch sehr resthaft am Ende der jeweiligen Zeile der Spalte erhalten) und 1 Einzelblatt (f. 2: Joh. 19,28-42; Interlinearversion zu Joh. 19,38: f. 2va, Zeile 15-21). – Beide Fragmente sind 1460/1461 als Einbandmakulatur verwendet worden (s. dazu im Ganzen Die Vetus Latina-Fragmente, Nr. 12, S. 26; s. auch R. Gamper – Ph. Lenz, in: Die Vetus LatinaFragmente, S. 61-68, insb. S. 64f.; s. auch R. Gamper im Verbundkatalog HAN (Handschriften-Archive-Nachlässe) über www.ub.unibas.ch oder auch über PadRep). Sie wurden schon im frühen 20. Jh. ausgelöst aus Ms. 70, einer einige Jahre nach der Mitte des 15. Jh.s entstandenen Papierhs., die als Kernbestand verschiedene Viten von St. Galler Heiligen (Gallus, Otmar, Wiborada usw.) und eine Geschichte des Klosters (mit den wichtigsten Texten der Casus sancti Galli) enthält. Das kleinere Fragment (f. 1), war, vermutlich als Vorsatzblatt, in Ms. 70 vorne, das größere Fragment (f. 2) war als Vorsatzblatt/Spiegelblatt hinten

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‘St. Galler Interlinearversion zu Joh. 19,38’

eingebunden. Der heutige schmale Streifen von f. 1 hat sich offensichtlich dadurch ergeben, dass der freistehende Teil des beim Einbinden noch vollständigen Blattes späterhin von unbekannter Hand und zu unbekannter Zeit, aber vor 1864, dem Erscheinungsjahr des Katalogs von G. Scherrer (1864, S. 30), der bereits von einem Streifen spricht, herausgeschnitten wurde. Die beiden Blätter haben gemeinsam einmal den Textbestand zu Joh. 19,13-42 aufgewiesen. Nach den jetzt neu gewonnenen Ergebnissen und Annahmen zum ursprünglichen Befund des Evangeliars hat es sich bei den beiden Blättern aber nicht um das innere Doppelblatt einer Lage, sondern um die Blätter 1 und 2 der Lage XIV gehandelt (Übersicht zu den Lagen und zur Einordnung der erhaltenen Fragmente: Die Vetus Latina-Fragmente, S. 29). – Vollständige Abbildung der beiden Fragmente: Die Vetus Latina-Fragmente, S. 131f. (f. 1) und S. 135f. (f. 2 Interlinearversion: S. 136) sowie Edition des lat. Textes mit Anführung sämtlicher sekundärer Eintragungen im Apparat: Die Vetus Latina-Fragmente, S. 130, 133f. und 137. – Abbildung von f. 2v (Interlinearversion) auch bei St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 141 (Abb. 5) und A. Nievergelt, in: Die Vetus Latina-Fragmente, S. 56 (Ausschnitt mit Interlinearversion). – Ausgaben: Die aus insgesamt 17 lat. und 12 ahd. Wörtern bestehende Interlinearversion ist zeilengetreu und in den Lesungen erstmals korrekt von L. Voetz (1997, S. 188f.) ediert und genauer untersucht worden. – Weitere Wiedergaben: St. Müller (Ahd. Lit., S. 114f., mit Übertragung ins Neuhochdeutsche); A. Nievergelt (in: Die Vetus Latina-Fragmente, S. 56). – Zu den älteren – sämtlich nicht fehlerfreien und teils auch in der Präsentation inadäquaten (G. Scherrer und E. Steinmeyer) – Ausgaben von G. Scherrer (1864, S. 30), H. J. White (J. Wordsworth – W. Sanday – H. J. White, 1886, S. 67), E. Steinmeyer (StSG IV, 1898, 304,15-20 und 33-38) und St. Sonderegger (Ahd. in St. Gallen, S. 48) s. L. Voetz (1997, S. 186-188) und A. Nievergelt (2012, S. 55f.).

4. Charakterisierung als Interlinearversion. Originale Überlieferung: Die die ersten 17 Wörter des Bibelverses Joh. 19,38 umfassende Interlinearversion (s. dazu im Ganzen insbesondere L. Voetz, 1997, und A. Nievergelt, in: Die Vetus LatinaFragmente, S. 55f.) mit ihren in einer alemannischen Minuskel des ausgehenden 8. Jh.s bzw. um 800 (L. Voetz, 1997, S. 186, mit weiterer Literatur; s. auch A. Nievergelt, in: Die Vetus Latina-Fragmente, S. 56 [mit Anm. 76]) in den Codex eingetragenen ahd. Wörtern ist in der Forschung bis zum Ende des 20. Jh.s fast durchgängig dem Bereich der ahd. (Text-)Glossen zugeordnet worden, wozu sicherlich die Aufnahme in das Steinmeyersche Glossencorpus entscheidend beigetragen hat. Nur sehr vereinzelt hat ansatzweise ein teilweise andersgeartetes Bewusstsein für die Besonderheit dieser Eintragungen bestanden, so etwa schon bei H. Brauer (1926, S. 26; späterhin s. vor allem St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen [und in weiteren Publikationen], S. 48), der unter dem Stichwort ‘Deutsche Glossierung’ vom „Versuch zu einer fortlaufenden Interlinearglossierung“ spricht, der „leider schon nach wenigen Worten abgebrochen“ worden sei. Erst L. Voetz (1997, S. 191f.) hat, unter anderem auf der Grundlage von ihm durchgeführter verschiedener neuerer Untersuchungen zu den im Ganzen zeitgleichen sogenannten St. Pauler Lukasglossen Ú ‘St. Pauler Interlinearversion zu Lc 1,64-2,51’, begründet dargelegt, dass sich die hier

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gewählte Vorgehensweise der Übertragung des lat. Basistextes in die Volkssprache von den überaus zahlreichen Zeugnissen ahd. Textglossierung eindeutig unterscheidet und im Ganzen mit dem in den ‘klassischen’ Interlinearversionen (Ú ‘Benediktinerregel’ und Ú ‘Murbacher Hymnen’) des frühen Alemannischen zu beobachtendem Verfahren übereinstimmt (zum Verständnis und zur Problematik einer Abgrenzung von Glosse, Interlinearversion und Text s. L. Voetz, in: BStH I, S. 887-891 und 914926). Wie in den unmittelbar vergleichbaren Fällen der frühen alemannischen Interlinearversionen sind auch hier lediglich die Personennamen lat. Pilatus, Ioseph ab Arimathia und Iesus, bei denen offensichtlich keine Übersetzungsnotwendigkeit gesehen wurde, nicht ins Ahd. übertragen worden. Es handelt sich hier demnach eindeutig, wenn auch nur über eine sehr kurze Strecke, um eine vollständige Wort-fürWort- bzw. Form-für-Form-Übertragung vom Lat. ins Ahd. und somit um eine Interlinearversion. Dass hier keine Form der ansonsten für die frühen alemannischen Interlinearversionen ebenfalls durchaus charakteristischen Kürzungen auftritt (s. dazu L. Voetz, 1987; zum Begriff und zu verschiedensten Formen von Kürzungen s. jetzt grundsätzlich O. Ernst, in: BStH I, S. 282-315), spricht schon angesichts des geringen Umfangs der vorliegenden Interlinearversion nicht gegen einen solchen Befund (so auch A. Nievergelt, in: Die Vetus Latina-Fragmente, S. 56). Die gesamte Art der Übertragung des Anfangs des lat. Bibelverses zu Joh. 19,38 ins Ahd. lässt einen versierten Schreiber erkennen (vgl. auch A. Nievergelt, in: Die Vetus LatinaFragmente, S. 40), dem diese charakteristische Verfahrensweise der Aneignung des lat. Textes mittels der Volkssprache offensichtlich vertraut war. Mit diesem wohl ältesten erhaltenen Zeugnis einer ahd. Interlinearversion wird gleichzeitig erkennbar, dass das für die frühen alemannischen Interlinearversionen spezifische Verfahren, wie es dann auch in der Ú ‘St. Pauler Interlinearversion zu Lc 1,64-2,51’, der ‘Benediktinerregel’ und den ‘Murbacher Hymnen’ zu beobachten ist, in St. Gallen bzw. im weiteren Bodenseeraum bereits gegen Ende des 8. Jh.s in seinen wesentlichen Formen ausgeprägt war. – Da im Zeugnis der St. Galler Interlinearversion zu Joh. 19,38, entgegen den fehlerhaften Wiedergaben in den älteren Editionen, keine Abschreibefehler zu konstatieren sind und auch sonst keine Indizien gegeben sind, die die Notwendigkeit einer Vorlage nahelegen könnten, steht – auch vom Gesamteindruck der Eintragungen her – der berechtigten Annahme (L.Voetz, 1997, S. 190-192) nichts im Wege, dass hier, wie auch im eindeutigen Fall der ‘St. Pauler Interlinearversion zu Lc 1,64-2,51’, einer der seltenen Fälle originaler ahd. Überlieferung vorliegt. 5. Sprachstand und Lokalisierung: In Übereinstimmung mit dem paläographischen Befund weist auch der Sprachstand der Interlinearversion eindeutig in den alemannischen Raum (L. Voetz, 1997, S. 190, A. Nievergelt, in: Die Vetus Latina-Fragmente, S. 56, BStK-Nr. 169, S. 457, mit weiterer Literatur), wobei aufgrund der

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Provenienz der Fragmente die Aufzeichnung mit St. Gallen zu verbinden ist. Unter den 12 der Frühzeit des Alemannischen angehörenden Wörtern finden sich auch zwei Erstbelege für das Ahd. So liegt hier mit dem Genitiv Plural iudeono (lat. iudaeorum) das erste Zeugnis für das schwache Maskulinum ahd. iudeo – nhd. Jude vor (E. Seebold, Chronolog. Wb. [I], S. 495; so auch schon St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 49). Ebenso ist auch das nur im frühen Alemannischen belegte Wort disco hier erstmals bezeugt (L.Voetz, 1997, S. 190; E. Seebold, Chronolog. Wb. [I], S. 104; s. auch E. Seebold, Chronolog. Wb. II, S. 223f.). Das schwache Maskulinum disco, das als Kurzform von lat. discipulus abgeleitet ist und hier mit nhd. ‘Jünger’, in der Regel aber mit nhd. ‘Schüler’ wiederzugeben ist, ist somit gegen E. v. Steinmeyer (Sprachdenkm. S. 287, Anm. 1) gerade nicht „speziell Reichenauisch“. 6. Möglichkeit weiterer interlinearversionsartiger Einträge. Wertigkeit des Vetus Latina-Textes: Außer zum Bibelvers Joh. 19,38 findet sich in den heute noch erhaltenen Fragmenten des Evangeliars aus dem 5. Jh. in der Fassung der Vetus Latina kein weiteres vergleichbares Beispiel im Stile einer ahd. Interlinearversion. Über die Wahrscheinlichkeit, dass aber eventuell in den heute nicht mehr erhaltenen Teilen der Hs. weitere Zeugnisse dieser Art vorgelegen haben könnten, lässt sich nichts Sicheres aussagen. Vom heutigen resthaften Erhalt der Hs. her wäre aus sachlich-inhaltlichen Gründen ein solcher Fall noch am ehesten für das unmittelbare Umfeld um den Bibelvers Joh. 19,38 zu erwarten. Ein bisher in diesem Zusammenhang nicht bedachtes Indiz könnte für die nicht völlig unwahrscheinliche Vermutung sprechen, dass das für das in dem Evangeliar ursprünglich unmittelbar vorausgehende Blatt (Ms. 70a, f. 1) zutreffen könnte. Das als Einbandmakulatur genutzte, zunächst noch vollständige und freistehende Blatt (s. oben unter 3.) ist nämlich von unbekannter Hand zum größeren Teil späterhin so herausgeschnitten worden, dass heute nur noch ein schmaler Streifen von Ms. 70a, f. 1ra und 1vb vorhanden ist. Da dabei noch ein Rest des lat. Textes erhalten blieb, dürfte das Interesse des Unbekannten wohl nicht dem lat. Text gegolten haben, sondern irgendeiner Besonderheit, die der heute fehlende Teil des Blattes aufgewiesen haben könnte, wie unter Umständen die Aufzeichnung einiger ahd. Wörter. Der Textbestand der beiden gänzlich verloren gegangenen Spalten (f. 1rb und 1va) betrifft den lat. Bibeltext Joh. 19,17-24, der die Kreuzigung Jesu zum Inhalt hat, während der Bibelvers Joh. 19,38 inhaltlich den Bericht über das Begräbnis Jesu eröffnet. Die Kreuzigung sowie der Tod und das Begräbnis Jesu sind in Verbindung mit der in Kapitel 20 des Johannesevangeliums berichteten Auferstehung Jesu aber von ihrem Inhalt her zentrale Texte der österlichen Ereignisse und des christlichen Glaubens. Es ist von daher also nicht besonders verwunderlich, dass sich gerade in diesem biblischen Textbestand die Interlinearversion zu Joh. 19,38 findet und sich auch in diesem Umfeld unter Umständen noch ein oder sogar mehrere

‘St. Galler Interlinearversion zu Joh. 19,38’

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kleinere Ansätze vergleichbarer Art befunden haben könnten. Mit einer Interlinearversion größeren Umfangs dürfte aber wohl weder hier noch sonst innerhalb der Handschrift zu rechnen sein. – Der nicht eruierbare Anlass für die ahd. Bearbeitung des Bibelverses Joh. 19,38 steht aber, anders als von A. Nievergelt (in: Die Vetus Latina-Fragmente, S. 56) als Möglichkeit angedeutet, sicherlich in keinem wie auch immer gearteten Zusammenhang mit dem für diesen Vers und für das ganze Evangeliar in einzelnen Wortformen, Wörtern und kleineren syntaktischen Einheiten oftmals gegebenen Varianten der Version der Vetus Latina gegenüber der VulgataFassung. Vielmehr muss der biblische Text des Evangeliars des 5. Jh.s in der Fassung der Vetus Latina zum Zeitpunkt der Eintragung der drei verschiedenen Formen ahd. Bearbeitung in St. Gallen, somit also in der Zeit vor und um 800, noch als vollwertiger lat. Bibeltext angesehen worden sein. Jedenfalls ist an keiner Stelle der erhaltenen Fragmente des Evangeliars weder vom lat. Text noch von den ahd. Eintragungen her ein Anhaltspunkt für die mögliche Absicht einer auch nur in Teilen geplanten Revision der Vetus Latina-Fassung erkennbar (s. dazu auch A. Nievergelt, in: Die Vetus Latina-Fragmente, S. 53, mit Anm. 62 [für die Griffelglossierung] und S. 60). Dies steht in auffallendem Gegensatz zum Befund der in etwa zeitgleich entstandenen ‘St. Pauler Interlinearversion zu Lc 1,64-2,51’, deren lat. Text in der Version der Vetus Latina in einem komplexen Verfahren in einem im Ganzen gleichzeitigen Schritt nach dem Vulgata-Text modernisiert und auf der Grundlage dieses so gewonnenen Textes von derselben Hand Wort für Wort und Form für Form ins Ahd. übertragen wurde. 7. Literatur: R. Bergmann, Die althochdeutsche Glossenüberlieferung des 8. Jahrhunderts, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. Philol.-Hist. Klasse Jg. 1983, Nr. 1, Göttingen 1983, insb. S. 13 und 16 sowie passim; R. Bergmann, Zehn St. Galler Kleinigkeiten, in: Sprache und Dichtung in Vorderösterreich, S. 35-46, insb. S. 37 und Abb. 2 (nach S. 40); BStK-Nr. 169 (S. 456f.), Nr. 255 (I) (S. 586f.), Nr. 255 (I) (S. 2718f. mit Abbildung von Cod. Sang. 1394, S. 92); H. Brauer, Die Bücherei von St. Gallen und das althochdeutsche Schrifttum, Hermaea 17, Halle (Saale) 1926, Nachdruck Walluf bei Wiesbaden 1973, Nachdruck Vaduz 1986, S. 11 (mit Anm. 2), 26 und 86; O. Ernst, Kürzung in volkssprachigen Glossen, in: BStH I, S. 282-315; R. Gamper – Ph. Lenz, Die Makulierung der Handschrift, in: Die Vetus Latina-Fragmente, S. 61-68; R. Gryson, Altlateinische Handschriften – Manuscrits vieux latins. Répertoire descricptif, I, Freiburg i. Br. 1999, S. 39, Nr. 16 (Handschriftenbeschreibung); Itala. Das Neue Testament in altlateinischer Überlieferung. Nach den Handschriften hg. v. A. Jülicher, durchgesehen und zum Druck besorgt v. W. Matzkow und K. Aland, IV. Johannes-Evangelium, Berlin 1963, S. 202-212: lat.Text zu Joh. 19,13-42 [S. 210f. zu Joh. 19,38]; St. Müller, Ahd. Lit., S. 114-115, 329-330; A. Nievergelt, Die Verwendung der Handschrift im Kloster St. Gallen, in: Die Vetus Latina-Fragmente, S. 39-60; G. Scherrer, Verzeichniss der Manuscripte und lncunabeln der Vadianischen Bibliothek in St. Gallen, St. Gallen 1864, Nachdruck Hildesheim/New York 1976, S. 29-31; G. Scherrer, Verzeichniss, S. 456-461 (hier: Cod. Sang. 1394, II und III, S. 457f.); E. Seebold, Chronolog.

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‘St. Galler Paternoster und Credo’

Wb. [I], S. 36 (Nr. 12); E. Seebold, Chronolog. Wb. II; St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 48f. und S. 141 (Abbildung 5); E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm.; StSG IV, S. 304, [1520,33-38] (CCCXCb), S. 441 (Nr. 148); Die Vetus Latina-Fragmente (S. 171-179 umfangreiches Literaturverzeichnis zu allen die Handschrift betreffenden Wissensbereichen); L. Voetz, Formen der Kürzung in einigen alemannischen Denkmälern des 8. und 9. Jahrhunderts, Sprachwissenschaft 12 (1987) S. 166-179; L. Voetz (1997), Die althochdeutschen ‘Glossen’ zu Joh. 19,38, in: Grammatica ianua artium. FS Rolf Bergmann, S. 185-195; L. Voetz, Durchgehende Textglossierung oder Übersetzungstext: Die Interlinearversion, in: BStH I, S. 887926, insb. S. 901-903 und passim; J. Wordsworth – W. Sanday – H. J. White, Portions of the Gospels according to St. Mark and St. Matthew from the Bobbio Ms. (k), now numbered G. VII. 15 in the National Library at Turin, together with other Fragments of the Gospels from six Mss. in the Libraries of St. Gall, Coire, Milan, and Berne (usually cited as n, o, p, a2, s and t). Edited with the Aid of Tischendorfs Transcripts and the printed Texts of Ranke, Ceriani, and Hagen, with two Facsimiles, Old-Latin Biblical Texts 2, Oxford 1886, S. XXIII-XXXI (n), insb. S. XXVIIIf. und S. 55-72 (Interlinearversion: S. 67); s. im Weiteren auch S. XXXII (o) und S. 73f., S. XXXIV-XXXVII (a2) und S. 79-82.

LOTHAR VOETZ

‘St. Galler Paternoster und Credo’ Frühalthochdeutsche katechetische Übersetzungen, Ende des 8. Jh.s. 1. Überlieferung: Codex 911 der StB St. Gallen enthält als abschließenden dritten Teil S. 320 (recte 319, die Seitenzahl 303 wurde beim Paginieren übersprungen) bis S. 322 (recte 321) auf schadhaftem Pergament die frühahd. Übersetzung von Paternoster (S. 320) und Credo (S. 321-322) ohne den entsprechenden lat. Text, wobei das Paternoster S. 319 (recte 318) unten mit einem Kreuz und dem abgekürzten lat. pater noster eingeleitet wird, während das Glaubensbekenntnis S. 321 oben mit teilweise unzialem CREDO IN D[EU]M überschrieben ist. Der erste Teil der Hs. (S. 4-289) enthält das lat.-ahd. Abrogans-Glossar (Ú ‘Abrogans deutsch’), der zweite Teil (S. 292-319, recte 318) Kap. 1-17 des Liber ecclesiasticorum dogmatum von Gennadius von Marseille. Abbildungen (Auswahl): H. Fischer, Schrifttafeln, Tafel 2; B. Bischoff – J. Duft – St. Sonderegger, Das älteste deutsche Buch. Die Abrogans-Handschrift der Stiftsbibliothek St. Gallen. Im Faksimile hg. u. beschrieben, St. Gallen 1977; St. Sonderegger, Ahd. Sprache u. Lit., S. 94 , 96, 98. Faksimile des Paternoster in Cimelia Sangallensia. Hundert Kostbarkeiten aus der Stiftsbibliothek St. Gallen. Beschrieben von K. Schmuki  P. Ochsenbein  C. Dora, St. Gallen 1998, S. 33; Elektronische Faksimile-Abbildungen unter CESG.

Trotz ihrer inhaltlich verschiedenen und z. T. auch nach dem ahd. Sprachstand differenzierbaren Teile (Abrogans Ka, Kb; ahd. Anhang mit Paternoster und Credo) stellt die Hs. eine relative Einheit in paläographischer und kodikologischer Hinsicht dar,

‘St. Galler Paternoster und Credo’

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deren letzte beiden Lagen S. 291-323 nicht erst später, sondern „mit einem kaum ins Gewicht fallenden zeitlichen Abstand“ (B. Bischoff) hinzugefügt worden sind. Mit spekulativer Argumentation verficht G. Must 1981 eine Abschrift von Paternoster und Credo um 760 womöglich in St. Gallen. St. Müller (Ahd. Lit., S. 349) geht, wie andere vorher, von einem ursprünglich selbstständigen Teil aus. Nach B. Bischoff sind ‘St. Galler Paternoster und Credo’ wie der ahd. ‘Abrogans’ derselben Hs. in einem uns unbekannten klösterlichen Scriptorium des deutschsprachigen Südwestens in den letzten Jahren des 8. Jh.s niedergeschrieben worden. Der Wortschatz der kurzen Textstücke (47 und 82 Wörter) ist bei E. Seebold (Chronolog. Wb. [I]) als Überlieferung des 8. Jh.s erfasst. Die Hs. muss bereits in dieser Zusammensetzung in die Klosterbibliothek (heute Stiftsbibliothek) St. Gallen gelangt sein, was vielleicht schon in der 1. Hälfte des 9. Jh.s geschah, wenn sie sich unter den Libri glosarum volumina VIII des ältesten Bücherverzeichnisses aus der Zeit nach 850 verbirgt (J. Duft). Der Name ‘St. Galler Paternoster und Credo’ ist also überlieferungsgeschichtlich und nicht entstehungsgeschichtlich begründet, und es darf nicht, wie früher üblich, von einem St. Galler Übersetzer gesprochen werden. Die Sprache von ‘Paternoster’ und ‘Credo’ lässt sich gegenüber dem ‘Abrogans’-Sprachstand derselben Hs. (Ka, Kb) als jüngeres Frühahd. alem. Prägung bestimmen, wobei die alem. Kennmerkmale teils weniger deutlich (so gegenüber Ka), teils deutlicher (so gegenüber Kb) sind als im St. Galler ‘Abrogans’ (St. Sonderegger, 1977). Ob eine Abschrift aus älterer Vorlage wie im ‘Abrogans’-Teil der Hs. vorliegt, ist trotz einiger Fehler und Verbesserungen nicht sicher auszumachen. Die beiden Texte gehen aber wohl auf denselben Übersetzer zurück. A. Greule wirft jüngst eine Regensburger Entstehung der St. Galler Paternosterübersetzung auf. Die Plazierung der beiden Texte am Schluss der Hs. gibt dem Codex eine geradezu geistlich-liturgische Abrundung. 2. Ausgaben: Editio princeps: M. Freher, Orationis dominicae et symboli apostolici Alamannica versio vetustissima, Heidelberg 1609. Weitere Ausgaben (Auswahl), die die Texte unterschiedlich und teilweise unter Hinzufügung von Interpunktion sowie mit Anmerkungen präsentieren: H. Hattemer, Denkmahle, I, S. 324f.; MSD Nr. LVII, I, S. 209, II, S. 342-344; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. V, S. 27 (hier S. 27f. über ältere Editionen, dazu auch J. Duft und B. Hertenstein); W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., S. 11-12 (Nr. VI); H. Fischer, Schrifttafeln, S. 5*; B. Bischoff – J. Duft – St. Sonderegger, Das älteste deutsche Buch, S. 306-307 (Transkription des ahd. Anhangs v. St. Sonderegger); Transkription des ‘Paternoster’ in Cimelia Sangallensia, S. 32f.; St. Müller, Ahd. Lit., S. 172, 174 (Paternoster), 182 (Credo) (mit Übersetzung). 3. Einordnung: Das nach Übersetzungsweise und Sprachstand archaische Denkmal aus den letzten Jahren des 8. Jh.s eröffnet als älteste diesbezügliche Fassung die verhältnismäßig reiche, an verschiedenen Überlieferungsorten unabhängig voneinander entstandene ahd. Paternoster- und Credo-Übertragung, welche von der frühahd. Zeit (u. a. Ú

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‘St. Galler Paternoster und Credo’

‘Weißenburger Katechismus’, Ú ‘Freisinger Paternoster’) über die normalahd. Tatianübersetzung (Ú ‘Tatian’) (Paternoster) bis zu Ú Notker III. von St. Gallen (Oratio dominica und Symbolum apostolorum) reicht und deren schriftliche Fixierung offensichtlich durch Karls d. Gr. ‘Admonitio generalis’ vom 23. März 789 ausgelöst worden ist. Dabei bleibt die Möglichkeit noch älterer volkssprachiger Übersetzungen im liturgischen Rahmen schon des 8. Jh.s (G. Must zu Paternoster und Credo) grundsätzlich bestehen, wenn auch entsprechende Stützen dafür nur indirekt über die Textphilologie von Übersetzung und dahinter stehender lat. Grundfassung erbracht werden können: dennoch dürfen die vorliegenden ahd. Texte des Codex Sang. 911 nach Sprachstand und Überlieferung vorderhand nicht weiter zurück datiert werden (anders wiederholt G. Must, Anfang des 8. Jh.s), mag man in ihnen auch stellenweise Formulierungen einer älteren liturgischen Tradition erblicken. Auch aus der Textform des Credo schließt G. Must auf westgallisch-irische Zusammenhänge. Hinsichtlich einiger Wortschatzelemente wird das ‘Paternoster’ jüngst wieder von A. Greule (2012) in den Kontext der gotisch-arianischen Mission gestellt. Umstritten ist in der Forschung auch nach wie vor die Deutung einzelner Merkwürdigkeiten im Übersetzungsvorgang, der als solcher eine interlinearartige Struktur mit nahezu vollständiger Wort-für-Wort- oder Form-für Form-Entsprechung vom Lateinischen zum Althochdeutschen aufweist (St. Sonderegger, 1965, anders G. Must 1981): vor allem die Stellen ahd. uuihi namun dinan (für lat. sanctificetur nomen tuum), ahd. uns sculdikem (für lat. debitoribus nostris), ahd. kisca[f]t himiles enti erda (für lat. creatorem caeli et terrae), ahd. kimartrot in kiuualtiu pilates (für lat. passus sub Pontio Pilato) und ahd. urlaz suntikero (für lat. remissionem peccatorum). Gegen die traditionelle Deutung als Übersetzungsfehler (z. B. A. Masser, H. Eggers sowie tendenziell auch W. Haubrichs) hat W. Betz (1961, 1964, 1965) darin einen karolingischen erklärenden Übertragungsstil sehen wollen, welchen er z. T. in der exegetischen Kommentarliteratur der Zeit verankern kann (vgl. zuletzt ähnlich auch A. Greule 2012 [2004]). Näher bei W. Betz steht auch G. Must, welcher hinter der packend-einfachen ahd. Diktion des Paternoster die charakteristischen Züge der Liturgie des wandernden Mönchtums, insbesondere der irischen Mission in Süddeutschland, erkennen will und im Credo sprechsprachliche Züge neben der Tradierung alter Textvarianten sieht. Man wird vermittelnd alle drei Möglichkeiten je alternierend für die verschiedenen schwierigen oder vom vergleichbaren ahd. Übersetzungsstand abweichenden Stellen bedenken müssen, da eine endgültige Entscheidung von der noch weitgehend im Dunkeln liegenden Kenntnis des genauen lat. Wortlauts der Vorlagen abhängt (Paternoster: Vulgata, Vetus Latina, liturgische Abweichungen, bekannte oder benutzte Kommentare; Credo nach dem sog. Textus receptus der westlichen Kirche im Frühmittelalter, der als forma recentior eine erweiterte Tochterform der forma vetustior des Apostolischen Glaubensbekenntnisses ist). Zur Grundlage des Credo äußert sich auch G. Must (1981). E. Meineke hat jüngst das Paternoster als Beispiel eines speziellen für pastorale Texte geeigneten

‘St. Galler Paternoster und Credo’

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„Übersetzungsstils“ mit starker „syntaktischer Anlehnung an die autoritative lateinische Vorlage“ bewertet. Bei R. Hochholzer wird die Wortwahl (für ‘Himmel’ und ‘Hölle’) der beiden frühen pastoralen Texte als Vorbild für die entstehende deutsche Literatur bewertet. H. Tiefenbach sieht die beiden Texte als Beispiele für die „Bewältigung der sprachlichen Vermittlungsaufgabe“ zu Beginn der ahd. Schriftlichkeit und plädiert für eine differenzierte Sicht auf die Übersetzungsleistung. W. Haubrichs stellt das ‘St. Galler Paternoster und Credo’ als „nicht ganz fehlerfreie Interlinearversionen“ in den Kontext „schulische[r] Bearbeitung“. 4. Literatur: Ältere Lit. bei MSD II, S. 342-344; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 27 f.; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit. I, S. 306. – W. Achnitz (Hg.), Das Geistliche Schrifttum von den Anfängen bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts, Berlin/Boston 2011, S. 12-14 (Literaturzusammenstellung); G. Baesecke, Unerledigte Vorfragen der ahd. Textkritik und Literaturgeschichte. I. Die Vaterunser vor Notker, PBB 69 (1947) S. 361-365; W. Betz, Zum St. Galler Paternoster, PBB 82 (Halle 1961) Sonderband. FS Elisabeth Karg-Gasterstädt, S. 153-156; W. Betz, Zum St. Galler Credo, in: FS Taylor Starck, The Hague 1964, S. 102-105; W. Betz, Ahd. kiscaft ‘creator’, Münchener Studien zur Sprachwissenschaft 18 (1965) S. 5-11; W. Betz, Karl der Große und die Lingua Theodisca, in: Karl der Große, Lebenswerk und Nachleben, II. Das geistige Leben, hg. v. B. Bischoff, 1965, S. 300-306 (hier über beide Denkm.); B. Bischoff – J. Duft – St. Sonderegger, Das älteste deutsche Buch, S. 83-137; H. Brauer, Die Bücherei von St. Gallen und das ahd. Schrifttum, Hermaea XVII, 1926, S. 52, 87; H. Eggers, Deutsche Sprachgeschichte, I, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 194f.; A. Greule, Über den Erkenntniswert der Etymologie religiöser Begriffe: nhd. weih. 1. St. Galler Paternoster, in: Sakralität. Studien zu Sprachkultur und religiöser Sprache, Tübingen 2012, S. 39-44; A. Greule, Über die Anfänge deutscher Sprachkultur und Sprachkultivierung, in: Sakralität, S. 3-17, S. 10f.; zuerst in: Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach 2004, S. 133-142; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 237; B. Hertenstein, Joachim von Watt, S. 130, 132f., 188, 189a; R. Hochholzer, Himmel und Hölle. Onomasiologische und semasiologische Studien zu den Jenseitsbezeichnungen im Althochdeutschen, Frankfurt u.a. 1996, S. 114-119; A. Masser, PBB 85 (Tüb. 1963) S. 39-45; E. Meineke, Textgebundene Formen der deutsch-lateinischen Zweisprachigkeit im frühen Mittelalter, in: M. Baldzuhn – Ch. Putzo, Mehrsprachigkeit im Mittelalter, Berlin 2011, S. 109-146, zu St. G. Paternoster S. 110-113, 144; St. Müller, Ahd. Lit., S. 349-350, 353-354; G. Must, Das St. Galler Paternoster, in: Akten d. V. Internat. Germanisten-Kongresses Cambridge 1975, Jb. f. Internat. Germanistik, Reihe A, Kongreßberichte, II, 1976, S. 396-403; G. Must, Das altalemannische Wort ‘kiscat’, in: Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses Basel 1980, II, Bern 1980, S. 399-403; G. Must, Das St. Galler Credo, FMSt 15 (1981) S. 371-386; St. Sonderegger, Frühe Übersetzungsschichten im Ahd., in: Philologia Deutsch, FS Walter Henzen, Bern 1965, S. 111; St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, 1970, S. 57-64; St. Sonderegger, Ahd. Sprache u. Lit., S. 91-96; H. Tiefenbach, Zur sprachlichen Christianisierung im frühen Deutschen, in: O doskonałoĞci. Materiały z konferencji 21-23 maja 2001r., I, Łódz. 2002, S. 341-366.

STEFAN SONDEREGGER – ELVIRA GLASER

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‘St. Galler Schreibervers’

‘St. Galler Schreibervers’ 1. Überlieferung: St. Gallen, StB 623, S. 209, nach Ende des Haupttextes im Textfeld unten links auf der letzten vorlinierten Zeile, Eintrag mit schmaler Feder in brauner Tinte. Der Codex, der Justinus, Historiarum libri XLIV enthält, ist im 3. Viertel des 9. Jh.s (B. Bischoff) mit einiger Wahrscheinlichkeit in St. Gallen entstanden. Der Eintrag lautet CHUMO KISCREIB FILO CHUMOR KIPEIT, mit Punkten in den Wortabständen. -LO C- und zweites -M- sind durch Wurmfraß leicht beschädigt. Bei der Schrift handelt es sich um eine verschnörkelte Zier-Capitalis mit verlängerten Buchstaben, wie sie in Urkunden-Initien Verwendung fand (B. v. Scarpatetti). Unmittelbar unter dem Vers ist von I. v. Arx zu Beginn des 19. Jh.s mit Tinte auf Bleistiftvorschreibung eine nhd. Nachbildung und eine freie Übersetzung eingetragen worden. Abbildungen: Faksimile bei H. F. Massmann, AKDM (1832) S. 245f.; Faksimile bei H. Hattemer, Denkmahle, I, Tafel II; Elektronische Faksimile-Abbildung unter CESG; vgl. PadRep. – St. Gallen, StB 166, S. 314, marginal unten, Eintrag mit Feder in brauner Tinte. Der Codex enthält Augustinus, Enarrationes in psalmos (CI-CXVIII) und entstand im 2. Drittel des 9. Jh.s in St. Gallen. Beim Eintrag handelt es sich um einen in gleichzeitiger karolingischer Minuskel geschriebenen Kurzsatz chumo kibeit, in welchem eine auf das erste und letzte Wort verkürzte Version des Langverses in Codex 623 gesehen werden kann. Der Eintrag ist aber auch eigenständig vorstellbar. Elektronische Faksimile-Abbildung unter CESG; vgl. PadRep. 2. Ausgaben: Eintrag in Cod. 623: Zum ersten Mal bei I. v. Arx, S. 30 (2. Wort verlesen); zum ersten Mal richtig bei H. F. Massmann, AKDM (1832) Sp. 245f. Weitere Ausgaben: MSD Nr. XVb, I, S. 34; II, S. 90; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LXXXIII, S. 402 (Cod. 166 erwähnt); danach in der Forschungsliteratur wiederholt wiedergegeben. – Eintrag in Cod. 166: StSG II, S. 41, 13.

3. Charakterisierung: Die beiden Eintragungen sind als sekundäre Einträge, die nicht auf den Haupttext zu beziehen sind, unter die sogenannten Federproben einzuordnen. Nach Form und Inhalt gehören sie der Gattung der Schreiberverse und -sprüche an, Kurztexte, in welchen gegenüber Versen, mit denen Schreibschüler zum Arbeiten angespornt oder angemahnt werden, die Schreibenden selber zu Wort kommen. Die Inhalte der Schreiberverse bestehen zur Hauptsache aus Klagen über die schwere Arbeit und an die Leser gerichteten Bitten, dem Schreiber gegenüber nachsichtig zu sein und für ihn zu beten (J. Duft, S. 32-35). Der ‘St. Galler Schreibervers’ bringt sowohl Klage als auch Erleichterung nach Abschluss einer mühseligen und langen Arbeit zum Ausdruck. Er kann übersetzt werden mit ‘Mit Mühe habe ich (fertig)geschrieben, mit viel mehr Mühe (bis zum Ende) ausgeharrt’. Präfix ki- ist dabei in perfektiver Bedeutung aufzufassen. Das fehlende Subjektspronomen wird in der Forschung gemäß der Gattungsbestimmung des Verses als Schreibervers allerorts mit „ich“ ergänzt, ungeachtet des Usus in den ahd.

‘St. Galler Schreibervers’

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Quellen, eher das Pronomen der 3. Person und fast nie dasjenige der ersten wegzulassen (J. Eggenberger, S. 169-171). Eine Annahme der 3. Person führt indes zu zusätzlichen Schwierigkeiten der Deutung (P. Piper, S. 446), und die Weglassung des „ich“ ist mit Einflüssen der metrischen Struktur und dem Formelcharakter des Satzes sowie möglicherweise auch mit einem lat. Vorbild erklärbar. Neben spätmhd. und mittellat. Schreiberversen mit ähnlichen Inhalten (H. F. Massmann, AKDM [1832] Sp. 245; J. Duft, S. 32-35) steht der St. Galler Schreibervers als ahd. Vertreter bislang allein. Obwohl inhaltlich von persönlichem Erleben bestimmt, ist der Eintrag in Cod. 623 auch bei seiner Volkssprachigkeit kaum als spontane Äußerung zu werten. Vielmehr ist von einem gängigen, formelhaften Spruch auszugehen, der hier für eine Schriftprobe verwendet wurde. Auf eine gewisse Verbreitung des Spruchs in St. Gallen und eventuell auf Varianten kann der Eintrag in Cod. 166 hinweisen. Die Umstände, die zur Eintragung in Cod. 623 führten, sind nicht geklärt. Die in der älteren Forschung, etwa bei H. Hattemer (Denkmahle, I, S. 420) geäußerte Ansicht, dass in der Schreiberhand die Hand dessen zu sehen sei, der den Haupttext schrieb, gilt als überholt. Schon P. Piper (S. 446) und E. v. Steinmeyer (Sprachdenkm., S. 402) stellten fest, dass die Hand an keiner anderen Stelle in der von mehreren Händen geschriebenen Handschrift schlüssig wiederzuerkennen ist. Ebenfalls abzulehnen, obwohl durchaus noch in der neuesten Literatur anzutreffen (Ch. Wells, S. 182), ist eine Erklärung der Buchstabenformen als „zitterig“ oder „unbeholfen“, da aus paläographischer Sicht der Auszeichnungscharakter der Schrift feststeht. Unklarheiten bestehen insbesondere die Datierung betreffend. Die von A. Bruckner (III, S. 115) postulierte Gleichzeitigkeit der Hand mit den Texthänden ist wegen besonderer Schwierigkeiten bei der Einordnung der Zierbuchstaben kaum nachzuweisen. Es gilt vielmehr mit B. v. Scarpatetti darauf hinzuweisen, dass eine eingehende paläographisch-stilistische Analyse der verwendeten Diplomschrift noch nicht geleistet ist. Ebenso bedarf aber auch die von B. v. Scarpatetti behauptete große Ähnlichkeit der Tinte mit derjenigen von Marginalien des 13. Jh.s noch einer materialwissenschaftlichen, insbesondere mikroanalytischen Prüfung. Die Sprache des Schreiberverses ist als altalem. zu bestimmen (St. Sonderegger, in: 2 VL II, Sp. 1048). In den Graphien , und

im Anlaut für /k/, /g/ und /b/ zeigt sich obd. Sprachstand, und für auslautendes /b/ deutet auf das Alem. Der Langvers in Cod. 623 mit seiner zweiteiligen parataktischen Struktur aus zwei Gliedsätzen ist unter die poetischen ahd. Denkmäler einzureihen. In der spielerisch-effektvollen Wiederholung des Adverbs chûmo, mit dessen Steigerung die Pointe aufgebaut wird sowie der Assonanz der Verbformen stecken dichterische Verfahren. Ungeachtet des unbekannten Zeitpunktes seiner Eintragung, steht der ‘St. Galler Schreibervers’ als ahd. Reimvers, zusammen mit dem Ú ‘St. Galler Spottvers’, am Anfang der deutschen Endreimdichtung. 4. Literatur: Ildefons von Arx, Berichtigungen und Zusätze zu den drei Bänden Geschichten des Kantons St. Gallen, St. Gallen 1830, S. 30; B. Bischoff, Katalog, III; A. Bruckner, Scriptoria helv.

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‘St. Galler Schularbeit’

III, S. 77, 114f.; J. Duft, Mittelalterliche Schreiber. Bilder, Anekdoten und Sprüche aus der Stiftsbibliothek St. Gallen, St. Gallen 1964, S. 32-35, 44, Anm. 52; J. Eggenberger, Subjektspronomen im Althochdeutschen. Ein syntaktischer Beitrag zur Frühgeschichte des deutschen Schrifttums, Chur 1961, S. 169-171; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 216; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 172; H. F. Massmann, AKDM (1832) S. 245f.; A. Nievergelt, Chumo kiscreib, in: Chr. Kiening – B. Naumann (Hgg.), Lieblingsstücke. Germanistik in Zürich. 125 Jahre Deutsches Seminar, Zürich 2011, S. 144f.; P. Piper, Aus Sanct Galler handschriften III, ZDPh 13 (1882) S. 445f.; B. M. von Scarpatetti, Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen, I, Abt. IV, Wiesbaden 2003, S. 224f.; G. Scherrer, Verzeichniss, S. 60, 203; E. Seebold, Chronolog. Wb., II, S. 17; St. Sonderegger, in: 2VL II, Sp. 1047f.; St. Sonderegger, Ahd. Sprache u. Lit., S. 182; StSG II, S. 41; IV, S. 444; Chr. Wells, in: German Literature, S. 157-199, 182.

ANDREAS NIEVERGELT

‘St. Galler Schularbeit’ 1. Überlieferung: 1. St. Gallen, StB 556, S. 400f., den gesamten Schriftraum von je 17 Zeilen füllend. Blatt S. 400f. (sic!, infolge inkorrekter Paginierung) befindet sich im letzten Teil der vierteiligen Sammelhandschrift (Vitae sanctorum, Varia. Beschreibungen bei G. Scherrer, Verzeichniss, S. 175; A. Bruckner, III, S. 108; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 121f.; B. v. Scarpatetti, S. 28-33). Schriftheimat und Entstehungszeit sind nur vage zu bestimmen: Teil I, 2. Hälfte des 9. (10.?) Jh.s, von mehreren süddeutschen, fraglich ob st.gallischen Händen; Teil II, 10. Jh., von einer süddeutschen, möglicherweise st.gallischen Hand; Teil III, 13. Jh.; Teil IV, 9./10. Jh., von zwei wohl nicht st.gallischen Händen, unterbrochen auf acht Seiten durch Briefformulare von Nachtragshänden des 11. Jh.s (J. Bächtold, Beiträge, S. 189 und S. 195 mit G. Scherrer und J. N. Idtensohn: „ganz sicher 11. Jh.“; A. Bruckner, III, S. 108: „oder 12. Jh.“), deren letzte in dunkelbrauner Tinte die ‘Schularbeit’ schrieb. Marginal unten auf S. 400 (5 Zeilen) und marginal oben auf S. 401 (1 Zeile) steht in hellerer Tinte eine lat. Erklärung des S. 400, Z. 17 im Haupttext stehenden Ausdrucks „pascha annotinum“ (MSD II, S. 405; die Marginalie bei A. A. Grotans, S. 79, Anm. 154, S. 140 der Hand Ekkeharts IV. zugeschrieben). Abbildungen: A. A. Grotans, S. 142 (von S. 401). Elektronische FaksimileAbbildung unter CESG; vgl. PadRep. – 2. Zürich, ZB Ms. C 129 (frühere Signatur der Bibliothek in der Wasserkirche C 453; seit 2006 als Dauerleihgabe in der Stiftsbibliothek St. Gallen), f. 96v, Z. 5-8 (gemäß Linierung), der Anfang als Fides est sperandnj sub zunächst in Z. 4 geschrieben und dann getilgt. Die aus St. Gallen, aus der Hartmutzeit stammende Sammelhs. besteht aus einer ursprünglichen Hs. (Bibelglossar) sowie zusätzlichen Blättern (Genealogie Karls d. Gr., u. a. Beschreibungen bei A. Bruckner, III, S. 127; L. C. Mohlberg, Mittelalterl. Hss., S. 62 [Nr. 157], 362; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 122; BStK-Nr. 1004), geschrieben im letzten Drittel des 9. Jh.s (A. Bruckner, III, S. 39 und Anm. 189, 41 und Anm. 205). Im Glossartext steht eine ahd. Federglosse (BStK-Nr. 1004). Die lat.-ahd. Zeilen 5-8 auf f. 96v folgen in hellerer Tinte

‘St. Galler Schularbeit’

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auf die Genealogie Karls d. Gr., stammen von einer Hand des 11. Jh.s und enthalten die im Codex St. Gallen, StB 556 um zwei Passagen verkürzte Textstelle Fides (…) urougon auf S. 400, Z. 7-10 in wohl vollständiger Länge. – Abbildung: Faksimile bei J. K. von Orelli, Abbildungsteil S. 5, Abb. 5. Elektronische Faksimile-Abbildung unter CESG; vgl. PadRep. 2. Ausgaben: Die älteste Ausgabe des Textes in St. Gallen, StB 556 bei M. Goldast, S. 87f. (S. 87 6 lat. Briefe, S. 88 die ‘Schularbeit’ und die ‘pascha’-Marginalie, beide zu Beginn entstellt). Die älteste Ausgabe des Textes in Zürich, ZB Ms. C 129 bei J. K. von Orelli, S. 19 (Nr. 12). – Weitere Ausgaben (Auswahl): W. Wackernagel, Altdeutsches Lesebuch, Basel 1835, Sp. 79f. (St. Gallen, StB 556), Sp. 827 (Zürich, ZB Ms. C 129); E. Leser, S. 12f.; P. Piper, ZDPh 11 (1880) S. 286f. (St. Gallen, StB 556), ZDPh 13 (1882) S. 456 (Zürich, ZB Ms. C 129); MSD Nr. LXXX, I, S. 259f., II, S. 404-406; J. Bächtold, Beiträge, S. 192 (St. Gallen, StB 556); E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XXVI, S. 121-123; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., S. 75 (Nr. XXIII, 19). In den meisten Ausgaben, die beide Denkmäler berücksichtigen, sind diese nicht getrennt ediert (Ausnahme W. Wackernagel), sondern der Text aus St. Gallen, StB 556, wird vervollständigt anhand desjenigen in Zürich, ZB Ms. 129, wiedergegeben, die gemeinsamen Teile in Schreibung und Akzentuation Zürich, ZB Ms. 129, folgend (bei E. v. Steinmeyer Verweise auf Abweichungen in St. Gallen, StB 556). In den Hss. vereinzelt zu beobachtende Zusammenschreibungen von Wörtern oder Spatien innerhalb von Wörtern werden in den Editionen allgemein nicht beachtet (Ausnahme J. K. von Orelli, W. Wackernagel). – Eine Übersetzung der ‘Schularbeit’ ins Neuhochdeutsche liegt vor bei F. D. Gräter, S. 43-45 (Übersetzung sämtlicher ‘Ruodpert-Briefe’ S. 39-47, teilweise abenteuerlich, vgl. J. Bächtold, Beiträge, S. 190). Auszugsweise übersetzt ist die ‘Schularbeit’ bei St. Müller, Ahd. Lit., S. 264-267. Eine lat. Übersetzung des ahd. Satzes in Zürich, ZB Ms. 129 gibt J. K. von Orelli, S. 19. – Ausgabe der ganzen Briefsammlung, einschließlich die Marginalien: J. Bächtold, Beiträge, S. 190-193. (Inhaltsangaben zu allen Briefen bei J. Bächtold, Geschichte, S. 73f.)

3. Entdeckungsgeschichte: Bei der ‘St. Galler Schularbeit’ handelt es sich um einen lat.ahd. Mischtext, bestehend aus lat. Einzelsätzen und Ausdrücken und deren jeweiligen Übertragung ins Althochdeutsche. Das Denkmal fand in der Wissenschaft frühe Beachtung. Zu Beginn des 17. Jh.s durch M. Goldast aus St. Gallen, StB 556 gedruckt, wird es bis weit ins 19. Jh. hinein ‘Brief Ruodperts’ (an einen seiner Schüler) genannt. (J. K. F. Rinne, S. 527, führt unter ‘Geschäftsprosa’ den ‘Brief Ruodperts’ als ältestes erhaltenes Beispiel der deutschen Briefform auf. Allerdings erkennt er darin auch schon eine ‘Schularbeit’.) Die Bezeichnung geht auf M. Goldast zurück, der den Text als Teil der von ihm mit Ruodeperti Magistri S. Galli epistulae übertitelten Musterbriefsammlung veröffentlichte. Die Erwähnung eines ‘Ruodpert’ in einem der Musterbriefe sowie die Verfasserbezeichnung ‘R.’ in weiteren Briefen hatten M. Goldast dazu verleitet, Ruodpert als Verfasser darzustellen, der die Briefe an einen fiktiven Schüler ‘P.’ richtet (‘P.’ in der älteren Forschung wegen ‘P.’ im ersten Brief als ‘Purchhard’ gedeutet, mit verschiedenen Zuweisungen an historische Personen (vgl. J. Müller, S. 197); keinen

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Eigennamen vermutet K. Goedeke, S. 63). Mit fingierten Einleitungen – ein Verfahren, das er auch bei der Herausgabe anderer Denkmäler anwandte – verwandelte M. Goldast auch das lat.-ahd. Textstück und die ‘pascha’-Marginalie in Briefe. Auf Grundlage von M. Goldasts Lehrer-Schüler-Konstruktion entstand in der Forschung die Hypothese einer St. Galler Übersetzerschule zur Zeit Notkers III., deren Angehörige sich brieflich über die Probleme des Übersetzens austauschten (mehrmals vertreten durch W. Wackernagel, auch noch in MSD, 2. Aufl.; s. St. Sonderegger, in: 2VL II, Sp. 1049). Erst 1887, in J. Bächtolds kritischer Untersuchung, wurden die ‘Einleitung’ zum lat.-ahd. Stück als Fälschung entlarvt, ein Zusammenhang mit Ruodpert sowie der Schüler ‘P.’ als fiktiv erkannt und dem Denkmal der Charakter einer ‘Schularbeit’ zugesprochen (J. Bächtold, Beiträge, S. 194f. Zur ganzen Geschichte s. auch J. Bächtold, Geschichte, S. 72-75; W. von Unwerth – Th. Siebs, S. 235f., St. Sonderegger, in: 2VL II, Sp. 1049; B. Hertenstein, S. 194f.; J. M. Clark, S. 25f.; A. A. Baade, S. 6, 130; E. Hellgardt, PBB 108 (1986) S. 194-197. – Der Kurztext in Zürich, ZB Ms. C 129 wird erst 1835/36 bekannt gemacht und seither bis heute allerorts als Teilstück aus der ‘Schularbeit’ betrachtet. In seltenen Fällen wird er allein als ‘Brief Ruodperts’ bezeichnet (beispielsweise 1845 bei R. v. Raumer, S. 74). 4. Äußere Form und Textaufbau: Die ‘Schularbeit’ in St. Gallen, StB 556, ist fragmentarisch überliefert; sie bricht mitten in einem Satz ab. Ob auch der Anfang fehlt, ist umstritten. Dafür sprechen vielleicht das Fehlen einer vorgerückten Majuskel zu Beginn, wie sie die folgenden Abschnitte aufweisen, sowie inhaltliche Gründe (G. Ehrismann, S. 452 argumentiert, dass der erste Satz eine Begründung gibt, die vorausgehend etwas zu Begründendes verlangt), dagegen spricht die kodikologische Untersuchung bei J. Bächtold, Beiträge, S. 194, in welcher Blatt S. 400f. entgegen früherer Bezeichnungen als ‘wiederaufgefunden’ und ‘beigebunden’ (MSD, 2. Aufl., S. 569f.) als integraler Bestandteil der Lage ausgewiesen wird. (Die Diskussionen, ob M. Goldast ein vorausgehendes, heute verlorenes Blatt benutzt habe [vgl. P. Piper, Sprache und Litteratur, S. 108], konnten mit Aufdeckung von dessen Fälschung beendet werden.) – Ob bei dem Stück in Zürich, ZB Ms. C 129 auch von einem Fragment (auffällig das Semikolon am Schluss), oder aber von einem Exzerpt gesprochen werden soll, hängt davon ab, ob man es als Auszug aus der ‘Schularbeit’ oder aus einer (gemeinsamen) Vorlage betrachten möchte. Auf zweiteres deutet die Vollständigkeit des Satzes. – Die ‘Schularbeit’ gliedert sich in drei Abschnitte, der zweite und dritte beginnt mit vorgerückter Majuskel. I: Lat.ahd. Exzerpte aus Notkers III. Schriften und der Bibel. S. 400: Z. 1-5 aus Martianus Capella, De nuptiis, 2, 4; Z. 5 aus Boethius, De Consolatione, 3; Z. 5f. aus Boethius, De Consolatione, 3 oder Martianus Capella, De nuptiis, 2, 34; Z. 7-10 zu Hebr. 11, 1 (auch Zürich, ZB Ms. C 129, f. 96v, Z. 5-8); Z. 10-13 vielleicht nach Ps. 145, 20 gebildete sprichwörtliche Sentenz; Z. 14-17 zu Apostelgesch. 8,33; Z. 17- S. 401, Z. 3 vielleicht

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aus einem Computus (Zuweisungen nach J. Bächtold, Beiträge, S. 195f. Abweichend MSD II, S. 405 [S. 400, Z. 14-17 aus Beda, De officiis statt aus einem Computus] und E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 123 [S. 400, Z. 7-10 Gregor, Homilien statt Hebr.]). – II: S. 401, Z. 4-8 lat.-ahd. grammatische Termini, die Bezeichnungen der acht Wortarten in der bei Donatus festgelegten Reihenfolge (eine Auflistung, in der nach A. Nievergelt, S. 1499, auch ein lat.-ahd. Sachglossar gesehen werden kann). – III: S. 401, Z. 9-17 einige lat.-ahd. Sätze grammatischen Inhalts: Teil einer Diskussion über Merkmale von Nomina sowie Erklärungen der Grundbegriffe qualitas, comparatio und genus (zum Inhalt von III s. E. Ising, S. 226. A. A. Grotans, S. 142, beurteilt Teil III als Schulstoff für fortgeschrittene Schüler). Das Abhängigkeitsverhältnis dieses Teils von Donatus’ Ars minor ist unklar (J. Müller, S. 197, sieht ihn Donatus fremd, E. Ising, S. 226, nahestehend). – In allen Abschnitten ist der Text fortlaufend geschrieben, sind Sätze bzw. Satzteile durch Punkte getrennt. In I und II ergibt sich die Gliederung in Einzelsätze durch den Wechsel Lat. – Ahd., in III ist die Dialogform durch Fragezeichen erkenntlich gemacht. Aus der Prosaform sticht S. 400, Z. 10-13 die gereimte Sentenz hervor, wo sich Binnenreim im Latein und Stabreim im Althochdeutschen gegenüberstehen (vgl. St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 77; H. Burger, A. Buhofer, A. Sialm, S. 349). 5. Schrift, Schreibung und Sprache: Die ‘Schularbeit’ in St. Gallen, StB 556 ist von einer Hand geschrieben, die in den übrigen Briefen nicht anzutreffen ist. (Anders B. v. Scarpatetti, S. 28, der die Hand schon auf S. 395 erkennt). Einige Schriftmerkmale wie die Form von deuten auf St. Gallen und den Bodenseeraum (B. Hertenstein, S. 107f.). Die Schreibung in den ahd. Teilen folgt Notkers Anlautgesetz, und die Akzentuation und die spätaltalem. Sprache stehen ebenfalls in der Tradition der Notkerschen Denkmäler (G. Ehrismann, S. 452; St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 77. Einige Angaben zur Sprache der Überlieferungsgruppe bei P. Piper, Sprache und Litteratur, S. 108f. Zum Versuch einer wortgeographischen Einordnung H. Burger, S. 22, 29, 92). 6. Zur Gattungsfrage: Für das fragmentarisch überlieferte, in seiner Gestalt unikale Sprachdenkmal ist in der Gattungsfrage nicht leicht zu entscheiden. Eine Einordnung hängt weitgehend davon ab, wie der Text pragmatisch zu deuten ist. Im Verbund mit Musterbriefen überliefert, kann er aus formalen und inhaltlichen Gründen zwar nicht auch ein Musterbrief sein, doch ist er über den schulischen Kontext mit den Briefformularen verbunden und könnte daher ebenfalls Formularcharakter besitzen, also Übungsvorlage statt selber Übung sein. (Zum Studium des Briefeschreibens an der St. Galler Klosterschule s. A. A. Grotans, S. 79 und Anm. 154f. Schon M. Goldast, II, S. 13, zeigt die Briefe als Formulare vor schulischem Hintergrund: „formulae conscribendi epistolas, quas [Ruodpertus] discipulis suis in Schola dictauit“, vgl. J. Bächtold, Beiträge, S. 193; B. Hertenstein, S. 195. G. Ehrismann, S. 452, erkennt in der ‘Schularbeit’ eine Musterübung, mit dem Zweck, die Schulmethode Notkers darzulegen.) Dass das Denkmal im

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Schulunterricht zu situieren ist, zeigt sich darin, dass sich seine Sätze mit dem Lehrplan des Trivium und des Quadrivium verbinden lassen. (In der Textsortenklassifikation bei A. Schwarz, S. 1227, figuriert die ‘Schularbeit’ aus diesem Grund in Klasse 1, Kontexttyp Schule, und E. Hellgardt, in: Deutsche Handschriften, S. 39, ordnet sie in das „Schulschrifttum der St. Galler Art“ ein.) Bezüglich des Inhalts der ‘Schularbeit’ besteht in der Forschung zwar weitgehend Einigkeit, dass es sich um Unterrichts- bzw. Prüfungsfragen und deren Beantwortung handele (vgl. G. Ehrismann, S. 452), nicht aber bezüglich der konkreten Gebrauchssituation und damit verbunden der Umstände, die die Niederschrift des Textes veranlassten, gemäß derer die ‘Schularbeit’ entweder Unterrichtsmaterial eines Lehrers, oder aber das Werk eines Schülers sein könnte. (Eine vom Lehrer verwendete Unterrichts- bzw. Diktatvorlage vermuten beispielsweise M. Goldast, II, S. 13 und B. Hertenstein, S. 194, eine Schülerarbeit in Form einer ausgeführten Übersetzung R. Wisniewski, Dt. Lit., S. 279, und E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 123, der auch vom „Rest eines dictamen diei“ spricht. A. A. Grotans, S. 140, Anm. 116, bezeichnet die Schrift der Formulare spekulativ als diejenige „eines jungen Schreibers“.) Deutlich tritt indes der enge Bezug der ‘St. Galler Schularbeit’ zu dem übersetzerischen und pädagogischen Wirken Notkers III. hervor. Eine direkte Beteiligung Notkers an ihrer Entstehung und Verwendung ist zwar wenig wahrscheinlich (bei B. Hertenstein, S. 194, wird sie als Unterrichtsmaterial Notkers, bei R. Wisniewski, Dt. Lit., S. 279, als das Werk eines Schülers Notkers betrachtet), doch kann man mit St. Sonderegger (in: 2VL VI, Sp. 1230) von einem Zeugnis der Nachwirkung Notkers III. in der Klosterschule St. Gallen im Sinne einer Primärrezeption sprechen (vgl. auch H. Eilers, S. 293; St. Sonderegger, in: Fachsprachen, S. 2325, 2330). Nach St. Sonderegger (in: Sprachgeschichte, II.2, S. 1236) lebt in der ‘Schularbeit’ Notkers ahd. Unterrichtssprache fort, was die Notkersche Prägung des Sprichworts témo die héiligen hólt sint, tér mág hórsko gebétôn (St. Gallen, StB 556, S. 400, Z. 12f.) besonders klar zum Ausdruck bringe. 7. Die grammatischen Termini: Von herausragendem Wert sind die ahd. Wortartenbezeichnungen in St. Gallen, StB 556, S. 401, Z. 4-8: omen . námo . Pronomen . fúre dáz nomen . Verbum . uuórt . Aduerbium . zûoze démo uerbo . Participium téilnémunga . Coniunctio geuûgeda . Preposicio . fúresézeda . Interiectio . úndéruuerf. Sie stellen das älteste Denkmal einer Verdeutschung grammatischer Fachwörter dar. (Dies erkannte schon M. Freher; vgl. M. Goldast, II, S. 13; s. auch J. Müller, S. 196; E. Leser, S. 11; St. Stricker, S. 154). Als grammatische Bemühung stehen sie in St. Gallen zwar nicht einzig da, doch sind entsprechende Ansätze entweder spärlich (grammatische Bezeichnungen durch den Notkerglossator in St. Gallen, StB 21, vgl. J. J. Bäbler, S. 23; J. Müller, S. 197f.), oder unsystematisch (Ansätze grammatischer Terminologie bei Notker III., mit der die Fachausdrücke der ‘Schularbeit’ nur teilweise übereinstimmen, vgl. St. Sonderegger, in: Fachsprachen, S. 2323-2325; E. Ising, S. 249). Wie in diesen Ansätzen diente

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der Fachwortschatz der ‘Schularbeit’ wohl nicht der Ersetzung der lat. Terminologie durch eine deutsche, sondern der etymologischen Erklärung. (A. A. Grotans, S. 140, zeigt dies an den ahd.-lat.-gemischten Umschreibungen von pronomen und adverbium. E. Ising, S. 228, bezweifelt zudem, dass diese Verdeutschungen damals in die gesprochene Schulsprache eindrangen.) Bei den unvermischt volkssprachigen Ausdrücken handelt es sich um wörtliche Übersetzungen, die auch die lat. Wortbildung widerspiegeln. Die Art der Wortwahl erlaubt Vergleiche zu Termini in Ælfrics nur wenig früheren ae.-lat. Grammatica anglicĊ, doch ist bei der St. Galler ‘Schularbeit’ noch kaum an ein entsprechendes Projekt zu einer zweisprachigen Grammatik zu denken (K. Braunmüller, S. 46f.; A. Beuerle, S. 403). Noch immer strittig ist, ob die Termini der ‘Schularbeit’ ein Produkt der Notkerzeit oder ältere Bildungen sind. (Eine Neuschöpfung als Ausdruck eines neuen, deutschsprachigen Wissenschaftsverständnisses erkennt St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 78 [vgl. auch R. Vortisch, S. 44], unter Verweis auf die hohe Zahl an hapax legomena und das Fehlen von Vorbildern in den ahd. Donatusglossen. Dagegen müssen nach E. Ising, S. 227, in einer Schularbeit vorkommende Termini schon zum Lernpensum gehört haben und ihre Anfänge in der Entstehungszeit auch anderer Fachwörter, also im 9. Jh. anzusetzen sein. R. Hofman, S. 120f., der die Termini Notker zuschreibt, zieht eine altirische Beeinflussung durch entsprechende Calques in St. Gallen, StB 904, in Erwägung.) – Ein unmittelbares Fortleben der ahd. Fachwörter in Form deutscher Grammatikschreibung ist nicht nachzuzeichnen. Im Hochmittelalter tauchen sie zunächst in literarischer Verwendung auf (1373 bei Heinrich von Mügeln, Liedersammlung, drei Strophen über Grammatik, deutsche Bezeichnungen der acht Wortarten enthaltend, die in Reihenfolge und Wortwahl bis auf ein Wort mit der ‘Schularbeit’ übereinstimmen; ähnlich 1410 ein Lied des fahrenden Meistersängers Muskatblüt; s. E. Ising, S. 228). Im 17. Jh. ziehen M. Goldast und J. G. Schottelius die ‘Schularbeit’ für ihre Studien heran (St. Sonderegger, in: Sprachgeschichte, II.1, S. 428f.; St. Sonderegger, in: Fachsprachen, S. 2325; S. Barbariü, S. 78, 539). Während rund 700 Jahren nach ihrem Auftauchen in St. Gallen bleiben die deutschen Wortartentermini praktisch dieselben. 8. Literatur: A. A. Baade, Melchior Goldast von Haiminsfeld: collector, commentator, editor, Studies in Old Germanic languages and literature 2, New York u. a. 1992, S. 6, 130; J. J. Bäbler, Beiträge zu einer Geschichte der lateinischen Grammatik im Mittelalter, Halle a. S. 1885, S. 23; J. Bächtold, Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz, II, Anmerkungen, Frauenfeld 1892, S. 72-75; J. Bächtold, Beiträge zur S. Gallischen Litteraturgeschichte, ZDA 31 (1887) S. 189-198; St. Barbariü, Zur grammatischen Terminologie von Justus Georg Schottelius und Kaspar Stieler. Mit Ausblick auf die Ergebnisse bei ihren Vorgängern, I, Bern/Frankfurt a. M./Las Vegas 1981, S. 78, 539; A. Beuerle, Sprachdenken im Mittelalter. Ein Vergleich mit der Moderne, Studia Linguistica Germanica 99, Berlin/New York 2010, S. 403; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., S. 75, 169; K. Braunmüller, Mittelalterliche Sprachanalysen: Einige Anmerkungen aus heutiger Sicht, in: Germanic Dialects: Linguistic and philological investigations, hg. v. B. Brogyanyi und Th. Krömmelbein, Amsterdam studies in the theory and history of linguistic science 38,

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Amsterdam/ Philadelphia 1986, S. 46f.; A. Bruckner, Scriptoria helv. III, S. 108, 127; H. Burger, Zeit und Ewigkeit. Studien zum Wortschatz der geistlichen Texte des Alt- und Frühmittelhochdeutschen, Studia linguistica Germanica 6, Berlin 1972, S. 22, 29, 92; H. Burger – A. Buhofer – A. Sialm, Handbuch der Phraseologie, Berlin/New York 1982, S. 349; J. M. Clark, The Abbey of St. Gall as a centre of literature and art, Cambridge 1926, S. 251f.; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 451f.; H. Eilers, Die Syntax Notkers des Deutschen in seinen Übersetzungen: Boethius, Martianus Capella und Psalmen, Berlin 2003, S. 293; K. Goedeke, Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen, I. Das Mittelalter, Dresden 1844, S. 63; M. Goldast, Alamannicarum rerum scriptores aliquot vetusti, II, Francofurti 1606, S. 13, 87f.; F. D. Gräter (Hg.), Braga und Hermode oder Neues Magazin für die vaterländischen Alterthümer der Sprache, Kunst und Sitten, Zweyter Band, Erste Abteilung, Leipzig 1797, S. 39-47; A. A. Grotans, Reading in Medieval St. Gall, Cambridge Studies in palaeography and codicology 13, Cambridge 2006, S. 79, 140-142; E. Hellgardt, in: Deutsche Handschriften 1100-1400, S. 39; E. Hellgardt, Noker Teutonicus, PBB 108 (1986) S. 190-205, 109 (1987) S. 202-221; B. Hertenstein, Joachim von Watt, S. 107f., 194f.; R. Hofman, The linguistic preoccupations of the glossators of the St Gall Priscian, in: V. Law, History of linguistic thought in the early middle ages, Amsterdam studies in the theory and history of linguistic science 71, Amsterdam/Philadelphia 1993, S. 111-126 S. 120f.; E. Ising, Die Herausbildung der Grammatik der Volkssprachen in Mittel- und Osteuropa. Studien über den Einfluß der lateinischen Elementargrammatik des Aelius Donatus De octo partibus orationis ars minor, Berlin 1970, S. 226-228, 242, 244-249; E. Leser, Geschichte der grammatischen Terminologie im 17. Jahrhundert, Lahr in Baden 1912, S. 11-13; L. C. Mohlberg, Mittelalterl. Hss., S. 62, 362; J. Müller, Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachlichen Unterrichts bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Gotha 1882, S. 1, 196-198; St. Müller, Ahd. Lit., S. 264-267, 389f.; A. Nievergelt, St. Galler Glossenhandschriften, in: BStH II, S. 1462-1527, S. 1499; J. K. von Orelli, Specimen codicum manuscriptorum Turicensium, in: Index lectionum in Universitate Turicensi, Zürich 1835-1836, S. 19; P. Piper, Aus Sanct Galler Handschriften, I-II, ZDPh 11 (1880) S. 255-286, III, ZDPh 13 (1882) S. 305-479, II, S. 286f., III, S. 456; P. Piper, Die Sprache und Litteratur Deutschlands bis zum zwölften Jahrhundert, II. Lesebuch des Althochdeutschen und Altsächsischen mit einem Wörterbuch versehen, Paderborn 1880, S. 108f.; R. v. Raumer, Die Einwirkung des Christenthums auf die Althochdeutsche Sprache, Stuttgart 1845, S. 74; J. K. Friedrich Rinne, Die Lehre vom deutschen Stile, philosophisch und sprachlich neu entwickelt, 1. Teil, 1. Buch, Stuttgart 1840, S. 527; B. M. von Scarpatetti, Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen, I. Abt. IV, Codices 547-669. Hagiographica, Historica, Geographica, 8.-18. Jahrhundert, Wiesbaden 2003, S. 28-33; G. Scherrer, Verzeichniss, S. 175f.; A. Schwarz, Die Textsorten des Althochdeutschen, in: Sprachgeschichte, II.2, S. 1227; St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 77f.; St. Sonderegger, Ansätze zu einer deutschen Sprachgeschichte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, in: Sprachgeschichte, II.1, S. 428f.; St. Sonderegger, ‘St. Galler Schularbeit’, in: 2VL II, Sp. 1049-1051; St. Sonderegger, Reflexe gesprochener Sprache im Althochdeutschen, in: Sprachgeschichte, II.2, S. 1236; St. Sonderegger, Fachsprachliche Phänomene in den zum Trivium gehörenden Werken Notkers III. von St. Gallen, in: Fachsprachen, II, HSK 14, Berlin/New York 1999, S. 2323-2325, 2330; St. Sonderegger, Notker III. von St. Gallen, in: 2VL VI, Sp. 1230; St. Stricker, Die althochdeutschen Donatglossen. Aspekte einer funktionalen Analyse, in: Grammatica ianua artium. FS Rolf Bergmann, S. 139-157, S. 154; W. v. Unwerth – Th. Siebs, Gesch. d. dt. Lit., S. 235f.; R. Vortisch, Grammatikalische Termini im Frühneuhoch-

‘St. Galler Spottvers’ (Cod. 30)

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deutschen: 1500-1663, Basel 1911, S. 4, 44; W. Wackernagel, Deutsches Lesebuch, 1. Teil, Altdeutsches Lesebuch, Basel 1835, Sp. 79f., 827; R. Wisniewski, Dt. Lit., S. 279.

ANDREAS NIEVERGELT

‘St. Galler Spottvers’ (Cod. 30) 1. Überlieferung St. Gallen, StB 30, S. 1, 9. Jh.; 103 (102) Seiten. Die Handschrift enthält außerdem drei alttestamentarische, Salomon zugeschriebene Texte: das Buch der Sprüche mit dem Prolog des Hieronymus. (S. 2-68), das Buch der Prediger (S. 68-91) und das Hohelied ohne das letzte Kapitel (S. 91-103). Das Ende der Handschrift fehlt. Handschriftenbeschreibungen bei G. Scherrer, Verzeichniss, S.16; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 401; E. Hellgardt, S. 190f. – Abbildungen: St. Sonderegger, in: Das Kloster St. Gallen, S. 215; K. Schmuki, S. 91; A. Schwarz, S. 1228; L. Rübekeil, S. 173; Digitalisat: CESG; vgl. PadRep. 2. Inhalt: Auf der ersten Seite der Hs. finden sich oberhalb der Seitenmitte über drei Zeilen verteilt vier endgereimte Verse; sie sind fortlaufend und ohne Satztrenner geschrieben. Das ursprünglich leere Blatt enthält außerdem einen Bibliotheksstempel des Klosters St. Gallen sowie eine große Zahl von federprobenartigen Kritzeleien, Zeichnungen, Alphabeten und lat., teils mit Neumen versehenen Textfragmenten, wobei mehrfach wiederholte und fehlerhafte Abschriften (angelica als agelica mit nachträglich übergeschriebenem n) Schreibversuche dokumentieren. Auch die ersten Zeilen des Gedichts tragen womöglich zeitgenössische, allerdings mit anderer Tinte eingetragene Neumen. Möglicherweise wurde der Text daher erst nachträglich mit einer Melodie versehen. Die Neumen dienten womöglich als Gedächtnisstütze für die Melodie des ganzen Liedes, wie es sich ähnlich erst wieder hochmittelalterlich im Codex Buranus oder in den WaltherLiedern des Cod. Cremifanensis 127, f. 130r-v findet. Sollte das Gedicht zum gesungenen Vortrag konzipiert gewesen sein, ist die Bezeichnung als ältestes schriftlich erhaltenes deutsches Volkslied nicht ganz aus der Luft gegriffen (C. Edwards, in: Theodisca, S. 197; generell zu Neumen über ahd. Kurztexten St. Müller, in: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters, S. 51-55). Der Text ist in zwei paarigen Endreimen nach Art Ú Otfrids von Weißenburg angeordnet, was insofern auffällt, als der Endreim in der ahd. Literatur bis Otfrid unbekannt war und dieser sogar verbreitet als Urheber des Endreims in der dt. Literatur gilt. Es ist jedoch umstritten, ob Otfrid für die Verbreitung auch des volkstümlichen Endreims in so kurzer Frist verantwortlich gemacht werden kann (skeptisch G. Ehrismann, S. 248), weshalb man an unabhängige Entstehung der Reimtraditionen dachte (St. Sonderegger, in: Das Kloster St. Gallen, S. 73) oder in Erwägung zog, dass Otfrid seinerseits auf volkstümliche Reimvorbilder zurückgegriffen hat (E. Seebold, S. 16). Schließlich kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass das Gedicht gar keine

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‘St. Galler Spottvers’ (Cod. 30)

Volkspoesie repräsentiert, sondern eine erst im Kloster entstandene, quasi doppelt satirische Anwendung von Otfrids Reimtechnik auf den von ihm (in seinem Brief an Liutbert) verpönten laicorum cantus obscenus. Unter den als ‘Spottverse’ bezeichneten kleineren Sprüchen (vgl. auch Ú ‘St. Galler Verse’ [Cod. 105]) entspricht dieser jedenfalls am ehesten dem Typus eines womöglich aufgrund realer Begebenheiten entstandenen satirischen Spottgedichts. 3. Text und Sprache: liubene ersazta sine gruz unde kab sina tohter uz, to cham aber starzfidere, prahta imo sina tohter uuidere ‘Liubene setzte sein Festbier an und gab seine Tochter fort; da kam (aber) Starzfidere wieder und brachte ihm seine Tochter zurück’. Die Sprache zeigt typische obd. Merkmale (cham, prahta) und mit der orthographischen Markierung von Notkers Anlautgesetz (to statt do) auch St. Galler Charakteristika, wobei die Aufhebung der Medienverschiebung in nichtanlautender Position (kab) eine Datierung um 900 ebenso stützt wie die fortgeschrittene Nebensilbenabschwächung (Liubene < Liubwini, ersazta < irsazta). Da das ahd. Namenelement wini in den St. Galler Urkunden im 9. Jh. meist die Abschwächung zu -ini und erst allmahlich zu -eni zeigt (R. Henning, S. 109; St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 73), erweist sich der Name Liubene nicht nur als jüngere dialektale Variante, sondern zeigt mit seinem abgeschliffenen Sprachgebrauch zudem alltagssprachlichen Habitus. Das Lied deutet in aller Kürze einen gescheiterten Ehevertrag an und baut dabei einen ironischen Kontrast zwischen den Hochzeitsfeierlichkeiten im ersten und der schmachvollen Rückkehr der Braut im zweiten Teil auf. Ahd. grnjz kann sowohl das Braumalz, die Bierwürze (und Würzkrauter allgemein) wie auch das Bier als fertiges Produkt bezeichnen; die Verwendung von grnjz statt allgemeinerem bior soll vielleicht betonen, dass kein würzloses Alltagsbier gemeint ist. Das Syntagma grnjz ersezzen darf in diesem Zusammenhang als ‘Festbier ansetzen’ interpretiert werden. Während der Namentyp Liubene einem im Alem. haufigen und wohl positiv konnotierten Namentypus entsprach, dürfte der Name des Bräutigams, Starzfidere, negativ konnotiert sein. Das sonst nicht belegte Kompositum enthält im Vorderglied ahd. sterz ‘Vogelschwanz, Sterz’ (meist als Kompositionszweitglied belegt, häufiger in pfluogsterz ‘Pflugsterz’), das mit seinem auffälligen Vokalismus (sonst nur in isoliertem wegistarz ‘Bachstelze’) an star(o) ‘Star, Drossel’ angelehnt sein könnte. Das Hinterglied enthält eine Ableitung *fidari zu fedara ‘Feder’, die womöglich an das Verb fideren ‘Federn bekommen, flügge werden’ und zugleich an Vogelnamen wie mausari ‘Mausadler’ oder sparwari ‘Sperber’ anklingen soll. Die so erzeugte Konnotation ‘der (kleine) Sterzfedrige’ setzt ein vielschichtiges Andeutungsmodell um und dürfte durchaus doppelbödig gemeint sein; dieser Name dient offenkundig der Verstärkung und Polarisierung des auch sonst anzüglichen Inhalts. Ob eine solche Textkonzeption an einen bestimmten Zweck oder Anlass gebunden war, zum Beispiel die Aufführung bei einer Art frühmittelalterlicher Polterabend (C. Edwards, The Beginnings, S. 126f.), bleibt jedoch unklar.

‘St. Galler Spottvers’ (Cod. 30)

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Der Spottvers ist immer wieder als wichtige rechtsgeschichtliche Quelle bezeichnet worden (vgl. St. Sonderegger, in: 2VL II, Sp.1051-1053). Es bleibt allerdings fraglich, ob und inwiefern das kurze Lied mit seinen nur impliziten Andeutungen rechtsgeschichtliche Fragen adäquat beantworten kann. Weder über den Modus noch den Grund für die Rückkehr der Braut macht der Text explizite Angaben, auch wenn die Forschung diese etwa mit Unfruchtbarkeit der Braut, Impotenz des Mannes oder Promiskuitat begründen wollte (vgl. vor allem C. Edwards, The Beginnings, S. 126f.). Für den rechtsgeschichtlichen Vergleich kommen als kontrastive Quellen am ehesten die ausführlichen Beschreibungen der Ehescheidung Lothars II. in Betracht. Diese spielen jedoch im vollkommen anderen rechtlichen, sozialen und zeremoniellen Rahmen der karolingischen Dynastie (Th. Bauer; St. Saar, S. 404ff.); der soziale Hintergrund des Spottverses wurde dagegen meist in ländlich-bäuerlicher Sphäre gesucht (R. Kögel, S. 164; St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 73), für den zeitgenössische rechtsgeschichtliche Quellen weitgehend fehlen. 4. Literatur: Th. Bauer, Rechtliche Implikationen des Ehestreits Lothars II.: Eine Fallstudie zu Theorie und Praxis des geltenden Eherechts in der späten Karolingerzeit, ZSR 80 (1994) S. 41-87; C. Edwards, German vernacular literature: a survey, in: Carolingian culture: emulation and innovation, ed. by R. McKitterick, Cambridge 1993, S. 141-170, S. 157f.; C. Edwards, in: Theodisca, S. 189-206, S. 197; C. Edwards, The Beginnings, S. 126-127; P. Erhart, Puerili pollice: maniere di insegnamento della scrittura nell’area del lago di Costanza, in: Scrivere e leggere nell’ Alto Medioevo, I, Spoleto 2012, S. 151-178, 171; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 247f.; J. S. Groseclose – B. O. Murdoch, Die ahd. poet. Denkm., S. 94f.; H. Hattemer, Denkmahle I, S. 409; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 73; A. Haug, Sankt Gallen, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil, Band VIII. 2. A. Kassel 1998, Sp. 948-969; E. Hellgardt, Neumen in Handschriften mit deutschen Texten. Ein Katalog, in: Chr. März – L. Welker – N. Zotz (Hgg.), „Ieglicher sang sein eigen ticht“. Germanistische und musikwissenschaftliche Beiträge zum deutschen Lied im Mittelalter, Wiesbaden 2011, S. 163-207, 190f.; R. Henning, Über die sanctgallischen Sprachdenkmäler bis zum Tode Karls des Grossen, Strassburg 1874; R. Kögel, Gesch. d. dt. Litt., S. 164; MSD Nr. XXVIIIb, I, S. 67, II, S. 155f.; St. Müller, Ahd. Lit., S. 260 u. 385f.; St. Müller, in: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters, S. 49-61; P. Piper, Aus Sanct Galler Handschriften, III, ZDPh 13 (1882) S. 305-337, 337; L. Rübekeil, St. Galler Spottverse, in: Chr. Kiening – M. Stercken (Hgg.), Schrift-Räume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne, Zürich 2008, S. 172f.; St. Saar, Ehe, Scheidung, Wiederheirat: Zur Geschichte des Eheund des Ehescheidungsrechts im Frühmittelalter (6.-10. Jahrhundert), Münster 2002; K. Schmuki, Der St. Galler Spottvers, in: K. Schmuki – P. Ochsenbein – C. Dora (Hgg.), Cimelia Sangallensia. Hundert Kostbarkeiten aus der Stiftsbibliothek St. Gallen, St. Gallen 2000, S. 90f.; A. Schwarz, Die Textsorten des Althochdeutschen, in: Sprachgeschichte, II, S. 1222-1231, S. 1228; E. Seebold, Chronolog. Wb. II, S. 16f.; St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 72-75; St. Sonderegger, Althochdeutsch in St. Gallen, in: Das Kloster St. Gallen im Mittelalter. St. Gallen 1999. S. 205222; St. Sonderegger, in: 2VL II, Sp. 1051-1053; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LXXXII. 2, S. 401. LUDWIG RÜBEKEIL

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‘St. Galler Sprichwörter’

‘St. Galler Sprichwörter’ Althochdeutsche Sprichwörter aus der St. Galler Überlieferung, 11. Jh. 1. Definition: Die mittelalterliche Überlieferung des Klosters St. Gallen enthält verschiedene Beispiele einer ahd. Sprichworttradition, die von besonderer Bedeutung ist. Sie entstammt spätahd. Zeit, ist fast ausschließlich durch Ú Notkers des Deutschen Werke überliefert und wird i. a. als ‘St. Galler Sprichwörter’, ‘Ahd. Sprichwörter’ oder auch ‘Notkers Sprichwörter’ bezeichnet, da es im Ahd. kaum solche über Notker hinaus gibt (außer Ú ‘Hildebrandslied’ v. 37-38 und Ú ‘St. Galler Schularbeit’). Es handelt sich dabei um zwölf spätahd. Sprichwörter, die keine geschlossene Einheit bilden, wozu einige weitere (auch Sentenzen oder Sinnsprüche) gerechnet werden können. 2. Überlieferung: Elf sogenannte ahd. Sprichwörter aus Notkers Werken entstammen seinem im übrigen lat. Werk De partibus logicae (auch als St. Galler Logik bezeichnet), das in verschiedenen Hss. des 11. (bis 12.) Jh.s vorliegt, indessen vielleicht erst nach Notker auf dem Hintergrund seiner schulischen Nachwirkung entstanden ist: vollständig Zürich, ZB. cod. C 121 (462), aus St. Gallen, f. 51v-54v und Brüssel, BR cod. 10 664, f. 64v-65v; unvollständig Wien, ÖNB cod. 275, f. 91v (nur Anfang der lat. Einleitung); St. Gallen, StB cod. 242, f. 267; München, BSB Clm 4621, f. 75 (Bruchstück aus der Einleitung); nur zwei Sprichwörter daraus und ein weiteres bei Notker nicht nachgewiesenes enthält cod. 111 der StB (Hieronymus in Jesaiam lib. XIVXVIII, 9. Jh.) auf der letzen S. 352 von einer Hand des 11. Jh.s in der Art von Federproben neben lat. Eintragungen. Eines dieser Sprichwörter Notkers findet sich auch in der Consolatio-Übersetzung des Boethius (Buch IV, Kap. 56). Einige weitere Sprichwörter, vor allem aber sprichwortähnliche Sentenzen finden sich verstreut in den übrigen Werken Notkers, ohne dass sie vollständig zusammengestellt sind (dazu St. Sonderegger). 3. Ausgaben: Ahd. Sprichwörter: MSD Nr. XXVII. 1, I, S. 57-59 (im einzelnen als Nr. 1 bis 12 bezeichnet), II, S. 133-135; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LXXXVI, S. 403 (nur aus cod. Sang. 111); W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb. Nr. XXIII 18 (nicht vollständig); vgl. außerdem Die Werke Notkers des Deutschen, Neue Ausgabe, hg. v. J. C. King u. P. W. Tax 1/1A-10/10A, Tübingen 1972-2009, bes. Werke 7, Die kleineren Schriften, 1996 (De partibus logicae, S. 187-194, dazu Einleitung von P. W. Tax, S. LXIV-LXXVII u.a. zur Verfasserfrage). Angaben über ältere Ausgaben MSD II, S. 133ff. und E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 404.

4. Einordnung: Die aus Notkers Werken überlieferten ahd. Sprichwörter bilden die älteste einigermaßen als Sammlung zu bezeichnende Gruppe von dt. Sprichwörtern, obwohl es sich nicht um eine systematische Zusammenstellung, sondern nur um eine

‘St. Galler Sprichwörter’

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lose Gruppierung von Übungsbeispielen für den Schulunterricht in Logik handelt, um ‘formelhafte Sprache im schulischen Unterricht’ (N. Filatkina u.a.), wie es dem Verfahren Notkers auch sonst entspricht. So sind den ahd. Sprichwörtern in seinem lat. Werk De partibus logicae die ahd. Beispielverse in seiner lat. Rhetorik dem Schulverfahren, nicht aber dem Inhalt nach, vergleichbar, ferner weitere illustrierende Hinweise auf proverbia (ahd. bƯuuúrte n.), wie sie Notker in seinen Werken an mehreren Stellen ausdrücklich vermittelt und die ebenfalls Sprichwörter enthalten können, z.T. sogar lat. wie in einem Zusatz in der Consolatio-Übersetzung des Boethius III, 79 Qualis radix . tales et rami (als prouerbium bezeichnet). Indessen kommt nicht allen von Notker herangezogenen Beispielen der Charakter eines wirklichen Sprichwortes zu – mlat. proverbium bedeutet ja auch ‘Sentenz, Sinnspruch’ –, da Notker wohl nicht selten selbst in der Art eines Sprichwortes sprachschöpferischerläuternd ausholt und über einen weiten literarischen Sentenzenschatz verfügt (G. Baesecke, S. Singer, N. Filatkina u.a., St. Sonderegger). Andererseits hat gerade die komparatistische Sprichwortforschung, wie sie S. Singer begründet hat, manche Parallelen zu Notkers Stücken aus dem mlat. wie rom.-germ. Kulturkreis beigebracht. So bleibt es im einzelnen nicht leicht, zu bestimmen, ob bei den ahd. Sprichwörtern ein volkstümlich-germ. Grund gegeben ist (wie nach S. Singer z. B. bei alter al genimet Martianus Capella-Übers. I 36), oder ob Anlehnung bzw. freie Übertragung mlat. Sprichwörter und lat.-biblischer oder gar lat.-antiker Sinnsprüche vorliegt, wie dies wenigstens z. T. nachweisbar ist (vgl. MSD II, S. 133ff., S. Singer). Dass man sich in der Klosterschule St. Gallen zur Zeit Notkers gerne mit Sprichwörtern befasst hat, zeigt der über Notker hinausgehende Eintrag in cod. 111 so diz rehpochchili fliet, so plecchet imo ter ars, welcher eine Übersetzung aus der auch von Notker (Ps. 118, 85 Kommentar) einmal zitierten Sammlung des Streitgesprächs zwischen Salomo und Marcolf ist, wo es heißt Quando fugit capreolus, albescit ei culus (Nachweis MSD II, S. 135, vertieft durch S. Singer). Literatur: Ältere Lit. bei MSD II, S. 133ff. und G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 388. – F. Seiler, Deutsche Sprichwörterkunde, Handbuch des deutschen Unterrichts IV 3, 1922, S. 68-71; G. Baesecke, Vorgeschichte des deutschen Schrifttums, 1940, S. 374f.; S. Singer, Sprichwörter des Mittelalters, I, Bern 1944, S. 55-61; N. Filatkina – J. Gottwald – M. Hanauska – C. Rössger, Formelhafte Sprache im schulischen Unterricht im Frühen Mittelalter: Am Beispiel der sogenannten ‘Sprichwörter’ in den Schriften Notkers des Deutschen von St. Gallen, Sprachwissenschaft 34 (2009) S. 341-397; St. Sonderegger, Notkers des Deutschen Sentenzen als textliche Strukturelemente, Sprachwissenschaft 38 (2013) im Druck.

STEFAN SONDEREGGER

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‘St. Galler Verse’ (Cod. 105)

‘St. Galler Verse’ (Cod. 105) Die federprobenähnliche Einträge in den beiden Handschriften St. Gallen StB 30 und 105 werden traditionell mit dem Sammelbegriff ‘St. Galler Spottverse’ bezeichnet. Während die Bezeichnung ‘Spottvers’ für den Eintrag in Codex 30 als zutreffend gelten mag (Ú ‘St. Galler Spottvers’ [cod. 30]), ist sie für die Texte in Codex 105 problematisch. Die zwei Verse in Codex 105 (in der Folge ‘Vers 1’ und ‘Vers 2’) verteilen sich auf je zwei Einträge (‘1,1’ und ‘1,2’; ‘2,1’ und ‘2,2’). 1. Überlieferung: St. Gallen, StB 105, S. 1, marginal unten (1,1), S. 44, marginal oben (1,2), S. 202, marginal unten (2,1), S. 204, marginal oben (2,2). Die Hs. (Beschreibungen bei G. Scherrer, Verzeichniss, S. 40; A. Bruckner, Scriptoria helv., II, S. 60; StSG IV, S. 442f. [Nr. 156]; U. Thies, S. 487-490; BStK, I, Nr. 181; kurz auch in E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 401) setzt sich aus zwei Teilen zusammen: Teil I, Sulpicius Severus, Vita Martini, Epistolae, Dialogi, dazwischen Gregor von Tours, Historia Francorum II, geschrieben in St. Gallen von einer Hand aus der 1. Hälfte (A. Bruckner, Scriptoria helv., III, S. 23, Anm. 84) und weiteren Händen aus der 2. Hälfte des 9. Jh.s; Teil II, Medicinalia (Cassius Felix) und Grammaticalia, geschrieben in St. Gallen von einer Hand des 10. Jh.s. Teil I enthält 4 interlineare ahd. Federgll. (BStK-Nr. 181 [I]), Teil II 3 interlineare ahd. Federgll. (BStK-Nr. 181 [II]). – Die beiden volkssprachigen Verse gehören zu einer ganzen Reihe von über beide Einzelhandschriften verstreuten, meist marginal, teilweise aber auch interlinear angebrachten federprobenähnlichen Einträgen von mehreren Händen des 10./11. Jh.s. (B. Bischoff, S. 78 datiert eine Federprobe auf S. 212 ins 10. Jh.). In der Regel handelt es sich um lat. Eintragungen wie kurze Auszüge aus dem Haupttext, textbezugslose Ausdrücke wie Kirieleison, probacio pennae, Alphabete, Neumen und anderes (eine unvollständige Aufzählung bei U. Thies, S. 488); sprachlich unklar ist der verschmierte Eintrag S. 180, Z. 24 svh tuon, rechts neben einer Neumengruppe. Etliche dieser Eintragungen sind nach Tilgungsversuchen verschmiert oder radiert und daher unvollständig, nur noch resthaft oder gar nicht mehr lesbar. Während 1,1 (abgesehen von etwas Wurmfraßbeschädigung) unbehelligt geblieben ist, sind 1,2 und beide Aufzeichnungen von Vers 2 an manchen Stellen verschmiert und dort schlecht lesbar. 1,1 und 1,2 sind mit schwärzlicher Tinte von einer Hand des 10./11. Jh.s geschrieben (nach A. Grotans, S. 286 des späten 9. Jh.s). Die beiden Aufzeichnungen von Vers 2 stammen mit höchster Wahrscheinlichkeit von derselben Hand (H. Hattemer, Denkmahle, I, S. 320, „3. h[and]“, nach R. Kögel, S. 165, aus der Zeit Notkers), einer schwierig zu datierenden Hand des 10./11. Jh.s, die in der Medicinalia-Handschrift auch einen Teil der lat. Federproben aufzeichnete (S. 195, 197, 203, 206, u. a.). Die Tinte ist hellbraun, eine Färbung, die vielleicht auch erst bei den Tilgungsversuchen eingetreten ist. – Der ahd. Vers in 1,1 ist Bestandteil eines

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vierzeiligen Eintrags: (1) anu taz s sat · / (2) (Neumenzeile) po / (3) ue ueru · taz · ist · spiz / (4) taz santa tir tin fredel ce minnon (u von anu nicht sicher, danach Abstand; s vor sat verschmiert; nach ue Abstand). Es steht nicht eindeutig fest, dass alle Teile der vier Zeilen zur selben Eintragung gehören. (Insbesondere fraglich ist das für die Neumen, die sich in einer eigenen Bewegung oberhalb der 3. Zeile gruppieren und nicht über den Textwörtern stehen. Vgl. C. Edwards, The Beginnings, S. 127). 1,2 lautet taz sta? obelo, mit unklarer Situation nach sta (vielleicht noch t ?); obelo ist verschmiert, aber lesbar. – Die erste Fassung von Vers 2 (2,1) auf S. 202 kann gelesen werden als: h̙ ro comsic herrelant (h.r̙ o radiert, mit unsicherem r, dann Abstand; nach comsisc ein hoher Punkt oder kurzer Querstrich). Die zweite Fassung auf S. 204 (2,2) liest sich als: c hurocomsisc · herenlant?alleroter.esilant (c zu Beginn erhöht, kleiner und dunkler als die folgenden Buchstaben, danach Abstand, r in huro- behelfsmäßig aus Schaft und geradem Querstrich, s in -isc unsicher, klein und überzeilig eingefügt, l in herenlant aus a korrigiert, nach -t unklar, ob noch ein Buchstabe folgt, in -.esilant der erste Buchstabe unklar, auch wegen eines Risses im Pergament, vielleicht s, aber kaum l, zudem ist t nach s sehr unsicher und womöglich gar kein Buchstabe). – Abbildungen: Vers 1,1 bei C. Edwards, The Beginnings, S. 117; U. Schwab, S. 121; St. Müller, in: Schrift und Liebe, S. 52. Beide Verse in elektronischer FaksimileAbbildung unter CESG; vgl. PadRep. 2. Ausgaben: Die erste Ausgabe von Vers 1 (1,1) bietet E. G. Graff, Ahd. Sprachschatz, I, S. LXIII (mit veru statt ueru und ze statt ce). Beide Verse ediert erstmals H. Hattemer, Denkmahle, I, S. 319f. – Weitere Ausgaben (Auswahl): E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LXXXII. 1, S. 401 (beide Verse); St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 74f. (beide Verse); I. Strasser, S. 244 (Vers 1); W. Haubrichs, in: Lingua Germanica, S. 23 (Vers 1); St. Müller, Ahd. Lit., S. 260f. (Vers 1); R. Wisniewski, Dt. Lit., S. 262 (Vers 2). Meist sind die Verse ‘bereinigt’ wiedergegeben, d. h. Vers 1 ohne oder nur teilweise mit den ihn umgebenden Zusätzen (1,1 vollständig nur bei I. Strasser) und Vers 2 als 2,2, häufig ohne Hinweis auf die Unsicherheit einiger Buchstaben und mit einer der jeweiligen Interpretation zudienenden künstlichen Worttrennung. – Die Eintragung 1,2 auf S. 44 ist unediert und in der Forschung bislang unberücksichtigt geblieben.

3. Charakterisierung: Für die beiden Verse sind in der Fachliteratur unterschiedliche Bezeichnungen wie „Spottverse“ (traditionelle Bezeichnung für beide Verse; bei T. Tomasek, S. 158, für beide auch „Rätsel“), für Vers 1 „Spinnwirtelspruch“ (W. Haubrichs, in: Lingua Germanica; St. Müller, Ahd. Lit.), „Abwehrspruch“ (K. A. Wipf, S. 64), für Vers 2, der oft auch „Churo“ genannt wird, „Spottvers“ (Th. v. Grienberger, S. 494f.; H. Z. Kip, S. 108; St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 75) im Umlauf, die auch Gattungszuweisungen suggerieren, welche aber sämtliche diskutabel sind.

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3.1. Vers 1: Äußere Form und Textaufbau: Der als eigentlicher ahd. Vers betrachtete Text (ueru […] minnon) auf S. 1 ist umgeben von Zusätzen, die zuweilen dazu gerechnet wurden, in der neueren Forschung aber als Schreibanläufe betrachtet werden. So ist Z. 1 taz s sat möglicherweise ein Versuch zu Z. 4 taz santa (I. Strasser, S. 248 sieht im isolierten s einen Anlauf zu sat) und Z. 3 ue sehr wahrscheinlich ein Anlauf zu nachfolgendem ueru. Z. 1 anu (ahd. anu ‘ohne’?) und Z. 2 po sind ungeklärt. Nachdem ue vereinzelt als Versbeginn erwogen wurde (St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 75), sieht man heute fast übereinstimmend den Anfang eines zusammenhängenden Textes in ueru. Die Eintragung 1,2 auf S. 44 stammt von derselben Hand und gehört aus inhaltlichen Gründen unzweifelhaft zu 1,1. sta? ist unklar, erinnert jedoch an sat in 1,1, Z. 1. – Vers 1 ist nicht gereimt, zeichnet sich in Teilen aber durch Akzentmetrik aus, die an einen trochäischen Vers erinnern (C. Edwards, The Beginnings, S.127; Chr. Wells, S. 181). Dem Vers vorausgehendes ue könnte dabei Auftaktfunktion haben, analog zu taz in der unteren Zeile. Ein allfälliger Zusammenhang zwischen der Neumengruppe und dem Text ist nicht nachzuweisen. (Anders Chr. Wells, S. 181 und St. Müller, in: Schrift und Liebe, S. 52f., die den Vers als „neumierten Text“ bezeichnen. St. Müller, glaubt, dass die Neumen vom „frechen Inhalt ablenken“ sollten.) Schrift, Schreibung und Sprache: Die Schrift ist ins spätere 10. Jh. (Anfang 11. Jh.?, G. Ehrismann, S. 248: „um 1000“) zu stellen. Sie gleicht derjenigen der Federprobe auf S. 212, die B. Bischoff, S. 78, in das 10. Jh. datiert. – Die Sprache ist in Anbetracht der Überlieferungsumstände und des Lautstandes dem Alem. vom Beginn des 11. Jh.s zuzuordnen (R. Kögel, S. 140). Für /d/ steht anlautend durchgehend , auch nach vorausgehendem Vokal und Resonant. Verschobenes /t/ ist als Frikativ mit , als Affrikate mit wiedergegeben. In fredel ist das st. M. ahd. friudil ‘Liebhaber’, ‘Geliebter’ zu sehen (EWA III, Sp. 580f.; anders SchW (S. 113) und SchG III, S. 295 mit Ansatz fridil und W. Haubrichs, in: Lingua Germanica, S. 24, Anm. 8, der auch einen PN in Erwägung zieht). spiz ist ausschließlich als st. M. N. ahd. spiD ‘Spieß’ (E. G. Graff, Ahd. Sprachschatz, VI, Sp. 365) zu bestimmen, seit der glossographische Inhalt des Textes (s. u.) bekannt ist. Verschiedene Übersetzungen lässt der Ausdruck ce minnon zu, dessen letztes Wort zudem als Substantiv oder als Verb (nur I. Strasser, S. 248) gedeutet werden kann. C. Edwards, The Beginnings, S. 128, erkennt im Wortschatz frühe Hinweise auf das Vokabular des Minnesangs (fredel, minna). Inhalt und Gattung: Die Übersetzung des Verses scheint wenig Schwierigkeiten zu machen („ueru – das heisst ‘Spieß’, das sandte dir dein Geliebter zur Minne / aus Liebe / als Liebesgabe / zum liebenden Gedenken“), dagegen lässt seine Deutung einige Fragen offen. Während für E. v. Steinmeyer (Sprachdenkm., S. 401) der Zweck des Spruchs „dunkel“ blieb, wurde in der Forschung schon von Anbeginn gemutmaßt,

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dass der Vers eine obszöne Ausrichtung besitzt. Th. v. Grienberger, der ihn in Texterklärungen (S. 448) als „Begleitworte eines an eine Frau gerichteten Geschenkes“ bezeichnet, weist darauf hin, dass das Wort für ‘Geliebter’ friudil ausschließlich bei sexueller Beziehung verwendet wird. Entsprechende Andeutungen machen auch K. Müllenhoff (S. 261) und U. Schwab (S. 90); explizit äußert sich St. Sonderegger (Ahd. in St. Gallen, S. 75: „Vielleicht einfach ein obszöner Liebesvers“). Seit W. Meid (S. 1044) den Vers als ursprünglich auf einem spitzen Gegenstand angebrachtes „deutsches Analogon“ zu frivolen gallo-lateinischen Liebesbotschaften mit Spindel- und Spinnwirtelaufschriften in Verbindung gebracht hat, wird der Vers in der Forschung vielerorts als „Spinnwirtelspruch“ bezeichnet. Die Ansichten zum pragmatischen Kontext gehen jedoch auseinander. Als hypothetische Inschriftenträger wurden nebst Spindeln und Wirteln auch andere Gegenstände vorgeschlagen (z. B. bei C. Edwards, in: Theodisca, S. 199, die Feder des phantasierenden Schreibers), für spiz die Bedeutung ‘Dildo’ erwogen (nach C. Edwards, The Beginnings, S. 128, soll der Vers unter Kulturhistorikern als möglicher mittelalterlicher Beleg für Fetischismus diskutiert worden sein) und zum beteiligten Personenpaar ganz unterschiedliche Szenarien entworfen: Nebst Mann schreibt Frau auch Frau schreibt Frau (Chr. Wells, S. 181, denkt an zwei Nonnen) und Frau schreibt Mann (K. A. Wipf, S. 273), während Mann schreibt Mann als unwahrscheinlich erachtet wird (C. Edwards, The Beginnings, S. 128). Fiktion und keine realen Gegenstände und Zweitpersonen nehmen I. Strasser (S. 248) und Chr. Wells (S. 181) an (dagegen W. Haubrichs, in: Lingua Germanica, S. 26). I. Strasser (S. 248-250) stellt zudem das gallolateinische Vorbild mit Verweis auf die große zeitliche Lücke in Frage und versucht den Vers aus bodenständiger Tradition der Spindeln als „Minnegabe“ zu erklären (S. 250), während W. Haubrichs (in: Lingua Germanica, S. 26f.) Spindeln aus merowingischen Gräbern und die Bülacher Runeninschrift als Bindeglieder aufführt. – Im Anfangsteil ueru taz ist spiz, den St. Sonderegger (mit erstem ue) noch als „Wehe, ich wehre“ auffasste, ist seit W. Meid (S. 1043) eine Glosse mit der Struktur x, id est y zu erkennen, zu welcher es lat. (veru, id est spitum) und lat.-ahd. Entsprechungen (obelo, id est ueru spiz) gibt (I. Strasser, S. 245, 248; W. Haubrichs, in: Lingua Germanica, S. 28f.). Diese Glossen knüpfen bei der Stelle obelo id est veru im Hieronymus-Kommentar zu Esther an (W. Haubrichs, in: Lingua Germanica, S. 28f.). Lat. veru ist das neben obelus seltenere Wort für den sogenannten ‘kritischen Spieß’, ein Zeichen zur Emendation überflüssiger Textstellen. Der ahd. Vers beginnt also mit einer geläufigen Glosse und entwickelt diese wohl auf Basis volkstümlicher anzüglicher Scherze in der folgenden Zeile assoziativ-spielerisch in einem erotischen Wortspiel weiter (C. Edwards, in: Theodisca, S. 198; St. Müller, in: Schrift und Liebe, S. 52f.; T. Tomasek, S. 160, erkennt in ue das zu Emendierende und glaubt an ein Wortspiel mit „weh!“.) Der Eintrag 1,2 enthält obelus, den ersten Bestandteil der Glosse, in der auf

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Hieronymus bezogenen Form obelo und bildet für die Einordnung des Denkmals in den schreib- und schulpraktischen Kontext eine wichtige Ergänzung. Statt eines „Spottverses“ liegt in Vers 1 also eine beim Ausprobieren von Feder und Schrift entstandene, scherzhaft-anzügliche und auf populäre Spruchtraditionen zurückgreifende gelehrte Wort- und Gedankenspielerei zu einer Glosse vor. 3.2. Vers 2: Äußere Form und Textaufbau: Die beiden Schriftzüge auf S. 202 und 204 sind als zwei Varianten desselben Textes anzusehen. 2,1 enthält nur den ersten Halbvers, mit zwei Abweichungen zu Vers 2,2: comsisc (2,1) – comsisc (2,2); herrelant (2,1) – herenlant (2,2; l aus a korrigiert); der Beginn h.r̙ o (2,1) – huro (2,2) kann identisch sein. Beide Fassungen beginnen mit h. In 2,2 steht voraus c, jedoch mit einigem Abstand und daher kaum als Buchstabe vor h gedacht. Es ist vielmehr ein Schreibanlauf, vielleicht zu comsisc. Das zweite s in der Buchstabengruppe comsisc ist in 2,1 fester Bestandteil des Schriftzugs und in 2,2 vielleicht in dem kleinen Strich zu sehen, der über -ic nachträglich ergänzt wurde. – 2,2 zeigt den Text als zweiteiligen, endreimenden Vers. (Chr. Wells, S. 182, vermutet, dass nicht Endreim, sondern eine binnenreimende Vorläuferform des Reimpaars vorliegt.) Schrift, Schreibung und Sprache: Die wenig schulmäßige Schrift ist in das 11. Jh. (1. Hälfte?) zu stellen. Wiederholtes Ansetzen, Verschreibungen und Einfügungen verweisen auf unplanmäßiges Schreiben. Mit Ausnahme von abgesetztem h.r̙ o in 2,1 und einem Punkt nach comsisc in beiden Versionen herrscht Scriptura continua und sind deshalb die von Herausgebern vorgenommenen Worttrennungen an die jeweilige Interpretation gebunden. Der Text wird in der Forschung einhellig als durchgehend volkssprachig betrachtet. comsisc wird allerorts in zwei Wörter com und si(s)c geteilt und com als Präteritumsform ‘er kam’ und si(s)c als Reflexivpronomen aufgefasst. herrelant / herenlant wird als herre lant bzw. her en lant ‘her ins Land’ gelesen, in alleroter das Adj. ahd. al ‘all’ erkannt, gefolgt vom st. N. ahd. ©t ‘Gut’, ‘Besitz’, und im Schlussteil ein Kompositum mit Zweitglied -lant und einem unklaren Erstglied lesti- (bzw. esa- oder terrestri-) gesehen. Treffen die Lexemzuweisungen zu, ist bei Schreibungen wie com (quam) und sic (sih) und Flexionsformen wie com (quam, bei Notker chám), aller (allero) und oter (*©tiro) und durchgehender Nebensilbenschwächung von spätaltobd.-frühmhd. Sprachstand des 11. Jh.s auszugehen. huro und das Schlusswort haben aber weiterhin als ungeklärt, Formen wie sisc und die Struktur von alleroter als sehr unsicher zu gelten. Inhalt und Gattung: Entsprechend den Schwierigkeiten bei der Bestimmung der einzelnen Wörter ist der Inhalt des Verses weitgehend unklar geblieben. Alle bisherigen Versuche, ihn zu deuten, basieren auf einer Reihe von Lesungen, die am handschriftlichen Befund nicht zu stützen sind. Übersetzungen wie z. B. „Churo (Welscher aus Churrätien) kam für sich her ins Land, aller Schätze Leisteland“ (St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 75), oder „Ein Churwelscher kam her ins Land und schmähte

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alle anderen“ (R. Wisniewski, Dt. Lit., S. 262) sind deshalb zwangsläufig von zweifelhaftem Wert. Das erste Wort wurde, obwohl bei H. Hattemer (Denkmahle 1, S. 320) in korrekter Lesung (huro bzw. c huro) wiedergegeben, von Anbeginn an durchgängig als churo behandelt und zu deuten versucht. Von einer Reihe von Vorschlägen (K. Müllenhoff, S. 262, erwägt einen Necknamen und Ausdruck „Küre“, „wählerischer Mensch“; R. Kögel, S. 165 – wie auch für aller und oter – appellativisch gebrauchte Eigennamen mit sarkastischer Bedeutung und T. Tomasek, S. 163, eine Bezeichnung für die Medicinalia-Handschrift) hat sich die (bei K. Müllenhoff, S. 262, noch verworfene) Deutung von churo als „Churwelscher“, „Mann aus Chur“ durchgesetzt sowie davon ausgehend die Interpretation der Zeile als eines im Spannungsverhältnis zwischen Welschen und Deutschen entstandenen Spottverses über einen eingewanderten Romanen. (St. Sonderegger, in: 2VL II, Sp. 1052; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 74, liest im Vers eine „gentile Schelte“, die Verspottung eines überheblichen, lästernden Churwelschen und erkennt eine Parallele zum Kasseler Gesprächsbüchlein.) In Anbetracht des Befunds, dass c in 2,1 zu Beginn nicht existiert und in 2,2 schwerlich Anfangsbuchstabe sein kann, hängen jedoch alle Interpretationen, die von einem ersten Wort churo ausgehen, hoffnungslos in der Luft. Ähnliches gilt für die Deutungen der in der Handschrift so nicht lesbaren comsic oder lestilant. Letzteres macht, von H. Hattemer als esalant ediert und K. Müllenhoff zu estilant mit unsicherem erstem Buchstaben („wahrscheinlich l oder ein ähnlicher“) korrigiert, als lestilant die Runde und wird als Substantiv „Leisteland“, „Land, welches leistet“ (K. Müllenhoff, S. 262, der darin possenhafte Poesie erkennt), „Land, das alle Schätze vermittelt“ (St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 75), „Schlaraffenland“ (W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 74), oder als Partizip eines sonst nicht belegten Verbs *lestil©n ‘lästern’ (K. A. Wipf, S. 64; Chr. Wells, S. 182; R. Wisniewski, Dt. Lit., S. 262) ausgelegt. Hinzu kommen weitere Deutungsvorschläge (Th. v. Grienberger, S. 449, deutet lest als ahd. lezzist ‘der letzte’ und denkt an einen Memorialvers auf einen churwelschen Ansiedler, H. Z. Kip liest terrestrilant für terrestrium lant und übersetzt „von allen Weltlanden“, während T. Tomasek, S. 163, anregt, im ganzen Ausdruck aller oter lestilant eine bewundernde Bezeichnung für die St. Galler Klosterbibliothek und im ganzen Vers einen Bibliotheksbenutzereintrag zu sehen.) – Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Kommentar bei E. v. Steinmeyer (Sprachdenkm., S. 401) damals zur älteren Forschung: „die bisherigen Deutungsversuche können schwerlich befriedigen“ auch die heutige Situation umreißt. Gleichwohl ist es noch zu früh, mit J. S. Groseclose – B. O. Murdoch (S. 95) die Hoffnung auf eine Klärung der Zusammenhänge aufzugeben, solange nicht versucht worden ist, alternative Lesungen zu analysieren (z. B. huro, wofür ahd. hiuro ‘heuer’ oder der PN Uro möglich sind), insbesondere aber die beiden Einträge auf ihren Federprobencharakter und auf allfällige Zusammenhänge mit den anderen Marginalien der

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Handschrift zu untersuchen (aller oter erinnert beispielsweise an omnia bona der Federprobe auf S. 212 [B. Bischoff, S. 78], deren Schlusswort condis zu comdis verschrieben und mit unkenntlichem d dem comsis(c) des Verses sehr ähnlich sieht) und zu überprüfen, ob vielleicht – ähnlich wie in Vers 1 – auch hinter Vers 2 eine Spielerei mit Schulstoff und die Lust, damit Verse zu schmieden steht. 4. Literatur: B. Bischoff, Elementarunterricht und Probationes Pennae in der ersten Hälfte des Mittelalters, in: B. Bischoff, Mittelalt. Stud., I, S. 74-87, S. 78; A. Bruckner, Scriptoria helv., II, S. 27, 42, 52, 60; III, S. 23 und Anm. 84; BStK-Nr. 181; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 248; C. Edwards, in: Theodisca, S. 189-206, S. 197-199; C. Edwards, The Beginnings, S. 127f.; Th. von Grienberger, Althochdeutsche Texterklärungen III., PBB 47 (1923) S. 448-470, S. 448-450; J. S. Groseclose – B. O. Murdoch, Die ahd. poet. Denkm., S. 95; A. A. Grotans, Reading in Medieval St. Gall, Cambridge Studies in palaeography and codicology 13, Cambridge 2006, S. 286 und Anm. 7; H. Hattemer, Denkmahle I, S. 319f.; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 73f.; W. Haubrichs, Veru – taz ist spiz. Ein ‘Spinnwirtelspruch’ im Sangallensis 105?, in: Lingua Germanica. FS Jochen Splett, S. 23-31; H. Z. Kip, Ein unverstandener ahd. Spottvers, MLN 23/4 (1908) S. 106-108; R. Kögel, Gesch. d. dt. Litt., S. 139f., 165; W. Meid, Gallisch oder Lateinisch? Soziolinguistische und andere Bemerkungen zu populären gallo-lateinischen Inschriften, in: W. Haase (Hg.), Principat, Bd. 29, 2. Teilbd., Sprache und Literatur, Berlin/New York 1983, S. 1019-1044, S. 1043f. (zuerst: Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft, Vorträge und Kleinere Schriften 24, Innsbruck 1980); K. Müllenhoff, Ein Vers aus Sangallen, ZDA 18 (1875) S. 261f.; St. Müller, in: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters, S. 49-61, S. 52f.; St. Müller, Ahd. Lit., S. 260f., 386f.; U. Schwab, Das althochdeutsche Lied ‘Hirsch und Hinde’ in seiner lateinischen Umgebung, in: Latein und Volkssprache, S. 74-122, S. 90, 121; St. Sonderegger, ‘Spottverse’, in: 2VL II, Sp. 1051-1053; St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 74f.; I. Strasser, Zum St. Galler Spruch im Cod. 105, Seite 1, ZDA 110 (1981) S. 243-253; StSG IV, S. 442f.; U. Thies, Die volkssprachige Glossierung der Vita Martini des Sulpicius Severus, StA 27, Göttingen 1994, S. 487492 ; T. Tomasek, Das deutsche Rätsel im Mittelalter, Hermaea germanistische Forschungen. NF 69, Tübingen 1994, S. 158-164; Chr. Wells, in: German Literature, S.157-199, S. 181f.; K. A. Wipf, Ahd. poet. Texte, S. 64, 273; R. Wisniewski, Dt. Lit., S. 262. ANDREAS NIEVERGELT

Gebete Ú ‘Augsburger Gebet’, ‘Fränkisches Gebet’, ‘Freisinger Paternoster’, ‘St. Galler Paternoster und Credo’, ‘Merseburger Gebetsbruchstück’, Otlohs ‘Gebet’, ‘Sigiharts Gebete’, ‘Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet’

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‘Genesis, Altsächsische’ 1. Überlieferung: Rom, BAV Pal. lat. 1447, f. 1r, 2r, 2v, 10v. Die Umsetzung ins Altenglische: Oxford, BodlL Junius 11, p. 13-40. 2. Ausgaben: K. Zangemeister – W. Braune, Bruckstücke der altsächsischen Bibeldichtung aus der Bibliotheca Palatina, NHJ 4 (1894) S. 201-294 (‘A. G.’ auf Tafel I-IV), Sonderabdruck 1894 (ohne Tafeln); P. Piper, Die Altsächsische Bibeldichtung (Heliand und Genesis), I, Denkmäler der Aelteren deutschen Litteratur 1,1, Stuttgart 1897, S. XLIV-XLVI, 435-486; A. N. Doane, The Saxon Genesis. An Edition of the West Saxon Genesis B and the Old Saxon Vatican Genesis, Madison, Wisconsin 1991 (mit vollständigem Faksimile); Heliand und Genesis. Hg. v. O. Behaghel. 10. überarbeitete Aufl. von B. Taeger, ATB 4, Tübingen 1996, S. 217-256. – Faksimile: The Cædmon Manuscript of Anglo-Saxon Biblical Poetry. Junius XI in the Bodleian Library. With Introduction by I. Gollancz, Oxford 1927; A Digital Facsimile of Oxford, Bodleian Library, MS. Junius 11. Editor B. J. Muir. Software N. Kennedy, Bodleian digital texts 1, Oxford 2004 (CD-ROM); Die Bruchstücke der altsächsischen Genesis und ihrer altenglischen Übertragung. Einführung, Textwiedergaben und Übersetzungen, Abbildung der gesamten Überlieferung hg. v. U. Schwab mit Beiträgen von L. Schuba und H. Kugler, Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 29, Göppingen 1991; vgl. PadRep.

3. Handschriftlicher Befund: Bei der Zusammenstellung einer komputistischen Kompilation, die zwischen 808 und 813 in St. Alban/Mainz angefertigt worden ist und die den Grundstock des Pal. lat. 1447 bildet, war viel Pergament unbeschrieben geblieben, ursprünglich wohl geplant zur Aufnahme weiterer chronologischer Eintragungen. In diesen Freiraum haben zwei nicht nach Mainz lokalisierbare, teilweise Urkundenschrift verwendende Hände etwa im 3. Viertel des 9. Jh.s (B. Bischoff, Mittelalt. Stud. III, S. 105, denkt an Kanzleiangehörige aus der Umgebung des Erzbischofs) die unikale Überlieferung der kontinentalen Version der ‘A. G.’ und eine dritte, gleichzeitige Hand die Fitte XVI des Ú ‘Heliand’ (f. 27r, 32r; Bergpredigt, am Schluss mit Textverlust) eingetragen (die Händeunterscheidung mit ausführlicher Begründung schon bei E. Sievers 1895, S. 536-538). Im 10. Jh. ist das Kalendarium dieser Handschrift mit liturgischen und nekrologischen Nachträgen versehen worden, die die Diözese Magdeburg betreffen (A. Borst, Sigle a1, Beschreibung I, S. 73f.). Noch im Jahre 1479 gehörte der Codex der Mainzer Dombibliothek. Die Hs. dieser neben dem ‘Heliand’ einzigen as. Stabreimdichtung ist erst im Mai 1894 durch K. Zangemeister aufgefunden und von ihm und W. Braune im gleichen Jahr publiziert worden. Ihre Entdeckung bestätigte die schon 1875 von E. Sievers begründete Ansicht, dass die im Codex Oxford, Junius 11 (‘Cædmon manuscript’; N. R. Ker, Catalogue of Manuscripts Containing Anglo-Saxon, Oxford 1957, Nr. 334; O. Pächt – J. J. G. Alexander, Illuminated Manuscripts in the Bodleian Library, III, Oxford 1973, Nr. 34; jetzt datiert auf 960-990 (L. Lockett); Ed.: The Junius Manuscript, edited by G. Ph. Krapp, The Anglo-Saxon Poetic Records 1, New York/London

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1931) überlieferte altenglische Genesis-Dichtung ein interpoliertes, im Anfang durch Blattverlust unvollständiges Stück enthalte, das aus dem As. übersetzt sei (V. 235851; meist als Genesis B bezeichnet, auch ‘later Genesis’), wie aus sprachlichen, stilistischen und metrischen Unterschieden gegenüber dem umgebenden altenglischen Text (inzwischen als Genesis A bezeichnet; Ed.: A. N. Doane, Genesis A. A New Edition, Madison 1978) eindeutig hervorgehe. Die Oxforder Hs. ist reich mit Illustrationen versehen, deren turonisch beeinflusste Vorlagen B. Raw (1976) auf eine illustrierte as. Genesis zurückführen will, die 856 anlässlich der Eheschließung Judiths, Tochter Karls des Kahlen, mit Æthelwulf, König von Wessex, nach England gelangt sein könnte (bezweifelt von H. R. Broderick 1978, S. 401-475; 1983 und P. J. Lucas). Judith ist die Enkelin der Kaiserin gleichen Namens, der zweiten Frau Ludwigs des Frommen. Deren Mutter erscheint in Thegans Vita als Eigiluui nobilissimi generis Saxonici (cap. 26); ihre Töchter Judith und Hemma, die Gemahlin Ludwigs des Deutschen, gehören nach dem Corveyer Catalogus abbatum zu den besonderen Förderern dieser Abtei. Damit könnte eine Gruppe von Interessenten für die as. Bibelepik im Umkreis der Karolinger in den Blick kommen. 4. Textumfang: Der Fund des Palatinus und der glückliche Umstand, dass das dort zu Codexbeginn erhaltene Stück aus der ‘Reuerede Adams’ (V. 1-26; der Rest abgeschnitten, doch konnte J. Huisman zwei weitere Verse aus Oberlängen rekonstruieren) parallel am Schluss des ins Altenglische umgearbeiteten Einschubs überliefert ist (V. 790-817), hat die Sieverssche Annahme zur Gewissheit werden lassen. Zugleich wird deutlich, dass ein erheblicher Teil des Anfangs der ursprünglichen Dichtung (Schöpfung, Engelsturz, Versuchung) im Palatinus nicht überliefert ist. Die verbreitete Auffassung, dass die vatikanische Hs. (nur) Exzerpte der as. Bibelepik enthält, trifft für den ‘Heliand’ gewiss zu. Bei der ‘A. G.’ könnte dieser Eindruck jedoch aus einer sekundären Verstümmelung des Codex resultieren, wie der nähere Blick auf den handschriftlichen Befund zeigen kann. Nach dem Textbefund der Genesis B in Junius 11 ist (wenn man die dort durch Blattverlust fehlende Passage von der Erschaffung der Menschen und eine Lücke unbestimmter Größe ab V. 441 überschlägig einbezieht; Überlegungen zum Umfang: B. C. Raw 1984, S. 194f.) mit mehr als sechshundert Versen für den Anfang der Dichtung zu rechnen. Platz dafür wäre wohl auf den verschollenen Vorsatzblättern gewesen, die dem jetzigen f. 1 des Palatinus mit großer Wahrscheinlichkeit vorausgegangen sind, denn das fragmentierte Ende von ‘Adams Reuerede’ ist schwerlich der Beginn der as. Eintragung gewesen. Der heute den Codex eröffnende Unio (L. Schuba, S. 257; nach A. N. Doane 1991, S. 15 zwei Einzelblätter) ist, wie der Hinweis am Fuße von f. 1v zeigt (In dei nomine pauca incipiunt [Rest abgeschnitten]), ursprünglich das Außenblatt der nunmehrigen zweiten Lage gewesen, denn der so angekündig-

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te Text (Beda, De temporibus) beginnt auf f. 3r. Das ursprünglich leere, dann mit ‘Sodom’ und ‘Kain’ gefüllte Blatt (f. 2) ist also einst das Schlussblatt dieser Lage gewesen und folgte somit dem jetzigen f. 8. Schwierig zu erklären ist die Unvollständigkeit der Darstellung von Kains Brudermord. Der zugehörige Text setzt (auf f. 2v) mit einer Fitteninitiale erst an der Stelle ein, wo Kain nach dem Mord heimkehrt und die Frage Gottes nach seinem Bruder ihn trifft (die Weiterführung des Textes auf f. 10v). Direkt davor eingetragen (f. 2r und 2v) sind die Fitten, in denen dem Abraham der Beschluss von Sodoms Vernichtung eröffnet sowie der Untergang der Stadt und die Errettung Loths dargestellt werden. Dieser Abschnitt schließt mit Explizit, möglicherweise eine Schlussmarkierung für die gesamten Dichtung. Die fehlerhafte Reihenfolge und die Unvollständigkeit der Kain-Passage zu Beginn beruht vielleicht auf einem Versehen bei der Aufteilung der Vorlage durch die beiden Abschreiber. Der fehlende Text von der Ermordung Abels hat, wenn man der Lagenverteilung bei A. N. Doane (1991) folgt (anders bei L. Schuba), vielleicht als Nachtrag auf dem jetzt fehlenden Gegenblatt von f. 11 gestanden. Auch eine Sintflut-Darstellung, die noch vor ‘Sodom’ zu erwarten wäre, hätte hier ihren Platz haben müssen. Bereits R. Blümel hatte erkannt, dass die ‘Heliand’-Erwähnungen von Schöpfung, Verführung durch den Teufel, Sündenfall, Noah, Sodom und Loths Errettung das Programm der Genesis-Dichtung nachzeichnen (ähnlich der Ambitus in 2. Petr. 2,4-7). Besonders die Motivation durch den Sündenfall zu Beginn der Versuchung Jesu im ‘Heliand’ (V. 1032-1049, bei R. Blümel übergangen) enthält Formulierungen, die deutlich Vorstellungen voraussetzen, wie sie auch die Genesisdichtung bietet (aJonsta [sc. Satanas] heJanrƯkeas / manno cunnea V. 1043/4; die invidia diaboli nach Sap. 2,24). Auch die Versuchung Evas durch den mit dem hæleðhelm (Genesis B V. 444) ausgerüsteten godes ándsaca und das Traumgesicht der Frau des Pilatus, bewirkt thuru thes dernien dƗd … an helithhelme bihelid (Heliand V. 5451f.), mit dem Christus an seinem Erlösungstod gehindert werden soll, könnten mit dem beide Male in teuflischer Weise missbrauchten guten Willen auf direkte Verbindungen zwischen beiden Dichtungen weisen (so Th. D. Hill 2002). 5. Quellenfragen: Die stofflichen Quellen der ‘A. G.’ legen die Berichte der Bibel im Buch Genesis zugrunde, die in einer klaren Auswahl und (vor allem in dem ae. überlieferten Stück) mit starkem Anteil außerbiblischer Erzählungen benutzt sind. Die Dichtung setzt in Junius 11 nach dem durch Blattausfall fehlenden Beginn mit der Mahnung Gottes an Adam u n d Eva ein, die Frucht des verbotenen Baumes nicht zu essen (nach Gen. 1,16f.). Der breit geschilderte Fall der Engel, der Planungen Satans zur Verführung des ersten Menschenpaars, deren Täuschung durch einen aus der Hölle gesandten vorgeblichen Gottesboten und die Selbstanklage der Verführten beruhen hingegen auf pseudoepigraphischem Material mit erheblichen Abweichungen von

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den in diesen Bereichen recht wortkargen biblischen Berichten. Schuld laden die Stammeltern auf sich, indem sie das Gebot ihres Herrn nicht befolgen, gerade auch in ihrem Bestreben, besonders gottwohlgefällig zu handeln. Daher trifft, so urteilt der Autor, denjenigen Menschen das volle Unheil, der sich nicht vorsieht, solange er noch Entscheidungsgewalt hat (Genesis B V. 634f., H. Schottmann). Vieles findet sich ähnlich in der rabbinischen, frühchristlichen und patristischen Tradition (etwa Vita Adae et Evae, Alcimus Avitus, Claudius Marius Victor, Gregor der Große) und muss nicht stets aus schriftlichen Vorlagen stammen. Eine direkte Quelle für die Dichtung ist zudem bisher nicht ermittelt (die Selbständigkeit in der Stoffbehandlung betonen L. Berthold und, mit anderer Akzentuierung, J. M. Evans; zu weiteren Einzelheiten A. N. Doane 1991, S. 93ff.; Quellenübersicht bei H. M. von Erffa). Auch mit dem Seth-Nachkommen Enoch, der lebend in den Himmel aufgenommen wurde (Gen. 5,24/Sir. 44,16. 49,16/Hebr. 11,5) und dessen Ermordung durch den Antikrist Gottes Engel bestrafen wird, wird eine in der Apokalyptik und Visionsliteratur vielbeachtete Figur außerbiblischer Stoffkreise einbezogen. Der Abschnitt mit der Ankündigung des Untergangs Sodoms gegenüber Abraham (Gen. 18) ist auf diese eine Szene konzentriert. Die Figur Saras und die Verheißung der Geburt Isaaks sind ausgespart. Gleichwohl ist hier wie auch bei Loths Errettung (Gen. 19) das biblische Vorbild leitend. Offenbar kommt es der Darstellung wie schon zuvor darauf an, das Verhalten des gottwohlgefälligen Menschen (hold endi gihôrig V. 170) dem der sündigen und von seinem Herrn abfallenden Verächter seiner Gebote und Lehre (mêndƗdige men V. 188) antithetisch gegenüberzustellen, die die himmlische Strafe ebenso trifft wie den engyl … ofermǀd (Genesis B V. 262) zu Beginn der Dichtung. Das Geschehen ist auf dem Hintergrund der Vorstellungswelt des Lehnswesens gestaltet (D. Kartschoke, S. 38f. und U. Schwab passim, dort mit weiteren Hinweisen zu möglichen Bezugnahmen auf Zeitgeschichtliches der Regierungszeit Ludwigs des Frommen, hierzu jetzt auch R. Wisniewski). 6. Bezüge zur Chronographie: Die Eintragung der ‘A. G.’ in einen komputistischen Codex ist vielleicht nicht völlig unmotiviert. In Bedas Genesiskommentar (II, cap. 5,23-24) konnte man nachlesen, dass in die dem Enoch zugeschriebenen 365 Jahre seiner Lebenszeit die Zahl der Tage des Sonnenjahrs eingeschlossen ist. Auch die Zeit, in der der Antikrist auftritt, ist Gegenstand chronographischer Berechnungen (Beda, De tempore ratione liber, cap. 69). Konkrete Tagesdaten für die Erschaffung der Welt oder den Sündenfall erscheinen in karolingischen Kalendaren. Das Auftreten Christi wird auch in der ersten Fitte des ‘Heliand’ ausdrücklich in die Abfolge der Weltalter eingeordnet (V. 45ff.). 7. Verfasserfrage: Bereits E. Sievers (1875) hatte bei seiner Vermutung, die Genesis B sei aus dem As. übersetzt, das Zeugnis der Præfatio in librum antiquum lingua

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Saxonica conscriptum zum Ausgangspunkt genommen. In dieser erst in einem Druck von 1562 überlieferten Vorrede wird von dem Auftrag eines Ludouicus piissimus Augustus berichtet, dessen Bestreben dahin ging, dass auch die Nichtlateinkundigen, nämlich die Sprecher der Theudisca lingua, die heiligen Schriften kennenlernen sollten. Daher habe er einen non ignobilis vates, einen Mann de gente Saxonum beauftragt, ut vetus ac novum Testamentum in Germanicam linguam poetice transferre studeret. Nach Art der von ihm gepflegten Dichtungen habe dieser das gesamte Werk in vitteas eingeteilt. Die lebhafte Forschungsdiskussion, die sich an diese Vorrede und die ihr folgenden Versus de poeta angeschlossen hat, hat bis heute nicht zu übereinstimmenden Ergebnissen geführt, ist aber meist aus der Perspektive des Ú ‘Heliand’ geführt worden (J. Rathofer, S. 34-38; zu Einzelheiten zuletzt E. Hellgardt). Die mittelalterliche Entstehung dieser Texte wird gegenwärtig jedoch nur noch selten bestritten. Zu keiner Einigkeit ist die Forschung darüber gelangt, ob die ‘A. G.’ und der ‘Heliand’ vom gleichen Dichter stammen, falls der Bezug der Vorrede auf die heute vorliegenden Denkmäler nicht überhaupt angezweifelt wird. Damit verbindet sich die besonders in der älteren Forschung mit Schärfe diskutierte Frage nach der Qualität der Genesis-Dichters, wobei das Urteil von „fast ein stümper in allem, was vers- und stilbehandlung angeht“ (E. Sievers 1895, S. 538, ähnlich, wenngleich moderater formulierend O. Behaghel 1902, mit Überblick über andere Stellungnahmen; kritische Einwände zur dabei angewandten Methode bei H. Sahm) bis zur Verteidigung der einheitlichen Autorschaft von Heliand und Genesis (W. Bruckner) reicht. Die heutige Forschung geht meist von zwei verschiedenen Autoren und einer Abhängigkeit des Dichters der ‘A. G.’ vom ‘Heliand’ aus (J. Rathofer, S. 53-55), wobei die grundlegenden Unterschiede in Aufgabenstellung, konzeptionellen Voraussetzungen und Darstellungsstrategie beider Denkmäler zu beachten bleiben. Bereits W. Braune (1907), der in seiner Editio princeps zunächst von dem einen Verfasser beider Epen ausgegangen war, entscheidet sich später für zwei Personen, weist jedoch entschieden den Vorwurf mangelnder Qualität des Genesisdichters zurück. Nicht gesichert ist weiterhin die Person des auftraggebenden Ludouicus, von dem im Text der Präfatio als einem Lebenden gesprochen wird. Dachte man früher einhellig an Ludwig den Frommen († 840), so wird heute von manchen auch sein Sohn Ludwig der Deutsche († 876) in Betracht gezogen (H. Siemes, W. Haubrichs), was Konsequenzen für die Entstehungszeit beider Werke hat, aber nicht unbestritten geblieben und mit der Datierung der erhaltenen Handschriften auch kaum zu vereinbaren ist. Insgesamt scheinen die Verbindungslinien, die von der as. Bibeldichtung zum karolingischen Herrscherhaus führen, deutlicher zu Tage zu liegen, als manche der sonst im Laufe der Forschungsdiskussion vorgeschlagenen Bezüge. Schwer einschätzbar in ihrer Einwirkung auf die ‘A. G.’ sind auch andere Themen der geistigen

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Welt des 9. Jh.s (A. N. Doane 1991, S. 101-107), etwa die Prädestinationslehren Gottschalks des Sachsen. 8. Verhältnis zur altenglischen Dichtung: Die Genesis-Dichtung gibt ferner Anlass, das Verhältnis von ae. und as. Literatur in den Blick zu nehmen. O. Grüters hatte aufgrund von Parallelen in der ae. Epik angenommen, dass auch die ‘A. G.’ letztlich nach dem Vorbild vorgängiger ae. Dichtungen geschaffen sei. Die grundsätzliche Priorität der englischen Buchepik, von der die as. abhängig sei, war von A. Heusler bekräftigt worden, wogegen D. Hofmann 1973 begründete Einwände erhebt (weitere Forschungspositionen bei R. Zanni). Ein Interesse an der Literatur der kontinentalen Sachsen in England wird außer durch die Genesis B noch durch die auf der Insel kopierte, mit Junius 11 fast zeitgleiche Heliand-Hs. C dokumentiert. Wo und zu welchen Gelegenheiten ein Austausch stattgefunden hat und welche Personen dabei vermittelnd tätig geworden sein könnten, ist zuletzt eingehender von U. Schwab (1988, zur Genesis S. 89ff.) und A. N. Doane (1991, S. 47-54) erörtert worden. Die gewöhnlich in die Zeit König Alfreds († 899) datierte Umsetzung der Genesis könnte das Werk eines kontinentalen Altsachsen gewesen sein, was etwa B. J. Timmer mit Entschiedenheit angenommen hatte (zustimmend M. J. Capek, ablehnend I. Rauch). Zu Recht unterstreicht A. N. Doane (1991, ähnlich bereits J. F. Vickrey, S. 35-63), dass bei der sprachlichen Umsetzung prinzipiell keine andere Aufgabenstellung vorgelegen hat als bei der Einschmelzung sonstiger Zeugnisse aus dem Bereich der englischen Poesie unterschiedlicher Dialektgebiete in das Westsächsische der großen Sammelhandschriften. Das im Palatinus und in Junius 11 gemeinsam überlieferte Stück der as. Genesis 1-25 (28) gibt die einzigartige Gelegenheit, das Anpassungsverfahren im Detail zu studieren (A. N. Doane 1991, S. 55-64; C. Stévanovitch; Th. Klein 2008, S. 252-255). Im Ganzen ist eine Umsetzung Morphem für Morphem zu beobachten, das den phonologischen und lexikalischen Forderungen der Zielsprache weitgehend Rechnung trägt. Metrisch ist eine Straffung zu beobachten, bei der entbehrliches Material des as. Originals getilgt wird. Auch wird der parataktische Stil der Vorlage gerne durch geschmeidigere Übergänge geglättet. 9. Sprache: Die Sprache des Palatinus hat bereits W. Braune (1894, S. 212-224, weiteres H. Steinger, S. 34f.) eingehend behandelt; eine kompakte Grammatik, die auch die unterschiedlichen Schreiber berücksichtigt, gibt A. N. Doane 1991, S. 425436. In den Grundzügen herrscht Übereinstimmung mit der für den Archetyp des Heliand erschließbaren Sprache, die auch von dem Heliandexzerpt des Palatinus vertreten wird. Das gilt etwa für die diphthongische Wiedergabe von germ. /ǀ/ und /Ɲ2/ als und oder die Verwendung von , das ein speziell für die Niederschrift der as. Bibelepik geschaffenes Zeichen zu sein scheint. Eine individuelle Besonderheit der Schreibers I ist der Umgang mit h, das häufig etymologisch

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unberechtigt hinzugesetzt oder weggelassen wird. Auf Unterschiede in der Wiedergabe der Endsilbenvokale der beiden Genesis-Kopisten hat Th. Klein (1977, S. 488492) aufmerksam gemacht. 10. Literatur: O. Behaghel, Der Heliand und die altsächsische Genesis, Giessen 1902; J. Belkin – J. Meier, Bibliographie zu Otfrid von Weißenburg und zur altsächsischen Bibeldichtung (‘Heliand’ und ‘Genesis’), Bibliographien zur deutschen Literatur des Mittelalters 7, Berlin 1975, S. 61-137; L. Berthold, Die Quellen für die Grundgedanken von V. 235-851 der altsächsisch-angelsächsischen Genesis in: Germanica. Eduard Sievers zum 75. Geburtstage 25. November 1925, Halle an der Saale 1925, S. 380-401; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101134 (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 73-111); R. Blümel, Der alttestamentliche stoff im Heliand und in der Genesis, PBB 50 (1927) S. 305-307; W. Braune, Zur altsächsischen Genesis, PBB 32 (1907) S. 1-29; Th. A. Bredehoft, Old English and Old Saxon Formulaic Rhyme, Anglia 123 (2005) S. 204-229; H. R. Broderick, The Iconographic and Compositional Sources of the Drawings in Oxford Bodleian Library, MS Junius 11, Phil. Diss. Columbia University 1978; H. R. Broderick, Observations on the Method of Illustration in MS Junius 11 and the Relationship of the Drawings to the Text, Scriptorium 37 (1983) S. 161-177; W. Bruckner, Die altsächsische Genesis und der Heliand, das Werk eines Dichters, Germanisch und Deutsch 4, Berlin/Leipzig 1929; M. J. Capek, The Nationality of a Translator: Some Notes on the Syntax of Genesis B, Neophilologus 55 (1971) S. 89-96; M. Dando, The Moralia in Job of Gregory the Great as a Source for the Old Saxon Genesis B, Classica et Mediaevalia 30 (1969) S. 420-439; A. N. Doane, The Saxon Genesis, 1991 (ausführliche Bibliographie S. 181202); H. M. von Erffa, Ikonologie der Genesis. Die christlichen Bildthemen aus dem Alten Testament und ihre Quellen, I-II, München 1989, 1995; J. M. Evans, Genesis B and its Background, The Review of English Studies. NS 14 (1963) S. 1-16, 113-123; O. Grüters, Über einige Beziehungen zwischen altsächsischer und altenglischer Dichtung, in: Bonner Beiträge zur Anglistik. Hg. v. M. Trautmann, Heft 17, Bonn 1905, S. 1-50; W. Haubrichs, Die Praefatio des Heliand. Ein Zeugnis der Religions- und Bildungspolitik Ludwigs des Deutschen, in: Der Heliand, S. 400-435 (zuerst 1966); Der Heliand, 1973; E. Hellgardt, Die Praefatio in librum Antiquum lingua Saxonica conscriptum, die Versus de poeta & interprete huius codicis und die altsächsische Bibelepik, in: Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach, S. 173230; A. Heusler, Heliand, Liedstil und Epenstil, in: A. Heusler, Kleine Schriften [I]. Hg. v. H. Reuschel, Berlin 1943, S. 517-565 (zuerst 1920); Th. D. Hill, Pilate’s Visionary Wife and the Innocence of Eve: An Old Saxon Source for the Old English Genesis B, JEGPh 101 (2002) S. 170-184; Th. D. Hill, Satan’s injured innocence in Genesis B, 360-2; 390-2: A Gregorian Source, English Studies 65 (1984) S. 289f.; D. Hofmann, Die altsächsische Bibelepik ein Ableger der angelsächsischen geistlichen Epik? (mit Nachtrag 1972), in: Der Heliand, 1973, S. 315-343 (zuerst 1959); D. Hofmann, Die Versstrukturen der altsächsischen Stabreimgedichte Heliand und Genesis, I-II, Heidelberg 1991; J. Huisman, Zwei weitere Verse der altsächsischen Genesis. Versuch einer Rekonstruktion, ABÄG 12 (1977) S. 1-8; P. Ilkow, Die Nominalkomposita der altsächsischen Bibeldichtung. Ein semantisch-kulturgeschichtliches Glossar. Hg. v. W. Wissmann und H.-Fr. Rosenfeld, Ergänzungshefte zur ZVSp 20, Göttingen 1968; D. Kartschoke, Altdt. Bibeldichtung; Th. Klein, Studien; Th. Klein, Umschrift – Übersetzung – Wiedererzählung. Texttransfer im westgermanischen Bereich, ZDPh 127 Sonderheft (2008)

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S. 225-262; W. P. Lehmann, The Alliteration of Old Saxon Poetry, Norsk Tidsskrift for Sprogvidenskap. Suppl.Bind 3, Oslo 1953; L. Lockett, An integrated reexamination of the dating of Oxford, Bodleian Library, Junius 11, ASE 31 (2002) S. 141-173; P. J. Lucas, MS Junius 11 and Malmesbury, Scriptorium 34 (1980) S. 197-220; 35 (1981) S. 3-22; J. Rathofer, NW 16 (1976) S. 4-62; I. Rauch, The Old English Genesis B Poet: Bilingual or Interlingual?, American Journal of Germanic linguistics and literatures 5 (1993) S. 163-184; B. C. Raw, The construction of Oxford, Bodleian Library, Junius 11, ASE 13 (1984) S. 187-205; B. Raw, The probable derivation of most of the illustrations in Junius 11 from an illustrated Old Saxon Genesis, ASE 5 (1976) S. 133-148; Der karolingische Reichskalender und seine Überlieferung bis ins 12. Jahrhundert. Hg. v. A. Borst, I-III, MGH Libri Memoriales 2,1-3, Hannover 2001; H. Sahm, Wiederholungen über Wiederholungen. Zur Variation in der ‘Altsächsischen Genesis’, ZDPh 123 (2004) S. 321-340; H. Schottmann, Die Darstellung des Sündenfalls in der altsächsischen Genesis, LWJB NF 13 (1972) S. 1-11; L. Schuba, Die Quadriviums-Handschriften der Codices Palatini Latini in der Vatikanischen Bibliothek, Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg 2, Wiesbaden 1992; U. Schwab, Ansätze zu einer Interpretation der altsächsischen Genesisdichtung, AION 17 (1974) S. 111-186; 18 (1975) S. 7-88; 19 (1976) S.7-52; 20 (1977) S. 7-79; U. Schwab, Einige Beziehungen zwischen altsächsischer und angelsächsischer Dichtung, mit einem Beitrag von W. Binnig, Altsächsisch tǀm, angelsächsisch tǀm, und althochdeutsch zuomi(g), Centro Italiano di studi sull’alto medioevo 8, Spoleto 1988; U. Schwab, Proskynesis und Philoxenie in der altsächsischen Genesisdichtung. Mit einem Anhang über die Tituli des Halberstädter Abrahamsteppichs von W. Berschin, in: Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und früher Neuzeit. Hg. v. Chr. Meier und U. Ruberg, Wiesbaden 1980, S. 209-277; H. Siemes, Beiträge zum literarischen Bild Kaiser Ludwigs des Frommen in der Karolingerzeit, Phil. Diss. Freiburg im Breisgau 1966; E. Sievers, (Besprechung von) Bruchstücke der altsächsischen Bibeldichtung aus der Bibliotheca Palatina, 1894, ZDPh 27 (1895) S. 534-538; E. Sievers, Der Heliand und die angelsächsische Genesis, Halle 1875; H. Steinger, JVNSp 51 (1925) S. 1-54; C. Stévanovitch, The Translator and the Text of the Old English Genesis B, in: The Medieval Translator. Traduire au Moyen Age. Ed. R. Ellis and R. Tixier, 5, (Turnhout) 1996, S. 130-145; B. Taeger, ‘A. G.’, in: 2VL I, Sp. 313-317; B. J. Timmer, The Later Genesis. Edited from Ms. Junius 11, Oxford 1948, revised edition 1954; J. F. Vickrey, Jr., Genesis B: A New Analysis and Edition. Phil. Diss. Indiana University, Ann Arbor Michigan 1960; R. Wisniewski, Die Altsächsische Genesis in historischem Kontext, in: Begegnungen mit Literaturen. FS für Carola L. Gottzmann zum 65. Geburtstag. Hg. v. P. Hörner und R. Wisniewski, Berlin 2008, S. 73-109; R. Zanni, Heliand, Genesis und das Altenglische. Die altsächsische Stabreimdichtung im Spannungsfeld zwischen germanischer Oraltradition und altenglischer Bibelepik, QF NF 76, Berlin/New York 1980.

HEINRICH TIEFENBACH

‘Georgslied’ 1. Überlieferung: Eintrag des frühen 11. Jh.s (B. Bischoff) in die Ú Otfrid-Hs. P, Heidelberg, UB cpl 52, f. 200v-201v. Ein Spendenverzeichnis auf f. 202v legt eine Verbindung zur alemannischen Herzogsfamilie des 10. Jh.s (Burkhardinger) nahe. (Vgl.

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W. Haubrichs, Die alemannische Herzogsfamilie des 10. Jahrhunderts als Rezipient von Otfrids Evangelienbuch? Das Spendenverzeichnis im Codex Heidelberg, Palatinus lat. 52, in: FS für Eduard Hlawitschka zum 65. Geburtstag, Münchener Historische Studien, Abt. Mittelalterliche Geschichte 5, Kallmünz 1993, S. 165-211). Der Überlieferungszustand ist durch Löcher im Pergament und Anwendung von Reagenzien (frühes 19. Jh.) teilweise stark beeinträchtigt. Der Text bricht nach ca. 118 Kurzversen (in 51 Zeilen) ab. Die hartnäckige Legende von dem verzweifelten Schreiber, der mit nequeoVuisolf das Schreiben eingestellt hätte, ist völlig haltlos: nequeo ist kaum zu lesen, der (weit rechts davon niedergeschriebene) Name ist von völlig anderer Hand, die sich auf f. 202r wiederfindet (Federproben). (Vgl. W. Haubrichs, NequeoVuisolf. Ein Beitrag zur Mythenkritik der Altgermanistik, in: Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte. Rolf Bräuer zum 60. Geburtstag, hg. v. A. Bader – I. Erfen – U. Müller, Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 300, Stuttgart 1994, S. 28-42); vgl. PadRep. 2. Ausgaben – Abbildungen – Übersetzungen: Faksimile der Zeilen 1-16 bei M. Ennecerus, Die ältesten dt. Sprach-Denkm., Tafel 37; H. Fischer, Schrifttafeln, Tafel 19 (f. 200 v); Fotos von f. 200v-202r bei W. Haubrichs, Georgslied, Abb. 1-4. – Ausgaben: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XIX, S. 94-101; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. XXXV, S. 132-135 u. 176; W. Haubrichs, Georgslied, S. 63-71, 110-111, 370-374; R. Schützeichel, S. 61-71; W. Haug – B. K. Vollmann, Frühe dt. Lit., S. 132-137, 1120-1128. – Übersetzungen: R. Schützeichel, S. 61-71; W. Haug – B. K. Vollmann, Frühe dt. Lit., S. 132-137; St. Müller, Ahd. Lit., S. 80-89, 311-313. – Ausgaben der Quellentexte: W. Haubrichs, Georgslied, S. 406473 (X-lat.), S. 474-499 (Y). Zu weiteren frühen Legendenversionen vgl. F. Zarncke, Eine zweite Redaction der Georgslegende aus dem 9. Jahrhundert, in: Berichte über die Verhandlungen der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, phil.-hist. Cl. 27 (1875), S. 256-277 [Sang.]; J. E. Matzke, Contributions to the History of the Legend of Saint George with Special Reference to the Sources of the French, German and Anglosaxon Metrical Versions I-III, PMLA 17 (1902), S. 464-535; 18 (1903), S. 99-174; 19 (1904), S. 449-478; W. Haubrichs, Georgslied, S. 203-341, 500-523.

3. Gattung: Das ‘Georgslied’ ist neben dem Ú ‘Petruslied’ das einzige erhaltene Heiligenlied in ahd. Sprache, jedoch gleicht ihm im Erzählduktus, in der abbrevierenden memorierenden Aufzählung der Ereignisse, die sich auf breitere Kenntnis der Legende beim Publikum bezieht, das ‘Galluslied‘ Ratperts von St. Gallen (vor 882), das nur in lat. Übersetzung vorliegt. Das ahd. ‘Petruslied‘ dagegen ist ein Bitthymnus an den Apostelfürsten. Im europäischen Kontext gibt es jedoch weitere, durchaus ähnlich verfahrende memorierende und erzählende volkssprachige Lieder: afrz. Eulalialied, Leodegarlied, Augsburger Passionslied, ferner verlorene Lieder auf die Heiligen Firmin von Verdun (Pilgerlied), Remaclus von Stablo, die letzteren jeweils von Spielleuten aufgeführt. (Vgl. P. Osterwalder, Das ahd. Galluslied Ratperts und

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seine lateinischen Übersetzungen durch Ekkehard IV. Einordnung und kritische Edition, Berlin/New York 1982; W. Haubrichs, Heiligenfest und Heiligenlied im frühen Mittelalter. Zur Grenze mündlicher und literarischer Formen in einer Kontaktzone laikaler und klerikaler Kultur, in: Feste und Feiern im Mittelalter. Paderborner Symposium des Mediävistenverbandes, hg. v. D. Altenburg – J. Jarnut – H. H. Steinhoff, Sigmaringen 1991, S. 133-143). 4. Inhalt: Im Eingang des Liedes wird Georg (Gorio) im Einklang mit der Legende als Graf (comes, tribunus) vorgestellt, der zum Gerichtstag, zur Reichsversammlung des Herrschers Dacianus reist, mit großer Gefolgschaft von Kriegern. Viele Könige wollen ihn vom christlichen Glauben abbringen, doch er beweist festen Sinn (herte uhas dhazs Gorien muot): der Refrain nennt ihn nun nicht mehr einen berühmten Grafen (Str. 1), sondern einen Heiligen (Str. 2). Aus dem Glauben resultiert seine thaumaturgische Kraft, die er in der Rettung zweier Frauen (Speisewunder), in der Heilung von Stummen, Tauben, Blinden, Lahmen und in der Revitalisierung (Wiederbelaubung) einer hölzernen Säule beweist (Str. 3-4). Der zweite Inhaltsblock (Str. 5-7) berichtet die unglaublichen Martern, die der Tyrann Datianus über ihn verhängt, seinen dreifachen Tod (Schwert; Zerstückelung mit dem Rade; Zermalmung, Verbrennung zu Staub und Versenkung im Brunnen) und seine dreifache Auferstehung, die jeweils von einem langen Jubelrefrain abgeschlossen werden. Im dritten Inhaltsblock (Str. 8-10, eine 11. Str. ist wohl verloren) überwindet Gorio den Teufel und das Heidentum in der Auferweckung eines vom Teufel in die Hölle geführten Heiden (Jobel), in der Bekehrung der wohltätigen Heidenkönigin Alexandria (Elessandria), im Sturz des heidnischen Götterbildes des Apollo (Abolin). Auf Grund seiner fragmentarischen Überlieferung lässt sich der Schluss des Liedes nur ungefähr beurteilen, doch zeigt sich bei Ansehen des Verses VII, 6 – mikil dheta G(orio dhar), sho her io dhuot uhar (‘Großes wirkte Georg da, so wie er’s immer machet offenbar’), dass auch der Autor dieses Liedes, wie Ratpert in seinem ‘Galluslied‘, bestrebt war, an die Aktualität eines Kultes und der in ihm weiter wirkenden, stets präsenten Heiligenkraft anzuknüpfen. 5. Quellenverarbeitung und Intention: Die Legende des Hl. Georg, die erst seit dem 11. Jh. den Drachenkampf aufnahm, gehört zu einem Typus spätantiker Märtyrerromane, deren Helden und Heldinnen (z.B. Katharina, Cyricus und Julitta) man wegen der darin hyperbolisch gefeierten und in Handlung (Auferstehungen) umgesetzten christlichen Unsterblichkeitshoffnung als „Märtyrer vom unzerstörbaren Leben“ (F. Zarncke) bezeichnet hat. Der frühe Kult des Auferstehungsheiligen und „Großmärtyrers“ zeigt ab dem 4./5. Jh. im Osten Schwerpunkte in den Provinzen Arabia, Palästina (Lydda/Diospolis), Syrien und Ägypten; in Byzanz entwickelt der Kult des – nach der Legende – aus Kappadokien gebürtigen Truppenführers eine militärische Komponente

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(seit spätestens 524/25); im Westen muss der Kult ebenfalls noch in Spätantike und Subantike begonnen haben, wobei sich die Kirchen auf civitates (z.B. Soissons, Metz) und Kastelle (z.B. Regensburg, Alzey, Mainz-Kastel) konzentrierten, später auch Klöster (z.B. Chelles, St. Georges bei Le Mans, St. Germain-des-Prés, Amay a.d. Maas, Weltenburg a.d. Donau) einschlossen. Ob die Georgslegende einen historischen Kern besitzt, ist schwer zu sagen. Eine mythologische Deutung oder die Entschlüsselung als Umsetzung der Lebens- und Leidensgeschichte des 361 erschlagenen semiarianischen Bischofs Georgios von Alexandria sind freilich unhaltbar. Die alte monströse Legende wurde früh in zahlreiche Sprachen übersetzt (später auch bearbeitet und geglättet), wohl im 5. Jh. auch zweimal unabhängig voneinander ins Lateinische (in dieser Form – X-lat. und Sang. – auch Anfang des 6. Jh.s vom Decretum Gelasianum als apokryph verworfen). Eine dritte, stark abweichende Version (Y) erscheint im 8. Jh. in Rom. Noch im merowingischen Gallien entstand eine die anstößigen Motive beseitigende Redaktion (Z) als erfolgreichste aller westlichen Versionen. Das ahd. ‘Georgslied‘ benutzte Motive der Versionen X-lat. (Gefolgschaft der milites, Kerkerhaft, Belaubung der Holzsäule, Heidenpredigt, Auspeitschung, Verbrennung zu Asche, Quellwunder, Bekehrung der Königin Alexandria) und Y (Engelbesuch im Kerker, Heidenvernichtung, Bindung auf’s Rad, Zermalmung, Steinverschluss des Brunnens, Auferstehung des toten Jobel). Aus den Differenzen der Versionen bezog das Lied die Lizenz zu eigener Gestaltung und neuem Arrangement, was vor allem die partielle Selektion der Wunder und die Umorganisation der Todesarten betrifft, die im Sinne einer auch quantitativen Steigerung umorganisiert werden: erst die Enthauptung mit dem Schwert (an Stelle der Zersägung in X-lat.), dann die Zerstückelung auf dem Rade, schließlich Auspeitschung, Zermalmung, Verbrennung zu Staub und Versenkung im steinverschlossenen Brunnen. Um so deutlicher wirkt die jeweils triumphale, die Heiden beschämende Auferstehung des „Großmärtyrers“: dhazs uhezs hik, dhazs ist aleuhar, huffherstuont shik Gorio dhar . huffherstuont shik Gorio dhar . uhola predioot her dhar . dhie heidenen man keshante Gorio fhile fhram (‘Das weiß ich, das ist wirklich wahr, auferstand der Georg da. Auferstand der Georg da, prächtig predigte er sogleich. Die Heiden machte Georg vollkommen zuschanden’.) Zugleich hat das Lied als Identifikationsangebote zwei Modelle adligen Verhaltens innerhalb der ecclesia militans entworfen, ein weibliches und ein männliches: Der Krieger und Graf, der mit seiner unbeugsamen constantia an seinem Glauben festhält – und das bis ins Martyrium – und damit das Himmelreich statt des uhereltrhike gewinnt; die Königin, die sich bekehren lässt und ihre Schätze wohltätig vergibt, womit sie ebenfalls das Himmelreich erwirbt. 6. Form: Die nach einem bestimmten Schema (R1R1 / R2R2 // R3R3R3 // R1R1 ??) wiederkehrenden Refrains – einzeilig Str. 1-4, dreizeilig Str. 5-7, einzeilig Str. 8ff. –

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gliedern den Text in ungleichzeilige Strophen und verschaffen dem Lied das Zentrum der dreimaligen Tode und Auferstehungen. Sie erinnern zugleich an liturgische Formen, wohl auch an paraliturgische volkssprachige Rufe, wie sie sich etwa in der Formel von êuuon uncin êuuon (= Otfrid III 24, 78) bekundet, oder in dem Anklang von ferliezc er uuereltrhîke, keuuan er himilrhîke an die Mailänder Georgshymne des 8. Jh.s: qui vana mundi respuit, mercatus est coelestia. Der Eingang des Liedes, der den Zug des Grafen Georg mit „Heer“ und „Gefolge“ zur Versammlung des Königs schildert, greift dagegen nicht zufällig variierende Heldenliedformeln auf. So ist das Lied auch stilistisch als eine kreativ mit den überlieferten Formen verfahrende Dichtung zu werten. 7. Sprache: Der Text, der sicherlich in Kopie vorliegt, zeigt die Überreste einer offenbar durchdachten, aber sehr eigenartigen, oft mit zusätzlichem versetzten Orthographie, für die man Parallelen in der Umgebung des Bodensees (R. Schützeichel), aber auch zu Zeugnissen des westlichen deutsch-romanischen Interferenzraumes – etwa mit dem ‘Althochdeutschen Ú Isidor’ (W. Haubrichs, Georgslied) – ausgemacht hat. Hierher gehören auch die romanische Vorformen voraussetzenden Namenformen Gorio, Elessandria, Abolin. Dementsprechend sind auch die Meinungen über die dialektale Zuordnung (frk., alem.) geteilt. Doch besteht über die sprachliche Datierung ins späte 9. bzw. frühe 10. Jh. weitgehend Einigkeit. 7. Entstehungsort und Rezeption: Nach Form und Erzählstil ist das ‘Georgslied‘ ein memorierendes, die Kenntnis der Legende beim Publikum voraussetzendes, zur paraliturgischen Feier bestimmtes Lied, das eine bedeutende Kirche des Heiligen oder einen bedeutenden Reliquienort der Zeit um 900 voraussetzt. Dafür kommen im frk.alem. Raum nur wenige Orte in Frage: Mit einer karolingischen Armreliquie war die Reichsabtei Prüm in der Eifel im deutsch-romanischen Kontaktgebiet ausgestattet (W. Haubrichs, Die Kultur der Abtei Prüm); auf die Reichenau übertrug aus Rom (San Giorgio in Velabro) nach der Kaiserkrönung Arnulfs (896) das Haupt des Heiligen Hatto, der Erzbischof von Mainz und Erzkanzler des Reiches, zugleich Abt des Bodenseeklosters, und erbaute ihm in Oberzell eine eigene Kirche mit Konvent; er belebte auch den mit St. Georg in Kastel bereits alten Mainzer Georgskult wieder (von ihm aus erreichte der Georgskult auch die Adelssippe der Konradiner mit Georgskirchen des frühen 10. Jh.s in Limburg und Montabaur). Aus sprachgeographischen und kultgeschichtlichen Gründen ist W. Haubrichs (Georgslied) zu einer Lokalisierung des Liedes nach Prüm gekommen. Die bereits ältere These einer Entstehung in der Reichenau vertritt R. Schützeichel (vgl. W. Haubrichs, ZDA 114 (1985) S. 9-19). Doch scheinen dem kult- und legendengeschichtliche Aspekte zu widersprechen: Auf der Reichenau benutzte man für Hymnen, Sequenzen, Offizien ausschließlich die Version Z, während die Quellen des ‘Georgsliedes‘, die Versionen X-lat. und Y in der

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Abtei offenbar nicht vorhanden waren (W. Haubrichs, in: Herrschaft, Kirche, Kultur. Beiträge zur Geschichte des Mittelalters. FS für Friedrich Prinz, hg. v. Georg Jenal, Stuttgart 1993, S. 505-537). Vielleicht besitzen wir im großen Eintrag zum Hl. Georg im 895/902 entstandenen Martyrolog des Wolfhard von Herrieden, der zeitgenössische Preislieder auf den Heiligen bezeugt, auch einen Reflex des verlorenen Schlusses des Liedes (W. Haubrichs, Georgslied, S. 359-361). Kenntnis des Liedes (Steinzermalmung) scheint auch die Vita des Märtyrers Adalbert von Prag (gestorben am Georgstag = 23. April) des Brun von Querfurt (um 1004/05) zu verraten (W. Haubrichs, Zur Rezeption der Georgslegende und des althochdeutschen Georgsliedes, in: Dt. Lit. u. Spr. von 1050-1200. FS Ursula Hennig, S. 71-92). 9. Literatur: B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134 (hier S. 104); S. Braunfels-Esche, St.Georg-Legende, Verehrung, Symbol, München 1976;W. Haubrichs, Georg hl. – Legende und Verehrung, in: LThK IV, 1995, Sp. 476-478; W. Haubrichs, Georgslied; W. Haubrichs, Die Kultur der Abtei Prüm zur Karolingerzeit. Studien zur Heimat des althochdeutschen Georgsliedes, Rheinisches Archiv 105, Bonn 1979; W. Haubrichs, Georg, heiliger, in: Theologische Realenzyklopädie XII, 1983, S. 380-385 (mit 11 Abb.); W. Haubrichs, Rezension zu R. Schützeichel: Codex Pal. lat. 52, ZDA 114 (1985) S. 9-19; W. Haubrichs, St. Georg auf der frühmittelalterlichen Reichenau. Hagiographie, Hymnographie, Liturgie und Reliquienkult, in: Herrschaft, Kirche, Kultur. Beiträge zur Geschichte des Mittelalters, in: FS für Friedrich Prinz, hg. v. Georg Jenal, Stuttgart 1993, S. 505-537; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 323-342; W. Haubrichs, Zur Rezeption der Georgslegende und des althochdeutschen Georgsliedes, in: Dt. Lit. u. Spr. von 1050-1200. FS Ursula Hennig, S. 71-92; W. Haubrichs, Variantenlob – Variantenfluch? Aspekte der Textüberlieferung der Georgslegende im Mittelalter, in: Zur Überlieferung, Kritik und Edition alter und neuerer Texte, hg. v. K. Gärtner – H.-H. Krummacher, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Jg. 2000, Nr. 2, Mainz/Stuttgart 2000, S. 143-159; W. Haubrichs, Georgslegende und Georgslied, in: Sanct Georg. Der Ritter mit dem Drachen, Freising 2001, S. 57-63; W. Haug, Nussknackersuite. Alte und neue Lesungen zu ahd. und frühmhd. Gedichten, in: FS für Ingo Reiffenstein, hg. v. P. K. Stein – A. Weiss – G. Hayer, Göppingen 1988, S. 287-308; H. Keller, Zorn gegen Gorio. Zeichenfunktion von zorn im althochdeutschen ‘Georgslied’, in: Codierungen von Emotionen im Mittelalter, hg. v. C. St. Jaeger – I. Kasten, Berlin/New York 2003, S. 115-142; R. Schützeichel, Codex Pal. lat. 52; M. Schwarz, Der heilige Georg – Miles Christi und Drachentöter. Wandlungen seines literarischen Bildes in Deutschland von den Anfängen bis in die Neuzeit, Köln 1972; P. B. Steiner, Sankt Georg, der Ritter mit dem Drachen, in: Geistliche Zentralorte zwischen Liturgie, Architektur, Gottes- und Herrscherlob: Limburg und Speyer, hg. v. C. Ehlers – H. Flachenecker, Göttingen 2005, S. 265-296 (mit 28 Abb.); Chr. Wells, in: German Literature, S. 171-174; K. Zwierzina: Die Legenden der Märtyrer vom unzerstörbaren Leben, in: Innsbrucker Festgruß zur 50. Versammlung der Philologen in Graz, 1909, S. 130-158. WOLFGANG HAUBRICHS

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Gregor der Große-Glossierung

‘Gernroder Psalter’ Ú Psalter: ‘Gernroder Fragmente eines altsächsischen Psalter-Kommentars’ ‘Gespräche, Pariser’ Ú ‘Pariser Gespräche’ ‘Glaubensbekenntnis, Altsächsisches’ Ú ‘Altsächsisches/frühmittelniederdeutsches Glaubensbekenntnis’ ‘Glossen, Kasseler’ Ú ‘Kasseler Glossen’ ‘Glossen, Merseburger’ Ú ‘Merseburger Glossen’ Gregor der Große, Althochdeutsche Glossierung 1. Vorbemerkung: Unter der Glossierung nichtbiblischer Texte nehmen die Werke Gregors des Großen (um 540-604) den Spitzenplatz ein, der in dem Artikel ‘Überblick über die Gregor-Glossierung’ (R. Bergmann, in: BStH I, S. 525-548) gewürdigt wird. Auf diesen Artikel mit der detaillierten Auflistung aller Hss. wird hier ausdrücklich verwiesen; der vorliegende Artikel beschränkt sich auf eine zusammenfassende Charakterisierung; zur mittelalterlichen Rezeption Gregors insgesamt K. Ruh, in: 2VL III, Sp. 233-244. Literatur zu Leben und Werk: L. M. Weber, in: LThK IV, Sp. 1177-1180; M. Heinzelmann, in: LexMA IV, Sp. 1663-1666.

2. Überlieferung und Edition der Glossen: Eine Übersicht über die Hss. mit ihrer Datierung und Lokalisierung sowie der Zahl und Art der Glossen, ihrer Eintragungszeit und dem Eintragungsort liefert der Artikel in BStH I, S. 526-539. Diese Daten werden hier nicht wiederholt; es wird lediglich zu jeder Hs. die Edition der Gll. angegeben. 1. Augsburg, AB Hs 4 (BStK-Nr. 13) – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 3-7. – 2. Augsburg, AB Hs 10 (BStK-Nr. 15) – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 7f.; W. Schulte, S. 58-82. – 3. Basel, UB B. V. 21 (BStK-Nr. 26) – Ed. StSG II, S. 197-199 (Nr. DCXL); Berichtigungen und Nachträge bei G. Meyer – M. Burckhardt, Die mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Basel. Theologische Pergamenthandschriften, I, Basel 1960, S. 492. – 4. Basel, UB B. VII. 18 (BStK-Nr. 28) – Ed. StSG II, S. 244 (Nr. DCLVII); Berichtigungen bei G. Meyer – M. Burckhardt, Die mittelalterlichen Handschriften, I, S. 743. – 5. Berlin, SBPK Ms. lat. 4º 676 (BStK-Nr. 44 (I)) – Ed. StSG II, S. 155 (Nr. DCXIV), S. 247-249 (Nr. DCLXIII); Berichtigungen und Nachträge bei H. Degering, Neue Erwerbungen der Handschriftenabteilung, II, Mitteilungen aus der Königlichen Bibliothek 3, Berlin 1917, S. 24-26; W. Schulte, S. 376-456. – 6. Berlin, SBPK Ms. theol. lat. 2º 480 (BStK-Nr. 56) – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 11; K. Siewert, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 77. – 7. Berlin, Privatbesitz Theodor Pfundt, Verbleib unbekannt (BStK-Nr. 60) – Ed. StSG II, S. 320 (Nr.

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DCLXXX). – 8. Boulogne-sur-Mer, BM 56 (BStK-Nr. 73) – Ed. StSG II, S. 321f. (Nr. DCLXXXII), Korrekur bei M. Gysseling, Altdeutsches in nordfranzösischen Bibliotheken, Scriptorium 2 (1948) S. 59; U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 118-123. – 9. Cambrai, BM 204 (199) (BStK-Nr. 86) – Ed. StSG II, S. 321f. (Nr. DCLXXXII); M. Gysseling, Scriptorium 2 (1948) S. 60; U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 118-123. – 10. Düsseldorf, ULB Ms. B 80 (BStK-Nr. 104) – Ed. J. H. Gallée, As. Sprachdenkm., S. 110-114; E. Wadstein, Kleinere as. sprachdenkm., Nr. XII, S. 62-65; Berichtigungen bei H. Tiefenbach, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 118. – 11. St. Florian, StB. III 222B (BStK-Nr. 152) – Ed. StSG II, S. 216f. (Nr. DCXLIII), S. 224-232 (Nr. DCXLVII). – 12. Frankfurt am Main, Stadt- und UB Ms. lat. qu. 74 (BStK-Nr. 159) – Ed. StSG II, S. 321 (Nr. DCLXXXI). – 13. Freiburg im Breisgau, UB Hs. 380 (BStK-Nr. 161) – Ed. StSG II, S. 247 (Nr. DCLXII); W. Schulte, S. 363-367. – 14. Freiburg im Breisgau, UB Hs. 1122,3 (BStK-Nr. 162c) – Unediert. – 15. Fulda, HLB Aa 2 [f. 36-204] (BStK-Nr. 163 (II)) – Ed. StSG II, S. 217f. (Nr. DCXLIV); V, S. 103; II, S. 244 (Nr. DCLX); V, S. 92; II, S. 318f. (Nr. DCLXXVIII); W. Schulte, S. 303307. – 16. Fulda, HLB Aa 31a (BStK-Nr. 166) – Ed. J. Autenrieth, Die Domschule von Konstanz, Stuttgart 1956, S. 92. – 17. St. Gallen, StA Cod. fabariensis X (BStK-Nr. 172) – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 31; A. Nievergelt, Sprachwissenschaft 37 (2012) S. 383f. – 18. St. Gallen, StB 141 (BStK-Nr. 189) – Ed. StSG II, S. 320f. (Nr. DCLXXXI). – 19. St. Gallen, StB 215 (BStK-Nr. 203) – Ed. StSG II, S. 259 (Nr. DCLXVII); W. Schulte, S. 85-87. – 20. St. Gallen, StB 216 (BStK-Nr. 204) – Ed. StSG II, S. 243 (Nr. DCLVI). – 21. St. Gallen, StB 217 (BStK-Nr. 205) – Ed. H. Meritt, AJPh 55 (1934) S. 233. – 22. St. Gallen, StB 218 (BStK-Nr. 206) – Ed. StSG II, S. 243 (Nr. DCLV). – 23. St. Gallen, StB 219 (BStK-Nr. 207) – Ed. StSG II, S. 243 (Nr. DCLIV); V, S. 103; A. Nievergelt, ZDA Beihefte 11, 2009, S. 89122. – 24. St. Gallen, StB 299 (BStK-Nr. 225) – Ed. StSG II, S. 245 (Nr. DCLXIa); II, S. 262264 (Nr. DCLXXIII); W. Schulte, S. 317-338. – 25. Gent, Rijksuniversiteit. Centrale Bibliothek 312 (BStK-Nr. 257a) – Unediert. – 26. Karlsruhe, BLB Aug. IC [f. 53-104] (BStK-Nr. 296 (II)) – Ed. StSG II, S. 305-314 (Nr. DCLXXVI), S. 314-318 (Nr. DCLXXVII). – 27. Karlsruhe, BLB CXI [f. 92-98] (BStK-Nr. 298 (II)) – Ed. StSG II, S. 320f. (Nr. DCLXXXI). – 28. Karlsruhe, BLB Aug. CXLV (BStK-Nr. 306) – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 39. – 29. Karlsruhe, BLB Aug. CCXX (BStK-Nr. 313) – Ed. StSG II, S. 232-237 (Nr. DCXLIX); Berichtigungen bei E. Karg-Gasterstädt, Zu den glossen der Reichenauer handschrift Rc (Carlsr. Aug. CCXX) PBB 62 (1938) S. 455f.; I. Frank, Aus Glossenhss., S. 6597. – 30. Karlsruhe, BLB Aug. CCXL (BStK-Nr. 316) – Ed. StSG IV, S. 330 (Nr. DCLVIId Nachtr.); Nachträge bei H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 40. – 31. Karlsruhe, BLB St. Peter. perg. 87 (BStK-Nr. 324) – Ed. StSG II, S. 241f. (Nr. DCLI), S. 260f. (Nr. DCLXX). – 32. Kassel, UB, LB und MB 2º Ms. theol. 32 (BStK-Nr. 330) – Ed. StSG IV, S. 330 (Nr. DCLVIIc Nachtr.); J. Hofmann, PBB 85 (Halle 1963) S. 128; K. Siewert, Glossenfunde, S. 37f.; Nachtrag bei K. Wiedemann, Manuscripta theologica. Die Handschriften in Folio, Wiesbaden 1994, S. 39. – 33. Leiden, UB Voss. lat. q. 69 (BStK-Nr. 372) – Ed. StSG II, S. 244 (Nr. DCLX). – 34. Luxemburg, BNL 44 (BStK-Nr. 424) – Ed. StSG II, S. 261 (Nr. DCLXXI), Nachtrag bei A. Steffen, PSHL 62 (1928) S. 445; W. Schulte, S. 92-109. – 35. Melk, StB Unsigniert unauffindbar (BStK-Nr. 435) – Ed. StSG II, S. 259f. (Nr. DCLXVIII); W. Schulte, S. 895-908. – 36. München, BSB Cgm 5248 [1. und 3. Doppelblatt] (BStK-Nr. 443 (I)) – Ed. StSG II, S. 251-256 (Nr. DCLXIV); W. Schulte, S. 710-742. – 37. München, BSB

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Clm 2944 (BStK-Nr. 463) – Ed. StSG II, S. 262 (Nr. DCLXXII); V, S. 103; Nachträge bei H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 237; W. Schulte, S. 115-131. – 38. München, BSB Clm 3731 (BStK-Nr. 467) – Ed. StSG V, S. 64 (Nr. 705); Nachträge bei B. Bischoff, PBB 52 (1928) S. 155; Hinweis auf weitere Glossen bei E. Glaser – A. Nievergelt, Griffelglossen, in: BStH I, S. 216, Anm. 49. – 39. München, BSB Clm 3748 (BStK-Nr. 710r) – Ed. W. Schulte, S. 136-138. – 40. München, BSB Clm 3767 (BStK-Nr. 469) – Ed. StSG II, S. 199f. (Nr. DCXLI); V, S. 102; Berichtigungen und Nachträge bei H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 237. – 41. München, BSB Clm 4503 (BStK-Nr. 474) – Ed. H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 223. – 42. München, BSB Clm 4542 (BStK-Nr. 477) – Ed. StSG V, S. 27 (Nr. DCLXXVIc); H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 51-64; K. Siewert, Glossenfunde, S. 79. – 43. München, BSB Clm 4614 (BStK-Nr. 488) – Ed. StSG V, S. 27 (Nr. DCLVIIh); Berichtigungen und Nachträge bei B. Bischoff, PBB 52 (1928) S. 156f., H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 243. – 44. München, BSB Clm 6028 (BStK-Nr. 499) – Ed. StSG II, S. 180 (Nr. DCXXXVIII), S. 253, 255-258 (Nr. DCLXIV), S. 265-304 (Nr. DCLXXIV); W. Schulte, S. 890-893. – 45. München, BSB Clm 6263 (BStK-Nr. 514) – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 72; O. Ernst, Die Griffelglossierung in Freisinger Hss., S. 147-194. – 46. München, BSB Clm 6277 (BStK-Nr. 518) – Ed. StSG II, S. 162-176 (Nr. DCXXXVII); Berichtigungen bei B. Bischoff, PBB 52 (1928) S. 158, E. Glaser, Edition und Dokumentation althochdeutscher Griffelglossen, in: Probleme der Edition ahd. Texte, S. 10; O. Ernst, Die Griffelglossierung in Freisinger Hss., S. 431-499. – 47. München, BSB Clm 6293 (BStK-Nr. 521) – Ed. StSG V, S. 27 (Nr. DCLXXIa); H. Meritt, AJPh 55 (1934) S. 228-232; W. Schulte, S. 144-241; Hinweis auf weitere Glossen bei O. Ernst, Die Griffelglossierung in Freisinger Hss., S. 47-49. – 48. München, BSB Clm 6295 (BStK-Nr. 522) – Ed. StSG II, S. 305 (Nr. DCLXXV). – 49. München, BSB Clm 6300 (BStKNr. 523) – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 74-79; E. Glaser, Frühe Griffelglossierung, S. 104-376. – 50. München, BSB Clm 8104 (BStK-Nr. 547) – Ed. StSG II, S. 319f. (Nr. DCLXXIX). – 51. München, BSB Clm 9573 (BStK-Nr. 550) – Ed. StSG II, S. 265-267, 271297, 300, 303 (Nr. DCLXXIV); V, S.103. – 52. München, BSB Clm 9638 (BStK-Nr. 552) – Ed. StSG II, S. 244 (Nr. DCLIX); H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. xix. – 53. München, BSB Clm 14379 (BStK-Nr. 576) – Ed. B. Bischoff, PBB 52 (1928) S. 160-163. – 54. München, BSB Clm 14409 (BStK-Nr. 582) – Ed. StSG II, S. 242 (Nr. DCLII). – 55. München, BSB Clm 14614 (BStK-Nr. 601) – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 92. – 56. München, BSB Clm 14689 (BStK-Nr. 604) – Ed. StSG II, S. 177-193, 195-197 (Nr. DCXXXVIII), S. 250-258 (Nr. DCLXIV), S. 282, 288 (Nr. DCLXXIV); W. Schulte, S. 859-885. – 57. München, BSB Clm 18140 (BStK-Nr. 637) – Ed. StSG II, S. 177-197 (Nr. DCXXXVIII), S. 249-258 (Nr. DCLXIV), S. 265-304 (Nr. DCLXXIV); W. Schulte, S. 514-704. – 58. München, BSB Clm 18550a (BStK-Nr. 652) – Ed. StSG II, S. 218f. (Nr. DCXLV), S. 220-224 (Nr. DCXLVI); Berichtigungen und Nachträge bei H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 97f. – 59. München, BSB Clm 19440 (BStK-Nr. 665) – Ed. StSG II, S. 177-197 (Nr. DCXXXVIII); V, S. 102; II, S. 249258 (Nr. DCLXIV); II, S. 265-280 (Nr. DCLXXIV); V, S. 103; II, S. 265-302 (Nr. DCLXXIVc); W. Schulte, S. 750-784. – 60. München, BSB Clm 21525 (BStK-Nr. 677) – Ed. StSG II, S. 177-192 (Nr. DCXXXVIII); Hinweis auf weitere Glossen bei A.Nievergelt, Sprachwissenschaft 37 (2012) S. 382. – 61. München, BSB Clm, 22038 (BStK-Nr. 679) – Ed. StSG II, S. 259 (Nr. DCLXIV); W. Schulte, S. 245-248. – 62. München, BSB Clm 23450 (BStK-Nr. 686) – Ed. StSG V, S. 26 (Nr. DCLVIIe). – 63. München, BSB Clm 27152 (BStK-

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Nr. 693) – Ed. StSG II, S. 242 (Nr. DCLIII); Nachtrag bei H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 105. – 64. München, BSB, verschollen (BStK-Nr. 710) – Ed. StSG IV, S. 331f. (Nr. DCLXXVb Nachtr.), S. 330 (Nr. DCLXVIIIb Nachtr.); W. Schulte, S. 910-913. – 65. St. Omer, Bibliothèque de l’agglomération 116 (BStK-Nr. 717) – Ed. StSG II, S. 321f., (Nr. DCLXXXII). – 66. St. Omer, Bibliothèque de l’agglomération 150 (BStK-Nr. 718) – Ed. StSG II, S. 217f. (Nr. DCXLIV), S. 244 (Nr. DCLX); M. Gysseling, Scriptorium 2 (1948) S. 60f.; U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 75-86; W. Schulte, S. 311-313. – 67. St. Omer, Bibliothèque de l’agglomération 746 [f. 61-63] (BStK-Nr. 720) – Ed. StSG II, S. 321f. (Nr. DCLXXXII); Korrektur bei M. Gysseling, Scriptorium 2 (1948) S. 59; U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 118-123. – 68. Oxford, BodlL Jun. 25 [f. 87-107] (BStK-Nr. 725 (I)) – Ed. StSG II, S. 260 (Nr. DCLXIX), S. 314-318 (Nr. DCLXXVII); W. Schulte, S. 464-481. – 69. Oxford, BodlL Laud misc. 263 (BStK-Nr. 735) – Ed. StSG IV, S. 330 (Nr. DCLVIIb Nachtr.). – 70. Oxford, BodlL Laud misc. 275 (BStK-Nr. 736) – Ed. StSG IV, S. 332 (Nr. DCLXXVIb Nachtr.). – 71. Oxford, BodlL Laud misc. 429 (BStK-Nr. 738) – Ed. J. Hofmann, PBB 85 (Halle 1963) S. 114. – 72. St. Paul, StA 903/0 (früher Extrav. s. n.) (BStK-Nr. 776) – Ed. StSG V, S. 25f. (Nr. DCXXXVIIb). – 73. St. Paul, StA 82/1 (früher XXV d/82) (BStK-Nr. 779) – Ed. StSG II, S. 200-208 (Nr. DCXLIIa). – 74. Poitiers, Médiathèque François Mitterand ms. 69 (BStK-Nr. 780) – Ed. W. Stach, PBB 73 (1951) S. 272. – 75. Prag, Metropolitní Kapitula U SV. Víta A 130 (BStK-Nr. 783a) – Ed. H. Tiefenbach, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 122f. – 76. Prag, Metropolitní Kapitula U SV. Víta O 83 [131-146] (BStK-Nr. 783 (II)) – Ed. StAG IV, S. 331 (Nr. DCLXXIIa Nachtr.). – 77. Rom, BAV Pal. lat. 261 (BStK-Nr. 796) – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 115; W. Schulte, S. 252-261. – 78. Schlettstadt, BH Ms. 7 (früher Ms. 100) (BStK-Nr. 849) – Ed. StSG II, S. 209-216 (Nr. DCXLIIb), S. 246 (Nr. DCLXIb), S. 262-264 (Nr. DCLXXIII); V, S.103; W. Schulte, S. 346-357. – 79. Stuttgart, WLB HB II 24 (BStK-Nr. 871) – Ed. J. Autenrieth, Die Handschriften der ehemaligen königlichen Hofbibliothek, III, Wiesbaden 1963, S. 169. – 80. Stuttgart, WLB HB VII 27 (BStK-Nr. 872) – Ed. J. Autenrieth, Die Handschriften der ehemaligen königlichen Hofbibliothek, III, S. 172. – 81. Wien, ÖNB Cod. 660 (BStK-Nr. 920) – Ed. StSG II, S. 265 (Nr. DCLXXIV). – 82. Wien, ÖNB Cod. 772 (BStK-Nr. 923) – Ed. StSG V, S. 27 (Nr. DCLVIIg). – 83. Wien, ÖNB Cod. 796 (BStK-Nr. 925) – Ed. StSG V, S. 26 (Nr. DCLVII f). – 84. Wien, ÖNB Cod. 804 (BStK-Nr. 926) – Ed. StSG II, S. 197 (Nr. DCXXXIX), S. 259 (Nr. DCLXV); W. Schulte, S. 919f. – 85. Wien, ÖNB Cod. 949 (BStK-Nr. 928) – Ed. StSG II, S. 228-231 (Nr. DCXLVII), S. 232 (Nr. DCXLVIII); Nachträge bei H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 143; K. Siewert, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 106. – 86. Wien, ÖNB Cod. 970 (BStK-Nr. 931) – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 144. – 87. Wien, ÖNB Cod. 1370 (BStK-Nr. 939) – Ed. StSG II, S. 244 (Nr. DCLVIII). – 88. Wien, ÖNB Cod. 2723 (BStK-Nr. 949) – Ed. StSG II, S. 177-197 (Nr. DCXXXVIII), S. 249-258 (Nr. DCLXIV), S. 265-304 (Nr. DCLXXIV); W. Schulte, S. 789819. – 89. Wien, ÖNB Cod. 2732 (BStK-Nr. 950) – Ed. StSG II, S. 177-197 (Nr. DCXXXVIII), S. 249-258 (Nr. DCLXIV), S. 265-304 (Nr. DCLXXIV); W. Schulte, S. 826854. – 90. Würzburg, UB M. p. th. f. 19 (BStK-Nr. 983) – Ed. H. Meritt, AJPh 55 (1934) S. 233; J. Hofmann, PBB 85 (Halle 1963) S. 74; W. Schulte, S. 267-271. – 91. Würzburg, UB M. p. th. f. 42 (BStK-Nr. 988) – Ed. J. Hofmann, PBB 85 (Halle 1963) S. 115f.; P. Lehmann, Fuldaer Studien. Neue Folge, SB München. Philos.-Philol. und Hist. Klasse Jahrgang 1927,

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Gregor der Große-Glossierung

2. Abhandlung, München 1927, S. 50. – 92. Würzburg, UB M. p. th. f. 45 (BStK-Nr. 989) – Ed. J. Hofmann, PBB 85 (Halle 1963) S. 71f. – 93. Würzburg, UB M. p. th. f. 47 (BStK-Nr. 990) – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 148; dazu W. Wegstein, ADA 90 (1979) S. 131; E. Meineke, Abstraktbildungen im Althochdeutschen. Wege zu ihrer Erschließung. StA 23, Göttingen 1994, S. 185f. – 94. Würzburg, UB M. p. th. f. 149a (BStK-Nr. 997) – Ed. J. Hofmann, PBB 85 (Halle 1963) S. 67. – 95. Würzburg, UB M. p. th. q. 60 [f. 1-6] (BStK-Nr. 998 (I)) – Ed. StSG II, S. 197 (Nr. DCXXXIX), S. 259 (Nr. DCLXV); W. Schulte, S. 926. – 96. Würzburg, UB M. p. th. q. 65 (BStK-Nr. 999) – Ed. P. Lehmann, PBB 52 (1928) S. 170; Nachträge bei J. Hofmann, PBB 85 (Halle 1963) S. 124; W. Schulte, S. 274-278; Hinweis auf weitere Glossen bei E. Glaser – A. Nievergelt, in: Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach, S. 127. – 97. Zürich, ZB Ms. Car. C 105 (BStK-Nr. 1006) – Ed. StSG V, S. 28 (Nr. DCLXXVId). – 98. Zürich, ZB Ms. Rh. 35 (BStK-Nr. 1010) – Ed. StSG II, S. 237-240 (Nr. DCL); A. Nievergelt, Sprachwissenschaft 36 (2011) S. 348-352. – 99. Zürich, ZB Ms. Rh. 40 (BStK-Nr. 1012) – Ed. StSG V, S. 27 (Nr. DCLXXIb); W. Schulte, S. 285-287. – Nachtrag Januar 2013: München, BSB Clm 6279 (BStK-Nr. 710ak). – Ed. A. Nievergelt, Sprachwissenschaft 37 (2012) S. 395f. – München, BSB Clm 6297 (BStK-Nr. 710al). – Ed. A. Nievergelt, Sprachwissenschaft 37 (2012) S. 398-400. – Unedierte Neufunde von A. Nievergelt, in: St. Gallen, StB 212 (BStK-Nr. 256s) und St. Gallen, StB 220 (BStK-Nr. 256t).

3. Glossographische Aspekte: Regula (Cura) pastoralis: Das Regelwerk für den Weltklerus, das als Regula pastoralis oder Cura pastoralis bezeichnet wird, macht mit fast 6.000 Gll. 42,9% der Gregorglossierung aus, wovon ein Drittel auf Textglossierung entfällt, während zwei Drittel in Textglossaren überliefert sind. Nahezu alle bedeutenden Klöster sind mit glossierten Hss. seit dem 8. Jh. und mit einem Schwerpunkt im 9. und 10. Jh. vertreten. Eine Reihe von Textglossarhandschriften sind der Überlieferung der Ú Mondseer Bibelglossatur zuzurechnen. Verwandtschaftsverhältnisse von einzelnen Glossierungen sind in der Edition von E. von Steinmeyer ansatzweise erkennbar; eine zusammenfassende Untersuchung fehlt. Homiliae in Evangelia: Gregors Predigten über Evangelientexte sind mit rund 5.600 Gll. (= 40,3%) kaum weniger häufig glossiert wie die Regula pastoralis; die Glossierung der Homiliae in Ezechielem spielt daneben mit 7 Gll. (= 0,05%) so gut wie keine Rolle. Bei den Evangelien-Homilien ist die Textglossar-Überlieferung mit rund 4.500 Gll. deutlich umfangreicher als die Textglossierung. Der zeitliche Schwerpunkt liegt wie bei der Regula-Glossierung im 8. bis 10. Jh., und viele wichtige Klöster sind mit Handschriften vertreten. In einer älteren Untersuchung von W. Schröder wurde „Die Verwandtschaft der althochdeutschen Glossen zu Gregors Homilien“ untersucht; die Rekonstruktion eines Stemmas mit zehn erhaltenen und zehn erschlossenen Handschriften wird heute methodisch kritisch gesehen.

Gregor der Große-Glossierung

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Dialogi: In den vier Büchern der Dialogi erzählt Gregor einem Gesprächspartner, dem Diakon Petrus, von dem Leben italienischer Heiliger, darunter sehr ausführlich in Buch 2 von Benedikt von Nursia. Gerade dieses Buch besaß als einzige Quelle über das Leben Benedikts besondere Bedeutung in den Benediktinerklöstern des Mittelalters. Die Glossierung der Dialogi umfasst rund 1.600 Gll. (= 11,5%), die ganz überwiegend in Textglossaren in Handschriften vom 8. bis 10. Jh. stehen. Eine neue Edition und eingehende Untersuchung hat W. Schulte 1993 vorgelegt; dazu kommen etwa 80 von O. Ernst neu gefundene Glossen, die noch nicht veröffentlicht sind. Moralia in Iob: Gregors Auslegung des Buches Hiob wurde im Mittelalter als moraltheologisches Handbuch tradiert. Seine Glossierung steht mit knapp 640 Gll. (4,6%) deutlich hinter den übrigen Werken zurück und ist zudem sehr ungleich verteilt. Fast 450 Gll. finden sich in der Textglossierung einer einzigen frühen Freisinger Hs. vom Ende des 8. oder dem Anfang des 9. Jh.s; nach einer ersten Edition von ca. 150 Gll. durch H. Mayer hat E. Glaser ca. 300 weitere Glossen entdeckt und eine Gesamtedition und Untersuchung durchgeführt. Einen anderen Schwerpunkt bildet ein aus der Glossierung des Sündenkatalogs verselbstständigtes Sachglossar mit 133 Gll. in 7 Hss., das G. Hiltensberger untersucht hat. 4. Gesamtbewertung: Die Werke Gregors des Großen stehen unter den glossierten nichtbiblischen Texten mit 23,1% (13.950 Gll. in 99 Hss.) an erster Stelle und rangieren damit noch knapp vor den Dichtungen des Ú Prudentius mit über 12.000 Gll. in 62 Hss. ( = 20,0%); es folgen Ú Vergil und die Ú Canones mit 11,0 und 10,5%; auf alle übrigen knapp 200 glossierten Autoren bzw. Werke entfallen nur 35,4% aller volkssprachigen Glossen. Die besondere Bedeutung Gregors für die Rezeption durch Glossierung zeigt sich noch deutlicher im Vergleich innerhalb der Patristik. Hier macht die Gregor-Glossierung über drei Viertel der volkssprachigen Glossierung aus, und alle anderen Kirchenväter wie Ú Hieronymus, Ú Ambrosius, Augustinus rangieren mit weitem Abstand dahinter (R. Bergmann, in: BStH I, S. 83-122). Der Schwerpunkt der Gregor-Glossierung liegt ganz deutlich im Bereich der klösterlichen Ausbildung, worauf die Funktion der Texte und die Art der Glossierung insbesondere in Textglossaren und deren Überlieferung im Zusammenhang mit Bibelglossaren und Glossaren zu anderen Ausbildungstexten deuten. Dagegen wird der theologisch schwierige Hiob-Kommentar sehr viel weniger glossiert. Die Massierung von 450 Gll. in einer einzigen Handschrift wird wohl unmittelbar einem den Text studierenden Theologen verdankt. 5. Literatur: Zur ahd. Glosssierung insgesamt R. Bergmann, in: BStH I, S. 525-548; zu einzelnen Komplexen der Glossen O. Ernst, Die Griffelglossierung in Freisinger Hss., S. 137-165, 421-576; E. Glaser, Frühe Griffelglossierung, S. 80-482; G. Hiltensberger, Entwicklung eines Sachglossars aus Textglossierung. Der Sündenkatalog in Gregors des Großen Moralia in Iob,

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Grenzbeschreibungen

in: BStH I, S. 880-886; G. Hiltensberger, Die althochdeutsche Glossierung der ‘vitia cardinalia’ Gregors des Großen, Heidelberg 2008; W. Schröder, PBB 65 (1942) S. 1-105; W. Schulte, Die althochdeutsche Glossierung der Dialoge Gregors des Großen, StA 22, Göttingen 1993.

ROLF BERGMANN

Grenzbeschreibungen Innerhalb der urkundlichen Überlieferung des Frühmittelalters begegnen im Zusammenhang mit Schenkungen oder Besitzbestätigungen lat. Texte, in denen die Grenzen geographischer Gebiete unter Verwendung volkssprachiger Flurnamen oder Stellenbezeichnungen detailliert beschrieben werden. Eine eingehende Untersuchung liegt bislang nur zu den 19 bayerischen Quellen durch R. Bauer vor. Über die weiteren Quellen aus anderen Gebieten fehlt noch der Überblick; einige werden von St. Sonderegger, E. Herrmann, E. E. Metzner und R. Bauer genannt. In der germanistischen Forschungstradition werden von diesen Quellen üblicherweise nur die Ú ‘Hammelburger Markbeschreibung’ und die beiden Ú ‘Würzburger Markbeschreibungen’ behandelt, was den historischen Überlieferungsverhältnissen nur teilweise entspricht. Nur die ‘Würzburger Markbeschreibung II’ ist ein ahd. Text, ‘Hammelburger Markbeschreibung’ und ‘Würzburger Markbeschreibung I’ unterscheiden sich als lat. urkundliche Texte nicht von der sonstigen Überlieferung. Innerhalb dieser lat. Überlieferung ist die ‘H. M.’ offensichtlich das älteste Stück und zugleich das an volkssprachigen Elementen reichste. Literatur: R. Bauer, Die ältesten Grenzbeschreibungen in Bayern und ihre Aussagen für Namenkunde und Geschichte, Die Flurnamen Bayerns Heft 8, München 1988, S. 10f.; R. Bauer, Frühmittelalterliche Grenzbeschreibungen als Quelle für die Namenforschung, in: Frühmittelalterliche Grenzbeschreibungen und Namenforschung. Jahrespreis 1991 der HenningKaufmann-Stiftung zur Förderung der deutschen Namenforschung auf sprachgeschichtlicher Grundlage. Hg. v. F. Debus, BNF NF Beiheft 42, Heidelberg 1992, S. 35-60. R. Bergmann, Pragmatische Voraussetzungen althochdeutscher Texte: Die Grenzbeschreibungen, JBGGSG 3 (2012) S. 57-74; E. Herrmann, Grenznamen und grenzanzeigende Begriffe (aus Erhebungen in Nordostbayern), in: Gießener Flurnamen-Kolloquium 1. bis 4. Oktober 1984. Hg. v. R. Schützeichel, BNF NF Beiheft 23, Heidelberg 1985, S. 301-315; E. E. Metzner, Frühkarolingische Forstnamen in Mitteldeutschland. ‘Flurnamen’-Befragungen als Beiträge zur frühmittelalterlichen Verfassungs- und Institutionengeschichte des rheinfränkischen Raums, in: Gießener Flurnamen-Kolloquium 1. bis 4. Oktober 1984. Hg. v. R. Schützeichel, BNF NF Beiheft 23, Heidelberg 1985, S. 571-599; St. Sonderegger, Das Alter der Flurnamen und die germanische Überlieferung, JBFLF 20 (1960) S. 181-201 (= St. Sonderegger, Germanica selecta, S. 13-31).

ROLF BERGMANN

Haimo von Auxerre-Glossierung

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Haimo von Auxerre, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Haimo von Auxerre, † etwa um 855, verfasste Kommentare zum Hohenlied, zu den kleinen Propheten, zu den Paulusbriefen und zur Apokalypse sowie Homilien. Sein Hoheliedkommentar gilt als Hauptquelle für Ú Willirams von Ebersberg Hoheliedbearbeitung. Literatur: J. Groß, in: LThK IV, Sp. 1325; B. Gansweidt, in: LexMA IV, Sp. 1864. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. München, BSB Cgm 5248, 2, 3. Doppelblatt (BStK-Nr. 443 I): 105 Gll. in Textglossar zu Kommentaren zu biblischen Büchern; bair., 2. Hälfte 11. Jh. – Ed. E. Hartl, Ein neues althochdeutsches Glossenfragment, in: FS für Georg Leidinger, München 1930, S. 95-95. – 2. München, BSB Clm 4613 (BStK-Nr. 487): 2 Interlineargll. in Textglossierung zum Kommentar zum Hohenlied; bair. 12. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 69. – 3. München, BSB Clm 18119 (BStK-Nr. 636): 1 Marginalglosse in Textglossierung zum Kommentar zum 2. Korintherbrief; sprachlich unbestimmbar, 1. Viertel 11. Jh., Tegernsee. – Ed. StSG V, S. 28 (Nr. DCLXXXIId). – 4. München. BSB Clm 18227 (BStK-Nr. 641): 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Homilien; obd., 11. Jh. Tegernsee. – Ed. StSG V, S. 28 (Nr. DCLXXXIIb). – 5. München, BSB Clm 18665 (BStKNr. 655): je 1 Interlinear- und Marginalgl. in Textglossierung zum Kommentar zum Hohenlied; sprachlich unbestimmt, 10./11. Jh. Tegernsee. – Ed. StSG V, S. 28 (Nr. DCLXXXIIc).

3. Charakterisierung der Überlieferung: Die ahd. Glossen zu Werken Haimos von Auxerre sind extrem unterschiedlich verteilt: 4 Hss. (Clm 4613, Clm 18119, Clm 18227, Clm 18665) überliefern insgesamt 6 ganz vereinzelte Glossen in Textglossierung zu verschiedenen Werken. Der größte Teil der Überlieferung entfällt mit 105 Gll. in einem Textglossar auf ein Glossarfragment, dessen erhaltene 3 Doppelblätter insgesamt über 460 Gll. in Textglossaren zu den Canones, zu den Vitae patrum, zu Eusebius und Gregor dem Großen enthalten (Cgm 5248, 2, 3. Doppelblatt). Die gesamte Überlieferung stammt überwiegend aus dem 11. Jh., aus dem bayerischen Raum und zeigt – soweit erkennbar – bair. Sprachstand. Dieser Befund passt mit der Benutzung durch Williram im 11. Jh. gut zusammen. Innerhalb des kirchlich-theologischen Schrifttums des Mittelalters, auf das nur 10,8% der gesamten Glossierung nichtbiblischer Texte entfallen, nimmt die Haimo-Glossierung mit 1,7% den neunten Rang ein, was einzig dem Glossarfragment verdankt ist, dessen eingehende Untersuchung aussteht. 4. Literatur: BStK-Nr. 443 (I), 487, 636, 641, 655; R. Bergmann, in: BStH I, S. 99-105. ROLF BERGMANN

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‘Hammelburger Markbeschreibung’

‘Hammelburger Markbeschreibung’ Überlieferung: Würzburg, StaatsA Bestand Würzburger Urkunden Nr. 1201; einzelnes Pergamentblatt aus der 1. Hälfte des 9. Jh.s; Abschrift (in der MGH-Edition und bei E. v. Steinmeyer unerklärlicherweise als Original bezeichnet) einer verlorenen Vorlage aus dem Jahre 777, die als Besitzeinweisungsprotokoll zu der im Original erhaltenen Urkunde Karls d. Gr. vom 7. Januar 777 über die Schenkung Hammelburgs an die Abtei Fulda gehörte. Seit G. Baesecke wird diese Abschrift plausibel mit der Reorganisation des Fuldaer Archivs unter Abt Hraban in Zusammenhang gebracht und um 830 datiert. Ausgaben: J. F. Schannat, Corpus Traditionum Fuldensium, Leipzig 1724, S. 423; MGH Die Urkunden der Karolinger, I. Die Urkunden Pippins, Karlmanns und Karls des Großen, bearb. v. E. Mühlbacher, KdG Nr. 116, S. 162 Anm. 1 u. S. 564; E. E. Stengel, Urkundenbuch des Klosters Fulda, I, Marburg 1958, Nr. 83, S. 151-154 u. S. 525 (mit Kommentar); MSD Nr. LXIII, I, S. 223f., II, S. 357-359; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XII, S. 62f.; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., II.3, S. 6, 162; R. Bauer, S. 3. – Faksimilia: Monumenta Palæographica. Denkmäler der Schreibkunst des Mittelalters, Erste Abteilung. Schrifttafeln in lateinischer und deutscher Sprache, hg. v. A. Chroust, München 1902, Serie V, 7; W. Arndt, Schrifttafeln zur Erlernung der lateinischen Palaeographie, Drittes Heft, hg. v. M. Tangl, Berlin 1903, Nr. 73; R. Bauer, Tafel 1; vgl. PadRep.

Die ‘H.M.’ gehört innerhalb der urkundlichen Überlieferung des Frühmittelalters zu der mehr als 20 Stücke umfassenden Gruppe der lat. Ú Grenzbeschreibungen mit volkssprachigen Flurnamen und Stellenbezeichnungen. Der vorliegende Text ergänzt die im Original erhaltene Schenkungsurkunde Karls d. Gr. vom 7. Januar 777 als Protokoll der Besitzeinweisung des Abtes Sturmi durch die comites Nidhardus und Heimo und die uasallos dominicos Finnoldus und Gunthramnus vor 21 namentlich aufgeführten Zeugen. Der von den Zeugen beschworene Umfang des Gebietes wird mit 34 Einzelangaben des Grenzverlaufs beschrieben, deren geographische Identifizierung nicht durchgehend möglich ist. Die Ergebnisse der älteren Forschung zum Grenzverlauf werden bei R. Bauer (S. 15-27, Karte 2) zusammengefasst und auch kartographisch dargestellt. Die sprachhistorische Bedeutung der ‘H.M.’ ist unbestreitbar; gleichwohl entspricht ihre in der germanistischen Forschungstradition übliche Hervorhebung nicht den historischen Überlieferungsverhältnissen. In den germanistischen Handbüchern zum Althochdeutschen werden stets nur die ‘H.M.’ und die beiden Ú ‘Würzburger Markbeschreibungen’ behandelt, obwohl ‘H.M.’ und ‘Würzburger Markbeschreibung I’ als lat. Urkunden nur Teil einer umfangreicheren Überlieferung lat. Ú Grenzbeschreibungen sind und nur die ‘Würzburger Markbeschreibung II’ ein ahd. Text ist. Innerhalb dieser lat. Überlieferung ist die ‘H.M.’ offensichtlich das älteste Stück

‘Hammelburger Markbeschreibung’

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und zugleich das an volkssprachigen Elementen reichste. Die Grenzbeschreibung selbst besteht aus einem einzigen Nominalsatz mit lat. Grundstruktur (primum de ... iuxta ... in caput suum, de capite ... in ..., ... deinde in..., inde ..., inde in ...) und volkssprachiger Füllung (primum de Salu iuxta Teitenbah in caput suum, de capite Teitenbah in Scaranuirst, ..., deinde in thie teofun gruoba, inde in Ennesfirst then uuestaron, inde in Perenfirst ...). Für die ersten sechs Angaben gilt das Angabeschema von A nach B, von B nach C, danach wird die Angabe verkürzt nach dem Schema von da nach G, von da nach H. Etwa ab derselben Stelle wird auch die lat. Bezeichnungsweise durch die volkssprachige abgelöst: statt in caput Staranbah heißt es nun beispielsweise in Otitales houbit. R. Bauer nimmt an, dass der Schreiber der vorliegenden Abschrift ab dieser Stelle nicht mehr der schriftlichen Vorlage unmittelbar folgte, sondern nach Diktat schrieb. Der Lautstand der volkssprachigen Elemente ist ofrk. und steht laut D. Geuenich (S. 268) „in völliger Übereinstimmung mit den [fuldischen] Namenzeugnissen um das Jahr 830“. Einzelne ältere Züge mögen aus der Vorlage von a. 777 stammen. Die gesamte bisherige lexikographische und onomastische Auswertung der Quelle bedarf der kritischen Überprüfung, da sie der handschriftlich unbegründeten Editionspraxis folgt, Eigennamen (bzw. was man dafür hält) mit großem Anfangsbuchstaben zu drucken; auch die morphologisch relevante Zusammen- oder Getrenntschreibung von komplexen Einheiten wie in then Matten uueg (E. v. Steinmeyer) bzw. in then Mattenuueg (R. Bauer) ist nicht aus der Überlieferung begründbar. Literatur: G. Baesecke, ZDA 58 (1921) S. 275 (= G. Baesecke, Kleinere Schriften, S. 35); G. Baesecke, Der Voc. Sti. Galli, S. 113, 150; R. Bauer, Die ältesten Grenzbeschreibungen in Bayern und ihre Aussagen für Namenkunde und Geschichte, Die Flurnamen Bayerns 8, München 1988, S. 10f.; R. Bergmann, Pragmatische Voraussetzungen althochdeutscher Texte: Die Grenzbeschreibungen, JBGGSG 3 (2012) S. 57-74; D. Geuenich, Die PN von Fulda, S. 267f.; D. Geuenich, in: Von der Klosterbibl. zur Landesbibl., S. 99-124; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 153f.; R. Schmidt-Wiegand, in: 2VL III, Sp. 427f.; St. Sonderegger, Das Alter der Flurnamen und die germanische Überlieferung, JBFJL 20 (1960) S. 181-201 (= St. Sonderegger, Germanica selecta, S. 13-31).

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‘Hausbesegnung, Zürcher’ Ú ‘Zürcher Hausbesegnung’ Heberegister Ú ‘Essener Heberegister’, ‘Freckenhorster Heberegister’

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‘De Heinrico’

‘De Heinrico’ 1. Vorbemerkung: Der knappe Herzogspreis ist eines von zwei Liedern in lat.-ahd. Mischsprache in der sonst lat., um 968/1039 vermutlich im rheinischen Raum entstandenen und durch einen ags. Schreiber in die heute in Cambridge aufbewahrte Hs. des 11. Jh.s eingetragenen Cambridger Lieder (‘Carmina Cantabrigiensia’, Cambridge, UL Ms. Gg. 35.5; DH: f. 437rb-f. 437va). Durch ihre thematische Breite und das in ihr vertretene Gattungsspektrum stellt die Sammlung eine Vorläuferin der berühmteren ‘Carmina Burana’ dar; ihre höfischen Texte (v.a. Herrscherpreise und Totenklagen) lassen an eine Zusammenstellung im Umfeld des Saliers Heinrich III. (1039-56) denken. 2. Ausgaben, Übersetzungen, Faksimilia: J. G. Eccard, Fragmentum Poematis in Laudem Henrici Comitis Palatini ad Rhenum, anno MCCIX decantati ab Anonymo Lotharingo, in: Veterum monumentorum quaternio, Lipsiae 1720, S. 49-52 (EA); MSD, S. 25f., 304307 [Komm.]; ³1892, Nr. XVIIII, I, S. 39f.; II, S. 99-106; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., S. 139; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XXIII, S. 110-114; K. Strecker, Carmina Cantabrigiensia – Die Cambridger Lieder. MGH, Nachdruck Berlin 1955, S. 57-60, 116-119 [Komm.]; H. Fischer, Schrifttafeln, Tafel 24, diplomat. Text S. 26*. – W. Haug – K. Vollmann, Frühe dt. Lit., S. 294-297, 1244-1249 [Komm.]; J. M. Ziolkowski: The Cambridge Songs (Carmina Cantabrigiensia). New York/London 1994, S. 82-85 (²1998); vgl. PadRep.

3. Form und Sprache: Acht Strophen von je drei bis vier Reimpaaren gliedern den Text inhaltlich und formal (vgl. Ú ‘Ludwigslied’; gemeinsames Vorbild ist Ú Otfrid von Weißenburg). Die Verse setzen sich aus lat. An- und ahd. Abversen zusammen, nur an drei Stellen greifen die Sprachteile ineinander (vv. 7, 22, 27). Die Diktion ist einfach und schmucklos – man hat mitunter an politischen ‘Geschäftston’ gedacht. Probleme wirft die dialektale Einordnung des Gedichts auf, wobei zur Zweisprachigkeit und Kürze des Textes die mögliche Überlieferungsferne (v.a. ältere Interpreten gingen von mehreren Zwischenstufen bis zur erhaltenen Abschrift aus) und die geringe Zahl potentieller Vergleichtexte in der überlieferungsärmsten Phase deutschsprachiger Literatur erschwerend hinzutreten. Klar scheint, dass (letzter) Schreiber und Dichter nicht dem gleichen Dialektraum entstammten; einer von beiden ist od., der je andere md. bzw. nd. zu verorten. Diskutiert wurden als Ursprungsmundart mehr oder minder triftig begründet Thüringen (W. v. Unwerth), Baiern (M.-L. Dittrich), Sachsen (M. Uhlirz, W. Sanders) und der mosellan-nordrhfrk. Raum um Trier (W. Jungandreas), Köln oder Aachen (H. Christensen). Die lat. Teile deuten gesichert auf einen Geistlichen als Dichter, Stil und Tendenz auf einen vielleicht der Kanzlei angehörigen Hofkleriker. Die artifizielle Zweisprachigkeit könnte programmatisch den Status des Textes zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit anzeigen (H.-J.

‘De Heinrico’

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Schiewer). Innerhalb der Sammlung weist sie auch das wohl pastourellesk-obszöne, nachträglich bis zur Unlesbarkeit geschwärzte Gedicht ‘Kleriker und Nonne’ auf. 4. Struktur: Die Struktur ist dreiteilig: Auf eine Art Prolog mit christianisiertem ‘Musenanruf’ (Anruf Christi um Hilfe beim Verfassen des Textes) und Exposition (Nennung des Protagonisten; Str. 1) folgt der vierstrophige szenisch-dialogische Hauptteil (Str. 2-5): die Schilderung eines (bestimmten und einmaligen?) Empfangs eines Herzogs Heinrich von Baiern durch einen Kaiser namens Otto. Die Schlussstrophen (6-8) geben einen aus dieser Szene resultierenden historischen Ausblick. Er scheint die funktional zentrale Aussage des Liedes zu enthalten. 5. Historische Personen und Ereignisse: Die Frage nach den hist. Personen und Ereignissen, die in ‘DH’ eingegangen sind, beherrschte die Forschung von ihren Anfängen an so sehr, dass alle anderen Deutungsaspekte lange zurücktraten. In der Regel ging man von der (nicht belegbaren) Prämisse aus, dass ein bestimmtes Ereignis zugrunde liege, bei dem ein König (nur bei strenger Lesart auch Kaiser) Otto mit einem bairischen dux Heinrich zusammentraf. Dieses Ereignis durch eine profunde Analyse der Textangaben und der hist. Quellen zu identifizieren und darauf eine Deutung der historisch-politischen Bezüge zu errichten, wurde das Hauptanliegen der Forschung, das, da nach Lage der Dinge nicht autoritativ und endgültig zu klären, in immer neuen Anläufen und Kombinationen angegangen wurde. Andere Fragen an den Text, wie etwa sein sozialer Raum, seine spezifische Funktion, Gattungstradition, Geschichts- und Herrschaftskonzeption und sein Überlieferungskontext, traten erst in jüngerer Zeit ins Zentrum des Interesses. Die Kernstrophen schildern einen hochritualisierten Akt: den ehrenvollen Empfang des dux Heinrich durch Otto, den anschließenden gemeinsamen Kirchgang, schließlich, schon hinüberwirkend in den Ausblick, das idealtypische Agieren Heinrichs im Hofrat. Die Haupthinweise für die Situierung des Vorgangs geben Namen und Titel: dux Heinrich, keisar Otto (v. 3 bzw. 5 u.ö.). Das Präteritum qui cum dignitate thero Beiaro riche beuuarode (v. 4) ist Hinweis darauf, dass der Herzog nach eindrucksvoller, sicher nicht zu kurzer Regentschaft, wie die Schlussstrophen nahelegen, zur Abfassungszeit schon tot war. Von Otto ist demgegenüber wohl als noch Lebendem die Rede. Nun regierten zwischen 936 und 1002 drei Ottonenkaiser das römische Reich, und es folgten zeitgleich vier Heinriche als Baiernherzöge aufeinander, woraus sich formal-logisch eine Vielzahl von Kombinationen ergibt, zumal die Kernszene, isoliert und zeremoniös verbrämt wie sie sich darstellt, unterschiedliche Deutungen zulässt: höfischer Empfang des Herzogs an der Spitze eines Heeraufgebots (v. 7); Aufnahme in den kaiserlichen Rat (v. 19f.); Versöhnung nach politisch oder familiär bedingtem Zerwürfnis (v. 21); öffentliche Belehnung (v. 20). Drei Zeitebenen überlagern sich im Text: Das Kernereignis (Str. 2-6) liegt bei seiner Abfassung schon eine

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Weile zurück, da eine Rahmenhandlung unbestimmter Dauer (Str. 1 und 7f.) folgt. Es muss bedeutsam genug gewesen sein, noch Jahre oder Jahrzehnte später auf erinnerndes Interesse zu stoßen. Vor allem Heinrichs betonter Regalienverzicht legt eine dem Erzählten vorausgehende spannungsgeladene Vorgeschichte nahe. Als weitere Ebene kommt außerhalb der erzählten Zeit die postum-vergegenwärtigende Erinnerung, also die Abfassungszeit hinzu. Diese Ebenen sind strenger voneinander zu scheiden als in der Forschung häufig geschehen. Klarer und schwieriger zugleich wird die Sachlage dadurch, dass (nur) in der Grußformel Ottos (v.12f.) ein Namensvetter Heinrichs aufzutreten scheint. Die Präsenz eines zweiten Heinrich engt das Deutungsspektrum signifikant ein, denn Zusammenkünfte zwischen einem König Otto und einem Herzog Heinrich gab es im 10. Jh. in Fülle, darunter auch solche, die sich mit der Konstellation im Lied halbwegs decken. Für die Dreierkonstellation dagegen gibt es nicht viele historische Optionen. Früh identifizierte man, einer fehlerhaften Lesung wegen (bruother statt bringit her, v. 7), die Protagonisten mit Otto I. und seinem Bruder Heinrich. Seit K. Lachmann dachte man dabei an die Bußszene nach einem Aufstand des letzteren zu Weihnachten 941 in Frankfurt (sie lebt als stoffliches Substrat neben anderen auch im Herzog Ernst-Stoff weiter). Bis 1892 galt diese Deutung kanonisch, danach wurde sie vor allem der Saxonismen in der Kaiserrede wegen mitunter weiter vertreten (vgl. noch W. Jungandreas, W. Sanders). Freilich stellen sich, selbst wenn man von einer bewussten Schönung und Entschärfung des spektakulären Geschehens ausgeht, bei dieser Option Fragen: Von einer Versöhnung ist in ‘DH’ nirgends die Rede; auch wurde Heinrich historice erst Jahre nach dem Ereignis zum Herzog erhoben (948). Auch eine Erklärung für den mitgenannten equivocus bietet die Figurenkonstellation nicht. Seit den 1950er Jahren setzten sich daher alternativ spätottonische Deutungen durch (J. Seemüller und G. Ehrismann hatten ihnen früh vorgearbeitet, indem sie in der Titelgestalt Züge verschiedener Heinriche und Ottonen synchronisiert sahen). Die Zeiten Ottos II. und v.a. Ottos III. bieten mit ihren wiederholten, von Herzog Heinrich II. (dem Zänker, † 995) ausgehenden Rebellionen, an denen zeitweise auch gleichnamige Verwandte beteiligt waren, mehrere Ansatzpunkte, darunter die Reichstage 985/986 zu Frankfurt, Bamberg und namentlich Quedlinburg, wo sich der ‘Zänker’ nach mehreren Aufständen endgültig unterwarf und dafür sein bairisches Herzogsamt zurückerhielt. Mitanwesend war hier z.T. der gleichnamige Kärntner Herzog. Kaiser Otto III. war damals ein Kind von rund fünf Jahren, was dem passivfremdbestimmten Auftreten des Kaisers im Lied (vgl. bes. Str. 2 und 6) durchaus nicht widerstrebt: Die Fassade zeremoniöser Stilisierung könnte hier das historische Bild des unmündigen princeps puer decken. Auch ein Hoftag zu Magdeburg 995 wenige Tage vor dem Tod des Protagonisten wurde ins Spiel gebracht (M.-L. Dittrich, L. Bornscheuer), auf dem als equivocus der Herzogssohn und spätere Kaiser

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Heinrich II. zugegen war. Doch bezog sich der Dichter wohl bewusst nicht auf ein Einzelereignis, sondern fasste ‘synkretistisch’, raum- und zeitübergreifend erinnernd, Geschehens- und Ritualabläufe zu einem zeitlosen Ideal des Miteinanders von Reichs- und Regionalherrschaft zusammen (J. Fried, M. Herweg). Wenn somit eine endgültige Identifizierung des historischen Geschehens nach Lage der Dinge nicht möglich erscheint, spricht heute jedenfalls alles für das spätottonische Substrat (vgl. zuletzt J. Schneider). Der spätere Kaiser Heinrich II. käme als Auftraggeber des postumen Preises auf seinen Vater in Frage, und die Entstehung dürfte in seine frühen Jahre auf dem Königsthron fallen (1002/04). 6. Intention und Funktion: ‘DH’ steht in seiner Zeit in deutscher Dichtung fast völlig isoliert – der Zeitgenosse Ú Notker III. von St. Gallen ist nicht primär Dichter. Diese Singularität und die Schwierigkeit der historischen Einordnung und Deutung überschatten in hohem Maß alle Aussagen zu seinem ‘Sitz im Leben’, seiner Intention und Zielsetzung, seinem Anlass, seiner Gattungstradition und Funktion. Drei Optionen wurden diskutiert: a) ‘DH’ im Kontext von ‘Sagedichtung’ als einem lediglich erschlossenen (!) Typus postheroischer, volkstümlich-spielmännischer Substanz, der als orale Vorstufe auch für den späteren ‘Herzog Ernst’ angesetzt wird (M. Diebold). Aufgrund der Farblosigkeit und sprachlichen Artifizialität des Lieds ist diese Option wenig wahrscheinlich. b) ‘DH’ als politisch-publizistische Tendenz- und Propagandadichtung aus aktuellem Anlass und für eine konkrete historische Situation, etwa die Auseinandersetzungen im Vorfeld der Wahl und allgemeinen Anerkennung Heinrichs II. auf dem römischdeutschen Thron. c) ‘DH’ als höfische Totenklage in piam memoriam. Dies implizierte eine spezifische Nähe zum Aufzeichnungsmotiv des Ú ‘Ludwigslieds’ und wird durch die Mitüberlieferung einer Reihe lat. Totenklagen und Fürstenpreise in der Cambridger Sammlung noch plausibler (vgl. etwa ‘Modus Ottinc’). Tendiert die jüngere Forschung (so v.a. L. Bornscheuer) eher zum Memorialgedicht, das ein in der Rückschau geschöntes Bild der Herrschaft Heinrichs ‘des Zänkers’ in Baiern vergegenwärtigen und verewigen sollte, so hat der Propagandaaspekt im Thronstreit nach dem unerwartet frühen Tod Ottos III. 1002 einen im Text, in seinem literarischen Umfeld (‘Jüngere Vita Mathildis’) und in der historischen Lage gleichermaßen überzeugenden Platz. Indes schließen sich beide Optionen nicht aus: Heinrich legitimierte seinen Thronfolgeanspruch dynastisch und bezog sich dabei offenkundig auch auf die Rolle seines 995 verstorbenen Vaters am Hof des jüngst verstorbenen Kaisers. Fest steht aufgrund der Unschärfe aller Angaben im Text jedenfalls, dass das Lied nur im Kreis von Kennern, erfahrenen, die zugrunde liegen-

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den Fakten genau kennenden Hörern gewirkt haben kann, konkret also wohl im Umfeld des bairischen Herzogs- und späteren Königshofs Heinrichs. 7. Gattungsumfeld: Das Gattungsumfeld stecken zunächst die mit ‘DH’ überlieferten lat. Fürstenpreis- und Klagelieder des Cambridger Zyklus ab, so der zeitlich besonders nahe Ottonenhymnus ‘Modus Ottinc’. Weniger generischer als funktionstypologischer Natur ist die lit. Reihenbeziehung zu den nächstverwandten deutschsprachigen Texten Ú ‘Ludwigslied’ (um 881) und ‘Annolied’ (um 1080). Hier scheinen sich hinter der punktuellen Zufälligkeit der Überlieferung ideengeschichtliche, motivische und funktionale Verbindungslinien aufzutun, die übergreifende Sinnbezüge stiften (M. Herweg): Mit ihren ‘Helden’ Ludwig, Heinrich und Anno preisen die drei Anonymi drei profilierte Vertreter jener geistig-politischen Kräfte, die als tragende Kräfte der frühmittelalterlichen Reichs- und Sozialordnung namhaft zu machen sind, Königtum, Adel und Klerus; personifiziert sind diese im sakralen Herrscher, im ‘Stammesherzog’ und im ottonisch-salischen ‘Reichsbischof’. Mehr noch: Jeder Text steht auch für einen bestimmten Abschnitt vorgregorianischer Reichsgeschichte, was sich oberflächlich in der Epochenzugehörigkeit (Karolinger-, Ottonen- und Salierzeit), hintergründig in den politisch-rechtlichen Konstellationen ausdrückt, die jeweils zeittypische Konflikte und Konfliktbewältigungsstrategien verhandeln. Freilich weisen die geschilderten Episoden weit über den Moment der Entstehung und Primärwirkung der drei Werke hinaus. Durch eine spezifische Art der Vertextung des historischen Substrats, die dem Individuellen und Singulären sogleich (und fast bis zur Unkenntlichkeit der stofflichen Wurzeln) das Siegel des Exemplarisch-Zeichenhaften aufdrückt, werden Akteure und Ereignisse zu Modellen zeitloser Gültigkeit, so unbedeutend sie im Rückblick auch scheinen mögen. So wird in ‘DH’ wohl ein dynastischer Ausgleich zum Spiegel idealer Reichs- und Landesherrschaft, wie sich im ‘Annolied’ die Vita eines streitbaren, vielfach angefeindeten Bischofs am Vorabend des Investiturstreits zum Erfüllungsstadium der Weltgeschichte verklärt. Kraft dieser Stilisierung werden alle drei Texte zu zeitenthobenen Medien der Belehrung, Legitimation und Geschichtsdeutung. Diese Diagnose stellt die nur deutschsprachig isolierte Werkreihe in den umfassenden Überlieferungsstrom der zeitgenössischen Latinität (E. R. Curtius). So erweist sich gerade die makkaronische Form des ‘DH’ als Signum und Ausweis eines Epochenprofils, in dem die breit bezeugte Geschichtsdichtung und -schreibung in lateinischer Sprache den unverzichtbaren Maßstab auch für die Deutung der relikthaften Überlieferung in der Volkssprache gibt: Hier finden sich die unschätzbaren missing links, die das generische Umfeld erhellen. Was für das ‘Ludwigslied’ karolingische Zeitdichtungen wie Angilberts Lied auf die Bruderschlacht zu Fontenoy, ist für ‘DH’ die Mitüberlieferung in der Cambridger Sammlung, für das ‘Annolied’ der

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weite Rahmen zeitgenössisch-lotharingischer Historiographie in Vers und in Prosa. Gemeinsam ist ihnen allen, über Epochen- und Sprachgrenzen hinweg, die zeitgeschichtliche Thematik und publizistische Funktion, die sie pointiert zu ‘engagierter’ oder Tendenzliteratur auf dem Boden der frühmittelalterlich-universalen, sakralen Herrschafts- und Geschichtsauffassung macht. 8. Literatur: L. Bornscheuer, Miseriae regum. Untersuchungen zum Krisen- und Todesgedanken in den herrschaftstheologischen Vorstellungen der ottonisch-salischen Zeit, Berlin 1968, bes. S. 81-85; H. Christensen, Das ahd. Gedicht ‘DH’, Kopenhagener Beiträge zur germanist. Linguistik 10 (1978) S. 18-32; E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948; M. Diebold, Das Sagelied. Die aktuelle deutsche Heldendichtung der Nachvölkerwanderungszeit, Bern u.a. 1974, S. 16-18; M.-L. Dittrich, ‘DH’, ZDA 84 (1952/53) S. 274-308; A. Ebenbauer, Heldenlied und ‘Historisches Lied’ im Frühmittelalter – und davor, in: Heldensage und Heldendichtung im Germanischen, S. 15-34; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 236-241; J. Fried, Mündlichkeit, Erinnerung und Herrschaft. Zugleich zum Modus ‘DH’, in: Political thought and the realities of power in the Middle Ages / Politisches Denken und die Wirklichkeit der Macht im Mittelalter, hg. v. J. Canning und O. G. Oexle, Göttingen 1998, S. 9-32; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 182-189; M. Herweg, Ludwigslied, DH, Annolied. Die deutschen Zeitdichtungen des frühen Mittelalters im Spiegel ihrer wissenschaftlichen Rezeption und Erforschung, Wiesbaden 2002, S. 181-270; W. Jungandreas, ‘DH’, LB 57 (1968) S. 75-91; K. Kellermann, Lückenbüßer? ‘DH’ im Geflecht spätottonischer Repräsentationszeugnisse, in: Figuren der Ordnung. Beiträge zu Theorie und Geschichte literarischer Dispositionsmuster, in: FS Ulrich Ernst, hg. v. S. Gramatzki und R. Zymner, Köln u.a. 2009, S. 19-35; Th. Klein, ‘DH’ und die altsächsische Sentenz Leos von Vercelli. Altsächsisch in der späten Ottonenzeit, in: Architectura poetica. FS Johannes Rathofer, S. 45-66; K. Langosch, ‘Carmina Cantabrigiensia’, in: ²VL I, Sp. 1186-1192; D. R. McLintock, ‘DH’, in: ²VL III, Sp. 928-931; H. Meyer, ‘DH’, JVNBSp 23 (1897) S. 70-93; E. Ochs, Ambo vos aequivoci. Zur Abfassungszeit des ahd.-lat. Heinrichslieds, ZDPh 66 (1941) S. 10-12; R. Priebsch, Deutsche Handschriften in England I, Erlangen 1896, S. 20-27; W. Sanders, Imperator ore iucundo saxonizans. Die altsächsischen Begrüßungsworte des Kaisers Otto in ‘DH’, ZDA 98 (1969) S. 13-28; H.-J. Schiewer, Ludwig, Otto, Heinrich und das Schneekind. Hofliteratur und Klerikerkultur im literarischen Frühmittelalter, in: Literatur, Geschichte, Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft, in: FS Volker Honemann zum 60. Geburtstag, hg. v. N. Miedema, Frankfurt/M. u.a. 2003, S. 73-88; J. Schneider, Heinrich und Otto. Eine Begegnung an der Jahrtausendwende, AKG 84 (2002) S. 1-40; J. Schneider, Latein und Althochdeutsch in der Cambridger Liedersammlung: CC 19 und 28, in: Volksspr.-lat. Mischtexte, S. 297-314; W. Seelmann, ‘DH’. Ein lateinisch-altsächsisches Gedicht v. J. 952, JVNSp 12 (1886) S. 75-89; W. Seelmann, ‘DH’. JVNSp 23 (1897) S. 94-102; M. Uhlirz, Der Modus ‘DH’ und sein geschichtlicher Inhalt, DVJS 26 (1952) S. 153-161; W. v. Unwerth, Der Dialekt des Liedes ‘DH’, PBB 41 (1916) S. 312-331.

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‘Heliand’ 1. Überlieferung: Die altsächsische poetische Evangelienharmonie, die ihren heutigen Titel ‘Heliand’ („Heiland, Erlöser“) vom Erstherausgeber J. A. Schmeller (1830) empfing, ist in zwei Hss. und (inzwischen) vier Fragmenten überliefert, allerdings nicht vollständig. Der Text bricht mit v. 5968 (C) bzw. v. 5983 (M) ab. Die Überlieferung beginnt um die Mitte oder kurz nach der Mitte des 9. Jh.s und endet erst in der 2. Hälfte des 10. Jh.s mit einer in England gefertigten Abschrift. Es hat mindestens noch eine weitere, wahrscheinlich mit Naumburg zu verknüpfende Hs. gegeben, aus der der protestantische Apologet M. Flacius Illyricus für seine 1562 erschienene 2. Auflage des ‘Catalogus testium veritatis’ eine lat. Praefation übernahm, und die u.a. auch Luther und Melanchthon bekannt war. Die Handschriften: (vgl. O. Behaghel – B. Taeger, Heliand, S. XVII-XXIV): M = München, BSB Cgm 25, aus der Bamberger Dombibliothek stammend, um 850 in Corvey geschrieben (B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 112-119), mit zahlreichen Lücken durch Blattverlust, darunter anscheinend am Schluss zwei ganze Lagen. Wie andere bedeutende Handschriften könnte M aus dem Besitz der Ottonen in ihre Gründung Bamberg gelangt sein; P = Fragment,ursprünglich in Prag, UK; heute in Berlin, Bibliothek des Deutschen Historischen Museum R 56/2537 (aus dem Einband eines 1598 zu Rostock gedruckten Buchs), um oder bald nach 850 geschrieben (B. Bischoff, FMSt 5 [1971] S. 128), enthält v. 958-1006; L = Fragment, Leipzig, UB Thomas 4073 (MS), abgelöst aus dem Einband eines Buches, das zwei 1608 und 1609 zu Wittenberg gedruckte Schriften umfasste, aus dem Bestand der Thomas-Kirche, Niederdeutschland 9. Jh. Mitte oder danach; nach Schrift, Größe, Einrichtung evtl. aus dem gleichen Codex wie P; enthält v. 5823-5870. Vgl. H. U. Schmid, ZDA 135 (2006) S. 309-323; H. U. Schmid, ZDA 136 (2007) S. 376-378; H. Sahm, ZDPh 126 (2007) S. 81-98; I. Rauch 2006; C. Sipione 2009); S = Fragment, München, BSB Cgm 8840 (aus dem Einband einer 1493 zu Nürnberg gedruckten SchedelschenWeltchronik, aufbewahrt in der Bibliothek am Johann-Turmair-Gymnasium Straubing), um oder bald nach 850 geschrieben (B. Bischoff, PBB 101 [1979] S. 174), enthält vv. 351-360, 368-384, 492-582, 675-683, 693-706, 715-722. Sprachlich stammt S aus dem nördlichen Teil des (engrischen) Mittelbereichs des as. Sprachraums (O. Behaghel – B. Taeger, Heliand, S. XXII). Als mögliche Herkunftsorte werden etwa Bremen, Wildeshausen oder Verden erwogen (Th. Klein 1990, S. 219); V = Exzerpte, eingetragen (f. 27r und 32v) zusammen mit Auszügen aus der Ú ‘Altsächsischen Genesis’ in die im frühen 9. Jh. in Mainz geschriebene und von dort in die Heidelberger Palatina gekommene komputistische Sammelhandschrift Rom, BAV Pal. lat. 1447, geschrieben im 3. Viertel des 9. Jh.s von Schreibern, die der Urkundenschrift kundig waren, vielleicht von Schreibern aus der Umgebung des Erzbischofs (B. Bischoff, FMSt 5 [1971] S. 128f.), evtl. Liutberts (863-889), dem Ú Otfrid von Weißenburg sein ‘Liber evangeliorum’ zur Approbation vorlegte. Die Fragmente enthalten v. 1279-1358. Die Auswahl der GenesisExzerpte, die das Thema der superbia, des Ungehorsams und des Aufstandes (hier der abtrünnigen Engel) gegen den Herrn umkreisen, und der Heliand-Exzerpte, welche Teile der Bergpredigt mit ihren an edle Männer gerichteten, als „Weisheitsworte“ deklarierten Aufrufe zu

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kluger Sanftmut und fehdelosem Frieden wiedergeben, dürfte von katechetisch-paränetischen Motiven gesteuert worden sein (U. Schwab, AION 17 [1974] S. 114f.; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 291f.); C = London, BL Cotton Caligula A. VII, geschrieben in der 2. Hälfte des 10. Jh.s in Südengland von einem angelsächsischen Schreiber (vgl. zuletzt U. Schwab 1988, S. 84), dem auch gelegentlich ae. Sprachformen in die Feder flossen.

B. Taeger hat – soweit es die nicht überschneidenden Textmengen der Fragmente zulassen – im Anschluss an G. Baesecke überzeugend ein Stemma wahrscheinlich gemacht, in dem CP (jetzt wohl mit L) und MS näher beieinanderstehen und über eine Zwischenstufe *CM auf den Archetyp zurückgehen, aus dem V selbstständig und fernerstehend abzuleiten ist. Da dieses Stemma neben den erhaltenen 6 Zeugen noch mindestens 4-5 Handschriften voraussetzt, muss für die Zeit der 2. Hälfte des 9. Jh.s mit einer lebhaften Rezeption dieser nur auf den altsächsischen Sprachraum zielenden Dichtung gerechnet werden. 2. Ausgaben – Abbildungen – Übersetzungen: Reiches Abbildungsmaterial in: B. Taeger (Hg.), Der Heliand. Ausgewählte Abbildungen zur Überlieferung. Mit einem Beitrag zur Fundgeschichte des Straubinger Fragments von A. Huber, Göppingen 1985; vgl. ferner J. H. Gallée, As. sprachdenkm. (Faksimilesammlung), Tafel 1a-1c und 17a-17 b; E. Petzet – O. Glauning, Dt. Schrifttafeln, I, Tafel 17; P. J. Becker – E. Overgaauw (Hgg.), Aderlass und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln, Mainz 2003, S. 29. – Ausgaben: Editio princeps von J. A. Schmeller (Hg.) Heliand, poema Saxonicum ..., I, II, München/Stuttgart/Tübingen 1830, 1840. Heute maßgebende Ausgabe: Heliand und Genesis. Hg. v. O. Behaghel, 10. überarbeitete Aufl. von B. Taeger, ATB 4, Tübingen 1996; Teilausgabe: B. Taeger (Hg.), Der Heliand. Studienausgabe in Auswahl, ATB 95, Tübingen 1984. – Übersetzungen (Auswahl): F. Genzmer, Heliand und die Bruchstücke der Genesis. Aus dem Altsächsischen und Angelsächsischen übertragen, zuerst Leipzig 1948, zuletzt Stuttgart 1989 (Reclams UB 3324) [in archaisierendem Sprachkleid]; G. R. Murphy (Hg.), The Heliand, the Saxon Gospel. A Translation and Commentary, New York/Oxford 1992; J. E. Cathey (Hg.), Hêliand: Text and Commentary, Morgantown (West Virginia) 2002; E. Vanneufville (Hg.), Heliand: l’Évangile de la mer du nord, Turnhout 2008; Teilübersetzungen in: H. D. Schlosser, Ahd. Lit. (vv. 1279-1380, 2728-2799, 3981-4004, 4925-5038, 5427-5531); W. Haug – B. K. Vollmann, Frühe dt. Lit., S. 64-71, 1084-1089 (vv. 4270-4377); St. Müller, Ahd. Lit., S. 162-169, 176-177, 347-348, 350 (vv. 4278-4360, 16001620).

3. Praefatio: Die von M. Flacius Illyricus zuerst 1562 aus einer verlorenen HeliandHs. (s.o.) gedruckte ‘Praefatio in librum antiquum lingua Saxonica conscriptum’ (samt dem Anhang der ‘Versus de poeta et interprete huius codicis’) wird heute allgemein auf die altsächsische Evangelienharmonie – partiell auch auf die ‘Altsächsische Genesis’ – bezogen. Die Texte sind genuin frühmittelalterlich, wenn auch unterschiedlich zu datieren. Die ‘Versus’ zunächst – nach ihrer Reimtechnik (binnengereimte Hexameter) vermutlich erst ins späte 9. Jh. zu setzen (vgl. K. Strecker,

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Studien zu karolingischen Dichtern IV, NA 44 [1922] S. 228f.) – begründen die Leistung des Dichters aus einem Mirakel: Er sei – ganz wie in der von Beda in seiner Historia ecclesiastica gentis Anglorum (IV, 24) erzählten Legende des poeta Caedmon – Landmann gewesen und habe sich nur dem beschaulichen Landleben hingegeben. Da mahnte ihn im Schlaf die göttliche Stimme, nicht länger die Zeit zu vergeuden, sondern „in die eigene Sprache“ die „erhabenen Lehren“ der göttlichen Schriften und Gesetze zu übersetzen. Und ohne Aufschub wurde der vates mit mächtiger Liebe zur Kunst des Gesangs erfüllt und verfasste in metrischer Sprache gelehrte Lieder. Er begann mit dem ersten Anfang der werdenden Welt, durcheilte die fünf Alter der vorübergleitenden Zeit. So kam er bis zur Ankunft Christi, der die Welt mit seinem Blut erlöste. – Diese Verse, die jede historische Motivation verweigern, könnten durchaus einem alttestamentarischen Epos als Vorrede gedient haben. Demgegenüber bettet die Prosa-Praefatio – zumindest im ersten Teil (A) – Dichter und Werk in konkrete und plausible historische Zusammenhänge ein: Ein Augustus Ludowicus habe sich, nachdem er die sonstigen Angelegenheiten der res publica geordnet hatte, sich den Bedürfnissen der religio und der salubritas amimarum, dem Heil der Seelen, zugewendet. Indem er sich täglich darum sorgte, das ihm von Gott unterstellte Volk in weiser Unterrichtung zu bessern, nociva aber und superstitiosa zu unterdrücken, hat er, nachdem bisher die Kenntnis der divini libri nur den Schreibund Lesekundigen zugänglich war, begonnen, allem Volk, das seiner Herrschaft unterworfen ist und die Theudisca lingua spricht, die Kenntnis der göttlichen Schriften zu verschaffen. Den Auftrag, dies in der germanica lingua auszuführen, gab er einem bekannten vates aus der gens der Sachsen, der dies gehorsam more poetico ausführte. Wie immer man die Frage der Identifizierung des Herrschers mit Namen Ludwig betrachtet, auf jeden Fall können wir diesem – analog synodalen und konziliären Texten und Urkunden-Arengen – in karolingischer Staatssprache gehaltenem, quasi offiziösen Text die Tatsache eines herrscherlichen Programms zur Übersetzung heiliger Schriften für alle, die die lingua theudisca sprechen, entnehmen, das im ‘Heliand’ nur in der lingua germanica für die gens der Sachsen ausgeführt vorliegt. Der Begriff der germanica lingua ist hier vermutlich nicht nur synonym zu theodiscus, sondern ruht auf der vor allem in Fulda auf der Grundlage der Rezeption der ‘Germania’ des Tacitus profilierten Gleichsetzung von Germani und Sachsen auf. Diesem Teil der Praefatio folgt ein zweiter Teil (B), der sich durch stilistische Unterschiede und logische Brüche sowie durch seinen penetrant belehrenden, pastoralen Impetus von der sonstigen, klar formulierten, gekonnt mit rhythmischen clausulae versehenen Prosa A abhebt (dazu zuletzt W. Haubrichs, in: Ludwig der Deutsche und seine Zeit, S. 221-223). Er führt – ungeachtet der vorher gegebenen historischen, herrscherlichen Motivation – in völligem Gleichklang mit der mirakulös-legendarischen Konzeption der ‘Versus’ die Entstehung des Werkes und die Befähigung des Dichters auf göttliche Ermahnung im Schlafe zurück. Angesichts dieser Wider-

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sprüche wird man von einer Interpolation des B-Teils mit dem Ziel einer – nur notdürftig gelungenen – Verbindung von ‘Versus’ und Praefatio ausgehen, vielleicht unternommen zum Zwecke einer Gesamtausgabe von ‘Genesis’ und ‘Heliand’. Der Interpolationsbefund kann meines Erachtens nicht durch von einem Teil der Forschung vertretene Hilfskonstruktionen, wie, es werde „die altsächsische Bibelepik hier theologisch, d.h. überhistorisch legitimiert“, ausgeräumt werden. Die Widersprüche zwischen enthistorisierendem Mirakel und herrscherlichem Auftrag sind keineswegs „aufgehoben durch die Absolutheit des Transzendenten“. Vgl. E. Hellgardt, in: Literaturlexikon, hg. v. W. Killy, V, S. 200; O. Behaghel – B. Taeger, Heliand, S. XXXVI f.; zuletzt E. Hellgardt, in: Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach, S. 199-206. Die Identifizierung des die Bibeldichtung veranlassenden Ludowicus piisimus Augustus ist umstritten. Auf Grund der Zeitsignale im Text (z.B. imperii tempore ‘zur Zeit des Reichs’, d.h. vor 840?) wird der zum Zeitpunkt der Abfassung der Vorrede als lebend gedachte Herrscher mit König Ludwig dem Deutschen (833-876, seit 843 offiziell Herrscher des gesamten Ostfränkischen Reichs) gleichgesetzt, für den durchaus ‘imperiale’ und ‘augustale’ Epitheta in Urkunden und Panegyrik von den Zeitgenossen gebraucht wurden (vgl. W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 274-279; W. Haubrichs, in: Ludwig der Deutsche, S. 223f.). Teilweise gegnerische Position missverstehend werden diese Textsignale von anderen Forschern für unbedeutend und anders interpretierbar gehalten, um an der an sich ja zunächst durchaus naheliegenden Identifizierung mit Kaiser Ludwig dem Frommen (814-840) festhalten zu können (vgl. O. Behaghel – B. Taeger, Heliand, S. XXXVI; E. Hellgardt, in: Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach, S. 194-199). Die Praefatio ist durch enge terminologische und stilistische Parallelen mit dem Kreis um den Fuldaer Abt (822-840) und späteren Erzbischof von Mainz (847-856) Hrabanus Maurus verbunden, der ‘Heliand’ durch die Benutzung von dessen Matthäus-Kommentar und der zentralen, mit Fulda liierten Quelle der Evangelienharmonie des Tatian ebenfalls. 4. Gattung und Form: Die – nach Otfrids Liber Evangeliorum (7.104 Verse) – auch unter Einschluss der lateinischen Literatur umfangreichste Dichtung der Karolingerzeit gehört zusammen mit Otfrids Werk, der Endzeitdichtung des bairischen Ú ‘Muspilli’ und mit den kleineren Texten – Ú ‘Psalm 138’ und Ú ‘Christus und die Samariterin’ – zur sich im 9. Jh. entfaltenden volkssprachigen Bibeldichtung. Wie das ‘Muspilli’, aber anders als etwa Otfrid, nutzt der ‘Heliand’ die Stabreimform der Poesie der germanischen gentes, hier in einer sehr entwickelten Form, dem Hakenstil mit seinem die Zeilen brechenden Enjambement, der auch eine Komplizierung der Syntax mit sich bringt: Im ‘Heliand’ können syntaktische Einheiten bis zu 19 Langzeilen umfassen. Die unmittelbare Folge ist eine Zunahme der hypotaktischen Satz-

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strukturen, die dennoch von diesem Meister der Verskunst, der der Heliand-Dichter ist, stets im Fluss gehalten werden. Eine weitere Folge ist die Zunahme indirekter Rededarbietung – im altsächsischen Epos entwickelt sich direkte Rede geradezu als Stileigentümlichkeit fast nur aus vorhergehender indirekter Rede heraus. Zudem schwellen in seinem Stil die Silbenzahl der Verse, ihre Takte und Auftakte an: der ‘Heliand’ nützt diese den Rhythmus verlangsamenden „Schwellverse“ zur Akzentuierung feierlicher Stellen. Schließlich unterstützt gesteigerte, gegenüber den älteren Stabreimdichtungen nicht mehr inhaltlich die Handlung vorantreibende, sondern in statischer Synonymik verharrende Variation das Wogende und Drängende, den Vortrag sicherlich Belebende dieses Epenstils. Das Kolorit der heimischen Adelskultur, die Farben aus der Welt der Grundherrschaften, die Schilderung der Feste großer Herren, die Evokation der kriegerischen Prägung der zeitgenössischen Oberschicht verleihen der Dichtung an vielen Stellen einen in eigentümlichem Kontrast zur Welt des Evangeliums stehenden archaischen Reiz, so wenn das der Geburt Christi in Bethlehem vorausgehende Census-Gebot des Augustus als ban endi bodskepi (‘Bann und Gebot’) verkündet wird, die Betroffenen sich zu ihrem ôdil (‘Heimsitz’) und hantmahal (‘Erbsitz’) aufmachen, zu den „Burgen“ ihrer Heimat wandern und Schreiber eine „Zinsliste“ anlegen, in der sie „sämtliche Namen, Land und Leute“ verzeichnen. Wie selbstverständlich erscheinen die Jünger Jesu als „Gefolgsleute“ – wenn auch eines himmlischen Königs. Diese zeitgenössische Kolorisierung im Sinne der adligen Standesdichtung, die Nutzung ihrer Formeln, Vokabeln und Formen darf nicht im Sinne älterer Forschung als „Germanisierung des Christentums“ missverstanden werden (zuletzt nochmals G. R. Murphy, The Saxon Saviour 1989), sie steht in der schon dem antiken Christentum vertrauten Tradition der Akkomodation der christlichen Lehre an die Kultur der jeweiligen Adressaten, wie J. Rathofer (1962) nachwies. Sie legitimiert sich aber in ihren Freiheiten, Erweiterungen und Kürzungen gegenüber dem evangelischen Stoff auch aus den in den Klosterschulen der Zeit kanonisch gelesenen spätantiken Bibeldichtungen des Ú Arator, Ú Juvencus und Ú Sedulius (vgl. D. Kartschoke, Altdt. Bibeldichtung; R. Herzog, Die Bibelepik). A. Heusler hatte den ‘Heliand’ wegen seiner komplexen und entwickelten Formkunst als späten Abkömmling der angelsächsischen religiösen Epik aufgefasst, die freilich erst aus dem 10./11. Jh. überliefert ist. Es finden sich – wie D. Hofmann (ZDA 89 [1958/59] S. 173-190) nachwies – keine direkten Einflüsse auf den ‘Heliand’, eher scheinen Übernahmen (‘Crist III’) in die umgekehrte Richtung zu laufen, wie ja auch der ‘Heliand’ im 10. Jh. (neben der ‘Altsächsischen Genesis’) in England rezipiert wurde.

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5. Inhalt und Quellen: Die Hauptquelle des altsächsischen Epos von Leben, Lehren und Leiden des Erlösers ist die in Fulda im Original liegende, von dort aus ausstrahlende und um 830 ins Althochdeutsche übersetzte lateinische Übersetzung der Evangelienharmonie des Syrers Ú Tatian. Die Dichtung ist nach dem handschriftlichen Befund, mit dem auch wieder das neu aufgefundene Fragment L übereinstimmt, in Fitten (vitteae) eingeteilt, welche die Praefatio auf den Dichter und die Formtradition der einheimischen Dichtung zurückführt, wozu Parallelbefunde in Altengland stimmen. Den Begriff ‘Fitten’ verdeutlicht die Praefatio durch Lektionen (lectiones) und Sinnabschnitte (sententiae) und fügt hinzu: „Damit aber der eifrige und interessierte Leser/Vorleser (lector) um so leichter die einzelnen [biblischen] Ereignisse auffinden kann, wurden den einzelnen Sinnabschnitten (sententiis), wie es der Zweck dieses Werkes erfordert, die biblischen Kapitula beinotiert“. Der ‘Heliand’ folgt Tatian nicht streng, sondern kürzt und rafft an manchen Stellen, so durchweg die Wunder und Gleichnisse. In großer Breite werden dagegen die Lehren der Bergpredigt (Fitte 16-23) geschildert, während Christus als Recht und Normen setzender, Gut und Böses scheidender Herrscher (thiodo drohtin ‘Herr der Völker’) auftritt, die aus einer Art Ratsversammlung der Apostel hervorgeht, mit Nachdruck die Verklärung auf dem Berge Tabor, welche die Gottnatur Christi ebenso unterstreicht wie die spätere Auferweckung des Lazarus (Fitte 49). Wo sich Gelegenheiten bieten, wird der Bezug zur Lebenswirklichkeit des zeitgenössischen Adels in variierender Technik ausgearbeitet, die Stil- und Denkformen der ererbten Standesdichtung dem evangelischen Stoff adaptiert, z. B. beim Geburtstagsfest des Herodes (v. 2728ff.), bei der Charakterisierung der Gottesmutter als Leid ertragende heroische Frau (v. 492ff.), bei der Geburt des Täufers (v. 94ff.), bei der Schwerttat des Petrus gegen den Kriegsknecht Malchus (v. 4681ff.). (vgl. W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 281-286; W. Haubrichs, in: Orality and Literacy). In der Schilderung der Passion, die sowohl in M als auch in C als Neueinsatz gekennzeichnet wird, schließt sich der Text wieder näher an Tatian an, schiebt jedoch die Legende von der Frau des Pilatus ein, die unter Einfluss des Teufels von der Verurteilung Christi abrät, um den Kreuzestod und damit die Errettung der Menschen zu verhindern. Die nur in M in einem Bruchstück erhaltene Himmelfahrts-Szene war vielleicht – wie im Tatian – als Abschluss der Dichtung gedacht. Gelegentlich weist der Heliand-Dichter auf den pastoralen Sinn von Szenen hin, aber nur einmal – und das mit starkem intentionalem Akzent – erschließt er breiter die allegorische, über das historische Erlösungsgeschehen hinausweisende Sinnebene: Die ‘Blindenheilung von Jericho’ (Fitte 44) weist voraus auf die Heilung und Errettung der heilsblinden Menschheit durch Christi Erlösungstat. Dass in den ‘Heliand’ Interpretationen der angelsächsischen und karolingischen Bibelkommentare (Beda, Alkuin, Matthäuskommentar), vielleicht sogar irischer Exegese eingeflossen sind, ist wahrscheinlich gemacht worden; ebenso die Benutzung

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verbreiteter Apokryphen (z. B. für Geburt, Anbetung der Magier, Kreuzigung); dazu kommen enzyklopädisches Sachwissen und gelegentlich geographische Kenntnisse. Dass der non ignobilis Vates (Praefatio) dieses Wissen nur durch Berater aufgenommen hat, ist schwer zu glauben, obwohl die ‘Mündlichkeit’ des Autors neuerdings wieder intensiv diskutiert wird (vgl. vor allem H. Haferland, Euphorion 95 [2001] S. 237-256; H. Haferland, GRM 52 [2002] S. 237-259; H. Haferland, ZDA 131 [2002] S. 20-48; H. Haferland, Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität, S. 2572; H. Haferland, JVNSp 129 [2006] S. 7-41). Doch muss er nach Ausweis seines Epos intensiv mit der Technik, Metrik, Rhetorik, Stilistik und Motivik der supragentilen germanischen Helden- und Adelsdichtung seiner Zeit vertraut gewesen sein, wie dies ja auch die Praefatio angibt. 6. Sprache, Herkunft, Adressaten: Für die älteren Handschriften des ‘Heliand’ lässt sich nur in einem Fall (M aus Corvey) eine Herkunft sichern, was bei der stark gestörten Überlieferung im niederdeutschen Raum auch kaum anders zu erwarten ist. Sprachliche Untersuchung hat bisher auch nur auf der Ebene der Handschriften zu Ergebnissen geführt, die zeigen, dass mit rascher landschaftlicher Umformung des Textes, z.T. auch mit Spannungen zwischen dialektal gebundenen Schreibsprachen und konservativer, wohl gattungsorientierter Traditionssprache zu rechnen ist. Bei dieser Sachlage lässt sich für die sprachliche Beurteilung des Archetyps der Dichtung wenig gewinnen: man rechnet mit einer fränkischen graphemischen Überformung des altsächsischen Lautstandes, wozu sich lexikalische Züge des südwestlichen Altsächsischen fügen; der Dichter gebrauchte den für die Kölner Kirchenprovinz charakteristischen Begriff pascha (‘Ostern’) und das nur im Rheinischen lebendige keltoromanische Lehnwort leia (‘Fels’). Die Einteilung in Fitten, also Lektionen, spricht für den praktischen Vortragsgebrauch, von dem auch die Praefatio spricht. Die Heraushebung der Versanfänge durch Vergrößerung der Buchstaben, die in allen Handschriften mehr oder minder systematische Gliederung durch Punkte am Langzeilenende, die auf den mündlichen Vortrag bezogene Setzung von Akzenten in M, V, S und die musikalischen Vortrag anzeigende Neumierung von Partien der Hs. M (v. 310-313 – wie bei Otfrid P im Rahmen der Verkündigungsszene) lassen wenig Zweifel an ihrer Funktion (vgl. O. Behaghel – B. Taeger, Heliand, S. XXV-XXIX). Den Vortrag des Epos in Lektionen kann man sich vorstellen im Rahmen erbaulicher Tischlesungen in Klöstern und Stiftern des altsächsischen Raumes, gerichtet auch an weniger oder gar nicht des Lateins kundige Brüder. Die Handreichung der Adnotation von capitula für den Lektor, den die Praefatio erwähnt, weist in gleiche Richtung. Doch zeigt die Vorrede als Ziel des Ludovvicus piissimus Augustus auch das in die Sorge um das Seelenheil aller seiner Untertanen eingeordnete Bestreben, „nicht länger nur den Latein- und Schreibkundigen, sondern auch den Illiteraten die heilige Lesung der göttlichen Gesetze eröffnet

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werde“, Wenn sich der ‘Heliand’ der traditionellen Formen heimischer Dichtung bedient und darüber hinaus gerade jene ästhetischen Reize hervorgehoben werden, welche er dem Hörenden entfaltet, so richtete er sich auch an den durchweg schriftunkundigen sächsischen Adel. Für den karolingischen Adel sind durchaus Kapläne und Priester bezeugt, die diese sacra lectio für ihn zu bewerkstelligen imstande waren. 7. Rezeption: Die recht hohe Anzahl der erhaltenen bzw. zu erschließenden HeliandHandschriften zeigt, dass man mit einer raschen Ausbreitung des Werkes seit etwa 850 rechnen muss, was wohl kaum ohne die lebhafte Förderung des Königtums zu denken ist. Mit den Auszügen in V – bestimmt wohl zu paränetischen Zwecken – gelangen sie noch vor 875 in den Umkreis des Mainzer Erzbischofs. Die eng zueinander gehörigen Fragmente P und L weisen volkssprachige Glossen (z.T. für lexikalische Archaismen) auf. M zeigt mit lat. Randglossen noch Gebrauchsspuren des 10. Jh.s; und – wohl im Rahmen der vom Kontinent mitgetragenen angelsächsischen Kirchenreform – erreicht das as. Bibelepos in der 2. Hälfte dieses Jh.s auch noch England. 8. Literatur: Für ältere Forschungsliteratur vgl. den Artikel ‘Heliand’ von B. Taeger in 2VL III und die Einleitung seiner Edition O. Behaghel – B. Taeger 1996. – C. Arnett – K. Wolf, Fidelity in ‘Der Heliand’, in: Ain güt geboren edel man, hg. v. G. L. Shockey, Göppingen 2011, S. 1-37; P. Augustyn, The Semiotics of Fate, Death and the Soul in Germanic Culture: the Christianization of Old Saxon, Frankfurt/New York u.a. 2002; B. Bischoff, Die Schriftheimat der Münchener Heliand-Handschrift, PBB 101 (1979) S. 161-170 (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 112-119); B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134; B. Bischoff, Die Straubinger Fragmente einer Heliand-Handschrift, PBB 101 (1979) S. 171-180; K. Gantert, Akkomodation und eingeschriebener Kommentar. Untersuchungen zur Übertragungsstrategie des Helianddichters, Tübingen 1998; A. M. Guerrieri, La tecnica della citazione veterotestamentaria nell’‘Heliand’, in: Memoria biblica e letteratura, Napoli 2005, S. 145-166; H. Haferland, Der Hass der Feinde. Germanische Heldendichtung und die Erzählkonzeption des ‘Heliand’, Euphorion 95 (2001) S. 237-256; H. Haferland, Mündliche Erzähltechnik im ‘Heliand’, GRM 52 (2002) S. 237-259; H. Haferland, War der Dichter des ‘Heliand’ illiterat?, ZDA 131 (2002) S. 20-48; H. Haferland, Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität. Heldendichtung im deutschen Mittelalter, Göttingen 2004, S. 25-72; H. Haferland, Vermündlichte Schriftlichkeit und verschriftlichte Mündlichkeit. Zu Funktion und Entstehung von Hakenstil und Variation in der Stabreimdichtung, am Beispiel des ‘Heliand’, JVNSp 129 (2006) S. 741; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 272-287; W. Haubrichs, Ludwig der Deutsche und die volkssprachige Literatur, in: Ludwig der Deutsche und seine Zeit, hg. v. W. Hartmann, Darmstadt 2004, S. 203-232; W. Haubrichs, Rituale, Feste, Sprechhandlungen: Spuren oraler und laikaler Kultur in den Bibelepen des ‘Heliand’ und Otfrids von Weißenburg, in: Orality and Literacy in the Middle Ages: Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of D. H. Green, hg. v. M. Chinca – Ch. Young, Turnhout 2005, S. 37-66; E. Hellgardt, Praefatio in librum antiquum lingua Saxonica conscriptum, die Versus de poete et interprete huius codicis

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und die altsächsische Bibelepik, in: Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach, S. 173-230; E. Hellgardt, Heliand, in: Literaturlexikon, hg. v. W. Killy, V, 1990, S. 199-202; E. Hellgardt, Stab und Formel im Heliand. Sehr vorläufige Bemerkungen zu den Möglichkeiten eines Stabreimverzeichnisses, in: Analecta Septentrionalia 2009, S. 185-2010; R. Herzog, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike, München 1975; E. R. Hintz, Gendered attributes for spiritual warfare in the old ‘Saxon Heliand’, in: „Er ist ein wol gevriunder man”, hg. v. K. u. W. McConnell, Hildesheim 2009, S. 191-202; D. Hofmann, Die altsächsische Bibelepik ein Ableger der angelsächsischen geistlichen Epik?, ZDA 89 (1958/59) S. 173-190; D. Hofmann, Die as. Bibelepik zwischen Gedächtniskultur und Schriftkultur, in: Settimane di studio del centro Italiano di studi sull’alto medivero 32 (1986) S. 453-483 (= D. Hofmann, Gesammelte Schriften, I, Hamburg 1988, S. 528-558); D. Kartschoke, Altdt. Bibeldichtung; D. Kartschoke, Gesch. d. dt. Lit.; Y. Kawasaki, Eine graphematische Untersuchung zu den HeliandHandschriften, München 2004; Th. Klein, Die Straubinger Heliand-Fragmente: Altfriesisch oder altsächsisch?, ABÄG 31/32 (1990) S. 197-225; M. V. Koryšev, Christi Geburt in der Vulgata, im ‘Heliand’ und bei Otfrid aus sprachpragmatischer Sicht, in: Probleme der historischen deutschen Syntax unter besonderer Berücksichtigung ihrer Textsortengebundenheit, hg. v. F. Simmler u.a., Berlin 2007, S. 33-47; G. Mierke, Christliche Rhetorik im altsächsischen ‘Heliand’, in: Von vrenden, vrinden und vründen, hg. v. M. Denkler – J. Macha, Münster 2009, S. 273-282; G. Mierke, Memoria als Kulturtransfer. Der altsächsische Heliand zwischen Spätantike und Frühmittelalter, Köln/Weimar/Wien 2008 [dazu Rez. v. St. Müller, ZDA 139 (2010) S. 375-380]; G. R. Murphy, The Saxon Saviour. The Germanic Transformation of the Gospel in the ninthcentury Heliand, New York u.a. 1989; G. R. Murphy, The Old Saxon ‘Heliand’, in: Early Germanic Literature and Culture, hg. v. B. Murdoch – M. Read, Rochester NY/Woodbridge 2004, S. 263-283; J. Rathofer, Der Heliand. Theologischer Sinn als tektonische Form, Köln 1962; I. Rauch, The newly found Leipzig ‘Heliand’ fragment, in: Interdisciplinary Journal for Germanic Linguistics and Semiotic Analysis 11 (2006) S. 1-17; H. Sahm, Neues Licht auf alte Fragen. Die Stellung des Leipziger Fragments in der Überlieferungsgeschichte des ‘Heliand’, ZDPh 126 (2007) S. 81-98; H. Sahm, „Uuord endi uuerc“ in ‘Heliand’ und ‘Beowulf’ – ein Thema und seine Modifikation in der frühmittelalterlichen Epik, GRM 61 (2011) S. 1-23; A. Scheufens, Begriffe des Ethnischen im ‘Heliand’, ABÄG 60 (2005) S. 51-66; H. U. Schmid, Ein neues ‘Heliand’-Fragment aus der Universitätsbibliothek Leipzig, ZDA 135 (2006) S. 309-323; H. U. Schmid, Nochmals zum Leipziger ‘Heliand’-Fragment, ZDA 136 (2007) S. 376-378; U. Schwab, Ansätze zu einer Interpretation der altsächsischen Genesisdichtung I, AION 17 (1974) S. 111-186; U. Schwab, Einige Beziehungen zwischen altsächsischer und angelsächsischer Dichtung. Mit einem Beitrag von W. Binnig, Altsächsisch tǀm, angelsächsisch tǀm und althochdeutsch zuomi(g), Centro Italiano di studi sull’alto medoevo 8, Spoleto 1988; U. Schwab, Die vielen Kleider der Passion. Ihr Wechsel im ‘Tatian’, im ‘Heliand’ und auf dem ‘Ruthwell Cross’, in: U. Schwab, Weniger wäre ..., Wien 2003, S. 469-513; C. Sipione, Le glosse ‘impoetiche’ del testimone lipsiense del ‘Heliand’, in: LingFil 29 (2009) S. 151-177; S. Suzuki, The Metre of Old Saxon Poetry: The Remaking of Alliterative Tradition, Cambridge 2004; B. Taeger, Ein vergessener handschriftlicher Befund: Die Neumen im Münchener ‘Heliand’, ZDA 107 (1978) S. 184-193; B. Taeger, in: 2VL III, Sp. 958-971; H. Tiefenbach, Beobachtungen zu makrostrukturellen Gliederungssignalen in den ‘Heliand’-Handschriften, in: Strukturen und Funktionen. FS Franz

‘Hicila-Vers’

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Simmler, S. 351-369; F. Zehner, Zur Konstruktion der Feindschaft im ‘Heliand’: Verheißung und Erfüllung, in: Begegnung mit Literaturen, hg. v. P. Hörner – R. Wisniewski, Berlin 2008, S. 59-71.

WOLFGANG HAUBRICHS

‘Hicila-Vers’ 1. Überlieferung: Dreizeilige Griffelritzung in der Heidelberger Handschrift P des ‘Evangelienbuches’ Ú Otfrids von Weißenburg (cpl 52, f. 90r, bei Kap. III,12) mit dem (seit O. Behaghel anerkannten) Wortlaut Hicila / diu scona min filu / l[a]s (‘Die edle Hicila hat viel in mir gelesen’). W. Kleiber liest (wie vor ihm schon P. Piper) abweichend hicila diu scoaza nuiz filo (‘Die liebliche Hicila benutzte [dieses Buch] häufig’; vgl. W. Kleiber – E. Hellgardt, Otfrid II,2, S. 130). 2. Ausgaben: St. Müller, Ahd. Lit., S. 266f. (mit Übers.); W. Kleiber – E. Hellgardt, Otfrid II,2, S. 130. – Faksimile: V. Schupp, Freiburger Universitätsblätter 136 (1997) S. 76 (Abb. 19); vgl. PadRep.

3. Form und Inhalt: Der ahd. Satz ist durchaus formbewusst wie eine epische Langzeile mit einer Fuge zwischen An- und Abvers gestaltet (vgl. R. Schützeichel, S. 48; dazu kritisch V. Schupp, 1991, S. 453). Er personifiziert das Buch und lässt es über seine Leserin sprechen. Nach St. Müller handelt es sich bei der Heidelberger OtfridHandschrift daher um „das erste und bei weitem früheste sprechende Buch in deutscher Sprache“ (S. 390). Ob lat. Buchtitel oder antike Vorbilder die Personifizierung inspiriert haben (vgl. R. Schützeichel, S. 50f.), muss offen bleiben. Die ältere Forschung hat K gelesen und den Namen unter der Annahme, dass das Binnen-c für s steht, als Kicila (‘Gisela’) gedeutet (ebd., S. 51-55). Sie hat daraus u. a. die Schlussfolgerung gezogen, dass sich die offenbar an volkssprachigen Andachtsbüchern interessierte Kaiserin Gisela, Konrads II. 1043 verstorbene Frau, das ‘Evangelienbuch’ bei einem Besuch in St. Gallen (1027) oder auf der Reichenau (1025) ausgeliehen und es intensiv gelesen hat, und dass ein Zeuge ihrer Lektüre (ein Mönch?) dann nachträglich diesen Eintrag (zur Schonung der kostbaren Handschrift?) unauffällig ohne den Gebrauch von Tinte ins Pergament ritzte (vgl. W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 210, 342; zum Phänomen der Griffelglossierung E. Glaser, Frühe Griffelglossierung, S. 49-79). V. Schupp hat aber auf dem Wege einer eingehenden paläographischen Analyse inzwischen nachweisen können, dass nicht Kicila, sondern Hicila gelesen werden muss (vgl. V. Schupp, 1991, S. 454f.; ders, 1997, S. 75-77). Hicila war ein im Mittelalter geläufiger Frauenname und hat nichts mit ‘Gisela’ zu tun. Alle Spekulationen, die Griffelritzung belege, dass Kaiserin Gisela Otfrids ‘Evangelienbuch’ studiert habe oder dass die Griffelritzung mit einer Kicila in der schwäbischen Herzogsfamilie in Verbindung stehe und beweise, dass sich die Otfrid-Handschrift P im 10. Jh. in deren Besitz befunden habe (vgl. W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 342),

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sind somit obsolet. Wer Hicila war, ist unbekannt. Möglicherweise war sie eine adelige Dame (diu scona) oder eine Nonne, die lesen (und schreiben?) konnte und sich zur Erbauung und Meditation mit Otfrids volkssprachiger Evangeliendichtung beschäftigt hat (vgl. V. Schupp, 1991, S. 455). Denn seit der Karolingerzeit ging „die literarische Bildung der weiblichen Angehörigen der Oberschicht oft weit über das Elementare hinaus“ (W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 51), während die Männer (mit Ausnahme der Geistlichen) meistens nicht lesen konnten. Dass die unbekannte Otfrid-Leserin den Vers selber in den Codex eingetragen hat, ist eher unwahrscheinlich, denn sie hätte sich kaum selbst mit dem Attribut diu scona belegt. 4. Literaturhistorische Bedeutung: Der Vers ist ein wichtiges Zeugnis für die Rezeption von Ú Otfrids ‘Evangelienbuch’, denn er belegt die Privatlektüre (vgl. D. H. Green, S. 750; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 311; E. Meineke – J. Schwerdt, S. 152). Otfrid selber rechnete sowohl mit Hörern (seines vorgelesenen oder rezitativisch vorgesungenen) ‘Evangelienbuches’ als auch mit Lesern. Darauf deuten u. a. die vielen Vor- und Rückverweise sowie die zahlreichen Aufforderungen hin, von ihm nur gerafft wiedergegebene Bibelstellen im lat. Original selber nachzulesen (vgl. D. H. Green, S. 738-755; D. Kartschoke, Gesch. d. dt. Lit., S. 84-86, 154). Der Hicila-Vers ist insofern ein eindrucksvoller Beweis dafür, dass Otfrids Dichtung seiner Intention entsprechend sowohl im Kloster als auch in höfischen Kreisen zum Bibelstudium und zur geistlichen Erbauung nicht nur hörend, sondern auch auf dem Wege stiller Lektüre aufgenommen und die Heidelberger Handschrift als ‘Buch’ von einer einzelnen gebildeten Leserin studiert worden ist. 5. Literatur: O. Behaghel, Zu Otfrid, Germania 24 (1879) S. 382; D. H. Green, Zur primären Rezeption von Otfrids Evangelienbuch, in: Althochdeutsch, I, S. 737-771, S. 750; W. Haubrichs, Rez. zu R. Schützeichel (1982), ADA 96 (1985) S. 9-19; W. Haubrichs, Die alemannische Herzogsfamilie des 10. Jh.s als Rezipient von Otfrids Evangelienbuch? Das Spendenverzeichnis im Codex Heidelberg Palatinus lat. 52, in: FS Eduard Hlawitschka, hg. v. K. R. Schnith u. R. Pauler, Münchener Historische Studien, Abt. mittelalterliche Geschichte 5, Kallmünz 1993, S. 165-211; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 311; D. Kartschoke, Gesch. d. dt. Lit, S. 84-86, 154; W. Kleiber – E. Hellgardt, Otfrid I,2, S. 10; E. Meineke – J. Schwerdt, Einführung, S. 152; St. Müller, Ahd. Lit., S. 390; P. Piper, Otfrids Evangelienbuch, mit Einleitung, erklärenden Anmerkungen u. ausführlichem Glossar u. einem Abriss der Grammatik hg. v. Paul Piper, 2. durch Nachträge erw. Ausg., I. Teil: Einleitung u. Text, II. Teil: Glossar u. Abriss der Grammatik, Germanischer Bücherschatz 4, Freiburg i. Br./Tübingen 1882/1887, S. 45f.; R. Schützeichel, Codex Pal. lat. 52; V. Schupp, Kicila diu scona min filu las. Bemerkungen zur Georgsliedforschung, ZDA 120 (1991) S. 452-455; V. Schupp, Die Hilfe der Kodikologie beim Verständnis ahd. Texte. Vortrag zur akademischen Gedenkfeier für J. Autenrieth, Freiburger Universitätsblätter 136 (1997) S. 57-77.

HEIKO HARTMANN

Hieronymus-Glossierung

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Hieronymus, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Sophronius Eusebius Hieronymus, *347 in Stridon (Kroatien), † 30.09.420 in Betlehem, Kirchenvater, Heiliger, Gelehrter und Theologe der alten Kirche. Er gehört zusammen mit Ambrosius von Mailand, Augustinus und Papst Gregor I. zu den vier spätantiken Kirchenlehrern des Abendlandes. Hieronymus studierte in Rom bei dem berühmten Grammatiker Aelius Donatus Grammatik, Rhetorik und Philosophie, später in Konstantinopel unter dem griechischen Kirchenlehrer Gregor von Nazianz. Während seiner Studienzeit erwarb er sich herausragende Kenntnisse des Griechischen und Hebräischen, die für sein schriftstellerisches Wirken bedeutsam sind. Von 382 bis 384 war er Sekretär des Papstes Damasus I. Nach dessen Tod gründete Hieronymus in Betlehem vier Klöster, drei Frauen- und ein Männerkloster, dessen Leitung er übernahm und in dem er bis zu seinem Tod wirkte. Dort arbeitete Hieronymus bis zu seinem Tod als Übersetzer, Exeget und Theologe. Hieronymus war ein überaus produktiver Autor. Am bekanntesten wurde er als Verfasser der Vulgata, einer Bibelübersetzung ins Lateinische, die eine Korrektur der Vetus Latina (der „Italischen“ bzw. „Alten Lateinischen“ Version) bzw. der Itala war. Er übersetzte viele Bücher des AT nach der Septuaginta, also aus dem Altgriechischen. Ab 393 veröffentlichte Hieronymus eine Übersetzung des gesamten AT. Neben seiner Bibelübersetzung schrieb er Kommentare zu nahezu allen biblischen Schriften. Er verfasste auch zahlreiche Briefe und einen Schriftstellerkatalog (De viris illustribus). Zudem fertigte er eine überarbeitete lat. Fassung der Chronik des Eusebius von Caesarea an und setzte diese bis 378 fort. Damit stand der lateinischen Christenheit erstmals eine Darstellung der Geschichte von Abraham bis in die Gegenwart zur Verfügung. Die Schriften des Hieronymus übten in späteren Zeiten, besonders im Mittelalter, einen tiefgreifenden Einfluss auf die römische Kirche aus. Er blieb für das ganze Mittelalter die große Lehrautorität, besonders in Bibelfragen sowie für das asketische Leben wie das Klosterleben. Literatur: K. Schmuki, in: P. Ochsenbein – K. Schmuki – C. Dora, Kirchenväter in St. Gallen. Quellen zur lateinischen Patristik in der Stiftsbibliothek. Führer durch die Ausstellung in der Stiftsbibliothek St. Gallen, St. Gallen 1997, S. 38-49; P. Nautin, Hieronymus, in: Theologische Realenzyklopädie, XV, 1986, S. 304-315; M. Tilly, Hieronymus (Kirchenvater), in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, II, Hamm 1990, Sp. 818-821. – H. Schmid, Hieronymus, in: LexMA V, Sp. 2-4; M. Durst, Hieronymus, in: LThK VI, Sp. 9194; Pauly-Wissowa, VIII, 1565-1581; VL III, Sp. 1221-1233.

2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Basel, UB B. VI. 3 (BStK-Nr. 27): 2 Gll. (1 marginal, 1 interlinear) in Textglossierung zu Epistola ad Nepotianum; Sprache unbestimmt (Hs. Oberrhein), Glosse etwa zeitgleich mit Text 9. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 10. – 2. Berlin, SBPK Ms. theol. lat. 2º 119 (BStK-Nr. 54): 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Epistolae; Sprache unbestimmt (Hs. Südwestdeutschland), Glosse unda-

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Hieronymus-Glossierung

tiert (Hs. 11./12. Jh.). – Ed. StSG V, S. 28 (Nr. DCLXXXVIIIe). – 3. Berlin, SBPK Ms. theol. lat. 4º 139 (BStK-Nr. 58): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Prolog zur Bibel (Matth.-Ev.); as., 2. Viertel 9. Jh. (Hs. 1. Drittel 9. Jh. Werden). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 12. – 4. Bern, BB Cod. 257 (BStK-Nr. 63): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Exzerpten aus Hieronymus, Augustinus, Beda; Sprache unbestimmt; Glosse undatiert (Hs. 9./10. oder 1. Hälfte 10. Jh.). – Ed. StSG IV, S. 248 (Nr. MCCXLI). – 5. Einsiedeln, StB cod 32 (1060) (BStK-Nr. 112): 14 Kontextgll. in Textglossaren: 1 Gl. zu Prolog zur Bibel, Matth.Ev.; 9 Gll. zu Epistolae; 4 Gll. zu Adversus Jovinianum; alem., 10. Jh. als Teile der Glossare. – Ed. StSG II, S. 324f. (Nr. DCLXXXIV), 327 (Nr. DCLXXXIX), 334 (Nr. DCXCIII). – 6. El Escorial, Monasterio de San Lorenzo el Real. Biblioteca b.III.2. (BStK-Nr. 148): 37 Gll. in Textglossierung: 2 Interlineargll. zu Adversus Helvidium; 35 Gll. (33 interlinear, 1 marginal, 1 am oberen Rand) zu Epistolae; frk., 11. Jh.; – Ed. StSG II, S. 326 (Nr. DCLXXXVI). – 7. St. Gallen, StB 119 (BStK-Nr. 183): 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Kommentar zur Bibel (Michäas); Sprache unbestimmt, St. Gallen (Hs. 1. Hälfte 9. Jh.). – Ed. StSG II, S. 335 (Nr. DCXCV). – 8. St. Gallen, StB 126 (BStK-Nr. 184): 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Kommentar zur Bibel (Matth.-Ev.); Sprache unbestimmt, 9. Jh. (Hs. 2. Hälfte 8. Jh.). – Ed. CLA VII, S. 22, Nr. 910. – 9. St. Gallen, StB 127 (BStK-Nr. 185): 1 Gl. in Federproben mit Zusammenhang zu Kommentar zur Bibel (Matth.-Ev.); Sprache unbestimmt (Hs. St. Gallen), Glosse undatiert (Hs. um 800). – Ed. StSG II, S. 328 (Nr. DCXC); R. Bergmann, Zehn St. Galler Kleinigkeiten. Glossen zu allem möglichen außerhalb von Texten, in: Sprache und Dichtung in Vorderösterreich, S. 36. – 10. St. Gallen, StB 159 (BStK-Nr. 191): 18 Interlineargll. in Textglossierung zu Epistolae; Sprache unbestimmt (St. Gallen), 11. Jh. (Hs. 9. Jh.). – Ed. StSG II, S. 326f. (Nr. DCLXXXVII), 336 (Nr. DCXCVII). – 11. St. Gallen, StB 299 (BStK-Nr. 225): 29 Gll. in Textglossar zu Epistolae; alem., 2. Hälfte 9. Jh. als Teile des Glossars. – Ed. StSG II, S. 322f. (Nr. DCLXXXIIIa). – 12. St. Gallen, StB 558 (BStK-Nr. 234): 2 Gll. (1 interlinear, 1 marginal) in Textglossierung zu Vita S. Hilarionis; Sprache unbestimmt, wohl St. Gallen, Glossen undatiert (Hs. 1. Hälfte 9. Jh.). – Ed. StSG II, S. 737 (Nr. DCCCLXXXIX). – 13. Gotha, FB M I 17 (BStK-Nr. 267a): 5 Kontextgll. in Textglossar zu Epistolae; alem. ?, wohl Murbach; Glossen mit Glossar 3. Drittel 9. Jh. – Ed. E. Meineke, Die volkssprachigen Glossen und die Psalterbilingue der Handschrift Gotha Memb. I 17, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. Philol.-Hist. Klasse, Jahrgang 1993, Nr. 1, Göttingen 1993, S. 11-13. – 14. Innsbruck ULB 711 (BStK-Nr. 287): 3 Gll. in Textglossaren: 1 Gl. zu Epistolae, 2 Gll. zu Hieronymus und Gennadius von Marseille, De viris illustribus; bair.-alem., zeitgleich mit Hs. 13. Jh. – Ed. StSG IV, S. 333 (Nr. DCLXXXIIIc). – 15. Karlsruhe, BLB Aug. LII (BStK-Nr. 292): 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Epistolae; obd., 10. Jh. (Hs. 4. Viertel 9. Jh.).– Ed. StSG II, S. 327 (Nr. DCLXXXVIII). – 16. Karlsruhe, BLB Aug. IC [f. 37-52] (BStK-Nr. 296 I): 2 Gll. in Textglossar zum Matth.-Ev.; Sprache unbestimmt (Hs. Reichenau), Glossen undatiert (Hs. 8./9. Jh.). – Ed. StSG I, S. 708 (Nr. CCCLXVII). – 17. Karlsruhe, BLB Aug. CV (BStK-Nr. 297): 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Epistolae; Sprache unbestimmt (Hs. Lorsch), frühes 9. Jh. (Hs. 8./9. Jh.). – Ed. A. Holder, Die Reichenauer Handschriften, I, S. 276; H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 39. – 18. Karlsruhe, BLB Aug. CLXXVII (BStK-Nr. 308): 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Epistola ad Paulinum; Sprache unbestimmt, Glosse undatiert (Hs. 2. Drittel 9. Jh. Prüm). – Ed. StSG IV, S. 333 (Nr. DCLXXXVIIIb). – 19. Köln, HA GB fº 30 (BStK-Nr. 345b): 8 Interlineargll. in Textglossierung zur Praefatio zur Bibel (Genesis) und zur Genesis; Sprache

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unbestimmt (Hs. Köln), 12. Jh. – Ed. J. Vennebusch, Die theologischen Handschriften des Stadtarchivs Köln, V, Köln/Wien 1989, S. 137 (2 Gll.). – 20. Köln, EDDB Dom Hs. 57 (BStK-Nr. 347): 1 Interlineargl. zu Randscholie zu Kommentar zur Bibel (Matth.-Ev.); frk., gleichzeitig mit Text 1. Drittel 9. Jh. – Ed. StSG IV, S. 333 (Nr. DCXCIIIa); N. Kruse, Die Kölner volksspr. Überl., S. 342; Ph. Jaffé – W. Wattenbach, Ecclesiae Metropolitanae Coloniensis Codices Manuscripti, Berlin 1874, S. 18. – 21. Leiden, UB Voss. lat. f. 24 (BStK-Nr. 367): 1 Gl. in Textglossar zum Matth.-Ev.; Sprache unbestimmt, 2. Viertel 9. Jh. mit Glossar im Umkreis von Tours eingetragen. – Ed. StSG IV, S. 333 (Nr. DCXCIII). – 22. Leiden, UB Voss. lat. q. 69 (BStK-Nr. 372): 3 Gll. in Textglossar: 2 Gll. zum Matth.-Ev., 1 Gl. zu De ponderibus; Sprache unbestimmt, Ende 8. Jh. als Teile des Glossars. – Ed. StSG II, S. 334 (Nr. DCXCIII); IV, S. 342 (Nr. DCCLXId). – 23. Mainz, StadtB Hs. 371 (BStK-Nr. 426): 7 Interlineargll. in Textglossierung zu Epistola ad Damasum Papam; obd., 10. Jh. (Hs. 3. Viertel 9. Jh.). – Ed. StSG I, S. 708 (Nr. CCCLXVIII); A. Schlechter, in: Miscellanea Bibliothecae Apostolicae Vaticanae, V, S. 223f. – 24. Mainz, StadtB Hs. II 3 (BStK-Nr. 427): 11 Interlineargll. in Textglossierung zu Epistola ad Damasum Papam; Sprache unbestimmt, Glossen in Mainz eingetragen, Glossen undatiert (Hs. um 1000 oder 1. Hälfte 11. Jh.; Raum Köln, Trier, Metz). – Ed. StSG I, S. 708 (Nr. CCCLXVIII). – 25. Marburg, Hessisches StaatsA Hr 3,5av (BStK-Nr. 1038): 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Epistolae; Sprache unbestimmt, Glosse undatiert (Hs. 8./9. Jh. Spanien). – Ed. CLA. Supplement, S. 33, Nr. 1785. – 26. München, BSB Clm 6272 (BStK-Nr. 516): 14 Gll. (1 marginal, 13 interlinear) in Textkommentar zur Bibel (Matth.-Ev.), Glossen mit Griffel eingetragen; bair., Glossen undatiert (Hs. 810-820 Freising). – Ed. H. Meritt, AJPh 55 (1934) S. 232; E. Herrmann, Unbekannte althochdeutsche Griffelglossen aus Clm. 6272, Scriptorium 18 (1964) S. 273; O. Ernst, Die Griffelglossierung in Freisinger Hss., S. 274-357. – 27. München, BSB Clm 6305 (BStK-Nr. 524): 43 Gll. in Textglossierung zur Bibel (Matth.-Ev.); bair., Glossen mit Griffel im 9. Jh, z.T. im 10. Jh. eingetragen (Hs. 8./9. Jh. Freising). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 80f.; Nachträge bei K. Siewert, Glossenfunde, S. 84-87; E. Glaser, Frühe Griffelglossierung, S. 489-547. – 28. München, BSB Clm 6408 (BStK-Nr. 538): 1 Kontextgl. in Textglossar zum Matth.-Ev.; Sprache unbestimmt, Glosse mit Glossar 10. Jh. oder 10./11. Jh. Oberitalien. – Ed. StSG II, S. 334 (Nr. DCXCIII). – 29. München, BSB Clm 14425 (BStKNr. 584): 30 Interlineargll. in Textkommentar zu Kommentar zur Bibel (Jeremias); obd. (Hs. St. Emmeram), 8./9. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 89f.; Nachträge bei K. Siewert, Glossenfunde, S. 89-93. – 30. München, BSB Clm 14747 (BStK-Nr. 611): 318 Gll. in Textglossar zum Matth.-Ev.; bair., 3. Viertel 9. Jh. im Kontext der Glossare. – Ed. StSG II, S. 328-333 (Nr. DCXCI). – 31. München, BSB Clm 18517b (BStK-Nr. 645): 5 Gll. (4 interlinear und 1 marginal) in Textglossierung zu Epistolae; bair., spätes 11. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 96. – 32. München, BSB Clm 18524b (BStK-Nr. 647): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Epistola de ordinibus ecclesiasticis; Sprache unbestimmt, Glosse undatiert (Hs. 2. Viertel 9. Jh. St. Peter). – Ed. StSG IV, S. 334 (Nr. DCXCVIb). – 33. München, BSB Clm 18549a (BStK-Nr. 651): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Epistolae; Sprache unbestimmt (Hs. Tegernsee), 11. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 97. – 34. München, BSB Clm 19440 (BStK-Nr. 665): 5 Gll. in Textglossaren: 4 Gll. zum Matth.-Ev., 1 Gl. zu Epistolae an Damasus; bair., um 1000 mit Glossar von Froumund von Tegernsee in Tegernsee eingetragen. – Ed. StSG IV, S. 332f. (Nr. DCLXXXIIIa). – 35. St. Omer, Bibliothèque de l’agglomération 312 (BStK-Nr. 719): 5 Kontextgll. in Textkommentar zur Bibel,

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davon 4 Gll. zu Genesis, 1 zu Ecclesiasticus; frk., 11. Jh. St. Bertin in St. Omer. – Ed. StSG I, S. 314 (Nr. XII), 546 (Nr. CCXLI); U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 99-101. – 36. Oxford, BodlL Jun. 25 [f. 158-193] (BStK-Nr. 725 IV): 12 Gll. in Textglossar zum Matth.-Ev.; Sprache unbestimmt, Glossen mit Glossar 9. Jh. Bodenseegebiet; – Ed. StSG II, S. 334 (Nr. DCXCII). – 37. Oxford, BodlL Laud lat. 102 (BStK-Nr. 732): 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Prolog der Evangelien; ofrk., 1. Drittel 9. Jh. Fulda oder 2. Drittel 9. Jh. Würzburg. – Ed. J. Hofmann, PBB 85 (Halle 1963) S. 96; C. Moulin, Würzburger Althochdeutsch. – 38. Paris, BNF lat. 2685 (BStK-Nr. 741): 1 Gl. in Textglossar zum Matth.-Ev.; mfrk., 3. Drittel 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 334 (Nr. DCXCIII). – 39. Paris, BNF lat. 9532 (BStK-Nr. 755): 54 Gll. (49 marginal, 5 interlinear) in Textglossierung zu Epistolae; mfrk., 9. und 10. Jh. Echternach. – Ed. A. Steffen, PSHL 62 (1928) S. 447-449; J. Schroeder, PSHL 91 (1977) S. 354. – 40. Rom, BAV Reg. lat. 339 [Fragment 4] (BStK-Nr. 821 III): 5 Gll. in Textglossar zu Epistolae; Sprache unbestimmt, Glossen mit Glossar 9./10. Jh. – Ed. StSG II, S. 322 (Nr. DCLXXXIIIa). – 41. Rom, BAV Pal. lat. 135 (BStK-Nr. 836a): 1 Interlineargl. in Textglossierung (?); Zusammenhang mit Hieronymus (Liber interpretationis nominum hebraicorum) unklar; Sprache unbestimmt, 2. Hälfte 9. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 114. – 42. Salzburg, BEA a VII 2 (BStK-Nr. 839): zumindest 209 Gll. (interlinear und marginal) in Textkommentar zur Bibel (Matth.-Ev.), Glossen mit Griffel eingetragen; bair., 1. Hälfte 9. Jh. (Hs. Ende 8. Jh. St. Peter Salzburg). – Ed. H. Mayer, Die ahd. Griffelglossen der Handschrift Salzburg St. Peter a VII 2, StA 28, Göttingen 1994, S. 34-90. – 43. Salzburg, BAV a VIII 17 (BStK-Nr. 841): 1 Interlineargl. in Textkommentar zu Kommentar zur Bibel (Ezechiel); Sprache unbestimmt, 10. Jh. (Hs. zwischen 836 und 859 St. Peter Salzburg). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 129. – 44. Salzburg, BEA a IX 20 (BStK-Nr. 843): 52 Gll. (fast durchgehend interlinear) in Textglossierung zu Epistola ad familares; bair., Glossen in St. Peter eingetragen, 12. Jh.; St. Peter. – Ed. StSG II, S. 325f. (Nr. DCLXXXV). – 45. Schaffhausen, StadtB Ministerialbibliothek Cod 14 (BStK-Nr. 847): 8 Gll. (6 interlinear, 2 marginal) in Textglossierung zu Epistolae; Sprache unbestimmt (Hs. Schaffhausen), 12. Jh. (Hs. 11./12. Jh.). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 131. – 46. Schlettstadt, BH Ms. 7 (BStK-Nr. 849): 48 Gll. in Textglossaren: 10 Gll. zu Vita S. Pauli, 4 Gll. zu Vita S. Hilarionis, 3 Gll. zu Vita S. Malchi, 31 Gll. zu Epistolae; alem., 1. Viertel 12. Jh. mit Glossaren eingetragen. – Ed. StSG II, S. 323f. (Nr. DCLXXXIIIb); 737 (Nr. DCCCLXXXVIII). – 47. Stuttgart, WLB Cod. theol. et phil. 2º 208v (BStK-Nr. 861): 1 Interlineargl. in Textkommentar zur Bibel (Matth.-Ev.); Sprache unbestimmt; 9. oder 10. Jh. (Hs. 8./9. Jh. St. Amand). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 134. – 48. Stuttgart, WLB Cod. theol. et phil. 2º 218 (BStK-Nr. 863): 4 Gll. in Textglossar zu Kommentar zur Bibel (Propheten); alem., 12. Jh. (Hs. 1130/40 Zwiefalten in Oberschwaben). – Ed. StSG IV, S. 333f. (Nr. DCXCVb). – 49. Trier, BPS Hs 61 (BStK-Nr. 877): 2 Gll. in Textglossar in Kommentar zum Matth.-Ev.; Sprache unbestimmt (Hs. Trier), Glossen mit Glossar 1. Drittel 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 334 (Nr. DCXCIII). – 50. Wien, ÖNB Cod. 804 (BStK-Nr. 926): 1 Gl. in Textglossar zu Prolog zu Ezechiel; Sprache unbestimmt (Hs. St. Florian), Ende 12. Jh. mit Glossar eingetragen. – Ed. StSG I, S. 655 (Nr. CCCVIII). – 51. Wien, ÖNB Cod. 2400 (BStK-Nr. 954): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Kommentar zur Bibel (Esther); Sprache unbestimmt, 10. oder 11. Jh. (Hs. 1. Jahrzehnt 9. Jh. Mondsee). – Ed. StSG I, S. 495 (Nr. CCVIII). – 52. Würzburg, UB M. p. th. f. 28 (BStK-Nr. 987): 23 Gll. (interlinear und marginal) in Textglossierung zu

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De Septem Ordinibus ecclesiae; bair., frk., 1. Hälfte 9. Jh., einige Glossen 3. Drittel 8. Jh.; einige 10. Jh. – Ed. StSG II, S. 335 (Nr. DCXCVI).

3. Glossographische Aspekte: Ahd. Glossen zu Hieronymus begegnen in 52 Hss. aus dem 3. Drittel des 8. bis 13. Jh.s (insgesamt 1.026 ahd. Gll.). Sie stehen vor allem mit 318 Gll. im Clm 14747 in einem Textglossar sowie mit 209 Gll. in der Textkommentarhs. Salzburg a VII 2. Beide Hss. tragen über 50% der gesamten ahd. Hieronymusglossierung. In den Textglossaren (BStK-Nr. 112, 225, 267a, 287, 296 (I), 367, 372, 538, 611, 665, 725 (IV), 741, 821 (III), 849, 863, 877, 926) treten 452 Gll. auf (45,3%), in der Textglossierung (BStK-Nr. 27, 54, 58, 63, 148, 183, 184, 191, 234, 292, 297, 308, 345b, 426, 427, 524, 645, 647, 651, 732, 755, 836a, 843, 847, 954, 987, 1038) 285 Gll. (28,6%), in der Textkommentierung (BStK-Nr. 516, 584, 719, 839, 841, 861) 260 Gll. (26,1%), und je eine Glosse in einer Federprobe (BStK-Nr. 185) und einer Randscholie (BStK-Nr. 347). Drei Hss. weisen Griffelglossen auf, die dem Bair. des 9. Jh.s zugeordnet werden können. Die Griffelglossen begegnen in zwei Textkommentarhss. (BStK-Nr. 516, 839) und einer Hs. mit Textglossierung (BStK-Nr. 524). Geheimschriftliche Glossen sind zu Hieronymus nicht überliefert. 4. Forschungsstand: M. Mitscherling analysiert in ihrer Dissertation zunächst die Glossen der Textglossare zum Matthäus-Kommentar der Hss. München Clm 14747 und Oxford Jun. 25 (f. 158-193) unter lautlichem Aspekt und hinsichtlich des Wortschatzes. Die Verfasserin erwägt für beide Glossare eine gemeinsame Vorstufe, die aber nicht näher charakterisiert wird. Zudem untersucht M. Mitscherling die Glossen einiger Hss., die Spuren ags. Tradition zeigen. Dazu gehören als Haupthandschrift der Sangallensis 299 sowie die Hs. Schlettstadt Ms. 7, die Textglossare zu den Epistolae enthalten. Insgesamt lassen sich – nach M. Mitscherling – zwar keine Glossierungszentren für die Werke des Hieronymus ermitteln, jedoch zeigt sich eine intensive Glossierung vor allem im Bodenseeraum. 5. Räumliche und zeitliche Verteilung: Von den 52 Hss. weist knapp die Hälfte eine sprachgeographische Bestimmung der Glossen auf. Eine Glosse einer Berliner Hs. (Ms. theol. lat. 4º 139) gilt als as., 3 Hss. haben frk. Glossen (insgesamt 43 Gll.: Köln Hs. 57, El Escorial b.III.2. , St. Omer 312), 2 mfrk. (55 Gll.: Paris lat. 9532, Paris lat. 2685). Die weitaus meisten Glossen werden sprachlich dem obd. Raum zugewiesen. Drei Hss. haben allgemein obd. Glossen (38 Gll.: Karlsruhe Aug. LII, Mainz Hs. 371, München Clm 14425). Eine Glosse einer Oxforder Hs. gilt als ofrk. (Oxford Laud lat. 102). Den Hauptanteil machen die bair. Glossen aus (670 Gll. in 9 Hss.); darunter finden sich auch die beiden glossenreichsten und zudem die ältesten Hieronymushss. überhaupt (Würzburg M. p. th. f. 28, München Clm 18517b, Salzburg a IX

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20, München Clm 6272, München Clm 6305, Salzburg a VII 2, München Clm 19440, München Clm 14747, Innsbruck 711). Fünf Hss. tradieren alem. Glossen (insgesamt 100 Gll.) (Stuttgart Cod. theol. et phil. 2º 218, Einsiedeln cod 32 (1060), St. Gallen 299, Schlettstadt Ms. 7 (früher Ms. 100), Gotha M I 17). Die Glossierung beginnt mit einer Textglossierung (Würzburg M. p. th. f. 28) und einem Textglossar (Leiden Voss. lat. q. 69) bereits im späten 8. Jh. (26 Gll.). Die Glossen zeigen eine zeitliche Streuung vom 3. Drittel des 8. Jh.s bis ins 12. Jh. und reichen mit nur einer Glosse eines Textglossars in das 13. Jh. hinein (Innsbruck 711). Der Glossierungsschwerpunkt liegt klar im 9. Jh., dem auch die beiden glossenreichsten Hss. zugewiesen werden können (BStK-Nr. 611, 839). Dem 8./9. oder 9. Jh. gehören die Glossen von 17 Hss. (659 Gll. = 66% der Hieronymusglossen) an: Basel B. VI. 3, Berlin Ms. theol. lat. 4º 139, St. Gallen 126, St. Gallen 299 , Gotha M I 17, Karlsruhe Aug. IC 8 (f. 37-52), Karlsruhe Aug. CV, Köln Hs. 57, Leiden Voss. Lat. f. 24, München Clm 6305, München Clm 14425, München Clm 14747, Oxford Jun. 25 (f. 158-193), Oxford Laud lat. 102, Paris lat. 2685, Rom Pal. lat. 135, Salzburg a VII 2. Aus dem 9./10. oder 10. Jh. stammen die Glossen von 8 Hss. (85 Gll.): Einsiedeln cod 32 (1060), Karlsruhe Aug. LII, Mainz Hs. 371, München Clm 6408, Paris lat. 9532, Rom Reg. lat. 339 (Fragment 4), Salzburg a VIII 17, Stuttgart Cod. theol. et phil. 2º 208v, Wien Cod. 2400. Der Zeit um 1000 und dem 11. Jh. gehören 73 Gll. in 7 Hss. an: El Escorial b.III.2., St. Gallen 159, München Clm 18517b, München Clm 18549a, München Clm 19440 (um 1000 mit Glossar von Froumund von Tegernsee), St. Omer 312, Trier Hs 61 (früher R. III. 13). Der Sangallensis 159 zeigt als einzige Hs. eine größere zeitliche Distanz zwischen der Entstehung der Hs. im 9. Jh. und der Glossierung im 11. Jh. Dem 12. Jh. gehören schließlich die Glossen von 6 Hss. an (121 Gll.): Köln GB fº 30, Salzburg a IX 20, Schaffhausen Cod 14, Schlettstadt Ms. 7 (früher Ms. 100), Stuttgart Cod. theol. et phil. 2º 218, Wien Cod. 804. 6. Beziehungen zwischen den Glossierungen: E. Steinmeyer ediert die Hieronymus-Glossen fast durchgehend einzeln. Bei den gemeinsam edierten Glossen zum Matthäus-Evangelium (StSG II, S. 334) zeigt sich, dass nur 1 Glosse in den 5 unter einer Nummer edierten Hss. enthalten ist (BStK-Nr. 112, 372, 538, 741, 877). Die Editionsweise lässt also keine Schlüsse über Beziehungen der Glossen zu. 7. Umfang und Bedeutung: Im Bereich des kirchlich-theologischen Schrifttums der Spätantike nimmt die ahd. Glossierung von Hieronymus nach Ú Gregor dem Großen Rang 2 ein. Allerdings dominiert die Glossierung der Werke Gregors mit über drei Viertel des Bereichs klar (76,6%). Hieronymus folgt mit großem Abstand (5,6%) an der Spitze einer Gruppe von Autoren wie Ú Sulpicius Severus (4,8%), Eusebius von

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Cäsarea (3,9%), Isidor von Sevilla (3,3%), Cassianus (1,3%), Orosius (1,1%), Pseudo-Abdias (1,0%) und Ambrosius von Mailand (0,6%), die zusammen 21,6% der Glossierung der Patristik ausmachen. Betrachtet man den gesamten Bereich der nichtbiblischen Texte, so liegt Hieronymus im oberen Viertel und folgt auf Gregor den Großen, Prudentius, Vergil, Canones, Smaragdus von St. Mihiel, Boethius, Arator und Herrad von Landsberg. Die Glossierung zu Hieronymus ist umgekehrt umfangreicher als die zu Priscian, Aldhelm, Vitae et Passiones, Sulpicius Severus und anderen Autoren. Das Werk des Hieronymus ist in 52 Hss. mit 998 Gll. versehen. Damit zeigt sich eine sehr niedrige Glossierungsdichte von 19,7 Glossen pro Hs. Bei Gregor dem Großen kommen auf eine Hs. 141 Gll., bei Prudentius sogar 195 Gll. 8. Literatur: BStK-Nr. 27, 54, 58, 63, 112, 148, 183, 184, 185, 191, 225, 234, 267a, 287, 292, 296 I, 297, 308, 345b, 347, 367, 372, 426, 427, 516, 524, 538, 584, 611, 645, 647, 651, 665, 719, 725 IV, 732, 741, 755, 821 III, 836a, 839, 841, 843, 847, 849, 861, 863, 877, 926, 954, 987, 1038; StSG I, S. 708; II, S. 322-336, 737; IV, S. 332-334; V, S. 28; R. Bergmann, in: BStH I, S. 93, 95f., 118; C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberl., S. 317-321; M. Mitscherling, Die althochdeutschen Hieronymusglossen, masch.schriftl. Diss. Jena 1980.

STEFANIE STRICKER

‘Hildebrandslied’ 1. Überlieferung: Das ‘H.’ ist der älteste Textzeuge eines germanischen Heldenlieds sowie das einzige überlieferte Zeugnis germanischer Heldendichtung in der deutschen Literatur. Sein Text wurde laut B. Bischoff „im 4. Jahrzehnt des 9. Jh.s“ (H. Fischer, S. 15*; vgl. B. Bischoff, S. 112f. sowie H. Broszinski) von zwei Schreibern (1. Hand f. 1r, 2. Hand f. 76v bis einschließlich so du, dann wieder 1. Hand) „in karolingischer Minuskel, aber mit gewissen insularen Reminiszenzen“ (H. Fischer, S. 15*) auf den frei gebliebenen Außenseiten einer im 3. Jahrzehnt des 9. Jhs. in Fulda (K. Wiedemann, S. 72) entstandenen Pergamenthandschrift biblisch-theologischen Inhalts eingetragen, die heute unter der Signatur 2º Ms. theol. 54 in Kassel, UB, LB und MB aufbewahrt wird (zum Inhalt der Hs. E. v. Steinmeyer, S. 8; H. Fischer, S. 15*f.; K. Wiedemann, S. 72f.). Im 2. Weltkrieg wurde die Hs. nach Bad Wildungen ausgelagert, wo sie 1945 verloren ging. C. Selmer (S. 122f.) konnte die Hs. in New York identifizieren, woraufhin 1955 ihre Rückgabe nach Kassel erfolgte, allerdings ohne das herausgetrennte Blatt 1, das nach aufwendiger Suche erst 1972 zurückgeführt werden konnte (D. Hennig, S. 24ff., W. F. Twaddell, S. 157ff., O. D. Popa). Blatt 1 ist heute separat gebunden, wird aber unter derselben Signatur wie der restliche Codex geführt.

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2. Editionen: Faksimiles: Zusammenstellung bei W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., 13. A, 1958, S. 153; weiterhin G. Baesecke, Tafel I/II; H. Fischer, S. 12f.; Das Hildebrandlied. Faksimile der Kasseler Handschrift mit einer Einführung von H. Broszinski, Kassel 1984; Digitalisat der UB Kassel: http://orka.bibliothek.uni-kassel.de/viewer/image/1296741113093/1/; vgl. PadRep. – Ausgaben: J. G. v. Eckhart, Commentarii, S. 864-866; J. Grimm u. W. Grimm, Die beiden ältesten deutschen Gedichte aus dem achten Jahrhundert: das Lied von Hildebrand und Hadubrand und das Weißenbrunner Gebet zum ersten Mal in ihrem Metrum dargestellt und herausgegeben, Kassel 1812, S. 1-4; MSD Nr. II, I, S. 2-6, II, S. 8-30; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. I, S. 1-15 (danach hier zitiert); R. Lühr, S. 2-4; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., S. 84f. – Übersetzungen: G. Baesecke, S. 11/13, 37/39; U. Pretzel 1973, S. 286-288; H. Mettke, Älteste dt. Dichtung, S. 78-83; S. Gutenbrunner, Von Hildebrand zu Hadubrand. Lied – Sage – Mythos, Heidelberg 1976, S. 25-28; R. Lühr, S. 5f.; W. Haug – B. K. Vollmann, Frühe dt. Lit., S. 10-15; H. Schlosser, Ahd. Lit., S. 68-71; St. Müller, Ahd. Lit., S. 28-33.

3. Editionsprobleme: Da der handschriftliche Text fortlaufend und mit unregelmäßiger Interpungierung eingetragen ist, muss die Verszahl aufgrund metrischer Kriterien ermittelt werden und erweist sich entsprechend als strittig: 61 (J. Grimm – W. Grimm), 68 (Mehrheitsmeinung seit E. v. Steinmeyer) oder 64 (R. Lühr)? Schwierigkeiten ergeben sich auch bei der Einführung einer syntaktischen Interpunktion. Umstritten sind etwa der Status von sunufatarungo (3) und die sich daraus ergebenden orthographischen Konsequenzen: Fasst man die Bildung – unabhängig von ihrer Interpretation als Nom. Pl. sunufatarungos (zuerst K. Lachmann, S. 418), Dual (H. Möller, S. 87 und U. Pretzel 1973, S. 276) oder Dat. Sg. Fem. ‘eine Vater und Sohn betreffende Sache’ (R. Schützeichel, S. 86) – als Subjekt des folgenden Satzes auf, wäre nach V. 3 eine Satzgrenze zu markieren, genauso lässt sich sunufatarungo aber als Apposition zu Hiltibrant enti Haÿubrant (so MSD II, S. 13) oder als Genitivergänzung zu heriun tuem (J. Grimm 1831, S. 106f., zuletzt R. Lühr, S. 403 und O. Grønvik, S. 4f.) analysieren. Vergleichbare Probleme ergeben sich für V. 12f., wo chind entweder als Anrede zu betrachten und durch Komma abzutrennen (so MSD; E. v. Steinmeyer; W. Braune – E. A. Ebbinghaus; entsprechend auch R. Lühr, S. 452) oder als prädikative Ergänzung zu chud ist zu stellen wäre (E. Rooth, S. 126f., B. Meineke, S. 33f.). Umstritten ist in einigen Fällen auch die Verwendung des Spatiums als Worttrenner. So ist die überlieferte Schreibung ummettirri (25) sowohl als ummet tirri (Chr. W. M. Grein, S. 26 u.v.a.) als auch als ummett irri (K. Lachmann, S. 19f.) bzw. ummet irri (E. v. Steinmeyer, S. 14; R. Lühr, S. 524) aufgelöst worden. Vor allem in der älteren, konjekturalkritisch orientierten Forschung hat es nicht an Versuchen gefehlt, in den überlieferten Wortlaut einzugreifen (vgl. die Übersichten bei W. Braune – E. A. Ebbinghaus, 13. A. 1958, S. 155-166; H. van der Kolk, S. 118-143). Besonderes Augenmerk galt dabei der Herstellung der mutmaßlich unvoll-

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ständigen Verse 1, 10f., 28f., 32, 38, 46ff. und 68. Die jüngere Forschung geht weitgehend vom überlieferten Text aus, auch die lange Zeit aus verschiedenen Gründen propagierte Zuweisung der Figurenrede V. 46ff. an Hadubrand und ihre Umstellung hinter V. 57 (zuletzt W. Schröder 1991 und D. Schürr, S. 10f.; vgl. die Übersichten bei W. Schröder 1963, S. 482f. und H. van der Kolk, S. 115-117) ist nicht länger communis opinio (vgl. H. Kuhn, S. 132f., D. McLintock, S. 61-63 und die Übersicht bei J. Harris, S. 106f.). Weitgehende Übereinstimmung herrscht hingegen hinsichtlich der Streichung des als Schreiberversehen betrachteten darba gistontun (26), dagegen R. Lühr (S. 529). 4. Inhalt und Aufbau: Ein Sänger-Ich erzählt: Zwischen zwei Heeren stehen sich Hildebrand und Hadubrand gegenüber und treffen letzte Vorbereitungen zum Kampf. Der ältere Hildebrand erkundigt sich knapp nach Namen und Herkunft seines Kontrahenten, Hadubrand nennt den eigenen Namen sowie den seines Vaters und lässt dann in einer Art „Lied im Lied“ (M. Meyer, 69) seine Lebensgeschichte folgen: Vor den Nachstellungen Odoakers sei der Vater mit Dietrich (H. Kolb: zu D.) geflohen und habe Frau und – so E. Meineke (S. 448): ungeborenes – Kind ohne Erbe zurückgelassen. Auf Hadubrands Schlussworte, dass der Vater vermutlich tot sei, ruft Hildebrand Gott zum Zeugen dafür an, dass sein Widersacher noch nie einem so nahen Verwandten gegenübergestanden habe. Zur Untermauerung seines Identifikationsangebots bietet er dem Jüngeren Goldringe an, die dieser als Manipulationsversuch eines Betrügers auffasst, schroff zurückweist und das Zeugnis von Seeleuten anführt, die vom Tod des Vaters berichtet hätten. Daraufhin klagt Hildebrand Gott, dass das Unheil nun seinen Lauf nehmen müsse: Entweder werde ihn der eigene Sohn erschlagen, oder er selbst werde Hadubrand töten (und damit sein Geschlecht vernichten), doch der Kampf ist unvermeidlich geworden. In der Schilderung des Waffengangs bricht der handschriftliche Text ab, wobei unter Berufung auf spätere nordische Parallelüberlieferung davon ausgegangen wird, dass Hildebrand seinen Sohn tötet (umgekehrt W. Schröder 1963, S. 497 und E. A. Ebbinghaus). In der Regel wird vorausgesetzt, dass bereits die Vorlage des Casselanus unvollständig war, M. V. Molinari (S. 37f.) zieht eine bewusste Kürzung in Erwägung. Vernachlässigt man die ungewisse Gestaltung des Schlusses, erweist sich das ‘H.’ als übersichtlich aufgebaut. Dem Sänger-Ich sind die Exposition (V. 1-6), die über zwei Halbzeilen in indirekter Rede zum Dialog hinführende Redeeinleitung (V. 7-10) sowie die abschließende Kampferzählung (V. 63-68) zugeordnet. Die Dialogpartie (V. 11-62) macht ca. zwei Drittel des Liedes aus, wird nur kurz für die Ringgabe (V. 33f.) unterbrochen und ist unterschiedlich gegliedert worden, nämlich in zwei (G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., S. 129f.), drei (I. Reiffenstein, S. 245; E. S. Dick, S. 47) und fünf Abschnitte (D. McLintock, S. 73). Dabei sind insbesondere die Kompositionsprinzipien der Doppelung und Steigerung herausgestellt worden (S. Bey-

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schlag, S. 16f.; W. Schröder 1963, S. 482-485), die den Text in ein „dramatisches Exempel der Inkommunikabilität“ (E. S. Dick, S. 47) münden lassen. 5. Stoffgeschichte: Der Plot des ‘H.s’ gehört in den Kontext der Dietrichsage, deren historische Basis Ereignisse der ostgotisch-oströmischen Geschichte der Völkerwanderungszeit bilden. Der oströmische Kaiser Zeno hatte sich 488 mit Theoderich dem Großen (455-526) in der Absicht verbündet, die Herrschaft des schwer kontrollierbaren Odoaker in Italien zu beenden. Dort fiel Theoderich 489 ein, besiegte Odoaker u.a bei Verona (dem Bern der Heldensage) und zwang ihn zum Rückzug in die kaiserliche Residenzstadt Ravenna (Raben), wo er 493 seine Aufgabe erzwang und ihn trotz einer Übereinkunft, fortan gemeinsam über Italien zu herrschen, tötete. Bereits die Geschichtsschreibung des ostgotischen Hofs war bestrebt, Theoderichs Verhalten in einem günstigeren Licht darzustellen (E. Marold, in: Heldensage und Heldendichtung im Germanischen, S. 150ff.): er habe ein Komplott Odoakers entdeckt (so Ennodius, Panegyricus 50-52; Cassidor, Chronica a. 493; Jordanes, Romana 349) bzw. die Ermordung von Verwandten, wahrscheinlich des rugischen Königspaars Fewa und Giso, rächen wollen (so Johannes Malalas, frag. 214a). In der Dietrichsage wird Theoderichs Invasion in Dietrichs Rückkehr nach Flucht vor Odoaker und dreißigjährigem Exil am Hunnenhof umgedeutet, wobei Dietrich stets den loyalen Begleiter Hildebrand an seiner Seite hat. Das ‘H.’ beschränkt sich im Gegensatz zur späteren historischen Dietrichepik (‘Dietrichs Flucht’, ‘Rabenschlacht’) auf mehr oder weniger konkrete Andeutungen und situiert das Geschehen „irgendwo, irgendwie, irgendwann“ (H. Kuhn, S. 122). Während die im Lied genannten Personennamen Otachre (V. 18) und Theotrih (V. 19)/Detrih (V. 23)/Deotrich (V. 26) auf die historischen Akteure verweisen, ist die Identifizierung einer realgeschichtlichen Bezugsgröße für Hiltibrant umstritten: Müllenhoff (1856, S. 254) zieht den Ostgotenfürsten Gensimund in Erwägung, Much (1914/15, S. 224) Theoderichs Gefolgsmann Ibba (vgl. L. Rübekeil, S. 555f.). Für Hadubrand hat sich keine Entsprechung ermitteln lassen. Gegen die Chronologie ist Huneo truhtin (V. 35) wohl nicht auf Zeno, sondern auf Attila zu beziehen (H. van der Kolk, S. 65). Kritik an dieser für die Heldensage typischen anachronistischen Zeitgenossenschaft Attilas mit Theoderich regt sich erst bei Frutolf von Michelsberg (O. Gschwantler) und in der ‘Kaiserchronik’ (E. Hellgardt). Bezweifelt worden ist weiterhin, ob das ‘H.’ seinen Protagonisten als Begleiter Theoderichs ins Exil darstellt (H. Kolb; D. Ohlenroth). Auch die verbreitete Situierung des Kampfgeschehens in der Rabenschlacht ist unsicher (J. Heinzle, S. 680), ebenso, unter wessen Kommando die beiden Heere stehen, in welcher Entfernung voneinander man sich die beiden Kontrahenten zu denken hat (für „Speerwurfweite“ plädiert N. Wagner, S. 323), ob sie als Heerführer oder als Vorkämpfer agieren und ob es sich bei dem abschließend geschilderten Kampfgeschehen um einen Zweikampf (etwa F. Norman 1963, S. 30-33) oder um eine Massenschlacht handelt (für

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letzteres H. H. Meier, ablehnend N. Wagner, S. 320). Häufig findet sich die Lesart als Rechtskampf oder Gottesurteil (etwa S. Beyschlag, S. 14, dagegen U. Schwab, S. 74-85). Die ältere Forschung hat im Anschluss an L. Uhland (I, S. 167-170; VII, S. 547f.) erhebliche Anstrengungen darauf verwendet, auf der Basis des Vater-Sohn-Kampfs das ‘H.’ mit themenidentischen außergermanischen Texten (dem irischen ‘Cú Chulainn’, dem persischen ‘Rostam wa SohrƗb’ oder dem russischen ‘Ilja Muromeü’) zu vergleichen und so die Entstehungsgeschichte einer postulierten gemeinindoeuropäischen Sage zu erhellen: Vermutet wurden Polygenese (B. Busse), Monogenese (A. van der Lee) sowie eine Wanderfabel (A. Heusler 1927, S. 143). Da das ‘H.’ abgesehen vom Verwandtschaftsverhältnis der Kontrahenten kaum Gemeinsamkeiten mit den Vergleichstexten aufweist (W. Hoffmann 1970, S. 40) und aufgrund des zirkulären Charakters der Methode (vgl. M. Mecklenburg, S. 171) dürfen solche Bemühungen als obsolet gelten (dagegen D. A. Miller, S. 307). 6. Liedentstehung: Für eine frühe Entstehung des Liedtextes im langobardischen Herrschaftsgebiet (vgl. den meist ablehnend beurteilten Rekonstruktionsversuch von W. Krogmann) sprechen neben der relativen geographischen Nähe zu den Schauplätzen der Dietrichsage und der Tatsache, dass der langobardische Historiker Paulus Diaconus Odoaker als Usurpator kennt (Historia Langobardorum I,19) – langobardische Heldensage oder -dichtung fehlt allerdings (W. Haubrichs, S. 108) – v.a. sprachliche Argumente. Der Hinweis von A. Heusler (1927, S. 145) auf die im Langobardischen häufigen -brand-Namen wurde von G. Baesecke (S. 46-50) untermauert und auf den Umkreis König Liutprants hin konkretisiert. Dagegen haben jüngere Untersuchungen auf die Verbreitung der -brand-Namen im Alem., Bair. und Ofrk. und Wfrk. (R. Lühr, S. 356-362; Chr. Vopat), auf eine geringe Zahl im Langobardischen belegter Lexeme (R. Lühr, S. 218) sowie auf den Umstand verwiesen, dass das im Stabreim (V. 56: hrusti, V. 61: hregilo) der postulierten Vorstufe notwendige vorkonsonantische -h im Langobardischen früh ausgefallen sei (H. van der Kolk, S. 75). Da gotischer Ursprung des Liedes mittlerweile ausgeschlossen wird (K. Düwel, Sp. 1246), haben Bajuwarismen im Casselanus zur Annahme bair. Herkunft (H. Schneider, S. 317) oder einer bair. Zwischenstufe (P. Wiesinger, S. 1033) geführt. Zuletzt hat R. Lühr (S. 367-371) aufgrund der für die Fuldaer Namenüberlieferung charakteristischen Alternanz -brant/-braht die Entstehung des Liedes um 800 in Fulda situiert, dagegen H. Klingenberg (S. 461 Anm. 46). 7. Literaturgeschichte: Die ältere Forschung tendiert dazu, den überlieferten Text als (verwässertes) Zeugnis einer Spätzeit zu betrachten, dessen ursprünglichen Gehalt herauszupräparieren primäre Aufgabe des Literaturhistorikers sei. Gegenstand der Rekonstruktionsbestrebungen sind zum einen Elemente des ereignisgeschicht-

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lichen Kerns (so noch D. Ohlenroth), zum anderen die dem Text eingeschriebenen Spuren eines altgermanischen Ethos. Besondere Aufmerksamkeit gilt in letzterem Zusammenhang einerseits der Frage, inwiefern das ‘H.’ noch Anhaltspunkte für einen „Fatalismus der Germanen“ (M. von Kienle, S. 86; dagegen entschieden D. Schürr, S. 22) biete bzw. in welchem Maße heidnische Vorstellungen im überlieferten Text bereits christlicher Überformung unterliegen. Wenige der herangezogenen Textpassagen sind dabei unumstritten: So werden für wewurt (V. 49) ebenso heidnische (M. von Kienle) wie christliche Lesarten (F. P. Pickering, S. 119; G. W. Weber, S. 145, D. Schürr, S. 16) erwogen, während irmingot (V. 30) einhellig (von W. Braune 1896, S. 3f. bis R. Lühr, S. 551f.) auf den christlichen Gott bezogen wird. Daraus hat man den Schluss gezogen, das ‘H.’ sei nur oberflächlich von christlichem Gedankengut beeinflusst (vgl. H. van der Kolk, S. 104-110), hat den Text aber auch mit „synkretistischen Symbiosen“ (W. Hoffmann 1976, S. 5) der Missionszeit in Verbindung gebracht. Auch der tragische Konflikt, als dessen Träger man mehrheitlich Hildebrand gesehen hat (differenzierter W. Schröder 1963, S. 497), wird mit spezifisch germanischen Wertvorstellungen verknüpft und etwa als Auseinandersetzung zwischen triuwa-basiertem „rechtsbewusstsein und [...] pflichtgebot“ (G. Ehrismann 1907, S. 292) aufgefasst, während andere Ansätze die tragischen Dimensionen des zentralen Konflikts zwar keinesfalls verneinen, auf eine Rekonstruktion des zugrunde liegenden Ethos aber dezidiert verzichten (H. Kuhn, S. 122f.) oder diesen auf anthropologische Konstanten (M. Meyer, S. 62) zurückführen. Seit den 1960er Jahren (entschieden etwa W. P. Lehmann, S. 29) dominiert in der Forschung zunehmend das Bestreben, vom überlieferten Text als literarischem Zeugnis des 9. Jh.s auszugehen. Kulturwissenschaftlich geprägte Ansätze (U. Ebel 1987) betrachten dabei das ‘H.’ als einen Text zwischen zwei Gedächtniskulturen, der einerseits Spuren mündlicher Kultur in sich trage (Exordialtopik; Privatisierung des Konflikts; Inszenierung als Figurenrede; paradigmatisches Erzählen), daneben aber als „Ausdruck von Geschichtsübermittlung“ (U. Ebel, S. 709) einer Schriftkultur fungiere. Im engeren Sinne literaturhistorisch ausgerichtete Beiträge fragen nach Anlässen der (materiellen) Aufzeichnung, wobei der regelmäßig ins Spiel gebrachte Faktor Zufall (A. Klare) aufgrund des sorgfältig vorbereiteten Texteintrags wohl ausgeschlossen werden kann, thematisieren aber vor allem mögliche zeitgenössische Funktionszusammenhänge eines karolingischen ‘H.s’. Erwogen werden eine Funktion als negatives Exempel (U. Schwab, S. 69f., 122 Anm. 309; D. Hüpper-Dröge, S. 115; W. C. McDonald; M. Meyer), Entstehung im Kontext karolingischer „Bestimmungen, die den Kampf zwischen Blutsverwandten untersagen“ (R. Schützeichel, S. 91), Zusammenhang mit der Sachsenmission (H. de Boor, Die dt. Lit., S. 71; P.-E. Neuser, dagegen vehement W. Schröder 1991, S. 256), ein Reflex des Vater-Sohn-Konflikts zwischen Ludwig dem Frommen und Lothar I. (H. D. Schlosser), des allgegenwärti-

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gen Kriegszustands der frühkarolingischen Gesellschaft (W. Haubrichs, S. 128) oder zeitgenössischer Kontroversen zwischen Reichspolitik und Sippe (C. L. Gottzmann, S. 19), eine Warnfunktion vor heroischer Ethik (W. Hoffmann 1976, H. Kolb) oder eine Konzeption als dezidiert „antiheroisches Lied“ (W. Haug, S. 101). Relativ früh hat man historisch-antiquarisches Interesse in einen Zusammenhang mit der Liedaufzeichnung gebracht (F. Norman 1958, S. 33) sowie erwogen, das ‘H.’ unter jene carmina gentilium einzureihen, deren Vortrag im Kloster Alkuin in seinem Brief an den Bischof von Lindisfarne moniert (vgl. D. Hüpper-Dröge, S. 115f.). Ob das ‘H.’ etwas mit den Einhard zufolge auf Anregung Karls d. Gr. gesammelten barbara et antiquissima carmina zu tun hat (vgl. F. von der Leyen) und so in den Kontext der versuchten dynastischen Anbindung der Karolinger an Theoderich den Großen gerückt werden kann (K. Hauck, S. 99; R. Schützeichel, S. 84), ist ungewiss, wird doch vermehrt darauf hingewiesen, dass in Fulda zur Zeit der mutmaßlichen Letztaufzeichnung des Textes explizit Theoderich-kritische Stimmen zu vernehmen sind, namentlich in Walahfrid Strabos im Auftrag Ludwigs des Frommen entstandenem Gedicht ‘De imagine Tetrici’ (V. Millet, S. 43-45; vgl. M. W. Herren 1991; M. W. Herren 1992). Legt man schließlich die Annahme zugrunde, das ‘H.’ sei in Fulda mehrfach aufgezeichnet worden, sind sukzessivem Wandel unterliegende Aufzeichnungsmotive denkbar (H. Klingenberg, S. 440). 8. Sprache: a) Grammatik und Lexik: Die überlieferte Sprachgestalt des ‘H.s’ weist ein auffälliges Nebeneinander ahd. und as. Elemente auf, das trotz gewisser Ansätze in anderen Denkmälern (Ú ‘De Heinrico’; Ú ‘Trierer Pferdesegen’) in dieser Breite nur hier vorkommt. Die Sprachmischung betrifft insbesondere die Phonographie (ik (V. 1; 12) neben ih (V. 17; 29) u.a.) und in geringerem Maße die Morphologie (heriun (V. 3), helidos (V. 6) u.a.), während der Wortschatz keine as. Spezifika zeigt (R. Lühr; anders F. Saran, S. 89). Eine Mischmundart als sprechsprachliches Korrelat der Aufzeichnungsmundart ist daher kaum anzunehmen. Während die ältere Forschung (zuerst J. Grimm 1815, S. 112) davon ausging, der überlieferte Text sei aus dem Gedächtnis oder nach mündlichem Vortrag aufgezeichnet, ist seit A. Holtzmann und H. Pongs unstrittig, dass kopiale Überlieferung vorliegt. Neben paläographischen Argumenten spielen für die Beurteilung der Textgenese Pseudo-Saxonismen wie heittu (V. 17) statt regulär as. hƝtu, das auf eine buchstabengetreue Umsetzung von ahd. heizzu zurückgehen dürfte, eine wichtige Rolle. Zentrale Fragen sind nach wie vor strittig: 1) Fand die Umsetzung vom As. ins Ahd. oder umgekehrt statt? 2) War der Schreiber Niederdeutscher oder Hochdeutscher? 3) Betraf die Umsetzung erst den Casselanus oder schon seine Vorlage? Mehrheitsmeinung dürfte heute der Ansatz einer hd. Erstaufzeichnung sein (so schon A. Holtzmann, S. 291; dagegen zuletzt: R. d’Alquen – H.-G. Trevers), deren Kopie durch einen bair. Schreiber die Vorlage der saxonisierten Fassung bildete (R. Lühr, S. 41-47). Nach H. Klingenberg

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(S. 434) ist diese mit der Letztaufzeichnung identisch, während R. Lühr (S. 72-75) Eingriffe wie die Eliminierung des wortinitialen vor Konsonantenbuchstaben oder - und -Graphien einer zusätzlichen dritten Abschrift zuordnet. Der Wortschatz des ‘H.s’ weist eine Vielzahl nicht sicher zu deutender Lexeme auf, deren Interpretation nach wie vor lebhaft diskutiert wird (vgl. E. Seebold, S. 270-272 zu sceotantero (V. 51), P. Wiesinger zu dechisto (26), E. Meineke, S. 448 zu unwahsan (V. 21) u.v.a.). Insbesondere ist immer wieder auf die zahlreichen Hapax legomena hingewiesen worden (R. Lühr, S. 212-214). Umfassende Darstellungen zur Syntax liegen vor (R. Lühr, S. 153-193; P. Suchsland), berücksichtigen aber nur teilweise (J. Krauel, S. 38f.), dass der Text in gebundener Sprache abgefasst ist. b) Metrik: Als eines von wenigen hd. Denkmälern (Ú ‘Muspilli’, Ú ‘Wessobrunner Gebet’, Ú ‘Merseburger Zaubersprüche’) ist das ‘H.’ in Stabreimvers verfasst. Infolge des fortlaufenden Eintrags des Liedtexts in die Hs. wurde sein stabreimender Charakter erst durch J. Grimm (1811, S. 314 Anm.) erkannt. Die drei nach Anordnung der Stäbe im Anvers unterscheidbaren Grundformen des Stabreimverses kommen allesamt vor, allerdings mit abweichender Frequenz (Zahlen nach A. Heusler 1925, S. 101): 1) ax/ax: mit géru scál man / géba infáhan (V. 37) – 58%, 2) xa/ax: do lĊ´ ttun se æ ´ rist / ásckim scrítan (V. 63) – 9%, 3) aa/ax: Híltibrant enti Háÿubrant / untar hériun tuém (V. 3) – 33%. Anders als in der as., ae. oder an. Poesie weist der Stabreimvers der überlieferten Fassung des ‘H.s’ nicht wenige Abweichungen von den kanonischen Regeln auf, die die Forschung (vgl. K. von See; E. Marold in: RGA XXIX) in Auseinandersetzung mit Snorris ‘Háttatal’ ermittelt hat (K. Düwel, Sp. 1249): Doppelstab im Abvers (V. 17), doppelpaariger Stabreim (V. 50), Missachtung des Satzspitzen- und Satzpartikelgesetzes (V. 59), Endreim (V. 67), Störung des Stabreims durch schreibsprachliche Interferenz (V. 21) sowie Passagen ohne Stabreim (V. 15). Eine textstrukturierende Funktion fehlenden Stabreims, insbesondere als Grenzsignal direkter Rede, konstatiert R. Lühr (S. 281f.). Mangels vergleichbaren Materials fällt die literaturhistorische Einordnung der metrischen Form des ‘H.s’ schwer. U. Pretzel (1962, Sp. 2392) sieht die „echteste Form des altgermanischen Stabreimverses“ verwirklicht und betont die Füllungsfreiheit des Stabreims (4 bis 11 Silben pro Halbvers) als Kennzeichen einer Blütezeit, während W. P. Lehmann (S. 24) den Text aufgrund des unregelmäßigen Stabreims als „Spätzeitwerk“ ansieht. Auch wenn die metrische Form nahelegt, dass das ‘H.’ ursprünglich zum (musikalischen) Vortag bestimmt war, werden die Konsequenzen für den überlieferten Text unterschiedlich beurteilt. D. Hofmann (S. 147f.) rechnet mit der Niederschrift einer Fassung unter vielen, während U. Ebel (S. 710) die mit der Aufzeichnung verbundene „Prosaisierung“ herausstellt (kritisch dazu H. Klingenberg, S. 436).

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Die ältere Textkritik hat die angenommene Verderbtheit der überlieferten metrischen Form zum Anlass für teilweise umfangreiche editorische Eingriffe genommen (H. van der Kolk, S. 46-52). c) Stil: Eine Stilanalyse des ‘H.s’ steht vor dem methodischen Dilemma, dass das Althochdeutsche keine vergleichbaren Texte überliefert, aus denen sich stilistische Gattungsnormen ableiten ließen (B. Sowinski, S. 298). Die Forschung zieht daraus die Konsequenz, das stilistische Profil des ‘H.s’ kontrastiv zum Normenkanon der altgermanischen Heldendichtung zu beurteilen (I. Reiffenstein; R. Lühr, S. 292-340) und kommt dabei zu einer differenzierten Einschätzung. In der altgermanischen Tradition bewegen sich der hohe Anteil (69%) der Figurenrede (A. Heusler 1902, S. 195) und deren Strukturierung durch formelhafte Redeeinführungen; entsprechende Verfahren finden sich auch in der Eingangsformel (V. 1), zur Wahrheitsbeteuerung (V. 15f.) sowie in Paarformeln (V. 15). Gleichwohl wird in den Dialogszenen bis V. 53 „auf die überlieferten Stilmittel fast völlig verzichtet“ (I. Reiffenstein, S. 254). Auch die Verwendung der Variation, zentrales Stilmittel altgermanischer Dichtung, ist weitgehend auf die Szenen Ringangebot und Kampf beschränkt (I. Reiffenstein, S. 232): wuntane bauga (V. 33) – cheisuringu gitan (V. 34); hrusti giwinnan (V. 56) – rauba birahanen (V. 57). Äußerst sparsam ist schließlich der Gebrauch weiterer gattungsspezifischer Verfahren: mit staimbort (V. 65) kommt nur eine (unsichere) Kenning vor, Hyperbeln (V. 26: degano dechisto) und Epitheta ornantia (V. 33: wuntane bauga) sind selten. 9. Mittelalterliche und frühneuzeitliche Rezeption: Vom 12. bis ins 16. Jh. finden sich inner- und außerhalb des deutschen Sprachgebiets Reflexe der Erzählung eines Vater-Sohn-Kampfes, deren Namenbestand auf die Protagonisten des ‘H.s’ verweist. In keinem Fall handelt es sich dabei um explizit-eindeutige Rezeptionszeugnisse des im Casselanus überlieferten Textes oder einer nahestehenden Fassung, sondern um Nachwirkungen mündlicher Erzähltraditionen, deren Rekonstruktion hypothetisch bleiben muss. Ein besonderes Interesse der Forschung haben diese Nachwirkungen vor allem deswegen geweckt, weil sie den im ‘H.’ fehlenden Schluss nachliefern. Die Mehrzahl der Zeugnisse berichtet von der Tötung des Sohns durch den Vater. In der isländischen ‘Ásmundar saga kappabana’ (14. Jh.) beklagt der von seinem Halbbruder Ásmundr tödlich im Kampf verletzte Hunnenkrieger Hildibrandr in seinem ‘Sterbelied’, den eigenen Sohn getötet zu haben (Ed. A. Heusler – W. Ranisch, Nr. VIII, Str. 4). In dieselbe Richtung weisen die Klagen des sterbenden Hildigerus im 7. Kapitel der ‘Gesta Danorum’ (Ende 12. Jh.) des Saxo Grammaticus (Ausgabe A. Holder, S. 244) und Hildebrands im faröischen ‘Snjólvskvæði’ (H. de Boor, S. 165167). Im deutschsprachigen Raum erwähnt die vielzitierte Repertoirestrophe des Marner (zwischen 1220 und 1270) in der Lesart der ‘Kolmarer Liederhandschrift’ (München, BSB Cgm 4997, f. 468rb, um 1460) des jĤngen albrandes tot (Ed. E.

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Willms, S. 336). Ein versöhnliches Ende findet der Kampf zwischen Hildebrand und Alebrand hingegen in der gegen 1250 entstandenen norwegischen ‘Þiðreks saga’ (Ed. H. Bertelsen, II, S. 347-349) sowie im ‘Jüngeren Hildebrandslied’, einer in vierzeiligen Langzeilenstrophen abgefassten, wohl im 15./16. Jh. im hd. Sprachraum entstandenen und daneben auch in nd., nländ., dän. und jid. Textzeugen überlieferten Ballade (vgl. M. Curschmann 1983; zu den Drucken A. Classen). Ob hier eine harmonisierende Umdeutung des tragischen Ausgangs vorliegt oder ob beide Fassungen in der mündlichen Überlieferung konkurrierten, bleibt unklar. 10. Literatur: G. Baesecke, Das Hildebrandlied, Halle (Saale) 1945; H. Bertelsen (Hg.), Thidreks Saga af Bern. Samfund til udgivelse af gammel nordisk litteratur, I-II, Kopenhagen 1905-1911; S. Beyschlag, Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun tuem (Methodisches zu Textfolge und Interpretation), in: Festgabe für L. L. Hammerich aus Anlass seines 70. Geburtstags, Kopenhagen 1962, S. 13-28; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134; W. Braune, irmindeot und irmingot, PBB 21 (1896) S. 1-7; B. Busse, Sagengeschichtliches zum Hildebrandslied, PBB 26 (1901) S. 1-92; A. Classen, The Jüngeres Hildebrandslied in Its Early Modern Printed Versions. A Contribution to Fifteenth and Sixteenth-Century Reception History, JEGPh 95 (1996) S. 359-381; M. Curschmann, ‘Jüngeres Hildebrandslied’, in: 2VL IV, Sp. 918-922; R. d’Alquen – H.-G. Trevers, The Lay of Hildebrand: A Case for a Low German Written Original, ABÄG 22 (1984) S. 11-72; H. de Boor, Die nordische und deutsche Hildebrandsage, ZDPh 49 (1923) S. 149-181; E. S. Dick, Heroische Steigerung: Hildebrands tragisches Versagen, in: Dialectology, Linguistics, Literature. FS for Caroll E. Reed, hg. v. W. S. Moelleken, GAG 211, Göppingen 1984, S. 41-71; K. Düwel, ‘Hildebrandslied’, in: 2VL III, Sp. 1240-1256; E. A. Ebbinghaus, The end of the Lay of Hiltibrant and Hadubrant, in: Althochdeutsch, I, S. 670-676; U. Ebel, Historizität und Kodifizierung: Überlegungen zu einem zentralen Aspekt des germanischen Heldenlieds, in: Althochdeutsch, I, S. 685-714; G. Ehrismann, Zur althochdeutschen Literatur. 3. Zum Hildebrandsliede. Beitrag zur erklärung des textes, PBB 32 (1907) S. 260-292; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit.; D. Geuenich, Die PN von Fulda; E. Glaser, §2: Hildebrandslied, in: RGA XIV, S. 556-561; C. L. Gottzmann, Warum muss Hildebrand vor Otachres nid fliehen? Überlegungen zum ‘Hildebrandslied’, ZDPh 122 (2003) S. 1-19; Chr. W. M. Grein, Das Hildebrandslied, Göttingen 1858; J. Grimm, Hornkind und Maid Rimenild, Museum für altdeutsche Literatur und Kunst 2 (1811) S. 284316; J. Grimm, Zur ferneren Erl uterung des Hildebrandliedes, Altdeutsche Wälder 2 (1815) S. 97-115; J. Grimm, [Rez. zu:] J. A. Schmeller, Heliand, Göttingische Gelehrte Anzeigen 1831, 8. Stück, S. 66-79; O. Grønvik, Sunufatarungo, in: Gedenkschrift für Ingerid Dal, hg. v. J. O. Askedal – C. Fabricius-Hansen – K.-E. Schöndorf, Tübingen 1988, S. 39-53; O. Gschwantler, Frutolf von Michelsberg und die Heldensage, in: Philologische Untersuchungen. FS Elfriede Stutz, hg. v. A. Ebenbauer, Wien 1984, S. 196-211; J. Harris, Hadubrand’s Lament. On the Origin and Age of Elegy in Germanic, in: Heldensage und Heldendichtung im Germanischen, S. 81-114; W. Haubrichs, Die Anfänge; K. Hauck, Die geschichtliche Bedeutung der germanischen Auffassung von Königtum und Adel, in: XIe Congrès International des Sciences Historiques, Rapports, III: Moyen Âge, Göteborg u.a. 1960, S. 96-120; W. Haug, Literaturhistoriker untar heriun tuem, in: W. Haug, Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1995, S. 91-105; J. Heinzle,

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Rabenschlacht und Burgundenuntergang im ‘Hildebrandslied’? Zu einer neuen Theorie über die Entstehung der Sage von Dietrichs Flucht, in: Althochdeutsch, I, S. 677-684; E. Hellgardt, Dietrich von Bern in der deutschen Kaiserchronik. Zur Begegnung mündlicher und schriftlicher Traditionen, in: Dt. Lit. u. Spr. von 1050-1200. FS Ursula Hennig, S. 93-110; D. Hennig, Zur Rückführung zweier Handschriften der Murhardschen Bibliothek der Stadt Kassel und Landesbibliothek, ZBB 20 (1973) S. 24-27; M. W. Herren, The ‘De imagine Tetrici’ of Walahfrid Strabo: Edition and Translation, The Journal of Medieval Latin 1 (1991) S. 118139; M. W. Herren, Walahfrid Strabo’s De imagine Tetrici. An Interpretation, in: Latin Culture and Medieval Germanic Europe, hg. v. T. Hofstra – R. North, Germania Latina 1, Groningen 1992, S. 25-41; A. Heusler, Der Dialog in der altgermanischen erzählenden Dichtung, ZDA 46 (1902) S. 189-284; A. Heusler – W. Ranisch, Eddica minora. Dichtungen eddischer Art aus den Fornaldarsögur und anderen Prosawerken, Dortmund 1903; A. Heusler, Deutsche Versgeschichte. Mit Einschluß des altenglischen und altnordischen Stabreimverses, I, Grundriß der germanischen Philologie 8,1, Berlin 1925; A. Heusler, Das alte und das junge Hildebrandslied, Preußische Jahrbücher 208 (1927) S. 143-152; W. Hoffmann, Das Hildebrandslied und die indogermanischen Vater-Sohn-Kampf-Dichtungen, PBB 92 (Tübingen 1970) S. 26-42; W. Hoffmann, Zur geschichtlichen Stellung des Hildebrandsliedes, in: ‘Sagen mit Sinne’. FS Marie-Luise Dittrich (1976), S. 1-17; D. Hofmann, Vers und Prosa in der mündlich gepflegten mittelalterlichen Erzählkunst der germanischen Länder, FMSt 5 (1971) S. 135-175; Saxonis Grammatici Gesta Danorum, hg. v. A. Holder. Straßburg 1886; A. Holtzmann, Zum Hildebrandslied, Germania 9 (1864) S. 289-293; D. Hüpper-Dröge, Schild und Speer. Waffen und ihre Bezeichnungen im frühen Mittelalter, Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur 645, Frankfurt (Main) u.a. 1983; M. von Kienle, Der Schicksalsbegriff im Altdeutschen, Wörter und Sachen 15 (1933) S. 81-111; A. Klare, Die Niederschrift des Hildebrandsliedes als Zufall, LB 82 (1993) S. 433-443; H. Klingenberg, braht und brand. Zum althochdeutschen Hildebrandlied, in: ComparativeHistorical Linguistics. Indo-European and Finno-Ugric, in: Papers in Honor of Oswald Szemerényi, hg. v. B. Brogyanyi – R. Lipp, III, Amsterdam/ Philadelphia 1993, S. 407-467; H. Kolb, Hildebrands Sohn, in: Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters, hg. v. R. Schützeichel, Bonn 1979, S. 51-75; H. van der Kolk, Das Hildebrandlied. Eine forschungsgeschichtliche Darstellung, Amsterdam 1967; J. Krauel, The Syntactical Structure of the Hildebrandslied, in: Canon and Transgression in Medieval German Literature, hg. v. A. Classen, GAG 573, Göppingen 1993, S. 37-52; W. Krogmann, Das Hildebrandslied. In der langobardischen Urfassung hergestellt, Philologische Studien und Quellen 6, Berlin 1959; H. Kuhn, Hildebrand, Dietrich von Bern und die Nibelungen, in: H. Kuhn, Text und Theorie, Stuttgart 1969, S. 116-140, 360f.; K. Lachmann, Über das Hildebrandslied. Abhandlungen der Berliner Akademie der Wissenschaften, Historisch-philologische Klasse, Berlin 1835; A. van der Lee, Zum Motiv der Vatersuche, Amsterdam 1957; W. P. Lehmann, Das Hildebrandslied: Ein Spätzeitwerk, ZDPh 81 (1962) S. 24-29; F. von der Leyen, Das Heldenliederbuch Karls des Großen, München 1954; R. Lühr, Studien zur Sprache des Hildebrandliedes. Teil I: Herkunft und Sprache, Teil II: Kommentar, Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft 22, Frankfurt (Main) 1982; E. Marold, Wandel und Konstanz in der Darstellung der Figur des Dietrich von Bern, in: Heldensage und Heldendichtung im Germanischen, S. 149-182; E. Marold, Stabreim, in: RGA XXIX, S. 435-440; W. C. McDonald, ‘Too softly a gift of treasure’: a rereading of the Old High German Hildebrandslied, Euphori-

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on 78 (1984) S. 1-16; D. R. McLintock, The Politics of the ‘Hildebrandslied’, New German Studies 2 (1974) S. 61-81; H. H. Meier, Die Schlacht im ‘Hildebrandslied’, ZDA 119 (1990) S. 127-138; M. Mecklenburg, Parodie und Pathos. Heldensagenrezeption in der historischen Dietrichepik, Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 27, München 2002; B. Meineke, CHIND und BARN im Hildebrandslied vor dem Hintergrund ihrer althochdeutschen Überlieferung, StA 9, Göttingen 1987; E. Meineke, prut in bure barn unwahsan. Hiltibrants Frau und ihr Kind, in: Runica, Germanica, Mediaevalia, hg. v. W. Heizmann – A. van Nahl, Ergänzungsbände zum RGA XXXVII, Berlin/New York 2003, S. 430-453; M. Meyer, Auf der Suche nach Vätern und Söhnen im ‘Hildebrandslied’, in: J. Keller – M. Mecklenburg – M. Meyer, Das Abenteuer der Genealogie: Vater-Sohn-Beziehungen im Mittelalter, Göttingen 2006, S. 61-85; D. A. Miller, Defining and Expanding the Indo-European Vater-SohnKampf Theme, The Journal of Indo-European Studies 22 (1994) S. 307-325; V. Millet, Germanische Heldendichtung im Mittelalter. Eine Einführung, Berlin/New York 2008; H. Möller, Zur althochdeutschen Alliterationspoesie, Kiel 1888; M. V. Molinari, Hildebrandslied: Neue Perspektiven in der textgeschichtlichen Forschung, ABÄG 50 (1998) S. 21-45; R. Much, [Rez. zu:] M[oritz] Schönfeld, Wörterbuch der altgermanischen Personen- und Völkernamen, Wörter und Sachen 6 (1914/15) S. 214-230; K. Müllenhoff, Zur Geschichte der Nibelungensage, ZDA 10 (1856) S. 146-180; P.-E. Neuser, Das karolingische ‘Hildebrandslied’. Kodikologische und rezeptionsgeschichtliche Aspekte des 2º Ms. theol. 54 aus Fulda, in: Architectura Poetica. FS Johannes Rathofer, S. 1-16; F. Norman, Hildebrand and Hadubrand, GLL 11 (1958) S. 325-334; F. Norman, Das Lied vom alten Hildebrand, StG (1963) S. 19-44; D. Ohlenroth, Hildebrands Flucht. Zum Verhältnis von Hildebrandslied und Exilsage, PBB 127 (2005) S. 377-413; F. P. Pickering, Literatur und darstellende Kunst im Mittelalter, Grundlagen der Germanistik 4, Berlin 1966; H. Pongs, Das Hildebrandslied; O. D. Popa, Bibliophiles and Bibliothieves. The Search for the Hildebrandslied and the Willehalm Codex, Cultural Property Studies, Berlin/New York 2003; U. Pretzel, Deutsche Verskunst, in: DPhA III, Sp. 2357-2546; U. Pretzel, Zum Hildebrandslied, PBB 95 (Tübingen 1973) S. 272-288; I. Reiffenstein, Zu Stil und Aufbau des Hildebrandsliedes, in: Sprachkunst als Weltgestaltung. FS für Herbert Seidler, hg. v. A. Haslinger, München 1966, S. 229-254; E. Rooth, Hildebrandslied V. 12-13, in: FS für Gerhard Cordes zum 65. Geburtstag, hg. v. F. Debus – J. Hartig, Neumünster 1973, S. 126-135; L. Rübekeil, § 1. Hildebrand, in: RGA XIV, S. 554556; F. Saran, Das Hildebrandslied, Halle/S. 1915; H. D. Schlosser, Die Aufzeichnung des Hildebrandsliedes im historischen Kontext, GRM 28 (1978) S. 217-224; H. Schneider, Germanische Heldensage, I, Berlin 1928; W. Schröder, Hadubrands tragische Blindheit und der Schluß des Hildebrandsliedes, DVJS 27 (1963) S. 481-497; W. Schröder, Ist das germanische Heldenlied ein Phantom?, ZDA 120 (1991) S. 249-256; D. Schürr, Hiltibrants Gottvertrauen, ABÄG 68 (2011) S. 1-24; R. Schützeichel, Zum Hildebrandslied, in: Typologia litterarum. FS Max Wehrli, S. 83-94; U. Schwab, arbeo laosa. Philologische Studien zum Hildebrandlied, Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 45, Bern 1972; K. von See, Germanische Verskunst, Sammlung Metzler 67, Stuttgart 1967; E. Seebold, [Rez. zu:] R. Lühr, Studien zur Sprache des Hildebrandlieds, Frankfurt (Main) 1982, PBB 107 (1985) S. 269-275; C. Selmer, Wie ich das Hildebrandslied in Amerika wiederfand, WW 5 (1955) S. 122-125; B. Sowinski, Zur Stilerfassung historischer Texte – Beispiel: Hildebrandslied, in: Sprachstil. Zugänge und Anwendungen. FS Ulla Fix. hg. v. I. Barz, Heidelberg 2003, S. 295303; P. Suchsland, ... ibu dû mî Ċnan sagês, ik mî dê ôdre uuêt. Zur Syntax des Hildebrandlie-

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des. Eine Fallstudie, in: Septuaginta quinque. FS Heinz Mettke, S. 355-379; W. F. Twaddell, The Hildebrandlied Manuscript in the U.S.A. 1945-1972, JEGPh 63 (1974) S. 157-168; L. Uhland, Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage, hg. v. A. v. Keller, I, Stuttgart 1865, VII, Stuttgart 1868; Chr. Vopat, Zu den Personennamen des Hildebrandsliedes, Heidelberg 1995; N. Wagner, Einiges zum Hildebrandslied, Sprachwissenschaft 22 (1997) S. 309327; G. W. Weber, Wyrd. Studien zum Schicksalsbegriff der altenglischen und altnordischen Literatur, Frankfurter Beiträge zur Germanistik 8, Bad Homburg u.a. 1969; K. Wiedemann, Manuscripta Theologica. Die Handschriften in Folio, Die Handschriften der Gesamthochschul-Bibliothek Kassel. Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel 1,1, Wiesbaden 1994; P. Wiesinger, Dechisto im Hildebrandslied und bairisch tengg(e). Eine vergleichende Wortstudie zu germanischen und romanischen ‘link’-Bezeichnungen, in: Althochdeutsch, II, S. 1030-1047; Der Marner. Lieder und Sangsprüche aus dem 13. Jahrhundert und ihr Weiterleben im Meistersang. Hg., eingeleitet, erläutert und übersetzt v. E. Willms, Berlin/New York 2008.

KLAUS DÜWEL – NIKOLAUS RUGE

‘Hirsch und Hinde’ Spätalthochdeutsche Verse als neumierter Randeintrag Ende des 10. Jh.s. 1. Überlieferung: Brüssel, BR ms. 8860-67 (Kat.-Nr. 1351). Der deutsche Nachtrag in Teil 8862, f. 15v am oberen Rand stammt neben weiteren lat., ebenfalls neumierten, Nachträgen von derselben Hand aus dem späten 10. Jh. (B. Bischoff, FMSt 5 [1971] S. 120). 2. Ausgaben: MSD Nr. VI, I, S. 20, II, S. 57f.; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LXXIX, S. 399; St. Müller Ahd Lit., S. 260f. (mit Übers.). – Abbildungen: U. Schwab, S. 118f.; M. Klaper, S. 54f.; St. Müller 2008, S. 51; Farbdigitalisat: PadRep.

3. Text und Deutung: Der Text lautet: Hirez runeta hintun in daz ora uuildu noh hinta? ‘Der Hirsch raunte der Hinde in das Ohr: Willst du noch, Hinde?’ Die Sprache ist obd. und „entspricht nicht durchwegs dem Spätestahd., sondern zeigt noch alte volle Formen“ (St. Sonderegger, Sp. 48), was die Datierung ins 10 Jh. untermauert und gegen eine ältere Spätdatierung ins 11. Jh. spricht. Als Entstehungsort hat man St. Gallen angenommen, da in der Hs. auch die älteste Form eines Offiziums auf den Hl. Otmar, den Gründungsabt St. Gallens, nachgetragen wurde. Dies, obwohl die Trägerhandschrift in Nordfrankreich geschrieben wurde, also nach ihrer Entstehung nach Süden gewandert sein muss. Gegen diese Lokalisierung, die oft (wenn auch mit Fragezeichen) vertreten wurde und wird, gibt es nun gewichtige Einwände: U. Schwab (S. 82f.) wendet die weite Verbreitung des Otmar-Kults ein und M. Klaper schließt auf Grundlage einer Untersuchung der Neumenformen St. Gallen als Entstehungsort aus. Man wird sich ihm anschließen müssen.

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Umstritten ist die Frage, ob es sich um einen in sich geschlossenen Text bzw. Textabschnitt oder um ein Bruchstück handelt. Die Aufzeichnungsform jedenfalls ist keine Federprobe, sondern sorgfältig und geplant ausgeführt. Entscheidend für diese Frage ist die Bewertung der metrischen Form, die man als durch Endreim gebundene Langverse lesen kann, dann wäre der zweite Vers unvollständig (so etwa St. Sonderegger, Sp. 48 oder M. Lundgreen, S. 628), oder als Kurzverse. Dass sich die ahd. Verse und der darunter stehende Petrus-Hymnus Solve lingua moras strukturell entsprechen, spricht dafür, den Text als dreiversige strophische Einheit zu verstehen (M. Klaper, S. 49). Die Stabreimbindungen sind wohl Effekt der stabreimenden Paarformel Hirsch und Hinde (St. Sonderegger, Sp. 48). Inhaltlich ist man sich über den erotischen Inhalt des Textes einig und verwies dabei auf skandinavische Sing- und Paarungsspiele oder kontinentale Hirschmaskenspiele im Neujahrsbrauchtum. „Zweifellos waren Hirsch und Hinde dem frühen Mittelalter erotische Signa“ (W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 73; weitere Beispiele erotischer Hirschmetaphorik bei U. Schwab und C. Edwards, S. 201-205). Unsicherheit bleibt bei den Fragen nach Gattung und Aufführungsform. Älteren Vorschlägen, die Verse allegorisch oder im Kontext der Fabeldichtung zu verstehen, wird man kaum mehr folgen. Zutreffend ist die allgemeine Einschätzung St. Sondereggers (Sp. 48) als „Zeugnis für ein offenbar endreimendes volkssprachliches Verführungsgedicht“, doch ist damit nicht gesagt, ob es sich um den Teil eines längeren Liedes handelt oder um eine Form von Kleinlyrik bzw. Lied. Die musikwissenschaftliche Untersuchung M. Klapers macht wahrscheinlich, dass es sich um eine in sich geschlossene Form handelt, wie das etwa Th. Frings annimmt, der die Verse als „Refrain zu einer Ballade“ auffasst. Auch U. Schwabs Deutung als „Teil eines (getanzten) Singspiels“ und der daraus entwickelte Vorschlag, den Text als „frühstes deutsches Reigenlied“ zu bewerten (U. Schwab, S. 109) geht in diese Richtung. U. Schwab und C. Edwards favorisieren den lange schon bestehenden Vorschlag, dass die Verse bei der Aufführung eines Hirschtanzes vorgetragen wurden: C. Edwards sieht darin ein aufforderndes „Liebesgeflüster“ (S. 200), U. Schwab eine Aufforderung beim Wechsel des Reigentanzpartners. U. Schwab schlägt überdies vor, die Praxis im Zusammenhang mit der Feier des Petrusfestes zu sehen. Sie führt dabei eine Reihe von Vergleichsfällen an, in denen volkstümliche Bräuche und liturgische Anlässe sich berühren, und zieht damit den benachbarten Petrus-Hymnus mit in die Deutung ein. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich um eine scherzhafte und versteckte Aufzeichnung der erotischen Verse (St. Müller 2008, S. 52) handelt, die sich der „melodischen Analogie“ (C. Edwards, S. 206) mit dem Petrus-Hymnus verdankt, so dass man nicht an inhaltliche Bezüge mit der lat. Umgebung denken muss.

Horaz-Glossierung

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4. Literatur: PadRep; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134 (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 73-111); B. Bischoff, Katalog I, Nr. I.726; C. Edwards, in: Theodisca, S. 189206, bes. S. 199-206; Th. Frings, Hirsch u. Hinde, PBB 85 (Halle 1963) S. 22-26; M. Klaper, Zum gesanglichen Vortrag althochdeutscher Verse im Spannungsfeld zwischen Kontrakfaktur- und Tropenpraxis, in: „Ieglicher sang sein eigen ticht“. Germanistische und musikwissenschaftliche Beiträge zum deutschen Lied im Mittelalter, hg. v. Ch. März (†) u. a., Elementa Musicae 4, Wiesbaden 2011, S. 41-56; M. Lundgreen, Kleindichtung, in: RGA XVI, S. 627-634, bes. S. 628f.; St. Müller, in: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters, 2008, S. 49-61; U. Schwab, Das althochdeutsche Lied ‘Hirsch und Hinde’ in seiner lateinischen Umgebung, in: Latein und Volkssprache, S. 74-122; St. Sonderegger, in: ²VL IV, Sp. 47-49.

STEPHAN MÜLLER

Horaz (Quintus Horatius Flaccus), Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Als Sohn eines Freigelassenen am 8.12.65 v. Chr. in Venosa/ Apulien geboren, war H. nach einem Studium in Athen in der stadtrömischen Verwaltung tätig. Als Dichter fand H. seit der 1. Hälfte der 30er Jahre Aufmerksamkeit, wurde mit Vergil und Maecenas bekannt und von diesem Octavian, dem späteren Augustus empfohlen, Er gehörte, wie Vergil, zum engeren, kulturell orientierten Kreis um den Kaiser. Gestorben ist H. am 27.11.8 v. Chr. Das Werk ist vielfältig: zwei Bücher Satiren (Sat.), entstanden zwischen 41 und 30 und sind Maecenas gewidmet, ebenso die jambische Dichtung der Epoden (Epod.). Die Oden (Carm.), in 3 Büchern im Jahr 23 veröffentlicht, denen um 15 ein 4. Buch folgte, boten in der Vielfalt ihrer lyrischen Strophenformen für die Folgezeit ein mehrfach aufgegriffenes Vorbild (Boethius, Metellus von Tegernsee, Celtis; das Breviarium Romanum enthält 4 Hymnen in Strophenmaßen des Horaz). Für die Saecularfeier der Gründung Roms war das Kultlied des Carmen saeculare (C.s.) aus dem Jahr 17 bestimmt. Von den beiden Büchern poetischer Briefe (Epist.), entstanden nach 23, hat Epist. 2,3, an die Pisonen gerichtet und bald als Ars poetica (Ars) bezeichnet, höchsten Einfluss über das Mittelalter hinaus bis in die Barockzeit gehabt. Seit der Spätantike wurde H. kommentiert und in den Schulen gelesen, dem Mittelalter galt er vor allem wegen der Epist. und der Sat. als poeta ethicus, dessen Ziel die instructio morum sei. Bis gegen 1200 sind etwa 250 Hss. nachgewiesen, in der Mehrzahl lat. glossiert, z.T. auch kommentiert, dazu rd. 30 Kommentarhss. Die aus derzeit 24 Hss. bekannten 252 deutschen Glossen stellen innerhalb des Instrumentariums der Texterschließung die Ausnahme dar. Die reiche handschriftliche Überlieferung des Spätmittelalters und zahlreiche gedruckte Ausgaben bezeugen die Wirksamkeit des Werks bis in die Neuzeit.

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Horaz-Glossierung

Literatur: B. Kytzler, Horatius Flaccus, Quintus, in: Der Neue Pauly V, 1998, Sp. 720-727; B. Munk Olsen, L’Étude, I, S. 421-522; IV,1, S. 68-79; L. D. Reynolds, Texts and Transmission, S. 182-186; Accessus ad auctores, ed. par R. B. C. Huygens, Leiden 1970, S. 49-53.

2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Dessau, Anhaltische Landesbücherei, Wissenschaftliche Bibliothek und Sondersammlungen HB 1 (BStK-Nr. 96): H.-Werkausgabe (Carm., Ars, Epod., C.s., Epist., Sat.). Durchgehend reich lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert, Carm. z.T. neumiert. Insgesamt 3 dt. Gll.: 2 (marginal) zu den Carm., 1 (interlinear) zu den Sat. Md. (nach K. Siewert, S. 371). 2. Hälfte 10./1. Hälfte 11. Jh. – Ed. StSG IV, S. 338 (Nr. DCCIII); K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 367f. – 2. Dessau, Anhaltische Landesbücherei, Wissenschaftliche Bibliothek und Sondersammlungen HB 7 (BStK-Nr. 96a): H., Ars, Sat., Epist. Lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 12. Jh. Zahl und Art der von K. Siewert entdeckten dt. Glossen noch unbekannt. Edition steht aus. – 3. Dillingen, StudB Hss.-Fragmentensammlung Nr. 18 (BStK-Nr. 97): Fragment aus den Sat. (1 Doppelblatt). Interlinear lat. glossiert. 1 ahd. Gl. 12. Jh. – Ed. StSG IV, S. 334 (Nr. DCXCIXaNachtr.); K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 395. – 4. Edinburgh, National Library of Scotland Adv. MS 18. 5. 10 (BStK-Nr. 107): Kommentarauszüge zu Juvenal, Lucan, Persius, Sedulius, Horaz, Vergil, Prudentius. Insgesamt 118 dt. Gll., interlinear, seltener im Kontext oder marginal, davon 4 zu Horaz. 1. Hälfte 12. Jh. Sprachgeographische Einordnung unklar (K. Siewert: frk.; E. Langbroek: alem.). E. Tiemensma-Langbroek, ABÄG 11 (1976) S. 1-36. – Ed. E. Langbroek, Zwischen den Zeilen, S. 52, 63-118; K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 354-360. – 5. St. Gallen, KB (Vadiana), Vadianische Sammlung Ms. 312 (BStK-Nr. 170): H.-Werkausgabe (Carm., Epod., Ars, Sat., Epist.). Zahlreiche lat. Interlinear- und Marginalgll. 1 ahd. (mfrk.?) Interlinearglosse in bfk-Geheimschrift zu Sat. 1,4,4. 10. Jh. – Ed. K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 388. – 6. St. Gallen, StB 868 (BStKNr. 245): H.-Viten, Kommentar zu H., Ars, Kommentar zu Persius, Satiren. Bislang 41 dt. Gll. (K. Siewert, S. 211-208: obd. m. frk. Einfluss) im Kommentar zur Ars festgestellt, die in den lat. Kontext des Kommentars eingetragen sind. Um 1100, wohl St. Gallen. – Ed. K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 175-208. – 7. Gent, Cruquii ‘Commentator’, verschollen (BstK-Nr. 257b): In seine Horazausgabe (Q. Horatius Flaccus […] emendatus & plurimis locis cum Commentariis expurgatus et editus, Antwerpen: Plantinus 1579) hatte Jacobus Cruquius auch lat. Scholien aufgenommen, deren zugrunde liegende Handschrift als verschollen gilt, darin 1 wohl marginal eingetragene (?), wohl obd. Glosse. Zeit und Ort unbekannt.– Ed. K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 399. – 8. Leipzig, UB Rep. I. 4 (BStKNr. 378): Durchgängig reich lat. glossierte Sammelhs. röm. Klassiker (Sallust, H., Lucan), dazu Martianus Capella. Je 1 as./ostfäl. Glosse zu H., Carm. und Sat. 11. Jh., wohl Magdeburg.– Ed. K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 405f. – 9. London, BL Harl. 2724 (BStK-Nr. 415): H.-Werkausgabe (Carm., Ars, Epod., C.s., Epist., Sat., H.-Viten, De metris Horatii), Exzerpte (Fulgentius, Boethius, Isidor). H.-Texte von mehreren Händen durchgängig lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. Insgesamt 7 ahd. (K. Siewert, S. 326: bair.) Glossen. Ende 10./Anfang 11. Jh. – Ed. K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 321325. – 10. London, BL Royal 15 B. VII (BStK-Nr. 422): H., Ars, Sat., Epist. Intensiv und reich lat. glossiert und kommentiert. Insgesamt 5 dt. (K. Siewert, S. 331: frk.) Interlineargll., davon 4 zu Sat., 1 zu Epist. Ende 12. Jh. – Ed. K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 328330. – 11. London, BL Harley 2688 (f. 23-46) (BStK-Nr. 422b II): Am Anfang und Schluss

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unvollständige H.-Werkausgabe (Epod., C.s., Epist., Sat.). Durchgehend intensiv lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 1 ahd. (?) Interlineargl. 10. Jh. Sprachgeographische Einordnung unsicher. – Ed. K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 290. – 12. Melk, StB Cod. 1545 (BStK-Nr. 433): H.-Werkausgabe (Carm., Epod., C.s., Ars, Epist., Sat., H.Viten). Lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert bis zum Anfang der Epist. 11. Jh. Insgesamt 5 ahd. Interlineargll. (K. Siewert, S. 348: mfrk.): davon 1 zu Ars, 3 zu Epist., 1 zu Sat. von verschiedenen Händen. 12. Jh. und später. – Ed. StSG II, S. 338 (Nr. DCCII); K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 343-346. – 13. München, BSB Clm 375 (BStK-Nr. 450): H.-Werkausgabe (Carm., Ars, Epod., C.s., Epist., Sat., H.-Viten). Intensiv lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 74 ahd. Gll. (K. Siewert, S. 348: bair.), davon 68 interlinear, 6 marginal stehend. 1. Hälfte 12. Jh. – Ed. StSG II, S. 336-338 (Nr. DCXCIX); K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 83-159. – 14. München, BSB Clm 14685 II (f. 56105) (BStK-Nr. 603 II): Zweiter, ursprünglich selbstständiger Teil der Hs.: H.-Werkausgabe (Carm., Epod., C.s., Ars, Sat., Epist.). Teilweise dicht lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 3 obd. Interlineargll., davon 2 zu Epod., 1 zu Sat. 11. Jh., wohl St. Emmeram, Regensburg. – Ed. StSG II, S. 338 (Nr. DCCI); K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 374-377. – 15. München, BSB Clm 14693 (f. 1-56) (BStK-Nr. 605 I): Erster, ursprünglich selbstständiger Teil einer Hs.: H., Ars, Epist., Accessus. Durchgehend intensiv lat. glossiert und kommentiert. 1 ahd. (K. Siewert, S. 393: bair.) Interlineargl. zu Epist. Mitte 12. Jh. – Ed. K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 391. – 16. München, BSB Clm 14498 (f. 18-76) (BStK-Nr. 710e II): H.-Werkausgabe (Carm., Epod., C.s., Ars, Sat.) Intensiv lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 1 obd. Interlineargl. (K. Siewert, S. 101: bair.) zu Ars. 12. Jh. Eine Untersuchung der Hs. auf weitere dt. Glossen steht aus. – Ed. K. Siewert, Glossenfunde, S. 97. – 17. München, BSB Clm 17320 (BStK-Nr. 710f): Fragmente einer H.Werkausgabe (Carm., Epod., Ars, Sat., C.s., Epist.). Intensiv lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. Fragment Nr. 24: 1 ahd. (K. Siewert, Glossenfunde, S. 112f.: bair.) Glosse im Kontext des marginalen Kommentars zu Sat., von der Haupthand der lat. Kommentierung. 2. Hälfte 10. Jh., Dombibliothek Freising. – Ed. K. Siewert, Glossenfunde, S. 108; K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 402f. – 18. Oxford, BodlL D’Orville MS 158 (früherAuct. X. 1. 5. 11) (BStK-Nr. 724): H.-Werkausgabe (Carm., Epod., C.s., Ars, Sat., Epist.). Intensiv lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. Insgesamt 5 dt. Gll. (nach K. Siewert, S. 339: 4 wmd., 1obd.), davon 2 zu Carm., 3 zu Sat.; davon 4 interlinear, 1 im Kontext eines Scholions. 2. Hälfte 11. Jh. – Ed. StSG IV, S. 334 (Nr. DCCIIIa); A. Holder, Q. Horati Flacci Opera, I, S. XLI; K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 335-337. – 19. Paris, BNF lat. 7978 (BStK-Nr. 754i): H., Ars, Epist., Sat. Äußerst intensiv lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 11./12. Jh. Nach Mitteilung von R. Schützeichel (2002) enthält die Hs. dt. Glossen. Nähere Angaben stehen aus. – 20. Paris, BNF lat. 9345 (BStK-Nr. 753): Sammelhandschrift römischer Klassiker aus Echternach mit H.-Werkausgabe (H.-Viten, Carm., Epod., C.s., Ars, Sat., Epist.), Satiren des Ú Persius und Ú Juvenal, Komödien des Ú Terenz. Intensiv lat. glossiert und kommentiert. Insgesamt 32 dt. Gll. (R. Bergmann, Mittelfränk. Glossen, S. 142-146: mfrk.), davon 14 zu H., 12 davon wohl von der Hand Thiofrieds von Echternach, dessen Anteil an der lat. Glossierung noch zu ermitteln ist. Ende 10./Anfang 11. Jh. – J. Schroeder, PSHL 91 (1977) S. 245-249. – Ed. K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 306-313.– 21. Rom, BAV Chigi H V 165 (BStK-Nr. 791): H.-Werkausgabe (H.-Viten, Carm., Ars, Epod., C.s., Sat., Epist.) sowie Textglossar zu Sat. Intensiv lat. glossiert und

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kommentiert. Insgesamt 27 dt. Gll. (K. Siewert, S. 264: frk.), davon 9 interlinear, 3 marginal, 15 im fortlaufend geschriebenen Textglossar. 11. Jh. – Ed. K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 242-261; Nachtrag von zwei weiteren Glossen bei K. Siewert, Glossenfunde, S. 142f. – 22. Rom, BAV Reg. lat. 1703 (BStK-Nr. 828): H.-Werkausgabe (Carm., Ars, Epod., C.s., Epist., Sat.), von mehreren Händen, u.a. der Walahfried Strabos. Durchgehend intensiv lat. glossiert und kommentiert. Insgesamt 25 ahd. Gll. (K. Siewert, S. 348: obd.), davon 18 zu Carm., 2 zur Ars, 1 zu Epod., 4 zu Sat. Um 800, wohl aus Weißenburg, St. Peter und Paul. – Ed. K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 274-293. – 23. Rom, BAV Vat. lat. 3866 (BStK-Nr. 836f): H.-Werkausgabe (H.-Viten, Carm., Epod., C.s., Ars, Sat., Epist.). Intensiv lat. glossiert und kommentiert. Insgesamt 29 ahd. Gll. (K. Siewert, S. 236-239: bair.), davon 28 interlinear, 1 marginal stehend, von drei verschiedenen Händen eingetragen, und zwar: 3 zu Carm., 2 zu Epod., 10 zur Ars, 14 zu Sat. 11. Jh., wohl Tegernsee. – Ed. K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 218-234. – 24. Wien, ÖNB Cod. 223 [f. 1-17] (BStKNr. 898 I): Sammelhs. aus mehreren Teilen: Kommentar zu H., Ars; Alcuin, De dialectica; ahd. Physiologus; Windbezeichnungen. Ars wohl aus Hirsau, 11. Jh., kaum lat. glossiert, 2 dt. Interlineargll.. Sprachgeographische Einordnung nicht bestimmbar. – Ed. StSG II, S. 339 (Nr. DCCIV); K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 384f.

3. Forschungsstand: Durch die Untersuchung von K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, ist ein Standard gesetzt, der für die glossographische Arbeit an der Überlieferung der römischen Klassiker vorbildlich ist. Gleichwohl darf damit gerechnet werden, dass im Rahmen weiterer Erforschung der lat. glossierten H.-Handschriften auch neue volkssprachige Glossen gefunden werden (s. o. Nr. 2, 16, 19, wo die dt. Glossen noch nicht erhoben sind). Der einschlägige Bestand an H.-Handschriften bis um 1200 ist von B. Munk Olsen, L’Étude, mit dem Anspruch auf Vollständigkeit verzeichnet. 4. Glossographische Aspekte: Regelmäßig sind die deutschen Glossen Teil einer Praxis der Texterschließung (Glossierung, Kommentierung), die weit überwiegend die lat. Sprache nutzt. Die Frage, warum statt der bewährten lat. Praxis eine Glossierung in deutscher Sprache erfolgt, wäre von Fall zu Fall zu prüfen. Deutsche Glossen treten in der Regel in den Horaz-Texten interlinear, seltener marginal auf, doch werden sie auch mehrfach im Kontext der H.-Kommentierung eingesetzt (oben Nr. 4, 6, 17, 24) sowie einmal innerhalb eines Textglossars (oben Nr. 21). 5. Räumliche und zeitliche Verteilung: Bis auf eine Hs. (mit zwei as. Glossen) entstammen die meisten deutschen Glossen dem frk. (Echternach, Weißenburg) und dem obd. (u.a. Regensburg, St. Emmeram, St. Gallen) Sprachraum. Bislang sind 252 dt. Gll. in 24 H.-Hss. des 9.-13 Jh.s gefunden worden, die Glosseneinträge sind z.T. in mehreren zeitlichen Schichten vorgenommen und von K. Siewert ins 9.-13. Jh. datiert worden mit einem Schwerpunkt im 11. und 12. Jh. (s. K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 417-421).

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6. Beziehungen zwischen den Glossierungen: In 9 der Hss. nimmt K. Siewert eigenständige („aktive“, „urschriftliche“) Glossierung an (Die ahd. Horazglossierung, S. 412) und stellt „das späte Althochdeutsche als Kernzeit“ der volkssprachigen Horaz-Glossierung fest (ebd., S. 413). Die Annahme von Zusammenhängen unter den deutschen Glossierungen über „Parallelglossierung“ (K. Siewert, S. 404, dazu S. 422-428) bedarf der methodischen Absicherung durch die Prüfung der lat. Glossierung, zumal eine „bestimmte Anbindung an einzelne Handschriftenklassen nicht gegeben“ ist (S. 423). Die Tatsache, dass 69 Gll. „innerhalb der deutschen Horazglossierung jeweils parallelbelegt“ sind (ebd.), ist dabei nicht immer aussagekräftig. Verbreitete Glossierungen wie: verruca uuarza oder antemna segilruote haben keinen verbindungsstiftenden Aussagewert. In anderen Fällen sind jedoch durchaus Gruppenbildungen plausibel (s. ebd., S. 424f.). 7. Umfang und Bedeutung: Mit insgesamt 252 bislang bekannten dt. Glossen in derzeit 24 Hss. steht H. in der Gruppe der antiken Autoren hinsichtlich der Frequenz volkssprachiger Glossierung mit 3,3% der Glossen dieser Gruppe an dritter Stelle, nach Ú Vergil (87,1%), und Ú Sallust (4,3%); s. R. Bergmann, in: BStH I, S. 85-87. 8. Literatur: B. Bischoff, Living with the satirists, in: B. Bischoff, Mittelalt. Stud. III, S. 260-270; N. Henkel, Glossierung und Texterschließung, in: BStH I, S. 469-475; S. Reynolds, Glossing Horace: Using the Classics in the Medieval Classroom, in: Medieval Manuscripts of the Latin Classics: Production and Use, ed. by C. A. Chavannes-Mazel – M. M. Smith, Vermont 1996, S. 103-117 (mit zahlr. Abb.); K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung; K. Siewert, Glossenfunde. NIKOLAUS HENKEL

‘Hrabanisches Glossar’ Ú ‘Samanunga worto’ Hrabanus Maurus, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Hrabanus Maurus (um 780-856), Abt von Fulda (822 bis ca. 842) und Erzbischof von Mainz (ab 848), hat von allen mittelalterlichen Schriftstellern das umfangreichste Werk hinterlassen. Zu seinen Schriften zählen unter anderem Kommentare zur nahezu gesamten Bibel, kirchenrechtliche Traktate, eine an Isidors Etymologiae orientierte Enzyklopädie De rerum naturis und ein bekannte Sammlung von Figurengedichten De laudibus sanctae crucis. Sein Schaffen steht im engen Zusammenhang mit den Bildungsreformen Karls d. Gr., zu seinen Lehrern zählte auch Alkuin. In seiner Zeit als Schulmeister versammelte Hraban eine Reihe später weithin als gelehrt bekannte Schüler bei sich wie Lupus von Ferrierès, Ú Otfrid von Weißenburg und Ú Walahfrid Strabo. Die Bedeutung Fuldas für die ahd. Literatur (Ú ‘Hammelburger Markbeschreibung’, Ú ‘Hildebrandslied’, Ú ‘Lex Salica-Überset-

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zung’, Ú ‘Basler Rezepte’, Ú ‘Fränkisches Taufgelöbnis’, Ú ‘Tatian’, Ú ‘Fuldaer Beichte’, Ú ‘Heliand’) wurde häufig in direktem Zusammenhang mit dem Wirken Hrabans gesehen, hier ist man inzwischen zu einer gemäßigteren Haltung gelangt. Obgleich das abschätzige Urteil über Hraban als bloßen Kompilator der Autoritäten korrigiert wurde, harren weiterhin viele Werke einer kritischen Edition, was einerseits den Zugang zu seinem Œuvre erschwert, andererseits angesichts des gewaltigen Umfangs nicht verwundert. Im Vergleich hierzu ist die überlieferte ahd. Glossierung zu Werken Hrabans als eher spärlich zu beurteilen. Aufgrund der Unsicherheit von Autorzuschreibungen sind in der Forschung vereinzelt Walahfrid Strabos Abkürzungen von Hrabans Bibelkommentaren zur Hrabanus-Maurus-Glossierung gezählt worden, ebenso wie eine Unterrichtsmitschrift Walahfrids zu den menschlichen Körperteilen. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Basel, UB F. III. 15e (BStK-Nr. 32): 2 Interlineargll. in Textglossierung zu De institutione clericorumǢ Sprache unbest., undatiert (Hs. 9. Jh.). – Ed. StSG IV, S. 334 (Nr. DCCIVb). – 2. München, BSB Clm 6260 (BStK-Nr. 513): 1 Marginalgl. in Textglossierung zum Bibelkommentar In Genesim libri IV; Sprache unbest., 9. Jh. (Hs. 3. Viertel 9. Jh.). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 71. – 3. München, BSB Clm 18189 (BStK-Nr. 639): 2 Gll. in Textglossierung zum Bibelkommentar In Regum libri IV; Sprache unbest., 11. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 94. – 4. Rom, BAV Ottob. lat. 3295 (BStK-Nr. 792): 138 Griffelgll. (zumeist interlinear) in Textglossierung zum Bußbuch Paenitentium liber (ad Otgarium); 75 Griffelgll. (zumeist interlinear) in Textglossierung zu De consanguineorum nuptiis et de magorum prestigiis falsisque divinationibus (ad Bonosum); südrhfrk., Mitte 9. Jh. – Ed. H. Mayer, Die althochdeutschen Griffelglossen der Handschrift Ottob. Lat. 3295 (Biblioteca Vaticana). Edition und Untersuchung, Kanadische Schriften zur deutschen Sprache und Literatur 27, Bern/Frankfurt (Main) 1982, S. 80-113. – 5. Rom, BAV Pal. lat. 294 (BStK-Nr. 800): 1 Marginalgl. zu Exzerpt aus De sacris ordinibus; Sprache unbest., 11. Jh. – Ed. H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 236. – 6. Rom, BAV Reg. lat. 124 (BStK-Nr. 818) 1 Marginalgl. zu De laudibus sanctae crucis; Sprache unbest., 9. Jh. – Ed. P. Lehmann, PBB 52 (1928) S. 169.

3. Forschungsstand, räumliche und zeitliche Verteilung, glossographische Aspekte: Erste gezielte Forschungen zur Hrabanus-Glossierung ergaben, dass der Bestand an ahd. Glossierung zu Werken des Hrabanus Maurus weitaus geringer als angenommen ist. In insgesamt 6 Hss. mit Glossierungen aus dem 9. und 11. Jh. findet sich nur in einer eine eingehende Textglossierung. Sie erstreckt sich neben den beiden Schriften Hrabans auf die gesamte Handschrift und somit auch auf andere Autoren: Diese enthält ferner Canones, das Bußbuch Halitgars von Cambrai, das Capitulare ad presbyteros Theodulfs von Orleans sowie einen Hohelied-Kommentar. Die Glossierung der Hs. ist in mehrerlei Hinsicht außergewöhnlich, da es sich um eine sehr hohe Zahl ahd. Griffelglossen handelt, die nach Untersuchung H. Mayers vermutlich kopialer Art sind. Die als Südrhfrk. des 9. Jh.s bestimmte Sprache bestätigt

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die bekannten Beziehungen zwischen Hrabanus Maurus und Weißenburg, besonders in der Person Otfrids. 4. Umfang und Bedeutung: Der geringe Bestand an ahd. Hraban-Glossierung steht im Einklang mit der von der Forschung herausgearbeiteten partiellen Rezeption des Gesamtwerkes. Für die zeitgebundenen Werke wie De institutione clericorum bricht die Überlieferung kurz nach der Karolingerzeit ab. Von den Bibelkommentaren war nicht allen ein Erfolg beschieden und die weit verbreiteten erlebten ihre Blütezeit erst ab dem 12. Jh. Ähnliches gilt für über 40 Hs. der Enzyklopädie De rerum naturis, deren Großteil ebenfalls erst im späten Mittelalter abgeschrieben wurde. Es sei jedoch auf Glossierungen hingewiesen, die nicht direkt als Glossierung zu Hraban bezeichnet werden können, aber von ihm etwa in Form von Exzerpten beeinflusst sind. Neben den Glossen in Werken Walahfrid Strabos existieren Glossen in Bibelkommentaren unbekannter Autoren, die aus Hrabans Kommentaren ihrerseits schöpften und unter Umständen als indirekte Glossierungen zu bewerten wären. Hierzu zählt etwa der Bibelkommentar der Handschrift Saint-Mihiel, BM Ms. 25 mit über 600 ahd. Glossen von mehreren Händen, der unter anderem Hrabanus Maurus als Quelle an einer Stelle im Text nennt. 5. Literatur: Bibliographien: S. Bullido del Barrio, Hrabanus Maurus-Bibliographie, in: Hrabanus Maurus in Fulda. Hg. v. M.-A. Aris – S. Bullido del Barrio, Fuldaer Studien 13, Frankfurt (Main) 2010, S. 255-332; H. Spelsberg, Hrabanus Maurus-Bibliographie, in: Hrabanus Maurus und seine Schule. FS der Rabanus-Maurus-Schule 1980, hg. v. W. Böhme, Fulda 1980, S. 210-228; H. Spelsberg, Hrabanus Maurus: Bibliographie, Veröffentlichungen der Hessischen Landesbibliothek Fulda 4, Fulda 1984; F. Klaes – C. Moulin, Wissensraum Glossen: Zur Erschließung der althochdeutschen Glossen zu Hrabanus Maurus, Archa Verbi 4 (2007) S. 68-89; R. Kottje, in: 2VL IV, Sp. 166-196; R. Kottje, in: LexMA V, Sp. 144-147; H. Mayer, Die althochdeutschen Griffelglossen der Handschrift Ottob. Lat. 3295; E. Meineke, Saint-Mihiel Bibliothèque municipale Ms. 25. Studien zu den althochdeutschen Glossen, StA 2, Göttingen 1983; C. Moulin – F. Klaes, in: BStH I, S. 562-592. FALKO KLAES

‘Hundesegen, Wiener’ Ú ‘Wiener Hundesegen’ ‘Hymnen, Murbacher’ Ú ‘Murbacher Hymnen’ ‘Incantatio contra equorum egritudinem quam nos dicimus spurihalz’ Ú ‘Trierer Pferdesegen’

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‘Indiculus superstitionum et paganiarum’

‘Indiculus superstitionum et paganiarum’ Ein lat. Kapitular, das die Bekämpfung von 30 heidnischen Bräuchen anordnet. In den Text sind vier as. Wörter eingemischt. – Der Name wurde dem Stück von L. Holste (1596-1661) gegeben, dem seit 1653 leitenden Bibliothekar der Bibliotheca Apostolica Vaticana. 1. Überlieferung: Rom, BAV Pal. lat. 577, 76 (!) Blätter (s. C. Staiti, S. 332); f. 2r Eigentumsvermerk des Stiftes St. Martin in Mainz vom Jahre 1479; die Hs. ist vermutlich 1552 nach Heidelberg gelangt und von dort 1625 in den Vatikan (H. Homann, in: RGA); f. 2-74 vom gleichen Schreiber; der ‘I’ hier f. 7r-v; „vortreffliche deutsch-angelsächsische Minuskel“, aus Fulda oder Mainz, gegen Ende des 8. Jh.s (B. Bischoff, FMSt 5 [1971] S. 111); genaue Beschreibung des gesamten Inhalts der Hs. bei C. Staiti, S. 338-342; s. auch MSD II, S. 317-319. Kirchenrechtliche Sammelhandschrift, wahrscheinlich ein bischöfliches Visitationsbuch (L. Machielsen, C. Staiti), vielleicht konzipiert für Lul, 754 Bischof, 780/782-786 Erzbischof von Mainz (s. C. Staiti, S. 356f.). – Inhalt u. a.: f. 4r-v ‘Karlmanni principis capitulare’ vom Jahr 742 (sog. Concilium Germanicum, MGH Capit. I, S. 24-26); f. 5r-6r ‘Karlmanni principis capitulare Liptinensis’ vom Jahre 743 (MGH Capit. I, S. 26-28); f. 6r Namen nach Gallien entsandter Missionsbischöfe; f. 6v Namen der Bischöfe des Konzils von Attigny (765); f. 6v-7r Ú ‘Altsächsisches Taufgelöbnis’ (mit Abschwörungsformel); f. 7r ‘Indiculus superstitionum et paganiarum’; Haupttext f. 11v-69r: Dionysius Exiguus, Canones. Die sachliche Kohärenz aller in der Hs. zusammengeführten Texte hat C. Staiti eindrucksvoll aufgezeigt. Auch hieraus ergibt sich, dass der ‘I’ zusammen mit dem ‘As. Taufgelöbnis’ in den Zusammenhang der Sachsenmission am Ende des 8. Jh.s zu setzen ist (H. Homann, in: RGA, S. 370). Im Hintergrund steht dabei das große Vorbild des heiligen Bonifatius (672/675-754) als Missionar. Am Concilium Germanicum hatte er teilgenommen. 2. Ausgaben – Faksimiles – Übersetzungen: A. Boretius, MGH Capit. I (1883), Nr. 108, 223-224; J. H. Gallée, As. sprachdenkm, Nr. 11, S. 249-255; J. H. Gallée, As. sprachdenkm. Facs. Slg., Nr. 11a [= letzte 4 Zeilen von f. 6v und ganz f. 7r]; M. Gysseling, Corpus van Middelnederlandse teksten (tot en met het jaar 1300), Reeks II: Literaire Handschriften, Deel 1: Fragmenten, Bouwstoffen voor een woordarchief van de Nederlandse taal, ’s-Gravenhage 1980, Nr. 3 (indiculus superstitioneum et paganiarum), S. 19-21; M. Heyne, Kleinere and. Denkmäler, Nr. IX, S. 89-90; W. Lange, Texte zur germanischen Bekehrungsgeschichte, Tübingen 1962, S. 166-167; H. F. Massmann, Abschwörungsformeln, Nr. 1, S. 67; E. Wadstein, Kleinere as. sprachdenkm., S. 66 und S. 142-144. – Zu Abbildungen und Digitalisat vgl. PadRep beim ‘As. Taufgelöbnis’; eine Abb. außerdem bei H. Homann. – Französische und italienische Übersetzungen verzeichnet A. Dierkens, S. 11, Anm. 8.

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3. Zum Text: Im Kontext der Hs. beginnt der ‘I’ nach einer Leerzeile mit zweizeiliger Initiale unmittelbar hinter dem ‘As. Taufgelöbnis’ (mit Abschwörungsformel). Taufgelöbnis und ‘I’ bilden der Sache nach eine Einheit: auf die Abschwörungsformel folgt das Taufbekenntnis, das eigentlich ein Glaubensbekenntnis ist. Danach der ‘I’ als Katalog von heidnisch-religiösen Missbräuchen, nach denen gegebenenfalls der Neubekehrte zu befragen ist, um seine Integrität und Beständigkeit im christlichen Bekenntnis zu prüfen. Der Textsorte nach ist der lat. ‘I’ gemäß Sprache und Stil den lat. Denkmälern der fränkischen Volks- und Stammesrechte und der fränkischen Kapitularien zuzuordnen, insbesondere auch hinsichtlich der in diesem Schrifttum öfters begegnenden volkssprachigen „Restwörter“ (R. Schmidt-Wiegand, in: 2VL und in: RGA). Hierhin gehört auch der Artikel 5 des ‘Concilium Germanicum’ (s. u.). Neue Verständnisaspekte für die Frage germanischen Heidentums ergeben sich aus rechtshistorischer Sicht auch im Blick auf die Textsortenzugehörigkeit des ‘I’ (R. Schmidt-Wiegand, in: 2VL und in: RGA). Unter verschiedenen lat. Vergleichsquellen anderer Textsorten mit gleicher Paganismus-Kritik wird vor allem eine ps.-augustinische ‘Homilia de sacrilegiis’ des 8. Jh.s angeführt (C. P. Caspari); zu beachten sind hier auch die Hinweise bei E. Wadstein, S. 143-144. Im ‘I’ sind es vier as. Wörter, die in ihren belegten Formen deutliche Spuren ae. Flexion zeigen: dôthsisu ‘Totengesang’ (‘I’ 2; hier im Nom. Pl. dadsisas), nimid ‘heiliger Hain’ (‘I’ 6, hier im Akk. Pl. nimidas), nôdfiur ‘durch Reibung von trockenem Holz erzeugtes Feuer, Heilmittel bei Viehkrankheiten’ (‘I’ 15, hier Nom. Sg. nodfyr); das Wort begegnet in der Handschrift noch einmal in ae. Lautgestalt nied fyr im Artikel 5 des Concilium Germanicum (s. o.) S. 25, Zeile 36; îri ‘(kultische) Ekstase’ (‘I’ 24 hier Nom./Akk. Pl. yrias). As. Lemmata und Bedeutungsansätze nach H. Tiefenbach, As. Hwb. Außer nodfyr/nied fyr handelt es sich in allen Fällen um Hapaxlegomena, nimidas wird darüber hinaus als keltisches Lehnwort beurteilt. Nicht nur, besonders aber wegen dieser Wörter hat der ‘I’ hat im Rahmen der Forschung zur germanischen Religions-, Bekehrungs- und Sprachgeschichte große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das Stück listet – ähnlich wie der Artikel 5 des Concilium Germanicum – in 30 Titeln superstitiones aus verschiedenen Bereichen von heidnischer Religion, heidnischem Kult und christlich-heidnischem Synkretismus auf (H. Homann, in: RGA): Hochgötter (8, 20), Kultstätten (4, 6 [nimidas], 7, 11), Kultbilder (26, 27, 28), Totenkult (1, 2 [dadsisas]), Zauber- und Hexenglaube (10, 12, 21, 22, 30), Los- und Wahrsagebräuche und anderes Brauchtum (3, 13, 14, 15 [nodfyr], 17, 23, 24 [yrias], 29), heidnisch-christlicher Synkretismus (‘I’ 5, 9,18, 19, 25, 29).

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Der Quellenwert des ‘I’ für die Erforschung der germanischen Religionsgeschichte ist umstritten. Nur minimale Bedeutung für diese Frage messen ihm W. Boudriot und D. Harmening zu. Sie zeigen die vielfältige Verwurzelung der aufgezählten superstitiones in der Tradition spätantiken christlich-pastoralen Schrifttums auf, das gegen spät- und nachrömische, besonders südgallische und nicht germanische Paganismen predigt; eine herausragende Rolle spielt hier neben anderen Bischof Caesarius von Arles (um 470-542). Dieses Schrifttum werde bis ins hohe Mittelalter und darüber hinaus rein literarisch weiter gereicht; sein Quellenwert für die Ermittlung von Vorstellungen über die germanische Religion sei von Anfang an wertlos oder doch nur sehr gering. Die Gegenposition steht mit H. Homann in einer bis auf J. Grimm und L. Uhland zurück reichenden Tradition. Hier werden vielfältige Quellen aus dem Bereich der germanischen Altertumskunde von Tacitus bis zur Edda und aus der Volkskunde zusammengeführt, um den religionsgeschichtlichen Quellenwert des ‘I’ zu erhellen. Für dieses Vorgehen argumentiert man methodisch vor allem damit, dass die im ‘I’ angeprangerten Paganismen in immerhin vier Fällen mit germanischen Wörtern benannt werden. Zu erwägen sein wird auch, dass für die Spätzeit der germanischen Religionsgeschichte mit Synkretismen verschiedener Art zu rechnen ist, nicht nur mit spätrömisch-christlichen, sondern auch mit germanisch-spätrömischen. Spätrömischer Paganismus kann auch in die religiöse Lebenswelt noch nicht christianisierter Germanen aufgenommen worden sein und wäre dann „germanisch“. Für die christlichen Missionare und Prediger wird es von untergeordneter Bedeutung gewesen sein, ob das Heidentum, das sie bekämpften, von germanischer oder spätantiker Art war oder von welcher Art Synkretismus auch immer. 4. Literatur: Literatur bis 1982 bei R. Schmidt-Wiegand, in: 2VL IV, Sp. 376-378; bis 2000 bei H. Homann, E. Meineke, R. Schmidt-Wiegand, in: RGA XV, S. 369-384. – B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134, hier S. 110-111 (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud. III, S. 73-111, hier S. 110f.); W. Boudriot, Die altgermanische Religion in der amtlichen kirchlichen Literatur des Abendlandes vom 5. bis 11. Jahrhundert, Bonn 1928 (Nachdruck Darmstadt 1964); Eine Augustin fälschlich beigelegte Homilia de sacrilegiis. Hg. v. C. P. Caspari, Kristiania 1886; A. Dierkens, Superstitions, christianisme et paganisme à la fin de l’époque mérovingienne: A propos de l’Indiculus superstitionum et paganiarum, in: Magie, sorcellerie, parapsychologie. Hg. v. H. Hasquin, Brussels, S. 9-26; B. Filotas, Pagan survivals, superstitions and popular cultures in early medieval pastoral literature, Pontifical Inst. of Medieval Studies. Studies and Texts 151, Toronto 2005; D. Harmening, Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Untersuchungen zur kirchlich-theologischen Aberglaubensliteratur des Mittelalters, Berlin 1979; H. Homann, Der Indiculus superstitionum et paganiarum und verwandte Denkmäler, Göttingen 1965; L. Machielsen, De Angelsaksische herkomst van de zogenaamde Oudsaksische doopbelofte, LB 50 (1961) S. 97-124; C. Staiti, ‘Indiculus’ und ‘Gelöbnis’. Altsächsisches im Kontext der Überlieferung. Nebst einer Edition einiger Texte des Cod. Vat. Pal. lat. 577, in: Volksspr.-lat. Mischtexte, S. 331-384; H. Tiefenbach, Altsächsisches Handwörterbuch. A Concise Old Saxon Dictionary. Berlin/New York 2010; N. Wagner, As.

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yrias‘De pagano cursu’. Zu dessen Etymologie und der von Iring , BNF NF 42 (2007) S. 413417; I. Wood, Pagan Religions and Superstitions East of the Rhine from the Fifth to the Ninth Century, in: After empire towards an ethnology of Europe’s barbarians. Papers presented at the first Conference on Studies in Historical Archaeoethnology organized by the Center for Interdisciplinary Research on Social Stress, which was held in San Marino from 26th August to 1st September 1993. Hg. v. G. Ausenda, Rochester u.a. 1995, S. 253-279.

ERNST HELLGARDT

Inschriften Ú ‘Binger Inschrift’, ‘Kölner Inschrift’ Interlinearversionen Ú ‘Benediktinerregel’, ‘St. Galler Interlinearversion zu Joh. 19,38’, ‘Murbacher Hymnen’, ‘St. Pauler Interlinearversion zu Lc 1,64-2,51’, Psalter Isidor von Sevilla, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Isidor (um 560-636), Geistlicher, Gelehrter und Schriftsteller hispano-romanischer Abstammung, nach 599 Bischof von Sevilla, war eine zentrale Figur des Übergangs von der späten Antike zum frühen Mittelalter. Sein universal konzipiertes Œuvre umspannt sämtliche Artes, dazu das Bibelstudium, die Theologie, die Historiographie und die Kirchenorganisation und galt der Bewahrung, Ordnung und belehrenden Weitergabe umfassender klassischer und christlicher Bildung. Isidors Werke sind vier Themenbereichen gewidmet: Grammatik (Differentiae, Synonyma, De natura rerum, Etymologiae), Bibel (Liber proemiorum, De ortu et obitu patrum, Liber numerorum, Allegoriae sacrae scripturae, Quaestiones in vetus testamentum), Kirche (Sententiae, De fide catholica contra Iudaeos, De haeresibus, De ecclesiasticis officiis, Regula monachorum) und Geschichte (Chronica, De origine Gothorum, De viris illustribus). Dazu verfasste Isidor Briefe und Verse. Die historische Wirkung seiner Werke besteht darin, sowohl das Frühmittelalter mit der Bibelwissenschaft und der patristischen Theologie verbunden, als auch einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis der antiken Überlieferung und des Systems der sieben Artes liberales geleistet zu haben. Isidors Schriften verbreiteten sich früh und rasch. Vielleicht noch zu Lebzeiten des Autors kamen Handschriften nach Irland, von wo sie in englische Klöster und Klöster des Festlands gelangten. Um 780 waren die meisten Werke Isidors in den Bibliotheken des Frankenreichs vorhanden. Nach 800 wuchs die Überlieferung markant weiter an, verbreitete sich im ganzen Abendland und genoss im Bildungswesen bis ins Hochmittelalter herausragendes Ansehen. Etymologiae, Sententiae und Synonyma gelangten auch noch in die ersten Drucke.

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Die deutsche Rezeptionsgeschichte setzt mit der frühesten ahd. Überlieferung ein. Um 800 entsteht im lothringischen Raum eine Übersetzung von De fide catholica contra Iudaeos in die Volkssprache (Ú Isidor von Sevilla, De fide catholica contra Iudaeos, Althochdeutsche Übersetzung und ‘Mon(d)seer Fragmente’). Ahd. und as. Glossen in Textglossierung und Textglossaren zu Werken Isidors sind in 43 Hss. des 8.-14. Jh.s überliefert. Eine ahd. Rezeption zweiter Hand liegt im Glossar Ú Walahfrid Strabos, im Ú ‘Summarium Heinrici’ und in den Glossae Salomonis (Ú ‘Salomonische Glossare’) vor, die alle auf Isidor basieren. Die Etymologiae dienten auch als Quelle für Ú Notkers d. Dt. Rhetorik-Kapitel der Boethius-Übersetzung sowie für die Altdeutsche Genesis. Ausgaben: F. Arévalo, 1797-1803, übernommen in PL 81-84; Coll. ALMA; W. M. Lindsay, Isidori Hispalensis episcopi Etymologiarum sive Originum libri 20, S. v-xiii. – Literatur: A. E. Anspach, Das Fortleben Isidors im VII. bis IX. Jh, in: Miscellanea Isidoriana. Homenaje a San Isidoro de Sevilla, Rom 1936, S. 323-356; Ch. H. Beeson, Isidor-Studien, Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 4, 2, München 1913; B. Bischoff, Die europ. Verbreitung der Werke Isidors von Sevilla, in: Isidoriana. Estudios sobre San Isidoro de Sevilla en el XIV centenario de su nacimiento, Léon 1961, S. 317-344 (= B. Bischoff, Mittellat. Stud. I, S. 171-194); F. Brunhölzl, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, I, München 1975, S. 74-91; C. Cardelle de Hartmann, Uso y recepción de las Etymologiae de Isidoro, in: Wisigothica (im Druck); J. Fontaine, Isidor de Séville et la culture classique de l’Espagne wisigothique, I-III, 2. A. Paris 1983; J. Fontaine, in: LexM V, Sp. 677680; J. Fontaine, in: Reallexikon für Antike und Christentum, XVIII, 1998, Sp. 1002-1027; M. Manitius, Gesch. d. lat. Lit., I, S. 52-70; M. Reydellet, La diffusion des ‘Origines’ d’Isidore de Séville au Haut Moyen-Âge, Mélanges de l’École Française de Rome 78 (1966) S. 383-437; U. Schindel, Zur frühen Überlieferungsgeschichte der Etymologiae Isidors von Sevillas, StM 3, 29,2 (1988) S. 587-605; B. Van den Abeele, La tradition manuscrites des Étymologies d’Isidore de Séville, Cahiers de Recherches Médiévales 16 (2008) S. 195-205; F. J. Worstbrock, Artikel ‘Isidor von Sevilla’, in: 2VL XI, Sp. 717-746. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Basel, UB F. III. 15c (BStK-Nr. 31 [I]): ca. 100 Textgll. in Textglossierung zu Synonyma (I-II), sämtliche mit Griffel von zum Teil insularen Händen eingetragen, davon ediert 7 Interlinear- und 6 Marginalgll.; Sprache unbest., undatiert (Hs. 2. Hälfte 8. Jh., aus Fulda) – Ed. H. Meritt, AJPh 55 (1934) S. 234f.; s. auch A. Nievergelt, Sprachwissenschaft 37 (2012) S. 378, 382. – 2. Basel, UB F. III. 15f (BStK-Nr. 33): 1 Marginalgl. in Textglossierung zu De natura rerum; Sprache unbest., eingetragen Anfang 9. Jh. in Fulda – Ed. P. Lehmann, PBB 52 (1928) S. 169. – 3. Basel, UB F. III. 15l (BStK-Nr. 34): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Differentiae; Sprache unbest., 9. Jh., eingetragen in bfk-Geheimschrift – Ed. P. Lehmann, PBB 52 (1928) S. 169. – 4. St. Gallen, StB 227 (BStK-Nr. 256w): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu De ecclesiasticis officiis, mit Griffel eingetragen; hd., um 800 in St. Gallen. – Ed. A. Nievergelt, ZDPh 129 (2010) S. 40f., 48. – 5. St. Gallen, StB 228 (BStK-Nr. 256aj): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Sententiae (I, 7), mit Griffel eingetragen; Sprache unbest., Ende 8. Jh. – Ed. A. Nievergelt in Vorb. – 6. St. Gallen, StB 235 (BStK-Nr. 256c): 1 Marginalgl. in Textglossie-

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rung zu Etymologiae (XVI, 8, 6); Sprache unbest., 9. Jh. (?) in St. Gallen. – Ed. K. Ostberg, Zum Komplex der althochdeutschen Deutung von electrum, BEDSp 3 (1983) S. 275. – 7. St. Gallen, StB 240 (BStK-Nr. 256ac): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu De ecclesiasticis officiis; hd., undatiert. – Ed. A. Nievergelt, ZDPh 129 (2010) S. 42, 48. – 8. Innsbruck, ULB 711 (BStK-Nr. 287): 4 Kontextgll. in Textglossar zu Etymologiae (Exzerpte); obd. (bair., alem.), 13. Jh. – Ed. StSG III, S. 700 (Nr. MCLXVI). – 9. Karlsruhe, BLB Aug. IC (BStKNr. 296 [I]): 1 Kontextgl. in Textglossar zu De ecclesiasticis officiis, 1 Kontextgl. in Textglossar zu De natura rerum; alem., 8./9. Jh. Reichenau. – Ed. StSG IV, S. 399 (Nr. DCCXI Nachtr., Nr. DCCXII Nachtr.). – 10. Leiden, UB Voss. lat. f. 24 (BStK-Nr. 367): 1 Kontextgl. in Textglossar zu De natura rerum, 1 Kontextgl. in Textglossar zu De ecclesiasticis officiis; Sprache unbest., 2. Viertel 9. Jh. im Umkreis von Tours. – Ed. StSG IV, S. 335 (Nr. DCCXI Nachtr., Nr. DCCXII Nachtr.). – 11. Leiden, UB Voss. lat. q. 69 (BStK-Nr. 372): 3 Kontextgll. in Textglossar zu De ecclesiasticis officiis, 3 Kontextgll. in Textglossar zu De natura rerum; hd. (ae.?), Ende 8. Jh. St. Gallen. – Ed. StSG II, S. 341 (Nr. DCCXII). – 12. Leiden, UB Voss. lat. oct. 15 (BStK-Nr. 373): 1 Interlineargl. zu Exzerpten aus Etymologiae (XII); obd., 1. Hälfte 11. Jh. in der Abtei S. Martial. – Ed. StSG II, S. 340, 15 (Nr. DCCV), IV, S. 480, 17. – 13. Leiden, UB B. P. L. 191 (BStK-Nr. 375a): 1 Kontextgl. in Textglossar zu De natura rerum; nd., 13./14. Jh. – Ed. W. Stüben, Nachträge zu den althochdeutschen Glossen, PBB 63 (1939) S. 454f. – 14. London, BL Harl. 3099 (BStK-Nr. 419): 11 Interlinear- und 33 Marginalgll. in Textglossierung zu Etymologiae (XII, XVII); frk. (mfrk. oder rhfrk.?), 2. Hälfte 12. Jh. – Ed. H. Thoma, PBB 73 (1951) S. 246-248. – 15. Merseburg, DomstiftsB Ms. Nr. 42 (BStK-Nr. 437): 3 Kontextgll. in Textglossierung zu Exzerpten aus De ecclesiasticis officiis; as., Anfang 11. Jh. in Merseburg. – Ed. J. H. Gallée, As. Sprachdenkm., S. 238-242; E. Steinmeyer, ADA 22 (1896) S. 270; E. Wadstein, Kleinere as. sprachdenkm., Nr. XVI, S. 69. – 16. München, BSB Clm 396 (BStK-Nr. 451): 5 Interlineargll. in Textglossierung zu De natura rerum; bair., aus dem Ags. umgesetzt, spätes 9. Jh. in einem Schreibzentrum mit keltischen Traditionen. – Ed. H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 224f. – 17. München, BSB Clm 4541 (BStK-Nr. 476): 12 Interlineargll. in Textglossierung zu Etymologiae; bair., kopiert aus Clm 18192, 10. oder 11. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 49f. – 18. München, BSB Clm 6028 (BStK-Nr. 499): 2 Interlineargll. in Textglossar zu Etymologiae (XI); bair., 13. Jh. – Ed. StSG II, S. 340 (Nr. DCCIX). – 19. München, BSB Clm 6242 (BStK-Nr. 509): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Etymologiae (VIII); bair., undatiert, vermutl. Freising. – Ed. StSG II, S. 340 (Nr. DCCVIII). – 20. München, BSB Clm 6250 (BStK-Nr. 511): 4 Interlineargll. in Textglossierung zu Etymologiae; Sprache unbest., 10. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 71. – 21. München, BSB 6324 (BStK-Nr. 528): 4 Interlinear- und 4 Marginalgll. in Textglossierung zu De ecclesiasticis officiis, davon 2 interlineare und 3 marginale mit Griffel eingetragen; bair., 9. Jh. (Gg.), 10. Jh. (Fg.) – Ed. StSG IV, S. 335 (Nr. DCCXIVa Nachtr.), A. Nievergelt, ZDPh 129 (2010) S. 18-21, 48. – 22. München, BSB 6325 (BStK-Nr. 529): 219 Gll. in lat.-dt. Textglossar zu De ecclesiasticis officiis; 1 Interlineargl. in Textglossierung zu De ecclesiasticis officiis; bair., mit frk. Spuren, 1. Hälfte 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 342-346 (Nr. DCCXIII); A. Nievergelt, ZDPh 129 (2010) S. 16 (Nachträge von Griffelskizzen). – 23. München, BSB Clm 6411 (BStK-Nr. 539): 8 Interlineargll. in Textglossierung zu Etymologiae (davon 4 zu De Grammatica), 8 Gll. in Textglossar zu Etymologiae (zur Bibel, Exodus stehend); bair., undatiert. Ein

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Teil der Glossen in Punkte-Geheimschrift. – Ed. StSG I, S. 334 (Nr. XXXI), II, S. 340 (Nr. DCCVII), IV, S. 228 (Nr. MCCVI). – 24. München, BSB Clm 6433 (BstK-Nr. 544): 35 Interlineargll. in Textglossierung zu Synonyma (II), sämtliche mit Griffel eingetragen; bair., 1. Hälfte 9. Jh.; ein Teil der Glossen in bfk-Geheimschrift eingetragen, einige gekürzte Glossen. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 83; E. Glaser, Frühe Griffelglossierung, S. 617-622; A. Nievergelt, ZDA Beiheft 11 (2009) S. 154-171. – 25. München, BSB Clm 12632 (BStK-Nr. 710ag): 6 Interlinear- und 6 Marginalgll. in Textglossierung zu De ecclesiasticis officiis, sämtliche mit Griffel eingetragen; hd., früheste Anfang 9. Jh. – Ed. A. Nievergelt, ZDPh 129 (2010) S. 34-37, 48. – 26. München, BSB Clm 14166 (BStK-Nr. 567): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Kommentar zur Bibel (Pentateuch); Sprache unbest., undatiert (Hs. Ende 8. Jh.). – Ed. B. Bischoff, PBB 52 (1928) S. 159. – 27. München, BSB Clm 14461 (BStK-Nr. 590): 45 Interlinear- und 21 Marginalgll. zu De ecclesiasticis officiis, davon 5 interlineare Schwarzstiftgll. sowie 7 interlineare und 2 marginale Griffelgll.; bair., mit frk. Spuren, 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 346f. (Nr. DCCXIV); B. Bischoff, PBB 52 (1928) S. 164; A. Nievergelt, ZDPh 129 (2010) S. 25-30, 48. – 28. München, BSB Clm 18192 (BStK-Nr. 640): 14 Interlineargll. in Textglossierung zu Etymologiae; bair., undatiert (Hs. 10. od. 11. Jh.) – Ed. StSG V, S. 29 und A. 9 (Nr. DCCVIb). – 29. München, BSB Clm 18524b (BStK-Nr. 647): 31 Interlinear- und 10 Marginalgll. (davon 1 mit ungesichertem Textbezug) in Textglossierung zu De ecclesiasticis officiis sowie 2 Interlineargll. in Textglossierung zu Prooemia, sämtliche mit Griffel eingetragen; bair., 1. Hälfte 9. Jh. in Salzburg. – Ed. A. Nievergelt, ZDPh 128 (2009), S. 326-341, 344f. – 30. München, BSB Clm 19410 (BStK-Nr. 660): 34 Kontextgll. in Textglossar zu De ecclesiasticis officiis; bair., mit frk. Spuren, Mitte 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 341-346; Nachtrag A. Nievergelt, ZDPh 129 (2010) S. 38f. – 31. München, BSB Clm 19440 (BStK-Nr. 665): 4 Interlineargll. und 1 Kontextgl. in Textglossierung zu De proprietate sermonum; Sprache unbest., um 1000 / Anfang 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 354 (Nr. DCCXXXIV). – 32. München, BSB Clm 22053 (BStK-Nr. 680): 5 Kontextgll. in Textglossar zu Etymologiae (Exzerpte, ‘Liber rotarum’); bair., Anfang 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 341 (Nr. DCCX). – 33. München, BSB Clm 23496 (BStK-Nr. 689): 6 Kontextgll. in Textglossierung zu Etymologiae (Exzerpte IX, X, XX); bair., 12. Jh. – Ed. StSG IV, S. 173 (Nr. MCLXXVd). – 34. Oxford, BodlL Jun. 25 (BStK-Nr. 725 [III]): 4 Interlineargll. und 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Etymologiae (I) sowie 1 Gl. zu einer Scholie; Sprache unbest., undatiert. – Ed. StSG II, S. 340 (Nr. DCCVI). – 35. Paris, BNF lat. 11219 (BStK-Nr. 762): 2 Interlineargll. und 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Etymologiae; mfrk., 11. Jh. in Echternach eingetragen. – Ed. A. Steffen, PSHL 62 (1928) S. 450; J. Schroeder, PSHL 91 (1977) S. 353 (Nachtrag und Berichtigung); A. Beccaria, I Codici, S. 167 (Nachträge). – 36. Rom, BAV Pal. lat. 281 (BStK-Nr. 797): 7 Interlineargll. und 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Etymologiae (XII, 7); Sprache unbest., vermutl. 10. Jh. (in Lorsch?) – Ed. StSG V, S. 29 (Nr. DCCVIa); H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 243. – 37. Rom, BAV Reg. lat. 294 (BStK-Nr. 820): 9 Interlineargll. in Textglossierung zu Etymologiae (V, Monatsnamen), 1 Kontextgl. in Etymologiae (XVII); Sprache unbest., 11./12. Jh. – Ed. H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 224. – 38. Rom, BAV Vat. lat. 625 (BStK-Nr. 833): 267 Interlinear- und Kontextgll. in alphabetischem Glossar zu Etymologiae; Sprache unbest., 12./13. Jh., vielleicht in der Schweiz. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 118-127. – 39. Straßburg, BNU C. IV. 15 (1870 verbrannt) (BStK-Nr. 855): 109 Interlineargll. in Textglossierung zu Etymologiae

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(Exzerpte aus XI-XIV); as. (nach M. Heyne, Kleinere and. Denkmäler, mit hd. Einfluss), undatiert. – Ed. E. G. Graff, Diutiska II, S. 192-194; J. Gallée, As. Sprachdenkm., S. 273-277; E. Wadstein, Kleinere as. Denkm., XXI, S. 106-108. – 40. Trier, BPS Hs. 61 (früher R. III. 13) (BStK-Nr. 877): 2 Kontextgll. in Textglossar zu Etymologiae (XI, 1); mfrk.-rhfrk., 1. Drittel 11. Jh. in Trier eingetragen. – Ed. StSG III, S. 432 (DCCCCLVIII); P. Katara, Die Glossen des Cod. Sem. Trev., S. 203f. – 41. Wien, ÖNB Cod. 67 (BStK-Nr. 888): 3 Interlineargll. in Textglossierung zu Etymologiae (XVI); bair., 2. Hälfte 12. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 138; A. Quak, ABÄG 8 (1975) S. 17. – 42. Wien, ÖNB Cod. 808 (BStK-Nr. 957i [I]): 14 Interlinear- und 6 Marginalgll. in Textglossierung zu De ecclesiasticis officiis, davon 18 mit Griffel und 2 interlineare mit Feder eingetragen; bair.; 1. Hälfte 9. Jh. (Gg.), 2. Hälfte 9. Jh.?/10. Jh.? (Fg.), Salzburg. – Ed. A. Nievergelt, ZDPh 129 (2010) S. 411, 47. – 43. Würzburg, UB M. p. th. f. 79 (BStK-Nr. 994): 12 Interlineargll. zu Synonyma (I, II), sämtliche zusammen mit 27 ae. und weiteren ca. 150 unidentifizierten Glossen mit Griffel eingetragen; ofrk., frühes 9. Jh. in nachbonifatianischem Zentrum im Rhein-MainGebiet. – Ed. J. Hofmann, PBB 85 (Halle1963) S. 60.

3. Forschungsstand: Zu den ahd. Isidorglossen existiert keine umfassende Untersuchung oder Darstellung. Einzelnen Korpora wie Glossen zu bestimmten Werken ist seitens der Forschung ganz unterschiedlich viel Aufmerksamkeit zuteil geworden. Am ausgiebigsten erforscht sind die bair. Glossen zu De ecclesiasticis officiis, insbesondere was sprachliche Merkmale sowie verwandtschaftliche Zusammenhänge betrifft. E. Ulrich erarbeitete in ihrer Dissertation für die Glossen dreier Handschriften ein auf Fulda verweisendes Stemma, zu welchem G. Baesecke eine eigene Version entwarf. Aufgrund neuer Glossenfunde erweiterte A. Nievergelt das Bild um eine südöstliche Überlieferungsgruppe und zeigte für den Anfang des 9. Jh.s eine bair. Eigenentwicklung auf. Am Rande der umfangreichen Forschung zum Althochdeutschen Isidor und den Monsee-Wiener Fragmenten wurde das Verhältnis zwischen dem ahd. Übersetzungstext und dem Glossar Jc in BL Oxford Jun. 25 erörtert. Während die ältere Forschung (E. G. Graff, A. Holtzmann, R. Kögel, G. Baesecke, K. Matzel) noch der Ansicht war, dass Wörter und Sätze der Monseer Fragmente in das Murbacher Glossar eingegangen seien, stellte B. Kirschstein in Orthographie und Lautstand keine zwingende Übereinstimmung fest, und auch E. Krotz wies allfällige Zusammenhänge als schwach begründet zurück. Die drei frühen, vergleichsweise umfangreichen Synonyma-Glossierungen der Handschriften Basel F. III. 15c, München Clm 6433 und Würzburg M. ph. th. f. 79 haben das Interesse der neueren Griffelglossenforschung auf sich gezogen. Die Untersuchungen dieser Glossen durch E. Glaser, C. Moulin und A. Nievergelt sind nebst der sprachhistorischen Erforschung auf eintragungstechnische, teilweise kryptographische und damit verbundene funktionale Fragestellungen ausgerichtet. Die restlichen Isidorglossen sind in der Regel bislang lediglich tabellarisch ediert und weder sprachlich noch glossierungsfunktional analysiert. Auch steht zur größten Glossengruppe zu einem Isidortext, zu

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den Etymologiae-Glossen, eine umfassende Untersuchung noch aus, welche die Stellung und Rolle der volkssprachigen Glossierung innerhalb der extensiven mittelalterlichen Rezeption des Werks aufzuzeigen hätte. Darstellungen der Wanderung der Etymologiae-Glossen in andere Glossensammlungen, wie sie im Falle von Walahfrids Glossaren von G. Baesecke und C. Moulin – F. Klaes vorliegen, sind insbesondere für das ‘Summarium Heinrici’ und die ‘Glossae Salomonis’ noch zu erarbeiten. 4. Glossographische Aspekte: Zu den Werken Isidors sind heute 1.010 (897 ahd. und 113 as.) Glossenbelege in 43 Hss. bekannt. Dabei handelt es sich um 458 Textglossen in 33 Hss. und um 552 Glossareinträge in 12 Hss. Auffallend viele Textglossen sind Griffelglossen, nämlich mit 149 Belegen in 11 Hss. ein Drittel der Textglossen, davon in 6 Hss. sämtliche Glossen. Eine Hs. (München Clm 14461) enthält 5 Farbstiftglossen, und in 3 Hss. sind die Glossen in Teilen verschlüsselt, in Basel F. III. 15l und München Clm 6433 in bfk-Geheimschrift und in München Clm 6411 in Punktegeheimschrift. Eine Glosse in München Clm 396 überliefert die wen-Rune zur Wiedergabe von /w/. Bei den Glossaren, die ahd. Isidorglossen enthalten, handelt es sich in den meisten Fällen um Glossare zu mehreren Texten, in welchen die Isidorglossen kleine Bestände bilden. Eigentliche lat.-ahd. Isidor-Textglossare gibt es nur zwei zu De ecclesiasticis officiis (München Clm 6325, München Clm 19410). Zu Etymologiae enthält Rom Vat. lat. 625 ein alphabetisches Glossar. Auf diese 3 Hss. fallen 520 der insgesamt 552 Belege in Glossaren. Die in den Glossen greifbare ahd. Rezeption Isidors widerspiegelt, gemessen an der Anzahl Glossenhandschriften (43 von insgesamt 1.380) und Belege (1.010 von über 20.6000) sowie an deren Verteilung auf bestimmte Texte, die Verbreitung von Isidors Werken im Mittelalter nur bedingt und setzt eigene Akzente. Zur einzigartigen Breite und Konstanz der mittelalterlichen Rezeption der Etymologiae (ca. 1.000 erhaltene Hss.) passt, dass diese mit 517 Gll. in 20 Hss., davon 229 Textgll. in 15 Hss., auch das am häufigsten ahd. glossierte Werk Isidors sind. Proportional dazu stehen zu De natura rerum in 6 von ca. 80 Hss. des 7.-12. Jh.s insgesamt 12 ahd. Gll., davon 6 Textgll. in 2 Hss. Dagegen markieren die 13 Hss. mit 411 ahd. Gll. zu De ecclesiasticis officiis, welches in 61 Hss. des 7.-15. Jh.s überliefert ist, einen deutlichen Rezeptionsschwerpunkt. 258 Officia-Glossen entfallen auf Glossare in 5 Hss., 153 auf Textglossierungen in 9 Hss. Hinwiederum auffallend selten, nämlich nur in 3 von mehr als 300 erhaltenen Hss. (allerdings mit Überlieferungsschwerpunkt im 14./15. Jh.) sind ahd. Glossen zu den Synonyma überliefert. Es handelt sich in allen Fällen um eingeritzte Textglossierung. Weitere Werke Isidors, unter ihnen auch stark verbreitete wie die Sententiae, sind jeweils in einer einzigen Hs. ahd. glossiert: Differentiae in Basel F. III. 15l, Prooemia in München Clm 18524b, Quaestiones in

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vetus testamentum in München Clm 14166, Sententiae in St. Gallen 228, De proprietate sermonum in München Clm 19440, wobei es sich überall um sporadische Textglossierung handelt. Zu weiteren Werken Isidors, etwa Allegoriae, Liber numerorum, De haeresibus u. a. sind keine ahd. Glossen bekannt. 5. Zeitliche und räumliche Verteilung: Isidor gehört zu den schon ganz zu Beginn der ahd. Überlieferung glossierten Autoren. Noch aus dem 8. Jh. stammen Glossen in 4 Hss., dazu vielleicht auch noch die Glossen in den Reichenauer Glossaren. Ebenfalls mehrheitlich früh entstanden sind die aus dem 9. Jh. überlieferten Glossen in 15 Hss., für deren Mehrzahl (9 Hss.) eine Datierung an den Beginn oder in die erste Hälfte des Jahrhunderts durchführbar ist. In 5 Hss. wurden im 10., in 8 Hss. im 11., in 5 Hss. im 12. und in 3 Hss. im 13.-14. Jh. (jeweils mit einigen Unsicherheiten in der Datierung) ahd. Glossen aufgezeichnet. Die ältesten ahd. Isidor-Glossen sind mit Griffel eingetragene Textglossen aus dem ags. Missionsgebiet, zwei Synonyma-Glossierungen aus Fulda und dem RheinMain-Gebiet, sowie sporadische eingeritzte Textglossen und einzelne Federglossen in Glossaren aus St. Gallen. Sie kommen alle fast regelmäßig zusammen mit ae. Glossen vor. In der ersten Hälfte des 9. Jh.s treten hauptsächlich im bair. Raum gehäuft Isidor-Glossen auf. Danach sind bis ins 11. Jh. im ahd. Sprachgebiet nur noch kleinere Korpora zu verzeichnen, die, abgesehen vom Einzelfall des Glossars in Rom Vat. lat. 625, im 12. und 13. Jh. gänzlich spärlich werden. Nach der verhältnismäßig reichen frühen Rezeption (a. 750-850) fällt auf, dass Isidorglossen in der umfangreichen ahd. Glossenüberlieferung vom Ende des 10. und Anfang des 11. Jh.s nur noch eine unbedeutende Rolle spielen. Die alem. Überlieferung ist sprachlich wenig charakteristisch und daher nach Provenienz zu bilden einerseits aus einer Gruppe sporadischer Griffel- und Federglossen vom 8./9. Jh. in St. Gallen 227, 228 und 235 sowie Leiden Voss. lat. q. 69, die zusammen mit einer einzelnen späteren Glosse in St. Gallen 240 mit dem Schreibort St. Gallen zu verbinden sind, sowie Glossen des 8./9. Jh.s von der Reichenau in Karlsruhe Aug. IC. Möglicherweise alem. sind auch die Glossen in Innsbruck 711 und Rom Vat. lat. 625. – Die bair. Überlieferung erscheint in der 1. Hälfte des 9. Jh.s in ansehnlicher Breite. In den kopierten Glossen in München Clm 396 sind ae., in denjenigen in München Clm 6235, 14461 und 19140 frk. Vorlagen nachzuweisen. Dem Bair. zuzuordnende Glossen stammen in größerer Anzahl aus Freising und Salzburg, unter ihnen zahlreiche Griffelglossen zu Synonyma und De ecclesiasticis officiis. Eine Gruppe späterer Belege in München Clm 4541, 18192 und 19440 kommt aus Tegernsee. Bair. Isidorglossen aus dem 12. und 13. Jh. überliefern München Clm 6028 und 23496 sowie Wien Cod. 67. – Ofrk. Überlieferung aus dem Rhein-MainGebiet bietet die Hs. Würzburg M. p. th. f. 79, deren Glossen in zeitlicher Nähe zur Hs. liegen dürften (frühes 9. Jh.). Möglicherweise ebenfalls ofrk. sind Teile der Glos-

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sen in 3 aus Fulda stammenden Hss. des 8. Jh.s (Basel F. III. 15c, 15f und 15l). – Mfrk. und rhfrk. Glossen tauchen erst in spätahd. Zeit in Hss. aus Münsterdreisen und Echternach auf. – Die nd. Überlieferung bietet eine der umfangreichsten IsidorTextglossierungen, as. Glossen aus dem 10./11. Jh. in Straßburg C. IV. 15. As. sind auch die aus dem 11. Jh. stammenden Glossen in Merseburg Ms. Nr. 42, nd. die eine Glossarglosse in Leiden B. P. L. 191 aus dem 13./14. Jh. 6. Beziehungen zwischen den Glossierungen: Die ältesten Glossen zu den Synonyma stellen sich als Originalglossierungen ohne erkennbare Verbindungen untereinander dar, zumal sie sich auch auf unterschiedliche Textteile beziehen. Die Glossen zu De ecclesiasticis officiis verteilen sich auf vier Überlieferungskontexte. Eine erste Gruppe, einen größeren Komplex mit vielen Hinweisen auf planmäßiges und nach gemeinsamen Vorlagen erfolgtes Glossieren, bilden die bair. Officia-Glossen. Entgegen der Annahme in der älteren Forschung, die ausschließlich von einem fränkisch-fuldischen Ursprung vom Beginn des 9. Jh.s ausging, weisen die jüngsten Griffelglossenfunde sowie die textgeschichtlichen Zusammenhänge der Werktexte in den betroffenen Codices auf die Möglichkeit auch einer Wanderung der Glossen aus Südosten, von Salzburg aus, nach Freising. Die Beziehungen unter den Glossierungen sind im Bereich der Lemmata deutlich enger als im Bereich der Interpretamente, weshalb für die Anfänge an rein lat. Textglossare zu denken ist. Die restlichen drei Gruppen von Officia-Glossen werden aus wenigen Parallelglossierungen in 3 Hss. aus dem südwestl. Sprachgebiet (Karlsruhe Aug. IC, Leiden Voss. lat. f. 24 und q. 69), aus zeitlich auseinanderliegenden Einzelbelegen in 2 St. Galler Glossenhss. (St. Gallen 227 und 240) sowie aus wenigen as. Glossen aus Merseburg (Merseburg Ms. Nr. 42) gebildet. Kein klares Bild der Abhängigkeiten bietet die Glossierung der Etymologiae. Die spärlichen Glossarglossen in 3 frühen Hss. aus dem Südwesten des Sprachgebiets (Karlsruhe Aug. IC, Leiden Voss. lat. f. 24 und q. 69) sind durch Parallelglossierung verbunden. Dasselbe gilt für die in denselben Hss. überlieferten Glossen zu De natura rerum und De ecclesiasticis officiis. In einem evidenten kopialen Verhältnis, mit allerdings unklarer Entstehungsgeschichte, stehen die in weiten Teilen identischen Textglossen in München Clm 4541 und 18192. 2 Parallelglossen mit ihnen gemeinsam hat München Clm 6250, sodass sich hier vage eine bair. Gruppe andeutet. Die übrigen Etymologiae-Glossen zeigen untereinander keine deutlich erkennbaren Verbindungen. Bezüge zu Etymologiae-Glossen sind in dem auf den Etymologiae aufbauenden ‘Summarium Heinrici’ festzustellen. Zudem weisen einige Glossen in München Clm 23496 und Rom Reg. lat. 294 vereinzelte Verbindungen zu den ‘Glossae Salomonis’ auf.

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7. Umfang und Bedeutung: Mit 1.010 (897 ahd., 113 as.) Glossen belegt die Glossierung der breit überlieferten Werke Isidors Rang 10 der ahd. Glossen zu nichtbiblischen Texten, und ist damit hinter Autoren mit einer vergleichsweise weniger weit reichenden Verbreitung wie Herrad von Landsberg oder Ú Smaragdus von St. Mihiel plaziert. In der Auflistung der ahd. Glossierung des kirchlich-theologischen Schrifttums der Spätantike, die von den Glossen zu Werken Ú Gregors des Großen dominiert wird, figuriert die Isidorglossierung punkto Anzahl Belege dann aber knapp nach derjenigen zu Ú Hieronymus auf Rang 3, und auch punkto Anzahl Hss. steht sie an dritter Stelle. Damit erscheint Isidor als Autor, dessen Werke durchaus verbreitet volkssprachige Reflexe des Textstudiums aufweisen. Dabei zeigt die Glossierung der gelehrten, theoretischen Werke eine nur in vereinzelten Ansätzen erkennbare, über die einzelne Hs. hinausreichende Systematik, während es in der Beschäftigung mit einem auf die praktische Verwendung ausgerichteten Text wie De ecclesiasticis officiis zu planmäßigem Glossieren in größeren Zusammenhängen kommt. Im 8. Jh. tritt ein besonderes Interesse an den Synonyma zu Tage. Die über die gesamte ahd. Periode andauernde Rezeption der Etymologiae findet, wie auch diejenige von De natura rerum, eine vielgestaltige Fortsetzung im ‘Summarium Heinrici’ sowie in diversen Sammlungen und Erklärungen von Wörtern, aus welchen sie auch in die ‘Glossae Salomonis’ gelangten. 8. Literatur: G. Baesecke, ZDA 58 (1921) S. 241-279; G. Baesecke, Unerledigte Vorfragen der ahd. Textkritik und Literaturgeschichte, PBB 69 (1947) S. 367-372, 385-398; R. Bergmann, in: BStH I, S. 93, 95, 118-120; E. Glaser, Frühe Griffelglossierung, S. 616f.; E. G. Graff, Ahd. Sprachschatz, I, Sp. 1147; R. Hildebrandt, Das ‘Summarium Heinrici’, in: BStH I, S. 665-682; A. Holtzmann, Die alten Glossare, Germania 1 (1856) S. 110-117; B. Kirschstein, Sprachliche Untersuchungen zur Herkunft der althochdeutschen Isidorübersetzung, insbesondere zur ‘Murbarcher These’, PBB 84 (Tübingen 1962) S. 5-122; R. Kögel, Zu den Murbacher denkmälern und zum Keronischen glossar, PBB 9 (1884) S. 320, 330; E. Krotz, Auf den Spuren des ahd. Isidor, S. 19, 261-265, 276-279, 655 und passim; K. Matzel, Untersuchungen, S. 101, 111; K. Matzel, ‘Althochdeutscher Isidor und Monseer-Wiener Fragmente’, in: 2VL I, Sp. 300; C. Moulin, Würzburger Althochdeutsch; C. Moulin – F. Klaes, in: BStH I, S. 570-577; A. Nievergelt, ZDPh 128 (2009) S. 321-323; A. Nievergelt, ZDPh 129 (2010) S. 42-47; A. Nievergelt, ZDA Beiheft 11 (2009), S. 180; A. Nievergelt, Sprachwissenschaft 37 (2012) S. 382; St. Stricker, Quantitative Verhältnisse der Glossenüberlieferung, in: BStH I, S. 186-198; E. Ulrich, Die althochdeutschen Glossen zu Isidors Büchern über die Pflichten; F. J. Worstbrock, Artikel ‘Isidor von Sevilla’, in: 2VL XI, Sp. 739.

ANDREAS NIEVERGELT

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Isidor-Übersetzung – ‘Mon(d)seer Fragmente’

Isidor von Sevilla ‘De fide catholica’, Althochdeutsche Übersetzung und ‘Mon(d)seer Fragmente’ Ende des 8. Jh.s entstandene Gruppe von Übersetzungen. Die Pariser Hs. überliefert nur den ‘Ahd. Isidor’, die ‘Monseer Fragmente’ darüber hinaus vier weitere Texte. Beide Hss. sind als lat.-ahd. Bilingue angelegt. 1. Überlieferung und Inhalt: Ahd. Isidor: Paris, BNF lat. 2326. Der lat. Text des Traktats ‘De fide catholica contra Iudaeos’ Isidors von Sevilla ist vollständig überliefert. Die ahd. Übersetzung, die jeweils in die rechte Spalte einer Seite eingetragen wurde, bricht dagegen auf f. 22r im 9. Kapitel des ersten Buches ab; zunächst bleibt die rechte Spalte frei, ab f. 34r, d.h. innerhalb der übernächsten Lage, füllt der lat. Text die ganze Seite. Die Gründe für diese unvollständige Überlieferung sind unklar. Die erste Lage der Hs. ist verloren. Nach B. Bischoff wurde die Hs. um 800 geschrieben (FMSt 5 [1971] S. 108). Nicht möglich seien als Schreiborte Murbach, Weißenburg, Lorsch, Mainz, Köln, es bestehe auch keine Ähnlichkeit mit Hss. der Hofschule (briefl. Auskunft an K. Matzel 1970, S. 472), vom Initialschmuck her stamme die Hs. aus austrasischem Gebiet nahe der Sprachgrenze (B. Bischoff, Mittelalt. Stud. III, S. 20). Eine ausführliche Beschreibung der Hs. liefert E. Krotz 2002, S. 21-105. Bruchstücke aus den ersten fünf Kapiteln des Traktats, also auch aus in der Pariser Isidorhs. nicht mehr erhaltenen Teilen, sind bewahrt in den Monseer Fragmenten. Monseer Fragmente: Wien, ÖNB Cod. 3093* und Hannover, GWLB (Niedersächsische LB) Ms. I 20b. – Eine Sammlung von Fragmenten gleichen Formats, gleicher Datierung/Lokalisierung und gleicher Anlage (lat.-ahd. Bilingue) trägt in der Forschung den Namen ‘Monseer Fragmente’, nach dem Schreibort in seiner älteren Lautgestalt. Mindestens 47 Blätter sind als Makulatur erhalten, mehr als 90 weitere Blätter sind erschließbar. Immer steht der lat. Text auf der Verso-Seite und der entsprechende ahd. Text auf der gegenüberliegenden Recto-Seite. Gemeinsamer Schreibort aller Blätter ist das Kloster Mondsee im Salzburgischen, B. Bischoff (Die südostdt. Schreibschulen, S. 10) datierte sie ins erste Jahrzehnt des 9. Jh.s bzw. in das erste Drittel des 9. Jh.s (Katalog I, S. 313). Zwei Mondseer Schreiber waren tätig (B. Bischoff, Katalog, I, S. 313), einer für den Isidor-Traktat, der andere für den Rest (anders K. Matzel 1970, S. 70, der von nur einem Ab- und Umschreiber ausgeht); zudem unterscheidet sich das Layout des Isidor-Traktats durch dichtere Zeilenfüllung von den übrigen Texten; insofern ist nicht sicher, ob die Fragmente ursprünglich zu einer einzigen Hs. gehörten, es wäre „die einzige noch erhaltene echte Sammelhandschrift althochdeutscher Literaturdenkmäler“ (H. Fischer, S. 8*). Erhalten sind Reste von fünf geistlichen Prosatexten:

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1. das Matthäus-Evangelium, von dem so viel Bruchstücke erhalten sind, dass eine vollständige Übersetzung als sicher angenommen werden kann. Auf die Altertümlichkeit der lat. Textgrundlage deutet ein längerer Einschub aus der Itala-Version des Evangeliums; 2. die von den ersten Herausgebern St. Endlicher und H. Hoffmann sogenannte ‘Homilia de vocatione gentium’, die jedoch eher ein Traktat ist. In diesem geht es in einem ersten zusammenhängend erhaltenen Teil um die Verschiedenheit der Sprachen unter den verschiedenen Völkern. Erst durch die Menschwerdung Christi und das Wirken des Heiligen Geistes beim Pfingstwunder ist wieder ein gemeinsamer, Gott preisender Lobgesang aller gentes möglich. Der zweite Teil beginnt mit dem Hymnus auf die caritas, die der Heilige Geist in die Herzen gießt, aus dem ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther und der Auslegung dieser Stelle durch Gregor den Großen. Es folgt die Begründung der Berufung der Heiden durch die Weigerung der Juden, an Christus als Sohn Gottes zu glauben. Der Glaube, nicht die gentile Zugehörigkeit, stiftet nun die Einheit der Kirche; 3. wenige gebetsartige Zeilen vom Schluss eines so genannten ‘unbekannten Predigtfragments’, dessen Inhalt sich nicht genauer bestimmen lässt. Erhalten ist lediglich die Ermahnung an die Gläubigen, Christus willig zu folgen und auf seine Gnade zu hoffen; 4. Augustins Sermo 76 aus der Sammlung ‘De verbis Domini’. Diese Predigt des lat. Kirchenvaters handelt von den ‘Festen’ und ‘Unfesten’ im Glauben am Beispiel des Jüngers Petrus, der im NT sowohl als wankend als auch als fest glaubend beschrieben wird, er versinnbildlicht zugleich die unitas in multis; 5. der Anfang des auch in der Pariser Isidorhs. überlieferten Traktats ‘De fide catholica contra Iudaeos’ Isidors von Sevilla. Der übersetzte Teil des ca. 614/15 verfassten Traktats (W. Drews, 2001, S. 124) bietet eine Sammlung auf Christus zu beziehender Stellen des AT in historischer Reihenfolge, er konnte damit die notwendigen Argumente gegen die Häresie der westgotischen Adoptianer liefern, die im letzten Jahrzehnt des 8. Jh.s auch im Frankenreich die Lehre verbreiteten, Christus sei nur durch Adoption zum Sohn Gottes geworden. Isidors Inbezugsetzen des im AT prophezeiten Messias und des im NT bezeugten Christus setzt beim Leser voraus, dass er zwischen res und signa unterscheiden kann und weiß, wie sich das eine aus dem anderen beweisen lässt (man vergleiche E. Krotz 2003). Isidors Werk dürfte sich „an alle theologisch interessierten und gebildeten Personen – Kleriker wie Laien – gerichtet haben, zumal aus verschiedenen Quellen hervorgeht, daß Bildung im Westgotenreich des siebten Jahrhunderts keineswegs auf den Klerus beschränkt war“ (W. Drews, 2001, S. 531).

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2. Editionen: Ahd. Isidor: G. A. Hench (Hg.), Der althochdeutsche Isidor. Facsimile-Ausg. des Pariser Codex nebst critischem Texte der Pariser und Monseer Bruchstücke. Mit Einleitung, grammatischer Darstellung und einem ausführlichen Glossar. Mit 22 Tafeln, Straßburg 1893; H. Eggers (Hg.), Der althochdeutsche Isidor. Nach der Pariser Handschrift und den Monseer Fragmenten neu herausgegeben, ATB 63, Tübingen 1964 [recte 1965, vgl. die Rezension in Germanistik 7, 1966, S. 61); H. Eggers, Ein neues Blatt der Monseer Fragmente, in: Mediævalia litteraria. FS Helmut de Boor, S. 33-38; Faksimile s. den Link im PadRep. Monseer Fragmente: G. A. Hench (Hg.), The Monsee Fragments. Newly collated text with introduction, notes, grammatical treatise and exhaustive glossary and a photo-lithographic facsimile, Straßburg 1890; MSD Nr. LIX und LX, I, S. 210-221, II, S. 346-353. – Eine Neuedition durch E. Krotz ist in Vorbereitung.

3. Sprache: Die ‘Monseer Fragmente’ wurden zwar zweifellos in Mondsee geschrieben, es handelt sich aber um eine (bajuwarisierende) Abschrift eines Originals (oder mehrerer Vorlagen) im Dialekt der Gegend von Metz (deutschsprachiges Lothringen). Dieser Sprachstand ist in der Pariser Isidorhs., die mit dem anzusetzenden Original aufs engste verwandt ist, noch erhalten. In den ersten Blättern des Matthäus-Evangeliums ist die Umsetzung noch weniger konsequent als in den restlichen Teilen der Hs. Zur Orthographie der Pariser Isidorhs., die in der Monseer Abschrift noch durchschimmert, gibt es im gesamten ahd. Schrifttum keinen vergleichbaren Versuch, Schreibregelungen für jeden Laut festzusetzen und konsequent anzuwenden. Beispielsweise findet sich nur in diesem Denkmal die graphische Unterscheidung zwischen dem durch die zweite Lautverschiebung aus germ. t entstandenen Reibelaut, der hier im Wortauslaut nach Vokalen als zs und intervokalisch zss geschrieben wird (uuazssar ‘Wasser’, dhazs ‘das’), und der Affrikata, die hier als tz im Wortinnern nach kurzen Vokalen bzw. z nach langen Vokalen und im Wortauslaut erscheint (sitzen, dhiz). Durch diese Graphieregelung wird die phonetische Mehrdeutigkeit der gewöhnlichen ahd. Schreibung zz bzw. z für beide Laute umgangen. Die ‘Monseer Fragmente’ dagegen bieten kein eigenes, auf das Bair. optimiertes System, sondern nur eine im eigenen Dialekt lesbare Fassung; für den gleichen Laut werden verschiedene Schreibungen benutzt, und die Graphie ist wieder mehrdeutig (uuazar, daz). 4. Ort: Der Ort der Entstehung des Übersetzungswerks ist strittig, die genauere Bestimmung auch deshalb schwierig, weil kein vom Lautstand und der Datierung her ähnliches Vergleichsmaterial erhalten ist. Die Vermutungen der Forschung gingen zunächst in drei Richtungen:

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1. westliches, südrhfrk. Lothringen, speziell Metz (vor dem Tod Erzbischof Angilrams 791) bzw. die Metzer Diözese (St. Avold, Hornbach); die erst zwei Jahrhunderte später endgültig feste Sprachgrenze liegt allerdings östlich von Metz, auf halbem Weg nach dem ca. 40 km entfernten St. Avold. 2. Westfranken mit seiner Sprache der in romanischem Sprachgebiet ansässigen Siedler- und Erobererschicht; man dachte an Klöster mit fränkischen Insassen auf romanischem Gebiet; speziell Tours wegen der dort gegebenen geistigen Voraussetzungen, Zweisprachigkeit ist dort für das Jahr 813 bezeugt; die Zweisprachigkeit des Übersetzers würde das hochstehende Verständnis des Lateinischen erklären. 3. Rhfrk. Gebiet östlich der Sprachgrenze, Mainzer Gegend oder Mittelfranken. Neben real gesprochenen, aber sonst nicht bezeugten Dialekten wurde auch eine künstliche Mischsprache oder das Mfrk. der Oberschicht oder eine klösterliche Ausgleichssprache oder gar karolingische ‘Hofsprache’ als Erklärungsmodell für die vielerlei Züge tragende Sprache der Übersetzungen, wie sie der ‘Ahd. Isidor’ noch zeigt, herangezogen. Die Forschung tendiert in den letzten Jahren dazu, die Übersetzungen in ihrer Originalgestalt dialektgeographisch als lothringisch, dem lautlichen Habitus nach als südrhfrk. einzuordnen, da sich dadurch das Auftreten sowohl mfrk. und nfrk. als auch südl. Sprachelemente am besten erklären lässt; „es kämen als Heimat des Übersetzers Blies-, Rossel-, Saar- und Seillegau in Frage, aber auch nachweisbare Sprachinseln des Charpaignegaus am Rupt-de-Mad, Gorze oder Metz selbst“ (W. Haubrichs, 1975, S. 10). 5. Zeit: Beim Bemühen, den Entstehungszeitraum der Übersetzungen zu bestimmen, steht die Forschung ebenfalls vor dem Problem mangelnden Vergleichsmaterials und versucht daher, über Vermutungen zur Verfasserschaft bzw. zum Auftraggeber den möglichen Zeitrahmen abzustecken. Von Anfang an gab es Versuche, die Übersetzungen als vom Hof Karls d. Gr. initiiertes Projekt zu betrachten, so wie es in der Frühzeit der Germanistik oft Bestrebungen gab, deutsche Literatur mit namhaften Herrschern in Verbindung zu bringen. Hauptargumente sind die Einzigartigkeit der Sprachbeherrschung, die sich sowohl beim Verständnis des Lateinischen als auch im souveränen Gebrauch des Althochdeutschen zeigt, der weit über die gleichzeitigen Versuche interlinearer Übersetzungen hinausragt, sowie die im Monseer Traktat ‘De vocatione gentium’ vorgebrachte Forderung, Gott in allen Sprachen zu loben, die mit den Bestimmungen der karolingischen Reform, insbesondere der Frankfurter Synode in Einklang zu stehen scheint: Im Frankfurter Capitular von 794, c. 52 heißt es Ut nullus credat, quod nonnisi in tribus linguis Deus orandus sit, quia in omni lingua Deus adoratur et homo exauditur, si iusta petierit (MGH Capitularia I Nr. 28); der Verfasser des Monseer Traktats dürfte „in dem Kreis derer zu suchen sein, die vorbereitet haben, was sich in dem Beschluß von 794 niederschlug“ (K. Matzel, Untersuchungen). Als terminus post quem gilt das Einsetzen des Adoptianismusstreits im

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Frankenreich (ca. 792-799), da manche Zusätze des Übersetzers verraten, dass man zu seiner Zeit schon gelernt hatte, streng darauf zu achten, welche Epitheta dem Sohn Gottes zu geben sind (man vergleiche etwa H.-U. Schmid 1979). Die Vermutungen zum Zeitpunkt der Entstehung der Übersetzungen fußen dementsprechend auf vorwiegend politischen Rahmendaten, so etwa „von der Admonitio generalis (789) bis zur Abklärung des adoptianischen Streites (bald nach 800)“ (K. Matzel, Untersuchungen, S. 511, mit der Hypothese, der Verfasser habe, um der Sprache Würde zu verleihen, altertümliche Ausdrücke gewählt und sei selbst nicht mehr jung gewesen, und dem Einwand, eine frühere Datierung würde den Abstand zur Monseer Abschrift unnötig vergrößern). Oder die Hypothesen basieren auf eher sprachlichen oder verschiedenartigen Gründen, wodurch sich eine frühere Datierung ergibt: die 70er Jahre des 8. Jh.s als Entstehungszeit der Isidorübersetzung sind für H. Kowalski-Fahrun (S. 315) aufgrund der Altertümlichkeit der Sprache und für H. Eggers (1960) auch aufgrund einer möglichen Verbindung mit Erzbischof Angilram († 791) denkbar. 6. Verfasser und Auftraggeber: Bei der Datierung ist auch zu hinterfragen, ob die verschiedenen Texte von einem einzigen Übersetzer (dann evtl. zu verschiedenen Lebensphasen) oder von mehreren Personen (etwa Lehrer und Schüler) bearbeitet wurden. In dieser Frage herrscht jedoch weiterhin Unsicherheit. Die Verschiedenheit der zu übersetzenden Texte wie auch die lediglich kopiale Überlieferung erschweren den Vergleich. Während K. Matzel in all seinen Veröffentlichungen von einem einzigen Übersetzer ausging, der mit dem Matthäus-Evangelium begonnen und sich am Schluss an den schwierigen Isidortext gewagt habe, betrachtet W. Haubrichs (1975, S. 4) diese Hypothese lediglich als die wahrscheinlichste. Hauptargument sind stilistische Ähnlichkeiten (s. etwa J. Lippert; deutliche Zweifel an K. Matzels These bei E. Schlachter). K. Matzel (Untersuchungen) liefert das ausgefeilteste Szenario beim Versuch, die Übersetzungen in Herrschernähe zu rücken: Es sei dem Verfasser um die Aufstellung grammatischer Normen gegangen, was in Bezug zu Einharts Bemerkung über Karl d. Gr., Inchoavit et grammaticam patrii sermonis (MGH SS rer. Germ. 25, S. 33) zu setzen sei. K. Matzel muss allerdings Einharts Zeitangabe post susceptum imperiale nomen am Beginn des entsprechenden Absatzes so umdeuten, dass er sich nicht auch auf die Bemerkung am Ende desselben bezieht, und zudem grammatica auf das Teilgebiet Orthographie reduzieren. Die Übersetzungen „können sehr wohl zum unmittelbaren Zeugnis für die von Karl eingeleitete grammatische Beschäftigung mit dem patrius sermo werden. Da es auf die Verschriftlichung ankam, konzentrierte sich diese Beschäftigung auf die Orthographie“. K. Matzel erklärt andererseits das geringe Nachwirken damit, die Regeln der Orthographie seien doch nicht ganz nach einheitlichen Prinzipien erstellt worden, seien in ihrer Subtilität nur vom Autor durch-

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schaubar und nicht vermittelbar und erlernbar gewesen und einiges sei gar nicht geregelt gewesen, auch sei die Graphie auf einen bestimmten Dialekt zugeschnitten. Die ‘Monseer Fragmente’ seien daher nur noch Schulmeisterstücke, in Verkehrung des ursprünglichen Zweckes, wie es aber bei hochwertigen literarischen Erzeugnissen immer wieder zu beobachten sei. Die Übersetzungen als Ergebnis der Bemühungen Karls d. Gr. „tragen in Sprachbehandlung und -meisterschaft den Charakter des Beispielhaften, zeugen für ein planvoll angelegtes und durchgeführtes Unternehmen, das in die Hand einer Persönlichkeit gelegt worden ist. Diese identifiziert sich mit den Plänen des Herrschers und verdeutscht mustergültig [...] eine Reihe von lateinischen Schriften verschiedener theologischer Genera“, gerade dies schließe die Annahme aus, „eine Persönlichkeit in irgendeiner abgelegenen Klosterzelle habe derartig prompt auf die Impulse des Gesetzgebers geantwortet [...]. Alle Höchstleistungen der Zeit gehen auf direkte Anregungen und Forderungen des Herrschers und Hofes zurück. [...] Der Nachweis, daß die Sprache die an sie gestellten Anforderungen in gleicher Weise wie das Lateinische zu leisten vermochte, war dann am überzeugendsten zu führen, wenn sie sich in der Verdeutschung verschiedenartiger lateinischer theologischer Texte bewährte, deren jeder in seiner Weise bedeutsam oder von aktuellem Interesse war“ (K. Matzel, Untersuchungen). Die moderne Geschichtswissenschaft hat manche Angaben in Einharts Karlsvita indes kritisch auf ihren Wahrheitsgehalt hinterfragt und die Verwertung literarischer Vorbilder in Rechnung gestellt. Aus der älteren germanistischen Forschung sind noch der Unterricht und die Erziehung des geistlichen Nachwuchses, aber auch Unterricht und Predigt in einem Missionsgebiet als vermutete Zwecke der Übersetzungen anzuführen. Wichtig für das Modell eines einzigen Übersetzers in Hofnähe ist auch die entsprechende Deutung einer lat. Nachschrift am Ende des Matthäus-Evangeliums, von der nur der zweite Teil erhalten ist. Die darin vorkommende Wendung librorum haec oblata formatio (G. A. Hench, S. XXI) wird bisher in der Forschung auf die Mondseer Abschrift bezogen, wenn auch unklar ist, wieso eine solche ‘Nachschrift’ am Ende des ersten Werkes innerhalb der Sammelhs. und nicht am Schluss der Hs. stand. Die Zusammengehörigkeit der Übersetzungen und dieser Subscriptio schien selbstverständlich, wenn auch E. Steinmeyer (in MSD II, S. 351f.) und W. Haubrichs (1975, S. 2f.) sie dem Monseer Kopisten zuschreiben, während G. A. Hench (1890, S. XXIII) und K. Matzel (Ges. Schriften, S. 224) in ihr eine Abschrift aus der Vorlage sehen. Unerkannt blieb bisher, dass der erhaltene Teil der Subscriptio aus zwei Textabschnitten besteht, die der Praefatio zu den ‘Progonosticorum futuri saeculi libri tres’ des Metropoliten Julian von Toledo († 690) entnommen sind (Identifizierung dank C. Weidmann, Wien), der entsprechende Text findet sich in der Edition von J. N. Hillgarth, S. 14, Z. 99-104,118-121. Es sind die einzigen beiden Stel-

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len der Praefatio, die von so allgemeinem Inhalt sind, dass sie sich auf andere Werke übertragen lassen. Möglicherweise sind sie hier also nur als Briefformeln notiert, zumal sie zwar vom gleichen Schreiber, aber nicht im selben Zug wie der vorangehende Text notiert wurden (E. Krotz, 2002, S. 157), dies würde auch die Platzierung nicht am Schluss der Hs., sondern auf freigebliebenem Raum am Ende des Matthäus-Evangeliums erklären. Auf der gegenüberliegenden Seite stand dann möglicherweise ein lat. Explizit des Evangeliums, das wie in solchen Fällen üblich unübersetzt blieb. Bemerkenswerterweise sind drei rein lat. Isidorhandschriften erhalten, in denen der Traktat ‘De fide catholica contra Iudaeos’ gemeinsam mit Julians Werk überliefert ist, sodass auch eine Herkunft der Widmungsformeln aus dem Überlieferungszusammenhang des Isidortextes denkbar ist. Wir hätten damit zwei Textauszüge von Werken aus dem spanischen Westgotenreich beisammen, wenn man nicht sogar beim Traktat ‘De vocatione gentium’ im Hinblick auf seine Thematik der Berufung aller Völker einen westgotischen Hintergrund für denkbar halten will. Der terminus post quem für diesen Traktat wird durch Zitate aus Schriften Gregors des Großen († 604) und Isidors von Sevilla († 636) bestimmt. Dass der Verfasser des lat. Textes nicht mit dem Übersetzer identisch ist oder in Kontakt stand, zeigen gewisse Unsicherheiten beim Verständnis des lat. Textes. Auch beim Vergleich des Isidor- und Augustin-Textes mit der lat. Überlieferung fällt auf, dass der dem Übersetzer zur Verfügung stehende Text gerade nicht den mit Karls Hofbibliothek in Zusammenhang gebrachten Hss. ähnelt, sondern eher Seitenzweigen der Überlieferung zu entstammen scheint. Vom Isidortraktat sind mehr als 60 lat. mittelalterliche Hss. erhalten, davon entstammen mehr als 20 dem 8. oder 9. Jh. Die früheste erhaltene Hs., Ms. Barb. lat. 671 der Biblioteca Apostolica Vaticana (2. Hälfte 8. Jh., Toskana), weist ebenso wie die engstens mit ihr verwandte Hs. Wien, ÖNB Cod. 1032 (Oberrhein, frühes 9. Jh., Provenienz Worms) Sonderlesarten auf, die der Pariser Isidorüberlieferung fremd sind (K. Ostberg passim und E. Krotz 2002, S. 32). Was die Augustinpredigt betrifft, so zeigen sich in der Mondseer Fassung, dem frühesten Textzeugen, mehrere gravierende Fehler und Lücken, die in keiner der mehr als 60 erhaltenen mittelalterlichen Augustinhss. wieder auftauchen. Sollte der ‘hofnahe’ Übersetzer hier eine Hs. der Hofbibliothek verwendet haben, so wäre es außergewöhnlich, dass diese nicht Spuren in der Überlieferung hinterlassen hätte. Der Text der ‘Monseer Fragmente’ scheint im übrigen noch mit dem gemeinsamen Vorläufer der sich später scheidenden Familien zusammenzuhängen. Dies zeigt sich insbesondere an der Stelle Ed. G. A. Hench 39,28, an der der Übersetzer ein bisher im Kontext nicht erklärliches Wort andres verwendet, das aber im Blick auf die lat. Überlieferung Sinn macht: wenige lat. Hss. mit der Augustinpredigt fügen an dieser Stelle alibi ein, dies stand also wohl auch im nicht erhaltenen lat. Text zu dieser Seite, sehr viele andere ambulauit, das aber keine Entsprechung im Althoch-

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deutschen hätte. Die Hss. mit alibi gehören, legt man die Einteilung von De Coninck zugrunde, jedoch ganz verschiedenen Familien an. Die sechs noch im 9. Jh. entstandenen Augustinhss. mit dieser Predigt entstammen alle dem heute frz. Gebiet, über das sich auch die Werke Isidors von Sevilla und Julians von Toledo im 9. Jh. verbreiten. Wenn im Zusammenhang mit den Übersetzungen von ‘einsamer Höhe’ (St. Sonderegger, S. 131) die Rede ist, so gilt es zu bedenken, dass ein nahe der Sprachgrenze geschaffenes Werk nicht nur mit den gleichzeitigen mühsamen Übersetzungsversuchen etwa in Freising und Fulda in Relation zu setzen ist, sondern auch mit den hochstehenden klösterlichen Bildungsstätten an und jenseits der Sprachgrenze, die zeigen, dass es auch ohne direkte Anregung von seiten des Hofes möglich wahr, Höchstleistungen etwa auf dem Gebiet der Glossierung von Klassikerhandschriften zu vollbringen. Die von K. Matzel ausgeschlossene ‘Persönlichkeit in irgendeiner abgelegenen Klosterzelle’ ist in dieser Gegend des Reiches, in der so viele Verkehrswege sich kreuzen, ohnehin nicht vorstellbar, wohl aber eine Persönlichkeit wie ein Lehrer oder Scriptoriumsleiter in einem Kloster im deutsch- oder zweisprachigen Lothringen. Als Vermittler der Übersetzungen ans Kloster Mondsee gilt allgemein der Kölner Erzbischof Hildebold, der zugleich nominell Abt des Klosters war (803-818). Als Nachfolger Angilrams als sacri palacii archicapellanus fungierte er zugleich als oberster geistlicher Ratgeber Karls d. Gr., was wieder zur Hypothese des ‘hofnahen’ Übersetzers passt: Der Hof war „der Herkunftsort der Vorlagen des bairischen Kopisten“ (K. Matzel, Untersuchungen, S. 535). Vergleicht man allerdings die Predigten und Traktate in den zahlreichen Hss., die Hildebold zusammenstellen ließ, stellt sich keine Ähnlichkeit mit den Texten der ‘Monseer Fragmente’ ein. Dagegen fände sich dort manches Stück, das für die geistliche Unterweisung und die Umsetzung der Reformbeschlüsse eher geeignet gewesen wäre als etwa der anspruchsvolle Isidortraktat. Eine weitere denkbare Möglichkeit wäre die Vermittlung Bischof Arns von Salzburg, der zugleich Abt von St. Amand im Hennegau war. 7. Literatur: B. Bischoff, Panorama der Handschriftenüberlieferung aus der Zeit Karls des Großen, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, hg. v. W. Braunfels, II. Das geistige Leben, Düsseldorf 1965, S. 233-254 (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud. III, S. 5-38); B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134 (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud. III, S. 73-111); B. Bischoff, Die südostdt. Schreibschulen, II, zu den Monseer Fragmenten S. 10 und 21f.; B. Bischoff, Katalog I, S. 313, Nr. 1502; M. Blusch, Zur Rekonstruktion der Anfangspartien der ahd. Übersetzung des Isidor-Traktats, ZDA 117 (1988), S. 68-78; L. De Coninck – B. Coppieters ’t Wallant – R. Demeulenaere, La tradition manuscrite du recueil De verbis Domini jusqu’au XIIe siècle. Prolégomènes à une édition critique des Sermones ad populum d’Augustin d’Hippone sur les Évangiles (serm. 51 sqq.), with an English Summary and a New Critical Edition of serm. 52, 71 and 112, Instrumenta Patristica et Mediaevalia 45, Turnhout 2006; F. Delbono, Osservazioni sull’‘Isidoro’ in antico altotedesco, StM 9 (1968) S. 277-319; F. Delbono, Rez. von

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ELKE KROTZ

‘Ja’ 1. Einleitung: Sammlung verschiedener rein lat. oder lat.-ahd. Textglossare zu Bibel, Bibeldichtung, Bibelexegese, grammatischen Texten und Passiones. Insgesamt 1.342 Glossen, davon 594 ahd. in alem. Mundart. Damit ist ‘Ja’ eine der größten Glossensammlungen des 9. Jh.s. Benannt nach dem Anfangsbuchstaben des Nachnamens des früheren Besitzers der Trägerhs. (Franciscus Junius), in der drei große Glossare überliefert sind. Diese wurden dementsprechend als Junius A, kurz ‘Ja’, bzw. ‘Jb’ und ‘Jc’ bezeichnet. 2. Überlieferung: Teil J der Hs. Oxford, BodlL Ms. Jun. 25, die aus neun erst in der Neuzeit zusammengebundenen Faszikeln besteht. Die von mehr als einer Hand zweispaltig eingetragenen Blätter 158-193 stammen laut B. Bischoff (Mittelalt. Stud., III, S. 80f.) aus dem Bodenseegebiet, E. Sievers datiert den Faszikel in den Anfang des 9. Jh.s (Die Murbacher Hymnen, S. 3). Er besteht aus vier Quaternionen und

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einem Binio, die offenbar längere Zeit separat gelagert waren. Auf das Glossar ‘Ja’ folgen noch den Etymologien Isidors von Sevilla entnommene Erklärungen der Bezeichnungen geistlicher Würdenträger von den Patriarchen bis zu den Mönchen, drei Auslegungen des Paternosters, Hilarius’ von Arles Expositio de fide catholica und ein Segen. Zu Details vgl. E. Krotz, Auf den Spuren des ahd. Isidor, S. 246-256. 3. Zusammensetzung: Das Glossar besteht aus einer gekürzten Version des Glossars ‘Rz’, die zudem nur vom Buch Genesis bis zum zweiten Buch Samuel reicht, und einer nicht immer durch Zwischenüberschriften gegliederten und in der Reihenfolge leicht gestörten Textglossarsammlung. Zudem ist die Reihenfolge heute durch Fehler beim Binden gestört, daher stimmt die im folgenden genannte ursprüngliche Reihenfolge nicht mit der heutigen Aufeinanderfolge der Blätter überein. ‘Rz’-Teil (in Klammern jeweils die Nr. bei StSG): f. 158ra Genesis (XV), f. 161ra Exodus (XXXV), f. 162vb Leviticus (XLVII), f. 163vb Numeri (LIX), f. 164va Deuteronomium (L-XXIV), f. 165rb Iosua (Iesu Naue), Praefatio (LXXXII), f. 165va Iosua (Iesu Naue) (LXXXII), f. 165vb Iudicum, Anfang, ohne dt. Gll., f. 176ra Iudicum, Fortsetzung (XCII), f. 176rb Ruth (XCVI), f. 176va Samuel/Regum (Prolog), ohne dt. Gll., f. 177va-178vb, f. 166ra-167vb f. 179ra-179vb I Samuel (CXIII), f. 179vb-181vb II Samuel, Anfang, ohne dt. Gll., f. 168ra II Samuel, Schluss, ohne dt. Glossen. Gemischter Textglossar-Teil (in Klammern jeweils die Nr. bei StSG): f. 168va Juvencus, 1. Glossengruppe (DCCXXII), f. 169va Passio Petri et Pauli (DCCCCXIX), f. 169va Passio Andreae (DCCCXCIV), f. 169vb Passio Iacobi (DCCCCIV), f. 172ra Milet, Liber de actibus Ioannis ap. (DCCCCVII), f. 172rb Passio Bartholomaei, Anfang (DCCCXCVI), f. 172va Primasius, Apokalypse-Kommentar, (DCCCXCVI), darin u.a. auch: II. Petrusbrief, f. 173ra Donats Grammatik oder Kommentar (DCCCXCVI), f. 173rb Hieronymus’ Prolog zu den Paulusbriefen (DCCCXCVI), f. 173rb Liber Iesu filii Sirach, Mittelteil (CCLXXIII), f. 173vb Hieronymus, Matthäus-Kommentar (DCXCII), f. 174rb Liber proverbiorum (CCXXXV), f. 174rb Liber Ecclesiastes (CCXLIII), f. 174va Canticum canticorum (CCLIV), f. 174va Liber sapientiae (CCLXIV), f. 175ra Liber Iesu filii Sirach, Anfang (CCLXXIII), f. 175ra Iob (CCXVI), f. 175rb Liber Iesu filii Sirach, Schluss (CCLXXIV), f. 175vb-170ra Esther (CCIV), f. 170ra Liber proverbiorum (CCXXXIV), f. 170va I. Korintherbrief (CCCCXIV), f. 170vb Passio Bartholomaei, Schluss (DCCCXCVI), f. 170vb Passio Thomae (DCCCCXXVI), f. 171ra Hieronymus, Praefatio in evangelio (DCCCCXXVI), f. 171ra Prologe und Argumenta zu Markus und Lukas (DCCCCXXVI), f. 171rb Beda, De schematibus et tropis und Donat o.ä. (DCCCCXXVI), f. 171va Prologe zum Matthäus-Evangelium (DCCCCXXVI), f. 171va Juvencus, 2. Glossengruppe (DCCCCXXVI), f. 182ra fast ganz ausradiert, f. 182rb Sedulius (DCCCXLIII), f. 182vb ‘Adespota’ = Bibel- und Gregorglossen (MCXCIII).

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Der ‘Rz’-Teil besteht insgesamt aus 660 Gll., von denen 135, also rund ein Fünftel, volkssprachige Interpretamente besitzen, eine dieser Glossen könnte zu den ae. Glossen innerhalb der ‘Rz’-Überlieferung gehören. Gegenüber anderen Hss. des ‘Rz’Glossars fehlen in ‘Ja’ 279 Gll., viele Interpretamente sind zudem kürzer. Die Auslassungen betreffen Einzelglossen, aber auch kleine batches. Das Glossar ‘Ja’ ist mit keiner der mehr als 100 übrigen ‘Rz’ überliefernden Hss. direkt verwandt (sieh dazu P. Vaciago und E. Krotz, in: BStH). Die übrigen Bibelglossen im Glossar ‘Ja’ haben keine Ähnlichkeit mit den entsprechenden Teilen des ‘Rz’-Glossars, das in anderen Hss. bis zum Johannes-Evangelium reicht. Der zweite Teil mit den vermischten Textglossaren verschiedenster Herkunft bietet insgesamt 682 Gll., davon sind 459 ahd. Nicht alle Textglossare des zweiten Teils, dessen Beginn in der Hs. nicht kenntlich gemacht wird, tragen eine Zwischenüberschrift. In der Edition von Steinmeyer – Sievers blieben einige batches unidentifiziert und wurden den Glossen zugeschlagen, die in der Hs. mit einer Quellenangabe versehen sind. Schwierigkeiten beim Erkennen des ursprünglich glossiertenTextes bereiten auch einzelne verstreute Glossen, außerdem wird nicht immer die Reihenfolge des glossierten Textes eingehalten, aufgrund von Überlieferungsverderbnis des Glossars selbst oder weil die ausgehobene glossierte Hs. schon verbunden war, dies betrifft die Reihenfolge Mittelteil, Anfangsteil, Schlussteil, die sowohl die Primasius-batches als auch die Glossen zum Liber Iesu filii Sirach aufweisen. Öfters sind in längere Glossengruppen fremde, vereinzelte Glossen einsortiert. Dass sich in diesem Teil auch mehrere Glossenstränge zum Apokalypsekommentar des Primasius befinden, dessen Werk im 8./9. Jh. im südwestdeutschen Raum verbreitet war, deutet auf den Entstehungsraum dieses Glossars, die Ähnlichkeit der Lemmata in ‘Ja’ mit dem (unglossierten) Text einer Reichenauer Primasius-Hs. (Karlsruhe, BLB, Aug. CCXXII) lässt vermuten, dass die ‘Ja’-Glossen aus einem engstens mit diesem Reichenauer Exemplar verwandten Codex stammen. Die vor allem im gemischten Textglossar-Teil verunklärte Herkunft vieler Glossen beraubt insbesondere die an den Kontext gebundenen Erklärungen ihrer Nutzbarkeit. Von hieraus wird verständlich, dass vergleichbare Sammlungen einer Alphabetisierung unterzogen wurden, wie beispielsweise das Glossar ‘Jb’. 4. Editionen: StSG, dort aber auf 29 Blöcke verteilt unter den oben angegebenen Nummern. Teileditionen einzelner Glossenstrecken bei E. Krotz, in: BStH. Die Juvencus-Glossen, soweit sie damals diesem Autor zugeordnet wurden, bei D. Ertmer, S. 225-250. – Abbildungen: G. Baesecke, Lichtdrucke, Tafel 34 und 35 (= f. 163v und 175r). 5. Literatur: BStK-Nr. 725 (IV); D. Ertmer, Studien zur althochdeutschen und altsächsischen Juvencusglossierung, StA 26, Göttingen 1994, S. 219-257; R. Kögel, Gesch. d. dt. Litt. I, 2, S. 517-521; E. Krotz, Auf den Spuren des ahd. Isidor, S. 246-256, 679-689; E. Krotz, Die Glossare Ja, Jb und Jc, in: BStH I, S. 780-828, hier S. 780-815; E. Seebold, Chronolog. Wb. II,

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S. 105; E. Sievers, Die Murbacher Hymnen, S. 1-10; StSG IV, S. 589f., Nr. 493; P. Vaciago, Glossae biblicae, I-II, CCCM. 189 A und B, Turnhout 2004.

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‘Jb’ 1. Einleitung: Alphabetisiertes Textglossar zur Bibel, dessen Lemmata nur nach dem ersten Buchstaben sortiert sind und ansonsten noch die Reihenfolge des ursprünglich glossierten Textes einhalten. In den freien Raum am Ende der Buchstabenreihen wurden, meist mit al oder item al eingeleitet, vermischte Glossen aus der Ú ‘Samanunga worto’-Tradition, zu Gregors des Großen Evangelienhomilien und einem weiteren Text sowie von anderer Hand, vermutlich dem Schreiber der Ú Murbacher Hymnen und des Glossars Ú ‘Jc’, schließlich noch Glossen zu Gregors Dialogi eingetragen. Insgesamt 1.609 Gll., davon 1.299 ahd. in alem. Mundart (E. Seebold, S. 107). Es handelt sich um das größte Glossar des 9. Jh.s. Die im Glossar Ú ‘Rb’ auf freigebliebenen Spalten nachgetragenen Glossen, also die Glossare ‘Rd’ und ‘Re’, sind engstens verwandt mit den Bibel- und Gregor/Samanunga-Glossarteilen von ‘Jb’, jedoch keine direkte Abschrift. Sie wurden auf der Reichenau Anfang des 9. Jh.s eingetragen (Bischoff, Katalog I, Nr. 1630). 2. Überlieferung: Teil D der Hs. Oxford, BodlL Ms. Jun. 25, die aus neun erst in der Neuzeit zusammengebundenen Faszikeln besteht. Die Blätter 87-107 wurden laut B. Bischoff (Mittelalt. Stud., III, S. 80) von Murbacher Händen im frühen 9. Jh. eingetragen, der Faszikel besteht aus zwei Quaternionen (dessen erstem das fünfte Blatt fehlt), zwei Einzelblättern und zwei Doppelblättern. Auf der ursprünglich leer gebliebenen ersten Seite wurden wenig später zwei Alkuin-Gedichte nachgetragen. 3. Zusammensetzung: 1.449 Bibelgll. (1.151 ahd., 278 rein lat., 1 ae. und 19 ohne Interpretament) sind mit 126 Gll. zu Gregor, aus der ‘Samanunga worto’-Tradition und zu einem weiteren Text ergänzt, diese sind sämtlich ahd., lediglich eine Glosse hat kein Interpretament. Es folgen jeweils noch insgesamt 34 Dialogi-Glossen, davon 23 ahd. und 10 rein lat., 1 ohne Interpretament. Die vielen verwaisten Lemmata deuten auf eine Kompilation aus Textglossaren. Längere Erklärungen finden sich zu Eigennamen, Maßeinheiten und Pflanzennamen. E. Meineke konnte anhand der verwandten Genesisglossen in der Hs. Saint-Mihiel, BM Ms. 25 ermitteln, dass ‘Jb’ sowie die Vorlage für ‘Rd’ auf einer Abschrift eines textreihenfolgebezogenen Glossars beruhen, das auf einer Textglossierung basiert (S. 365). 4. Editionen: StSG-Nr. II (Genesis bis III Regum, zusammen mit der Parallelüberlieferung in Karlsruhe, BLB Cod. Aug. IC), DCLXXVII (Gregor-Homilien/Samanunga) und DCLXIX (Dialogi); zu den volkssprachig glossierten Dialogi-Glossen gibt es auch eine Neuedition durch

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W. Schulte, S. 464-481; zu den Iudicum-Glossen ein Nachtrag bei E. Krotz, in: BStH I, S. 822, Anm. 59. – Abbildungen: G. Baesecke, Lichtdrucke, Tafel 26 und 27 (= f. 89r und 91v).

5. Literatur: BStK-Nr. 725 (I); R. Kögel, Gesch. d. dt. Litt., I,2, S. 513-517; E. Krotz, Auf den Spuren des ahd. Isidor, S. 197-203; E. Krotz, Die Glossare Ja, Jb und Jc, in: BStH I, S. 780-828, hier S. 815-823; E. Meineke, Abstraktbildungen im Althochdeutschen. Wege zu ihrer Erschließung, StA 23, Göttingen 1994, S. 361-376; W. Schröder, PBB 65 (1942) S. 1-105, bes. S. 87-91; W. Schulte, Die althochdeutsche Glossierung der Dialoge Gregors des Großen, StA 22, Göttingen 1993, S. 457-482; E. Seebold, Chronolog. Wb. II, S. 103 und 107f.; E. Sievers, Die Murbacher Hymnen, S. 1-10; J. Splett, Samanunga-Studien, S. 9.

ELKE KROTZ

‘Jc’ 1. Einleitung: Lat.-ahd. Glossar, dessen Lemmata meist dem lat. ‘Affatim-Glossar’ entnommen sind, durchmischt mit Glossen verschiedenster Herkunft, also wie Ú ‘Abrogans’ und Ú ‘Samanunga worto’ Bearbeitungen bereits vorhandener Glossensammlungen und eine Art Wörterbuch. Die vorwiegend volkssprachigen Interpretamente wurden in kleinerer Schrift jeweils über dem Lemma eingetragen. Abgesehen von den Abschriften aus dem Bereich ‘Abrogans’/‘Samanunga’ ist ‘Jc’ das größte, im 9. Jh. neu entstehende wörterbuchartige Glossar. 2. Überlieferung: Auf vier Blättern (f. 118-121) des Teils F der Hs. Oxford, BodlL Ms. Jun. 25, die aus neun erst in der Neuzeit zusammengebundenen Faszikeln besteht. Dem Glossar geht in der Hs. der Murbacher Teil der Ú ‘Murbacher Hymnen’ voraus, diesen Quaternio schrieb ein Murbacher Schreiber, er wurde dem Reichenauer Hymnenteil (f. 122-129) vorgebunden, dazwischen hat vermutlich der gleiche Murbacher Schreiber noch zwei lat.-ahd. Textglossare zur Benediktinerregel nachgetragen. Der Eintrag erfolgte wohl noch im 1. Viertel des 9. Jh.s (B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 80), in alem. Mundart (E. Seebold, S. 110). Da das mittlere Doppelblatt des ‘Jc’Quaternio abhanden kam, fehlen die Glossen zwischen den Buchstaben D und M. Erhalten oder durch Feuchtigkeitsabdruck auf den einst gegenüberliegenden Seiten noch nachweisbar sind heute 891 Gll. Zusammen mit dem verlorenen Doppelblatt war ‘Jc’ damit ungefähr so umfangreich wie das Glossar ‘Ja’. ‘Jc’ wurde in 4 Spalten zu je 24-26 Zeilen dergestalt eingetragen, dass die Interpretamente in kleinerer, zierlicherer Schrift jeweils über oder bei Platznot neben dem Lemma stehen. 3. Zusammensetzung: Im Prinzip eine geplante Interlinearglossierung (vgl. R. Bergmann), allerdings blieben am Schluss jeder Buchstabenreihe einige Zeilen frei für Nachträge. Die Affatim-Lemmata sind nach dem Silbenalphabet sortiert (bei Vokal im Anlaut wird bis zum zweiten Buchstaben alphabetisiert, bei konsonantischem Anlaut

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zählt der Vokal der ersten Silbe als zweiter bei der Sortierung zu berücksichtigender Buchstabe). Bei den beigemischten Glossen gibt es außer dem ersten Buchstaben keine weitere Ordnung. ‘Jc’ besteht zu rund 70% aus Auszügen der Lemmata des sonst rein lat. AffatimGlossars (rund 630 Gll.). Dessen nur noch gelegentlich mitüberlieferten lat. Interpretamente bilden in der Regel die Grundlage der ahd. Übersetzung. War das lat. Interpretament dem Übersetzer genauso schwer verständlich wie das Lemma oder stellte ihn Textverderbnis vor eine unlösbare Aufgabe, versuchte er, aus den Erklärungen der benachbarten Glossen den Sinn zu ermitteln. Von den mehr als 6.300 Lemmata des Affatim-Glossars wurden rund 15% für ‘Jc’ ausgewählt. Die rund 30% nicht aus Affatim stammenden Glossen sind entweder in die Affatim-batches eingereiht bzw. daneben geschrieben oder stehen am Beginn oder Ende der entsprechenden Buchstabenreihe. Am häufigsten bilden die Werke Gregors des Großen, die Bibel, die ‘Samanunga worto’-Überlieferung und andere rein lat. Glossare Grundlage des fremden Glossengutes. Sieben Glossen besitzen rein lat. Interpretamente, 20 Lemmata blieben ohne Interpretament. 864 Gll. haben ein ahd. Interpretament, bei einigen davon ist die Lesung allerdings unsicher. Die beiden nachgetragenen Textglossare zur Benediktinerregel, nach dem ersten Lemma ‘Alumnis-’ und ‘Exestimatis-Glossar’ genannt, bestehen aus 144 Gll., von denen 135 ahd., 2 lat. und 7 gar nicht erklärt sind (Ú ‘Benediktinerregel’, Althochdeutsche Glossierung). Die frühere Forschung wollte in einigen der Glossen Übernahmen aus den Übersetzungen der ‘Monseer Fragmente’ bzw. dem ‘Ahd. Isidor’ erkennen (Ú Isidor von Sevilla, De fide catholica, Ahd. Übersetzung und ‘Mon(d)seer Fragmente’), zudem hielt man einige der ahd. Interpretamente für verwandt mit der ‘Abrogans’-Überlieferung. Eine Neuedition, die nicht nur das ahd. Material, sondern auch den Hintergrund der rein lat. Glossentradition untersuchte, konnte diese Vermutungen als schwach begründet relativieren (E. Krotz, Auf den Spuren des ahd. Isidor). M. R. Digilio vermutet neuerdings aufgrund paläographischer und stilistischer Besonderheiten einer Passage in den ‘Monseer Fragmenten’, die besonders hohe Ähnlichkeit mit einigen Glossen in ‘Jc’ aufweist (ein Auszug aus Gregors des Großen Moralia in Iob), dass der Übersetzer sich hierbei auf eine ahd. Gregor-Glossierung stützte, die vielleicht auch den entsprechenden ‘Jc’-Glossen zugrundelag. 4. Editionen: E. Krotz, Auf den Spuren des ahd. Isidor, S. 285-652 (‘Jc’); A. Masser, Lateinische und althochdeutsche Glossierungen der Regula Benedicti im 8. und 9. Jahrhundert, Innsbruck 2008, S. 145-173 (‘Alumnis-’ und ‘Exestimatis’-Glossar); Abb. des gesamten Glossars: E. Krotz, nach S. 734 (S/W); Farbabb. online, sieh den Link in der Beschreibung der Hs. in PadRep.

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5. Literatur: BStK-Nr. 725 (II); R. Bergmann, Ansätze zu einer Typologie der althochdeutschen Glossen- und Glossarüberlieferung, in: Theodisca, S. 77-104; U. Daab, Die Affatimglossen des Glossars Jc und der deutsche Abrogans, PBB 82 (Tübingen 1960) S. 275-317; M. R. Digilio, Il ruolo della mise en page nelle traduzione di Monsee, AION NS. 15 (2005), Nr. 12, S. 51-76; R. Kögel, Zu den Murbacher Denkmälern und zum Keronischen Glossar, PBB 9 (1884) S. 301-360; E. Krotz, Auf den Spuren des ahd. Isidor, bes. S. 49-52, 212-223, 259-656 und 689-698; K. Matzel, Untersuchungen, S. 100-133; B. Schindling, Die Murbacher Glossen. Ein Beitrag zur ältesten Sprachgeschichte des Oberrheins, Untersuchungen zur Deutschen Sprachgeschichte Heft 1, Straßburg 1908; W. Schröder, PBB 65 (1942) S. 1-105, bes. 91-93; W. Schulte, Die althochdeutsche Glossierung der Dialoge Gregors des Großen, StA 22, Göttingen 1993, S. 460, 462-464; E. Seebold, Chronolog. Wb., II, S. 93-95 und 110; E. Sievers, Die Murbacher Hymnen, S. 1-10; J. Splett, Samanunga-Studien, S. 9-10; J. Stalzer, Die Zusammensetzung des Glossars Ic des Codex Oxoniensis Iun. 25, Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 65 (1914) S. 389-400; StSG IV, Nr. MCLXX (S. 1-25), S. 588-590 und 708. StSG V, S. 107.

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‘Jüngere bairische Beichte’ Ú Beichten, Althochdeutsche und altsächsische Juvenal (Decius Iunius Iuvenalis), Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Über die Lebensumstände des römischen Satirikers J. liegen keine gesicherten Daten vor. Geboren wurde er um 67 nach Chr. im kampanischen Aquinum. Das unsichere Zeugnis der spätantiken Vita berichtet von einer Verbannung unter Kaiser Domitian und einer späteren Begnadigung. J. ist ein Zeitgenosse des Historikers Tacitus und des Epigrammatikers Martial, mit dem er offenbar befreundet war. Um 140 n. Chr. dürfte er gestorben sein. Überliefert sind 16 Satiren (die letzte wohl fragmentarisch), die vornehmlich die Sittenverderbnis der stadtrömischen Oberschicht zum Gegenstand haben und deren erhaltene Textfassung auf eine kommentierte Ausgabe des 4. Jh.s zurückgeht. Mit Ú Horaz und Ú Persius gehört Juvenal zu den drei großen Satirikern der römischen Antike, die im frühen und hohen Mittelalter intensiv in den Lateinschulen der Klöster und Kathedralenstudiert wurden, für die J. als poeta ethicus galt. Insbesondere die den Text stark durchsetzenden Sentenzen sind, da von zeitübergreifender Gültigkeit, mehrfach in Florilegien exzerpiert worden. Bis gegen 1200 sind 144 Hss. des J.-Textes nachgewiesen, die überwiegend mit lat. Interlinear- und Marginalgll. bzw. -kommentaren ausgestattet sind, dazu 12 Hss. mit Kommentaren, Viten etc. Deutsche Glossen bilden die Ausnahme: bislang sind insgesamt 80 in 16 Hss. nachgewiesen. Auch im Spätmittelalter ist die Wirkung J.s beträchtlich (weitere rd. 350 Hss. und 29 Druckausgaben vor 1500).

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Literatur: B. Munk Olsen, L’Étude, I, S. 553-597; IV,1, S. 79-83; L. D. Reynolds, Texts and Transmission, S. 200-203; E. M. Sanford, Juvenalis, Decimus Junius, in: Catalogus Translationum et Commentariorum, I, S. 175-238; Ergänzungen ebd. III, S. 432-445; P.- L. Schmidt, Iuvenalis, D. Iunius, in: Der Neue Pauly VI, 1999, Sp. 112-114. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Bonn, ULB S 218 (BStK-Nr. 71): Lat. durchgehend glossierte Sammlung von Notizen (Rapularius) aus zahlreichen Wissensgebieten der Artes. Mehrere Hände. 11. Jh. Etwa 230 mfrk. Glossen, davon 1 Interlineargl. zu einem vereinzelt eingetragenen Juvenal-Zitat. R. Reiche, Ein rhein. Schulbuch, S. 17-214. – Ed. ebd., S. 368f. – 2. Cambridge, King’s College MS 52 (früher Cheltenham, Philipps 16395) (BStKNr. 87): J., Satiren und Scholien zu J. Lat. durchgehend interlinear glossiert und marginal kommentiert. 5 anfrk. Gll. zu J., 2 interlinear, 3 marginal stehend, dazu 1 Gl. zu den J.-Scholien. Ende 9. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 20. – 3. Edinburgh, National Library of Scotland Adv. MS 18. 5. 10 (BStK-Nr. 107): Auszüge aus (lat.) Kommentaren bzw. Scholien zu J., Ú Lucan, Ú Persius, Ú Sedulius, Ú Horaz, Ú Vergil, Ú Prudentius. Insges. 118 ahd. Gll., interlinear, seltener im Kontext oder marginal stehend, davon 2 zu J. 1. Hälfte 12. Jh. Sprachgeogr. Einordnung unklar (K. Siewert, in: Althochdeutsch, I, S. 609: frk.; E. Langbroek: alem.). E. Tiemensma-Langbroek, ABÄG 11 (1976) S. 1-36. – Ed. E. Langbroek, Zwischen den Zeilen, S. 52, 63-118. – 4. Einsiedeln, StB Cod. 34 (407) (BStK-Nr. 113): Teil 2 (f. 25-98) einer Sammelhs.: J., Satiren (10. Jh.) mit zahlreichen lat. Interlinear- und Marginalgll., insgesamt 23 obd. Gll., davon 21 interlinear, 2 marginal stehend; 1 Gl. in bfk-Geheimschrift. 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 347f. (Nr. DCCXVI). – 5. Florenz, BML Plut. 34.42 (BStK-Nr. 151a): J., Satiren, intensiv lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. Bislang 1 ahd. Gl. zu Sat. 6,43 bekannt. 11. Jh. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. Überprüfung der Hs. auf weitere dt. Glossen steht aus. – Ed. O. Jahn, Auli Persii Flacci Satirarum liber, S. CXXVI, Anm. 1. – 6. St. Gallen, StB 871 (BStK-Nr. 246): J., Satiren mit dichter lat. interlinearer Glossierung und marginaler Kommentierung. 7 obd. Gll., davon 6 interlinear, 1 im Kontext eines marginalen Scholions stehend. 11. Jh., St. Gallen. – Ed. StSG II, S. 348 (Nr. DCCXVII). – 7. Köln, EDDB Dom Hs. 199 (BStK-Nr. 350): Sammlung lat. Glossen zu Lucan, Kommentar des Macrobius zu Ciceros Somnium Scipionis, lat. Glossen zu den Satiren des J. und Persius. 3 im fortlaufenden notierten lat. Text stehende frk. (mfrk?) Glossen zu J. Ende 11. Jh. – Ed. StSG IV, S. 336 (Nr. DCCXVIIIb Nachtr.). – 8. Leiden, UB Voss. lat. oct. 15 (BStKNr. 373): Teil 6 einer aus 14 Teilen bestehenden Sammelhs.: Lat. Glossen zur Bibel, lat. Glossen und Scholien von der Hand des Ademar von Chabannes zu Persius, J. und Prudentius. 19 im fortlaufenden Text stehende deutsche Glossen uneinheitlichen Lautstands zu den Persiusund J.-Scholien sowie zu Prudentius von der Hand des Ademar von Chabannes. 11. Jh., aus S. Martial, Limoges. – Ed. StSG IV, S. 232-234 (Nr. MCCXXI); R. Bergmann, Althochdeutsche Glossen bei Ademar von Chabannes, in: Landschaft und Geschichte. FS Franz Petri, S. 46-48. – 9. London, BL Add. 30861 (BStK-Nr. 401): J., Satiren mit überaus dichter lat. interlinearer Glossierung und marginaler Kommentierung. 10 alem. Interlineargll. von mehreren Händen, 1 davon in bfk-Geheimschrift. 1. Hälfte 11. Jh. – Ed. H. Thoma, PBB. 73 (1951) S. 252f. – 10. London, BL Harl. 2772 [Fragment 3, f. 26-27] (BStK-Nr. 417 II): Fragment einer lat. dicht interlinear glossierten und marginal kommentierten J.-Hs. 1 ahd. Interlineargl.. 11. Jh. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. – Ed. H. Thoma, PBB. 73 (1951) S. 251. – 11. Montpellier, Bibliothèque universitaire. Section de médecine H 125 (BStK-Nr. 439): Reich lat. glossierte

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und kommentierte Hs. mit den Satiren des Persius und des J., J.-Viten und Accessus. 1. Hälfte 9. Jh., wohl aus Lorsch. 3 rhfrk. Interlineargll. zu den Satiren des J., wohl im 11. Jh. in Lorsch eingetragen. – Ed. StSG IV, S. 335 (Nr. DCCXVIIIa Nachtr.); korrigierte Edition bei K. Siewert, Glossenfunde, S. 64. – 12. München, BSB Clm 408 (BStK-Nr. 452): Intensiv lat. glossierter und kommentierter J.-Text, J.-Viten. 3 ahd. Gll., davon 2 interlinear stehend, 1 Marginalgl. von jüngerer Hand. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. 11. Jh. – Ed. H. Thoma, PBB. 85 (Halle 1963) S. 226f. – 13. München, BSB 29204/2 (früher Clm 29009/2b) (BStKNr. 698): Fragmente einer lat. interlinear und marginal glossierten J.-Hs. 4 ahd. Interlineargll. 11./12. Jh. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. – Ed. StSG II, S. 776 (DCCXIXb Nachtr.). – 14. Paris, BNF lat. 9345 (BStK-Nr. 753): Sammelhs. römischer Klassiker aus Echternach mit Horaz-Werkausgabe (Horaz-Viten, Carm., Epod., C. s., Ars, Sat., Epist.), Satiren des Persius und J. (mit Viten), Komödien des Terenz. Intensiv lat. glossiert und kommentiert. Insgesamt 32 dt. Gll. (R. Bergmann, Mittelfränk. Glossen, S. 142-146: mfrk.), davon 3 Interlineargll. zu J., davon 2 wohl von der Hand Thiofrieds von Echternach, dessen Anteil an der lat. Glossierung noch zu ermitteln ist. Ende 10./Anfang 11. Jh. – J. Schroeder, PSHL 91 (1977) S. 245-249. – Ed. StSG II, S. 348 (DCCXVII). – 15. Rom, BAV Urb. lat. 661 (BStK-Nr. 831): J.-Kompendium (Viten, Satiren, Kommentar des ps.-Cornutus). Satiren reich lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 7 dt. Gll. zu den Sat., davon 6 interlinear, 1 marginal stehend. 11. Jh. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. – Ed. H. Thoma, PBB. 85 (Halle 1963) S. 225f. – 16. Wolfenbüttel, HAB Cod. Guelf. 156 Gudianus lat. 4º (BStK-Nr. 977f): J., Satiren, Buch I-V. Intensiv lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 10./11. Jh.1 ahd. Gl., von anderer Hand als die lat. Glossen. 11. Jh. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. – Ed. K. Siewert, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (III), S. 265.

3. Forschungsstand: Eine zusammenfassende Ausarbeitung, wie sie den deutschen Glossen zu Horaz zuteil geworden ist (K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung), fehlt. Angesichts der umfangreichen Überlieferung und des vielfach auf Unterricht und Studium ausgerichteten sowie des durch reiche lat. Glossierung und Kommentierung bezeugten Gebrauchs der Hss. bis 1200 ist mit weiteren Funden deutscher J.-Glossen zu rechnen. Der Bestand an einschlägigen J.-Hss. dieses Zeitraums ist von B. Munk Olsen, L’Étude, mit dem Anspruch auf Vollständigkeit verzeichnet worden. 4. Glossographische Aspekte: Regelmäßig sind die deutschen Glossen Teil einer Praxis der Texterschließung (Glossierung, Kommentierung), die weit überwiegend die lat. Sprache nutzt. Die Frage, warum statt der bewährten lat. Praxis eine Glossierung in deutscher Sprache erfolgt, wäre von Fall zu Fall zu prüfen. 5. Räumliche und zeitliche Verteilung: Neben eine durchgängig zu beobachtende intensive lat. Glossierungs- und Kommentierungspraxis treten, zunächst bereits im 9. Jh. zögerlich und vereinzelt, deutsche Glossen, deren Schwerpunkt im frk. und obd. Sprachraum und im 10.-11. Jh. liegt.

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Juvencus-Glossierung

6. Beziehungen zwischen den Glossierungen sind bislang nicht festgestellt worden. 7. Umfang und Bedeutung: Mit insgesamt 80 bislang bekannten dt. Glossen in derzeit 16 Hss. steht J. in der Gruppe der antiken Autoren mit 1,0% des volkssprachigen Glossenbestandes dieser Gruppe an sechster Stelle, nach Vergil (87,1%), Sallust (4,3%) und Horaz (3,3%), Persius (1,7%) und Lucan (1,6%); sieh R. Bergmann, in: BStH I, S. 85-87. 8. Literatur: B. Bischoff, Living with he satirists, in B. Bischoff, Mittelalt. Stud. III, S. 260270; O. Jahn, D. Ivnii Ivvenalis Satvrarvm libri V, cum scholiis veteribus, Berlin 1851; N. Henkel, in: Lesevorgänge, S. 237-262; C. Jeudy, Un glossaire carolingien de mots rares extraits inédit des ‘Satires’ de J., in: Gli umanesimi medievali. Atti del II Congresso dell’Internationales Mittellateinerkomitee. Firenze 1993, Millennio Medievale 4, Atti di Convegni 1, Florenz 1998, S. 273-282; U. Knoche, Die Überlieferung Juvenals, Klassisch-Philogische Studien 6, Berlin 1926; E. Matthews Sanford, The Use of Classical Latin Authors in the Libri Manuales, TPAPhA 55 (1924) S. 190-248; P. Wesner, Scholia in Iuvenalem vetustiora., 1932, Nachdruck Stuttgart 1967. NIKOLAUS HENKEL

Juvencus, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Juvencus (4. Jh., geb. in Hispanien), vermutlich um das Jahr 330 als Presbyter unter Konstantin dem Großen (306-337) literarisch tätig. Als Hauptwerk gilt das 3.211 Hexameter umfassende Versepos Evangeliorum libri quattuor. Nach Hieronymus soll er noch ein weiteres Epos verfasst haben, das aber als verschollen gilt. Wie die Disticha Catonis, Prospers Epigrammata, Sedulius’ Carmen paschale und Arators De actibus apostolorum zählten Juvencus’ Evangeliorum libri quattuor während des gesamten Mittelalters zu den elementaren Texten des klösterlichen Curriculums. Literatur: G. Glauche, Schullektüre im MA; P. L. Schmidt, in: Der Neue Pauly, VI, Sp. 114. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Karlsruhe, BLB Aug. CCXVII [f. 1-67] (BStK-Nr. 312 I): 4 Interlinear- und 6 Marginalgll. in Textglossierung zu Evangeliorum libri quattuor; hd., aber nicht mfrk., 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 349 (Nr. DCCXXI); Neuedition mit Ergänzungen und Nachträgen bei D. Ertmer, S. 337-344. – 2. Karlsruhe, BLB Aug. CCXVII [f. 68-169] (BStK-Nr. 312 II): 24 Interlinear- und 3 Marginalgll. in Textglossierung zu Evangeliorum libri quattuor; obd. mit alem.-rhfrk. Zügen, 9. und 10. Jh. – Ed. StSG II, S. 349 (Nr. DCCXX); Neuedition mit Ergänzungen und Nachträgen bei D. Ertmer, S. 268-285. – 3. London, BL Add. 19723 (BStK-Nr. 393): 37 Interlinear- und 117 Marginalgll. in Textglossierung zu Evangeliorum libri quattuor; alem., 10. Jh. – Ed. StSG IV, S. 336-338 (Nr. DCCXXIIIb); Berichtigungen und Nachträge bei H. Thoma, PBB. 73 (1951) S. 228-230; Neuedition mit Berichtigungen bei D. Ertmer, S. 76-196. – 4. München, BSB Clm 6402 (BStK-Nr. 536): 15

Juvencus-Glossierung

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Interlinear- und 7 Marginalgll. in Textglossierung zu Evangeliorum libri quattuor; bair., 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 350f. (Nr. DCCXXIII); Nachtrag bei StSG V, S. 103; Neuedition bei D. Ertmer, S. 294-307; Neufunde bei A. Nievergelt, ZDA Beiheft 11, 2009, S. 182f. – 5. München, BSB Clm 19454 (BStK-Nr. 669): 5 Interlineargll. in Textglossierung zu Evangeliorum libri quattuor; obd., undatiert (Hs. 2. Hälfte 11. Jh.). – Ed. StSG II, S. 351 (Nr. DCCXXVI); Neuedition bei D. Ertmer, S. 350-353 – 6. Oxford, BodlL Jun. 25 [f. 158-193] (BStK-Nr. 725 IV): 40 Gll. unter der Überschrift INCIPIUNT UERBA IN IUUENCO sowie weitere 10 nicht ausgewiesene Gll. zu Evangeliorum libri quattuor im Kontext des Glossars Ú ‘Ja’; alem.-frk., 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 350 (Nr. DCCXXII), 766 (Nr. DCCCCXXVI), Neuedition der bei StSG II, S. 350 (Nr. DCCXXII) edierten Glossen mit Korrekturen bei D. Ertmer, Studien, S. 225250; Zuweisung von 10 bei StSG II, S. 766 (Nr. DCCCCXXVI) edierten Glossen mit Zuweisung zu Juvencus bei E. Krotz, in: BStH I, S. 807f. – 7. Trier, StadtB 169/25 (BStK-Nr. 880): 3 Interlineargll. in Textglossierung zu Evangeliorum libri quattuor; rhfrk., 11. Jh. – Ed. 2 Gll. bei H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 136; Neuedition mit Ergänzungen und Nachträgen bei D. Ertmer, S. 367f. – 8. Venedig, BNM Lat. XII, 138 (= 4390) (BStK-Nr. 885): 1 Interlineargl. und 4 Marginalgll. in Textglossierung zu Evangeliorum libri quattuor; obd., undatiert (Hs. 12. Jh.). – Ed. StSG II, S. 351 (Nr. DCCXXV); D. Ertmer, S. 358-262. – 9. Wolfenbüttel, HAB Cod. Guelf. 553 Helmstadiensis (BStK-Nr. 966): 9 Interlinear- und 3 Marginalgll. in Textglossierung zu Evangeliorum libri quattuor; as., 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 351 (Nr. DCCXXIV), Nachtrag bei StSG V, S. 103f.; E. Wadstein, Kleinere as. sprachdenkm., Nr. XIV, S. 67; Korrektur dazu bei Th. Klein, Studien; Korrekturen zu StSG und E. Wadstein sowie Neuedition bei D. Ertmer, S. 317-330; Korrektur dazu bei H. Tiefenbach, Zu den Lamspringer Juvencus-Glossen, Sprachwissenschaft 21 (1996) S. 132. – 10. Zürich, ZB Ms. C 68 (BStK-Nr. 1003): 3 Interlineargll. in Textglossierung zu Evangeliorum libri quattuor; obd., undatiert (Hs. 9. Jh.). – Ed. StSG II, S. 351 (Nr. DCCXXVII); Neuedition bei D. Ertmer, S. 374-376; Hinweis auf weitere Glossen bei E. Glaser – A. Nievergelt, Griffelglossen, in: BStH I, S. 216, Anm. 49.

3. Glossographische Aspekte: Insgesamt sind heute 279 ahd. in neun und 12 as. Glossen in einer Hs. zu Juvencus’ Versepos Evangeliorum libri quattuor bekannt. Sechs von zehn der Juvencus-Hss., die ahd. bzw. as. Glossen enthalten, sind im 9. Jh. geschrieben worden, zwei Codices im 11. Jh., je einer im 8. und im 12. Jh. In drei Fällen sind die Glossen undatiert, bei den anderen sieben verteilen sie sich zeitlich folgendermaßen: Im Glossar Ú ‘Ja’ und in einer Textglossierung stammen sie aus dem 9. Jh., einmal aus dem 9. und 10. Jh., einmal aus dem 10. und einmal aus dem 11. Jh., sodass ein Schwerpunkt auszumachen ist, der gleichzeitig die Vielfalt der Überlieferung zeigt: Im 11. Jh. sind die ahd. Glossen in die älteste Hs. (München, Clm 6402) eingetragen worden, aus dem 11. Jh. stammen die as. Glossen. Die ahd. Wortformen im Glossar Ú ‘Ja’ (BStK-Nr. 725 IV), das die frühesten Glossen überliefert, lassen sich dem alem.-frk. Sprachraum zuordnen, allerdings keinem der bekannten südwestdeutschen Schreibzentren. Acht weitere Hss. überliefern Glossen, die dem hd. Sprachraum zuordenbar sind, vier davon allgemein dem Obd., eine weitere dem Obd. mit alem.-rhfrk. Zügen, eine dem Rhfrk., eine dem Alem.

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Juvencus-Glossierung

Textglossierung: Am reichsten ahd. glossiert ist mit 154 Gll. der Codex London, Add. 19723 (BStK-Nr. 393), der die Besonderheit zeigt, dass er offenbar nur dt., aber keine lat. Glossen aufweist; die dt. Glossen wiederum stehen zu 76% marginal. Die meisten Hss. sind in unterschiedlicher Dichte auch lat. glossiert, wenig wie in den beiden ehemals selbstständigen Teilen der Hs. Aug. CCXVII (BStK-Nr. 312 I und II) oder in der Hs. Cod. Guelf. 553 Helmstadiensis (BStK-Nr. 966), dicht lat. glossiert und kommentiert wie auf den ersten zehn Blättern des Clm 6402 (BStK-Nr. 536). Für die as. Juvencus-Glossierung ist die Zugehörigkeit zu einer größeren Gruppe nicht nachweisbar (H. Tiefenbach, in: BStH II, S. 1227-1231). Textglossar: Zu Juvencus ist nur ein Textglossar überliefert, und zwar als Bestandteil des bereits im 9. Jh. angelegten Glossars ‘Ja’ (BStK-Nr. 725 IV): 40 ahd. Gll. auf f. 168v, Z. 4 - f. 169va, Z. 2, 10 ahd. Gll. auf f. 171va-171vb. Wie schon E. Steinmeyer erkannt hat, sind einzelne Teile – wohl bereits in der Vorlage – durcheinander geraten, sodass von einem und nicht etwa von zwei Textglossaren bzw. -glossarstrecken auszugehen ist (genaue Beschreibung bei E. Krotz, in: BStH I, bes. S. 782f., 788-790, 803, 807f.). D. Ertmer ediert die ahd. und as. Glossen aller zehn Hss. mit Korrekturen und Ergänzungen insgesamt und setzt die einzelnen Überlieferungen zueinander in Beziehung. Ergänzend sind die Hinweise von H. Tiefenbach für den Codex Wolfenbüttel Cod. Guelf. 553 Helmstadiensis (BStK-Nr. 966) und E. Krotz zu berücksichtigen. 4. Umfang und Bedeutung: Juvencus gilt hinter Prudentius (74,1%), Boethius (9,8%), Arator (9,1%) und Sedulius (2,6%) als einer der meistglossierten spätantiken Autoren (s. auch BStH I, S. 90), wobei in diese Berechnung die 10 von E. Krotz zugeordneten Glossen noch nicht eingegangen sind (Der Unterschied ist nicht sehr wesentlich.). Im Kontext der Glossierung nichtbiblischer Texte insgesamt sieht die Überlieferung prozentual folgendermaßen aus: 1. Gregor der Große (23,1%), 2. Prudentius (20,0%), 3. Vergil (11,0%), 4. Canones (10,5%), 5. Smaragdus von St. Mihiel (3,2%). Juvencus liegt hier mit 0,46% an der 24. Stelle. Das Versepos Evangeliorum libri quattuor gehörte im Mittelalter zur elementaren Lektüre im klösterlichen Unterricht. Anders als bei den spätantiken Autoren Arator oder Boethius zeigen nur zwei Hss. Glossen in (bfk-)Geheimschrift. E. Krotz weist im Kontext einer Darstellung der Glossare ‘Ja’, ‘Jb’ und ‘Jc’ nach, dass die Textglossarteile zu Juvencus innerhalb des Glossars ‘Ja’ (BStK-Nr. 725 IV) offenbar bereits in der Vorlage stark gestört vorgelegen haben müssen, sodass ein praktischer Nutzen in Frage zu stellen ist.

‘Kasseler Glossen’

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5. Literatur: BStK-Nr. 312 (I), 312 (II), 393, 536, 669, 725 (IV), 880, 885, 966, 1003; StSG II, S. 349-351, 766; StSG IV, S. 336-338; StSG V, S. 103f.; D. Ertmer, Studien zur althochdeutschen und altsächsischen Juvencusglossierung, StA 26, Göttingen 1994; E. Krotz, in: BStH I, S. 780-828; C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberl., S. 289f.

CLAUDIA WICH-REIF

‘Kasseler Glossen’ 1. Werkbeschreibung: Als ‘Kasseler Glossen’ (auch Kasseler Gespräche oder Glossae Cassellanae) wird seit J. G. v. Eckhart (Commentarii, S. 853-855) ein lat.-ahd. Glossar bezeichnet, das im ersten Teil vorrangig sachlich angeordnete Einzelwortübersetzungen umfasst, im zweiten Teil Syntagmen oder kurze Frage- und Aussagesätze mit Gesprächscharakter folgen lässt. Die Gesprächsfetzen konservieren ältestes gesprochenes Ahd. Dieser Teil ist vergleichbar mit den jüngeren Ú ‘Pariser Gesprächen’, während die Sachglossen eine Nähe zum Ú ‘Vocabularius Sancti Galli’ zeigen. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: Die Kasseler Glossen stehen in der Hs. 4º Ms. theol. 24 der UB, LB und MB Kassel (BStK-Nr. 337) auf f. 15r-17v, in unmittelbarem Anschluss an die Ú ‘Exhortatio ad plebem christianam’. Die Hs. gehörte dem Kloster Fulda (E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 51f.; StSG IV, S. 411f.), ist aber B. Bischoff (FMSt 5 [1971] S.123) zufolge in Bayern geschrieben, wahrscheinlich im ersten Viertel des 9. Jh.s und vielleicht in Regensburg. Die Hs. befand sich um 1500 in der Benediktinerabtei Fulda, von wo aus sie 1632 mit anderen Hss. nach Kassel gelangte. Der bair. Schreiber gibt sich durch selbstbewusstes Stammeslob zu erkennen: spahesint Peigira (StSG III, S. 13, 4f.). Die Hs. enthält zwei dt. Texte innerhalb einer Sammelhs. mit den Canones conciliorum der Dionysio-Hadriana (Exzerpt f. 2r-13r, 18r-29r), Ordo ad paenitentiam dandam (f. 29v-32v), Paenitentiale. Lat. und ahd. ist die Exhortatio ad plebem christianam (f. 13v-15r) sowie das lat.-ahd. Glossar der Kasseler Glossen (f. 15r-17v). Die Kasseler Glossen sind von f. 15r-16v in abgesetzten Zeilen geschrieben, auf f. 17r-17v fortlaufend einspaltig eingetragen; vgl. PadRep. 3. Inhalt: Die ‘Kasseler Glossen’ bestehen aus einem Sachglossar (StSG III, S. 9,112,23) und einem Gesprächsbüchlein (StSG III, 12,24-13,22). Die Glossen sind in 6 Abschnitte untergliedert und betreffen 1. Teile des menschlichen Körpers (9,1-10,14); 2. Haustiere (10,15-43); 3. Teile des Hauses (10,44-11,1); 4. Kleidung (11,2-10); 5. Hausgerät (11,11-42); 6. Varia (11,43-12,23). Das Gesprächsbüchlein stellt in Frage und Antwort (StSG III, S. 12,52f.: firnimis? – ni ih firnimu) einfache Redewendungen bereit, die ein Romane, der nur Latein verstand, zur Verständigung in Bayern brauchte: uuer pistdu (StSG III, S. 12, 29), uuanna quimis (StSG III, S. 12, 30), fona uueli-

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‘Kasseler Glossen’

heru lantskeffi sindos (StSG III, S. 12, 31-33). Die zur Alltagssprache gehörenden Sachglossen dienten vermutlich dem gleichen Zweck und sind nicht zufällig schon mit Ansätzen zur Konversation wie skir min fahs! skir minan part! (StSG III, S. 9, 17-19) durchsetzt. Geringschätzige Urteile wie tole sint uualha, luzic ist spahe inuualhum, merahapent tolaheiti dennespahi (StSG III, S. 13, 2f., 6-11) könnten von Erfahrungen mit solchen romanischen Reisenden zeugen, die offenbar Schwierigkeiten hatten, die Bayern zu verstehen. 4. Forschungsstand: Die Lemmata der ‘Kasseler Glossen’ sind vulgärlat., z. T. romanisch. Bereits W. Grimm hat zahlreiche Übereinstimmungen zwischen den ‘Kasseler Glossen’ und dem ‘Vocabularius Sancti Galli’ festgestellt. Der ‘Vocabularius’ zeigt aber besseres Latein, zudem fehlen spezifisch romanische Lemmata. Als Zusatz der ‘Kasseler Glossen’ erweist sich ordigas zaehun (StSG III, S. 9, 35). G. Baesecke hat die Parallelen zusammengestellt und für den ‘Vocabularius Sancti Galli’ und die ‘Kasseler Glossen’ eine gemeinsame Vorstufe postuliert, an der auf Umwegen auch die jüngeren ‘Pariser Gespräche’ partizipiert haben müssten (Der Voc. Sti. Galli, S. 36f., 44-49, 53-55, 76f.). Über Datierung und Lokalisierung des vorausgesetzten Sachglossars nebst Gesprächsteil, die G. Baesecke auf ein durch die ags. Mission vermitteltes antikes Schulbuch, die Hermeneumata des Pseudo-Dositheus, zurückführen wollte, lässt sich nichts Sicheres ausmachen. Nach H. Mettke (in: Althochdeutsch, I, S. 502) weisen „die Kasseler Glossen und auch die Gesprächsteile ihrer Herkunft nach eben nicht nach Bayern, sondern wegen der engen Verwandtschaft der Sachglossen mit dem Vocabularius und der Gesprächsteile mit den (Pariser) Altdeutschen Gesprächen … in das germanisch-romanische Grenzgebiet“. Weiter nimmt H. Mettke im Anschluss an G. Baesecke an, dass der ‘Vocabularius’ und die ‘Kasseler Glossen’ eine gemeinsame Vorstufe besaßen. Über die Zwischenstufen bis hin zur Kasseler Hs. ist ein rein bair. Text entstanden (ebenda, S. 503). 5. Glossographische Aspekte: Die ‘Kasseler Glossen’ umfassen 245 Gll. (f. 15ra-17v) in dem lat.-ahd. Sachglossar (f. 15r-16v: Glossen in abgesetzten Zeilen; f. 17r-17v fortlaufend). Während die Glossen von f. 15ra-17r Mitte vorrangig sachlich angeordnete Einzelwortübersetzungen darstellen, haben die folgenden Glossen Gesprächscharakter. Sie bestehen aus Syntagmen oder kurzen Frage- und Aussagesätzen, die möglicherweise für einen Lateinkundigen gedacht sind, der sich mit Ahd.-Sprechern verständigen will. H. Penzl (WW 35 [1985] S. 248) interpretiert die Wendungen Stulti sunt Romani – tolesint uualha und Spienti sunt Paioari – spahesint peigira (StSG III, S. 13, 2-6) folgendermaßen: „Der Romane ist stultus, weil er nicht bairisch kann, der bairische Lehrer sapiens, weil er Bairisch beherrscht“. – Die Glossen sind im 1. Viertel des 9. Jh.s eingetragen. Die Sprache ist bair. (Nachweise bei BStK-Nr. 337).

‘Kasseler Glossen’

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6. Editionen: J. G. v. Eckhart, Commentarii I, S. 853-855; W. Grimm, Glossae Cassellanae mit Registern u. 9 Facsimilia, Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften Berlin, Phil.-hist. Klasse Jg. 1846 (1848), S. 498-511 (= W. Grimm, Kleinere Schriften, III, Berlin 1883, S. 367-471), Tafel A-I [= f. 13r-17v]; P. Piper, Nachträge, S. 9-11; StSG III, S. 913 (DCCCCXXXII); Nachtrag bei StSG III, S. 723; BStK VI, S. 2782-2793 (Abbildungen von f. 15r-17v). 7. Literatur: BStK-Nr. 337; G. Baesecke, Der Voc. Sti. Galli, S. 33-82; G. Baesecke, Frühgeschichte, S. 149f.; B. Bischoff, Katalog I, S. 378, Nr. 1822; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134 (= B. Bischoff, Mittelalterl. Stud., III, S. 73-111), hier S. 99; H. de Boor, Die dt. Lit., S. 19; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., S. 3, 8f.; H. Broszinski – S. Heyne, Fuldische Handschriften aus Hessen. Mit weiteren Leihgaben aus Basel, Oslo, dem Vatikan und Wolfenbüttel. Katalog zur Ausstellung anläßlich des Jubiläums ‘1250 Jahre Fulda’. Hessische Landesbibliothek Fulda, 19. April bis 31. Mai 1994, Veröffentlichungen der Hessischen Landesbibliothek Fulda 6, Fulda 1994, S. 37; H. Brunner, Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters im Überblick, RUB 9485, Stuttgart 2003, S. 51; W. Crossgrove, Die dt. Sachlit., S. 27f., 30; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 259; Th. Frings, Germania Romana und Romania Germanica zwischen Mittelmeer, Rhein und Elbe, in: SB Leipzig. Philol.-Hist. Klasse 108, Heft 5, Berlin 1963, S. 14; W. Grimm, Exhortatio ad plebem christianam. Glossae Cassellanae, in: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Phil.-hist. Klasse 1846, Berlin 1848, S. 425-537; R. Kögel, Gesch. d. dt. Litt., I, 2, S. 502-506; P. Lehmann, Fuldaer Studien, SB München. Philos.-Philol. und Hist. Klasse, Jahrgang 1925, 3. Abhandlung, München 1925, S. 14f.; H. Löwe, Arbeo von Freising. Eine Studie zu Religiosität und Bildung im 8. Jahrhundert, RhVB. 15-16 (1950-1951) S. 118; A. Masser, ‘Exhortatio ad plebem christianam’, in: 2VL II, Sp. 666f.; H. Mettke, Älteste dt. Dichtung, S. 130-133; H. Mettke, Zum Kasseler Codex theol. 4º 24 und zur Herleitung des Vocabularius Sti. Galli aus Fulda, in: Althochdeutsch, I, S. 500-507; K. Morvay – D. Grube, Bibliographie der deutschen Predigt des Mittelalters. Veröffentlichte Predigten, MTU 47, München 1974, S. 2 (T 2); MSD I, Nr. LIV, I, S. 200f., II, S. 323-331; G. Müller – Th. Frings, Germania Romana, II. Dreißig Jahre Forschung. Romanische Wörter, Mitteldeutsche Studien 19/2, Halle (Saale) 1968, S. 115; H. Naumann – W. Betz, Althochdeutsches Elementarbuch, 4. A. Berlin 1967, S. 27; H. Penzl, ‘Gimer min ros’: How German was taught in the Ninth and Eleventh Centuries, German Quarterly 57 (1984) S. 394-400; H. Penzl, ‘Stulti sunt Romani’. Zum Unterricht im Bairischen des 9. Jahrhunderts, WW 35 (1985) S. 241-248; W. Schröder, in: 2VL III, Sp. 61-63; St. Sonderegger, FMSt 5 (1971) S. 180f.; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. IX, S. 49-54. STEFANIE STRICKER

‘Katechismus, Weißenburger’ Ú ‘Weißenburger Katechismus’ ‘Kicila-Vers’ Ú ‘Hicila-Vers’

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‘Kleriker und Nonne’

‘Kleriker und Nonne’ Lateinisch-deutsches Verführungsgedicht. 28. Stück der ‘Cambridger Lieder’. 1. Überlieferung: Cambridge, UL, MS. Gg 5.35, f. 438v-439r, Mitte des 11. Jh.s. Die Hs. enthält von f. 432r-441r die ‘Cambridger Liedersammlung’, die wahrscheinlich in Canterbury entstandene Abschrift einer wohl hd. Vorlage mit 49 Stücken. Neben ‘Kleriker und Nonne’ ist dort auch als Nr. 19 Ú ‘De Heinrico’ überliefert. In der Sammlung finden sich drei mutmaßlich schon mittelalterliche Rasuren (f. 438v-439r; f. 440v; f. 441v). Davon betroffen sind inhaltlich vergleichbare Liebeslieder (Nr. 27, 28, 39, 49; nur keine Rasur bei Nr. 40, das ebenfalls ein Liebeslied ist). Man kann also von einem Akt der Zensur ausgehen. Auf f. 438v-439r wurde auf der Rasur von ‘Kleriker und Nonne’ (nicht bei Nr. 27) zusätzlich Tinktur angewandt, sodass dieser Teil nun völlig verderbt ist. Der Schaden durch die Tinktur geschah schon vor der Einsichtnahme durch G. H. Pertz 1827 (S. 1002 zitiert er den Anfang als „S..“), doch schon J. G. Eccard (1720, S. 51f.) erwähnt das Lied nicht, obwohl er ‘De Heinrico’ ausführlich kommentiert. Es gibt keine Abschrift, die auf den unverderbten Text zurückgeht, es wäre möglich, dass die Tinktur keinem Leseversuch diente, sondern den Text endgültig unlesbar machen sollte. Klar lesbar sind nur wenige Versschlüsse und alle Rekonstruktionsversuche sind sehr spekulativ (so vor allem der jüngste vollständige von P. Dronke, wenngleich er eine erneute Autopsie vornahm). 2. Inhalt: Wegen des Textverlustes kann man nur wenig über den Inhalt und die Entstehungszeit (wohl um Ende des 10., Anfang des 11. Jh.s, G. Ehrismann, I, S. 241) sagen. Selbst der Titel ist umstritten: Neben ‘Kleriker und Nonne’, was voraussetzt, dass die männliche Figur ein Geistlicher sei, zirkuliert ‘Liebesantrag’ oder ‘S[uavissima] nunna’, nach dem rekonstruierten ersten Anvers. Inhaltlich handelt es sich um ein Verführungslied, das, wie das benachbarte und ebenfalls radierte Lied Nr. 27 (Iam dulcis amica venito), zur Gattung der „Invitatio“ gehört (W. Ross). C. Edwards (2000, S. 193) begreift den Text als „erste deutsche Nonnenpastourelle“, während man G. Ehrismann (I, S. 241) nicht zustimmen wird, dass es sich um das „älteste deutsche Minnelied“ handelt, denn diese Klerikerdichtung ist kaum ein Vorbote des deutschen Minnesang. Das Lied ist ein Dialog (kein „Wechsel“, wie P. Dronke I, S. 278 meint) zwischen einem männlichen Sprecher und einer Nonne, was sich aus der Anrede nunna im ersten Anvers ergibt (wenn die Lesung stimmt). Bei dem Mann kann es sich um einen Kleriker handeln oder um einen Adeligen, für beides gibt es Vergleichsfälle. Den Verführungsversuch lehnt die Nonne zunächst mit Hinweis auf ihre Bindung zu Gott ab, doch es ist unsicher, ob sie am Ende nicht doch dem Werben nachgibt. P. Dronke plädiert in seiner rekonstruierenden Ausgabe für den Liebesvollzug.

‘Kleriker und Nonne’

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3. Form: Formal besteht der Text aus 11 Strophen, von denen jede 2 binnengereimte Langverse enthält. Die Langverse sind wie in ‘De Heinrico’ zweisprachig. Der Anvers ist lat., der Abvers ahd. In der Rekonstruktion P. Dronkes lauten die ersten beiden Verse: Suavissima nunna, ach fertrue mir mit wunna! Tempus adest floridum, gruonot gras in erthun ‘Süßeste Nonne, ach vertraue mir mit Wonne, die Blütezeit ist nah, es grünt das Gras auf der Erde’. Formal verwandt mit dieser Form ist der Refrain des 149. Liedes der ‘Carmina Burana’ Floret silva undique, nah mime gesellen ist mir we! (‘Es blüht der Wald überall, nach meinem Freund ist mir weh ums Herz’), aber man kann keine solide Tradition benennen, in der die Versform steht (J. Schneider) und ist über vage Spekulationen zur Bedeutung der Versform nicht hinausgekommen. Die Sprache ist bei aller Unsicherheit wegen der Textverderbnis nordrhfrk. oder thüringisch (G. Ehrismann, I, S. 242). Besondere Bedeutung kommt dem Text und der Sammlung im Ganzen zu, da es sich um eines der wenigen Denkmäler ottonischer Literatur handelt und die (v. a. volkssprachige) Überlieferung des 10. Jh.s ansonsten sehr spärlich ist. 4. Ausgaben: Ph. Jaffé, Die Cambridger Lieder, ZDA 14 (1869) S. 494-495, hier S. 494f.; K. Breul, The Cambridge Songs. A Goliard’s Song Book of the XIth Century, Cambridge 1915, hier S. 16f.; K. Strecker, Die Cambridger Lieder, MGH Scriptores rerum Germanicarum 40, Berlin 1926, 2. A. 1955, S. 74-77 (zit.); P. Dronke, Medieval Latin and the Rise of European Love-Lyric, II, Oxford 21968, S. 353-356 (Ed. und Rekonstruktion. Kommentar in I, S. 277281); J. M. Ziolkowski, The Cambridge songs (Carmina Cantabrigiensia), Medieval and Renaissance texts and studies 192, Tempe (Arizona) 1998, S. 94f. (Text = die Neutranskription P. Dronkes), S. 260-262 (Kommentar), S. 336f. (P. Dronkes Rekonstruktion und Übersetzung). – Abbildungen: K. Breul (Vollfaksimile der Sammlung); St. Müller, S. 54.

5. Literatur: PadRep; J. G. Eccard, in: Veterum Monumentorum Quaternio, Leipzig 1720, S. 49-59; C. Edwards, in: Theodisca, S. 189-206, bes. S. 199-206; M. Lundgreen, Kleindichtung, in: RGA XVI, S. 627-634, bes. S. 629f.; St. Müller, in: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters, S. 49-61; G. H. Pertz, in: Archiv für ältere deutsche Geschichtskunde 7 (1827) S. 1002-1003; F. Rädle, in: ²VL IV, Sp. 1213-1215; W. Ross, Die Liebesgedichte im Cambridger Liederbuch (CC). Das Problem des ‘Frauenliedes’ im Mittelalter, Der altsprachliche Unterricht 20,2 (1977) S. 40-62, bes. 48-50; J. Schneider, Latein und Althochdeutsch in der Cambridger Liedersammlung: De Heinrico, Clericus et Nonna, in: Volksspr. -lat. Mischtexte, S. 297-314. STEPHAN MÜLLER

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‘Klerikereid’

‘Klerikereid’ auch ‘Priestereid’ Ein Treue- und Gehorsamseid, den Kleriker ihrem Bischof zu leisten hatten. 1. Überlieferung: München, BSB clm 6241, f. 99r-99v (= A); clm 27246, f. 91v (= B). Beide Hss. entstanden im späten 10. Jh. in Freising (bei R. Schmidt-Wiegand, Sp. 827 fälschlich frühes 9. Jh.). Die Hs. enthält auch 8 ahd. Gll. zu den Canones conciliorum (BStK-Nr. 508). Die Hss. weichen nur marginal voneinander ab. Man nimmt an, dass B auf A zurückgeht. Die Sprache des Textes, der im frühen 9. Jh. entstand, ist bair. 2. Inhalt und Funktion: Eine völlige Neubewertung des Textes nahmen 2000 St. Esders – H. J. Mierau vor, die gegen den geläufigen Titel ‘Priestereid’ spricht. Bisher ging man davon aus, dass der Eid Bestandteil einer Priesterweihe war, die nördlich der Alpen durch ein Gehorsamsversprechen erweitert worden sei, das der Priesterweihe in Rom fremd war. Eine Parallele sah man im Pontificale romano-germanicum, das kurz nach der Mitte des 10. Jh.s in der St. Abtei Alban in Mainz entstand (R. SchmidtWiegand, Sp. 827), zu dem der ‘Priestereid’ dann eine Vorstufe gewesen sei. St. Esders – H. J. Mierau belegen nun auf breiter historischer Quellenbasis, dass es sich bei dem Eid um eine Freisinger Sondertradition handelt: Der Eid wurde wohl „bei der Lehnsvergaben von geistlichen Benefizien“ (S. 244) geleistet und das nicht nur von Priestern, sondern auch von Klerikern unterhalb des Priesterstandes. Bei dieser Eidesleistung, die anders als die Weihe ggf. beim Wechsel des Bischofs wiederholt werden musste, geht der Eidleistende eine Treueverpflichtung gegenüber dem Freisinger Bischof ein, zu dem er damit in einer lehnsrechtlichen Beziehung steht. Daraus erklärt sich auch die Volkssprachigkeit, die im Kontext einer Priesterweihe immer schon verwunderte. Als Lehnseid ist der Inhalt der Formel von größter rechtlicher Relevanz gegenüber der betroffenen laikalen Öffentlichkeit und sollte deshalb am Ort der Benefizialkirche verstanden werden. Besonders für den Rechtsstatus von Klerikern an Eigenkirchen war dies von großer Wichtigkeit, die potentiell dem Einfluss der Eigenkirchenherrn ausgesetzt waren. Formal greift die Eidformel auf die Rechtspraxis der weltlichen Belehnung zurück. Dies mit Rechtsformeln, die immer schon als Indiz für „germanisches Denken“ (W. Haubrichs, Anfänge, S. 153) bewertet wurden. Nach St. Esders – H. J. Mierau muss man das nicht mehr als gleichsam synkretistische Modifikation des Priesterweiheritus begreifen, denn für einen Akt der Lehnsvergabe, die sich in der frühen Zeit der Freisinger Bistümer zur Klerikerfinanzierung erst etablieren musste, lag es nahe, sich an der weltlichen Belehnungspraxis zu orientieren. Eine solche Nähe zu den promissorischen Eiden der Karolingerzeit hat man immer schon gesehen (s. R. SchmidtWiegand, Sp. 828). Das gilt sicher auch für die erst später verschrifteten Rechts-

‘Kölner Inschrift’

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formeln weltlicher Lehnseide, die man mit stabreimenden Formeln und in Wortpaaren wie fruma frumenti (‘Nutzen bringen’) und kahorich enti kahengig (‘gehorsam und ergeben’) im Text aufgriff. 3. Ausgaben: MSD Nr. LXVIII, I, S. 232, II, S. 366-369; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XIII, S. 64f.; St. Müller, Ahd Lit., S. 60 (mit Übers.). – Abbildungen: (A) St. Esders – H. J. Mierau, S. 284 [f. 99v (dort nach alter Zählung als f. 100v)]; G. Glauche, S. 33, Abb. 4 [Farbabbildung von f. 99v]. (B) St. Esders – H. J. Mierau, S. 285 (= f. 91v).

4. Literatur: PadRep; St. Esders – H. J. Mierau, Der althochdeutsche Klerikereid. Bischöfliche Diözesangewalt, kirchliches Benefizialwesen und volkssprachliche Rechtspraxis im frühmittelalterlichen Baiern, MGH Studien und Texte 28, Hannover 2000 (mit Literatur); G. Glauche, Kanonistische Sammelhandschrift, in: Auf den Spuren des Mittelalters. 30 Jahre Handschriftenzentrum an der Bayerischen Staatsbibliothek. Ausstellungskatalog, München 2005, S. 32f. (Nr. 4); R. Schmidt-Wiegand, in ²VL VII, Sp. 827f. STEPHAN MÜLLER

‘Kölner Inschrift’ 1. Überlieferung: Im Jahre 1570 zeichnete Arnold Mercator im Auftrag der Stadt Köln eine großformatige Stadtansicht, die er 1571 auf 16 Blättern nach Kupferstichen im Format 109 x 170 cm drucken ließ. In seitlichen Randstreifen bildete Mercator Kölner Altertümer, insbesondere römische Inschriften ab. Auf dem Einzelblatt mit der Severinstorburg befindet sich auf dem linken Rand die Wiedergabe der ahd. Inschrift. Exemplare der Kupferstiche werden in der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar (dazu: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Österreich und Europa (Fabian-Handbuch) Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Bestandsbeschreibung 2.49 (http://134.76.163.162/fabian?Herzogin_Anna_Amalia_Bibliothek 14. 5. 2012) sowie in der Königlichen Bibliothek in Stockholm aufbewahrt; zu weiteren, von Mercator abhängigen Wiedergaben der Inschrift durch Gelehrte des 16. und 17. Jh. vgl. N. Kruse, S. 134-140. Das Original der Inschrift ist nicht erhalten. Mercator gibt als Standort der Tafel das Haus des Dompropstes an, das sich an der Südwestecke des Domklosters befand. Aus inhaltlichen Gründen ist als ursprünglicher Standort ein Schul- oder Bibliotheksgebäude anzunehmen. N. Kruse (S. 141-145) hat darauf aufmerksam gemacht, dass zur Zeit des Dompropstes Hermann von Neuenahr (1524-1530) zwischen 1523 und 1526 die alte Domschule abgebrochen wurde; Hermann von Neuenahr, der als Humanist und Historiker tätig war und Altertümer sammeln ließ, könnte die Tafel bei dieser Gelegenheit für die Anbringung an seinem Haus erworben haben. Das ahd. Original wird mit der Bautätigkeit unter Erzbischof Gunther (850-870) in Verbindung gebracht,

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‘Kölner Inschrift’

der um 864 den von Erzbischof Hildebold (vor 787-818) begonnenen Dom vollenden ließ und wahrscheinlich auch ein Schul- und Bibliotheksgebäude errichten ließ. Der Vergleich von Mercators Abbildungen mit anderen erhaltenen Inschriftensteinen zeigt, dass er „um eine genaue Darstellung bemüht war“ (P. Noelke, S. 252); die Wiedergabe der Inschrift durch Mercator muss aber aus sprachlichen und formalen Gründen als unvollständig angesehen werden; er hat den fragmentarischen Charakter jedoch nicht gekennzeichnet. Ausgaben: G. Frenken, ZDA 71 (1934) S. 117 f.; R. Bergmann, RhVB 30 (1965) S. 66f.; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. VIII,1; N. Kruse, Die Kölner volksspr. Überl., S. 165 u. 386 (Abb. 6). Digitalisat nach dem Exemplar in der Königlichen Bibliothek Stockholm: http://arachne.uni-koeln.de/item/reproduktion/3301150 2. Inhalt und Form: Die ahd. Inschrift muss als inhaltlich wie formal außergewöhnliches und singuläres Denkmal betrachtet werden. Mit deutlicher lokaler Deixis (hir ‘hier’) spricht eine Bildungsinstitution den Leser an: maht thv lernan ... bewervan ‘kannst Du lernen ... zu erwerben’. In einer Zeit, in der alles Lernen lat. geprägt war, ist schon die Verwendung der Volkssprache, hier in mfrk. Ausprägung, für eine solche Inschrift sensationell. Die Ziele des Lernens sind: guld ‘Gold’, welog ‘Reichtum’, wi[s]dvom ‘Weisheit’, sigi[ ‘Sieg’. Zu ergänzen ist nach N. Kruse (S. 165) am wahrscheinlichsten siginvft sowie als Reimwort zu wi[s]dvom rvom ‘Ruhm’. Die Inschrift bestand also wohl aus zwei Verspaaren mit Endreim, sie zeigt zusätzlich zum Endreim Alliteration zwischen welog und wi[s]dvom, vielleicht auch zwischen sigi und dem fehlenden nächsten Wort, wo N. Kruse (S. 164) auch saligdvom erwägt. Für die Rekonstruktion nuft inde rvom spricht allerdings, dass dann auch die dritte Zeile wie die beiden erhaltenen exakt 20 Buchstaben enthielte. Die zu erwerbenden Schätze sind im biblischen Sinne und im Horizont karolingischer Bibelauslegung übertragen zu verstehen (N. Kruse, S. 172-175). 3. Literatur: G. Frenken, Kölnische Funde und Verluste, ZDA 71 (1934) S.117-122; 72 (1935) S. 256; R. Bergmann, Zu der althochdeutschen Inschrift aus Köln, RhVB 30 (1965) S. 66-69; R. Schützeichel, Zur Erforschung des Kölnischen, in: Die Stadt in der europäischen Geschichte. FS Edith Ennen, Bonn 1972, S. 44-55; N. Kruse, Die Kölner volksspr. Überl., S. 133-178; J. M. Jeep, in: 2VL XI, Sp. 864f.; J. M. Jeep, Alliterating Word-pairs in Old High German, Studien zur Phraseologie und Parömiologie 3, Bochum 1995, S. 119-121; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 175f.; P. Noelke, Entdeckung der Geschichte. Arnold Mercators Stadtansicht von Köln (1570/71), in: Renaissance am Rhein, Katalog zur Ausstellung im LVR-Landesmuseum Bonn, 2010/2011, S. 250-257. ROLF BERGMANN

‘Kölner Taufgelöbnis’

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‘Kölner Taufgelöbnis’ 1. Überlieferung: Köln, HA, Chroniken u. Darstellungen, Bd. 74, f. 314r-314v (A); Bd. 75, f. 312r-312v (B). Es handelt sich um zwei handschriftliche Exemplare des ersten Bandes eines Geschichtswerkes über Köln, dessen Verfasser, der Kölner Stefan Broelmann, das von ihm wiedergegebene Taufgelöbnis Anfang des 17. Jh.s aus einer seither verloren gegangenen Hs. des Kölner Kanonissenstiftes St. Cäcilien vermittelt bekommen hatte. Ausgaben: G. Frenken, ZDA 71 (1934) S. 125-127 (sehr ungenau); hiernach unkrit. abgedruckt bei W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. XVI, 2,1; ferner W. Foerste, Untersuchungen, S. 90f.; vgl. PadRep.

2. Humanistisches Umfeld: Der humanistisch gebildete und neben anderem auch an altd.Texten interessierte Kölner Jurist und Professor Stefan Broelmann (1551-1622) hat im ersten Band eines (nicht vollendeten) Geschichtswerkes über Köln in einem eingeschobenen Kapitel, in dem er von Ubiern, Goten, Franken, ihren Sprachen und Zeugnissen handelt, u. a. das hier gegenständliche Taufgelöbnis mitgeteilt. St. Broelmann stand in Beziehung mit namhaften deutschen Humanisten, war mit Marquard Freher verwandt (G. Frenken), der bei der nachmittelalterlichen Überlieferung des ahd. Ú ‘Tatian’ eine Rolle spielte und der überdies (1609) der erste Herausgeber des → ‘St. Galler Paternoster und Credo’ war. Durch solche Verbindungen mit anderen humanistischen Gelehrten wusste er u. a. von der got. Bibel, von den → ‘Straßburger Eiden’, von → Otfrid von Weißenburg, von → Notker III. von St. Gallen. Das ‘für erwachsene Katechumenen’ bestimmte Taufgelöbnis aus dem ‘uralten’ Codex – Liber ritualis est Ecclesiæ, vulgo vocant Agendam (f. 314r d. Ex. A) – des Kölner Kanonissenstiftes St. Cäcilien war ihm durch Vermittlung zugänglich geworden. Da sich der Band 1 von Broelmanns Werk in zwei handschriftlichen Exemplaren erhalten hat, ist also auch das Taufgelöbnis doppelt überliefert; bis auf graphische Kleinigkeiten stimmen beide Texte überein. Auf das altd. Taufgelöbnis lässt Broelmann zunächst eine ‘wörtliche’, z. T. kommentierte Übersetzung ins Nhd. folgen; sodann eine lat. Taufformel, die sich in Ex. A aber nicht mit der altd. Fassung deckt, in Ex. B, f. 313v hingegen eine Übersetzung ad verbum ins Lat. nach dem altd. Text ist. Alles in allem ist dieses Taufgelöbnis Beispiel für die Rolle deutscher Humanisten bei der Überlieferung altd. Texte. 3. Funktionaler Zusammenhang: Zur Wichtigkeit und Notwendigkeit der Schaffung volkssprachiger Taufformulare → ‘Fränkisches Taufgelöbnis’. Die Sprache des ‘K. T.’ ist westfäl. und weist ins Kloster Werden an der Ruhr (W. Foerste); der Text mag Mitte des 9. Jh.s entstanden sein, auch wenn sein Eintrag in die Hs. des Kölner Cäcilien-Stiftes wohl erst gegen Ende des 10. Jh.s erfolgt sein wird. Unter Beiziehung

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Leo von Vercelli, Altsächsische Sentenz

eines frk. Taufformulars, so nimmt W. Foerste an, hat der Verfasser hier ein älteres, uns nur in Umrissen erkennbares Kölner Taufgelöbnis umgestaltet und dabei an den (in den Glaubensfragen inzwischen wesentlich erweiterten) Text des Ordo Romanus anzunähern gesucht. Zum Ú ‘Altsächsischen Taufgelöbnis’ besteht keine Beziehung. 4. Literatur: G. Frenken, Kölnische Funde und Verluste, ZDA 71 (1934) S. 117-127; A. Lasch, NPhM 36 (1935) S. 96-98; G. Baesecke, Die ahd. u. as. Taufgelöbnisse, S. 63-85 (= G. Baesecke, Kleinere Schriften, S. 325-342); G. Baesecke, FF 21/23 (1947) S. 266-268 (= G. Baesecke, Kleinere Schriften, S. 343-347); W. Foerste, Untersuchungen, S. 90-125; W. Foerste, in: 2RL I, Sp. 40; J. Rathofer, NW 16 (1976) S. 4-19; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 232-235.

5. ‘Kölner Taufgelöbnis 2’: Mit dem vorgenannten Stück nichts zu tun hat ein in der Literatur gleichfalls als ‘Kölner Taufgelöbnis’ bezeichnetes Taufgelöbnis, das augenscheinlich im frühen 9. Jh. im Kölner Raum verwendet worden ist: Um a. 812 hatte Karl d. Gr. in einem Rundschreiben von seinen Erzbischöfen Auskunft darüber verlangt, wie sie es in ihren Gebieten mit Taufvorbereitungen und Taufpraxis hielten. In einem der Antwortbriefe (anonym, doch vielleicht von EB Hildebold von Köln) werden fünf ahd. Wörter als volkssprachiges Äquivalent von lat. pompis (diaboli) aus der Abschwörungsformel zitiert (MGH, Epistolae karolini aevi, III, S. 273f.; zu den vier Hss., in denen der Brief überliefert ist, vgl. N. Kruse, S. 90-98. 6. Ausgaben und Literatur: G. Baesecke, Die ahd. u. as. Taufgelöbnisse, S. 63-85 (= G. Baesecke, Kleinere Schriften, S. 325-342); W. Foerste, Untersuchungen, S. 101-111; N. Kruse, Die Kölner volksspr. Überl., S. 89-132 (mit Faks.). ACHIM MASSER

Leo von Vercelli, Altsächsische Sentenz 1. Überlieferung und Ausgaben: Vercelli, Biblioteca Capitolare Ms. CII, f. 148v. – Ausgaben: H. Bloch, Beiträge zur Geschichte des Bischofs Leo von Vercelli und seiner Zeit, NAGG 22 (1897) S. 11-136, hier S. 22; D. Arnoldi – G. C. Faccio – F. Gabotto – G. Rocchi, Le carte dello Archivio Capitolare di Vercelli, Biblioteca della Società Storica Subalpina 70, Corpus Chartarum Italiae 47, I, Pinerolo 1912, Nr. 36, hier S. 45; vgl. PadRep.

2. Charakterisierung und Analyse: Das Denkmal gehört zum Typ der volkssprachigen Einsprengsel innerhalb lat. Texte. Es steht am Ende eines der Briefe, die der Bischof Leo von Vercelli als Konzepte eigenhändig in den nach dem ExplicitVermerk des Haupttextes verbliebenen Leerraum auf das Schlussblatt einer Hs. von Isidors Etymologien aus der 2. Hälfte des 9. Jh.s eingetragen hat. Diese Briefe an Kaiser Heinrich II. gehören in die Zeit um 1016, als die Unruhen in Norditalien selbst nach dem Tod des Gegenkönigs Arduin von Ivrea nicht zur Ruhe gekommen waren

Leo von Vercelli, Altsächsische Sentenz

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und auch deutsche Bischöfe (Heribert von Köln und Heinrich von Würzburg) zusammen mit Aufrührern in Italien gegen den kaisertreuen Bischof von Vercelli Front machten. In dem Brief, der in der as. Sentenz gipfelt, bittet Leo den Kaiser sehr nachdrücklich um Unterstützung und erinnert an seine Verdienste: Nunc videbo, cuius pretii apud vos erit Leo. Schon einmal hätten ihn die Feinde verlacht, weil Heinrich ein preceptum zu seinen, Leos, Gunsten nicht habe bestätigen wollen. Kaiser und Könige, auch Gott, mögen Unterworfene schonen. Ich aber, so schließt Leo, handle nach dem Grundsatz uuaregat self iuuua[re] got (so Lesung H. Bloch; Lesung von F. Gabotto iuuaregat self iuu[u]are got) ‘habt selbst Acht auf eure Besitztümer’. Leo († 1026) gehört zu den bedeutendsten Helfern und Ratgebern im Umkreis der Ottonen. Er ist seit 996 in der Umgebung Ottos III. bezeugt und bleibt auch nach der Übernahme des Bistums Vercelli (seit 998/999) und unter Heinrich II. ein in der Gesetzgebung und im Urkundenwesen einflussreicher Vertreter der kaisertreuen Partei. Seine weitgespannten Interessen und das Bild seiner Persönlichkeit werden in zahlreichen eigenhändigen Einträgen in den Codices von Vercelli erkennbar (S. Gavinelli). Von Geburt ist er vermutlich Italiener (Zurückweisung gegenteiliger Auffassungen bei J. Fleckenstein, S. 91 Anm. 213; mit Verweis auf die von Leo verwendete Schrift auch H. Dormeier, S. 45 Anm. 16). Die wie ein Zitat wirkende as. Wendung ist vielleicht eine Devise, die Leo in seiner Zeit am Hof der Ottonen kennengelernt hat, schwerlich eine erst im Augenblick der Niederschrift von ihm selbst gefundene Formulierung. Zu den sprachlichen Auffälligkeiten (Th. Klein, S. 46-48) gehören die sonst nur in der Epik bezeugte ‘Langform’ des ǀn-Verbs sowie die -Schreibung des Flexivs bei uuaregat, und sogar bei got ist die Lesung des Vokals als a nicht ausgeschlossen (R. Henning, S. 134), was deutlich ins Ostfälische weisen könnte, ebenso wie die Notierung des gi-Präfixes als i-, falls diese Lesungsalternative zutrifft. Als nichtsächsisch wird die (bei den entscheidenden Endbuchstaben von H. Bloch nur mit Vorbehalt notierte) Flexionsform des Possessivpronomens angesehen, die Th. Klein für eine ahd. Reminiszenz Leos hält. Sicher ist das keineswegs, da das aus idg. Erbe stammende r-Suffix auch vereinzelt in der Heliandhs. C auftritt (1342. 4441. 4910) und sodann durchgehend im Altenglischen gilt (Ɲower), sodass es auch für das Ostfälische nicht auszuschließen ist. 3. Literatur: H. Dormeier, Un vescovo in Italia alle soglie del Mille: Leone di Vercelli ‘episcopus imperii, servus sancti Eusebii’, Bollettino storico vercellese 28/2 (1999) S. 37-74 (erweiterte und durch Nachweise ergänzte Fassung von H. Dormeier, Kaiser und Bischofsherrschaft in Italien: Leo von Vercelli, in: Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen. Katalog der Ausstellung Hildesheim 1993. Hg. v. M. Brandt, A. Eggebrecht, H. J. Schuffels, I, Hildesheim/Mainz 1993, S. 103-112); J. Fleckenstein, Die Hofkapelle der deutschen Könige, II, Die Hofkapelle im Rahmen der ottonisch-salischen Reichskirche, Schriften der MGH 16/II, Stuttgart 1966; S. Gavinelli, Leone di Vercelli postillatore di codici, Aevum 75

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‘Lex Salica’

(2001) S. 233-262; R. Henning, Ueber den deutschen Spruch in dem dritten Briefe Leo’s von Vercelli, in: H. Bloch, NAGG 22 (1897) S. 133-135; Th. Klein, ‘De Heinrico’ und die altsächsische Sentenz Leos von Vercelli. Altsächsisch in der späten Ottonenzeit, in: Architectura poetica. FS Johannes Rathofer, S. 45-66, M. Manitius, Gesch. d. lat. Lit., II, S. 511-517.

HEINRICH TIEFENBACH

‘Lex Salica’, Bruchstück einer althochdeutschen Übersetzung 1. Überlieferung: Trier, StadtB, Fragmenten-Mappe X, Fragment 1. Doppelblatt von 4 Seiten, aus dem 2. Viertel des 9. Jh.s. Im Jahre 1850 aus dem inneren Deckel von Inc. 8º Nr. 200' (früher 1072) abgelöst, mit Provenienzvermerk des ausgehenden 15. Jh.s auf das Trierer Benediktinerkloster St. Maximin. R. Laufner (S. 29) entdeckte in einem Bücherkatalog aus dem 11. Jh. einen liber Theutonicus, der allgemein anerkannt auf das Fragment bezogen wird. Dass der fragmentarische ahd. Text zu einer vollständigen Übersetzung der ‘Lex Salica’ gehörte, wird auch durch das ahd. Titelverzeichnis belegt. Weitere Textfragmente des ursprünglichen Codex konnten bis jetzt nicht gefunden werden. 2. Ausgaben: F. J. Mone, ZGORh 1 (1850) S. 36-39; MSD Nr. LXV, I, S.. 226-228, II, S. 361-363; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. X, S. 55-59; K. A. Eckhardt, Pactus legis Salicae, II.2. Kapitularien und 70-Titel-Text, Göttingen 1956, S. 470-474 (lat.-ahd. Paralleltext mit lat. Lesearten); St. Sonderegger, in: Festgabe für Wolfgang Jungandreas, S. 114f. (Abb. nach S. 121); W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., S. 44f.; G. Simone, LS vs. LF, S. 121-127 (Abb. mit diplomatischer Edition, außerdem Wiedergabe älterer Editionen auf S. 129-149); H. D. Schlosser, Ahd. Lit., S. 42-44 (mit Übersetzung); St. Müller, Ahd. Lit., S. 40-43 (mit Übersetzung). Weitere Abb. bei Karl der Große, Abb. 34 (1v); R. Nolden, S. 13 und I. Knoblich, S. 242, Abb. 88; vgl. PadRep.

3. Einordnung. Das Bruchstück enthält die Übersetzung der karolingischen, 802/803 entstandenen Fassung der lat. ‘Lex Salica’ (Lex Salica Karolina in 70 Titeln, Textklasse K der seit dem frühen 6. Jh. überlieferten ‘Lex Salica’). Der lat. Grundtext enthält viele altfrk. Rechtswörter, obwohl die sogenannte Malbergische Glosse (wfrk.volkssprachige Einschübe in zum Teil verderbter Überlieferung) der älteren Fassungen fehlt. Die ahd. Übersetzung stellt den einzigen volkssprachigen Textzeugen einer südgermanisch-kontinentalen Lex des frühen Mittelalters dar und wird in der ‘LexSalica’-Forschung als Textklasse V (nur diese Hs.) bezeichnet. Das Fragment enthält den Schluss des Titelverzeichnisses (Titel LXI-LXX), Kap. I (De mannire, ahd. her ist fon meni ‘Von der Ladung’) sowie knapp die Hälfte von Kap. II (De furtis porcorum, ahd. fon ÿiubiu suino ‘Vom Schweinediebstahl’). Entgegen der älteren Zuweisung des Denkmals nach Fulda oder Aachen ist nach B. Bischoff (S. 106) die vorliegende Hs. der Mainzer Schreibschule etwa des 2. Viertels des 9. Jh.s zuzuordnen. Die sprach-

‘Lex Salica’

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lichen Kriterien zeigen ein Althochdeutsch des frühen 9. Jh.s. Für die nicht überlieferte Vorlage wurde eine Entstehung in Fulda von der Forschung kontrovers diskutiert: D. Geuenich (S. 124) sprach sich basierend auf einer Untersuchung der Fuldaer Personennamenüberlieferung gegen diese Lokalisierung aus, R. Lühr (S. 28) hält sie für wahrscheinlich. Die Entstehung der Übersetzung ist aller Wahrscheinlichkeit nach auf Karls d. Gr. gesetzgeberische und volkssprachige Impulse zurückzuführen, die schon die lat. Neuredaktion von 802/803 bestimmten. Die im Fragment gesetzte „rhetorische Interpunktion“ (W. Haubrichs, S. 155) wird häufig so interpretiert, dass die volkssprachige Übertragung für einen Vortrag konzipiert wurde (R. Schmidt-Wiegand, FMSt 30 [1996] S. 11). Die Übersetzungstechnik zeichnet sich durch flüssige Selbstständigkeit gegenüber den Konstruktionen der Vorlage aus, mit Stilelementen der germanischen Rechtssprache wie Stabsetzung und figura etymologica. Merowingische Rechtswörter der lat. Vorlage werden zum Teil volkssprachig erneuert (s. hierzu vor allem G. Simone, LS vs. LF). Das Denkmal darf nach Übersetzungskunst und ursprünglichem Umfang als ältestes und bedeutendstes Zeugnis der ahd. Rechtssprache bezeichnet werden. 4. Literatur: G. Baesecke, Frühgeschichte, II, S. 66f.; W. Betz, Karl der Große und die lingua theodisca, in: Karl der Große, Lebenswerk und Nachleben, II, 3.A. Düsseldorf 1965, S. 303; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134 (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 73-111); B. C. Bushey, Die deutschen und niederländischen Handschriften der Stadtbibliothek Trier bis 1600. Beschreibendes Verzeichnis der Handschriften der Stadtbibliothek zu Trier. NS 1, Wiesbaden 1996, S. 294f.; D. Geuenich, in: Von der Klosterbibl. z. Landesbibl., S. 99-124; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 155; W. Haubrichs, in: Lotharingia, S. 181-244, bes. S. 239; Karl der Große. Werk und Wirkung. Ausstellung Aachen. Düsseldorf 1965, S. 197f.; I. Knoblich, Die Bibliothek des Klosters St. Maximin bei Trier bis zum 12. Jahrhundert, Trier 1996, S. 75f.; R. Laufner, Vom Bereich der Trierer Klosterbibliothek St. Maximin im Hochmittelalter, in: Armaria Trevirensia. Beiträge zur Trierer Bibliotheksgeschichte, Bibliotheca Trevirensis 1, 2.A. Wiesbaden 1985, S. 15-43; R. Lühr, Studien zur Sprache des Hildebrandliedes. Teil I. Herkunft und Sprache, Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft 22, Frankfurt (Main)/Bern 1982, bes. S. 11-29; F. J. Mone, Rechtsalterthümer. 1. Bruchstück einer alten Uebersetzung der Lex Salica, ZGORh 1 (1850) S. 36-41; St. Müller, Ahd. Lit., S. 292-294; R. Nolden, Nr. 6, in: Kostbare Bücher und Dokumente aus Mittelalter und Neuzeit. Katalog der Ausstellung der Stadtbibliothek und des Stadtarchivs, Ausstellungskataloge Trierer Bibliotheken 8, Trier 1984, S. 13; H. D. Schlosser, Ahd. Lit., S. 190; R. Schmidt-Wiegand, Die Malbergischen Glossen der Lex Salica als Denkmal des Westfränkischen, RhVB 33 (1969) S. 396-422, bes. S. 420f.; R. Schmidt-Wiegand, FMSt 30 (1996) S. 1-18, bes. S. 10f.; R. SchmidtWiegand, in: Sprachgeschichte, I, S. 72-87; G. Simone, Lex Salica K61 (De chrenechruda) e la sua traduzione antico alto tedesca, in: Testi giuridici germanici. Atti del XVII Convegno dell’Associazone Italiana di Filologia germanica. Potenza, 24-25 maggio 1990, hg. v. L. Lazzari, Università degli Studi della Basilicata Potenza. Atti e memorie 11, Potenza 1991, S. 71-109; G. Simone, LS vs. LF. La traduzione frammentaria in antico tedesco della Lex Salica

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‘Lorscher Bienensegen’

e la sua base latina, Biblioteca del Dipartimento di Lingue e Letterature Straniere Moderne dell’Università degli Studi di Bologna 5, Bologna 1991; St. Sonderegger, Die althochdeutsche Lex-Salica-Übersetzung, in: Festgabe für Wolfgang Jungandreas zum 70. Geburtstag am 9. Dezember 1964. Beiträge zur deutschen Sprachgeschichte, Landes-, Volks- und Altertumskunde, Schriften zur Trierischen Landesgeschichte und Volkskunde 13, Trier 1964, S. 113-122; St. Sonderegger, in: 2VL I, Sp. 303-305; XI, Sp. 81; R. Wisniewski, Dt. Lit., S. 93f.

STEFAN SONDEREGGER – FALKO KLAES

‘Liebesantrag’ Ú ‘Kleriker und Nonne’ ‘Longinus miles’ Ú ‘Zürcher Blutsegen’ ‘Lorscher Beichte’ Ú Beichten, Althochdeutsche und altsächsische ‘Lorscher Bienensegen’ 1. Werkbeschreibung: Ahd. Segen zur Rückholung eines Bienenschwarms bestehend aus sechs Langzeilen, die aus fünf unabgesetzt eingetragenen Zeilen mit nur drei Interpunktionszeichen bestehen; Text in rhfrk. Schreibsprache (H.-H. Steinhoff, in: 2 VL V, Sp. 911); nach 2 stabreimenden Kurzzeilen am Anfang folgt weiterer Text in Endreim bzw. Endsilbenreim; Ablösung des Stabreims durch das neue Stilelement des Endreims und christliche Züge (Nennung von Christus u. der heiligen Maria) zeigen die Lösung von der germanischen Dichtung u. die Neuorientierung an christlichem Schrifttum; gegen die früher angenommene Zweiteilung des Segens sowie die angenommene Lückenhaftigkeit des Textes sind Einwände vorgebracht worden, die sich auch auf eine inhaltliche Parallele zu dem ags. Segen With ymbe (F. Kluge, S. 124) stützen (H. W. J. Kroes, S. 86f.). 2. Überlieferung: Rom, BAV Pal. lat. 220; ags. Minuskel; die Hs. ist im frühen 9. Jh. im mittel- oder oberrhein. Gebiet entstanden (B. Bischoff, Die Abtei Lorsch, S. 57) und um 900 ins Kloster Lorsch gelangt, von wo aus sie 1559 in die Heidelberger Bibliotheca Palatina und mit deren Bestand 1623 in die Biblioteca Apostolica Vaticana kam. Der Bienensegen ist auf f. 58r im 10. Jh. kopfständig in karolingischer Minuskel auf den unteren Rand einer mit der apokryphen ‘Visio Sancti Pauli’ beschriebenen Seite eingetragen. Die Hs. enthält Sermones sowie weitere theologische Schriften, von Augustinus, Bonifatius, Venantius Fortunatus, Beda u.a., zudem einige ahd. Griffelglossen (BStK-Nr. 836b); auf den Rändern der Hs. von mehreren Händen zahlreiche Einträge von Versen und Federproben.

Lucan-Glossierung

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3. Ausgaben: MSD Nr. XVI, I, S. 34f., II, S. 90-92; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LXXVII, S. 396f.; F. Pfeiffer, Forschung und Kritik auf dem Gebiete des deutschen Alterthums II, in: SB Wien, Phil.-hist. Classe 52, Wien 1866, S. 3-86, hier S. 3-19 mit Faksimile; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., S. 89f.; K. A. Wipf, Ahd. poet. Texte, S. 76f. http://de.wikisource.org/wiki/Datei:Lorscher_Bienensegen.jpg. – http://de.wikipedia.org/wiki/Lorscher_Bienensegen; vgl. PadRep.

4. Literatur: BStK-Nr. 836b; W. Berschin, Die Palatina in der Vaticana, in: Eine deutsche Bibliothek in Rom, 1992, S. 46f.; B. Bischoff, Die Abtei Lorsch im Spiegel ihrer Handschriften, 2.A. 1989, S. 57, 92; B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, 1981, S. 88; E. Cianci, Incantesimi, S. 203-207; Chr. M. Haeseli, Magische Performativität, S. 64; Handschriften aus dem Kloster Lorsch. Bearb. von P. Schnitzer, 1964, Tafel 10; W. Haug – B. K. Vollmann, Frühe dt. Lit., S. 152f. (Text und Übersetzung) u. S. 1150-1152; E. Hellgardt, Atti della Accademia Peloritana 71 (1997) S. 15, 22f.; V. Holzmann, „Ich beswer dich“, S. 191, Nr. 124; H. Jongeboer, Der Lorscher Bienensegen, ABÄG 21 (1984) S. 63-70; F. Kluge, Angelsächsisches Lesebuch, 4. A. Halle 1915, S. 124; H. W. J. Kroes, Zum Lorscher Bienensegen, GRM 41 (1960) S. 86f.; A. Masser, in: 2RL IV, S. 957-965; H. Mettke, Älteste dt. Dichtung, S. 88-91; C. L. Miller, The OHG and OS Charms, S. 66-70; B. Murdoch, Old High German Charms and Blessings, in: German Writers, S. 244; PadRep; K.-H. Platte, Der Lorscher Bienensegen. Ein althochdeutscher Spruch, 1993 (mit reprogr. Wiedergabe); A. Schirokauer, Der Eingang des Lorscher Bienensegens, MLN 57 (1942) S. 62-64 (zu Form und Bedeutung von fluic und hera); A. Schirokauer, Form und Formel einiger altdeutscher Zaubersprüche, ZDPh 73 (1954) S. 353364, hier S. 356f.; St. Sonderegger, Ahd. Sprache u. Lit., S. 113-115; St. Sonderegger, FMSt 5 (1971) S. 181; H.-H. Steinhoff, in: 2VL V, Sp. 911f.; H. Stuart – F. Walla, ZDA 116 (1987) S. 53-79, hier S. 65; K. A. Wipf, Ahd. poet. Texte, S. 282f.

STEFANIE STRICKER

‘Lublin/Wittenberger Psalter’ Ú Psalter: ‘Lublin/Wittenberger Fragmente einer altsächsischen Interlinearversion’ Lucan (Marcus Annaeus Lucanus), Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Geboren am 3.11.39 n. Chr., gehörte L., aus einer wohlhabenden Familie stammend, zum engeren Kreis um Kaiser Nero. Wie sein Onkel Seneca d. Ä. wurde er nach der erfolglosen Pisonischen Verschwörung im Jahr 65 zum Selbstmord gezwungen. Von seinem umfangreichen poetischen Werk sind nur, Nero gewidmet, die (unvollendete) Pharsalia (Bellum civile; im Folgenden Ph.) über den Bürgerkrieg erhalten, dessen Höhepunkt die Niederlage der Senatspartei bei Pharsalos im Jahr 48 v. Chr. war. Das Hexameterepos hat neben Vergils Aeneis und Statius’ Thebais die Gattung des lat. Epos nachhaltig geprägt. Im Mittelalter ist die Ph. als Schultext genutzt worden und hat sich seit dem 9. Jh. bis gegen 1200 in rd. 200, in der Regel lat. glossierten und oft auch kommentierten

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Lucan-Glossierung

Hss. erhalten. Vielfach ist der Text der Ph. ergänzt durch die L.-Vita des Sueton und ein spätantikes Epitaph. Deutsche Glossierung tritt hinter der lat. weit zurück: Bislang sind in 10 Hss. der Ph. insgesamt 124 deutsche Glossen nachgewiesen. Literatur: D. T.Vessey, M. Annaeus Lucanus, in: Der Neue Pauly VII,1999, Sp. 454-457; B. Munk Olsen, L’Étude, II, S. 17-83; IV,1, S. 83-87; L. D. Reynolds, Texts and Transmission, S. 215-218; Accessus ad auctores, ed. par R. B. C. Huygens, Leiden 1970, S. 39-44.

2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Berlin, SBPK Ms. lat. 2º 35 (BStK-Nr. 48) Ph. mit intensiver lat. Glossierung und Kommentierung, dazu 12 dt. Gll. von mehreren Händen, darunter 2 mit bfk-Geheimschrift (6 interlinear, 5 marginal, 1 mit einem interlinearen und einem marginal notierten Wort). Bair. 2. Drittel 11. Jh. – Ed. StSG V, S. 30 (Nr. DCCXXXV). – 2. Edinburgh, National Library of Scotland Adv. MS 18. 5. 10 (BStK-Nr. 107). Kommentarauszüge zu Juvenal, Lucan, Persius, Sedulius, Horaz, Vergil, Prudentius. Durchgängig lat. glossiert; insgesamt 118 ahd. Gll., interlinear, seltener im Kontext oder marginal, davon 7 zu Lucan. 1. Hälfte 12. Jh. Sprachgeograph. Einordnung unklar (K. Siewert, in: Althochdeutsch, I, S. 609, 616f.: frk.; E. Tiemensma-Langbroek: alem.). E. TiemensmaLangbroek, ABÄG 11 (1976) S. 1-36. – Ed. E. Langbroek, Zwischen den Zeilen, S. 52; 63-118. – 3. Erlangen, UB Ms. 389 (BStK-Nr. 147e). Aufwendig gestaltete Hs. der Ph., 10. Jh., aus Frankreich oder Belgien; im 11. Jh., wohl in Bamberg, durchgängig lat. glossiert und kommentiert. Angaben zu ahd. Glossen liegen nicht vor (Hinweis R. Schützeichel, 2000). – 4. Leiden, UB Cod. Voss. lat. f. 63 (BStK-Nr. 368). Ph., reich interlinear und marginal lat. glossiert; 23 ahd. Interlineargll., rhfrk.. 10. Jh. Ed. StSG IV, S. 339 (Nr. DCCXXXVa Nachtr.). – 5. Leiden, UB Cod. Voss. lat. q. 51 (BStK-Nr. 371). Ph., reich lat. glossiert und kommentiert; 8 ahd. Interlineargll. zu den Ph. 10. Jh., ofrk. Ed. StSG II, S. 355 (Nr. DCCXXXVI). – 6. Leipzig, UB Rep. I.4 (BStK-Nr. 378). Durchgängig reich lat. glossierte Sammelhs. römischer Autoren (Sallust, Horaz, Lucan), dazu Martianus Capella. 2. Hälfte 10. Jh. 1 as./ostfäl. (Magdeburg) Interlineargl. zu Lucan. 11. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 46. – 7. London, BL Harl. 2728 (BStK-Nr. 416). Ph. mit durchgehend dichter lat. Interlinear- und Marginalglossierung; 8 ahd. Gll. zu Lucan, davon 7 interlinear, 1 marginal. Freising, 11./12. Jh. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. – Ed. H. Thoma, PBB 73 (1951) S. 253f. – 8. München, BSB Clm 4593 (BStK-Nr. 484). Ph. mit zahlreichen lat. Interlinear- und Marginalgll.; 8 ahd. Interlineargll., davon 3 über den marginalen Kommentaren stehend, 3 in bfk-Geheimschrift. 11./Anfang 12. Jh., bair. – Ed. StSG IV, S. 338f. (Nr. DCCXXXV Nachtr.). – 9. München, BSB Clm 14505 (BStK-Nr. 593). Ph., durchgehend intensiv lat. glossiert und kommentiert; 40 ahd. Gll., davon 36 interlinear, 2 marginal, 2 interlinear in den Marginalscholien, 4 in bfk-Geheimschrift. 2. Hälfte 11. Jh., bair. – Ed. StSG II, S. 355 (Nr. DCCXXXV). Berichtigungen und Nachträge bei G. A. Cavajoni, S. 106-115. – 10. Paris, BNF lat. 9346 (BStK-Nr. 754). Ph., aus Echternach. Intensive lat. Glossierung und marginale Kommentierung; einzelne Passagen (Planctus) neumiert. 18 ahd. Gll., davon 1 als Federprobe, 17 zu Lucan (9 interlinear, 8 marginal) von mehreren Händen, 10 der dt. Gll. sind vielleicht von der Hand des Thiofried von Echternach notiert; seine Beteiligung an der lat. Glossierung ist plausibel zu vermuten, bleibt aber zu prüfen. Ende 10. Jh. (11. Jh.: B. Munk Olsen), mfrk. – Ed. A. Steffen, PSHL 62 (1928) S. 446f.; dazu J. Schroeder, PSHL 91 (1977) S. 352.

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3. Forschungsstand: Angesichts der umfangreichen Überlieferung und des vielfach auf Unterricht und Studium ausgerichteten Gebrauchs der Hss. bis 1200 ist mit weiteren Funden dt. Glossen zu rechnen. Der Bestand an Lucan-Hss. dieses Zeitraums ist von B. Munk Olsen, L’Étude, mit dem Anspruch auf Vollständigkeit verzeichnet. 4. Glossographische Aspekte: Regelmäßig sind die deutschen Glossen Teil einer Praxis der Texterschließung (Glossierung, Kommentierung), die weit überwiegend die lateinische Sprache nutzt. Die Frage, warum statt der bewährten lateinischen Praxis eine Glossierung in deutscher Sprache erfolgt, wäre von Fall zu Fall zu prüfen. 5. Räumliche und zeitliche Verteilung: Der mfrk. und der bair. Sprachraum sind gut vertreten, der einzigen as. Glosse (BStK-Nr. 378) kann kein spezifischer Zeugniswert beigemessen werden. Der Zeitraum des 10.-11. Jh.s zeigt hier wie vielfach sonst eine relative Häufigkeit volkssprachiger Glossierung. 6. Beziehungen zwischen den Glossierungen: Nicht untersucht. 7. Umfang und Bedeutung: Mit insgesamt124 deutschen Gll. in 10 Hss. steht L. hinsichtlich der Zahl der deutschen Glossen in der Rangfolge in der Gruppe der antiken Autoren an fünfter Stelle (R. Bergmann, in: BStH I, S. 85-87). 8. Literatur: H. Bischoff, Althochdeutsche Glossen zu den historischen Werken des Sallust und Lucan, Diss. Halle/Wittenberg 1951 masch.; G. A. Cavajoni, Glosse anticoaltotedesche in Lucano, Scripta philologica 1 (1977) S. 105-116; N. Henkel, Glossierung und Texterschließung, in: BStH I, S. 475-478. NIKOLAUS HENKEL

‘Ludwigslied’ Innerhalb der ahd. Literatur nimmt das karolingische Preislied eine mehrfache Sonderstellung ein: Sein Ort in der dt. Literaturgeschichte ist singulär, ist es doch höchstwahrscheinlich außerhalb des dt. Sprachraums von einem westfränk. Autor verfasst worden, in einer westfränk. Hs. überliefert, die unter anderen, sonst durchweg lat. Texten auch das älteste Zeugnis frz. Poesie enthält, und von westfränk. Thematik. Das literarische Genre, das es vertritt, findet seine nächsten Nachbarn in lat. Zeit- und Geschichtsdichtungen der Karolinger- und Ottonenzeit, so im Planctus eines Angilbert auf die Bruderschlacht von Fontenay 841, und diachron in der um 1100 erstmals greifbaren französischen Chanson de geste. Auch ist das ‘LL’ nicht nur ein anspruchsvolles Sprachkunstwerk, sondern zugleich eine signifikante historische Quelle.

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1. Überlieferung: Die in der 1. Hälfte des 9. Jh.s in Flandern entstandene Hs. wird seit 1791 in Valenciennes (BM Ms. 150) verwahrt. Den größten Teil ihres Inhalts bilden acht theologische Schriften Gregors von Nazianz in der lat. Übersetzung Rufins von Marseille (f. 2r-140r); ihnen voraus gehen zehn Distichen Gregors d. Gr. (f. 1v). Am Ende stehen vier Nachträge, darunter ein lat. Gedicht auf die heilige Eulalia (f. 141r) sowie, von derselben Hand, zwei volkssprachige Texte: die afrz. Sequenz auf die heilige Eulalia und das ‘LL’ (f. 141v; 141v-143r). Der abschließende Besitzvermerk ‘Liber Sancti Amandi’ stammt aus dem 12. Jh. Keine der beteiligten Hände zeigt jüngeren Analysen B. Bischoffs zufolge Beziehungen zu dem für das Skriptorium von StAmand nachgewiesenen Schreibstil, weshalb der jahrhundertelange Verwahrort nicht Ort der Niederschrift gewesen sein dürfte. Die Nachträge sind aber im engeren Umfeld des Klosters, einem Bereich romanisch-frk. Kontakte nahe der Sprachgrenze, zu verorten. 2. Ausgaben, Übersetzungen, Faksimilia: J. Schilter, Epinikion Rhythmo Teutonico Ludovico Regi acclamatum, Cum Nortmannos an. DCCCLXXXIII. vicisset. Ex Codice MS. Monasterii Elnonensis sive S. Amandi in Belgio, per Domnum Johannem Mabillon, Presbyterum ac Monachum Ordinis S. Benedicti è Congregatione S. Mauri descriptum, Interpretatione Latinâ & commentatione historica illustravit Jo. Schilter. Argentorati [Straßburg], Sumptibus Joh. Reinholdi Dulsseckeri. Anno MDCXCVI; J. G. Herder, König Ludwig, in: Stimmen der Völker in Liedern. Volkslieder nebst untermischten andern Stücken. Zweiter Theil, drittes Buch. Leipzig 1779; NA hg. v. H. Rölleke, Stuttgart 1975, S. 325-329; J. J. Bodmer, Siegeslied d. Franken, an d. Schelde vom Jahre 881, ae. und altschwäb. Balladen. Zürich 1780, S. 189-191; K. Lachmann, Laudes Ludovici regis, Specimina linguae Francicae in usum auditorum. Berlin 1825, S. 15-17; H. Hoffmann, Fundgruben I, S. 4-9 [Schilter-Text und Herstellung]; J.-F. Willems, Elnonensia. Monuments des langues romane et tudesque dans le IX. siècle, contenus dans un manuscrit de l’Abbaye de St-Amand, conservé à la Bibliothèque publique de Valenciennes, publiés par Hoffmann de Fallersleben, avec une traduction et des remarques par J. F. W. Gand 1837, ²1845, S. 11-13, 44-61 [Text mit dt./ndl. und frz. Übertragung]; MSD 1863, S. 15-17, 284-287 [Kommentar]; 3. A. bearb. v. E. v. Steinmeyer Nr. XI, I, S. 24-27; II, S. 71-78; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., S. 136-138; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XVI, S. 85-88; H. Fischer, Schrifttafeln, Tafel 22, Erläuterung S. 25*; W. Haug – K. Vollmann, Frühe dt. Lit., S. 146-149, S. 1135-1140 [Komm.]; vgl. PadRep.

3. Entstehung: Die Entstehung des ‘LL’ fällt in die Zeit zwischen dem 1./3. 8. 881, als der westfränk. Karolinger Ludwig III. ein Normannenheer bei Saucourt besiegte, und dem 5.8.882, dem Todestag des Siegers. Die relativ präzise Datierung ist ein Ausnahmefall in vormoderner Literatur. Der Nachtrag in die Hs. (von gleicher Hand wie das unmittelbar vorausgehende altfrz. Eulaliagedicht) erfolgte erst nach Ludwigs Tod, wie die lat. Überschrift bekundet: Rithmus teutonicus de piae memoriae Hluduico rege filio Hluduici aeque regis. Wie die meisten kleineren ahd. Texte ist das ‘LL’ anonym überliefert. Text und historischer Kontext bieten aber eine Fülle von Hinweisen auf

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den Autor. Von seiner zeitlich-räumlichen Nähe zum besungenen Geschehen ist auszugehen, die Sprache scheint dem vor der Reromanisierung des westfränk. Teilreichs gebräuchlichen Idiom der regionalen frk. Oberschicht zu entsprechen (R. Schützeichel) – mit dem Fortleben des Frk.-Dt. in Westfranken ist grundsätzlich zu rechnen, solange der Bestand der karolingischen Dynastie in beiden Teilreichen zumindest in der Adelsschicht gesamtfrk.-karoling. Identitäten lebendig und grenzüberschreitende Vernetzungen aufrecht erhielt. Dass der Dichter sich zu Beginn persönlicher Bekanntschaft mit Ludwig rühmt, muss nicht wörtlich zu nehmen sein; Duktus und Tendenz des Liedes deuten aber darauf hin, dass er dem Hof sehr nahestand. Man sieht in ihm heute einen gebildeten, zugleich politisch versierten Geistlichen aus Ludwigs Beraterstab oder Kanzlei. Als Initiator des Gedichts kommt der politisch einflussreiche Erzkanzler Ludwigs, Gauzlin von St-Denis, in Frage, der mehreren Klöstern vorstand, darunter auch St-Amand, wohin die Hs. gelangte, und St-Germain-des -Prés, wo Gauzlin als Veranlasser politischer Dichtung konkret fassbar ist. Zudem verfügte er über enge Kontakte nach Ostfranken und trat am Königshof als Gegenspieler Hinkmars von Reims, des Hauptes der westfränk. Kirche, hervor, was bestimmte Untertöne des Gedichts erklären könnte (s.u.). So spricht manches dafür, den Dichter in Gauzlins näherer Umgebung zu suchen. 4. Historische Einordnung: Die hist. Einordnung des ‘LL’ steht seit dem 19. Jh. außer Frage. Die Quellenlage ist vergleichsweise günstig; zu einer Vielzahl annalistischer Zeugnisse tritt hier der Briefwechsel und das lit. Werk des Reimser Erzbischofs Hinkmar. Daher lassen sich die historisch-politischen Referenzen des ‘LL’ und ihre spezifischen Stilisierungen gut eruieren: Da sind zunächst (a) die Thronfolgewirren nach dem Tod des westfränk. Königs Ludwig II. (‘des Stammlers’), eines Urenkels Karls d. Gr., der im April 879 nach nur zwei Regierungsjahren starb. Seiner gedenkt die lat. Überschrift zum ‘LL’ als Hluduicus aeque rex. Bei Ludwigs Tod war sein älterer Sohn Ludwig III. 17, der jüngere Karlmann etwa 13 Jahre alt, worauf v. 3 anspielt. (Ein dritter Sohn, der spätere König Karl ‘der Einfältige’, war noch nicht geboren.) Aufgrund widersprüchlicher Erbregelungen, hinter denen rivalisierende Parteiungen des westfränk. Adels und Interessen des ostfränkischen Karolingers Ludwig d. Jüngeren standen, kam es noch 879 zu einer schweren Krise. Auf der einen Seite stand die Partei Gauzlins mit ihrer Forderung nach einer Teilung Westfrankens unter beiden Söhnen, wie es frk. Erbbrauch entsprach, auf der anderen Seite die zuletzt am Hof führende Gruppe um Hugo d. Abt, die zur Wahrung der eigenen Position an der Einheit festhielt. Zweimal intervenierte Ludwig von Ostfranken in dem Konflikt, bevor es im März 880 in Amiens zum Vollzug der Teilung kam: Ludwig III. erhielt den Norden, Karlmann den Süden Westfrankens. Gauzlin erlangte in Ludwigs Reichsteil die Erzkanzlerwürde, während Hugo Regent in Karlmanns Gebiet wurde.

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Während das ‘LL’ auf diese komplexen Vorgänge nur, freilich höchst signifikant, anspielt, rücken (b) die Einfälle der Normannen und Ludwigs Sieg bei Saucourt ganz in sein Zentrum. Ludwigs Gebiet wurde, durch die langen Thronwirren noch begünstigt, von den Normannen heimgesucht, in Karlmanns Reichsteil dagegen hatten die Erbstreitigkeiten den mächtigen, mit der karolingischen Dynastie versippten Grafen Boso ermuntert, die Königsherrschaft zu usurpieren. Im Juli 880 zog Ludwig III. seinem Bruder gegen Boso zu Hilfe; für die Zeit seiner Abwesenheit, die das ‘LL’ andeutet (v. 19), übertrug er Gauzlin die Bekämpfung der normannischen Invasoren. Diese drangen um die Wende 880/81 tief ins Reich vor und plünderten Städte und Abteien. Alarmierende Meldungen davon erreichten den König während der Belagerung Bosos in Vienne; Karlmann zurücklassend, zog er den Feinden im eigenen Reichsteil entgegen. Anfang August 881 kam es bei Saucourt zur Schlacht, deren Höhepunkt die Annalen von St-Vaast (Annales Vedastini) aus Arras ausführlich beschreiben: Bald ergriffen die Normannen die Flucht und kamen zu dem genannten Dorf [sc. Saucourt]; der König aber verfolgte sie und siegte ruhmwürdigst über sie. Und nachdem so zum Teil der Sieg schon errungen war, fingen die Krieger an, sich zu rühmen, dass sie mit ihrer Kraft dies getan, und gaben nicht Gott den Ruhm; einige Normannen aber drangen aus dem Dorfe hervor und jagten das ganze Heer in die Flucht und töteten eine Anzahl von ihnen, etwa an hundert Mann; und wenn nicht der König, eiligst vom Pferd herabspringend, sie wieder zum Stehen gebracht und ihnen wieder Mut gegeben hätte, so würden sie alle in schmählicher Flucht diesen Ort verlassen haben. Nachdem aber dieser Sieg errungen war, durch den es geglückt war, so viele Normannen zu vernichten, zog der König im Triumph über die Hisa zurück, nur sehr wenige aber der Dänen kehrten unversehrt nach dem Lager zurück und berichteten hier von dem Untergang der Ihrigen. Seitdem nun fingen die Normannen an den jungen König Hludowig zu fürchten (nach R. Rau, Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte 2, Darmstadt ²1992, S. 298ff.).

Aus der distanzierten Rückschau und im hist. Kontext gesehen, war Saucourt nur ein Augenblickserfolg. Die Einfälle setzten sich fort, wenn auch mit Schwerpunktverlagerungen nach Osten (Ende 881 folgten Überfälle auf Tongern, Maastricht, Lüttich und Aachen). Bei den Zeitgenossen aber hinterließ der Sieg nachhaltigen Eindruck. West- und ostfränk., ja ags. Quellen erwähnen ihn, der Sieger ging in die heroische Dichtung ein, so in bereits entstellter Form in die frühe frz. Chanson de geste Isembart et Gormont. Nur ein Jahr nach seinem Triumph aber starb Ludwig bei einem Reitunfall in Tours. Der Nachhall in den Quellen deutet darauf, dass man ihn (im Gegensatz zu Karl dem Dicken, dem dies 885 kurzzeitig gelang) sogar als geeignet ansah, das karolingische Frankenreich wieder zu einen. Nach Regino von Prüm beweinten omnes Galliarum populi den König, denn er war ein vir virtutis maximae,

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der es verstand, das ihm anvertraute Teilreich a paganorum infestatione potenter viriliterque zu schützen. 5. Ideengeschichtliche und literarische Einordnung: Vielfache Bezugspunkte des ‘LL’ zur zeitgenössischen Historiographie, Fürstenspiegelliteratur und theologischexegetischen Überlieferung, namentlich die Übernahme alttestamentarischer Typenund Deutungsmodelle, bekunden seine tiefe Verankerung im Welt- und Gottesbild der Epoche (vgl. E. Berg). Das ‘LL’ ist demnach ein ausgesprochenes Produkt seiner Zeit – eine Tatsache, die oft ignoriert wurde, wenn man ihm ohne Rücksicht auf die offensichtliche Gesamttendenz germanisch-archaischen, gar kryptopaganen Geist unterstellte (so noch in der Nachkriegszeit dezidiert Th. Melicher). Am deutlichsten wird diese Gesamttendenz in der theozentrischen Geschichtsauffassung des Lieds. Dem historischen Geschehen ist ein aus dem AT übernommenes Modell hinterlegt: Auf den Abfall des auserwählten Volkes von Gott folgt Gottes Strafe (Auslieferung an Feinde, Naturkatastrophen oder Plagen); das Volk besinnt sich in seiner Not, büßt seine Verfehlung und kann Gottes Huld wiedergewinnen. Gott sendet einen Retter, und in der Befreiung des Volkes aus Not und Leid dokumentiert sich die neugewonnene Einheit von Schöpfer und Geschöpf, die der besonders geprüfte und ausgezeichnete Mittler (Abraham, Noah, Mose – oder eben Ludwig) exemplarisch verkörpert. Gott erscheint im ‘LL’ wie im AT als der eigentliche Lenker der Geschichte, sodass alle historischen Ereignisse als Ausdruck seines Wollens und Handelns verstanden sind, eben im Sinne von Strafe, Lohn, Prüfung. Was geschieht, ist dem umfassenden Heilsplan ein- und untergeordnet – sogar die heidnischen Invasoren erscheinen als instrumentum Dei (v. 11) zum doppelten Zweck der Prüfung des jungen Ludwig und der Mahnung des Volkes zur Umkehr (v. 10/12). Auch die Schlacht erscheint in diesem allumfassenden Rahmen: Der Kriegsdienst wird zum Gottesdienst, der Kriegerkönig Ludwig präsentiert sich als demütiger Miles Christianus (v. 33ff.), und das Kyrie erklingt als Schlachtgesang (v. 47). Der Argumentationsduktus des ‘LL’ folgt mithin einer konsequenten Logik: Irdisch-hist. Geschehen erscheint im Lichte des Göttlichen, Erde und Himmel liegen nah beieinander. Geschichte ist final, nicht kausal verstanden; objektive Ursachen und Gründe sind nicht von Interesse, sondern allein ihre Bedeutung für den Menschen und die Menschheit überhaupt. Letztes Ziel ist Gott. Dieses geschichtstheologische Konzept aber ist Signum der Zeit, es zeigt sich in Urkundenarengen, Kapitularien, Chroniken, Fürstenspiegeln. So wird das ‘LL’ ungeachtet seines ‘Faktengehalts’ auch zur hist. Quelle, die nicht ausweist, was wirklich geschah, sondern was die Epoche als Geschichte verstand und wie sie sie deutete. In die theologische Konzeption des ‘LL’ ist auch das Herrscherbild einbezogen. Ludwig steht ja nur scheinbar allein im Zentrum des Lieds. Kernidee der theokratischen Herrschaftslegitimation ist das von

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Gott verliehene, an seiner Statt geübte sakrale Amt, in dem göttliches und weltliches Mandat zusammenfließen. Dies wurde später als ‘Gottesgnadentum’ bezeichnet, doch setzt der Begriff im Frühmittelalter durchaus eigenständige Akzente: Vorrangig bedeutete er Abhängigkeit des Königs von Gott, Dienst in seinem Auftrag und unbedingten Gehorsam, also nicht so sehr Überordnung (über die Untertanen) als vielmehr Unterordnung (unter Gottes Willen). Im ‘LL’ wird dies explizit, und es hat weitreichende Ummodellierungen des historischen Substrats zur Folge: An (v. 3-24) und durch (v. 27-54) Ludwig wird Gottes Wirken manifest. Nach dem frühen Tod des Vaters übernimmt Gott die Erzieherrolle (v. 3f.) und beruft Ludwig zum König (v. 5f.), während der de jure gleichberechtigte Karlmann seine Mitherrschaft ‘nur’ aus der Hand des großherzigen Bruders erhält. Ludwigs gottgegebene dugidi und sein fronisc githigini sind konstitutiv für seinen Status. Gott prüft den jungen König (v. 9) und beruft ihn zum Retter seines (wie des Königs) bedrängten Volks, Ludwig zeigt sich gehorsam (v. 25f.): durch seine Hand führt Gott die Franken zum Sieg. Gott und den Heiligen gilt folgerichtig der letzte Preis des Dichters, nicht dem siegreichen König, der lediglich ihrer Gnade anempfohlen wird (v. 55-59). So steht mit Ludwig, ihm übergeordnet, Gott im Zentrum des Gedichts – der Königspreis ist, recht eigentlich, ein Gottespreis. In dieser zeittypischen Auffassung sakralen Königtums nimmt der Herrscher eine Mittlerstellung ein: Gegenüber Gott versteht er sich als minister ac servus (vgl. Sedulius Scottus), gegenüber seinem Volk als vicarius Dei (Johann von Salisbury). Dieses ist im ‘LL’ schon in v. 2 ausdrückt, jenes impliziert die schlichte Reihung Kuning uuas eruirrit – thaz richi al girrit – uuas erbolgan krist (v. 19f.), wie auch die direkte Aufforderung Gottes an Ludwig: Kuning min, hilph minan liutin (v. 23; analog v. 33). Die Behebung der Wirrnis im Reich setzt also die Anwesenheit des Königs voraus, denn seine Abwesenheit (deren realer Grund, die Unterstützung Karlmanns gegen Boso, nicht interessiert) ist Ausdruck des zürnenden Fernseins Gottes von den Franken. Folgerichtig ist die Wiedergewinnung der göttlichen Huld für die Franken verbunden mit Ludwigs Rückkehr zu ihnen. Ein solches Königtum ist nicht begriffen als aus individuellen hist. Voraussetzungen geworden, sondern als überzeitlich und typisch, und das unmittelbare Vorbild ist wiederum der Königsgedanke des AT. Durch die religiöse Konzeption des Geschehens, vor allem durch die deutlich biblische Stilisierung erfahren Ludwig und seine (realiter kurze) Herrschaft eine massive heilsgeschichtliche Aufwertung. Wie Mose, David und Salomo rückt der Karolinger in den göttlichen Heilsplan ein. Das ‘LL’ schafft damit eine nicht hinterfragbare, da auf Gottes Willen beruhende, Legitimation des jungen Westfrankenkönigs.

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6. Zeitgeschichtlicher Kontext und propagandistische Funktion: Der letzte Befund leitet über zur Frage nach konkreten zeitpolitischen Funktionen. War nämlich bereits Ludwigs Herrschaftsantritt begleitet und überschattet von Unruhen und inneren wie äußeren Konflikten, so sah sich der König auch während seiner kurzen Regierung mehrfach mit Versuchen konfrontiert, seine Stellung zu schwächen. Eine Schlüsselrolle spielte dabei der einflussreiche Reimser Erzbischof Hinkmar. Dieser hatte sich unter Karl II. (‘dem Kahlen’, 840-877) als Stütze des Königs gegen die mächtigen Magnaten erwiesen und war seither zu höchstem Einfluss in Westfranken gelangt. In den Thronfolgewirren 879/80 stützte er Hugo und begab sich so in erbitterte Gegnerschaft zu Gauzlin, Ludwigs späterem Erzkanzler. Als sich Ludwig trotz seiner Jugend, wohl unter dem maßgeblichen Einfluss Gauzlins, entschlossen zeigte, seine Herrschaftsrechte auch gegen die Kirche zu verteidigen (vgl. G. Schmitz; K. F. Werner), wandte sich Hinkmar auch gegen den König selbst, wobei er vor diffamierenden Äußerungen nicht zurückschreckte. Konkreter Auslöser wurden zwei Konflikte um die Neubesetzung der Bischofsstühle Noyon und Beauvais (879-882); in diesem Kontext, in dem das Gewohnheitsrecht des Königs auf Mitwirkung bei Investituren mit Hinkmars Anspruch auf eine kanonisch-innerkirchliche Wahl kollidierte, wandte sich Hinkmar mehrfach an Ludwig, bescheinigte ihm ein unreifes Alter und hielt ihm vor, nomine potius quam virtute zu herrschen. Auch ermahnte er ihn, sich geeignete Ratgeber zu suchen und endlich der Normannengefahr zu begegnen. Iustitia et iudicium, quae quasi emortua apud nos sunt, müssten zu neuem Leben erweckt werden. An den Schluss eines einschlägigen Synodalbriefes setzte Hinkmar das böse Zitat: Vae terrae, cuius rex iuvenis est et cuius principes mane comedunt (Eccl. 10,16), ein anderes Schreiben konstatierte: Non vos [sc. Ludwig] me eligistis in praelatione Ecclesiae, sed ego cum collegis meis ... vos elegi ad regimen regni sub conditione debita leges servandi. Aufschlussreich ist mit Blick auf das ‘LL’ auch, wie Hinkmars Annalenwerk (Annales Bertiniani) die Schlacht von Saucourt darstellt: Der Bericht beschränkt sich gegen die gesamte Parallelüberlieferung einseitig auf den nur vorübergehenden Ausfall der bereits geschlagenen Feinde. Ludwig habe dabei, „von niemanden verfolgt“ (d.h. mit anderen Worten: schändlich und feige), die Flucht ergriffen. Der anfängliche wie endgültige Sieg Ludwigs wird unterschlagen, eine Episode zum Gesamtgeschehen stilisiert, und wenige Zeilen später wird auch die Errichtung eines Forts durch Ludwig mit der Bemerkung kommentiert, dieses diene mehr als Zuflucht für die Feinde denn als Verteidigungsstellung der Franken. Im gesamten Abschnitt zum Jahr 881 findet sich kein positives Wort über den König. Im Zusammenhang mit dem ‘LL’ verdient dieser Kontext, der anders als die Thronfolgekrise und Saucourt nicht unmittelbar stoffbildend wirkte, in zweierlei Hinsicht Beachtung: Zum einen ist es die für die Zeit ungewöhnliche Grundsätzlich-

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keit der Auseinandersetzung, auf deren Höhepunkt Ludwig öffentlich Kirchenbuße leisten musste, nachdem ihn Hinkmar mit kirchlichem Bann bedrohte. Zum anderen frappiert die Deutlichkeit, mit der Hinkmar die rechtliche Unterordnung des Königtums unter das Priestertum als Folge der kirchlichen Wahl und Weihe des Königs formulierte. Dabei stützte er all seine Angriffe biblisch-theologisch und illustrierte sie durch einschlägige Präzedenzfälle der Welt- und Heilsgeschichte. Hierin war der versierte Kanonist und Exeget kaum zu übertreffen, hier fand seine persönlich und machtpolitisch inspirierte Argumentation objektiv-unhinterfragbare Prägnanz. Doch es ist „klar, daß Hinkmars Aufsehen erregende Formulierungen zum Verhältnis der beiden Gewalten nicht aus einer Verteidigungsposition ... gefallen sind. Ludwig III. hatte sich nach allem, was wir wissen, völlig korrekt verhalten“ (G. Schmitz). In dieser politisch und publizistisch aufgeheizten Situation ist das ‘LL’ 881 entstanden, und auch e silentio liegt die Annahme nahe, dass es nicht unbeeinflusst von ihr blieb. Hier genügt eine präzise, für ideologische Neben- und Untertöne empfängliche ReLektüre des Textes, um einer bis ins Detail antithetischen Konzeption des theologisch wie juristisch versierten Dichters nachzuspüren: Gegen Hinkmars Vorwürfe mangelnden Engagements für die Kirche setzt das Lied die betonte Gottergebenheit des Königs, gegen den priesterlichen Mittleranspruch und das wiederholte Verdikt minderwertiger Beratung betont es die von Gott vollzogene Einsetzung und Erziehung; jeglicher Hinweis auf eine klerikale Mitwirkung unterbleibt, entgegen ihrer politischrealen Bedeutung schweigt der Verfasser des ‘LL’ die Geistlichkeit geradezu tot. Hinkmars Jugendschelte konterkariert die Prüfung und Bewährung des jungen Königs in Not und arbeidi, aus Wahl und Salbung resultierende Suprematieansprüche werden durch die These einer gottunmittelbaren, mit Gott direkt kommunizierenden Herrschaft obsolet, und der Schlachtbericht liest sich wie eine Gegendarstellung zu Hinkmars Annalennotiz, wie zugleich zu der Äußerung, Ludwig regiere nur dem Namen nach. Der Dichter schildert von der ersten Zeile an, wie sich Ludwig unter widrigsten Umständen im Herrscheramt bewährt und seine von Gott empfangenen virtutes glanzvoll in der Schlacht bestätigt. Dass der anonyme Preisdichter Verkürzungen und Verfälschungen der hist. Realität so bedenkenlos in Kauf nimmt wie der namhafte Bischof, liegt in der Konsequenz der (gegensätzlichen) Funktion so sehr wie in der des oben gezeigten, beiden gemeinsamen Geschichtsbilds. Über die der Reichsteilung vorausgehenden Wirren, in denen Ludwig und Karlmann selbst nur Objekt waren, erfährt der Hörer so wenig wie über die gefährliche Wendung, die den fränkischen Sieg bei Saucourt offenbar beinahe zunichte machte. Das ‘LL’ hypothetisch mit Hinkmars Person und Politik in Verbindung zu stellen setzt voraus, dass dessen Polemik gegen den König auch über die lateinisch-klerikalen Eliten hinauswirkte, wovon man angesichts der Art und Härte des Dissenses füglich ausgehen darf (vgl. D. Yeandle, M. Herweg). Zum Siegespreis tritt folglich im ‘LL’

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ein verdeckt propagandistischer Unterton: Gestützt auf die Bibel und ihre Exegese behauptet der Autor das Gottesgnadentum des Königs gegen den ungenannten Gegenspieler und liefert in aller Kunstfertigkeit eine letztlich auch tagespolitisch motivierte Stellungnahme in freilich sehr grundsätzlicher Sache. In seiner Vereinfachung komplexer Realitäten kommt er Hinkmars Annaleneintrag im Grunde recht nahe, freilich mit dem Unterschied, dass er sich nicht als Chronist verstand. Dass das ‘LL’ bei unzweifelhaft westfränk. Herkunft in einer Sprache abgefasst und niedergeschrieben ist, die nach Ausweis etwa der Ú ‘Straßburger Eide’ um 880 im westfränk. Adel nicht mehr allgemein geläufig war, lässt nach den potentiellen Adressaten fragen. Im engeren Umkreis des Dichters ist mit einem wissenden Publikum zu rechnen, dem die dargestellten Ereignisse bekannt waren – der Verfasser verzichtete ja auf nähere Angaben zu Ludwig wie auch zu Zeit und Ort seines Sieges. Dieses Publikum ist am ehesten am westfränk. Hof zu suchen: Viele Magnaten und Kronvasallen waren nach Ostfranken versippt oder hatten in beiden Teilreichen Besitz oder Interessen, so Gauzlins Rorgoniden, die Welfen Hugos d. Abtes, die Robertiner Odos. Ob der Funktionshorizont des ‘LL’ darüber hinaus auch direkt nach Ostfranken zielte, ist wegen der Sprachwahl zu erwägen, wiewohl (nicht anders als die HinkmarHypothese) nur durch Indizien zu stützen: In einigen Quellen erscheint Ludwig nach Saucourt erwähntermaßen als vielversprechender Spross Karls d. Gr., und so konnte das frk.-dt. ‘LL’ eben auch darauf zielen, den jungen König im Ostreich bekannt zu machen, wofür die Schilderung eines großen Sieges sehr geeignet war – zumal die Normannen gerade nach Saucourt auch dem Ostreich arg zusetzten. Um 880 bestand zudem die Chance, dass Ludwig III. nach dem Tod des etwa 30 Jahre älteren und kinderlosen Ludwig d. Jüngeren die Teilreiche unter seiner Herrschaft wiedervereinigen mochte; sein früher Tod verhinderte diese Konstellation, und wenig später übernahm Ludwigs d. Jüngeren Bruder (Karl III.) die Herrschaft im Gesamtreich. Zielsetzungen in diese Richtung würden den Wirkradius des Gedichts geographisch wie ideell bemerkenswert weiten, sind indes noch spekulativer als die Annahme eines Plädoyers gegen Hinkmar. 7. Forschungsgeschichte: Die Forschungsgeschichte zum ‘LL’ reflektiert instruktiv die Entwicklung der vor- und frühgermanistischen Editions- und Methodengeschichte (vgl. M. Herweg). Die erste nachmittelalterliche Entdeckung und Abschrift verdankt sich dem Mauriner Jean Mabillon OSB (1632-1707); er stieß auf den Text, als er in StAmand nach historischen Quellen forschte. Versiert im Umgang mit alten Codices und Schriften, nicht aber mit der Sprache des Fundes, sandte er seine Abschrift zur Korrektur an den Straßburger Juristen, Historiker und Herausgeber altdt. Texte J. Schilter (1632-1705); dieser publizierte ihn sorgfältig kommentiert und mit lat. Übersetzung zunächst separat (1696), dann im Rahmen seiner postum erschienenen Monu-

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mentaledition des Thesaurus Antiquitatum Teutonicarum (1727). Die umfangreiche dreisprachige Hs. galt schon kurz nach Mabillons Fund als verschollen – tatsächlich gelangte sie 1791 im Zuge der frz. Klosteraufhebungen nach Valenciennes, wo sie 46 Jahre unbeachtet lagerte –, sodass erst die Wiederentdeckung durch H. Hoffmann (‘von Fallersleben’) 1837 die Editionsgeschichte auf eine neue, philologisch gesicherte Basis stellte. Die erste Publikation der neuen Abschrift besorgte J.-F. Willems unter Beifügung nhd., nl. und frz. Übersetzungen. Von der Erst- bis zur Wiederentdeckung reichen die ‘vorwissenschaftlichen’ Anfänge der ‘LL’-Philologie. In der Reihe der Editoren, Kommentatoren und Übersetzer finden sich namhafte Gelehrte wie der Hofbibliothekar Eccard, der auch Ú ‘De Heinrico’ entdeckte und erstpublizierte, die Dichter-Poetologen Herder und Bodmer (beide auch Wegbereiter der AnnoliedForschung), der Philologe K. Lachmann. Das aufgrund der fehlenden Hs. zwangsläufig provisorische Verdienst dieser Phase liegt auf den Gebieten der Textkritik und Edition, zur Deutungsgeschichte trug sie kaum Bleibendes bei. Sofern nicht sprachlich-philologische Aspekte alles Interesse absorbierten, beschränkte man sich auf die historische Erschließung auf Basis der bereits weithin bekannten lat. Quellen. Ab 1837 rückten dann sach- und fachspezifische Anliegen stärker in den Vordergrund. Mit Gervinus und J. Grimm begann die ideen- und gattungsgeschichtliche Erforschung, deren Paradigmen für mehr als ein Jahrhundert ganz im Zeichen der Polarität germanischer versus christlich-karolingischer Standpunkte standen. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verloren die ‘germanophilen’ Zugriffe an Gewicht. Diese zweite Phase der ‘LL’-Forschung wird von einer über den gesamten Zeitraum hinweg blühenden Literaturgeschichtsschreibung begleitet, reflektiert und vorangetrieben. Christlich-biblischen und damit sowohl der karolingischen Kultur und Geisteswelt als auch dem Gattungskontext verpflichteten Zugangsweisen sowie Fragen nach möglichen publizistischen Strategien des ‘LL’ im Zeitkontext öffnete sich sehr entschieden die jüngere und jüngste Deutungsgeschichte, und aktuell bestimmt zudem die spezifische bi- bzw. trilinguale Kontext- und Überlieferungssituation das Forschungsinteresse (vgl. E. Hellgardt, R. Bauschke). Relikte germanischer Religiosität oder Weltaneignung sehen längst nur noch wenige, auch wenn immer wieder der Vergleich mit dem ‘Hildebrandslied’ reizte (und nach wie vor reizt). 8. Literatur: R. Bauschke, Die gemeinsame Überlieferung von ‘LL’ und ‘Eulalia-Sequenz’, Wolfram-Studien 19 (2006) S. 209-232; H. Beck, Zur literaturgeschichtlichen Stellung des althochdeutschen ‘LL’ und einiger verwandter Zeitgedichte ZDA 103 (1974) S. 37-51; E. Berg, Das ‘LL’ und die Schlacht bei Saucourt, RhVB 29 (1964) S. 175-199; P. M. Blau, Das althochdeutsche ‘LL’. Ein Beitrag zu den gattungsgeschichtlichen Grundlagen der Dichtung und zum literarischen Bild des christlichen Herrschers in Karolingischer Zeit, Köln 1986; J. Carles, Le ‘LL’ et la victoire de Louis III sur les Normands à Saucourt-en-Vimeu (881), in: La Chanson de geste et le mythe Carolingien. FS René Louis, I, Saint-Père-sous-Vézelay 1982, S. 101-

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109; R. Combridge, Zur Handschrift des ‘LL.s’, ZDA 97 (1968) S. 33-37; M. Delbouille, A propos des deux séquences d’Eulalie et du ‘LL’, in: Interlinguistica. FS Mario Wandruszka, hg. v. K.-R. Bausch und H.-M. Gauger, Tübingen 1971, S. 26-38; A. Ebenbauer, Heldenlied und ‘Historisches Lied’ im Frühmittelalter – und davor, in: Heldensage und Heldendichtung, S. 1534; T. Ehlert, Literatur und Wirklichkeit – Exegese und Politik. Zur Deutung des ‘LL’, Saeculum 32 (1981) S. 31-42; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit. I, S. 228-236; J. Fought, The ‘Medieval Sibilants’ of the Eulalia-‘LL’ Manuscript and their Developement in Early Old French, Language 55 (1979) S. 842-858; P. Fouracre, The context of the OHG ‘LL’ Medium Aevum 54 (1985) S. 87-103; P. Fouracre, Using the Background to the ‘LL’: Some Methodological Problems, in: mit regulu bithuungan, S. 80-93; W. Freytag, in: ²VL V, Sp. 1036-1039; A. Georgi, Das lateinische und deutsche Preisgedicht des Mittelalters in der Nachfolge des genus demonstrativum, Berlin 1969; C. Händl, ‘LL’. Canto di Ludovico. Introduzione e commento, Alessandria 1990; R. Harvey, The provenance of the Old High German ‘LL’, Medium Aevum 14 (1945) S. 1-20; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 172-182; E. Hellgardt, Zur Mehrsprachigkeit im Karolingerreich, PBB 118 (1996) S. 1-48; M. Herweg, LL, De Heinrico, Annolied: die deutschen Zeitdichtungen des frühen Mittelalters im Spiegel ihrer wissenschaftlichen Rezeption und Erforschung, Wiesbaden 2002, S. 19-180; P. Lefrancq, ‘Rhythmus Teutonicus’ ou ‘LL’? De la découverte de Mabillon (Saint-Amand, 1672) à celle d’Hoffmann von Fallersleben (Valenciennes, 1837), Paris 1945; Th. Melicher, Die Rechtsaltertümer im ‘LL’, in: Anzeigen der österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 91 (1954), S. 254-275; R. Müller, Das ‘LL’ – eine Dichtung im Dienste monarchischer Propaganda für den Kampf gegen die Normannen?, in: Sprache, Text, Geschichte. Beiträge zur Mediävistik und germanistischen Sprachwissenschaft aus dem Kreis der Mitarbeiter 1964-1979 des Instituts für Germanistik an der Universität Salzburg, hg. v. P. K. Stein u.a., GAG 304, Göppingen 1980, S. 441477; R. Müller, Der historische Hintergrund des althochdeutschen ‘LL’, DVJS 62 (1988) S. 221-226; R. Müller, Le chant de Louis – un chant de croisade?, in: La croisade: réalités et fictions. Actes du colloque d’Amiens 18-22 mars 1987 (publié par les soins de Danielle Buschinger), GAG 503, Göppingen 1989, S. 177-182; B. O. Murdoch, Saucourt and the ‘LL’. Some observations on medieval historical poetry, Révue belge de philologie et d’histoire 55 (1977) S. 841-867; H. Naumann, Das ‘LL’ und die verwandten lateinischen Gedichte. Studien zur Frühgeschichte des germanischen Preisliedes, Halle/S. 1932; D. Neuendorff, Studie zur Entwicklung der Herrscherdarstellung in der deutschsprachigen Literatur des 9.-12. Jahrhunderts, Stockholm 1982; K. Ostberg, The ‘LL’ in the Context of Communication between the Continent and Anglo-Saxon England, GLL 38 (1985) S. 395-416; M. Riutort, Cançó de Lluís, in: Universitas Tarraconensis (Fac. de Filosofia i Lletres, Dept. de Filologia) 13 (1990-91), Tarragona 1991, S. 219-242; A. L. Rossi, Vernacular authority in the late 9th century. Bilingual juxtaposition in MS 150, Valenciennes, Ann Arbor 1987; G. Schmitz, Hinkmar von Reims, die Synode von Fismes 881 und der Streit um das Bistum Beauvais, DA 35 (1979) S. 463-486; R. Schützeichel, Das ‘LL’ und die Erforschung des Westfränkischen, RhVB 31 (1966/67) S. 291306; R. Schützeichel, ‘LL’. Das Heil des Königs, PBB 94 (Tübingen 1972), Sonderheft S. 369391 (wieder in: R. Schützeichel, Textgebundenheit, S. 45-67); W. Schwarz, The ‘LL’, a ninthcentury poem, MLR 42 (1947) S. 467-473; J. Seemüller, Studie zu den Ursprüngen der altdeutschen Historiographie, in: Abhandlungen zur germanischen Philologie. FS Richard Heinzel, Halle/S. 1898, Nachdr. 1985, S. 279-352; J. Szövérffy, Weltliche Dichtungen des lateini-

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Macer-Glossierung

schen Mittelalters. Ein Handbuch. I. Von den Anfängen bis zum Ende der Karolingerzeit, Berlin 1970; E. Ukena-Best, Du solt ouch hin ze Spanje varn: got wil dich dâ mit êren. Providentia Dei, Herrschertum und poetische Konzeption im ‘Karl’ des Stricker mit Blick auf das althochdeutsche ‘LL’, LB 89 (2000) S. 327-362; E. Urmoneit, Der Wortschatz des ‘LL’ im Umkreis der althochdeutschen Literatur, München 1973; M. Wehrli, Gattungsgeschichtliche Betrachtungen zum ‘LL’, in: Philologia Deutsch. FS Werner Henzen, hg. v. W. Kohlschmidt und P. Zinsli, Bern 1965, S. 9-20; K. F. Werner, Gauzlin von Saint-Denis und die westfränkische Reichsteilung von Amiens (März 880). Ein Beitrag zur Vorgeschichte von Odos Königtum, DA 35 (1979) S. 395-462; D. Yeandle, The ‘LL’: King, Church, and Context, in: mit regulu bithuuungan, S. 18-79; H. Zettel, Das Bild der Normannen und der Normanneneinfälle in westfränkischen, ostfränkischen und angelsächsischen Quellen des 8. bis 11. Jahrhunderts, München 1977.

MATHIAS HERWEG

Macer, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Macer Floridus (‘Der wiedererblühte Macer’ oder ‘Macer über die Blumen’, ursprünglicher Titel De virtutibus herbarum = ‘Über die [Heil-]Kräfte der Kräuter’, auch De viribus herbarum) ist ein lat. Pflanzengedicht in Hexametern über die Heilkräfte von 77 Pflanzen, verfasst von Odo Magdunensis, einem gelehrten Kleriker, wahrscheinlich Arzt, aus Meung an der Loire; das genaue Entstehungsdatum des Werks ist unbekannt. Die Werksbezeichnung nimmt wohl Bezug auf Aemilius Macer, Freund Ovids und Autor eines verschollenen Gedichts ‘De herbis’. Erstmalig erwähnt wurde das Werk im Jahre 1100 in einem Verzeichnis kirchlicher Schriftsteller von Sigebertus Gemblacensis (aus Gembloux). Es könnte jedoch durchaus deutlich früher geschrieben worden sein. W. C. Crossgrove (in: 2VL V, Sp. 11091116, hier Sp. 1109) geht von einer Entstehung um 1070 aus. Der Autor nennt etwa zwei Dutzend Quellen, darunter Plinius (Naturalis historiae Libri XXXVII), Galen (De simplicium medicamentorum temperamentis ac facultatibus), Walahfrid Strabo (Hortulus, ein Gartengedicht) und Constaninus Africanus (Liber graduum, eine Drogenkunde). Das Werk umfasst die Lehre von 77 Pflanzen (in 77 Kapiteln und 2.269 Versen), wobei aber Anzahl und Anordnung in den einzelnen Überlieferungen variieren. Der Macer behandelt die medizinische Wirkung der Pflanzen erstmals auf der Grundlage der Säftelehre, d. h. er klassifiziert die Heilkräuter nach den Primärqualitäten warm, kalt, feucht, trocken. Als das erfolgreichste mittelalterliche Standardwerk zur klösterlichen Kräuterheilkunde wurde er ins Deutsche, Englische, Französische, Dänische, Spanische und Italienische übersetzt. Besonders zahlreich sind die deutschen Fassungen. Die ersten einer Vielzahl von Drucklegungen erschienen 1477 in Venedig und 1485 in Mainz (‘Älterer deutscher Macer’). Eine mit 198 Pflanzendarstellungen bebilderte Ausgabe ist der Herbarius depictus per fratrem Vitum Auslasser de Fumpp prope Schwaz monachum Epersperg 1479. – Der Macer floridus gilt

Macer-Glossierung

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als mittelalterliches Standardwerk der Kräuterheilkunde. – Zum lateinischen Macer, zur älteren und den jüngeren deutschen Prosabearbeitungen sowie zu ihrer Wirkungsgeschichte W. C. Crossgrove, in: 2VL V, Sp. 1109-1116. Literatur: J. Zacher, Macer Floridus und die Entstehung der deutschen Botanik, ZDPh 12 (1881) S. 189-215; H. Stadler, Die Quellen des Macer Floridus, Archiv für Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik 1 (1909) S. 52-65; G. Keil, O. v. Meung, in: LexMA VI, Sp. 1360; Kräuterbuch der Klostermedizin. Der ‘Macer Floridus’. Medizin des Mittelalters. Hg. v. J. G. Mayer, Holzminden 2003.

2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Enemonzo in Friaul, Bibliothek des Pfarrers Don Luigi Pascoli (Verbleib unbekannt) (BStK-Nr. 137): 41 Gll. in Textglossar; Sprache unbestimmt, 2. Hälfte 14. Jh. (Hs. 14. Jh.). – Ed. StSG III, S. 597f. (Nr. MXL). – 2. Erfurt, UB Dep. Erf. CA 8º 62b (BStK-Nr. 142c): mindestens 13 meist zu Überschriften stehende Interlineargll. in Textglossierung; Sprache unbestimmt, Mitte 12./Anfang 13. Jh. (Hs. Mitte 12. Jh., vermutl. Italien). – Ed. StSG IV, S. 371f. – 3. St. Florian, StB XI 54 (BStK-Nr. 153): 43 Marginalgll. in Textglossierung; bair., Glossen u. Hs. 14. Jh. St. Florian. – Ed. StSG III, S. 591f. (Nr. MXXXVII); Nachtrag St. Stricker, Sprachwissenschaft 18 (1993) S. 92. – 4. Leiden, UB Voss. lat. oct. 78 (BStK-Nr. 375): 83 Marginalgll. in Textglossierung; nd., Glossen undatiert (Hs. 13. Jh. Westdeutschl. od. Ostbelgien). – Ed. StSG III, S. 594-596 (Nr. MXXXIX). – 5. London, BL Arund. 225 (BStK-Nr. 403): 107 Marginalgll. (oft in Überschriften) in Textglossierung und 19 im Kontext eines Textglossars stehende Glossen; rhfrk.?, Glossen u. Hs. Anfang 14. Jh. – Ed. H. Thoma, PBB. 73 (1951) S. 256-263. – 6. London, BL Arund. 283 (BStK-Nr. 404): 41 (mit einer Ausnahme) marginal zu Überschriften eingetragene Glossen in Textglossierung; frk., Glossen gleichzeitig mit Text im 12. Jh. eingetragen. – Ed. StSG IV, S. 365f. (Nr. MXXXVIa); Nachträge bei H. Thoma, PBB. 73 (1951) S. 231. – 7. Melk, StB Nr. 883/1 (BStK-Nr. 431): 33 Gll. (29 marginal, 4 interlinear) in Textglossierung; Sprache unbestimmt, Glossen u. Hs. 13./14. Jh. Melk. – Ed. StSG III, S. 598f. (Nr. MXLI). – 8. München, BSB Cgm 5250,28b (BStK-Nr. 444): 2 Marginalgll. in Textglossierung; bair., Glossen undatiert (Hs. 11. Jh.) . – Ed. StSG IV, S. 506, Nr. 300. – 9. München, BSB Clm 614 (BStK-Nr. 454): 32 Marginalgll. in Textglossierung; bair., Glossen u. Hs. 13. Jh. – Ed. StSG III, S. 590f. (Nr. MXXXVI). – 10. München, BSB Clm 14851 (BStK-Nr. 617): 37 Gll. zu marginalen Überschriften in Textglossierung; Sprache unbestimmt, Glossen u. Hs. 13. Jh. – Ed. StSG IV, S. 366f. (Nr. MXXXVIIa). – 11. München, BSB Clm 23496 (BStK-Nr. 689): 1 Interlineargl. in Textglossierung; Sprache unbestimmt, Glosse undatiert (Hs. 12. Jh.). – Ed. StSG IV, S. 581, Nr. 467. – 12. München, BSB Clm 29108a (BStK-Nr. 707): 7 Glossen (6 interlinear, 1 marginal) in Textglossierung; Sprache unbestimmt, Glossen undatiert (Hs. 13. Jh.). – Ed. StSG III, S. 599 (Nr. MXLII). – 13. Prag, UK MS VII G 25 (BStK-Nr. 784): 51 fast durchgehend im fortlaufenden Text der Überschriften stehende Glossen in Textglossierung; Sprache unbestimmt, Glossen undatiert (Hs. 12.-13. Jh.). – Ed. StSG III, S. 593f. (Nr. MXXXVIII). – 14. Stuttgart, WLB HB XI 46 (BStK-Nr. 875e): 70 Gll. in Textzeilen eines Textglossars; Sprache unbestimmt, Glossen wie weitere der Hs. kaum noch ahd., Glossen u. Hs. um 1380. – Ed. R. Reiche, Deutsche Pflanzenglossen aus Codex Vindobonensis 187 und Codex Stuttgart HB XI 46, SA 57 (1973) S. 11-14. – 15. Wien, ÖNB Cod.

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Macer-Glossierung

134 (BStK-Nr. 893): 9 Gll. (4 interlinear, 5 marginal) in Textglossierung; bair., 12. Jh. (Hs. 11./12. Jh.). – Ed. StSG V, S. 43 (Nr. MXLIa).

3. Glossographische Aspekte: Ahd. Glossen begegnen in 15 Hss. zu der Schrift De viribus herbarum des Macer Floridus aus dem 12. bis 14. Jh. (insgesamt mindestens 589 Gll.). Die Glossierung erfolgt überwiegend als Textglossierung. Glossare liegen nur in drei Hss. des 14. Jh.s vor: Enemonzo in Friaul (Verbleib unbekannt); Stuttgart, HB XI 46 und London, Arund. 225, wobei die Londoner Hs. zudem noch die glossenreichste Textglossierung (mit 107 Gll.) aufweist. Vier Hss. sind nur gering glossiert: Cgm 5250,28b: 2 Gll.; Clm 23496: 1 Gl.; Clm 29108a: 7 Gll.; Wien, Cod. 134: 9 Gll. Die meisten, nämlich 10 Hss., enthalten zwischen 13 und 107 Gll.: London, Arund. 225: 107 Gll.; Leiden, Voss. lat. oct. 78: 83 Gll.; Stuttgart, HB XI 46: 70 Gll.; Prag, MS VII G 25: 51 Gll.; St. Florian, XI 54: 43 Gll.; London, Arund. 283: 41 Gll.; Clm 14851: 37 Gll.; Clm 614: 32 Gll.; Melk, Nr. 883/1: 33 Gll.; Erfurt CA 8º 62b: mindestens 13 Gll. Die Glossare enthalten 130 Gll.: Stuttgart, HB XI 46: 70 Gll.; Enemonzo in Friaul: 41 Gll.; London, Arund. 225: 19 Gll. Die Glossierung ist in der Regel unmittelbar mit dem Werktext oder kurz danach eingetragen worden. Eine große zeitliche Distanz zwischen Eintragung des Textes und Hinzufügung der Glossen lässt sich für keine Überlieferung ausmachen. Eine Besonderheit liegt darin, dass die Glossen häufig zu Pflanzenbezeichnungen in Kapitelüberschriften stehen. Das gilt für Stuttgart, HB XI 46, London, Arund. 225, London, Arund. 283, Clm 14851 und die Prager Hs. MS VII G 25. Zuweilen sind sie mit roter Tinte markiert, sollten also hervorgehoben werden: St. Florian, XI 54, London, Arund. 225 und London, Arund. 283. Die dt. Bezeichnungen dienten wahrscheinlich der praktischen Unterweisung und damit als Hilfsmittel zur Identifizierung heimischer Pflanzen. 4. Räumliche und zeitliche Verteilung: Die Glossierung von Macers Schrift De viribus herbarum beginnt schon einige Jahrzehnte nach Fertigstellung des Werks und zeigt eine recht gleichmäßige Erstreckung über die Jahrhunderte. Die Glossierungsdichte nimmt im Laufe der Jahrhunderte deutlich zu. Die glossenreichsten Hss. (BStK-Nr. 137, 153, 375, 403, 431, 454, 617, 875e) sind im 13. und 14. Jh. glossiert worden. Ausnahme sind die 41 Gll. der Hs. London, Arund. 283, die dem 12. Jh. zugeordnet werden. Die Glossierung setzt in ahd. Zeit ein, ragt aber mit mehreren Überlieferungen darüber hinaus in jüngere Zeit. Das gilt für die um 1380 entstandene Stuttgarter Hs. HB XI 46, aber auch für die Erfurter Hs. Dep. Erf. CA 8º 62b, deren Glossen aus der Mitte des 12. bis Anfang des 13. Jh.s stammen. Die Hs. London, Arund. 283 aus dem 12. Jh. tradiert neben den ahd. Glossen hier nicht berücksichtigte jüngere Glossen, die für eine lebendige Glossierungstätigkeit in nachahd. Zeit sprechen.

‘Merseburger Gebetsbruchstück’

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Von den sieben Hss., deren Glossen sprachgeographisch bestimmt sind, haben 4 Hss. bair. Glossen: St. Florian, XI 54, Cgm 5250,28b, Clm 614, Wien, Cod. 134. 2 Hss. deuten sprachgeographisch in den frk. Raum: London, Arund. 225 (rhfrk. fraglich) und London, Arund. 283. Eine Hs., Leiden, Voss. lat. oct. 78, hat nd. Glossen. 5. Umfang und Bedeutung: Im Bereich der medizinischen Schriften macht das Kompendium von Macer Floridus fast die Hälfte der ahd. Glossierung aus (47,8%). Damit rangiert Macer deutlich vor den Rezepten (31,5%) und Ú Pseudo-Apuleius (8,7%). Alles Übrige fällt hinsichtlich der Zahl der Hss. wie der Glossen kaum ins Gewicht. Macer Floridus ist das dominierende pharmazeutisch-medizinische Werk des MA, auch wenn die Glossierung des Werkes mit Blick auf die gesamte Glossierung nichtbiblischer Schriften des Ahd. unter 1% (0,95%) ausmacht. 6. Literatur: BStK-Nr. 137, 142c, 153, 375, 403, 404, 431, 444, 454, 617, 689, 707, 784, 875e, 893; StSG III, S. 590-599 (MXXXVI-MXLII), IV, S. 365-367; P. Assion, Altdeutsche Fachliteratur, Grundlagen der Germanistik 13, Berlin 1973, S. 137, 142, 147, 208; R. Bergmann, in: BStH I, S. 111-113, 118; W. C. Crossgrove, Macer Floridus, in: 2VL V, Sp. 11091116; W. C. Crossgrove, Zur Datierung des ‘Macer Floridus’, in: Licht der Natur. FS Gundolf Keil, S. 55-62; J. Riecke, Zum Wortschatz von Gesundheit und Krankheit, in: BStH II, S.1144; St. Stricker, Die Abgrenzungsproblematik Althochdeutsch – Mittelhochdeutsch, in: BStH II, S. 1586f.

STEFANIE STRICKER

‘Mainzer Beichte’ Ú Beichten, Althochdeutsche und altsächsische Markbeschreibungen Ú ‘Hammelburger Markbeschreibung’, ‘Würzburger Markbeschreibungen’ ‘Merseburger Gebetsbruchstück’ 1. Überlieferung und Ausgaben: Merseburg, Domstiftsbibliothek Cod. I, 136, f. 52r, aus Fulda; Sammelhandschrift des 9. Jh.s aus 5 (E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., zählt deren 6) ursprünglich selbstständigen Codices bzw. ihren Überresten (Ú ‘Fränkisches Taufgelöbnis’, Ú ‘Merseburger Zaubersprüche’); das Gebetsbruchstück nachträglich auf dem oberen Rand der ersten, ursprünglich leeren Seite des 4. (Steinmeyer: 5.) Stückes (f. 52r-83v), das liturgische Texte, Votivmessen u. a. enthält. Beschreibung der Handschrift und ihrer Inhalte durch M. Henkel, S. 361-364, insbesondere ihres 4. Stückes S. 363-370; ferner W. Beck, S. 216223; älter E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 24f. Zur Handschrift sieh auch PadRep. Nach B. Bischoff (Katalog, S. 184) erfolgte die Zuammenbindung der 5 ursprünglich selbstständigen Teile wohl zu Anfang des 11. Jh.s. – Ausgaben: J. Grimm (1842), Kleinere Schriften, II, Berlin 1865, S. 28; MSD II, S. 42; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LXXXIV, S. 402; A. A. Häussling, S. 2; M. Henkel, S. 364.

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‘Merseburger Glossen’

2. Charakterisierung: Es handelt sich um die bruchstückhafte lat. und ahd.-glossierende Aufzeichnung des Gebetes Unde et memores, das als das zentrale Gebet der Opfermesse (J. A. Jungmann, S. 271ff.) mit den gleichen Worten bis heute vom Priester unmittelbar im Anschluss an die Wandlung gesprochen wird. In Modifizierung und Präzisierung von dem, was 2VL VI, Sp. 409 gesagt wurde, muss man die überlieferte merkwürdige Verschränkung von lat. und übersetzendem ahd. Text wohl genauer so verstehen, dass am Anfang eine partielle interlineare Glossierung des lat. Gebetes stand, die anlässlich einer folgenden Abschrift zur Weglassung des bereits glossierten lat. Textes und letztlich zu einer Kontextglossierung der bis dahin noch nicht glossierten lat. Teile geführt hat. Anders M. Henkel, der in dem Text eine „mehr oder minder spontan erstellte Originalaufzeichnung aus der liturgischen Praxis“ (S. 385) sieht. Will man demgegenüber am abschriftlichen Charakter festhalten und für weitere Überlegungen ausgehen, so ist der überlieferte Text als die Spiegelung wiederholten und unterschiedlichen Bemühens und ein beachtliches Zeugnis für das früh einsetzende Ringen um ein richtiges Verständnis wichtigster Teile der Liturgie anzusehen. Dahinter stehen die seit der Admonitio generalis Karls d. Gr. (a.789) in Kapitularien und Konzilsbeschlüssen mehrfach wiederholten Forderungen, dass die Priester die von ihnen verwendeten lat. Texte auch begriffen haben müssen, weiter, dass sie angehalten sind, dem ihnen anvertrauten Kirchenvolk u. a. Vaterunser und Glaubensbekenntnis beizubringen (Ú ‘Exhortatio ad plebem christianam’), nötigenfalls auch in der Volkssprache: Qui vero aliter non potuerit vel in sua lingua hoc discat (a. 813, MGH. Conc. aevi Karol. I, 272). 3. Literatur: MSD II, S. 42; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 402. W. Beck, Die Merseb. Zauberspr., S. 216-251; A. A. Häussling, Das Missale deutsch. Materialien zur Rezeptionsgeschichte der lateinischen Messliturgie im deutschen Sprachgebiet bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Teil 1: Bibliographie der Übersetzungen in Handschriften und Drucken, Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 66, Münster 1984, S. 2; M. Henkel, Das Merseburger Gebetsbruchstück im literatur- und liturgiegeschichtlichen Kontext des deutschen Frühmittelalters, ZDPh 130 (2011) S. 359-387; J. A. Jungmann, Missarum sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, II. Opfermesse. 5. A. Wien 1962, S. 271281.

ACHIM MASSER

‘Merseburger Glossen’ 1. Überlieferung: Merseburg, Domstiftsbibliothek, Cod. I, 42. Ausgaben: E. Wadstein, Kleinere as. sprachdenkm., Nr. XVI, S. 69-72, 145f. – Faksimile: J. H. Gallée, As. sprachdenkm., Facs. Slg., Nr. X (f. 103v; f. 105v).

‘Merseburger Glossen’

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2. Datierung und Lokalisierung: Die Hs. der Aachener Kanonikerregel vom Jahre 816 wurde etwa im 1./2. Viertel des 9. Jh.s im niederdeutschen Raum geschrieben (B. Bischoff, Katalog, Nr. 2747; Ed.: Concilia). Merseburg war in ottonischer Zeit ein bedeutender Pfalzort, seit 968 auch Bistum, das nach der Aufhebung 981 von Heinrich II. im Jahre 1004 wiedererrichtet worden war. Der Codex könnte somit im Domstift am Ort verwendet worden sein. Die Glossen sind von mehreren Händen im 10. oder im frühen 11. Jh. eingetragen worden, dazu Namen, für die bereits E. Wadstein auf (noch genauer zu überprüfende) Parallelen im Merseburger Nekrolog (Cod. I, 129) aufmerksam gemacht hat, das seit dem 2. Jahrzehnt des 11. Jh.s mit Merseburger Einträgen versehen wurde (Die Totenbücher von Merseburg, S. XXII-XXIV). 3. Sprache: Die Sprache der siebzig Appellative der ‘M. G.’ hat wegen ihres stark nordseegermanischen Charakters, der sich markant von der Sprache der Haupthss. des Heliand oder der Essen/Werdener Denkmäler unterscheidet, stets besondere Beachtung gefunden. Die engen Zusammenhänge mit vergleichbaren Sprachzügen im Merseburger Nekrolog und bei den Namenschreibungen in Thietmars Chronik sind unübersehbar (so schon J. H. Gallée, S. 236f., mit der älteren Lit.). Sie belegen die besondere Ausprägung des Ostfälischen in diesem Raum (E. Rooth), schwerlich ‘Einflüsse’ des Friesischen oder Altenglischen, die die ältere Forschung hier zu erkennen glaubte, wohl auch keine unterschichtlichen Sprachzüge, deren Auftreten bei dem zur Reichsaristokratie zählenden Thietmar und den hochadligen Kanonikern sehr verwunderlich wäre. Die Glossierung konzentriert sich auf Abschnitte der Institutio, wo es um kirchlichen Besitz und die Ausstattung sowie die Versorgung der Kanoniker geht (Kapitel 115-123), sodass es scheint, als ob hier ein besonderes Interesse der Glossatoren bestanden hat (H. Tiefenbach, S. 1228-1230). 4. Literatur: BStK-Nr. 437; Concilia aevi Karolini I,1, recensuit A. Werminghoff, MGH Legum sectio III,2,1, Hannover/Leipzig 1906, S. 307-464; J. H. Gallée, As. sprachdenkm., S. 233-242; Handschriften der Dombibliothek zu Merseburg, AGÄDGK 8 (1843) S. 662-671, hier S. 664; W. Holtzmann, Verzeichnis der Handschriften in der Domstiftsbibliothek Merseburg [hsl. 1935]. Digitale Edition 2000, http://141.84.81.24/Merseburg /hsc5.htm; E. Rooth, Die Sprachform der Merseburger Quellen, in: Niederdeutsche Studien. Conrad Borchling zum 20. März 1932 dargebracht, Neumünster 1932, S. 24-54; Die Totenbücher von Merseburg, Magdeburg und Lüneburg. Hg. v. G. Althoff und J. Wollasch, MGH Libri memoriales et necrologia. Nova Series 2, Hannover 1983; W. Sanders, in: VL2 VI, Sp. 410; W. Schlesinger, Merseburg, in: Deutsche Königspfalzen. Beiträge zu ihrer historischen und archäologischen Erforschung, I, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 11/1, Göttingen 1963, S. 158-206; H. Tiefenbach, in: BStH II, S. 1203-1234. HEINRICH TIEFENBACH

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‘Merseburger Zaubersprüche’

‘Merseburger Zaubersprüche’ 1. Überlieferung: Merseburg, Domstiftsbibliothek, Cod. I, 136, f. 84r (nach anderer Zählung f. 85r). Die ‘Merseburger Zaubersprüche’ sind im 1. oder 2. Drittel des 10. Jh.s (B. Bischoff 1971, S. 111) von einem Schreiber zusammen mit einem lat. Gebet (dies von anderer Hand) auf das freie Vorsatzblatt eines Faszikels aus dem 9. Jh., das heute den fünften und letzten Teil einer Sammelhs. bildet, eingetragen worden. Die Sammelhs., die noch in Fulda zusammengestellt worden sein dürfte, kam möglicherweise 1004 im Zusammenhang mit der Bistumsneugründung nach Merseburg. Sie enthält überwiegend lat. liturgische Formeln (vgl. Ch. Winterer) und überliefert zudem zwei weitere ahd. Textzeugnisse, das Ú ‘Fränkische Taufgelöbnis’ (f. 16r) und das Ú ‘Merseburger Gebetsbruchstück’ (f. 53r). 2. Ausgaben: Erstpublikation: J. Grimm, Über zwei entdeckte gedichte aus der zeit des deutschen heidenthums, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1842 = J. Grimm, Kleine Schriften, II. Abhandlungen zur Mythologie und Sittenkunde, Berlin 1865, S. 1-29; MSD Nr. IV, 1.2, I, S. 15f., II, S. 42-47; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LXII, 1.2, S. 365-367; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. XXX, 1, S. 89; H. Mettke, Älteste dt. Dichtung, S. 84-87, 287f.; W. Haug 6 B. K. Vollmann, Frühe dt. Lit., Nr. VI, 1.2, S. 152f., 1142-1150; St. Müller, Ahd. Lit., Nr. XI.1, S. 270f., S. 391-394. – Abbildungen: E. Sievers, Das Hildebrandslied, die Merseburger Zaubersprüche und das Fränkische Taufgelöbnis mit photographischem Facsimile nach den Handschriften, Halle (Saale) 1872, S. 11; M. Enneccerus, Die ältesten dt. Sprach-Denkm., Taf. 5; G. Wedding, Die Merseburger Zaubersprüche und die Merseburger Abschwörungsformel, Merseburg 1930, S. 1; Die Merseburger Zaubersprüche, hg. v. S. Berger, Halle 1939, S. 9; H. Fischer, Schrifttafeln, Tafel 16 a; H. Lülfing 6 H.-E. Teitge, Handschriften und alte Drucke. Kostbarkeiten aus Bibliotheken der DDR, Leipzig 1981, S. 107; W. Beck 2003/2011, Taf. 1; W. Beck [unter Mitarbeit von M. Cottin] 2010, S. 9. – Handschriftenbeschreibungen: B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134, bes. S. 111; B. Bischoff, Katalog II, S. 183f.; vgl. PadRep.

3. ‘Erster M. Z.’ Die historiola des ‘Ersten M. Z.’ berichtet in drei Versen vom Wirken der idisi. Die erste Gruppe ist mit der Fesselung eines Gefangenen (hapt heptidun), die zweite Gruppe mit dem Hemmen der Heere (heri lezidun), die dritte Gruppe mit dem Durchtrennen von Fesseln (clubodun umbi cuonio uuidi) beschäftigt. Die incantatio ist ein Befehl an einen Gefangenen, den Fesseln zu entspringen und den Feinden zu entweichen. Offenkundig handelt es sich um einen Lösezauber zur Befreiung von Gefangenen – der Glaube an die Macht von Gebeten, Fesseln zu lösen, ist etwa bei Gregor dem Großen (Dial. IV,57), Honorius Augustodunensis (Spec. Eccl.) und Thietmar von Merseburg bezeugt (Chron. I,21); Beda Venerabilis (Hist. gent. Angl. IV,20) und Ælfric (Hortatorius) berichten von Zaubersprüchen bzw. Runen mit derartiger Wirkung. Bei den Fesseln, denen der Gefangene entweichen soll, muss es sich nicht um gegenständliche Fesseln handeln; die Formel des

‘Merseburger Zaubersprüche’

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‘Ersten M. Z.’ kann auch zur Beendigung eines Zustands dienen, der als Kataplexie, Schrecklähmung oder psychogene Lähmung bekannt ist und der im Kontext kriegerischer Auseinandersetzungen auftreten kann. Die nordgermanische Überlieferung kennt diesen Zustand unter dem Begriff herfjo turr ‘Heerfessel’(vgl. M. Egeler, S. 107-114). Da das Corpus der ahd. Zauber- und Segenssprüche überwiegend aus Formeln mit medizinisch-kurierender Funktion besteht, wurde auch für den ‘Ersten M. Z.’ eine solche Funktion plausibel zu machen versucht. Deutungen des ‘Ersten M. Z.’ als Formel gegen Epilepsie (B. Murdoch 1989, S. 148), Unterleibsbeschwerden (U. Schwab, S. 275-279) oder zur Geburtshilfe (K. Düwel, 2009) erweisen sich aufgrund der historiola mit der Evokation einer kriegerischen Situation als unwahrscheinlich, nicht ausgeschlossen ist freilich die Möglichkeit der sekundären Verwendung der Formel in solchen Zusammenhängen. Aufgrund des Wortlauts der incantatio ist auch die Deutung, der ‘Erste M. Z.’ solle einen Schlachtensieg herbeiführen (S. Oehrl, S. 112), abzulehnen. Die dem ‘Ersten M. Z.’ folgende Zeichensequenz .H. hat eine Vielzahl von Erklärungen hervorgerufen (R. Schuhmann, S. 207-211). 4. ‘Zweiter M. Z.’: Der ‘Zweite M. Z.’ ist komplex aufgebaut. Die ersten beiden Verse der historiola antizipieren das Heilungsgeschehen: Phol und Wodan begaben sich in den Wald, um dort das verrenkte Bein des Fohlens des Gottes Balder zu heilen. Zwei jeweils verschwisterte Göttinnen-Paare (Sinhtgunt und Sunna, Volla und Friia) haben zuerst – wohl vorbereitend und nicht erfolglos – das kranke Tier oder den verletzten Fuß des Tieres besprochen, bevor Wodan selbst die heilende Formel spricht. Die incantatio ist dreigeteilt; auf die Aufzählung der dreifachen Verletzung (benrenki, bluotrenki, lidirenki) folgt der dreifache Heilungsbefehl, dem noch ein abschließender Heilungswunsch folgt (sose gelimida sin). Zauberzweck des ‘Zweiten M. Z.’ ist die Heilung der Distorsion oder Luxation des Fesselgelenks oder Krongelenks eines Pferdefußes, wobei der dreigeteilte Heilungsbefehl genau auf die medizinischen Probleme einer Luxation abgestimmt ist: Zusammenfügung der dislozierten ossären Artikulationspartner, Resorption der Extravasate und Einrenkung in die Gelenkkapsel (vgl. G. Keil, S. 231). 5. Datierung: Die ‘M. Z.’ sind, da sie von einer Vorlage kopiert wurden, sicher älter als ihre Niederschrift. Übereinstimmungen in der Formulierung des ‘Zweiten M. Z.’ mit einer altindischen Formel des Atharvaveda (ĝaunaka IV,12 bzw. PaippalƗda IV,15, vgl. H. Eichner) haben zur Vermutung geführt, hier liege indogermanisches Erbe vor (A. Kuhn). Ein genetischer Zusammenhang ist jedoch unwahrscheinlich, vielmehr dürfte es sich hierbei um eine strukturelle oder typologische Parallele (B. Schlerath) handeln. Das gilt für andere Sprüche mit ähnlich konzipierter historiola (Ú ‘Trierer Spruch’) ebenso wie für die skandinavischen ‘Varianten’ des ‘Zweiten M. Z.’ (R. Christiansen). Der Vergleich des ‘Ersten M. Z.’ mit dem Typus des seit

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der Spätantike (Marcellus Empiricus) belegten Dreifrauensegens und die insgesamt spärlichen Parallelen zum ‘Ersten M. Z.’ (R. Schuhmann, S. 212-214) können auch nicht zu einer Datierung herangezogen werden. Die Nennung germanischer Götternamen im ‘Zweiten M. Z.’ ist jedenfalls kein zwingendes Argument für eine Entstehung in vorchristlicher Zeit. Eine Entstehung der beiden Formeln – die zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sein können – im Zeitraum von der Mission des Bonifatius bis zur Aufzeichnungszeit beansprucht weit mehr Wahrscheinlichkeit. 6. Sprache: Die Schreibsprache der beiden ‘M. Z.’ lässt sich nur allgemein als mdt. bestimmen. Laut- und Formenbestand erweisen sich als uneinheitlich, nicht zuletzt, weil auch als as. bestimmbare Elemente begegnen. Eine sichere Zuweisung an eine mdt. Varietät wie Rheinfränkisch (D. Geuenich, S. 225), Ostfränkisch/Fuldisch (G. Baesecke, S. 191) oder Thüringisch (S. Berger, S. 18) ist nicht möglich. 7. Aufbau und Metrik: Die Makrostruktur der beiden ‘M. Z.’ ist durch Zweiteiligkeit gekennzeichnet: einer historiola (ein kleines Narrativ, das exemplarisch und analogisch auf den konkreten Zweck des Zauberspruchs zu beziehen ist) und einer incantatio (Zauberformel, die durch die magische Kraft des Wortes die Wirkung aus lösen soll). Die incantatio kann dabei gleichzeitig auch Bestandteil der historiola sein (M. Schumacher, S. 210f.). Die zahlreichen Stilmittel wie Wiederholung, Parallelismus, Achtergewicht, figura etymologica und Gleichlauf (vgl. J. Riecke, S. 112114) bilden magische Funktionsmechanismen wie Analogie und Similarität ab. Die ‘M. Z.’ gehören zu den wenigen stabreimenden ahd. Textdenkmälern, ohne jedoch eine nordgermanische Strophenform wie ljóÿaháttr, fornyrÿislag oder galdralag und die germanische Stabreimtechnik in idealer Form zu repräsentieren (A. H. Feulner). Zudem finden sich Endreime und Partien, die als Prosa verstanden werden können. Das wird kaum als Folge einer Entstehung der beiden ‘M. Z.’ in der ‘Übergangszeit’ vom Stabreim zum Endreim zu bewerten sein, vielmehr dient die stilistische Vielfalt der Organisation der magischen Rede (H.-H. Steinhoff, Sp. 417). 8. Religionsgeschichtliche Aspekte: Aufgrund der Nennung zahlreicher germanischer Götternamen im ‘Zweiten M. Z.’, die teilweise Entsprechungen in der nordgermanischen Mythologie haben (uuodan – Óÿinn, balderes – Baldr, friia – Frigg, uolla – Fulla, sunna – Sól, mit anderer etymologischer Wurzel), teilweise nur hier genannt werden (Phol, sinhtgunt), gilt der ‘Zweite M. Z.’ als Textzeugnis mit hohem Aussagewert für die kontinentalgermanische Mythologie. Die Überlieferungsvergesellschaftung des ‘Zweiten M. Z.’ mit dem ‘Ersten M. Z.’ hat dazu geführt, auch im ‘Ersten M. Z.’ Elemente der germanischen Mythologie sehen zu wollen. Die – in religionsgeschichtlicher Hinsicht indifferenten – idisi wurden mit den nordgermanischen dísir (J. Grimm) oder valkyrjur (F. Kluge), mit den römisch-keltisch-germanischen

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matronae (E. Brate; G. Eis) und mit den Marien am Grab Christi (J. Schwietering) in Verbindung gebracht. Die historiola des ‘Zweiten M. Z.’ mit ihren 7 Götternamen, die im Rahmen einer kleineren epischen Erzählung vorgeführt werden, hat zur Annahme geführt, hier liege eine Referenz auf das Mythologem um den Tod und die Auferstehung des Gottes Baldr vor. Hierzu wurde das Schicksal Baldrs (Tod und Auferstehung) mit dem Schicksal des Fohlens von Balder (Verletzung und Heilung) parallelisiert (K. Hauck). Im Rahmen der ikonologischen Deutung einer Gruppe von Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit (z. B. Hjørlunde-Mark-C/Slangerup, Landegge-C, Sievern-C, Dokkum-C, Obermöllern-B) wurde die These aufgestellt, dass der historiola des ‘Zweiten M. Z.’ und dem Bildprogramm dieser Brakteaten das gleiche Mythologem zugrunde liege. Dass diese Brakteaten die Heilung des gestürzten Baldr-Fohlens durch den göttlichen Arzt Wodan/Óÿinn abbilden, steht jedoch unter dem Vorbehalt diachroner und diatopischer Kontinuität zwischen skandinavischen völkerwanderungszeitlichen Bilddenkmälern und einem kontinentalgermanischen Textdenkmal des Frühmittelalters (vgl. H. Eichner – R. Nedoma, S. 63f.; W. Beck, 2011, S. 456f.; dagegen K. Düwel – W. Heizmann, S. 347-355). Die Ansicht, die historiola beziehe sich auf einen germanischen Mythos, entbehrt insofern der Plausibilität, als die Geschehnisse der historiolae von Zauber- und Segenssprüchen im Hinblick auf den Zauberzweck konstruiert werden (vgl. Ch. M. Haeseli, S. 178), mithin als sekundäre Produkte der Fantasie oder der freien Verfügbarkeit bzw. Inszenierung des Mythos aufzufassen sind, wie vergleichbare Fälle im Ú ‘Trierer Spruch’, im ‘Bamberger Blutsegen’, im Ú ‘Wiener Hundesegen’ oder bei Ú ‘Contra Caducum morbum’ zeigen. Neben der Nennung germanischer Götternamen manifestiert sich der religionsgeschichtliche Wert des ‘Zweiten M. Z.’ vor allem in der Tatsache, dass es möglich war, eine Zauberformel mit germanisch-paganen Götternamen in eine christliche Sammelhs. aufzunehmen. Als Gründe für die Aufzeichnung wurden die Lebendigkeit des germanischen Glaubens (S. Berger, S. 20), die Akzeptanz des germanischen Glaubens als Mythos (B. Murdoch 1991, S. 27) oder auch die Instrumentalisierung der Formeln im Rahmen der Mission (A. Schirokauer, S. 355) geltend gemacht. In einer Zeit jedoch, in der magische und medizinische Praktiken sich als prinzipiell gleichwertig erweisen und in der eine medizinische Fachliteratur sich erst entwickeln musste, erscheint die Überlieferung in einer Hs. mit weiteren medizinisch-kurierenden lat. Formeln (etwa auf f. 52r eine Missa pro peste animalium, auf f. 76v ein Fiebersegen) weit weniger ungewöhnlich, da sich liturgische Formeln und Zaubersprüche in funktionaler Hinsicht ähneln (E. Hellgardt, S. 19f.). Das von anderer Hand aufgezeichnete und an die ‘M. Z.’ anschließende lat. Gebet entspricht, abgesehen von einer kleinen Änderung, einer Formel des Fuldaer Sakramentars (Nr. 2148). Es betont die alleinige Macht Gottes, Wunder zu tun (qui facis

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mirabilia magna solus), und ist daher wohl bewusst an die beiden ‘M. Z.’ angeschlossen worden (B. Murdoch 1991, S. 21). 9. Literatur: Umfassende Nachweise bei: W. Beck, Die Merseb. Zauberspr. 2003, 2. A. 2011, S. 380-431 und 459f.; H. Eichner 6 R. Nedoma, Die Sprache 42 (2000/01, erschienen 2003), S. 1-195, bes. S. 163-195; A. Hoptman, The Second Merseburg Charm: A Bibliographic Survey, Interdisciplinary Journal for Germanic Linguistics and Semiotic Analysis 1 (1999) S. 83-154; C. L. Miller, The OHG and OS Charms. Überblicksartikel: R. Bauschke, in: LexMA VI, Sp. 548; C. Händl, in: ²Killy VIII, S. 183f.; M. Herweg, in: ³KLL XI, S. 221; M. Lundgreen – H. Beck, in: ²RGA XIX, S. 601-605; W. Krogmann, in: VL IV, Sp. 1121-1130; F. Ohrt, in: HWA VI, Sp. 182-187; H.-H. Steinhoff, in: ²VL VI, Sp. 410-418. Literatur: G. Baesecke, Die karlische Renaissance und das deutsche Schrifttum, DVJS 23 (1949) S. 143-216; W. Beck, birenkict. Zu einem Pferdefuß des Zweiten Merseburger Zauberspruchs, Die Sprache 41 (1999[2002]) S. 89-103; W. Beck, Fulda und die Merseburger Zaubersprüche, Fuldaer Geschichtsblätter 80 (2004) S. 45-66; W. Beck [unter Mitarbeit von M. Cottin], Die Merseburger Zaubersprüche. Eine Einführung, Kleine Schriften der Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz 8, Petersberg 2010; E. Brate, Disen, ZDW 13 (1911/12) S. 143-152; K. Düwel, Über das Nachleben der Merseburger Zaubersprüche, in: Ir sult sprechen willekomen. Grenzenlose Mediävistik. FS für Helmut Birkhan zum 60. Geburtstag, hg. v. Ch. Tuczay u.a., Bern 1998, S. 539-551; K. Düwel, Der erste Merseburger Zauberspruch – ein Mittel zur Geburtshilfe?, in: Erzählkultur. Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Erzählforschung. Hans-Jörg Uther zum 65. Geburtstag, hg. v. R. W. Brednich, Berlin 2009, S. 401-421; R. Th. Christiansen, Die finnischen und nordischen Varianten des zweiten Merseburgerspruches. Eine vergleichende Studie, Hamina 1914; K. Düwel – W. Heizmann, Einige neuere Publikationen zu den Merseburger Zaubersprüchen: Wolfgang Beck und andere, Indogermanische Forschungen 114 (2009) S. 337-356; M. Egeler, Walküren, Bodbs, Sirenen. Gedanken zur religionsgeschichtlichen Anbindung Nordwesteuropas an den mediterranen Raum, Ergänzungsbände zum RGA LXXI, Berlin 2011; H. Eichner, Kurze ‘indo’-‘germanische’ Betrachtungen über die atharvavedische Parallele zum Zweiten Merseburger Zauberspruch (mit Neubehandlung von AVĝ. IV 12), Die Sprache 42 (2000/01, erschienen 2003) S. 211-233; G. Eis, Deutung des ersten Merseburger Zauberspruchs, FF 32 (1958) S. 27-29; A. H. Feulner, Zur Metrik der Merseburger Zaubersprüche im altgermanischen Kontext, Die Sprache 41 (1999[2002]) S. 104-152; D. Geuenich, Die PN von Fulda; Chr. M. Haeseli, Magische Performativität; K. Hauck, Goldbrakteaten aus Sievern. Spätantike Amulett-Bilder der ‘Dania Saxonica’ und die Sachsen-‘Origo’ bei Widukind von Corvey, Münstersche Mittelalter-Schriften 1, München 1970; W. Heizmann, Bildchiffren und Runen von Kommunikationsformen und Heilverfahren auf goldenen C-Brakteaten, in: Kontinuitäten und Brüche in der Religionsgeschichte. FS für Anders Hultgård zu seinem 65. Geburtstag am 23.12.2001, hg. v. M. Stausberg, Ergänzungsbände zum RGA 31, Berlin 2001, S. 326-351; E. Hellgardt, Atti della Accademia Peloritana 71 (1997) S. 1-62; V. Holzmann, „Ich beswer dich ...“ ; G. Keil, Verrenkungen, in: ²RGA XXXII (2006) S. 230-233; F. Kluge, Hildebrandslied, Ludwigslied und Merseburger Zaubersprüche, Leipzig 1919; A. Kuhn, Indische und germanische segenssprüche, ZVSp 13 (1864) S. 49-74, 113-157; B. Murdoch,

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But did they work? Interpreting Old High German Merseburg Charms in their medieval context, NPhM 89 (1988) S. 358-369; B. Murdoch, in: mit regulu bithuungan, S. 142-159; B. Murdoch, LWJB 32 (1991) S. 11-37; S. Oehrl, Vierbeinerdarstellungen auf schwedischen Runensteinen, Studien zur nordgermanischen Tier- und Fesselungsikonografie, Ergänzungsbände zum RGA 72, Berlin 2011; J. Riecke, Über althochdeutsche medizinische Zaubersprüche, in: Sprache und Geheimnis. Sondersprachenforschung im Spannungsfeld zwischen Arkanem und Profanem, hg. v. Chr. Braun, Lingua Historica Germanica 4, Berlin 2012, S. 107-122; St. Schaffner, Die Götternamen des Zweiten Merseburger Zauberspruchs, Die Sprache 41 (1999[2002]) S. 153-205; K. Schier, Gab es eine eigenständige Balder-Tradition in Dänemark? Mit einigen allgemeinen Überlegungen zum Problem der sogenannten ‘sterbenden und wiederauferstehenden Gottheiten’ in nordgermanischen und altorientalischen Überlieferungen, in: Nordwestgermanisch, hg. v. E. Marold – Ch. Zimmermann, Ergänzungsbände zum RGA 13, Berlin 1995, S. 125-153; A. Schirokauer, Form und Formel einiger altdeutscher Zaubersprüche, ZDPh 73 (1954) S. 353-364; B. Schlerath, Zu den Merseburger Zaubersprüchen, in: II. Fachtagung für indogermanische und allgemeine Sprachwissenschaft. Innsbruck, 10.-15. Oktober 1961. Vorträge und Veranstaltungen. Schriftleitung: J. Knobloch, Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Sonderheft 15, Innsbruck 1962, S. 139-143; R. Schuhmann, Wie ‘deutsch’ ist der erste Merseburger Zauberspruch? Zur Provenienz des ersten Merseburger Zauberspruchs, Die Sprache 41 (1999[2002]) S. 206-217; M. Schulz, Magie; M. Schumacher, Geschichtenerzählzauber. Die Merseburger Zaubersprüche und die Funktion der historiola im magischen Ritual, in: Erzählte Welt – Welt des Erzählens. FS für Dietrich Weber. In Verbindung mit E. Stein, U. Ernst und D. Lamping hg. v. R. Zymner, Köln 2000, S. 201-215; U. Schwab, in: Dt. Lit. u. Spr. v. 1050-1200. FS Ursula Hennig, S. 261296; J. Schwietering, Der erste Merseburger Spruch, ZDA 55 (1914/17) S. 148-156; Th. Vennemann, Glauben wir noch an die Lautgesetze? Zur Etymologie von Phol und Balder im Zweiten Merseburger Zauberspruch, in: Sprachkontakt und Sprachwandel: Akten der XI. Fachtagung der Indogermanischen Gesellschaft, 17.-23. September 2000, Halle an der Saale, hg. v. G. Meiser – O. Hackstein, Wiesbaden 2005, S. 709-733; Chr. Winterer, Das Fuldaer Sakramentar in Göttingen. Benediktinische Observanz und römische Liturgie, Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte 70, Petersberg 2009.

WOLFGANG BECK

‘Mischtext, Verduner’ Ú ‘Verduner Mischtext’ ‘Mondseer Bibelglossen’ 1. Bezeichnung: Als Mondseer Bibelglossen (auch Mondseer Bibelglossar, Monseer Glossen, Bibelglossen(familie) M, Familie M, Glossae Lunaelacenses) wird seit E. v. Steinmeyer (StSG I Edition; IV und V Nachträge) ein textfolgebezogenes Bibelglossar bezeichnet, das E. G. Graff mit der Sigle M (nach den zuerst im Thesaurus von Bernhard Pez 1721 publizierten Glossen der Mondseer Hs. Wien ÖNB Cod. 2723) in seinem ‘Althochdeutschen Sprachschatz’ berücksichtigt hatte. Das in Hand-

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schriften vom 10. bis zum 14. Jh. verbreitete Wörterbuch überliefert in rund 42.000 Einzelglossierungen insgesamt 3.000 ahd. Interpretamente zu lat. Wörtern des Vulgatatextes, auf den die Glossarartikel in der Textfolge bezogen sind. 2. Überlieferung: Angaben zu Datierung und Lokalisierung nur zur Glossatur M in den Hss.; zur Mitüberlieferung der einzelnen Hss. vgl. detallierte Informationen im angegebenen BStK. 1. Basel, UB N. I. 3 Nr. 97a (BStK-Nr. 34g) 2. Hälfte 10. Jh. Südwestdeutschland. – 2. Göttweig StB 46/103 (früher E 5) (BStK-Nr. 264) zwischen 1160-1180 Göttweig. – 3. München, BSB Clm 6028 (BStK-Nr. 499) 13. Jh. Ebersberg; Auszug aus München, BSB Clm 18140. – 4. München, BSB Clm 13002 (BStK-Nr. 558) a. 1158 fertiggestellt, Prüfening. – 5. München, BSB Clm 14689 (BStK-Nr. 604) 1. Hälfte 12. Jh. Umkreis Regensburg. – 6. München, BSB Clm 17403 (BStK-Nr. 632) 1241 Scheyern. – 7. München, BSB Clm 18140 (BStK-Nr. 637) 3. Viertel 11. Jh. Tegernsee. – 8. München, BSB Clm 19440 (BStK-Nr. 665) um a. 1000 West- oder Süddeutschland. – 9. München, BSB Clm 22201 (BStK-Nr. 681) vor a. 1165 Windberg. – 10. Reichenberg Privatbesitz Katzer Verbleib unbekannt (BStK-Nr. 789) Ende 12. Jh. Bayern?. – 11. Wien ÖNB Cod. 2723 (BStK-Nr. 949) 2. Hälfte 10. Jh. Mondsee. – 12. Wien ÖNB Cod. 2732 (BStK-Nr. 950) 10. Jh. Salzburg. 3. Ausgaben: StSG I, IV und V (Nachträge, mit Hinweisen auf ältere Ausgaben); E. Schröder, ZDA 68 (1931) S. 67f.; H. Davids (Teiledition von Artikeln mit ahd. Substantiven); B. Meineke, Basler Fragment, S. 104-110. Eine vollständige Ausgabe der Mondseer Bibelglossen, vor allem nach den ältesten Textzeugen des 10. und 11. Jh.s, liegt noch nicht vor. Sie wird den ganzen Artikelbestand (lat.-lat. Artikel, lat.-ahd. Artikel, lat.-ahd.-lat. Artikel) umfassen müssen, da die bislang nicht überholte Ausgabe von StSG den Eindruck eines zweisprachigen Bibelglossars vermittelt, das die Glossatur tatsächlich nicht ist. 4. Forschungslage: Eine erste Untersuchung von E. Steinmeyer (StSG V, S. 408472) ist von B. Meineke, Basler Fragment und B. Meineke, Das Mondseer Bibelglossar mit Beobachtungen zur Genese des Glossars weitergeführt worden. K. Matzel hat die Glossen der Windberger Hs. Clm 22201 unter graphematisch-phonologischem Blickwinkel näher untersucht und die Hs. als Zeugen einer mfrk. Rezeption bair. Wortgutes erkannt. H. Davids hat sich mit Substantiven der Glossatur im Clm 19440 in semantischer Hinsicht beschäftigt und sie mit ihrem unmittelbaren Kontext ediert. In thematisch unterschiedlich ausgerichteten Studien sind die volkssprachigen Interpretamente Gegenstand von Einzeluntersuchungen (vgl. BStK-Artikel der genannten Textzeugen mit weiterer Literatur; B. Meineke, Das Mondseer Bibelglossar, S. 628ff.). Da bis jetzt stichprobenartige Beobachtungen zu den Hss.-Verhältnissen und der mutmaßlichen Genese des Werkes vorliegen, wäre eine Gesamtkollation aller Textzeugen nach Artikelbestand, Artikelabfolge und volkssprachigen Interpretamenten erforderlich, um die Entwicklungsstadien des Werkes von den Anfängen bis ins hohe Mittelalter zu dokumentieren.

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5. Genese: Das nach den älteren Hss. als Dokument mondseeischer Gelehrsamkeit der zweiten Hälfte des 10. Jh.s klassifizierte Werk führt in seinen Anfängen eher in den südwestdeutschen Raum und damit auf einen Archetyp, der nach lautlichen, morphologischen und wortgeographischen Indizien alem. Merkmale zeigt, was bereits G. Baesecke (S. 206-222, insbesondere S. 216f.) mit der Annahme Reichenauer Provenienz angedeutet hat. Der frühe Basler Textzeuge jedenfalls weist auch paläographisch nach Südwestdeutschland (einschließlich Elsaß). Eine Entstehung im Bodenseeraum (vielleicht auf der Reichenau) ist nicht auszuschließen. Dazu ist auf eine Subskription im Wiener Cod. 2732 (f. 142r, etwas abgesetzt vom Ende der Glosa super Focum [!], Adallioz glosam tibi heripato dat istam) hinzuweisen, die von der Hand stammt, die zuvor Einzelkorrekturen und Nachträge vornimmt und auf f. 142v144v das Glossar zur Kirchengeschichte des Eusebius (in der Rufinus-Bearbeitung) einträgt (B. Meineke, Das Mondseer Bibelglossar, S. 625f.). Die Schenkungsnotiz kann also von einer (nicht mehr erhaltenen) Vorlage durch eine korrigierende Hand ergänzt worden sein und muss nicht zwingend Originaleintrag des 10. Jh.s sein. Wenn die namentlich genannten Adallioz und Heripat auch nicht sicher identifizierbar sind, ist für Adallioz immerhin ein Bezug zum Eintrag Adalleoz ab(bas) auf der für Mondsee vorgesehenen Seite im Reichenauer Verbrüderungsbuch zu beachten (B. Meineke, Das Mondseer Bibelglossar, S. 626f. mit weiteren Angaben). Wird die Notiz im Vindobonensis 2732 in diesen weiteren Zusammenhang gestellt, ergäbe sich eine Linie von Mondsee (über Salzburg?), das a. 833 bis a. 837 in den Besitz des Regensburger Bischofs Baturich kommt, zur Reichenau. Von hier könnte das Glossar leicht in den bayerischen Raum vermittelt worden sein, da es bereits in der ersten Hälfte des 9. Jh.s in Regensburg (St. Emmeram) nachweisbar ist (zu Zeit und Ort der Entstehung B. Meineke, Das Mondseer Bibelglossar, S. 624ff.; weiter unten zur Rezeption). Das Glossar fügt sich als textgebundene, volkssprachige Bibelrezeption durchaus in die frühere Reichenauer Glossenüberlieferung ein, würde gut in die Regierungszeit Ludwigs des Deutschen passen und sich letztlich in die zeitgenössischen Bemühungen um eine volkssprachige Schriftlichkeit „im Dienste kirchlich-missionarischer Glaubensverkündigung, Glaubensverbreitung und Glaubensfestigung“ (D. Geuenich, S. 327f.) einreihen lassen. In Regensburg kann eine bair. Überarbeitung einer ersten (alem.) Fassung erfolgt sein, von wo aus seit dem 12. Jh. weitere Tradierungslinien in den österreichischen Donauraum führen. Das Glossar erscheint hier als Teil größerer Kompendien, die als Nachschlagwerke mittelalterlicher Schule und Gelehrsamkeit gelten. Die ältesten Textzeugen des 10. Jh.s liefern noch eine (relativ kleine) textfolgebezogene Bibelglossatur, die aber spätestens seit dem 11. Jh. in größere Glossarkompilationen mit weiterem Artikelbestand Eingang findet, wie sie die Sammelhss. des Clm 18140 und Clm 19440 repräsentieren. Eine weitere Entwicklung auf dieser Grundlage des 11. Jh.s bieten dann Textzeugen des 12./13. Jh.s, in

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denen ein bis dahin erreichter Artikel- und Glossenbestand nur noch geringfügig erweitert oder modifiziert wird. 6. Quellen: Der Archetyp des Werkes beruht in einem ersten Stadium auf einem textfolgebezogenen Exzerpt lat. Wörter des Vulgata-Textes, wobei zunächst nur die Wörter aufgenommen werden, die dem Bibelrezipienten (ersten aktiven Glossator) als besonders schwierig und daher erklärungsbedürftig erscheinen (vgl. weiter unten zur Funktion). Soweit zu sehen ist, sind dabei überwiegend lat.-ahd. Kurzartikel mit lat. Lemma und volkssprachigem Interpretament entstanden. Die volkssprachige Glossierung bezieht sich schwerpunktmäßig auf Bücher des Alten Testamentes, mit deutlicher Konzentration auf die Bücher der Könige, die Psalmen, die Parabolae, den Ecclesiasticus, Jesaja, Jeremia, Daniel und die beiden Bücher der Maccabäer, während der Lemmabestand aus dem Neuen Testament relativ klein bleibt. Nur die Apostelgeschichte, die Briefe an Jacobus, die beiden Petrusbriefe, die drei Johannesbriefe, der Judasbrief, die Apokalypse und der sogenannte Liber Comitis (entstanden ca. 810-821) des Smaragdus (Abt von Saint-Mihiel, spätestens seit 809-825; F. Rädle, in: LexMA VII, Sp. 2011f.; J. Heil, S. 73ff.) werden signifikant dichter glossiert. Bereits früh ist festgestellt worden (StSG V, S. 473-516; ferner H. de Boor, S. 77f.), dass spätere Hss., insbesondere die große Sammelhs. des Clm 18140, weitere Bibelkommentierungen von Remigius von Auxerre (Genesis-, Deuteronomiumkommentar), von Hraban/Walahfrid (Exoduskommentar), von Beda (zur Apostelgeschichte), den Numerikommentar Walahfrid Strabos oder einen Regum-Kommentar (nach Clm 3704) mit dem ursprünglich kleineren Glossar M verknüpfen (B. Meineke, Das Mondseer Bibelglossar, S. 621). Eine quellengeschichtliche Analyse der lat.-lat. Wortartikel wird dazu die Nutzung frühmittelalterlicher Nachschlagewerke wie etwa des in Corbie unter Abt Adalhard (a. 780-826) entstandenen Liber Glossarum bedenken müssen (Glossaria Latina I; D. Ganz 1990, S. 49ff., S. 143; D. Ganz 1993, S. 127ff.; B. Meineke, Liber Glossarum, passim; B. Meineke, Die Glossae Salomonis, passim). 7. Sprachstand: Beobachtungen von E. Steinmeyer und G. Baesecke zur alemannischen Herkunft des Archetyps sind zuletzt mit exemplarischen Untersuchungen der volkssprachigen Anteile nach Lautstand, Wortbildung und Wortschatz bestätigt worden (B. Meineke, Basler Fragment, S. 154-170; B. Meineke, Das Mondseer Bibelglossar, S. 628ff.). Spätestens mit der Vermittlung in den bair. Raum (Mondsee, Regensburg, Salzburg, Tegernsee) zeigen die volkssprachigen Glossen bairischen Lautstand. Die singuläre ‘mfrk. Modernisierung’ im Clm 22201 des 12. Jh.s, bei der bair. Elemente modifiziert ‘umgesetzt, ersetzt’ werden, belegt zugleich einen Paradigmenwechsel hin zum Typus der sogenannten Vokabelübersetzung des im Glossar isolierten lat. Lemmas, das aus der Ferne des Bibeltextes wie ein ‘Wörterbuch-Stich-

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wort’ behandelt wird (vgl. H. Götz, in: R. Große – S. Blum – H. Götz, Beiträge zur Bedeutungserschließung, S. 53-208; K. Matzel, Die Bibelglossen des Clm 22201, S. 11, S. 47f., S. 168f. u.ö.). 8. Artikeltypen: Die nach der Textfolge angeordneten Wortartikel (von gelegentlichen, abschrift- oder kompilationstechnisch bedingten Störungen abgesehen) liefern verschiedene Erklärungen zu den ausgewählten Bibellemmata. Die Vielfalt der Artikel zeigt sich bereits im äußeren Merkmal ihres Umfangs (im Folgenden Beispiele zu Reg I - IV nach Wien 2723 und Wien 2732). Die meisten Glossarartikel bestehen nur aus lat. Lemma – ahd. Interpretament (z.T. auch Doppel- oder Mehrfachglossierungen), wie z.B.: Dilapsus est . inphuor StSG I, 399, 30 zu 13, 8; Stimulus . gart StSG I, 399, 47 zu 13, 21; Phalangas . scara StSG I, 401, 21 zu 17, 8; In ore gladii . gariliho StSG I, 401, 21 zu 15, 8; Perendie . ergestre ł upmorgane StSG I, 402, 37f. zu 20, 12; Sarcinas . gidenheripergon ł gisoumin StSG I, 401, 41f. zu 17, 22; PolentĊ . melauues . ł semalun StSG I, 401, 29f. zu 17, 17). Daneben stehen Artikel mit ahd. und lat. Interpretament(en): z.B. Cronicon . zithpuoh .i. quia tempora disungit StSG I, 395, 33 zu Prol.; Triclinium . hohsedal ł stuoal .i. tribus gradibus sedes StSG I, 399, 6 zu 9, 22; Spurius upuuahsaner i. de nobili patre . et ignobili matre . Nothus . de ignobili patre et nobili matre StSG I, 400, 61f. zu 17, 4) oder bestehen nur aus lat. Stichwort und Interpretament (z.B. Statio .i. congregatio zu 10, 5; Manu . uerbo zu 28, 15 [in manu prophetarum]; Uasa . corpora zu 21, 5 [fuerunt vasa puerorum sancta]). In der älteren Fassung fallen wenige rein lat. Artikel mit umfänglicher Sachinformation auf (z.B. zum assyrischen König Thiglath-Pileser/Teglattphalasar III. [Reg IV 15, 29; 16,7-10] der längere Artikel Deglatfallassar . rex assiriorum x . tribus filiorum israel ...), während solche Artikel in den späteren Bearbeitungen des 11./12. Jh.s durch Aufnahme weiterer Kommentierungen und Kompilation mit anderen Glossaren stärker das Bild des Glossars bestimmen. Die Artikel unterscheiden sich inhaltlich in ihrer jeweiligen Erklärungsfunktion. Interpretamente leisten bei (isoliert betrachtet) verschiedenen Bezeichnungsfunktionen eines lat. Lemmas eine eindeutige semantische Fixierung einer bestimmten Kontextbedeutung: z.B. Elementa . literĊ; Emendando .i. corrigendo im Prol. [emendando sollicitius]; Confinis . par im Prol. [litteras ... quae hebraeae magna ex parte confinis]; Caracteribus . rizin neben Caracteres . puohstapa im Prol. [diversis characteribus]; Emula . ella StSG I, 396, 8 zu 1, 6 neben Emulum . ginôz StSG I, 397, 17 zu 2, 32; Expressum . scriptum im Prol. [in ... voluminibus ... antiquis expressum litteris invenimus]; Secundo . zuúiro StSG I, 397, 38 zu 3, 10. Lat. und ahd. Interpretamente liefern aber auch klassifizierende Informationen zu der mit dem lat. Stichwort benannten Sache: z. B. Zorobabel iste magister babiloniae im Prol. [instaurationem templi sub Zorobabel alias litteras repperisse]; Satrapas . i . principes zu 5, 11; Ephot . alpun StSG I, 397,

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1 zu 2, 18; Leb&em . chezil scilicet magnum im Unterschied zu Caldariolam . chezili und Cacauum . chuhmun StSG I, 396, 55-65 zu 2,14; Sistartiis . tascon StSG I, 399, 1 zu 9,7. Ferner finden sich Deutungen biblischer Eigennamen: z.B. Moses hebraice . sumptus de aqua neben sive aquatilis oder Moyses grece seruiens deo; Babilonia confusio; Belial . ungizogani id est sine iugo; Nabal . stultus; Samuel id est nomen eius deus uel petitio mea deus; Dauid id est manus fortis . siue desiderabilis; Saul petitio. Wenige Artikel liefern eine kurze Auslegung nach dem vierfachen Schriftsinn (z.B. Pelles caprarum id est qui mortui sunt mundo et in christo uiuunt und Pilos .i. poenitentes oder Iniuriam . imbrium . i . temptationes diaboli. [zum Prol. ... si obtulerimus pelles et caprarum pilos ... ardoremque solis et iniuriam imbrium ea quae viliora sunt prohibent]. Daneben gibt es etymologisch-morphologische Erklärungen wie z.B. mit Buccellam . snitun . a bucca .i. os. [neben der ahd. Übersetzung i.e.S.] StSG I, 397, 29 zu 2, 36. Besonders hervorzuheben sind schließlich relativ freie Übersetzungen in kleineren Syntagmen oder Sätzen: z.B. Sub censu . unter dero giprîuido StSG I, 395, 11f. zum Prol. [supputatio sub Levitarum ac sacerdotum censu mystice ostenditur]; Da sanctitatem . irsceini dina heiligi StSG I, 400, 12 zu 14, 41; Cum coquerentur . er sa uola sotan uurtin StSG I, 396, 47 zu 2, 13; Calce abiecisti . mit fersano spurntost StSG I, 397, 9 zu 2, 29); Quodcumque uidero . suas so mir gidunch& StSG I, 402, 13 zu 19, 3; Per salutem tuam so helfe mir din huldi StSG I, 418, 25 zu Reg II 11,11; Sicut et hodie so iz hiuto scinit StSG I, 433, 12 zu Reg III 3, 6; Rectene . istdirgisunti StSG I, 451, 20 zu Reg IV 4, 26. 9. Funktion: Das in den Wiener Hss. 2723 und 2732 überlieferte Incipit belegt, dass das Glossar als Exzerpt derjenigen biblischen Wörter verstanden wird, die wegen ihrer besonderen Schwierigkeit (difficillima verba) einer Erklärung bedürfen (B. Meineke, Das Mondseer Bibelglossar, S. 631). Die nach diesem Kriterium aufgenommenen Stichwörter scheinen aber isoliert (aus der Textferne), für sich genommen keineswegs besonders schwierig zu sein (z.B. agebat, arcus, clamauit, divinos, (in) uia, instruxerunt, iunxerunt, mare, plenum, pastorum, preciosus, secundo, terram, verbum, vetera). Ihre Schwierigkeit zeigt sich jedoch sofort im Zusammenhang der Bibelstelle, in der sie oft metaphorisch oder in speziellerer Bezeichnungsfunktion gemeint sind. Damit wird das Problem eines hermeneutischen Nachvollzugs des biblischen Textsinnes für den Exegeten bzw. Glossator offenkundig. Im Ergebnis erbringt das ein differenziertes, am Erfordernis der Textstelle orientiertes Glossierungsverfahren mit volkssprachigen Glossen als integralem Bestandteil (vgl. weiter oben zu den Artikeltypen). Das Auftreten ahd. Interpretamente kann vielleicht damit zusammenhängen, dass der Glossator den Kontext eines lat. Lemmas zwar genau versteht, ihm aber nach seiner aktiven Sprachkompetenz im lat. Wortschatz kein adäquates lat. Interpretament zur Verfügung steht und bekannte frühmittelalterliche oder antike lat.

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Wörterbücher keine passende lat. Erklärung liefern. Die enge Orientierung am Bibeltext zeigt sich neben der Textfolgebezogenheit äußerlich auch in der Beibehaltung von Flexionsformen lat. Lemmata, die implizit durch ihre grammatische Form die Identifizierung der glossierten Bibelstelle sicherstellen können. 10. Rezeption: Marginale (z.T. geheimschriftlich notierte) Glossen zu den vier Büchern der Könige im Oberaltaicher Clm 9534 (BStK-Nr. 548; zwischen 817 und 823 St. Emmeram, von Ellenhart geschrieben nach f. 169r ellenhart scripsit domino suo baturico episcopo iubente) belegen eine Rezeption der Glossatur bereits in der ersten Hälfte des 9. Jh.s in Regensburg unter Bischof Baturich (a. 817-847) und lassen damit eine unbekannte, seinerzeit in St. Emmeram vorhandene Vorlage annehmen (B. Meineke, Basler Fragment, S. 116; B. Meineke, Das Mondseer Bibelglossar, S. 623). Das gilt auch für ein eher flüchtig notiertes Glossenexzerpt zum dritten Buch der Könige (Reg III, 3,2-9,15 zu Salomos Regentschaft und Tempelbau; f. 171rv; StSG I S. 433-438, Sigle q) im St. Emmeramer Clm 14804 des 9./10. Jh.s, bei dem besonderes Augenmerk auf Sachbezeichnungen aus der Tempelbeschreibung gelegt worden ist (z.B. zu Material in abiegnis, argulosa terra, rubigo, handwerklichen Tätigkeiten in dolare, Handwerkerbezeichnungen mit latomus, cementarius und politor, Gefäßen mit batus, scutula, amula oder mare, vor allem aber zu Gebäude-, Geräteteilen und Ausstattungsmerkmalen wie z.B. in coclea, laquear, tornatura, celatura, osti[o]la, anaglyfa, deambulacrum, epistilium, linea, capitel[l]um, retiaculum, mare, labium, luter, repandi lilii, humeruli, axis, radii, canti oder modioli). Der Auszug mit nur 43 Artikeln (von wenigstens 158 zu Reg III) zeigt zudem zweimal lat. Lemmaverlust (rubigo fehlt bei militou StSG I, 438, 9; intempesta noctis bei in dero vverahparunziti StSG I, 433, 19 sowie (vielleicht) verkürzte Interpretamente (In mense zio .i. abrilis. statt Mense zio .i. aprili . ł maio; Cocleas stegun. statt Cocleas . givuntenanstiegun StSG I, 434, 34.38; Histriatarum . hystoriarum. statt Hystriatarum .i. hystoriarum . tatrahhono StSG I, 436, 40f.) und ist damit als Abschrift einer älteren Vorlage einzustufen. Um a. 1000 hat Froumund von Tegernsee (nach Bibelglossen zu Genesis und Exodus im Clm 22307 [BStK-Nr. 685]) das Glossar im Zusammenhang bibelexegetischer Studien genutzt. In den gleichen zeitlichen Rahmen fallen Spuren der Bibelglossen M in den sogenannten Glossae collectae des Ú ‘Salomonischen Glossars’, die spätestens um a. 1000 im Umkreis von Regensburg/Tegernsee kompiliert worden sind (B. Meineke, Die Glossae Salomonis S. 847). Die Hss.-Gruppe (sogen. ‘Familie S’ nach der Stuttgarter Hs.) vom 11.-14. Jh. rezipiert auch Teile des Artikelbestandes der Familie M, der dabei stärker reduziert, über- bzw. umgearbeitet und um andere Teile (Glossar Rz) erweitert wird. Besonders zu beachten ist, dass einige Textzeugen dieser Hss.-Gruppe aus dem alemannischen Raum kommen und allein drei Hss. nach St. Emmeram gehören (B. Meineke, Basler

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Fragment, S. 117f.; B. Meineke, Das Mondseer Bibelglossar, S. 621ff.): Admont, StB 508 (BStK-Nr. 6) 12. Jh. Admont. – Einsiedeln, StB cod 127 (411) (BStK-Nr. 115) 12. Jh. – Engelberg, StB Codex 66 (früher I 4/11) (BStK-Nr. 138) 12. Jh. St. Blasien?. – Koblenz, StaatsA Abt. 701 Nr. 759 (BStK-Nr. 343) 1. Drittel 9. Jh., vor a. 854; Cundpato, Freising. – München, BSB Clm 4606 (BStK-Nr. 486) 12. Jh. Benediktbeuern?. – München, BSB Clm 6217 (BStK-Nr. 500) 13. Jh. Freising. – München, BSB Clm 14584 (BStK-Nr. 600 II) 12. Jh. St. Emmeram?. – München, BSB Clm 14745 (BStK-Nr. 610) 14. Jh. St. Emmeram. – München, BSB Clm 22258 (BStK-Nr. 683) 12. Jh. Windberg. – Stuttgart, WLB HB IV 26 (früher Herm. 26) (BStK-Nr. 867) 12. Jh. Weingarten. – Zürich, ZB Ms. Rh. 66 (BStK-Nr. 1015) 12. Jh. Rheinau?. Eine vermittelnde Position nehmen vielleicht die beiden Hss. Goslar, StadtA vorl. Nr. B 4374 (früher 2) (BStK-Nr. 266; um 1352) und Karlsruhe, BLB Hs. Oehningen I (BStK-Nr. 323; 14. Jh.) ein, die nach ihren Glossen zum Alten und Neuen Testament mit dem Werk des Albert von Siegburg verbunden worden sind (BStK-Nr. 266 und 323; C. Wich-Reif, S. 637 Anm. 7), während sie bei StSG neben Textzeugen der Hss.Gruppe S gestellt wurden. In jedem Fall können, vorbehaltlich weiterer Klärungen, (neben anderen Quellen) auch Verbindungen zwischen Mondseer Bibelglossen und der Kompilation bzw. dem Exzerpt des mit Albert von Siegburg verbundenen Bibelglossars erwartet werden, das in der Zeit vom Ende des 11. bis zum Ende des 12. Jh.s entstanden ist (C. Wich-Reif, S. 636, S. 642ff.). Da ein Glossar grundsätzlich immer für Umarbeitungen (durch Kürzungen und Ergänzungen) ‘offen’ ist, sind vielfältige Verflechtungen mit älteren Glossaren oder einzelnen Wortartikeln anderer Provenienz nicht überraschend. Bereits der Übergang von einem früheren Stadium der Mondseer Glossen (wie in den Hss. Wien 2723, Wien 2732 und dem Basler Fragment) zu späteren Fassungen (wie im Clm 18140, Clm 13002, Clm 17403 oder Clm 22201) erbringt deutliche Veränderungen im Artikelbestand und der volkssprachigen Interpretamente. Die volkssprachigen Anteile im Mondseer Bibelglossar dokumentieren über wenigstens vier Jahrhunderte hinweg Sprachwandel des Deutschen mit allen Facetten lautlicher, morphologischer, syntaktischer und semantischer Veränderung und Bewahrung. Das Werk kann dabei über Jahrhunderte hinweg Bearbeitern und Benutzern immer auch als ein Kompendium ‘in statu nascendi’ erschienen sein, das je nach Bedürfnis seiner Rezipienten zeitgenössischen Veränderungen erfahren konnte. Der besondere Stellenwert dieser frühmittelalterlichen Bibelglossatur wird erst dann erkennbar sein, wenn ihre Besonderheiten im Vergleich mit anderen Glossaturen herausgearbeitet sein werden. Dabei kommt sicher Faktoren der äußeren Anlage oder der Mitüberlieferung eine wichtige Rolle zu. Ein Verständnis der Bibelglossatur und der volkssprachigen Textrezeption wird aber nur im hermeneutischen Nachvollzug erreichbar sein. So könnte sich z.B. angesichts der überproportional dicht glossierten historischen Bücher des Alten und

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Neuen Testaments die Frage stellen, ob das Glossar nicht auch Ausdruck einer Bibelrezeption ist, die das Buch der Bücher primär als Geschichtsbuch gelesen hat. 11. Literatur: G. Baesecke, Das ahd. Schrifttum von Reichenau, PBB 51 (1927) S. 206222; H. de Boor, Zum althochdeutschen Wortschatz auf dem Gebiet der Weissagung, PBB 67 (1945) S. 65-110; H. Davids, Studien zu den substantivischen Bibelglossen des Clm 19440 aus Tegernsee. Ein Beitrag zur Erforschung der Bibelglossatur M, StA 40, Göttingen 2000; D. Ganz, Corbie in the Carolingian Renaissance, Beihefte der Francia 20, Sigmaringen 1990; D. Ganz, The ›Liber Glossarum‹: A Carolingian Encyclopedia, in: Science in Western and Eastern Civilization in Carolingian Times. Edited by P. L. Butzer und D. Lohrmann, Basel 1993, S. 127-135; D. Geuenich, Ludwig ‘der Deutsche’ und die Entstehung des ostfränkischen Reiches, in: Theodisca, S. 313-329; Glossarium Ansileubi sive Librum glossarum. Ediderunt W.-M. Lindsay – J.-F. Mountford – J. Whatmough etiam F. Rees – R. Weir – M. Laistner (Glossaria Latina iussu Academiae Britannicae edita I), Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Paris 1926, Hildesheim 1965; H. Götz, Zur Bedeutungsanalyse und Darstellung althochdeutscher Glossen, in: R. Große – S. Blum – H. Götz, Beiträge zur Bedeutungserschließung im althochdeutschen Wortschatz, SB Leipzig, Philol.-hist. Klasse, Band 118. Heft 1, Berlin 1977, S. 53-208; E. G. Graff, Ahd. Sprachschatz, I-VI; J. Heil, „ ... nos nescientes de hoc vellere manere“. Timeless End, or: Approaches to Reconceptualizing Eschatology after 800, Traditio 55 (2000) S. 73-103; K. Matzel, Die Bibelglossen des Clm 22201, Dissertation (maschinenschriftl.), Berlin 1956; B. Meineke, Basler Fragment. Ein früher Textzeuge der Bibelglossatur M. Mit zwei Abbildungen, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Philologisch-historische Klasse Jahrgang 1999 Nr. 3, Göttingen 1999, S. 83-179 [S. 1-97]; B. Meineke, Die Glossae Salomonis, in: BStH I, S. 829-858; B. Meineke, Liber Glossarum und Summarium Heinrici. Zu einem Münchner Neufund. Mit 2 Abbildungen, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philol.-hist. Klasse. Dritte Folge Nr. 207, Göttingen 1994; B. Meineke, Das Mondseer Bibelglossar, in: BStH I, 2009, S. 619-634; B. Pez, Thesaurus Anecdotorum Novissimus. Seu Veterum Monumentorum, praecipué Ecclesiasticorum, ex Germanicis potissimum Bibliothecis adornata Collectio recentissima. Tomus I, Augustae Vindelicorum & Graecii 1721; E. Schröder, Spätalthochdeutsche Bibelglossen, ZDA 68 (1931) S. 66-68; C. Wich-Reif, Das Bibelglossar Alberts von Siegburg, in: BStH I, S. 635-646.

BIRGIT MEINEKE

‘Mon(d)seer Fragmente’ Ú Isidor von Sevilla ‘De fide catholica’. Ahd. Übersetzung und ‘Mon(d)seer Fragmente’

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‘Murbacher Hymnen (Interlinearversion)’

‘Murbacher Hymnen (Interlinearversion)’ Althochdeutsche Interlinearversion eines Hymnars; wohl 1. Viertel des 9. Jh.s; alemannisch (Ha) bzw. alemannisch mit fränkischen Spuren (Hb). 1. Überlieferung und Einrichtung: Oxford, BodlL Ms. Jun. 25: f. 116r-117v; f. 122v-129v. – Die Blätter, die die sogenannten ‘Murbacher Hymnen’ enthalten, gehören dem 6. Teil (von E. Krotz, Auf den Spuren, S. 212, als Teil F bezeichnet) einer heute aus 10 Teilen bestehenden Hs. an, deren Faszikel vorwiegend im 8. und vor allem im 9. Jh. entstanden und erst späterhin zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt bzw. mehreren Zeitpunkten letztlich zu dem nunmehr vorliegenden Codex vereinigt worden sind. Die Hs. muss sich aufgrund verschiedener Einträge spätestens im 15. Jh. in Murbach befunden haben (zur Geschichte der Hs. s. vor allem D. Ertmer, Studien, S. 216-219; E. Krotz, Auf den Spuren, S. 159-165, 258f.; BStK-Nr. 725 (II), S. 1385). Von dort kam sie spätestens im 17. Jh. in Privatbesitz. Aufgrund eines entsprechenden Vermerks (f. 2r: Sum Boxhornii) in der Hs. ist für diese Zeit der Leidener Professor Marcus Zuerius Boxhorn (1612-1653) als erster namentlich bekannter Besitzer auszumachen. Danach gelangte der Codex über den aus Leiden stammenden Isaac Voss (1618-1689) an dessen Onkel Franciscus Junius (15891677), aus dessen Nachlass die Hs. schließlich im Jahre 1678 in die Bodleian Library nach Oxford kam. (Zum 6. Teil der Hs. s. insb. E. Krotz, Auf den Spuren, S. 212-223 sowie die Gesamtübersicht auf S. 257-259; BStK.-Nr. 725 (II), S. 1385-1387; D. Ertmer, Studien, S. 214f.; zur gesamten Hs. s. E. Krotz, Auf den Spuren, S. 159-259; D. Ertmer, Studien, S. 214-219; zu den ahd. Glossen enthaltenden Teilen 4, 6, 8 und 10 s. BStK.-Nr. 725 (I-IV), 1382-1391). Der 6. Teil der Hs., der die ‘Murbacher Hymnen’ überliefert, bestand ursprünglich aus zwei Quaternionen (f. 116-121; 122-129), von denen aber das mittlere Doppelblatt des heute ersten Quaternio verloren gegangen ist (E. Krotz, Auf den Spuren, S. 212). Die sogenannten ‘Murbacher Hymnen’, die nicht als eine beliebige Sammlung verschiedenster Hymnen zu verstehen sind, sondern gesamthaft ein Hymnar bilden, umfassen insgesamt 27 Hymnen, sofern man Te decet laus im Gegensatz zur Zählung bei E. Sievers (Die Murbacher Hymnen, Nr. XXVa, S. 56) als selbstständige Einheit betrachtet. In der Hs. selbst ist Te decet laus (f. 117r) jedenfalls durch eine entsprechende Zierinitiale eindeutig als – wenn auch nur aus einer Strophe bestehende – eigenständige Hymne ausgewiesen. Die 27 Hymnen des ‘Murbacher Hymnars’ verteilen sich in ungleicher Weise so, dass der heute zweite Quaternio des 6. Faszikels der Hs. einen ersten aus 21 Hymnen bestehenden Teil umfasst (f. 122v-129v), die nach E. Sievers als I-XXI gezählt und meist mit der Sigle Ha bezeichnet werden, während der erste Quaternio des 6. Faszikels den zweiten Teil des Hymnars (Hb) aufweist, der – je nach Zählung – 5 bzw.

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6 weitere Hymnen enthält (XXII-XXV, XXVa und XXVI). Beide Quaternionen weisen über die ‘Murbacher Hymnen’ hinaus noch weitere Texte und Glossare auf. Die Aufzeichnung des ‘Murbacher Hymnars’ hat man sich vom Entstehungsprozess her am ehesten wohl in folgender Weise vorzustellen: Zunächst wurden auf der Reichenau die ersten 21 Hymnen (f. 122v-129v) niedergeschrieben, wobei die erste Seite (f. 122r) des Quaternios als eine Art Schutzblatt unbeschrieben blieb (B. Bischoff, FMSt 5 [1971] S. 107 = B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 80). Dieser Teil des ‘Murbacher Hymnars’ nahm somit im Ganzen ursprünglich eine in sich selbstständige Lage ein, worauf auch die stark verschmutzte letzte Seite des Quaternios (f. 129v) deutlich hinweist (E. Krotz, Auf den Spuren, S. 218 ). Dieser Quaternio muss dann schon bald nach Murbach gelangt sein. Dort wurde ihm ein weiterer Quaternio vorangestellt (s. auch H. Fischer, Schrifttafeln, S. 9*). Damit wurde das von der Reichenau kommende Hymnar um 5 bzw. 6 Hymnen erweitert, die die beiden ersten Blätter (f. 116r-117v) des in Murbach angelegten Quaternios füllten. Die nicht durch die Hymnen in Anspruch genommenen Blätter und Seiten und zum Teil auch deren Ränder wurden sodann in Murbach wie folgt genutzt: Die Blätter f. 118r-121v nimmt das vierspaltig geschriebene alphabetische Glossar Ú Jc ein (s. die Übersicht bei E. Krotz, Auf den Spuren, S. 212 und BStK-Nr. 725 (II), S. 1385), wobei infolge des heute fehlenden mittleren Doppelblattes der Lage späterhin ein nicht unbeträchtlicher Teil des Glossars verloren gegangen ist. Die ursprünglich frei gebliebene erste Seite des nunmehr zweiten Quaternios des 6. Teils der Hs. ist – vor Beginn von Ha mit f. 122v – zur Aufnahme des fünfspaltig angelegten sogenannten Alumnis-Glossars zur Ú Benediktinerregel (f. 122r) genutzt worden und auf dem linken Rand der letzten Seite des Quaternios (f. 129v), die den Schluss von Ha enthält, ist nachträglich eine grammatische Übung aus der Grammatik des Petrus von Pisa aufgezeichnet worden. Weitere Nachträge weisen zudem die Schlussseite (f. 121v: auf dem linken Rand und f. 121vd) des ersten und die Anfangsseite (f. 122re) des zweiten Quaternios auf, die das Exestimatis-Glossar zur Benediktinerregel aufgenommen haben und die beiden Quaternionen übergreifend verbinden (s. dazu im Ganzen E. Krotz, Auf den Spuren, S. 212 und die bildlich anschauliche Darstellung auf S. 698 [Verteilung der Glossare Jc, Alumnis und Exestimatis auf f. 121v und 122r] sowie BStK-Nr. 725 (II), S. 1385). Wie dieser Befund im Einzelnen zu bewerten ist und wie die einzelnen Stücke und Teile nach Händen zu trennen und zu datieren sind, ist, einmal ganz abgesehen von älteren Auffassungen der Forschung, die in der Regel die ‘Murbacher Hymnen’ in steter Wiederholung in die Zeit zwischen 810-817 setzen, bis heute umstritten. So geht etwa H. Fischer (Schrifttafeln, S. 9*) für den Reichenauer Teil der ‘Murbacher Hymnen’ von einer Hand aus dem 1. Viertel des 9. Jh.s aus und für den Murbacher Teil für eine im ganzen gleichzeitige Hand. Nach B. Bischoff (FMSt 5 [1971] S. 107

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= B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 80) gehört die ‘Murbacher Hand’ wohl eben noch dem 1. Viertel des 9. Jh.s an, während er sich zur Datierung des Reichenauer Teils der Hymnen nicht genauer festlegt, sondern nur davon spricht, dass es sich vor allem in der Textschrift um „ein Muster jener kalligraphisch kontrollierten alemannischen Schrift“ handle, „die das unter Reginberts Leitung stehende Skriptorium wohl etwa seit 815 noch ein Vierteljahrhundert neben der karolingischen Gemeinschrift gepflegt“ habe (B. Bischoff, FMSt 5 [1971] S. 108 = B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 81). In seinem einige Jahrzehnte später postum veröffentlichten ‘Katalog der festländischen Handschriften des neunten Jahrhunderts’ gibt B. Bischoff (Katalog, II, Nr. 3803 und 3804, S. 365f.) dagegen für den Murbacher Teil der Hymnen nur den Ort (Murbach) an, aber keine bestimmte Zeit, während er nunmehr für den Reichenauer Teil ohne Begründung nur vermerkt: „Reichenau, IX. Jh., ca. 2. Viertel“. E. Krotz (Auf den Spuren, S. 218f. und PadRep) meint dazu, dass es sich hierbei nur um einen Irrtum handeln könne und dass es recte wohl 1. Viertel des 9. Jh.s heißen müsste. Sie führt in ihren eigenen Untersuchungen aufgrund ihrer gewonnenen Erkenntnisse zu den eintragenden Händen in den beiden Quaternionen sogar aus, dass der Reichenauer Teil der ‘Murbacher Hymnen’ „auf jeden Fall an den Anfang des 9. Jh. (und nicht ins 2. Viertel)“ zu setzen sei (E. Krotz, Auf den Spuren, S. 219). Diese Aussage widerspricht allerdings ihrer Angabe, die sie in der „Übersicht aller Bestandteile des Codex“ für die ‘Reichenauer Hymnen’ (f. 122v-129v) macht (S. 257: „Reichenau, 1./2. V. 9. Jh.“). – Bis zum Erweis des Gegenteils wird man vorsichtigerweise vielleicht davon ausgehen können, dass beide Teile der sogenannten ‘Murbacher Hymnen’ wohl am ehesten auf der Reichenau (Ha) und in Murbach (Hb) innerhalb des 1. Viertels des 9. Jh.s aufgezeichnet worden sind. Darüber hinaus dürfte im Weiteren anzunehmen sein, dass in beiden Teilen der ‘Murbacher Hymnen’ die lat. Textschrift wie die ahd. Partien vom jeweiligen Schreiber des lat. Grundtextes ausgeführt worden sind. Dabei ist nach B. Bischoff (Katalog, II, Nr. 3803 und 3804, S. 365f.) für die Reichenauer wie für die Murbacher Hymnen davon auszugehen, dass an der Niederschrift mehr als eine Hand beteiligt war. Für die erste Seite (f. 122v) des Reichenauer Teils nimmt B. Bischoff sogar an, dass sie wohl von der Hand Reginberts selber stamme. Die nicht immer eingehaltenen und einhaltbaren Grundintentionen der Einrichtung der ‘Murbacher Hymnen’ lassen sich am besten an der – bis auf die beiden ersten rot und in Capitalis rustica geschriebenen Zeilen – wohl von der Hand Reginberts (B. Bischoff, Katalog, II, Nr. 3803f., S. 365f.) stammenden ersten Seite des Reichenauer Teils ablesen, die im Ganzen somit als ein von ihm vorgegebenes Muster für die nachfolgenden Schreiber zu verstehen sein dürfte. Die einspaltigen Seiten weisen für die Reichenauer Hymnen bezüglich des lat. Textes – bis auf die Anfangsseite – 20 Zeilen auf, zwischen denen reichlich Platz zur Aufnahme des ahd.

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Teils gelassen worden ist. Es handelt sich demnach zweifelsfrei um eine kodikologisch planmäßig angelegte und als Werkeinheit konzipierte lat.-ahd. Interlinearversion (s. dazu E. Hellgardt, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 262-264). Der Anfang einer Hymne wird durch eine mehrzeilige Zierinitiale, die man hier von ihrer Funktion her als Hymneninitiale bezeichnen könnte, markiert. Der Beginn einer Strophe wird durch eine vorgerückte Initiale in Capitalis rustica gekennzeichnet. Je zwei Zeilen nehmen eine Strophe auf, die aus insgesamt vier Versen besteht, deren jeweiliges Ende durch einen Punkt angezeigt wird. Die einzelne Schriftzeile besteht somit aus je zwei Versen, die sich äußerlich betrachtet als lange Zeile darstellt. Ob damit auch eine metrische Aussage im Sinne einer Langzeile bzw. eines Langverses getroffen werden soll, lässt sich dem nicht ohne Weiteres entnehmen (vgl. dazu U. Siewerts, Qualität und Funktion, S. 30). Die einzelnen ahd. Interpretamente sind in kleinerer Schrift überzeilig eingetragen. Dabei wird in der Regel auf eine genaue Zuordnung zu den lat. Bezugswörtern geachtet. Das gilt insbesondere bei nur gekürzt mitgeteilten ahd. Wörtern, die – in unterschiedlicher Dichte – häufig anzutreffen sind. So sind in den Fällen, in denen nur Wortendungen der ahd. Wörter angegeben werden, diese in der Regel dem Ende des lat. Wortes übergeschrieben. Im Übrigen werden die ahd. Wörter nicht selten durch schließende Punkte voneinander abgegrenzt, was in kaum einer der zahlreichen Editionen aufscheint. Auffallend und in ihrer Deutung umstritten sind die sogenannten Doppelglossierungen (zuletzt Ch. Simbolotti, Gli ‘Inni di Murbach’, S. XLVI-LI [mit weiterer Lit.]; s. Ch. Simbolotti, in: I Germani e gli altri, II, S. 297-323 [mit weiterer Literatur]), bei denen ein lat. Wort durch zwei ahd. Wörter wiedergegeben wird. Gleich auf der ersten Seite treten nicht weniger als sechs dieser insgesamt – je nach Wertung – etwa rund 25 (nach Ch. Simbolotti, Gli ‘Inni di Murbach’, S. XLVII, Anm. 63: 26 Fälle) auf, von denen der erste (lat. angelus: ahd. poto. chundo [I. 3,2]) das wohl bekannteste und am häufigsten erörterte Beispiel ist. Die im Vorangehenden angeführten Grundzüge der Wiedergabe der lat.-ahd. Interlinearversion gelten im Ganzen auch für den Murbacher Teil der Hymnen. Hier erscheint allerdings durch die Einteilung des lat. Textes in 25 Zeilen pro Seite alles wesentlich gedrängter. Die Schrift, insbesondere des ahd. Teils, dürfte wohl auch eher als alemannische denn als karolingische Minuskel zu beurteilen sein. Jedenfalls fehlt es nicht an typischen Kennzeichen, wie etwa gestürztes t. In der Ästhetik in der gesamthaften Gestaltung der Seite reicht der Murbacher Teil aber bei Weitem – weder von der Schrift her noch sonst – nicht an das für den Reichenauer Teil wohl von Reginbert vorgegebene Muster (f. 122v) heran. 2. ‘Murbacher Hymnar’: Der ersten Hymne (f. 122v) der ‘Murbacher Hymnen’ gehen zwei Zeilen voran, die in der Edition von E. Sievers in den Apparat verbannt

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worden sind, die aber eine ganz besondere Aussagekraft besitzen. Die erste rubrizierte und in Capitalis rustica ausgeführte Zeile ist als eine Überschrift zu verstehen, die sich ganz offensichtlich auf alle 27 Hymnen bezieht: INCIPIUNT HYMNI CANENDAE PER CIRCULUM ANNI (f. 122v). Aus dieser Überschrift geht eindeutig hervor, dass es sich gesamthaft um ein Hymnar handelt und dass die Hymnen dieses ‘Murbacher Hymnars’, wie die sogenannten ‘Murbacher Hymnen’ korrekt zu bezeichnen wären, im Verlauf des liturgisch geprägten Jahres zum Gesang bestimmt sind. Nach B. Bischoff (Katalog, II, Nr. 3803f., S. 365f.) stammt, wie bisher kaum oder gar nicht zur Kenntnis genommen wurde, die einzeilige Überschrift, ebenso wie auch die folgende Zeile, von derselben Murbacher [!] Hand – also nicht von Reginbert und nicht von einer anderen Reichenauer Hand – die auch „Junius C“ geschrieben habe, die somit von dem in Murbach angelegten Quaternio auf den auf der Reichenau geschriebenen Quaternio übergreift und demnach nunmehr auch die beiden ersten Zeilen der ‘Murbacher Hymnen’ betreffen würde und nicht nur auf den ganz unbestreitbaren Fall des Exestimatis-Glossars zur Benediktinerregel beschränkt wäre. Problematisch aber bleibt dabei, was B. Bischoff mit der unklaren Angabe „Junius C“ genau meint, ob also der Schreiber des Glossars Ú Jc nur dieses Glossar geschrieben habe oder auch das Alumnis-Glossar und vor allem auch das Exestimatis-Glossar (zu diesem grundsätzlichen Problem des oder der Schreiber dieser Glossare s. ausführlich E. Krotz, Auf den Spuren, S. 212f. und 218f.). Im Gegensatz zur Überschrift in der ersten Zeile ist die ebenfalls in rot und in Capitalis rustica geschriebene zweite Zeile (HYMNUS AD NOCTURNUM DOMINICIS DIEBUS) der Anfangsseite (f. 122v) des Reichenauer Teils der ‘Murbacher Hymnen’ nicht auf die Gesamtheit der Hymnen zu beziehen, sondern betrifft nur die unmittelbar folgende erste Hymne (Mediae noctis tempore), die somit, wie auch aus dem Anfangsvers selbst hervorgeht, zur Nokturn, hier zur Nokturn an Sonntagen, zu singen ist. Einzig auf diesen Fall der ersten Hymne beschränkt wird hier die genauere liturgische Bestimmung innerhalb des monastischen Stundenoffiziums angegeben, während für die weiteren 26 Hymnen dazu jede Angabe fehlt. Die jeweilige Bestimmung lässt sich jedoch über andere Hymnare genauer erschließen (s. dazu für das ‘Murbacher Hymnar’ insb. die tabellarische Übersicht bei H. Gneuss, MJB 35 [2000] S. 243f.; s. unter anderem auch E. S. Firchow, Einleitung zu Sievers, 1972, S. XXIXXXXV; W. Bulst, ZDA 80 [1944] S. 159-161; C. Vogel, Archives de l’Église d’Alsace 25. Nouv. Série 9 (1958) S. 13f. sowie gesamthaft auch U. Siewerts, Qualität und Funktion). Es wird aber mit den beiden Anfangszeilen insgesamt eindeutig klar, worum es in den sogenannten ‘Murbacher Hymnen’ geht, nämlich um den Text solcher metrisch und strophisch strukturierten geistlichen Lieder, die zum Bestand des täglichen Stundengebets der Mönche gehörten und die zu den acht kanonischen Horen (Nokturn, Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet) gesungen

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wurden (zur wichtigen Abgrenzung des Begriffs Hymne gegenüber anderen nichtliturgischen und liturgischen Gattungen und Formen geistlicher Dichtung s. genauer H. Gneuss, Hymnar und Hymnen, S. 3-6). Obwohl der Hymnengesang in der mailändischen Kirche mit Ambrosius (339-397) seinen Anfang genommen hat (H. Gneuss, Hymnar und Hymnen, S. 4), sollte man die vor allem in der älteren Germanistik, aber durchaus auch heute noch gebräuchliche Bezeichnung ‘Ambrosianische Hymnen’ im Zusammenhang mit den ‘Murbacher Hymnen’ aus verschiedenen Gründen besser konsequent meiden. Von den insgesamt 27 Hymnen des ‘Murbacher Hymnars’ gehen nach heutigen Erkenntnissen ohnehin nur die Hymne XXV (AeternĊ rerum conditor [f. 117r]) sicher und die Hymnen III (Splendor paternĊ gloriĊ [f. 123v und 124r]), XX (Hic est dies uerus dei [f. 129r/v]) und XXII (Aeterna christi munera [f. 116r]) mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf Ambrosius zurück (so H. Gneuss, MJB 35 [2000] S. 243f.; s. dazu auch die Edition der Hymnen des Ambrosius von J. Fontaine, Ambroise de Milan, Hymnes). Das ‘Murbacher Hymnar’ ist nach H. Gneuss (MJB 35 [2000] S. 228) einem bestimmten Grundtyp von Hymnaren zuzuordnen, der von ihm als ‘Fränkisches Hymnar’ bezeichnet worden ist. Rein zeitlich nimmt das ‘Fränkische Hymnar’ im Ganzen eine mittlere Stellung zwischen den anderen beiden Grundtypen – dem ‘Alten Hymnar’ und dem ‘Neuen Hymnar’ – ein, was man aber nicht einfach als Entwicklungslinie missverstehen darf. Der Gruppe des ‘Fränkischen Hymnars’ gehören nach H. Gneuss (MJB 35 [2000] S. 233-235) insgesamt sechs Hss. an, die von ihrer Entstehung her räumlich auf das nordöstliche Frankreich und das südwestdeutsche Sprachgebiet beschränkt sind und von der Zeit her zwischen der Mitte des 8. Jh.s und dem frühen 9. Jh. entstanden sind. Außer dem ‘Murbacher Hymnar’ stammt nur noch die Anfang des 9. Jh.s auf der Reichenau oder in St. Gallen erstellte, heute nur noch unvollständig erhaltene Hs. Zürich, ZB Rheinau 34 aus dem deutschsprachigen Gebiet (H. Gneuss, MJB 35 [2000] S. 234). Dieser Hs. und dem ‘Murbacher Hymnar’ ist denn auch des Öfteren ein besonderes Näheverhältnis ( z. B. W. Bulst, ZDA 80 [1944] S. 157) zugesprochen worden, was aber schon angesichts des unvollständigen Zustands der heute Zürcher Hs. durchaus problematisch ist. Demgegenüber hat jedoch M.-H. Jullien (RHT 19 [1989] S. 88f. [Handschriftensiglen Sa und Fb]; zur gesamten Gruppe des ‘Fränkischen Hymnars’ mit hier nur insgesamt vier angeführten Hss. s. S. 85-91) festgestellt, dass zwischen dem ‘Murbacher Hymnar’ und der wohl in Saint-Denis entstandenen und später nach Saint-Martial de Limoges gelangten Hs. Paris, BNF lat. 528, sowohl in der Auswahl der Hymnen wie in ihrer Abfolge eine außerordentliche Ähnlichkeit („une remarquable similitude“) besteht (s. dazu insb. auch die tabellarische Darstellung bei H. Gneuss, MJB 35 [2000] S. 244; s. auch C. Vogel, Archives de l’Église d’Alsace 25. Nouv. Série 9 [1958] S. 13f.). Dieser Sachverhalt steht auch in bemerkenswerter Übereinstimmung

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mit der von E. Krotz verschiedentlich getroffenen Feststellung, dass bei den Detailuntersuchungen anderer Texte der Hs. Jun. 25 ebenfalls die Beobachtung gemacht werden kann, dass die Schreiber ihr Textmaterial nicht aus Reichenauer Hss. bezogen hätten, „sondern eher von einer ‘Materialbasis’ im westlich und nördlich, also entgegengesetzt gelegenen Teil des Frankenreichs“ (E. Krotz, Auf den Spuren, S. 165; s. dazu im Zusammenhang mit den ‘Murbacher Hymnen’ auch S. 214-217). Man müsse also bezüglich des Codex Jun. 25 von der gängigen Vorstellung Abschied nehmen, dass die Hs. „eines der Paradebeispiele für die engen Beziehungen der beiden Klosterbibliotheken“ Murbach und Reichenau sei (E. Krotz, Auf den Spuren, S. 165, 259f.). Bezüglich der verschiedenen Grundtypen von Hymnaren stellt H. Gneuss (MJB 35 [2000] S. 242) im Zusammenhang mit der Abtei Reichenau im Übrigen fest, dass dort zunächst das ‘Alte Hymnar’ in Gebrauch war, das mit der Aufzeichnung des Reichenauer Teils des ‘Murbacher Hymnars’ im Verlauf der ersten Jahrzehnte des 9. Jh.s durch das ‘Fränkische Hymnar’ abgelöst wurde, dem aber dann schon um die Mitte des 9. Jh.s das ‘Neue Hymnar’ folgte. 3. Ausgaben – Übersetzungen – Abbildungen: Für die Wahrnehmung der ‘Murbacher Hymnen’ in der Germanistik ist die im Jahre 1874 erschienene Edition von E. Sievers ‘Die Murbacher Hymnen. Nach der Handschrift herausgegeben’ bestimmend geworden und bis in die Gegenwart hinein geblieben (zur Edition von Ch. Simbolotti s. weiter unten). Obwohl diese Ausgabe von E. Sievers als erste vollständige Edition unmittelbar auf der Hs. Jun. 25 beruht, von der E. Sievers im November des Jahres 1870 eine „vollständige abschrift aller deutschen bestandteile der hs.“ (Einleitung: S. 10), also nicht nur der ‘Murbacher Hymnen’, sondern auch der verschiedenartigsten ahd. Glossen und Glossare der Hs., hat machen können, spiegelt seine Edition, abgesehen von der textlichen Grundlage, so gut wie nichts von den die Hs. in ihrer Einrichtung auszeichnenden Elementen wider, insbesondere auch nicht, dass es sich um eine Interlinearversion handelt. E. Sievers präsentiert die ‘Murbacher Hymnen’ vielmehr in der Form einer Bilingue. Das ist offenbar entscheidend durch die ebenfalls bereits bilingual angelegte Erstedition der ‘Murbacher Hymnen’ durch J. Grimm im Jahre 1830 bedingt, wie auch aus dem Vorwort E. Sievers’ (S. IV) hervorgeht: „Nach J. Grimm’s vorgange habe ich den deutschen text der klareren übersicht wegen vom lateinischen getrennt“. E. Sievers spricht hier im Übrigen ohne jede Einschränkung von einem „deutschen text“. Genau diesen Eindruck hat seine – bzw. J. Grimms – Entscheidung, die Interlinearversion der ‘Murbacher Hymnen’ als Bilingue wiederzugeben, auch stets vermittelt. Offensichtlich kam es E. Sievers im Ganzen primär auf eine nach modernen Gesichtspunkten optisch korrekt gestaltete Wiedergabe der lat. Hymnen an, denen er einen in gleicher Weise gestalteten – dem Anschein nach

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gleichwertigen – ahd. ‘Text’ gegenübergestellt hat. Dabei ging es unter inhaltlichen Gesichtspunkten entscheidend um die Korrektheit der Lesungen des lat. Textes wie des ahd. ‘Textes’. Darin ist die Edition von E. Sievers den meisten nach ihm zu den ‘Murbacher Hymnen’ erschienenen Ausgaben tatsächlich auch vielfach weit überlegen. – Die grundsätzliche Anlage der Edition der ‘Murbacher Hymnen’ von E. Sievers hatte im Übrigen nicht nur für dieses Denkmal gravierende Auswirkungen. So hat beispielsweise auch E. v. Steinmeyer die von ihm im Jahre 1916 in seiner Edition ‘Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler’ herausgegebenen ahd. Interlinearversionen ausnahmslos in der Form von Bilinguen präsentiert – mit ebenso weitreichenden negativen Folgen (s. dazu im Ganzen L. Voetz, in: BStH I, S. 889891). Erst die Neuausgaben der Ú ‘St. Pauler Interlinearversion zu Lc 1,64 – 2,51’ (1985) und der Ú ‘St. Galler Interlinearversion zu Joh. 19,38’ (1997) durch L. Voetz sowie insbesondere auch die Neuedition der Ú ‘Benediktinerregel’ durch A. Masser spiegeln die jeweils zugrunde liegenden Interlinearversionen in einer Weise wider, die einen handschriftennahen Zugang zu den einzelnen Denkmälern ermöglichen und so letztlich auch zu anders gearteten Forschungsergebnissen führen. Im Gegensatz zu E. Sievers konnte J. Grimm für seine Erstedition der ‘Murbacher Hymnen’, die er im Jahre 1830 zum Antritt seiner Göttinger Professur herausgegeben hat, nicht auf die Hs. Jun. 25 zurückgreifen. Er musste sich mit einer von Franciscus Junius erstellten Abschrift (Oxford, BodlL Ms. Jun. 74) begnügen. Das ‘Original’ galt im 19. Jh. zeitweilig als verschollen und lässt sich erst ab 1852 wieder sicher nachweisen (D. Ertmer, Studien, S. 220f.; E. Krotz, Auf den Spuren, S. 213 mit Anm. 629; s. auch E. Sievers, Einleitung, S. 9f.). Zur Ausgabe von J. Grimm ist hier im Vergleich mit der Ausgabe von E. Sievers nur zu bemerken, dass bei aufgeschlagenem Buch der nach Strophen und Versen strukturierte lat. Hymnentext jeweils die linke Seite einnimmt und der in gleicher Weise geordnete ahd. Teil die rechte Seite, während in der Edition von E. Sievers beides auf nur einer Seite erscheint. Die im Original gekürzten ahd. Wörter werden bei J. Grimm – soweit diese ergänzt werden konnten – ohne weitere Kennzeichnung voll ausgeschrieben oder aber in gekürzter Form wiedergegeben, wobei fraglich bleibt, was in seiner Vorlage bereits vorhanden war und was nicht. Bei E. Sievers sind die Ergänzungen der ahd. Wörter dagegen in eckige Klammern gesetzt. Bei den sogenannten Doppelglossierungen verfährt J. Grimm so, dass er zwar beide ahd. Wörter angibt, das jeweils zweite im ahd. ‘Text’ jedoch in eckige Klammern setzt, während E. Sievers – wie auch in der Hs. – beide ahd. Interpretamente gleichwertig nebeneinanderstellt. Völlig anders als J. Grimm und E. Sievers verfährt P. Piper (Nachträge, S. 165185) im Jahre 1898 mit seinem diplomatischen Abdruck der Hs. Zwar wird auf diese Weise nunmehr erstmalig in jederlei Hinsicht deutlich, dass es sich bei den ‘Murbacher Hymnen’ um eine Interlinearversion handelt. P. Piper übertreibt in der Art

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seiner Wiedergabe das Prinzip aber dermaßen, dass seine Form der Wiedergabe ohne Einsichtnahme in die Hs. an vielen Stellen nicht zu verstehen ist. So bemüht sich P. Piper einerseits darum, sämtliche Abbreviaturen und Ligaturen sowie selbst gestürztes t im lat. Text wie im ahd. Teil der Hs. möglichst ‘original’ wiederzugeben, wobei ihm aber oft nicht einmal die richtigen Zeichen zur Verfügung stehen und zudem noch manche Inkonsequenzen unterlaufen; er lässt aber andererseits den potentiellen Leser in vielem ratlos zurück, indem er etwa die mögliche Ergänzung gekürzter ahd. Wörter noch nicht einmal im Apparat auflöst. Seine Art der Präsentation der ‘Murbacher Hymnen’ ist ohne Einsichtnahme in die Hs. jedenfalls nicht ohne Weiteres und an nicht wenigen Stellen überhaupt nicht zu verstehen. Es wundert daher nicht, dass seine ‘Edition’ keine erkennbare Resonanz gefunden hat und keinerlei positive Folgen für die wissenschaftlichen Forschungen hatte. Die im Jahre 1958 im Stil der Grimm’schen und Sievers’schen Editionen angelegte Ausgabe von C. Vogel (Archives de l’Église d’Alsace 25. Nouv. Série 9 [1958] S. 1-42, Edition: S. 18-42) trägt im Ganzen ebenfalls nichts zu einem besseren Verständnis der ‘Murbacher Hymnen’ bei. Insbesondere der ahd. Teil ist voller Fehler und in der Anlage völlig sinnlos (s. dazu auch E. S. Firchow, 1972, S. V, Anm. 1), was sich gleich an der 5. Strophe des nach der Sievers’schen Zählung ersten Hymne (S. 25) beispielhaft zeigt. Die gesamte Strophe besteht im ahd. Teil der Ausgabe im zweiten Vers aus drei ausgeschriebenen ahd. Wörtern sowie aus den in der Hs. gekürzt wiedergegebenen Endsilben insgesamt sieben weiterer ahd. Wörter: ta, cho, no, ta, bes, t [recte ter !] und te. Selbst wenn diese Kürzungen, allerdings in sehr unübersichtlicher Form, noch dazu nicht immer vollständig und richtig, im Apparat nach den Editionen von J. Grimm und E. Sievers aufgelöst werden, stellt sich doch die Frage, wem eine erheblich verschlechterte und letztlich unlesbare Sievers’sche Ausgabe dienen soll. Ohne jeden eigenständigen Wert ist auch die im Jahre 1963 unter dem sachlich fragwürdigen Titel ‘Drei Reichenauer Denkmäler der altalemannischen Frühzeit’ (S. 29-76) publizierte Ausgabe von U. Daab, die nach ihrem Erscheinen durchaus häufig zitiert wurde und wird. Ebenso wie auch im Falle der beiden anderen dort aufgenommenen Denkmäler, der ‘St. Pauler Lucasglossen’ (S. 1-28) und der ‘Altalemannischen Psalmenübersetzung’ (S. 77-92) (s. dazu jeweils auch Ú ‘St. Pauler Interlinearversion zu Lc 1,64 – 2,51’ und Ú Psalter: ‘Fragmente einer altalemannischen Interlinearversion’), erfolgt die ‘Edition’ U. Daabs ohne jede Einsichtnahme in die Hs. selbst. Sie stützt sich vielmehr allein auf vorgängige Ausgaben dieser Denkmäler von E. Steinmeyer und im Falle der ‘Murbacher Hymnen’ auf die Edition von E. Sievers aus dem Jahre 1874. Lediglich für die Seiten der Hs., für die U. Daab die entsprechenden Lichtdrucke G. Baeseckes (s. dazu weiter unten unter Abbildungen) zur Verfügung standen, hat U. Daab (Drei Reichenauer Denkmäler, S. 29) eine Kollatio-

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nierung vorgenommen, wobei sich nach ihren Aussagen aber „eine nur sehr geringe Anzahl unwesentlicher Abweichungen“ ergeben habe. Zu Recht hat E. S. Firchow (S. V, Anm. 1) in ihrer Einführung zum Nachdruck der Sievers’schen Ausgabe im Jahre 1972 festgestellt, dass die Ausgabe von U. Daab „unvollständig und fehlerhaft und daher für die wissenschaftliche Forschung ungenügend“ sei. In den 70er-Jahren des vorigen Jh.s erschienen gleich drei Nachdrucke der Ausgabe von E. Sievers: zum einen ein reiner Nachdruck im Jahre 1975, zum anderen ein von E. S. Firchow betreuter Nachdruck der Jahre 1971 und 1972, dem eine umfängliche und in vielen Teilen immer noch durchaus nützliche Einführung vorangestellt ist (zu den genaueren Nachweisen s. weiter unten unter 6. Literatur). Erst im Jahre 2009 legte Ch. Simbolotti (Gli ‘Inni di Murbach’) eine Edition vor, die man, auch wegen der umfangreichen Einleitung, Kommentierung (beides in italienischer Sprache), Glossare, verschiedener Appendizes, einem umfänglichen Literaturverzeichnis sowie der Abbildung aller die ‘Murbacher Hymnen’ betreffenden Seiten der Hs. als einen großen Fortschritt ansehen kann. Die Edition selbst hat allerdings bezüglich der Präsentation des lat. Textes der Hymnen die Sievers’sche strophische Form der Darbietung in vier Verszeilen beibehalten und ist darin somit nicht den handschriftlichen Vorgaben gefolgt. Jedoch ist jetzt die grundsätzliche Struktur der Interlinearversion in der Weise eindeutig erkennbar, dass nicht erneut die Anordnung einer Bilingue gewählt worden ist. Die ahd. Wörter sind nunmehr ihren lat. Bezugswörtern in kleinerer Schrift und kursiv unmittelbar übergeschrieben. Die in der Hs. anzutreffenden gängigen Abbreviaturen sind in der Edition für den lat. Text wie für den ahd. Teil aufgelöst und in runde Klammern gesetzt worden. Die in der Hs. nur unvollständig mitgeteilten ahd. Wörter sind in der Weise ergänzt worden, dass die ‘fehlenden’ Teile in spitze Klammern eingeschlossen werden. Auf eine ‘Edition’ der besonderen Art, die keinen Anspruch darauf erhebt und nicht als solche angelegt und gedacht ist, sei hier noch besonders hingewiesen. Das von U. Siewerts im Jahre 2010 vorgelegte Werk ‘Qualität und Funktion althochdeutscher Übersetzungen am Beispiel der Murbacher Hymnen’, eine Dissertation aus dem Jahre 2001 an der Freien Universität Berlin, bietet, geordnet nach der liturgischen Verwendungsweise der Hymnen und somit in editorisch ungewohnter Abfolge, eine sich über das gesamte Werk erstreckende, letztlich aber vollständige textliche Wiedergabe aller 27 Hymnen, die allerdings eine Reihe von kleineren Fehlern enthält. Damit ergibt sich von der Art der Präsentation her zum ersten Male eine editorisch geprägte Wiedergabe der ‘Murbacher Hymnen’, die sachlich die bisher beste Anschauung bezüglich des Befundes der Hs. vermittelt. Wiedergaben einzelner Hymnen mit einer Übertragung ins Neuhochdeutsche bieten: K. A. Wipf, Ahd. poet. Texte, S. 116-145 (Hymnen 1, 4, 6, 19 und 27; interlineare Wiedergabe; 2 Verse pro Zeile). – H. D. Schlosser, Ahd. Lit., 2. A. 2004, Nr. 12.1, S. 52-57 (Hymnen 1 und 25; Wiedergabe bilingual; 1 Vers pro Zeile) (s. auch die entsprechenden vorgängigen Aufla-

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gen und Ausgaben von H. D. Schlosser aus den Jahren 1998, 1989 [hier und 1970: auch Hymne 19] und 1970). – St. Müller, Ahd. Lit., S. 208-213 (1. Hymne; interlineare Wiedergabe; 2 Verse pro Zeile). Abbildungen: Einzelne oder auch mehrere Abbildungen der Hs. sind in zahlreichen Werken publiziert worden. Auf deren Angabe muss und kann hier verzichtet werden, da inzwischen die vollständige farbige Wiedergabe des gesamten 6. Faszikels der Hs. über PadRep abrufbar ist. Zudem enthält die Ausgabe von Ch. Simbolotti, Gli ‘Inni di Murbach’, nach S. 180, die vollständige farbige Wiedergabe aller Seiten der ‘Murbacher Hymnen’. Immer noch wertvoll sind auch die Schwarz-Weiß-Faksimiles einiger Seiten der Hs. bei G. Baesecke, Lichtdrucke, Tafel 28 und 31-33: f. 116v (Hb) sowie f. 122v, 123r, 126v (alle Ha).

4. Sprache. Forschungsdiskussionen: Neuere umfangreichere Untersuchungen zur Schreibsprache der ‘Murbacher Hymnen’ sind ein Desiderat der Forschung. Die älteren größeren Untersuchungen, die zudem zum Teil auf falschen Voraussetzungen beruhen, liegen größtenteils schon weit über ein Jahrhundert zurück. Den besten Überblick über diese Arbeiten bietet E. S. Firchow (1972, S. IX-XIII) in ihrer Einleitung zum Nachdruck der Sievers’schen Edition im Jahre 1972. Im Allgemeinen besteht Konsens darin, dass Ha und Hb keinen identischen Sprachstand aufweisen. Ha wird gegenüber Hb bezüglich der meisten sprachlichen Erscheinungen als geringfügig älter angesehen und eindeutig als alem. klassifiziert, während Hb frk. Spuren erkennen lasse, die aber unterschiedlich gedeutet und bestimmt werden. (Zur Schreibsprache der im Faszikel 6 der Hs. Jun. 25 reichlich vertretenen Glossen s. BStK-Nr. 725 (II), S. 1386f.) Eine heftige Forschungsdikussion hat St. Sonderegger durch seine in den 1960und 1970-Jahren in mehreren Veröffentlichungen (s. dazu die von St. Sonderegger, in: 2VL VI, Sp. 810, benannten Beiträge) erstmals vertretene Ansicht ausgelöst, dass mit den ‘Murbacher Hymnen’ der „Sonderfall einer dichterisch ausgreifenden Interlinearversion mit deutlicher stilistisch-rhythmischer Gestaltung“ vorliege (St. Sonderegger, in: 2VL VI, Sp. 808). Er sagt über den ahd. Teil der ‘Murbacher Hymnen’ aus, dass man „diese Übersetzung nicht als reine Prosa auffassen“ dürfe, „sondern als Versuch, der ahd. Fassung poetische Züge im Sinne einer Nachdichtung zu verleihen“ (Sp. 808). Er behauptet u. a. auch: „Oft ergibt sich trotz der interlinearen Übersetzungsstruktur, die sich gelegentlich der Doppelung bedient, ein in sich selbst sinnvoller ahd. Text“ (Sp. 808). Dem ist von verschiedener Seite eindeutig widersprochen worden. So hält dem N. Henkel 1988 (Deutsche Übersetzungen, S. 67-73) in ausführlicher Kritik als erster grundsätzlich entgegen, dass man zu einem solchen Eindruck allenfalls kommen könne, wenn man sich an den gedruckten Ausgaben zu den ‘Murbacher Hymnen’ orientiere – wozu N. Henkel (Deutsche Übersetzungen, S. 69, Anm. 8) speziell auf die Ausgaben von E. Sievers und U. Daab sowie das ‘Althochdeutsche Lesebuch’ verweist –, dass aber die handschriftlich überlieferte Textform die Annahme einer dichterischen Interlinearversion in keiner Weise erlaube.

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Die Interlinearversion der ‘Murbacher Hymnen’ sei „einzig zum Zwecke eines genauen Wortverständnisses der lateinischen Hymnen konzipiert“ worden (N. Henkel, Deutsche Übersetzungen, S. 72). Dies gelte aber auch über die ‘Murbacher Hymnen’ hinaus: „Für eine poetisch geprägte Hymnik in deutscher Sprache gab es im 9. Jahrhundert (und noch lange danach) weder Anlaß noch Wirkungsmöglichkeit“ (S. 72). Auch von Seiten der Hymnar-Forschung ist unter Bezugnahme auf die von St. Sonderegger vertretenen Positionen deutliche Kritik geübt worden. In diesem Sinne äußert H. Gneuss (MJB 35 [2000] S. 235 und Anm. 33-35): „Leider wird die germanistische Fachliteratur zu den Murbacher Hymnen in vielen Fällen ihrem Gegenstand keinesfalls gerecht; das gilt für die Einordnung und Charakterisierung der lateinischen Hymnensammlung, es gilt aber auch für die immer wieder anzutreffende Behauptung von einer vermeintlich dichterischen Interlinearglosse ...“ (s. übereinstimmend mit St. Sonderegger auch W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 203f.; zur Kritik an den Positionen St. Sondereggers s. dagegen auch N. Henkel, in: Übersetzen im Mittelalter, insb. S. 67-73; A. Kraß, in: Übersetzen im Mittelalter, S. 89-91; Ch. März, in: Übersetzen im Mittelalter, S. 73-77, 82-86; s. dazu im Weiteren vergleichend auch St. Müller, in: Volksspr.-lat. Mischtexte, S. 315-319; U. Siewerts, Qualität und Funktion, S. 19f., 25-30). Einer kontroversen Beurteilung unterliegt bis heute die Frage, ob die ‘Murbacher Hymnen’ in irgendeiner Weise mit bestimmten Eintragungen in zwei Reichenauer Bücherverzeichnissen identifiziert werden können. Im ersten der beiden Bücherverzeichnisse, das auf 821/822 zu datieren ist, erscheint die Eintragung De carminibus Theodiscae volumen I. (MBK I, S. 248,4f.) und im zweiten Bücherverzeichnis, das von dem Reichenauer Bibliothekar Reginbert, von dem B. Bischoff meint, dass er die erste Seite (f. 122v) der ‘Murbacher Hymnen’ geschrieben habe (s. oben unter 1.), zwischen 835 und 842 angelegt worden ist, werden zwei Bücher angeführt, die in folgender Weise vermerkt sind: In XXI: libello continentur XII carmina Theodiscae linguae formata und In XXII. libello habentur diversi paenitentiarum libri a diversis doctoribus editi et carmina diversa ad docendum Theodiscam linguam ... (MBK I, S. 260,24-27). Dazu sollen hier stellvertretend nur zwei gegenteilige Positionen angeführt werden. B. Bischoff [FMSt 5 (1971) S. 134 (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 81)] meint zu diesen Einträgen, dass er gegen die „in der germanistischen Literatur verbreitete Tendenz, mit den Murbacher Hymnen die Erwähnung deutscher Carmina in den karolingischen Reichenauer Bibliothekskatalogen in Beziehung zu setzen oder sie gar damit zu identifizieren“, stärkste Bedenken hege. B. Bischoff sieht als Haupteinwand gegen diese These an, „daß eigentliche liturgische Hymnen nur ganz selten zur Variation des Ausdrucks als carmina bezeichnet werden“. Demgegenüber ist A. Masser (Kommentar, S. 42f.; s. auch E. Krotz, Auf den Spuren, S. 222) der Ansicht, dass der Einwand B. Bischoffs zwar bedenkenswert, aber nicht zwingend sei. Man

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dürfe im gegebenen Zusammenhang die Bezeichnung als ‘deutsche Lieder’ nicht pressen. Es könne ja nicht gemeint sein, dass man im klösterlichen Unterrichtsbetrieb anhand ‘deutscher’ Lieder die Muttersprache erlerne, sondern es gehe hier „um volkssprachlichen Text, mit dessen Hilfe ‘gelernt’“ werde, mithin, so ist A. Masser hier wohl zu verstehen, also darum, sich mittels der Volkssprache lat. Texte besser erschließen zu können, was ja genau der primäre Zweck der Interlinearversionen ist und somit auch bei den ‘Murbacher Hymnen’ der Fall sei. – Die Argumentation von A. Masser ist durchaus nachvollziehbar. Gegen die in der Germanistik vielfach erwogene – zumindest unmittelbare – Identifizierung der im Oxforder Cod. Jun. 25 überlieferten ‘Murbacher Hymnen’ oder wenigstens des Reichenauer Teils mit einem der beiden Einträge des zwischen 835 und 842 von Reginbert angelegten Reichenauer Katalogs spricht aber in jedem Fall der bisher für die ‘Murbacher Hymnen’ angesetzte zeitliche Rahmen, denn das hieße ja, dass der Reichenauer Quaternio erst frühestens nach 835/842 nach Murbach gekommen wäre und somit auch der Murbacher Teil der Hymnen erst nach diesem Zeitpunkt entstanden sein könnte. 5. Einordnung: Von der äußeren Systematik der Interlinearversion der ‘Murbacher Hymnen’ her sind die Gemeinsamkeiten mit den anderen altalem. Interlinearversionen – mit Ausnahme der in der erhaltenen Form zeitlich später aufgezeichneten und als ‘Nachklang’ zu betrachtenden Interlinearversion des Psalters (Ú Psalter: ‘Fragmente einer altalemannischen Interlinearversion’) – im Ganzen unübersehbar (Ú ‘St. Galler Interlinearversion zu Joh. 19,38’; Ú ‘St. Pauler Interlinearversion zu Lc 1,64 – 2,51’; Ú ‘Benediktinerregel’). Das betrifft insbesondere die Behandlung der im lat. Text auftretenden Namen, die des Öfteren einfach ohne jede Übertragung ins Ahd. bleiben, Formen der Getrennt- und Zusammenschreibung und die nur in verkürzter Gestalt angegebenen ahd. Wörter (s. dazu im Ganzen wie zu Einzelfragen insb. L. Voetz, Die St. Pauler Lukasglossen, S. 112-162; L. Voetz, Sprachwissenschaft 12 [1987] S. 166-179; N. Henkel, in: Übersetzen im Mittelalter, insb. S. 62-71; A. Masser, Kommentar, S. 27-34; O. Ernst, in: BStH I, S. 282-315 [mit weiterer Literatur]; L. Voetz, in: Neue Perspektiven der Sprachgeschichte, insb. S. 55-58), aber ebenso auch das auffallende Faktum, dass die ahd. Wörter häufig durch Punkte voneinander abgegrenzt werden, was in fast allen Ausgaben nicht sichtbar wird. In dieser äußeren Systematik, die im Zusammenhang der Interlinearversionen in verschiedenen Skriptorien des alem. Raums (mit Gewissheit in St. Gallen, auf der Reichenau und in Murbach) in der Zeit gegen Ende des 8. Jh.s und in den ersten Jahrzehnten des 9. Jh.s zu beobachten ist, stimmt die Interlinearversion der ‘Murbacher Hymnen’ mit der ‘St. Pauler Interlinearversion zu Lc 1,64 – 2,51’ wohl am meisten überein. Im Gegensatz zu dieser Interlinearversion und der zu Joh. 19,38 gehören die ‘Murbacher Hymnen’ aber, ebenso wie die ‘Benediktinerregel’, zu den

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kodikologisch planmäßig (E. Hellgardt, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 262f.) angelegten Interlinearversionen. – Inhaltlich gibt es in ahd. Zeit jedoch nichts, was in irgendeiner Form mit den ‘Murbacher Hymnen’ vergleichbar wäre. Aus dem Bereich der Hymnik ist in dieser Zeit ansonsten nichts überliefert. Das in diesem Zusammenhang fälschlich immer wieder genannte Ú ‘Carmen ad Deum’ ist keine Hymne, sondern ein lat. Reimgebet, worauf schon W. Bulst (ZDA 80 [1944] S. 161f.) im Jahre 1944 – bis heute vergeblich – hingewiesen hat. Zudem ist das ‘Carmen ad Deum’ zumindest in seiner überlieferten Form auch keine Interlinearversion, die sich im Übrigen auch nicht für eine eventuelle ältere Vorlage zweifelsfrei nachweisen lässt (L. Voetz, in: BStH I, S. 892-894). – Bemerkenswerterweise haben aber nicht nur die ‘Murbacher Hymnen’, sondern alle altalem. Interlinearversionen – weder als Interlinearversionen noch in anderer Form – nicht traditionsbildend gewirkt. Dass aus den schon im frühen Ahd. überlieferten Interlinearversionen keine Übersetzungen hervorgegangen sind, zeigt in aller Deutlichkeit, dass die Interlinearversionen nicht als eine Zwischenstufe von den Glossen über die Interlinearversionen zu den Übersetzungen zu verstehen sind, sondern eine ‘Klasse’ sui generis bilden. Das hängt unmittelbar mit ihrer Funktion zusammen, nämlich allein dazu zu dienen, die lat. Texte mittels der Volkssprache erschließen zu wollen. Erstaunen muss es aber zunächst, dass alle altalem. Interlinearversionen auch als Interlinearversionen nicht traditionsbildend gewirkt haben. Da der Grund dafür nicht in der Thematik der Texte liegen kann, gehören doch die Hymnen, die Benediktinerregel, das Neue Testament und der Psalter zu den zentralen Texten und zum Alltag des mönchischen Lebens, muss es andere Umstände gegeben haben, dass die fünf erhaltenen altalem. Interlinearversionen keinerlei erkennbare Nachwirkungen hatten. Es fällt auf, dass die beiden kodikologisch planmäßig angelegten Interlinearversionen der ‘Murbacher Hymnen’ und der ‘Benediktinerregel’, aber auch die der Interlinearversion des Psalters, deren in das erste Drittel des 9. Jh.s zurückverweisende Vorlage man nicht kennt, nicht auf Präsentation hin angelegt sind. Im Falle der St. Pauler Interlinearversion war der zugrunde liegende lat. Bibeltext bereits veraltet und wurde gerade deshalb bearbeitet, wobei der Ausgangstext vielleicht sogar schon bei der Entstehung der Interlinearversion in fragmentierter Form vorlag, und die nur aus wenigen Wörtern bestehende Interlinearversion zu Joh. 19,38 war ohnehin erkennbar nicht zu irgendeiner Außenwirkung gedacht. Von ihrer Entstehung her dienten alle altalem. Interlinearversionen somit offensichtlich eher ‘momentanen’, innerklösterlichen, nicht-repräsentativen Zwecken. Im Falle der Interlinearversionen zu Lc 1,64 – 2,51 und zu Joh 19,38 liegt dabei offenbar eine Form der ‘Eigennutzung’ vor. Für die kodikologisch planmäßigen Interlinearversionen ist aber ganz offensichtlich von einer Nutzung im Bereich der Schule auszugehen (zum monastischen Gebrauchsumfeld der Interlinearvesionen s. u. a. W. Haubrichs, in: Sprache. Literatur. Kultur, insb. S. 243 und 249f.; W.

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Haubrichs, Die Anfänge, insb. S. 200-204; N. Henkel, in: Übersetzen im Mittelalter, S. 71f.; E. Hellgardt, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 263; L. Voetz, in: BStH I, S. 908-910). Das gilt auch und besonders für die ‘Murbacher Hymnen’. So hat schon H. Gneuss (Hymnar und Hymnen, S. 6) früh darauf hingewiesen, dass sehr viele Hymnare, die im Übrigen für sich allein nicht buchfüllend waren, „nicht als liturgische, sondern als Lehr- und Lernbücher gedacht waren“ und oft mit Glossen und Erklärungen versehen wurden. Gerade durch die Hymnare hätten die Lernenden „im Mittelalter oft zum ersten Male Bekanntschaft mit lateinischer Dichtung“ gemacht. Genau dieses Faktum und ein entsprechendes weiteres Umfeld zeigt sich auch im Zusammenhang der beiden auf der Reichenau und in Murbach angelegten Quaternionen, die die ‘Murbacher Hymnen’ überliefern – sowie in vielen anderen Teilen des Codex Jun. 25. 6. Literatur: Für die ältere Literatur sei hier auf die umfangreichen Verzeichnisse von St. Sonderegger, in: 2VL VI, Sp. 809f. [1987] und E. S. Firchow in der Einführung zum Nachdruck von E. Sievers, Die Murbacher Hymnen, New York/London 1972, S. XXXVI-XL verwiesen. Die bereits dort genannte Literatur erscheint hier nur, wenn im vorliegenden Artikel darauf Bezug genommen wird. – G. Baesecke, Lichtdrucke, Tafel 28 und 31-33; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134, hier: S. 107f. und 134 (= B. Bischoff, Mittelalt.. Stud., III, S. 73-111, hier: S. 80f.); B. Bischoff, Katalog, II, Nr. 3803 und 3804, S. 365f.; zur Hs. Ms. Jun. 25 s. im Weiteren auch Nr. 3799-3802 und 3805-3808, S. 364-366; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. XI, S. 30-33 (Hymnen I, III und XXIV); BStK-Nr. 725 (II), S. 1385-1387 (mit umfangreichen Literaturangaben); zur Hs. Ms. Jun. 25 s. im Weiteren auch Nr. 725 (I) und 725 (III), 725 (IV), S. 1382-1385, 1388-1391 (ebenfalls mit umfangreichen Literaturangaben); W. Bulst, Zu den Murbacher Hymnen, ZDA 80 (1944) S. 157-162; U. Daab, Drei Reichenauer Denkmäler der altalemannischen Frühzeit, ATB 57, Tübingen 1963, S. 29-76; O. Ernst, Kürzung in volkssprachigen Glossen, in: BStH I, S. 282-315; D. Ertmer, Studien zur althochdeutschen und zur altsächsischen Juvencusglossierung, StA 26, Göttingen 1994, insb. S. 214-219; H. Fischer, Schrifttafeln, Tafel 6 und S. 9*f.; E. S. Firchow s. E. Sievers; J. Fontaine, Ambroise de Milan, Hymnes. Texte établi, traduit et annoté, Paris 1992; H. Gneuss, Hymnar und Hymnen im englischen Mittelalter. Studien zur Überlieferung, Glossierung und Übersetzung lateinischer Hymnen in England. Mit einer Textausgabe der lateinisch-altenglischen Expositio Hymnorum, Buchreihe der Anglia. Zeitschrift für englische Philologie 12, Tübingen 1968; H. Gneuss, Zur Geschichte des Hymnars, MJB 35 (2000) S. 227-247; J. Grimm, Ad auspicia professionis philosophiae ordinariae in Academia Georgia Augusta rite capienda invitat Jacobus Grimm. Inest hymnorum veteris ecclesiae XXVI. interpretatio theotisca nunc primum edita, Gottingae 1830; W. Haubrichs, Das monastische Studienprogramm der ‘Statuta Murbacensia’ und die altalemannischen Interlinearversionen, in: Sprache. Literatur. Kultur. FS Wolfgang Kleiber, S. 237-261, insb. S. 249f.; W. Haubrichs, Die Anfänge, insb. S. 200-204; E. Hellgardt, Einige altenglische, althoch- und altniederdeutsche Interlinearversionen des Psalters im Vergleich. Mit zehn Abbildungen, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 261-296, insb. S. 262f.; N. Henkel, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der

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frühen Neuzeit. Mit einem Verzeichnis der Texte, MTU 90, München/Zürich 1988, insb. S. 67-73; N. Henkel, Die althochdeutschen Interlinearversionen. Zum sprach- und literarhistorischen Zeugniswert einer Quellengruppe, in: Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Kolloquium 1994. Hg. v. J. Heinzle – L. P. Johnson – G. Vollmann-Profe, Wolfram-Studien 14, Berlin 1996, S. 46-72, mit Abbildungen 1-5, nach S. 483, insb. S. 67-72; M.-H. Jullien, Les sources de la tradition ancienne des quatorze Hymnes attribuées à Saint Ambroise de Milan, RHT 19 (1989) S. 57-189, insb. S. 85-91; A. Kraß, Spielräume mittelalterlichen Übersetzens. Zu Bearbeitungen der Mariensequenz ‘Stabat mater dolorosa’, in: Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Kolloquium 1994, Wolfram-Studien 14, Berlin 1996, S. 87-108, insb. S. 89-91; E. Krotz, Auf den Spuren des althochdeutschen Isidor, insb. S. 212-223; Ch. März, Von der Interlinea zur Linea. Überlegungen zur Teleologie althochdeutschen Übersetzens, in: Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Kolloquium 1994, Wolfram-Studien 14, Berlin 1996, S. 7386; A. Masser, Kommentar zur lateinisch-althochdeutschen Benediktinerregel des Cod. 916 der Stiftsbibliothek St Gallen. Untersuchungen. Philologische Anmerungen. Stellennachweis. Register und Anhang, StA 42, Göttingen 2002; St. Müller, Die Schrift zwischen den Zeilen. Philologischer Befund und theoretische Aspekte einer deutschen ‘Zwischen-Schrift’ am Beispiel der Windberger Interlinearversion zum Psalter, in: Volksspr.-lat. Mischtexte, S. 315329, insb. S. 315-319; St. Müller, Ahd. Lit., S. 208-213 (1. Hymne), 365-367; P. Piper, Nachträge, S. 165-185; H. D. Schlosser, Ahd. Lit., 2. A. 2004, Nr. 12.1, S. 52-57 (Hymnen I und XXV) und S. 191f.; E. Seebold, Chronolog. Wb. II, S. 29f. (T07); E. Sievers, Die Murbacher Hymnen. Nach der Handschrift herausgegeben. Mit zwei lithographischen Facsimiles, Halle 1874; Nachdruck Hildesheim/New York 1975; Nachdruck 1971: Mit einer Einleitung [S. III-XXXIX] von E. S. Firchow, New York/London; Nachdruck 1972: Mit einer Einführung [S. V-XLIX] von E. S. Firchow, New York/London (mit ausführlichen Literaturangaben: S. XXXVI-XL); U. Siewerts, Qualität und Funktion althochdeutscher Übersetzungen am Beispiel der Murbacher Hymnen, Berliner sprachwissenschaftliche Studien 17, Berlin 2010 (= Dissertation FU Berlin 2001); Ch. Simbolotti, Il fenomeno delle ‘doppie glosse’ nella versione alto tedesca antica degli Inni di Murbach, in: I Germani e gli altri, II, Bibliotheca Germanica. Studi e testi 17, Alessandria [[Italien] Verlag: Edizioni dell’Orso] 2004, S. 297-323; Ch. Simbolotti, Gli ‘Inni di Murbach’. Edizione critica, commento e glossario. (Ms. Junius 25), Scuola di Dottorato in Culture Classiche e Moderne. Indirizzo di Culture Moderne e Comparate. Università degli Studi di Torino. Studi e Ricerche 1, [[Italien] Verlag: Edizioni dell’Orso] 2009; St. Sonderegger, in: 2VL VI, Sp. 804-810 (mit ausführlichen Literaturangaben) und XI, Sp. 1043 [Nachtr.]; L. Voetz, Die St. Pauler Lukasglossen. Untersuchungen – Edition – Faksimile. Studien zu den Anfängen althochdeutscher Textglossierung. Mit 4 farbigen Abbildungen, StA 7, Göttingen 1985; L. Voetz, Formen der Kürzung in einigen alemannischen Denkmälern des 8. und 9. Jahrhunderts, Sprachwissenschaft 12 (1987) S. 166-179; L. Voetz, Einige Beobachtungen zur Getrennt- und Zusammenschreibung im Althochdeutschen, in: Neue Perspektiven der Sprachgeschichte. Internationales Kolloquium des Zentrums für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg 11. und 12. Februar 2005. Hg. v. U. Götz – St. Stricker, Germanistische Bibliothek 26, Heidelberg 2006, S. 51-64; L. Voetz, Durchgehende Textglossierung oder Übersetzungstext: Die Interlinearversion, in: BStH I, S. 887-926, insb. S. 905f. und passim; C. Vogel, L’hymnaire de Murbach contenu dans le manuscrit Junius 25 (Oxford, Bodleian. 5137). Un témoin du

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cursus bénédictin ou cursus occidental ancien, Archives de l’Église d’Alsace 25. Nouv. Série 9 (1958) S. 1-41; K. A. Wipf, Ahd. poet. Texte, S. 116-145 (Hymnen 1, 4, 6, 19 und 27), 303307 und 309-313.

LOTHAR VOETZ

‘Muspilli’ Bairisches Fragment einer poetischen Bußrede mit Bezug auf die christliche Eschatologie. Erhalten sind (nach der Edition von E. v. Steinmeyer) 104 meist alliterierende Langverse. Anfangs fehlt wahrscheinlich eine Seite mit ca. 25 Versen, am Ende eine Seite mit maximal 30 Versen (Innenseiten der Vorder- und Rückendeckel des ehemaligen Einbands der Handschrift, s. u.). 1. Überlieferung: Trägerhandschrift ist München, BSB Clm 14098 aus dem Kloster St. Emmeram, Regensburg: zwei nachträglich zusammengebundene Handschriften, hier der zweite, nachträglich beigebundene Band f. 60, fol. 611 und f. 612 bis f. 121; Hauptinhalt: Quodvultdeus Carthaginiensis (Ps.-Augustin), Sermo de symbolo contra Iudeos (darin Endzeitgedicht der erythräischen Sibylle); am Schluss der kostbaren Handschrift, f. 120v, kalligraphische Widmungsverse, die das Buch als Geschenk Erzbischof Adalrams von Salzburg (821-836) an den puer Ludwig den Deutschen (um 806-876) zu erkennen geben. Damit ist zugleich die Trägerhandschrift datiert. Bei der späteren Zusammenbindung gingen ihre Vorder- und Rückendeckel verloren. Die ‘Muspilli’-Fragmente beginnen auf der frei gebliebenen Anfangs-Seite f. 611r, sind fortgesetzt auf den unteren Rändern von f. 119r-120r und den freigebliebenen Schluss-Seiten f. 120v-121r/v. Der spätere, nicht genau datierbare Eintrag des ‘Muspilli’ erfolgte „wahrscheinlich am Hofe Ludwigs des Deutschen [also wohl vor 876, E. H.] durch eine des Bücherschreibens ungewohnte Hand“ (B. Bischoff, Die südostdt. Schreibschulen, II, S. 151 mit Lit.). „Wer anders kann der Schmierfink gewesen sein als der Besitzer selbst, der ‚Knabe Ludwig‘“ fragt W. Mohr und verweist, wenn auch skeptisch, auf R. van Delden. 2. Ausgaben – Faksimiles – Übersetzungen: (Auswahl) E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XIV, S. 66-81; MSD Nr. III, I, S. 7-15; II, S. 31-41. – Zu Abbildungen und Digitalisat vgl. PadRep. – Text und Übersetzung: W. Haug – B. K. Vollmann, Frühe dt. Lit., S. 50-57, 1068-1080 (mit Lit.); St. Müller, Ahd. Lit., S. 200-209. 3. Inhalt und Aufbau: Es wechseln kurze, teils erzählende teils ermahnende Abschnitte. Die erzählenden Teile profilieren oft Oppositionen. Teil 1 (1-30): Erzählung: Beim Tode des Menschen kämpfen (pagant) himmlische und höllische Heere (here) um seine Seele. – Mahnung: Bei Lebzeiten soll also die Seele sich sorgen, von welchem Heer sie dann geholt wird. – Erzählung:

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Auf der einen Seite steht die Gefolgschaft (kisindi) Satans, die sie alsbald in die Schrecknisse der Hölle leitet – auf der anderen Seite steht die Schar der Engel; auch sie bringt die Seele sogleich zu Haus und Wohnsitz (pu, hus, selida) im Reich der Himmel (himilo richi) und zu den Freuden des Paradieses. – Mahnung: Deswegen soll jedermann besorgt sein, Gottes Willen zu tun, denn die höllischen Strafen sind entsetzlich, und kein Hilfeschrei wird ihm nützen, wenn er seine Verbrechen (uirina) büßen (stuen) soll. Teil 2 (31-36): Aspektwechsel, Thema: Endzeitgericht. Erzählung: Wenn dann der mächtige König (der mahtigo khuninc) den Gerichtsbann ausruft (daz mahal kipannit), kann sich keiner entziehen (den pan furisizzan) und jeder muss lückenlos über all sein Tun Rechenschaft geben (az rahhu stanten). Teil 3 (37-72: Rückblende, Erzählung: Die Kenner des Zweikampfrechtes (uueroltrehtuuison) lehren: Zuvor werden als Zweikämpfer (khenfun) Elias und der Antichrist gegeneinander antreten; Elias für die Seite der Gerechten; ihn unterstützt der Himmelskönig– auf der Seite des Antichrist der Satan; aber er wird auf dem Kampfplatz (uuicsteti) unterliegen (sigalos uuerdan). Viele Gottesgelehrte (gotman) erwarten jedoch, dass Elias dabei verwundet (aruuartit) werden wird. Wenn dann sein Blut auf die Erde tropft, wird das einen alles vernichtenden Weltenbrand bewirken, und mit dem Feuer des Weltenbrandes kommt der Tag des Gerichtes (stuatago, muspilli). – Mahnung: Verbrannt werden dann Land und Grenzmark (marha) sein, wo man an der Seite seiner Gesippen (mit sinen magon) stritt. Die Seele ist verpfändet (pidungan) und weiß nicht, mit welcher Buße sie sich lösen kann (niuueiz mit uuiu puaze), welchen Fürsprecher (uuartil) sie haben wird, wenn sie mit Bestechungsgeld (miata) das Recht beugen will (marrit daz rehta). – Weiterführung der Erzählung: Gut wird es beim Endgericht den Gerechten ergehen – schlimm aber denen, hinter deren bestochenem Richter der Teufel verborgen (kitarnit) steht, der von all ihren Untaten weiß und sie offenbaren wird. Mahnung: Deswegen sollte niemand Bestechungsgeld (miatun) annehmen. Teil 4 (73-104): Weiterführung von Teil 2. Erzählung: Wenn das Hornzeichen zum Sühnegericht geblasen wird, macht sich der Sühner (der da suannan scal) mit einem unbesiegbaren Heer zur Richtstätte (mahalsteti) auf, die dort abgesteckt (kimarchot) ist. Die Toten werden aus den Gräbern auferstehen, jeder um seinen Rechtsstandpunkt zu verteidigen (sin reht kirahhon), und es wird über Tote und Lebende wegen all ihrer Taten bis ins Kleinste geurteilt werden. Keine List wird nützen, nichts wird man vor dem Gerichtskönig verbergen (gitarnan) können. – Mahnung: außer man habe seine Verbrechen (uirina) mit Almosen und Fasten gebüßt; zuversichtlich darf sein, wer das getan hat. – Erzählung: Dann wird das Kreuz vorangetragen werden, an dem Christus getötet wurde, dann wird er die Wunden vorweisen, die er als Mensch wegen der Liebe zu den Menschen empfangen hat …

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4. Zur Frage der Einheitlichkeit des Gedichtes: In der Forschung wurde vielfach vermutet, das ‘Muspilli’ sei aus mehreren, ursprünglich voneinander unabhängigen Stücken zusammengesetzt. Für sie seien verschiedene Vorstufen rekonstruier- und verschiedene Quellen erschließbar. Benannt wurden im Besonderen Stellen aus dem ae. ‘Christ III’ (G. Baesecke), aus der nordischen Mythologie (G. Neckel) sowie aus christlichen Quellen des Orients (R. Heinzel, A. Olrik) und Okzidents (A. Groos – Th. D. Hill) zum Thema Eschatologie. Doch dem Eindruck, das Gedicht sei aus verschiedenen Teilen uneinheitlich zusammengesetzt, liegen eher neuzeitliche Kohärenzerwartungen für einen poetischen Text zugrunde, die bei einem frühmittelalterlichen, volkssprachigen Text nicht unterstellt werden müssen. Das Fragment lässt sich sehr wohl als predigtartige Rede (G. Grau, W. Mohr) verstehen, die den Themenkomplex Buße/Recht anhand der christlichen Endzeitmotivik zusammenhängend entfaltet. Die Buße-/Recht-Thematik zieht sich durch den ganzen Text, ebenso der Wechsel zwischen erzählenden und mahnenden Abschnitten. Für den vermeintlichen Bruch zwischen Teil 1 und 2 lässt sich gelten machen: Die Frage, ob ein sofortiger Eingang der Seele ins Himmelreich bzw. in die Hölle schon beim Tode oder erst am Ende der Zeiten beim Letzten Gericht stattfinde, wurde in der christlichen Literatur traditionell alternativ und mehr oder weniger unverbunden behandelt (W. Mohr). Von einem volkssprachigen Gedicht hier eine Entscheidung oder Harmonisierung zu erwarten, wäre unangemessen; das Verbindende liegt eben beim Thema Buße/Recht. – Auch ein Bruch zwischen Teil 2 und 3 liegt nicht vor, wenn man wahrnimmt, dass Teil 3 gegenüber Teil 2 eine zeitliche Rückblende (vgl. o. die Inhaltsangabe) darstellt, nach der dann in Teil 4 die Thematik von Teil 2 wieder aufgenommen und weitergeführt wird. Hiermit liegt eine Kompositionstechnik vor, die typisch für germanische Epik ist und nach der z. B. der Aufbau des ‘Beowulf’ für viele Teile als interlacing structure beschrieben wird. 5. Wortschatz und Ethos: Der Wortschatz des ‘Muspilli’ zeigt eine Fülle von Wörtern, die dem Bereich der germanisch-deutschen Rechtssprache und des Rechtsbrauchtums angehören (s. o. die Inhaltsangabe); I. Reiffenstein sieht darin den Einfluss irischer Missionare. Die damit verbundenen Vorstellungen werden, wie es natürlich ist für einen volkssprachigen literatus, der in der mündlichen Dichtungstradition steht, auf die selbstverständlich durchaus christlich und heilsgeschichtlich verstandene Bußthematik übertragen. Zum anderen spielt Motivik von Kampf, Gefolgschaft und Herrschaft eine unverkennbare Rolle (s. auch hierzu o. die Inhaltsangabe). Wiederum werden hier auf natürliche Weise traditionelle Ideale (nicht Realitäten) adliger, letztlich germanischer Krieger- und Herrschaftsethik dem neuen christlichen Ethos der Buß- und Rechtsthematik im Sinne eines Paradigmenwechsels anverwandelt, ohne dass deswegen der Fortbestand einer heidnisch-germanischen

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Grundgesinnung gewittert oder geargwöhnt werden sollte. Gegebenenfalls kann das schließlich auch für den umstrittenen Hintergrund der Eschatologie germanischer Mythologie gelten, der in der Forschung diskutiert wurde (G. Neckel). Jedenfalls verweist all dies zusammengenommen auf eine adlige Rezipientenschaft des 9. Jh.s, an die sich das Gedicht richtet. Ungeklärt und anscheinend kaum klärbar ist die Etymologie des rätselhaften Wortes muspilli, das der Entdecker und erste Editor, J. A. Schmeller, als Titel des Gedichtes wählte. Das Wort ist noch zweimal im Ú ‘Heliand’ und 15mal im Altnordischen überliefert (alle Belege bei H. Finger, zusammenfassend W. Mohr), nicht im Altenglischen. Im Norden ist es der Eigenname einer dämonisch-mythischen Gestalt, das ‘Muspilli’ und der ‘Heliand’ gebrauchen es für einen Begriff, der aller Wahrscheinlichkeit nach den Schreckenstag des Gerichtes am Ende der Zeiten meint. Denkbar ist auch hier Bedeutungsübertragung nach einem vorliterarischen Wort im Zusammenhang eschatologischer Vorstellungen. 6. Zu metrischer Form und Stil: Zu unterscheiden sind nach den Kriterien freie Versfüllung, Rhythmus und Verteilung der alliterierenden Wörter Stabreimverse des klassischen Maßes von Versen, die dieser Norm nicht entsprechen (A. Heusler, § 435). Die meisten Verse fügen sich dem klassischen Maß. Einige aber haben weder Stab- noch Endreim (18, 48, 97, unklar 99/100) und man kann fragen, ob diese Stellen als Prosa-Einschübe zu verstehen sind oder ob Textverderbnis vorliegt. Kombination von End- und Stabreim in den Versen 28, 37 und 87. (Noch die frmhd. Dichtung hat solche Kombinationsformen [‘Ezzolied’, ‘Memento mori’, ‘Genesis’]). Ferner gibt es vier stablose Reimverse mit glatt oder annähernd glatt alternierendem Rhythmus (61, 62 und 78,79), beide Male paarweise ähnlich der Otfrid-Strophe, wie wenn es – hier oder dort – gezielte Zitate aus einem anderen Gedicht wären. Ein glatt alternierender Stabreimvers ohne Endreim (14) begegnet wörtlich auch bei Ú Otfrid (I,18,9) – bewusstes Zitat hier oder dort? Hier kann auch ein althergebrachter Formelvers angenommen werden. Man sieht aber: Für die Deutung des Gesamtbefundes wäre vor allem das Verhältnis zum Otfrid-Vers zu klären. Zur Frage des Verhältnisses zum Endreimvers urteilt A. Heusler abschließend: „So ist das ‚Muspilli‘ als ganzes kein Mittelglied zwischen altem und neuem Verse. Eine beträchtliche Bruchzahl seiner Verse fällt aus der älteren Form: die Hauptmenge fließt aus dem Gefühl für agerm. Rhythmus.“ (S. 6). An Stellen, die durch ihre Dramatik herausragen, fällt der Einsatz von Variationsstil auf, wie man ihn aus dem ‘Heliand’ und der ae. geistlichen Epik kennt. Die Tonlagenregister wechseln im Übergang von erzählenden und mahnenden Abschnitten. 7. Literatur: Die ältere Literatur (bis 1987) bei H.-H. Steinhoff, ‘Muspilli’, in: 2VL VI, Sp. 821-828. – G. Baesecke, ‘Muspilli’, BSB 1918 (= G. Baesecke, Kleine metrische Schriften,

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hg. v. W. Schröder, München 1968, S. 55-69); G. Baesecke, PBB 46 (1922) S. 431-494 (= G. Baesecke, Kleinere Schriften, S. 38-85); G. Baesecke, Der Voc. Sti. Galli, S. 124-138; G. Baesecke, Die karlische Renaissance und das deutsche Schrifttum, DVJS 23 (1949) S. 143216 (= G. Baesecke, Kleinere Schriften, S. 377-445); G. Baesecke, Muspilli II, ZDA 82 (1948/1950) S. 199-239; B. Bischoff, Die südostdt. Schreibschulen, S. 76f., 151 (mit Lit.); R. van Delden, Die sprachliche Gestalt des Muspilli und ihre Vorgeschichte im Zusammenhang mit der Abschreiberfrage, PBB 65 (1942) S. 303-329; H. Finger, Untersuchungen zum Muspilli, GAG 244, Göppingen 1977; G. Grau, Quellen und Verwandtschaften der älteren germanischen Darstellungen des Jüngsten Gerichtes, Halle 1908; U. Groenke, Stabreim und Endreim: Ein Zwiespalt? Jahrbuch für Internationale Germanistik 14/1 (2002) S. 75-86; A. Groos – Th. D. Hill, The Blood of Elias and the Fire of Doom: A New Analogue for ‘Muspilli’, vss. 52ff., NPhM 81 (1980) S. 439-442; W. Haug, Nussknackersuite, in: FS für Ingo Reiffenstein, hg. v. P. K. Stein, GAG 478, Göppingen 1988, S. 287-308; R. Heinzel, Kleine Schriften, Heidelberg 1907, S. 425-426 (= Rezension zur Literaturgeschichte von J. Kelle); A. Heusler, Deutsche Versgeschichte, II, 2. A. Berlin 1956; H. Jeske, Zur Etymologie des Wortes muspilli, ZDA 135 (2006) S. 425-434; W. Laur, Muspilli. Ein Wort christlicher oder vorchristlicher germanischer Eschatologie, in: Althochdeutsch II, S. 1180-1194; R. L. Morris, Word Order and Salience in the Old High German Muspilli, LB 78 (1989) S. 129-144; A. Olrik, Ragnarök. Die Sagen vom Weltuntergang, Berlin/Leipzig 1922; V. A. Pakis, The Literary Status of Muspilli in the History of Scholarship, ABÄG 65 (2009) S. 41-60; L. Papo, Il Muspilli e le sue probabili fonti. Prospero, Rivista di culture anglo-germaniche 3 (1996) S. 127-180; I. Reiffenstein, Das ahd. ‘Muspilli’ und die Vita des Hl. Furseus von Péronne, Südostdeutsches Archiv 1 (1958) S. 88-104; I. Reiffenstein, Das Althochdeutsche und die irische Mission im oberdeutschen Raum, Innsbruck 1958; I. Reiffenstein, Die althochdeutsche Kirchensprache, Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 6 (1959) S. 41-59; I. Reiffenstein, Rechtfragen der deutschen Dichtung des Mittelalters, Salzburger Universitätsreden H. 12, Salzburg/München 1966; R. Schützeichel, Zum Muspilli, in: FS für Ingo Reiffenstein, Hg. v. P. K. Stein, GAG 478, Göppingen 1988, S. 15-30; V. Santoro, Un dimenticato problema ecdotico del Muspilli: le trascrizioni di Docen, Maßmann e Schmeller, Linguistica e Filologia 25 (2007) S. 207-235; M. M. Witte, Elias und Enoch als Exempel typologischer Figuren und apokalyptischer Zeugen, Frankfurt a. M. et al. 1987.; E. Wunderle, Katalog der lateinischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die Handschriften aus St. Emmeram in Regensburg, I: Clm 14000-14130, Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis IV,2,1, Wiesbaden 1995, S. 238-241.

ERNST HELLGARDT

‘Niederdeutscher Glaube’ Ú ‘Altsächsisches/frühmittelniederdeutsches Glaubensbekenntnis’

Notker III. von St. Gallen

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Notker III. von St. Gallen (Notker der Deutsche, Notker Labeo, Notker Teutonicus) Inhalt: I. Leben und Persönlichkeit. II. Werke: 1. Kommentierte Übersetzungsbearbeitungen, 1.1. Ahd. Übersetzung von Boethius, ‘De consolatione philosophiae’, 1.2. Ahd. Übersetzung von Martianus Capella, ‘De nuptiis Philologiae et Mercurii’, Buch I-II, 1.3. Ahd. Übersetzung von Boethius’ Bearbeitung der ‘Categoriae’ des Aristoteles. 1.4. Ahd. Übersetzung von Boethius’ Bearbeitung der Schrift ‘De Interpretatione’ (Ȇİȡ¤ ‹ȡȝȘȞİȓĮȢ) des Aristoteles, 1.5. Ahd. Übersetzung des Psalters. – 2. Lehrschriften, 2.1. ‘Distributio’ (lat.), 2.2. St. Galler Traktat ‘Quomodo VII circumstantie rerum in legendo ordinande sint’ (lat.), 2.3. ‘De arte rhetorica’ (lat. mit ahd. Begriffsübersetzungen, Beispielsätzen und Beispielversen), 2.4. ‘De partibus logicae’ (lat. mit ahd. Sprichwörtern als Beispielen), 2.5. ‘De dialectica’ (lat.), 2.6. ‘De syllogismis’ (lat.-ahd.), 2.7. ‘De definitione’ (lat., teilweise ahd. übersetzt und erklärt), 2.8. ‘Computus’ (lat. und ahd.), 2.9. ‘De musica’ (ahd.). 2.10. Notkers Brief (lat.). – 3. Bezeugte, aber nicht erhaltene Werke, 3.1. Arithmetik. 3.2. Theologie. 3.3. Hiob. – 4. Fragliche Übersetzungsbearbeitungen. III. Überlieferung. Literatur zur Überlieferung. IV. Ausgaben. V. Literaturgeschichtliche Bedeutung. VI. Nachwirkung. VII. Literatur.

I. Leben und Persönlichkeit: Notker III., Übersetzer und Kommentator lat. Schulautoren und biblisch-theologischer Schriften, war Mönch und Magister im Benediktinerkloster St. Gallen. Er stammte aus einem vornehmen thurgauischen Geschlecht, das in enger Beziehung zum Kloster St. Gallen stand: Der Dekan Ekkehard I. (um 910-973), der sein Onkel war, führte dem Kloster vier seiner Neffen zu, die später dort hohe Ränge bekleideten (‘Casus s. Galli’, c. 80). Um 950 dürfte Notker geboren sein, gestorben ist er als über Siebzigjähriger am Vorabend des St. Peterstages, also am 28. Juni 1022 (St. Galler Totenbuch, S. 45) an einer Seuche, die das aus Italien zurückkehrende Heer Heinrichs II. eingeschleppt hatte (‘Annales Sangallenses maiores’). Den Dritten seines Namens, tertius aequivocorum, nennen ihn die meist Ekkehart IV. zugeschriebenen Hiob-Verse und nennt Ekkehart IV. ihn im Memoriale (V. 68) zur Unterscheidung von den gleichnamigen St. Galler Mönchen Notker I. Balbulus oder poeta, Notker II. medicus oder Piperisgranum (‘Pfefferkorn’) sowie Notker abbas (Abt des Klosters 971-975). Von seinem Schüler Ekkehart IV. und im St. Galler Totenbuch wird Notker III. als Notker(us) magister tituliert. Diese Bezeichnung findet sich auch in den Werküberschriften der Münchener und Isnyer Computus-Hss. (Incipit tractatus notkeri magistri bzw. Incipit compotus notkeri magistri teutonice). Eine möglicherweise schon zeitgenössische Klostertradition gab Notker daneben den individualisierenden Beinamen Labeo ‘Breitlippe’ (vgl. die Hiob-Verse und deren Echo bei dem humanistischen St. Galler Gelehrten und Geschichtsschreiber Joachim von Watt: Und zellend dabei vil Notkers: ... den dritten Labeonem, mit dem großen maul – dem schreibt man den teutschen psalter zĤ ..., s. St. Sonderegger, 1982, S. 26). In einem – vermutlich von Ekkehart verfassten – Distichon, das die Einsiedler Abschrift des Psalters beschließt und das dem Übersetzer die Freuden des Paradieses wünscht, trägt Notker den Beinamen ‘der Deutsche’ (Teutonicus).

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Ausgaben: ‘Annales Sangallenses’: Die annalistischen Aufzeichnungen des Klosters St. Gallen, hg. v. C. Henking, Mitteilungen zur Vaterländischen Geschichte 19, St. Gallen 1884, S. 195-368; Ekkehart IV., ‘Casus sancti Galli’, hg. v. H. F. Haefele [mit dt. Übers.], Darmstadt 1980, und ‘Liber Benedictionum’ nebst den kleineren Dichtungen aus dem cod. Sang. 393, hg. v. J. Egli, Mitteilungen zur Vaterländischen Geschichte 31, St. Gallen 1909; Konrad von Fabaria, ‘Continuatio Casuum sancti Galli’. St. Galler Profeßbuch: Libri confraternitatum Sancti Galli, Augiensis, Fabariensis, ed. P. Piper, MGH Libri confraternitatum, Hannover 1884, S. 111-113; P. M. Krieg, Das Profeßbuch der Abtei St. Gallen, Phototypische Wiedergabe mit Einführung und einem Anhang, Codices liturgici II, Augsburg 1931; St. Galler Totenbuch und Verbrüderungen, hg. v. E. Dümmler – H. Wartmann, Mitteilungen zur Vaterländischen Geschichte 11, St. Gallen 1896; Joachim von Watt (Vadian), Deutsche historische Schriften, hg. v. E. Götzinger, I-III, St. Gallen 1875-1879; M. Borgolte – D. Geuenich – K. Schmid, Subsidia Sangallensia I, St. Gallen 1986, Reg.

Notkers Leben und Persönlichkeit werden punktuell erfassbar in wenigen Zeugnissen, die aus der Haustradition des Klosters St. Gallen erhalten sind. Bedeutsam sind vor allem die Verse, die Ekkehart IV. dem ehrenden Andenken seines Lehrers widmete (Edition, Übersetzung und ausführliche Kommentierung bei E. Hellgardt, 2010): (1) das Epitaph auf Notker und auf drei weitere, im selben Grab bestattete Lehrer des Klosters, (2) das Sterbegebet Notkers und Ekkeharts Fürbittgebet, (3) acht Hexameter zu Notkers ‘Hiob’ und (4) der Preis der ‘Zellengenossen’ der Klostergründer Gallus und Otmar (‘De aliis sincellitis amborum’), der in 22 Versen über Notkers vorbildhaftes Sterben gipfelt, einem poetischen ‘Nachruf’ oder memoriale. In letzterem zeichnet Ekkehart ein „Porträt des ob seiner Leistung bewunderten Meisters, des ob seiner Güte geliebten Lehrers, des ob seines Sterbens verehrten Mönches“ (J. Duft, S. 191f.). Als erster habe Notker die ‘barbarische’ Volkssprache geschrieben, plures libros teutonice exponens (Glosse zu V. 62); namentlich wird neben der Psalter-Übertragung die des Buches Hiob gerühmt, jenes opus mirandum, das der Lehrer am Tag seines Todes abschloss. Ekkehart hebt die intellektuelle Leistung dieser Auslegung in der Nachfolge Gregors des Großen hervor, die erreichte Klarheit (apertus; Epitaph V. 3) und die generelle Motivation aus der Liebe des Lehrers zu seinen Schülern (propter caritatem discipulorum, V. 62; Hiob-Verse: pectore mandatum gestans labio quoque latum ‘trug im Herzen und auf den Lippen die weiteste Liebe’). Das Andenken Notkers reicht im Galluskloster bis ins Spätmittelalter, wie die ‘Continuatio Casuum sti. Galli’ des Konrad von Fabaria (2. Viertel 13. Jh.) bezeugt, die unter den bedeutenden Gelehrten auch Nogkerum magistrum artis theorice non pigrum nennt (c. 3). Ein wichtiges Zeugnis für Notkers Persönlichkeit ist die Abschrift eines Briefes (Brüssel, BR, Nr. 10615-10729, f. 58ra, aus dem 12. Jh.), den Notker wenige Jahre vor seinem Tod an den befreundeten Bischof Hugo von Sitten (998 bis 1017 urk. bezeugt) richtete (ed. J. C. King – P. W. Tax, Nkl, S. 347-349). Darin entsteht das

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Bild eines gelehrten und in gelehrtem Austausch stehenden Mannes, dessen Werk jedoch allein aus einer pädagogischen Wurzel entspringt: Damit die Klosterzöglinge (scolastici nostri) Zugang zu solcher geistlichen Literatur bekämen, wie sie im Unterricht zu lesen sei, und weil das volle Verständnis solcher Texte nicht vermittelt werden könne ohne Vorstudien der artes, habe er lat. Texte in die Volkssprache übersetzt und erläutert (Z. 7-12). Die Beschäftigung mit der nur als Hilfsmittel (instrumenta) zu wertenden Artesliteratur sei dabei (auch biographisch) ein notwendiger Umweg auf dem Weg zu den diuina gewesen, zu denen er im Alter mit der Psalterund der Hiob-Übersetzung zurückgekehrt sei (Z. 16f.). II. Werke: Notkers vielfältiges Werk hat einen einzigen Ausgangspunkt: den klösterlichen Schulunterricht. In seinem Brief an Bischof Hugo von Sitten (J. C. King – P. W. Tax, Nkl, S. 347-349) umreißt Notker das didaktische Programm seiner Schriften: Da die Klosterschüler ohne das Vorstudium gewisser Disziplinen die kirchlichen Bücher nicht vollständig verstehen könnten und da er wünsche, dass sie Zugang zu diesen Büchern hätten, wage er das ungewohnte Unterfangen, lat. Texte in ‘unsere’ Sprache zu übertragen und das syllogistisch, figürlich und rhetorisch Ausgedrückte mittels Aristoteles, Cicero oder eines anderen artes-Schriftstellers zu erhellen (Z. 712). Die hiermit umrissene Methode der kommentierten Übersetzung ins Althochdeutsche (im Brief ist sie bezeichnet als vertere et elucidare bzw. interpretari et exponere, Z. 10f., 17) hat Notker auf Werke angewendet, die Eckpfeiler des zeitgenössischen Schullektürekanons waren: Boethius, ‘De consolatione philosophiae’; *Boethius, ‘De sancta trinitate’; Martianus Capella, ‘De nuptiis Philologiae et Mercurii’; Aristoteles/Boethius, ‘Categoriae’; Aristoteles/Boethius, ‘Peri hermeneias’; *‘Principia arithmeticae’; Psalter und *Hiob (nicht erhaltene Bearbeitungen sind mit * markiert). Neben diesen Übersetzungswerken steht eine Vielzahl meist lat. Lehrschriften zu Teilbereichen der septem artes liberales. Letztere unterscheiden sich in ihrer textuellen Gestalt wenig oder gar nicht vom lat. Schulschrifttum des frühen Mittelalters, weshalb viele von ihnen erst vor wenigen Jahren als mutmaßliche Werke Notkers des Deutschen erkannt wurden (vgl. P. W. Tax, 2002). Dagegen hat Notker seinen Übersetzungsbearbeitungen eine einzigartige und charakteristische Form der Textorganisation gegeben (S. Glauch, 2000, S. 113-170, ausgehend vom Martianus Capella; Ch. Hehle, 2002, S. 104-128 zur ‘Consolatio Philosophiae’). Zunächst ist der lat. Ausgangstext in Abschnitte segmentiert, die mit lat. Überschriften versehen sind. Innerhalb dieser Kapitelabschnitte ist der lat. Grundtext wiederum in Sätze oder Teilsätze zerlegt, deren Wortlaut syntaktisch vereinfacht und eventuell durch kurze eingeschobene lat. Kommentarglossen präzisiert ist. Ein theoretisches Fundament findet die Methode der syntaktischen Analyse und Umgruppierung in dem grammatischen Traktat ‘Quomodo VII circumstantie rerum

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in legendo ordinande sint’ (s. u. 2.2). Dem solcherart modifiziert wiedergegebenen lat. Ausgangstext folgt die ahd. Übersetzung, die wiederum nicht selten durch ahd. Erläuterungen erweitert ist. Zwischen ahd. Übersetzung und ahd. Kommentierung besteht keine scharfe syntaktische Grenze, jedoch eine sprachliche Differenz: In den Erläuterungen, die sich gelegentlich zu Exkursen ausweiten, ist der Anteil lat. Termini (vor allem der artes und der Theologie) deutlich höher als in den Übersetzungspassagen (sog. Mischsprache oder Mischprosa). Auf dem Wege dieser vielfältigen Anreicherung integrieren Notkers Textbearbeitungen Elemente, die in der sonstigen zeitgenössischen Praxis der Erschließung von Schultexten getrennt stehen, nämlich 1. der lat. auctor-Text, 2. die Glossierungen, die in zeitgenössischen lat. Schulhss. in der Regel interlinear und marginal angebracht sind, sowie 3. Exzerpte aus Kommentaren, die ihres Umfangs wegen sonst meist separat überliefert sind; und sie integrieren all diese Bestandteile als zeilenweise fortlaufenden Text im Gegensatz zum typischen Layout der glossierten Seite der frühma. Schulhss. Anders als lat. Textkommentare, die oft unter dem Namen des Kommentators umliefen, sind Notkers Bearbeitungen wie glossierte auctor-Abschriften überliefert, d. h. unter dem Namen der Autoren (Boethius, Aristoteles, etc.) allein. Notker nimmt mit seinen Übersetzungsbearbeitungen also nicht in Anspruch, neue ‘Werke’ zu schaffen. Inwiefern die schriftlich fixierten Bearbeitungen in der Praxis des Schulbetriebs in Konkurrenz zu den sonst üblichen annotierten auctor-Fassungen treten sollten und konnten, ist noch zu wenig untersucht. In seinem Brief bezeichnet Notker die spezifische Form seiner Auseinandersetzung mit den auctor-Texten als das Wagnis einer nahezu unüblichen Sache (ausus sum facere rem pene inusitatam, Z. 9f.). Das wird nicht die Tatsache des Übersetzens generell meinen, da die Tradition dieser Praxis in St. Gallen bekannt gewesen sein muss, zumal in der funktionellen Ausrichtung ahd. Textanteile auf den Erwerb lat. Sprachkenntnisse oder die Verständnisförderung lat. Texte. Vielmehr dürfte Notker Innovation und ‘Wagnis’ in der Wahl der Volkssprache für die anspruchsvolle schulwissenschaftliche Kommentierung und Exegese gesehen haben. Notkers Werke können verschieden gruppiert werden, sei es nach der Reihenfolge ihrer Nennung im Brief (so R. Kögel, S. 603-613; G. Ehrismann, S. 426-451; W. Haubrichs, S. 223f.; Ch. Hehle, 2002, S. 59-64), sei es nach systematischen Gesichtspunkten (Artes, poet. Werke der Schullektüre, Bibel und Theologie, so St. Sonderegger, in: 2VL VI, Sp. 1218-1222; D. Kartschoke, S. 193-196; S. Glauch, 2000, S. 27-42). Ein relativ chronologischer Ansatz der Werke, wie er des öfteren vorgeschlagen wurde, scheint im Einzelnen wenig aussichtsreich, weil Notker an vielen der Texte parallel gearbeitet haben dürfte. Die Übersetzungtechnik ist in den größeren Bearbeitungen sehr einheitlich und macht überall denselben völlig ausgereiften Eindruck. Es ist anzunehmen, dass Arbeitsfassungen dieser Übersetzungen immer

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wieder ergänzt und korrigiert wurden und die Schlussfassungen deshalb das reifliche Resultat jahrelanger schulischer Lektürepraxis waren (zur Vermutung, darauf seien Asymmetrien der Kommentierung zurückzuführen, vgl. P. W. Tax, Bd. 8A [Npl], S. XXXIII). Auch die rhetorisch-logischen Kompilationen lassen sich ebenso wie als ‘Vorstudien’ der größeren Übersetzungen (so St. Sonderegger, in: 2VL VI, Sp. 1216) auch als deren Nebenerträge begreifen. Das Argument, alle im Brief nicht genannten Schriften könnten später, d. h. in den letzten Lebensjahren entstanden sein, ist nicht triftig, weil sich nicht erweisen lässt, dass der Brief eine vollzählige Werkliste bieten sollte. Notkers Schaffen umgreift das Curriculum frühmittelalterlicher monastischer Bildung, wie es u. a. von Augustinus, Cassiodor, Isidor, Alkuin und Hrabanus Maurus umrissen worden war. Sein Brief lässt auch erkennen, dass er im Einklang mit diesen Autoren den verschiedenen inhaltlichen Feldern des Schulwissens einen ungleichen Stellenwert zumaß: die Unterweisung des klerikalen Nachwuchses bedient sich der antik-weltlichen Wissensbestände der artes liberales, zielt aber auf christliche Bildung. 1. Kommentierte Übersetzungsbearbeitungen 1.1. Ahd. Übersetzung von Boethius, ‘De consolatione philosophiae’ Überlieferung: St. Gallen, StB 825, p. 4-271, 1. Hälfte 11. Jh. (um 1025); Zürich, ZB C 121, f. 49v-51v (nur Buch III, m. 9), 1. Hälfte 11. Jh., aus St. Gallen. Zwei Hss. enthalten nur den lat. Prolog. Ob dieser von Notker stammt und die Hss. damit zur Überlieferung von Nb gerechnet werden können, ist unsicher (vgl. zuletzt Ch. Hehle, 2002, S. 288); St. Gallen, StB 844, p. 1-3, 10./11. Jh.; Wien, ÖNB Cod. 242, f. 84v-85v, Mitte 11. Jh. – Ausgaben: P. Piper, Die Schriften Notkers und seiner Schule, I-III, Freiburg u. a. 1882/83, I, S. 1-363; P. W. Tax, Notker der Deutsche: Boethius, ‘De consolatione Philosophiae’, I-III, Die Werke Notkers des Deutschen 1-3, Tübingen 1986, 1988, 1990 [= Nb]; P. W. Tax, Notker Latinus zu Boethius, ‘De consolatione Philosophiae’, I-III, Die Werke Notkers des Deutschen 1A-3A, Tübingen 2008, 2009. Weitere Ausgaben s. u. IV.

1.2. Ahd. Übersetzung von Martianus Capella, ‘De nuptiis Philologiae et Mercurii’, Buch I-II Überlieferung: St. Gallen, StB 872, p. 2-170, 11. Jh. – Ausgaben: P. Piper (s. o.), I, S. 685847; J. C. King, Notker der Deutsche: Martianus Capella, ‘De nuptiis Philologiae et Mercurii’, Die Werke Notkers des Deutschen 4, Tübingen 1979 [= Nc]; J. C. King, Notker Latinus zum Martianus Capella, Die Werke Notkers des Deutschen 4A, Tübingen 1986. Weitere Ausgaben s. u. IV.

1.3. Ahd. Übersetzung von Boethius’ Bearbeitung der ‘Categoriae’ des Aristoteles (ȀĮIJȘȖȠȡȓĮȚ) Überlieferung: St. Gallen, StB. 818, p. 3-143, 11. Jh. und 825, p. 275-338 (unvollst.), 11. Jh. – Ausgaben: P. Piper (s. o.), I, S. 365-495; J. C. King, Notker der Deutsche: Boethius’ Bearbeitung der ‘Categoriae’ des Aristoteles, Die Werke Notkers des Deutschen 5, Tübingen 1972 [= Nk]. Weitere Ausgaben s. u. IV.

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1.4. Ahd. Übersetzung von Boethius’ Bearbeitung der Schrift ‘De Interpretatione’ (Ȇİȡ¤ ‹ȡȝȘȞİȓĮȢ) des Aristoteles Überlieferung: St. Gallen, StB. 818, p. 143-246, 11. Jh. – Ausgaben: P. Piper (s. o.), I, S. 497588; J. C. King, Notker der Deutsche: Boethius’ Bearbeitung von Aristoteles’ Schrift ‘De Interpretatione’, Die Werke Notkers des Deutschen 6, Tübingen 1975 [= Ni]. Weitere Ausgaben s. u. IV.

1.5. Ahd. Übersetzung des Psalters, gefolgt von den Cantica und den katechetischen Stücken (Oratio dominica, Symbolum apostolorum, Fides Sti. Athanasii episcopi) (1). In der weiteren Überlieferung wurde das Textensemble mehrfach sprachlich für veränderte Gebrauchskontexte angepasst. Zu diesen Bearbeitungen gehören (2) die bald nach Notkers Tod in St. Gallen unternommene ahd. Übersetzungsglossierung der lat. Textpassagen (sog. Notker-Glossator), (3) der sog. Wiener Notker, eine bair., in der Kommentierung gestraffte Bearbeitung noch des 11. Jh.s, wahrscheinlich aus dem Kloster Wessobrunn, und (4) der sog. Münchener Notker, eine Umarbeitung des 14. Jh.s. (1) Ursprüngliche St. Galler Fassung. Überlieferung: Einzige vollständige, jedoch bereits überarbeitete Abschrift St. Gallen, StB 21, Mitte 12. Jh. (= R, aus Einsiedeln, wahrscheinlich dort geschrieben, seit dem 17. Jh. in St. Gallen); nach dem 17. Jh. verloren: St. Galler Codex S aus der Mitte des 11. Jh.s (humanistische Zeugnisse und Teilabschriften bzw. Zitate gesammelt bei B. Hertenstein, 1975, S. 201-269); außerdem Fragmente von 11 (?) Hss. des 11. bis 13. Jh.s (Übersicht in der Ausg. von J. C. King – P. W. Tax, 8, S. XVI-XIX; 10, S. 609610; vgl. A. L. Lloyd, s.u. III.). Ausgaben: P. Piper (s. o.), II; P. W. Tax, Notker der Deutsche: Der Psalter, I-III, Die Werke Notkers des Deutschen 8-10, Tübingen 1979-1983[= Np]; P. W. Tax, Notker Latinus. Die Quellen zu den Psalmen, I-III, Die Werke Notkers des Deutschen 8A-10A, Tübingen 1972-1975. Weitere Ausgaben s. u. IV. (2) St. Galler Psalterglossierung. Überlieferung und Ausgaben: s. o. (1). (3) Wiener Notker. Überlieferung: Wien, ÖNB Cod. 2681, f. 1-103v, 108-212r, 213-232r (nur Ps 1-50 und 101-150 mit Cantica und katechetischen Texten erhalten) sowie weitere Bruchstücke in München, Nürnberg und Urbana/Ill. eines ursprünglich dreibändigen Psalterexemplars, Ende 11./Anfang 12. Jh., wohl Wessobrunn. Zur Überlieferungskonstellation zuletzt E. Hellgardt, Die spätahd. ‘Wessobrunner Predigten’ im Überlieferungsverbund mit dem ‘Wiener Notker’, ZDPh 130 (2011) S. 33-72. Ausgaben: P. Piper (s. o.), III; R. Heinzel – W. Scherer, Notkers Psalmen nach der Wiener Hs., 1876; E. S. Firchow unter Mitarbeit von R Hotchkiss (Hg.), Der Codex Vindobonensis 2681 aus dem bayerischen Kloster Wessobrunn um 1100. Diplomatische Textausgabe der Wiener Notker Psalmen [sic], Cantica, Wessobrunner Predigten und katechetischen Denkmäler. Mit Konkordanzen und Wortlisten auf einer CD, Hildesheim u.a. 2009. – Vergleichbare Umarbeitungen von Notkers Psalter im 12. und 13. Jh. werden von den Fragmenten A (Aschaffenburg, StB) und X (St. Paul im Lavanttal, StB Cod. 905/0 aus St. Blasien im Schwarzwald, 2. Viertel 13. Jh.; zum Codex K. Schneider, S. 105-107) bezeugt (Textabdruck bei J. C. King – P. W. Tax, S. 8-10). (4) Münchener Notker, eine Umarbeitung des 14. Jh.s. Überlieferung: München, BSB cgm 12 (unvollst., Psalm 1-134,2). Teilausgabe: A. L. Lloyd, Der Münchener Psalter des 14. Jahrhunderts. Eine Auswahl, zusammen mit den entsprechenden Teilen von Notkers Psalter,

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Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 23, Berlin 1969. P. W. Tax bereitet die erste Gesamtausgabe vor.

2. Lehrschriften 2.1. ‘Distributio’ (lat.) Der Traktat ‘Distributio omnium specierum nominum inter cathegorias Aristotelis’ schlägt eine Brücke zwischen Grammatik und Logik, indem er die grammatischen Wortklassen des Nomens nach Maßgabe ihrer Semantik und syntaktischen Valenz den zehn aristotelischen Kategorien zuordnet. Für die Verfasserschaft Notkers sprechen inhaltliche Bezüge zu den anderen Logik-Schriften, sprachliche Eigenheiten und die Überlieferung (P. W. Tax, 2002). Überlieferung: Zürich, ZB C 98, f. 1r-22r, 11. Jh., aus St. Gallen; Brüssel, BR cod. 1061510729, f. 65ra-65vb und 74r/v, 12. Jh.; Rom, BAV Reg. lat. 1281, II, f. 17v-19v (unvollst.), 11. Jh.; Rouen, BM I 69 (olim 932), f. 169r-173v (unvollst.), 12. Jh.; Paris, BNF lat. 10444, f. 85r87r (unvollst.), 11./12. Jh.; Berlin, SBPK Ms. Phillipps. 1786, 2r/v (nur wenige Exzerpte), 11. Jh. – Ausgaben: P. Piper, Die Schriften Notkers und seiner Schule, I-III, Freiburg u. a. 1882/83, I, S. LXXV-LXXXIX (unvollst.); P. Piper, Zu Notkers Rhetorik, ZDPh 22 (1890) S. 277-286; E. Kalinka, Analecta latina, Wiener Studien 16, 1894, S. 254-271; J. C. King – P. W. Tax, Notker der Deutsche: Die kleineren Schriften, Die Werke Notkers des Deutschen 7, Tübingen 1996 [= Nkl], S. XXXI-XLIII, S. 1-45 (P. W. Tax); J. C. King – P. W. Tax, Notker Latinus zu den kleineren Schriften, Die Werke Notkers des Deutschen 7A, Tübingen 2003 .

2.2. St. Galler Traktat ‘Quomodo VII circumstantie rerum in legendo ordinande sint’ (lat.) Die Abhandlung entwirft eine Methodik, wie schwierige lat. Satzgefüge beim Lesen aufgelöst und umgeordnet werden können (constructio in legendo). Notkers Autorschaft kann nur erschlossen werden, ist aufgrund der Überlieferungsgemeinschaft in beiden Hss., der Quellenbenutzung und des Stils aber hochwahrscheinlich (H. Backes, S. 31-64; P. W. Tax, 2002). Überlieferung: Zürich, ZB C 98, f. 38v-66v, 11. Jh., aus St. Gallen; Brüssel, BR cod. 1061510729, f. 60rb-62vb und 64va (nochmaliger Textbeginn, nach 18 Zeilen abgebrochen), 12. Jh. – Ausgaben: P. Piper (s. o.), Bd. I, S. XII-XLIX u. LXXV; A. A. Grotans – D. W. Porter (Hgg.), The St. Gall Tractate: A Mediaeval Guide to Rhetorical Syntax, Columbia/SC 1995; J. C. King – P. W. Tax, Nkl (s. o.), S. XLIV-XLIX, S. 46-104. – Übersetzung: Grotans – Porter (engl.).

2.3. ‘De arte rhetorica’ (lat. mit ahd. Begriffsübersetzungen, Beispielsätzen und Beispielversen) Im Brüsseler Codex steht die Rhetorik unter der Rubrik Excerptum rhetoricĊ Notkeri magistri (sehr ähnlich auch der Titel in einem verlorenen Metzer Codex des 11. Jh.s). Es ist anzunehmen, dass dies die in Notkers Brief genannte nova rhetorica ist, auch wenn jene dort als lat. verfasster Text bezeichnet ist und die überlieferte Rhetorik ahd. Erläuterungen enthält.

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Überlieferung: Brüssel, BR cod. 10615-10729, f. 58ra-60rb, 12. Jh.; München, BSB clm 4621, f. 56r-75r, 11. Jh., aus Benediktbeuern; Berlin, SBPK Ms. lat. 8º 429, f. 19v-46r, 15. Jh., indirekte Abschrift von clm 4621 (zur Hs. A. A. Grotans, 1996); Zürich, ZB C 121, f. 59 r-72ar (Auszüge), 11. Jh., aus St. Gallen. Zu zwei verlorenen Hss. im Kloster St. Symphorian in Metz und in der Zisterzienser-Abtei von Pontigny s. J. C. King – P. W. Tax, Nkl, S. LIIf. u. CVI. – Ausgaben: E. Plew, Zu der Notkerischen Rhetorik, Germania 14 (1869) S. 47-65 (nach der Brüsseler Hs.); P. Piper (s. o.), I, S. 643-684; J. C. King – P. W. Tax, Nkl (s. o.), S. LLXIII, S. 105-186 (J. C. King).

2.4. ‘De partibus logicae’ (lat. mit ahd. Sprichwörtern als Beispielen) Knapper und elementarer Abriss der Dialektik mit besonderem Augenmerk auf den sechzehn loci argumentorum der Topik, die mit lat. Zitaten und ahd. Sprichwörtern exemplifiziert werden. Womöglich ein vornotkerischer Schultext, der nachträglich (etwa unter Ekkehart IV.) um die deutschen Beispiele ergänzt wurde (J. C. King – P. W. Tax, Nkl, S. LXIV-LXVI). Überlieferung: Zürich, ZB C 121, f. 51v-54v, 11. Jh., aus St. Gallen; Brüssel, BR cod. 1061510729, f. 64va-65ra, 12. Jh.; Wien, ÖNB Cod. 275, f. 91v (unvollst.), 11. Jh.; St. Gallen, StB. 242, p. 267-268 (unvollst.), 11. Jh.; München, BSB clm 4621, f. 75r/v (unvollst. und rein lat.), 11. Jh., aus Benediktbeuern; Berlin, SBPK Ms. lat. 8º 429, f. 46r-47v, 15. Jh., indirekte Abschrift von clm 4621 (zur Hs. A. A. Grotans, 1996); Paris BNF lat. 10444, f. 61r (Exzerpt), 11./12. Jh.; Berlin, SBPK Phillipps 1786, f. 2v (Exzerpt), 11. Jh. – Ausgaben: P. Piper (s. o.), I, S. 591-595; MSD Nr. LXXXI, I, S. 260f., II, S. 407f.; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XXV, S. 118-120; J. C. King – P. W. Tax, Nkl (s. o.), S. LXIV-LXXVII, S. 187-194 (P. W. Tax).

2.5. ‘De dialectica’ (lat.) Die Abhandlung unternimmt den Versuch, den Inhalt des aristotelischen Organons systematisch darzustellen. Da um das Jahr 1000 die beiden Analytiken und die Topik des Aristoteles in Westeuropa noch nicht zugänglich waren, konnte der Verfasser nur den Weg der Rekonstruktion gehen. P. W. Tax, 2002, plädiert für Notkers Autorschaft. Überlieferung: Zürich, ZB C 98, f. 22r-38v, 11. Jh., aus St. Gallen; St. Gallen, StB 820, p. 51b62b, 11. Jh. (gegenüber der Zürcher Fassung überarbeitete Version); Brüssel, BR cod. 1061510729, f. 63rb-64va, 12. Jh. – Ausgaben: P. Piper (s. o.), I, S. LVI-LXXV; J. C. King – P. W. Tax, Nkl (s. o.), S. LXXVIII-LXXXVII, 195-263.

2.6. ‘De syllogismis’ (lat.-ahd.) Abhandlung über die syllogistischen Schlussverfahren, vor allem nach Martianus Capellas Dialectica (Buch IV der ‘Nuptiae’), eventuell für die äußere Schule gedacht (J. C. King – P. W. Tax, Bd. 7A, S. 141f.). Überlieferung: Zürich, ZB C 121 (462), f. 28r-49r, 11. Jh. (aus St. Gallen). – Ausgaben: P. Piper (s. o.), Bd. I, S. 596-622; J. C. King – P. W. Tax, Nkl (s. o.), S. LXXXVIII-XCV, 266309 (P. W. Tax).

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2.7. ‘De definitione’ (lat., teilweise ahd. übersetzt und erklärt) Ein Scholion über die logische Technik des diffinire, dessen Überlieferung nicht erkennen lässt, ob es einmal in einen größeren lat.-ahd. Zusammenhang gehörte. Überlieferung: Wien, ÖNB Cod. 275, f. 92r/v, 11. Jh.; Zürich, ZB C 121, f. 55v, 11. Jh., aus St. Gallen, überliefert die ersten fünf Worte am Ende einer kurzen lat. Abhandlung mit dem Titel ‘Quis sit dialecticus’ (54v-55v). – Ausgaben: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XXV; J. C. King – P. W. Tax, Nkl (s. o.), S. XCVI-CIV, 311-314.

2.8. ‘Computus’ (lat. und ahd.) Notkers ‘Vier Fragen zur Kalenderrechnung’ (De quatuor quaestionibus compoti) sind in einer rein lat. Fassung mehrfach überliefert. Sie erörtern u. a. das Mondjahr, den saltus lunae und das Schaltjahr. In einem einzigen (fragmentarischen) Textzeugen ist eine ahd. Übersetzung des Traktats der lat. Version en bloc nachgestellt. Überlieferung des lat. Textes: Zürich, ZB Car. C 176, f. 232r-237v, 11. Jh., aus St. Gallen; München, BSB clm 14804, f. 172r-182r, 1. Hälfte 11. Jh., aus St. Emmeram; München, BSB clm 22307, f. 188r-191r, 11. Jh., aus Windberg; Paris, BNF Nouv. acq. lat. 229, f. 10v-14v, 12. Jh.; Fulda, HLB B 2, f. 4rb, 1. Viertel 12. Jh., aus Weingarten (unvollst.); Fulda, HLB Aa 72, f. 152va-152vb, vom Jahr 1319, aus Weingarten (Exzerpt); zu zwei verlorenen Hss. im Kloster St. Symphorian in Metz und in der Zisterzienser-Abtei von Pontigny s. J. C. King – P. W. Tax, Nkl, S. LIIf. u. CVI. – Überlieferung des ahd. Textes: Isny, Fürstl. Quadt zu Wykradt und Isnysches Archiv, Klosterarchiv Isny (Bestand C in Büschel 554/1), 1. Hälfte 11. Jh. (Fragm.). – Ausgaben: G. Meier Die sieben freien Künste im MA, Schulprogramm Einsiedeln, 1887, S. 31-34; P. P. Piper, Nachträge, S. 312-318; J. C. King – P. W. Tax, Nkl (s. o.), S. CV-CXVI, 315-328 (P. W. Tax); N. Kruse, Eine neue Schrift Notkers des Deutschen: Der althochdeutsche Computus, Sprachwissenschaft 28 (2003) S. 123-155.

2.9. ‘De musica’ (ahd.) Fünf Abschnitte zur Tonlehre, rein ahd. Erst die Forschung hat die nirgends gemeinsam überlieferten Kapitel unter dem Titel ‘De musica’ zu einem Textganzen zusammengefasst. Überlieferung: St. Gallen, StB 242, p. 10-16, 11. Jh. (ohne Kap. 1); München, BSB clm 18937, f. 295v-297v, 11. Jh., aus Tegernsee (nur Kap. 1); Leipzig, UB Ms. 1493, f. 60a-61, 11./12. Jh., aus Merseburg (Kap. 1 u. 5); München, BSB clm 27300, f. 75, 11. Jh., aus Regensburg (Teil von Kap. 5); Wolfenbüttel, HAB Cod. Guelf. 72 Gudianus latinus, f. 48v, 2. Viertel 11. Jh., aus Augsburg (nur Kap. 5). – Ausgaben: P. Piper (s. o.), I, S. 851-859; J. C. King – P. W. Tax, Nkl (s. o.), S. CXVII-CXXVIII, 329-346 (J. C. King); M. v. Schaik, Notker Labeo ‘De musica’. Edition, Übersetzung und Kommentar, Utrecht 1995.

2.10. Notkers Brief (lat.) Der Brief an den befreundeten Bischof Hugo von Sitten, mutmaßlich in den letzten Lebensjahren Notkers verfasst (zwischen etwa 1017 und 1020), gibt Auskunft über die Programmatik von Notkers Schaffen und zählt – jedoch sicherlich nicht vollständig – die bisherigen Arbeiten auf. Überlieferung: Brüssel, BR cod. 10615-10729, f. 58ra, 12. Jh. (an der Spitze eines Quaternios mit sanktgallischen Schulschriften stehend, die zum großen Teil Notkers Feder entstammen

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dürften). – Ausgaben: P. Piper (s. o.), I, S. 859-861; E. Hellgardt, 1979, S. 172f.; J. C. King – P. W. Tax, Nkl (s. o.), S. CXXIX-CXXXII, S. 347-349 (P. W. Tax). – Übersetzungen: J. Baechtold, S. 61f.; G. Ehrismann, S. 421f.; S. Singer, 1922, S. 78-80; A. Rink, S. 228-230.

3. Bezeugte, aber nicht erhaltene Werke 3.1. Arithmetik. Notker nennt in seinem Brief unter den übersetzten Artes-Schriften principia arithmetice, worunter Boethius’ ‘De institutione arithmetica’ zu verstehen sein könnte (E. Hellgardt, 1979). ‘De inst. ar.’ des Boethius ist in St. Gallen in cod. 248 überliefert; daneben ist an das Arithmetik-Kapitel in Cassiodors ‘Institutiones’ zu denken, das in St. Gallen in cod. 199, p. 259-297 vorliegt. Vgl. auch die Boethius zugeschriebene ‘Ars geometriae et arithmeticae’ in dem wahrscheinlich erst von Ekkehart IV. nach St. Gallen gebrachten Cod. Sang. 830. 3.2. Theologie. Nach Notkers Auskunft in seinem Brief stand am Anfang seiner Übersetzungen neben der ‘Consolatio’ ein weiteres Buch des Boethius, vermutlich der Traktat ‘De sancta trinitate’ (Quod dum agerem in duobus libris boetii qui est de consolatione philosophiae . et in aliquantis de sancta trinitate, Brief, Z. 12f.). Die Trinitätstraktate des Boethius hat Notker gut gekannt, da er sie für seine Erklärung des Athanasianischen Glaubensbekenntnisses (in Np) ausgiebig ausschöpft. Die Stelle ist kontrovers diskutiert worden, s. E. Hellgardt, 1979, S. 186-189, und Ch. Hehle, 2002, S. 63. 3.3. Hiob. Seinem Brief zufolge hatte Notker nach Vollendung des Psalters mit der Übersetzung des Buches Hiob (Iob quoque incepi) begonnen. Laut Ekkeharts Memoriale hat Notker die Übersetzung am Tag seines Todes auch vollendet. Einer von Ekkeharts Versen lässt sich so verstehen, als sei die Übersetzung von Gregors d. Gr. Riesenwerk ‘Moralia in Iob’ gemeint: Gregorii pondus (gl. moralia teutonice) dorso levat ille secundus (gl. ab illo) (V. 66), also ‘Gregors Last, nämlich die ‘Moralia’ auf deutsch, hebt er mit dem Rücken als zweiter nach diesem’. Aber keinesfalls hat Notker die umfangreichen ‘Moralia’ (das Kloster besaß seit dem 9. Jh. ein sechsbändiges und ein siebenbändiges Exemplar, wovon nur noch erhalten codd. Sang. 206-209 und 210) komplett übersetzt. Eher wird es sich um eine kommentierte Übersetzungsbearbeitung des als schwierig geltenden Buches Hiob gehandelt haben, der für die Auslegung primär Gregor zugrunde lag (A. Wolf, 1961, S. 156f.; E. Hellgardt, 2010, S. 173). 4. Fragliche Übersetzungsbearbeitungen Notker erwähnt in seinem Brief, er sei während der Arbeit an den Boethius-Übersetzungen gebeten worden, auch einige Versdichtungen ins Ahd. zu übersetzen, nämlich die ‘Disticha Catonis’, Vergils ‘Bucolica’ und die ‘Andria’ des Terenz (quod dum agerem in duobus libris boetii [...] rogatus et metrice quedam scripta in hanc eandem linguam traducere . catonem scilicet . ut bucolica uirgilii et andriam terentii, Brief, Z. 12-14). Falls Notker diesem Ansinnen nachgekommen sein sollte, sind die

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drei Übersetzungen spurlos untergegangen. In jüngerer Zeit wurde der Brief jedoch zunehmend in dem Sinne interpretiert, dass Notker diese Werke gar nicht bearbeitet habe (so N. Henkel, 1988, S. 76f.; P. W. Tax, Nkl, S. CXXXI; S. Glauch, 2000, S. 30f.; Ch. Hehle, 2002, S. 63; anders E. Hellgardt, 2010, S. 162). III. Überlieferung: Die handschriftliche Überlieferung von Notkers Werken hat ihr Zentrum im St. Galler Skriptorium des 11. Jh.s. Die sanktgallischen Hss. könnten zu einem (wohl geringen) Teil noch zu Notkers Lebzeiten entstanden sein, denn gewisse Alternativlesarten machen den Eindruck, vom Autor selbst herzurühren (Zürich, ZB Car. C 98, vgl. J. C. King – P. W. Tax, Bd. 7, S. XXIII; evtl. auch in der ‘Consolatio’-Übersetzung in Zürich, ZB C 121). Allerdings sind eigenhändige Korrekturen Notkers in den Abschriften seiner Werke bisher nicht zweifelsfrei nachgewiesen (ein zweizeiliges Autograph Notkers liegt nach Bekunden Ekkeharts IV. in cod. Sg. 621, p. 351, vor; die Hs. enthält Orosius, ‘Historia adversus paganos’, korr. von Ekkehart IV.; Abb. von p. 321 http://www.e-codices.unifr.ch/en/csg/0621/321/; H. Eisenhut, S. 199f., 399, 431). An der Herstellung der Notkercodices des sanktgallischen Skriptoriums waren insgesamt mehrere Dutzend Schreiber beteiligt (A. A. Grotans, 2000). Sie hielten mit unterschiedlicher Konsequenz die von der Forschung abstrahierten orthographischen Konventionen ein; als am konsequentesten gelten die ersten zwei Bücher der Boethius-Abschrift cod. Sang. 825. Nur ein Teil der Werke strahlt auch nach auswärts aus: Psalter, die rhetorisch-dialektischen Lehrtexte, Computus und Musica. Dabei zeichnen sich zwei Verbreitungsschwerpunkte ab: einerseits der bair. Raum (Regensburg, Augsburg, Benediktbeuern, Indersdorf, Wessobrunn), in dem vor allem der Psalter Leser fand, andererseits ein westdeutsch-lothringisch-französischer Überlieferungsstrang, der nur die primär lat. Lehrschriften tradiert (außerordentlich wichtig für die Notkerüberlieferung Brüssel., BR cod. 10615-10729 aus St. Eucharius-Matthias in Trier, mit Vorlagen vermutlich aus Lothringen, vgl. E. Hellgardt, 1979, S. 174-180). Die auswärtige Überlieferung hat an der Symbiose zwischen lat. und ahd. Sprachanteilen kein echtes Interesse und daher die Tendenz, diese aufzulösen und entweder rein ahd. Texte (so im bair. Raum) oder rein lat. Texte (so im westlichen Raum) zu bevorzugen oder sogar herzustellen. Literatur zur Überlieferung: Grundsätzlich reich dokumentiert in der Ausgabe von J. C. King – P. W. Tax (s. o. II. einzeln verzeichnet.). Bibliographische Nachweise zu den einzelnen Hss. bei E. Hellgardt – N. Kössinger, 2004. Hss.-Kataloge: G. Scherrer, Verzeichniss; L. C. Mohlberg, Mittelalterl. Hss.. Ergänzend A. Bruckner, Scriptoria helv., II-III (= St. Gallen I-II) und IV (= Stadt und Landschaft Zürich). Zu speziellen Fragen: A. L. Lloyd, The Manuscripts and Fragments of Notker’s Psalter, Beitr. z. dt. Philologie 17, Gießen 1958; A. Wolf, 1961, S. 145-158; B. Hertenstein, 1975; E. Hellgardt, 1979, S. 169-192; K. Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache. I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Text-

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band- und Tafelband, Wiesbaden 1987; A. A. Grotans, The Scribes and Notker Labeo, in: De consolatione Philologiae. FS Evelyn S. Firchow, 2000, S. 101-117; J. Wolf, Buch und Text: Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert, Tübingen 2008; H. Eisenhut, 2009; S. Glauch, St. Gallen (Frühma.), in: Schreiborte, hg. v. M. J. Schubert, Berlin/New York 2013 [i. Dr.]; zu allen Hss. mit deutschen Werken vgl. PadRep.

IV. Ausgaben: Zur Editionsgeschichte seit dem Humanismus s. Hertenstein, 1975, u. St. Sonderegger, 1982. Erste Gesamtausgabe mit lat. Text nach den Hss. durch H. Hattemer, Denkmahle, II u. III. Lange Zeit maßgebliche Edition (die Notker-Lexikographie bezieht sich auf ihre Seitenzählung): P. Piper, Die Schriften Notkers und seiner Schule, I-III, Freiburg u. a. 1882/83. Textlich normalisierte Ausgabe mit unvollst. lat. Kommentarstellen: E. H. Sehrt – T. Starck, Notkers des Deutschen Werke, I, 1-3 Boethius, ATB 32-34, Halle 1933-1934; II Marcianus Capella, ATB 37, Halle 1935; III, 1-3 Der Psalter nebst Cantica und katechetischen Stücken, ATB 40, 42, 43, Halle 1952, 1954, 1955. Neue kritische Ausgabe mit vollst. Sammlung der Quellentexte (Notker latinus): J. C. King – P. W. Tax, Die Werke Notkers des Deutschen, Neue Ausgabe, Tübingen 1972-2009 (Bände oben einzeln verzeichnet; es soll noch ein Nachtrags- und Registerband folgen). Diplomatische Textabdrucke mit Konkordanzen und Wortlisten: Notker der Deutsche von St. Gallen: De interpretatione. Konkordanzen, Wortlisten und Abdruck des Textes nach dem Codex Sangallensis 818 hg. v. E. S. Firchow, Berlin/New York 1995; Categoriae. Konkordanzen, Wortlisten und Abdruck der Texte nach den Codices Sangallensis 818 und 825 hg. v. E. S. Firchow unter Mitarbeit von R. Hotchkiss, Berlin/New York 1996; Die Hochzeit der Philologie und des Merkurs [sic]. Diplomatischer Textabdruck, Konkordanzen und Wortlisten nach dem Codex Sangallensis 872 hg. v. E. S. Firchow unter Mitarbeit von R. Hotchkiss und R. Treece, Hildesheim 1999; Lateinischer Text und althochdeutsche Übersetzung der Tröstung der Philosophie (De consolatione Philosophiae) von Anicius Manlius Severinus Boethius. Diplomatische Textausgabe, Konkordanzen und Wortlisten nach den Codices Sangallensis 825 und 844, Codex Turicensis C121 und Codex Vindobonensis 242 hg. v. E. S. Firchow unter Mitarbeit von R. Hotchkiss und R. Treece, I-III, Hildesheim 2003. V. Literaturgeschichtliche Bedeutung: Notkers Schriften sind ausgerichtet auf den klösterlichen Schulunterricht des Frühmittelalters, der den sieben freien Künsten eine bedeutende Funktion für das geistliche Erziehungs- und Bildungsprogramm zumaß. Mit seiner Auffassung der artes als Propädeutika für das Studium geistlicher Literatur steht Notker „ganz in der Tradition des augustinischen Verständnisses von der Rolle der artes, das von Cassiodor und Isidor weitergegeben, von Alkuin aufgegriffen und im Zuge der karolingischen Bildungsreform weiterentwickelt wurde [und] die Bildung in den folgenden Jahrhunderten beherrschte“ (Ch. Hehle, 2002, S. 61). Während über die konkreten Abläufe von Unterricht und (Selbst-)Studium wenig bekannt ist, sind das Curriculum, die dominante Rolle der grammatica und der Textlektüre (lectio), der Textkanon und die Erschließungstechniken gut dokumentiert (G. Glauche; M. Irvine; S. Reynolds; mit Fokus auf St. Gallen zuletzt A. Grotans, 2006).

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Die Einbeziehung der ahd. Volkssprache in den Unterrichtsprozess findet schon seit dem 8. Jh. Niederschlag in Schulhss. in Form zweisprachiger Textensembles (Glossen, Glossare, Interlinearversionen). Notkers Verfahren zur Texterschließung entfaltet sich auf der Grundlage dieser Tradition, die in St. Gallen vor allem als ahd. Glossierung präsent war, verdankt aber den lat. Erschließungsverfahren – sowohl im Einzelnen (vgl. die Quellennachweise, wie sie in den ‘Notkeri Latini’ von J. C. King – P. W. Tax zusammengestellt sind) wie im Konzeptionellen – deutlich mehr als den volkssprachigen. Bei Notker ist das Althochdeutsche kein randständiges Hilfsmittel, um ad hoc etwas zu erläutern, wie es in St. Gallen für die meisten sporadischen Glosseneinträge des 10./11. Jh.s zutrifft, sondern ist planvoll und systematisch in eine Textproduktion einbezogen. Über beide Traditionen hinaus entwickelt Notkers Bearbeitungstechnik eine singuläre Faktur. Notkers Übersetzungen sind durch ihre Auswahl wie durch das Niveau ihrer Kommentierung nicht im Bereich des Elementarunterichts angesiedelt; sie räumen den Fächern des Quadriviums einen höheren Stellenwert ein als zu seiner Zeit allgemein üblich und zeigen innerhalb der artes des Triviums eine starke Wendung zur Rhetorik und Dialektik. Einen Anschluss an Gerberts von Reims Innovationen im dialektischen und mathematischen Curriculum hat I. Schröbler 1944 konstatiert; aber auch an den Schulkommentaren des Remigius von Auxerre (9. Jh.) scheint Notker sich des öfteren zu orientieren (P. W. Tax, Npl, S. XXVI). Mit dem Bezug auf Cicero (St. Sonderegger, 1971, 1980) und auf Aristoteles ist Notker auf der Höhe seiner Zeit. In diesem Rahmen und auf diesem Niveau kann der systematische Einsatz der Muttersprache als kühne Innovation gelten. Notkers Selbstverständnis, eine rem pene inusitatam (Brief, Z. 9f.) zu unternehmen, gründet hierin. Wie bei allen Schulhandschriften und Schultexten des frühen Mittelalters ist sehr schwer zu entscheiden, ob die aufbereiteten Lektüretexte eher den Lernenden oder den Lehrenden dienen sollte. Einige der Lehrschriften Notkers dürften sicher für den Gebrauch des Lehrers (bzw. der Schüler als künftiger Lehrer) bestimmt gewesen sein; im Fall des ‘St. Galler Traktats’ legt dies einmal der Wortlaut nahe (R. Gaberell, S. 368). Der Psalter fand indes sehr früh eine breitere Leserschaft, die nicht auf die Schulstube beschränkt war und auch Kreise berührte, die kaum lateinisch-klerikale Bildung besaßen. Sowohl das Exemplar der Kaiserin Gisela (s. u. VI.) wie der ‘Wiener’ und der späte ‘Münchener Notker’ weisen auf Leserinnen, denen der Psalter eher als Erbauungs- und Andachtslektüre gedient haben dürfte. Auch der illuminierte und kalligraphisch aufwendige Einsiedler Codex (R) war kaum zum Lehrbuch bestimmt. Notkers Bearbeitungstechnik beruht in den meisten ihrer Bausteine auf den traditionellen frühmittelalterlichen Verfahren, lat. Texte schulisch aufzubereiten (lat. und ahd. Paraphrase in Form von Glossen, Herstellung eines syntaktischen ordo natura-

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lis, Kommentierung). Das konzeptionelle Ganze der Textstruktur, wie es dem Leser in den Handschriften in einer organischen Gestalt entgegentritt, ist dagegen Notkers eigene Entwicklung (zur Textorganisation s. o. II.). Die Sprachmischung, die terminologisch bedeutsame Ausdrücke lat. belässt, wurde als Mischsprache oder Mischprosa bezeichnet und als ‘Kathedersprache’ (H. de Boor, S. 116) oder als ‘ästhetischspielerischer Klosterjargon’ (E. Hellgardt, 1992, S. 22) begriffen. Sie muss jedoch auch als didaktisches Element verstanden werden, das zum lat. Text- und Wissenszusammenhang zurückführt sowie Funktionen der Betonung und Markierung, oft vergleichbar heutigen Anführungszeichen (C. Staeves, S. 15-32), wahrnimmt (zu Notkers Mischprosa S. Glauch, 2000, S. 149-161; A. Grotans, 2006, S. 145-154). Sowohl die lat. Wortglossierungen als auch die ahd. Erläuterungen schöpfen aus lat. Quellen. In vielen Fällen lassen sich Notkers Quellen in Glossaturen und Textkommentaren in sanktgallischen Hss. nachweisen oder zumindest begründet vermuten. In der ‘Consolatio’-Bearbeitung sind verarbeitet der ‘Anonymus Sangallensis’ und der Kommentar des Remigius von Auxerre, eventuell auf Grundlage einer Kompilation (Ch. Hehle, 2002, S. 98-103), in den ‘Nuptiae’ das commentum des Remigius von Auxerre (S. Glauch, 2000, S. 87-104), in den Aristoteles-Übersetzungen die Kommentare des Boethius (A. Rink), im Psalter primär die ‘Enarrationes in psalmos’ des Augustinus, daneben Cassiodors ‘Expositio psalmorum’ (E. Henrici; P. W. Tax, Npl). Die zum Teil umfangreichen Kommentarwerke sind auswählend und straffend benutzt. Des weiteren zitiert Notker viele biblische Bücher, theologische Autoren und Schuldichter und bezieht Wissensliteratur in breiter, zeittypischer Auswahl ein (Notker Latinus; S. Glauch, 2000, S. 99-104). Die Erläuterungen und Exkurse stehen im Dienst der geistigen Durchdringung und Aneignung der auctor-Texte und tendieren in den verschiedenen Textbearbeitungen, deren jeweiligem Charakter entsprechend, zu unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten. In der ‘Consolatio Philosophiae’ liegt der Akzent auf der Verbindung von Textlektüre und Hermeneutik mit Rhetorik- und Logiktheorie (Ch. Hehle, 2002, S. 155-193). Im zweiten Buch der ‘Consolatio’ weiten sich die Erläuterungen zur Rhetoriklehre zu umfangreichen Exkursen aus, die beinahe die Substanz einer selbstständigen Abhandlung haben. Die expositio der ‘Nuptiae’ ist dagegen deutlich stärker auf die artes des Quadriviums fokussiert (S. Glauch 2000, S. 171-225). Beide Bearbeitungen verlieren aber auch den Hintergrund der Philosophie und Theologie nicht aus dem Blick. Die Bearbeitungen tragen durchaus Züge von Werkinterpretationen. Die Rolle der interpretatio christiana der nicht offenkundig christlichen oder sogar explizit paganen Lektüretexte ist dabei seit I. Schröbler (1951) immer wieder hervorgehoben und herausgearbeitet worden (zum Umgang mit dem antiken Mythos H. Backes, S. 124-161, S. Glauch, 2000). In der Psalterbearbeitung ist die interpretatio christiana augustinisch grundiert.

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Das Verhältnis von Latein und Volkssprache in Notkers Werk und der Eigenwert seiner ‘Übersetzungen’ war Gegenstand einer längeren Forschungsdiskussion, in der zunächst das Deutsche als ‘Zielsprache’ Notkers ausgemacht wurde (St. Sonderegger, 1970). Dagegen wurde von E. Hellgardt (1984), G. Braungart und N. Henkel eine Neuakzentuierung angestoßen, die die instrumentelle Rolle der muttersprachlichen Übersetzung betonte und hervorhob, dass jedes einzelne Element der Textbearbeitung darauf hinziele, den lat. Ausgangstext verständlich zu machen, nicht ihn zu ersetzen und nicht eine deutsche Wissenschaftssprache zu begründen. Wie für die ‘Consolatio’ gilt für alle Übersetzungsbearbeitungen: „Notkers Rezeption der ‘Consolatio’ vollzieht sich nicht als Übersetzung ins Althochdeutsche, sondern in Form eines komplexen bilingualen Mediums“ (Ch. Hehle, 2002, S. 125). Damit ist nicht nur und nicht in erster Linie die Sprachmischung der ‘Mischprosa’ angesprochen, sondern die strukturelle Gesamtheit der Textbearbeitung, mit der Notker auf die lat. Ausgangstexte reagiert. Auf verschiedenen Ebenen ist dabei ein dialogisches Prinzip zu bemerken: So ersetzt in der textuellen Anlage der Bearbeitungen nicht die Übersetzung den lat. Ausgangstext, sondern folgt ihm, ‘antwortet’ ihm in gewisser Weise. Ebenso kann auch die Bearbeitung in ihrer Gesamtheit, als Kodex, nicht den Ausgangstext ersetzen, weil sie (ausgenommen den Psalmtext) einen leicht veränderten lat. Wortlaut bietet – auch dieser Wortlaut gehört ja bereits zu Notkers ‘komplexem bilingualen Medium’. Indiz dafür ist auch das andersartige – eben nicht kleinteilig dialogische – Verfahren, wenn eigene Lehrtexte zweisprachig geboten werden (Prologe, Computus, evtl. Musica): hier werden die Texte ‘am Stück’ übersetzt. Zuletzt ist auch auf die inhärente sprachliche Dialogizität hinzuweisen (P. W. Tax, 2002, S. 419f.; R. Gaberell, S. 161-171; St. Sonderegger, 1980), die in der Tradition didaktischer Lehrer-Schüler-dialogi die (rhetorische) Frage einsetzt, um den Text lebhafter zu gestalten und die Aufmerksamkeit des Lesers zu fördern. Dennoch sind Notkers Bearbeitungen nicht als direkte Abbilder einer schulischen Mündlichkeit zu verstehen. Die Handschriften fordern zwar die Vokalisierung ein, weil sie auf die visuelle Koordinierung der verschiedenen Textschichten verzichten (anders als Interlinear- und Marginalglossen; anders als Ú Willirams synoptische Hoheliedbearbeitung; die Einsiedler-Psalter-Hs. (R) geht jedoch über die älteren sanktgallischen Notker-Hss. schon weit darin hinaus, die Textschichten visuell zu differenzieren und zu ordnen), aber gleichzeitig bedient sich Notker vieler skripturaler Techniken, die die Linearität des gesprochenen Vortrags übersteigen (zur Medialität D. H. Green, 1994, S. 183-185; Ch. Schlembach, S. 70-76). Notkers Leistung als Übersetzer ist immens. Die sprachliche Gestalt seiner Bearbeitungen zeichnet sich durch die Geschmeidigkeit der Prosasyntax und den exzeptionell reichen Wortschatz aus. Zu letzterem leistet auch Notkers Geschick der Wortneubildung seinen Beitrag. Dabei steht immer die Genauigkeit der Übertragung

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– sowohl inhaltlich wie auf das Sprachmaterial des Ausgangstextes bezogen – im Vordergrund. Die Souveränität und Präzision von Notkers Wiedergaben anspruchsvoller lat. Texte wird im deutschen Mittelalter wohl erst in der Hochscholastik wieder erreicht. Um historische Einordnungen der Übersetzungsleistung haben sich unter verschiedenem Blickwinkel St. Sonderegger, 1987b (u. ö.) und R. Copeland bemüht. Für die Übersetzungsgeschichte wie die Bildungswissenschaft ist Notkers Auffassung beachtenswert, es könne die zweisprachige Grundsituation des mittelalterlichen Klerus – und wohl nicht der Schüler allein, sondern aller Arbeiter im Weinberg des Textes – zu einem didaktischen Gewinn umgemünzt werden: quam cito capiuntur per patriam linguam . quĊ aut uix aut non integre capienda forent in lingua non propria (Brief, Z. 24f.). Notker bietet darüber hinaus eine für seine Zeit völlig neuartige Form der wissenschaftlichen Kommentatorik, wenn er sich in der Vernakulärsprache auf hohem Niveau mit den Inhalten der Artes auseinandersetzt. Als Übersetzer ist Notker eine bedeutende Figur der althochdeutschen Literaturgeschichte, wenngleich er in dieser keine Vorläufer und keine Nachfolger hatte. Als Mönch, Lehrer und Gelehrter, von den Klosterannalen als nostre memorie hominum doctissimus erinnert, gehört er dennoch viel mehr als der dt. der lat. Kultur- und (Fach-)Literaturgeschichte an. Das bedeutet u. a., dass Notkers Leistung in seiner Psalterübersetzung nicht allein im Kontext der deutschen Psalmenversionen bis hin zu Luther zu bewerten wäre, sondern ebenso in den weiteren Rahmen der Psalmkommentatorik des frühen Mittelalters zu stellen ist. Während die Notkeredition seit J. C. King – P. W. Tax durch die Beigabe der ‘Notkeri Latini’ und die jüngeren Untersuchungen zur ‘Consolatio’, zum Martianus Capella und zu den Aristoteles-Übersetzungen (Ch. Hehle, 2002; S. Glauch, 2000; A. Rink) die Umorientierung auf den lat. Notker vollzogen haben, steht diese im Hinblick auf den Psalter noch aus. Auch Notkers lat. Kompendien zur Dialektik und Rhetorik sind in ihrer wissens- und bildungsgeschichtlichen Bedeutung von der Forschung noch nicht ausgeschöpft worden (P. W. Tax, 2002). Notkers bildungsgeschichtliche Bedeutung liegt daneben auch in der sprachtheoretischen Reflexion, die sein Werk auszeichnet. Sie manifestiert sich zum einen in einem lebhaften Interesse an der Etymologie griech. und lat. Wörter und Namen, die sich in zahlreichen kurzen Erläuterungen, gelegentlich auch in experimentellen etymologisierenden Wortübersetzungen niederschlägt (H. Backes, 1982, S. 65-123; S. Glauch, 2003). Zum anderen lässt sich an der Überlieferung seiner ahd. Texte eine von Notker entwickelte Graphematik ablesen, die in ihrer Präzision, Systematik und Genauigkeit bis in die Neuzeit nicht wieder erreicht wurde. Diese Schreibregeln versuchen zum einen die gehörte Aussprache des alemannischen Deutschen in ihren Feinheiten wiederzugeben, zum anderen auch Prinzipien der lat. Grammatiklehre, die auch schon vor Notker in der Verschriftung der Volkssprache vereinzelt wirksam

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wurden, systematisierend anzuwenden. Dazu gehört der Gebrauch von Akut und Zirkumflex, um Wortton, Satzton, Länge und prosodische Eigenschaften von Vokallauten zu differenzieren (A. Grotans, 2006, S. 249-284; J. C. King in: J. C. King – P. W. Tax, Bd. 1 [Nb], S. XXXVII-XLIII). In seinem Brief weist Notker explizit darauf hin: Oportet autem scire quia uerba theutonica sine accentv scribenda non sunt . prĊter articulos ipsi soli sine accentu pronuntiantur acuto aut circumflexo (Brief, Z. 25-27). Dagegen erwähnt Notker nirgends jene satzphonetische Regelung des Wortanlauts, die in der ahd. Grammatik als ‘Notkers Anlautgesetz’ bekannt ist, derzufolge die eigentlich etymologisch zu erwartenden Verschlusslaute d ( [g] bereits voraussetzt. Mehrfach findet sich der wiederum im Süden und im Zentrum der Galloromania häufiger auftretende Vokalvorsatz [sk-, sp-, sn-] > [esc-, esp-, isn-] (z.B. esconae < ahd. scone/i ‘schön’ Nr. 34; isnel < ahd. snel ‘velox’ Nr. 35. Ein Romanismus ist ferner die Einfügung eines Gleitkonsonanten [k] in der Konsonantengruppe [sl] (z.B. ensclephen < ahd. in-sclƗfen Nr. 62f.). Auch auf den Ebenen von Morphologie und Syntax begegnen Romanismen. Die sprechlateinische Textschicht der ‘Gespräche’ weist in Phonologie und Lexik ebenfalls romanisches Gepräge auf, so dass man für den Redaktor der Vorlage, der durchaus eine beachtliche ahd. Sprachkompetenz besaß, vermuten muss, dass er romanischer Muttersprache war, was er vor allem durch seine Fehler und häufigen germano-romanischen Interferenzen verrät, also wohl Ahd. als Zweitsprache erwarb. Dennoch lässt sich das Ahd., das er lernte, charakterisieren: So ist die ahd. Tenuesverschiebung weitgehend durchgeführt, auch wenn die Resultate im Bereich der Frikativen und Affrikaten durch typisch romanische Graphien für die Ergebnisse romanischer Assibilierung von [tiV], [kiV], [ki] und [ke], die über die Zwischenstufen [tç, kç] > [ts] wurden, überlagert werden. Einige Kleinwörter wie gued ‘was’ (Nr. 77) und auch elpe (Nr. 13) neben elfe ‘Hilfe’ (Nr. 48) weisen unverschobene Formen auf. Das Ahd. der ‘Gespräche’ verweist mit der Mehrheit der Merkmale in den Kreis der fränkischen Dialekte. Bezieht man den Stand der Lautverschiebung ein, der eine Lokalisierung im Bereich des Altniederfränkischen ausschließt, aber mit seinen neben den normalahd. Ergebnissen zu registrierenden Formen (gued, elpe) auf die Regionen nördlich der dat/das-Grenze und gar der Eifelschranke verweist, so ergeben sich starke Argumente für die Lokalisierung in einem unbekannten Dialekt des untergegangenen Westfränkischen oder allenfalls im Mittelfränkischen. 5. Funktion: Das im Umfeld der ahd. Literatur nur noch mit den Ú ‘Kasseler Glossen’ vergleichbare Pariser Gesprächsbüchlein muss in einen lernerorientierten Zusammenhang gestellt werden. Diesem Ziel dienen das kurze Vokabular der Körperteile und ein ähnliches Glossar innerhalb der Tatian-Exzerpte; auch die Redewendungen, Phrasen, simulierten Gesprächsfetzen der Alltagswelt, welche mit einem Trinkspruch auf Gott, die Heiligen, die Jungfrau und das Wohl, die Minne (caritas) des Gesprächs- und Trinkpartners enden (Nr. 106/07). Dem Lernzweck dient auch

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‘Pariser Gespräche’

die sprachliche Behandlung der Tatianauszüge, etwa wenn in sprachlicher Aktualisierung finiten Verbformen das Personalpronomen hinzugesetzt oder durch Umstellung lat. und ahd. Wortlaut einander angepasst werden. Man folgerte aus diesen Umstellungen zu Recht: „... das latein also sollte richtiges Verständnis der deutschen phrasen anbahnen, die den gesprächen ähnlich bestimmt waren“ (StSG V, S. 523). Die Zielsprache war dabei (anders als beim ‘Tatian’ und in ahd. Glossierung) das Althochdeutsche. So wie auf der Seite der Ausgangssprache sprechlateinische, romanische Züge präsent sind, so entsprechen die ahd. „Satzgefüge zweifellos der gesprochenen Sprache des Althochdeutschen“ (St. Sonderegger, S. 186). Es ging um rudimentäre praktische Sprechfähigkeit. Den sprechsprachlichen Charakter des Textes bezeugen auch satzphonetische Elisionen und Assimilationen (z.B. Imperativ gimer < ahd. gib mir), die Abschwächung des Vokalismus im Satznebenton, sowie andere überraschend früh auftretende phonetische und morphologische Entwicklungen. (Vgl. St. Sonderegger, FMSt 5 [1971] S. 176-192). Zweifellos waren die ‘Gespräche’ für einen konkreten Zweck verfasst worden. Dieser konkrete Zweck lässt sich nur annähernd rekonstruieren. Doch darf man angesichts der Herkunft der Handschrift aus dem Raum von Sens auf einen analogen Fall aus dem nahegelegenen Kloster Ferrières verweisen, wo der einer bairisch-romanischen Ehe entstammende und in Fulda bei Hrabanus Maurus (zur gleichen Zeit, als dort der ahd. ‘Tatian’ entstand) gebildete Abt Lupus im Jahr 844 seinen Neffen und zwei weitere junge Adlige in das Königskloster Prüm (gelegen im mittelfränkischen Sprachgebiet der Eifel) schickte, um die Kenntnis der lingua germanica zu erwerben, die in dieser Schicht als notwendig erachtet wurde. Diese Mission ist einzuordnen in die überhaupt lebhaften Beziehungen zwischen Ferrières, Sens, Prüm und Fulda, innerhalb derer z.B. auch ein Prümer Mönch aus Ferrières Abt von Prüm werden konnte, ein Prümer Abt (Eigil) aber Erzbischof von Sens. Als die adligen Schüler drei Jahre später in Begleitung eines Prümer Mönchs zurückkehrten, äußerte sich Lupus zufrieden:...linguae vestrae pueros nostros fecistis participes, cujus usum hoc tempore pernecessarium nemo ni si nimis tardus ignorat. Noch bis weit ins 10. Jh. hinein sind Kenntnisse der teotisca lingua für westfränkische Große bezeugt. Es liegt nahe, auch die ‘Pariser Gespräche’ ihrer Funktion nach in solche Verhältnisse einzubetten. 6. Literatur: R. J. Sault, Die Altdeutschen Gespräche: A Linguistic Analysis. Diss. University of Illinois, Urbana 1973; St. Sonderegger, ‘Althochdeutsche Gespräche’, in: 2VL I, Sp. 284f.; W. Haubrichs, Pariser Gespräche, in: BStH I, S. 927-937.

WOLFGANG HAUBRICHS

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Paternoster Ú ‘Freisinger Paternoster’, ‘St. Galler Paternoster und Credo’ ‘St. Pauler Interlinearversion zu Lc 1,64 – 2,51’ Älteste Übertragung der Weihnachts- und Kindheitsgeschichte Jesu ins Deutsche; ausgehendes 8. Jahrhundert; alemannisch 1. Überlieferung: St. Paul, StA Cod. 1/8 (früher 1/1; davor 25. 3. 19; davor XXV. a. 1): 1 Doppelblatt – Das an den Rändern beschnittene Pergamentdoppelblatt diente vor seiner Auslösung in den 70er-Jahren des 20. Jh.s als doppeltes Schutzblatt (gezählt als f. 1 und 2) für die Ambrosius-Hs. Cod. 1/1 (De fide ad Gratianum augustum), dem ältesten heute in St. Paul aufbewahrten Codex (2. Hälfte des 5. Jh.s; Italien). Für diese jetzt nicht mehr bestehende bibliotheksgeschichtliche Einheit von Cod. 1/8 und Cod. 1/1 ist spätestens für das ausgehende Mittelalter Reichenauer Provenienz nachweisbar. Zu einem nicht genauer zu bestimmenden Zeitpunkt in den 60er- oder 70er-Jahren des 18. Jh.s kam die Ambrosius-Hs. (und mit ihr das Doppelblatt) über Fürstabt Martin Gerbert (1720-1793) von der Reichenau nach St. Blasien und gelangte schließlich mit der Auflösung des Benediktinerstifts St. Blasien zu Beginn des 19. Jh.s über verschiedene Zwischenstationen spätestens 1809 nach St. Paul (s. dazu im Ganzen ausführlich L. Voetz, Die St. Pauler Lukasglossen, S. 2428). – Die beiden Blätter des Cod.1/8 bildeten ursprünglich das innere Doppelblatt einer Lage eines ansonsten verlorengegangenen lat. Evangeliars (6./7. Jh.; Unziale; wohl Italien). Dem zweispaltigen lat. ‘Grundtext’ dieses Evangeliars sind im südwestdeutschen Sprachraum von einer Hand des ausgehenden 8. Jh.s interlinear verschiedene lat. und ahd. Eintragungen hinzugefügt worden. (Ausführliche neuere Beschreibungen von Cod. 1/8: L. Voetz, Die St. Pauler Lukasglossen, S. 28-32; BStK-Nr. 777, S. 1494-1496; R. Gryson, Altlateinische Handschriften, S. 49, Nr. 26 [unter veralteter Signatur „Stiftsbibliothek 1/1“ (statt 1/8 !)].) 2. Editionsgeschichte: Auf die in der älteren Forschung als ‘St. Pauler Lukasglossen’ bezeichnete Interlinearversion machte zum ersten Mal Martin Gerbert in seinem ‘Iter Alemannicum’ im Jahre 1765 aufmerksam. – Eine Edition legte jedoch erst knapp 80 Jahre später A. H. Hoffmann (ZDA 3 [1843] S. 460-467) vor. Er präsentiert das Denkmal in Glossenmanier, indem er jeweils das lat. Lemma und das dazugehörige ahd. Interpretament unter Angabe der Bibelstelle anführt. Dabei werden die lat. ‘Zusätze des Glossators’ von A. H. Hoffmann mit einem Stern gekennzeichnet. Die nicht ‘glossierten’ lat. Wörter des Bibeltextes bleiben völlig unbeachtet. – Dagegen versucht A. Holder (Germania 21 [1876] S. 332-338) das Denkmal erstmalig als ganzes zu erfassen, indem er den gesamten lat. Text mit allen ahd. Eintragungen

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bietet. Dabei liegt die grundlegende Problematik der Anlage jedoch in den häufig fehlerhaften und teils grotesken Zuordnungen der lat. ‘Zusätze’ sowie insbesondere auch der Stellung der ahd. Eintragungen, die das Gesamtbild verzerren und häufig zu völlig falschen Bezügen zwischen den lat. und den ahd. Wörtern führen. – Im Jahre 1879 nahm dann E. Steinmeyer (StSG I, Nr. CCCLXXXV, S. 728-737) die ‘St. Pauler Lukasglossen’ in sein grundlegendes Glossenwerk auf. Ebenso wie bei A. H. Hoffmann liegt auch in der Steinmeyer’schen Ausgabe, einmal ganz abgesehen vom Fehlen des nicht ins Althochdeutsche übertragenen lat. Bibeltextes, ein entscheidendes Manko darin, dass zu einer Reihe von ahd. Wörtern dem Anschein nach doppelte lat. Lemmata als Bezugswörter erscheinen, so etwa im Falle von lat. patria und familia (zu Lc 2,4), in dem den beiden lat. Wörtern nur das eine ahd. Wort hiuuiske gegenübersteht. – Als vierte ‘vollständige’ Ausgabe erschien im Jahre 1963 unter dem – nicht nur für die ‘St. Pauler Lukasglossen’ – keineswegs zu sichernden übergreifenden Titel ‘Drei Reichenauer Denkmäler der altalemannischen Frühzeit’ die Edition (S. 1-28) von U. Daab. Die Ausgabe von U. Daab, die nach ihrem Erscheinen vielfach zitiert wurde, ist aber in den Lesungen wie in der Form der Darbietung ohne jeden eigenständigen Wert. Die Edition ist, wie nicht nur in diesem Fall, im Kern lediglich eine erhebliche Verschlimmbesserung der Ausgabe von E. Steinmeyer. Allein schon die Fehlerhaftigkeit der Lesungen ist unmittelbar nach Erscheinen der Daab’schen Edition in einer 6 Druckseiten umfassenden Mängelliste bereits von E. A. Ebbinghaus (MLN 80 [1965] S. 479-485) umfänglich kritisiert worden. Zudem beruht, im Gegensatz zu den drei vorausgehenden Editionen des 19. Jh.s, die Ausgabe von U. Daab lediglich auf Photokopien (S. 1), was U. Daab zu der in der Sache nicht berechtigten Aussage verleitet, dass die Lesbarkeit des Textes seit der Edition von E. Steinmeyer stark gelitten habe, da „jetzt vieles unleserlich geworden oder schwer zu entziffern“ sei. Im Weiteren führt sie aus, dass ihre Ausgabe „erstmalig das gesamte Latein der Handschrift mit der Glossierung verbunden bringt“ (S. 1), was aber nicht der Fall ist, da das bereits durch A. Holder im Jahre 1878 geschehen ist. Die Edition von A. Holder hat sie aber, ebenso wie die von A. H. Hoffmann, ganz offensichtlich nicht gekannt. Zwar tauchen die Namen Hoffmann und Holder gelegentlich im Anmerkungsapparat U. Daabs auf, das beruht aber in allen Fällen ausschließlich auf entsprechenden Anmerkungen in der Edition E. Steinmeyers. – Die grundlegende crux der insgesamt vier zwischen 1843 und 1963 erschienenen ‘vollständigen’ Ausgaben liegt, einmal ganz abgesehen von der Qualität der Lesungen, darin, dass den Editoren die Art der Gesamtanlage und die Intentionen des Korrektors und ‘Übersetzers’ verborgen geblieben ist. Diese Ausgaben sind deshalb auch mit einer stattlichen Reihe von falschen Bezügen und Fehllesungen belastet und werden schon in der äußeren Form der Wiedergabe diesem in vielerlei Hinsicht gewichtigen ahd. Denkmal weder im Ganzen noch im Einzelnen gerecht. In der Folge

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dieser Editionen kam es in der Sekundärliteratur zu vielfältigen Fehlbeurteilungen und zu zahlreichen Irrtümern, insbesondere auch im Bereich der Wörterbücher und Grammatiken zum Althochdeutschen. Das im Ganzen komplexe, aber dennoch völlig eindeutige Verfahren der Herstellung des lat. Textes und seiner Übertragung ins Althochdeutsche durch den Bearbeiter des ausgehenden 8. Jh.s wurde erstmalig durch die Untersuchungen von L. Voetz im Jahre 1985 aufgedeckt, die notwendigerweise zu einer – nunmehr fünften – vollständigen Neuedition und einer damit einhergehenden völligen Neubewertung der sogenannten St. Pauler Lukasglossen führten. 3. Ausgaben: L. Voetz, Die St. Pauler Lukasglossen, 1985, S. 177-255 (Text: S. 184-255). – Zur ausführlichen Kritik der insgesamt vier älteren ‘vollständigen’ Editionen sowie der Teilausgaben s. L. Voetz (Die St. Pauler Lukasglossen, S. 39-43 und passim); s. dazu im Überblick auch L. Voetz, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 411-415; St. Stricker, in: Edition und Sprachgeschichte, S. 66-69 (mit Abb. 12 und 13). – Teilwiedergaben nach 1985: W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. I.5, S. 4: Zwar hat man sich in der letzten Aufl. des Ahd. Lb.s zwingend veranlasst gesehen, die bisherige nicht mehr haltbare Präsentation zu Lc 2,1-10 völlig aufzugeben. Die nun – letztlich auf der Basis der Ausgabe von L. Voetz – gewählte Form der ‘Edition’ ist jedoch von der Darbietung wie von den Lesungen her unverständlicherweise unzureichend und fehlerhaft. – St. Müller, Ahd. Lit. (S. 114-117) bietet einen Ausschnitt zu Lc 1,64-66: Die linke Seite gibt zeilenweise die Interlinearversion wieder, die rechte Seite enthält die Übertragung sowohl des lat. Bibeltextes wie der ahd. Entsprechungen ins Neuhochdeutsche. – Abbildungen: L. Voetz, Die St. Pauler Lukasglossen, nach S. 176: vollständiges farbiges Faksimile aller 4 Seiten. – In den Jahren zwischen 1977 und 2012 sind im Zusammenhang mit verschiedenen Ausstellungen einige Katalogbeiträge (mit einzelnen Abbildungen) erschienen, die aber weder von der photographischen Darbietung noch inhaltlich weiterführend sind. – Gute Schwarz-Weiß-Abbildung von f. 1v [nicht 2v (wie S. 10 [Erklärungen zu Tafel I-IX] angegeben !)]: G. Baesecke, Der dt. Abrogans, Tafel II, nach S. 10. 4. Verfahren zur Herstellung des modernisierten Bibeltextes. Lateinische Vorlage. Sprache: Dem Korrektor und ‘Übersetzer’ des lat. Bibeltextes zu Lc 1,64-2,51 hat man in der älteren Literatur in seinem Vorgehen eine mehr oder weniger große Beliebigkeit unterstellt. Tatsächlich aber hat er in einer klaren Systematik, die angesichts des äußeren – eher chaotisch wirkenden – Erscheinungsbildes jedoch nur schwer zu erkennen ist, aus dem ihm vorliegenden ‘alten’ Bibeltext in der Version der Vetus Latina durch verschiedene Tilgungen, Korrekturen und Hinzufügungen einen zeitgemäßen Bibeltext in der Fassung der Vulgata erstellt und diesen so modernisierten Text in einem im Ganzen gleichzeitigen Schritt Wort für Wort ins Althochdeutsche übertragen. Bei der Eintragung der ahd. Wörter geht er dabei so vor, dass er sie prinzipiell unterzeilig vermerkt, in der ersten Zeile einer Spalte jedoch überzeilig. Die lat. Korrekturen zum Bibeltext bringt er tendenziell über der lat. Zeile an, die aber oft schon durch unterzeilige ahd. Eintragungen besetzt ist. Im Zweifels-

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fall gibt der Bearbeiter dem Prinzip einer wie auch immer hergestellten Eindeutigkeit aber Vorrang gegenüber einer mechanisch strengen Systematik, sodass sein Vorgehen äußerlich betrachtet oft eher willkürlich erscheint. Die lat. Eintragungen sind in allen Fällen so zu verstehen, dass sie bestimmte Wörter des lat. Grundtextes ersetzen oder aber den lat. Bibeltext nach der Fassung der Vulgata ergänzen sollen. So gesehen gibt es also auch keine doppelten lat. Lemmata, sondern immer nur ein lat. Bezugswort, das durch das entsprechende ahd. Wort wiedergegeben wird. Im Falle der als Beispiel angeführten Eintragungen zu Lc 2,4 bedeutet das, dass lat. patria des Grundtextes nach der Version der Vetus Latina durch lat. familia nach der VulgataFassung zu ersetzen ist und dass sich die ahd. Eintragung hiuuiske ausschließlich auf lat. familia bezieht. Aufgrund verschiedenster Beobachtungen lässt sich im Weiteren eindeutig ermitteln (L. Voetz, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 411-427; L. Voetz, in: Entstehung des Deutschen, S. 503-513), dass der Bearbeiter des lat. Bibeltextes des Evangeliars aus dem 5. Jh. jedoch seinerseits kein Evangeliar als Vorlage benutzt hat, sondern ein Evangelistar, in dem die einzelnen Perikopen nach ihrer liturgischen Verwendung im Verlauf des Kirchenjahres angeordnet sind. Das lässt sich beispielsweise zweifelsfrei daran erkennen, dass bestimmte größere und kleinere Teile des lat. Bibeltextes unkorrigiert und ‘unübersetzt’ geblieben sind. Die größte Textpassage, die keinerlei Korrekturen des lat. Textes aufweist, betrifft die Verse Lc 1,69-79. In diesem Textstück sind auch nur ganz vereinzelt ahd. Wörter eingetragen. Dies ist die einzige Passage, bei der man mit Recht lediglich von einer Glossierung des lat. Textes sprechen kann, wobei diese hier ganz offenbar nur ‘nebenhin’ vorgenommen worden ist. Völlig unkorrigiert und ohne eine Eintragung eines ahd. Wortes bleibt auch der Vers Lc 2,41. Ansonsten fällt noch deutlich auf, dass vor allem zu Beginn der Verse Lc 2,1 und Lc 2,15 keine Eintragungen ahd. Wörter erfolgt sind und auch keine Korrekturen des lat. Textes. In diesen und noch in einigen anderen geringfügigen Fällen liegt der Grund dafür stets darin, dass die angeführten lat. Texte und Textteile nicht Bestandteil des als Vorlage genutzten Evangelistars waren (L. Voetz, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, insb. S. 422-424). Für das dem Bearbeiter in concreto als Vorlage dienende unbekannte Evangelistar lässt sich darüber hinaus feststellen, dass eine Perikopenordnung vorgelegen haben muss, wie sie auch der gegen Ende des 8. Jh.s zu datierende ‘Comes von Murbach’ aufweist (L. Voetz, in: Entstehung des Deutschen, insb. S. 506f. und 513). Es wird somit im Ganzen eindeutig erkennbar, dass es die grundlegende Intention des Bearbeiters war, den lat. Bibeltext des Evangeliars aus dem 5. Jh. nach einem als Vorlage genutzten Evangelistar in der Fassung der Vulgata zu modernisieren und diesen ‘neuen’ Text – und nur diesen! – in der Form einer Interlinearversion Wort für Wort und Form für Form ins Althochdeutsche zu übertragen. – Im Übrigen tritt so auch ein allem Anschein nach nicht mehr erhalte-

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nes Evangelistar aus der Zeit des ausgehenden 8. Jh.s in Erscheinung, das sich nunmehr für den in der St. Pauler Interlinearversion bewahrten lat. Text zu Lc 1,642,51 eindeutig rekonstruieren lässt und somit resthaft zu einem wertvollen Zeugen der aus dieser Zeit heute nur noch ganz vereinzelt überlieferten Evangelistare wird (L. Voetz, in: Entstehung des Deutschen, insb. S. 504f. und 508-513). Von der Schreibsprache der ahd. Wörter her ist die ‘St. Pauler Interlinearversion’ zu Lc 1,64-2,51 eindeutig dem alem. Sprachraum zuzurechnen (s. BStK-Nr. 777, S. 1495; die sprachliche Untersuchung von C. T. Stewart, Grammatische Darstellung der Sprache des St. Pauler Glossars zu Lukas, Dissertation Berlin 1901, ist in vielerlei Hinsicht weitgehend wertlos). Für die Sprache des frühen Alem. stellt sie eines der wesentlichen Zeugnisse dar. Vom Sprachstand und vom Wortschatz, aber auch vom Verfahren der Interlinearversion und von bestimmten auffallenden Formen der unvollständigen Wiedergabe der ahd. Wörter her ergeben sich dabei insbesondere zur Interlinearversion der Ú ‘Benediktinerregel’ deutliche Parallelen, die jedoch im Hinblick auf den Entstehungsort der St. Pauler Interlinearversion dennoch keinen beweisenden Charakter haben. Die vor allem in der älteren Literatur durchgängig behauptete Reichenauer Herkunft der Interlinearversion lässt sich sachlich-inhaltlich bisher jedenfalls keineswegs nachweisen. Sie kann sich allenfalls auf nicht-sprachliche äußere Kriterien stützen, insbesondere auf die spätmittelalterliche Reichenauer Provenienz des erhaltenen Doppelblattes. Paläographisch bringt B. Bischoff (FMSt. 5 [1971] S. 103, Anm. 3 [hier ohne den Hinweis auf Murbach!] [= B. Bischoff, Mittelalterl. Stud., III, S. 75, Anm. 3 [mit Hinweis auf Murbach]]) die südwestdeutsche Schrift jedoch eher mit Murbach in Verbindung und für die Ambrosius-Hs., der das erhaltene Doppelblatt späterhin als doppeltes Schutzblatt diente, besteht die Vermutung, dass sie sich im 9. Jh. in St. Gallen befunden habe (CLA X, Nr. 1450). Es gibt also bisher keine eindeutigen Indizien, aufgrund derer sich der Entstehungsort der St. Pauler Interlinearversion innerhalb des deutschsprachigen Südwestens genauer festlegen ließe. 5. Einordnung: In der ‘St. Pauler Interlinearversion zu Lc 1,64 – 2,51’ zeigt sich zum ersten Mal in voller Form eine bestimmte auffallende äußere Systematik, die alle gegen Ende des 8. Jh.s und in den ersten Jahrzehnten des 9. Jh.s überlieferten altalem. Interlinearversionen in besonderer Weise charakterisiert. Die St. Pauler Interlinearversion steht zusammen mit der wahrscheinlich nur unwesentlich älteren und nur wenige Wörter umfassenden Ú ‘St. Galler Interlinearversion zu Joh. 19,38’, die erst von L. Voetz (in: Grammatica ianua artium, S. 185-195) als solche erkannt wurde, zeitlich am Anfang der erhaltenen Zeugnisse, denen dann zu Beginn bzw. im ersten Drittel des 9. Jh.s die beiden umfangreichsten altalem. Interlinearversionen der Ú ‘Benediktinerregel’ und der Ú ‘Murbacher Hymnen’ folgen. Als ‘Nachklang’

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dieser Reihe von altalem. Interlinearversionen ist darüber hinaus wohl auch noch die nur in Fragmenten aus dem zweiten Drittel des 9. Jh.s überlieferte Interlinearversion des Psalters (Ú Psalter: ‘Fragmente einer altalemannischen Interlinearversion’) zu betrachten, deren Ursprünge wohl auch in die ersten Jahrzehnte des 9. Jh.s zurückführen, die sich aber – zumindest in der erhaltenen Form – deutlich von den übrigen vier altalem. Interlinearversionen unterscheidet. Zu den äußerlich verbindenden Merkmalen der von der Überlieferung her vier ältesten altalem. Interlinearversionen zählen unter anderem, dass die in den lat. Texten auftretenden Namen und Nomina Sacra und viele der Kleinwörter nicht oder nur in begrenztem Umfang ins Althochdeutsche übertragen werden und dass nicht wenige der ahd. Wörter nur in verkürzter Form erscheinen (s. dazu im Ganzen wie zu Einzelfragen insbesondere L. Voetz, Die St. Pauler Lukasglossen, S. 112-162; L. Voetz, Sprachwissenschaft 12 [1987] S. 166179; N. Henkel, in: Übersetzen im Mittelalter, insb. S. 62-71; O. Ernst, in: BStH I, S. 282-315 [mit weiterer Literatur]; zum Problem von Getrennt- und Zusammenschreibung s. auch L. Voetz, in: Neue Perspektiven der Sprachgeschichte, insb. S. 55-58). Trotz der verbindenden Gemeinsamkeiten weist die ‘St. Pauler Interlinearversion zu Lc 1,64 – 2,51’ aber auch einige Besonderheiten auf, die sie in der Gesamtheit der Aspekte unter den erhaltenen Denkmälern des Althochdeutschen einzigartig macht. So ist sie einer der ganz seltenen Fälle originaler ahd. Überlieferung, wie bereits R. Kögel festgestellt hat (Gesch. d. dt. Litt. I, 2, S. 506: „Wir haben hier ein Stück Althochdeutsch von erster Hand vor uns ...“). Vor allem liegt hier aber auch der wohl einmalige Fall vor, dass sich – im Gegensatz zu den in der Regel kodikologisch planmäßig (E. Hellgardt, S. 262) eingerichteten Interlinearversionen – der Prozess der Entstehung dieser Interlinearversion ganz unmittelbar beobachten lässt. Auch ist die St. Pauler Interlinearversion, wie alle ahd. Interlinearversionen (s. dazu insgesamt W. Haubrichs, in: Sprache. Literatur. Kultur, S. 237-261; s. auch E. Hellgardt, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 263; L. Voetz, in: BStH I, S. 908-910), zwar durchaus in einem monastischen Umfeld entstanden, sie ist aber aufgrund der ganzen Art der Anlage nicht zu einem allgemeineren Gebrauch, beispielsweise im engeren Rahmen der Schule, bestimmt gewesen, sondern aus einem wohl mehr individuell geprägten ‘spontanen’ Interesse heraus entstanden – zum Zwecke einer intensiveren ‘persönlichen’ Aneignung des in liturgischer Verwendung genutzten lat. Bibeltextes. 6. Literatur: Zur Literatur vor 1985 s. L. Voetz, Die St. Pauler Lukasglossen, S. 13-20. – W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. I.5, S. 4; BStK-Nr. 777, S. 1494-1496 (mit umfangreichen Literaturangaben); U. Daab, Drei Reichenauer Denkmäler der altalemannischen Frühzeit, ATB 57, Tübingen 1963, S. 1-28; O. Ernst, Kürzung in volkssprachigen Glossen, in: BStH I, S. 282-315; R. Gryson, Altlateinische Handschriften – Manuscrits vieux latins. Répertoire descriptif, I, Freiburg im Breisgau 1999, S. 49, Nr. 26 (Handschriftenbeschreibung; unter veralteter Signatur „Stiftsbibliothek 1/1“ [statt 1/8 !] ; W. Haubrichs, Das

Persius-Glossierung

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monastische Studienprogramm der ‘Statuta Murbacensia’ und die altalemannischen Interlinearversionen, in: Sprache. Literatur. Kultur. FS Wolfgang Kleiber, S. 237-261; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 188, 196 und 199; E. Hellgardt, Einige altenglische, althoch- und altniederdeutsche Interlinearversionen des Psalters im Vergleich. Mit zehn Abbildungen, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 261-296; N. Henkel, Die althochdeutschen Interlinearversionen. Zum sprach- und literarhistorischen Zeugniswert einer Quellengruppe, in: Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Kolloquium 1994. Hg. J. Heinzle – L. P. Johnson – G. Vollmann-Profe, Wolfram-Studien 14, Berlin 1996, S. 46-72, mit Abbildungen 1-5, nach S. 483; St. Müller, Ahd. Lit., S. 114-117, 330-331; E. Seebold, Chronolog. Wb. [I], S. 30f.; St. Stricker, Zur Edition althochdeutscher Glossen. Der handschriftliche Befund und seine sprachhistorischen Folgen, in: Edition und Sprachgeschichte. Baseler Fachtagung 2.-4. März 2005. Hg. v. M. Stolz, in Verbindung mit R. Schöller und G. Viehhauser, Beihefte zu editio 26, Tübingen 2007, S. 43-72, insb. S. 66-69; L. Voetz, Die St. Pauler Lukasglossen. Untersuchungen – Edition – Faksimile. Studien zu den Anfängen althochdeutscher Textglossierung. Mit 4 farbigen Abbildungen, StA 7, Göttingen 1985; L. Voetz, Formen der Kürzung in einigen alemannischen Denkmälern des 8. und 9. Jahrhunderts, Sprachwissenschaft 12 (1987) S. 166-179; L. Voetz, Die althochdeutschen ‘Glossen’ zu Joh. 19,38, in: Grammatica ianua artium. FS Rolf Bergmann, S. 185-195; L. Voetz, Zur lateinischen Vorlage und zum ‘Charakter’ der sogenannten St. Pauler Lukasglossen. Mit zwei Abbildungen, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 411-427; L. Voetz, in: 2VL XI, Sp. 1168-1170; L. Voetz, Zur Rekonstruktion der lateinischen Vorlage der ‘St. Pauler Interlinearversion zu Lc 1,64-2,51’ (sogenannte St. Pauler Lukasglossen), in: Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach, S. 503-513; L. Voetz, Einige Beobachtungen zur Getrennt- und Zusammenschreibung im Althochdeutschen, in: Neue Perspektiven der Sprachgeschichte. Internationales Kolloquium des Zentrums für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg 11. und 12. Februar 2005. Hg. v. U. Götz – St. Stricker, Germanistische Bibliothek 26, Heidelberg 2006, S. 51-64, insb. S. 55-58; L. Voetz, Durchgehende Textglossierung oder Übersetzungstext: Die Interlinearversionen, in: BStH I, S. 887-926, insb. S. 898-901, 904 und passim.

LOTHAR VOETZ

Persius (Aulus Persius Flaccus), Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Eine antike Vita bietet die verlässlichsten Angaben: Geboren am 4.12.34 n. Chr. in Volaterrae als Sohn einer ritterlichen Familie, bekam P. seine Ausbildung in Rom, u.a. bei dem Stoiker Cornutus, in dessen Kreis er auch den jüngeren Seneca und den Epiker Ú Lucan kennenlernte. P. starb früh, kaum 28 Jahre alt, am 24.11.62. Das Frühwerk ist verloren, erhalten blieb ein unvollendetes Buch mit einem Einleitungsgedicht und 6 Satiren, dessen sprachlich-stilistische Schwierigkeiten spätestens im 4. Jh. eine offenbar marginal notierte Erklärung nötig machten. Sie wurde im 9. Jh. von Heiric von Auxerre zu einem selbstständigen Kommentar zusammengefügt, als dessen Autor Cornutus, der Lehrer des P., ausgegeben wurde. Im Mittelalter

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blieb P., auch wegen der Schwierigkeit seiner Satiren, in der Wirkung weit hinter den Satiren des Ú Horaz und vor allem des Ú Juvenal zurück. Die Überlieferung setzt im 7. Jh. ein und umfasst bis gegen 1200 über 100 erhaltene Hss., die zum großen Teil dem Schulbetrieb entstammen und lat. glossiert und kommentiert sind; hinzu kommen noch rd. 20 Hss. mit Kommentaren. Bisher sind aus diesem Bestand 21 Hss. nachgewiesen, die verstreut insgesamt rund 150 ahd. Gll. enthalten. Das Spätmittelalter zeigt großes Interesse an den Satiren des P.: rd. 400 weitere Hss. und rd. 60 Druckausgaben bis um 1500 sind nachgewiesen. Aus der Zeit um 1500 stammt die erste (Vers-)Übersetzung. Literatur: O. Jahn, Auli Persii Flacci Satirarum liber, Leipzig 1843, S. 243-350 (Abdruck spätantiker Scholien); B. Munk Olsen, L’Étude, II, S. 183-220; IV,1, S. 95-99; L. D. Reynolds, Texts and Transmission, S. 293-295; D. Robathan  F. E. Cranz – P. O. Kristeller – B. Bischoff, Persius Flaccus, in: Catalogus Translationum et Commentariorum, III, S. 239-243; P. Scarcia Piacentini, Saggio di un censimento dei manoscritti continenti il testo di Persio e gli scoli e i commenti al testo, Roma 1973; P. Scarcia Piacentini, Corrigenda e addenda al censimento dei manoscritti, Roma 1975; P. L. Schmidt, Aulus P. Flaccus, in: Der Neue Pauly IX, 2000, Sp. 618-620.

2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Bern, BB Cod. 257 (BStK-Nr. 63): P., Sat. mit zahlreichen lat. Interlineargll., anfangs auch Marginalkommentar mit z.T. spätantikem Material (ps.-Cornutus). Insgesamt 15 ahd. Gll., davon 14 interlinear, 1 marginal stehend. 10./11. Jh. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. – Ed. StSG II, S. 361 (Nr. DCCLI); IV, S. 248 (Nr. MCCXLI); Ergänzungen bei K. Siewert, in: Althochdeutsch, I, S. 609. – 2. Edinburgh, National Library of Scotland Adv. MS 18. 5. 10 (BStK-Nr. 107): Kommentarauszüge zu Juvenal, Lucan, P., Sedulius, Horaz, Vergil, Prudentius. Dichte lat. Glossierung. Insgesamt 118 ahd. Gll., interlinear, seltener im Kontext oder marginal stehend, davon 2 zu P. 1. Hälfte 12. Jh. Sprachgeograph. Einordnung unklar (K. Siewert: frk.; E. Langbroek: alem.). E. Tiemensma-Langbroek, ABÄG 11 (1976) S. 1-36. – Ed. E. Langbroek, Zwischen den Zeilen, S. 52; 63-118. – 3. Florenz, BML Plut. 68.24 (BStK-Nr. 151b): Textsammlung mit Arator, Avian, Ilias latina, P., Beda, De arte metrica. Die Sat. des P. mit reicher lat. Glossierung und Kommentierung. Zahl und Einordnung der von K. Siewert entdeckten dt. Glossen noch nicht bestimmt. Edition fehlt. – 4. Kopenhagen, Det Kongelige Bibliotek Gl. Kgl. Saml. 2028 4º (BStK-Nr. 356a): P., Sat. und Vita. Intensiv lat. glossiert und marginal kommentiert. 1 mfrk. Interlineargl. 11. Jh., möglicherweise aus St. Pantaleon, Köln. – Ed.: E. Jørgensen, Catalogus codicum latinorum medii aevi Bibliothecae Regiae Havniensis, Kopenhagen 1926, S. 313; Berichtigungen von R. Reiche, in: Fachprosa-Studien, S. 494. – 5. Leiden, UB Voss. lat. oct. 15 (BStK-Nr. 373): Lat. Glossen zur Bibel, lat. Glossen und Scholien von der Hand des Ademar von Chabannes zu P., Juvenal und Prudentius. 19 im fortlaufenden Text stehende dt. Glossen uneinheitlichen Lautstands zu den P.- und Juvenal-Scholien sowie zu Prudentius von der Hand des Ademar von Chabannes. 11. Jh., aus S. Martial, Limoges. – Ed. StSG IV, S. 232-234 (MCCXXI); R. Bergmann, Althochdeutsche Glossen bei Ademar von Chabannes, in: Landschaft und Geschichte. FS Franz Petri, S. 46-48.

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– 6. München, BSB Clm 330 (f. 60-75) (BStK-Nr. 448 II): Teil 2 einer Hs. aus zwei ursprünglich selbstständigen Teilen. P., Sat. mit dem Kommentar des ps.-Cornutus. Intensiv lat. glossiert und kommentiert. Insgesamt 5 obd. Gll. von drei Händen, davon 4 interlinear, 1 marginal stehend. 10. Jh. – Ed. K. Siewert, in: Althochdeutsch, I, S. 612-615. – 7. München, BSB Clm 14781 (BStK-Nr. 613): Sammlung römischer und spätantiker Autoren aus dem 11., 12. und 13. Jh. (Cicero, In Catilinam; Prudentius, Psychomachia; Lucan, Pharsalia; P., Sat.). P., Sat., lat. interlinear glossiert. 4 ahd. Interlineargll. Anfang 12. Jh. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. – Ed. StSG II, S. 362 (Nr. DCCLIII). – 8. München, BSB Clm 15965 (BStK-Nr. 621): Codex aus zwei Teilen. Teil 1: zwei Kommentare zu den Sat. (unvollst.); Teil 2: vollst. Kommentar zu den Sat. Hierin 5 dt. Gll., davon 2 interlinear, 3 im Kontext stehend. 12. und 13. Jh. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. – Ed. StSG II, S. 361 (DCCL). – 9. München, BSB Clm19474 (BStK-Nr. 671): Klassiker-Sammlung mit Texten und Kommentaren zu Sallust, Cicero, Ovid, dazu Schultexte (Theodolus, Sedulius); Sammlung von Accessus. Zu P.: Accessus und Scholien zu den Sat. 2 obd. Interlineargll. zu den Scholien von der Texthand. Ende 12. Jh. – Ed. StSG V, S. 31 (Nr. DCCXLIXd). – 10. München, BSB Clm 19478 (BStK-Nr. 672): P., Sat. mit anschließendem Kommentar. Lat. glossiert und marginal kommentiert. Insgesamt 9 obd. Gll. zu den Sat., davon 4 interlinear, 5 marginal stehend. Ende 12. Jh. Möglicherweise Vorlage von BStK-Nr. 710h, unten Nr. 14. – Ed. 8 Gll. bei StSG V, S. 31 (Nr. DCCXLIXc); Nachtrag einer weiteren Glosse bei K. Siewert, Glossenfunde, S. 128. – 11. München, BSB Clm 19490 (BStK-Nr. 676): P., Sat., Scholien, Vita, Accessus. Durchgängig intensiv lat. glossiert und kommentiert. 21 dt. Gll. zu den Sat. 11./12. Jh. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. – Ed. StSG V, S. 30 (Nr. DCCXLIXb). – 12. München, BSB Clm 23577 (BStK-Nr. 690): P., Sat. mit Vita und Kommentar des ps.Cornutus. Geringfügige lat. Glossierung. Je 1 ahd. Gl. zu Text und Kommentar. 11./12. Jh. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 104. – 13. München, BSB Clm 14498 [f. 1-17] (BStK-Nr. 710e I): P., Vita, Sat. Durchgängig und äußerst intensiv lat. glossiert und kommentiert, z.T. auf eingefügten Blättern. 1 dt. Gl. von der Haupthand der Kommentierung. 11. Jh. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. – Ed. K. Siewert, in: Althochdeutsch, I, S. 612. – 14. München, BSB Clm 19477 (BStK-Nr. 710h): Der Band enthält auf einem Vorsatzblatt den Anfang des ps.-Cornutus-Kommentars (11. Jh.), sodann zwei P.-Ausgaben. 1 (f. 1r-13r): P., Sat. mit Accessus. Sehr intensiv lat. glossiert und kommentiert. Ende 12. Jh. – 2 (f. 14r-25v): P., Sat. mit Accessus. Intensiv lat. glossiert und kommentiert. 12. Jh. Insgesamt 13 obd. Interlineargll., davon 2 zum ps.-Cornutus-Kommentar sowie 11 zu den Sat. von Teil 1. Diese sind verwandt mit denen des Clm 19478 (BStK-Nr. 672, oben Nr. 10, möglicherweise daraus abgeschrieben. – Ed. K. Siewert, Glossenfunde, S. 115f., 118-122. – 15. München, BSB Clm 19489 (f. 65-87) (BStK-Nr. 710j): Teil 2 einer Sammelhandschrift: P., Satiren mit Vita der Proba und Kommentar des ps.-Cornutus. Intensiv lat. glossiert und kommentiert. Dt. Persiusglossierung von K. Siewert entdeckt. Anzahl und Position, Zeit und Ort sowie sprachgeogr. Einordnung noch nicht bestimmt. Edition steht aus. – 16. Paris, BNF lat. 9345 (BStK-Nr. 753): Sammelhandschrift römischer Klassiker aus Echternach mit Horaz-Werkausgabe (Horaz-Viten, Carmina, Epoden, Carmen saeculare, Ars poetica, Satiren, Episteln), mit den Sat. des P. und Juvenal und den Komödien des Terenz. Ende 10. Jh. Intensiv lat. glossiert und kommentiert. Insgesamt 32 dt. Gll. (R. Bergmann, Mittelfränk. Glossen, S. 142-146: mfrk.), davon 5 zu P., von denen 4 wohl von der Hand

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Thiofrieds von Echternach eingetragen sind, dessen Anteil an der lat. Glossierung noch zu ermitteln ist. Mitte 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 361f. (Nr. DCCLII); Nachtrag bei J. Schroeder, PSHL 91 (1977) S. 351f. – 17. Rom, BAV Pal. lat. 1710 (BStK-Nr. 812): Sammelhandschrift mit zwei jeweils selbstständigen Faszikeln mit dem Text der Sat. 1 (f. I + 1-15): Probus, Vita des P., Sat. Sehr intensiv lat. glossiert und kommentiert. Tours, 9. Jh. – 2 (f. 16-23): auf dem ursprünglich leeren f. 16r Eintrag des ‘Modus Liebinc’. Es folgt: P.-Text, intensiv lat. glossiert und kommentiert. 11. Jh. Insgesamt 16 ahd. Gll. zu Teil 2, wohl von mehreren Händen, davon 15 interlinear, 1 marginal stehend. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. – Ed. H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963), S. 227f.; Nachtrag bei K. Siewert, in: Althochdeutsch, I, S. 615. – 18. Rom, BAV Reg. lat. 1562 (BStK-Nr. 836e): Sammelhandschrift, Faszikel 1 mit P., Sat. Nur anfangs dicht lat. glossiert und kommentiert. 3 dt. Gll. (nach K. Siewert, S. 621: frk.). 10./11. Jh., vielleicht St. Gallen. – Ed. K. Siewert, in: Althochdeutsch, I, S. 611. – 19. Wien, ÖNB Cod. 85 (BStK-Nr. 890 II): 2. und 3. Teil einer Sammelhandschrift mit den Sat. des P. und den Komödien des Terenz. Sehr intensiv lat. glossiert und kommentiert. Insgesamt 18 ahd. Gll. zu P., davon 14 Interlineargll. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. 1. Hälfte 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 360f. (Nr. DCCXLIX). – 20. Wolfenbüttel, HAB Cod. Guelf. 79 Gudianus latinus 2º (BStK-Nr. 977d): Sammelhandschrift, wohl aus St. Martial, Limoges, mit Werken Bedas, des Marius Victorinus, Arator, Sedulius, P., Sat. mit Vita der Proba. Intensiv lat. glossiert und kommentiert. 1 obd., wohl bair. (K. Siewert, S. 264) Interlinearglosse. 11. Jh. – Ed. K. Siewert, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (III), S. 262f. – 21. Nürnberg, Melanchthon-Gymnasium Ebner. lat. qu. 36 (BStK-Nr. 1043): Kommentar des ps.-Cornutus zu den Sat. des P., darin f. 37v kommentierende Notizen, deren Bezug über P. hinausgeht und deren Herkunft sich nicht eindeutig bestimmen lässt (vgl. K. Siewert, Glossenfunde S. 130-141). Hier 4 obd. Gll. im fortlaufenden Kommentartext stehend, davon 3 in bfk-Geheimschrift ausgeführt. – Ed. K. Siewert, Glossenfunde S. 136.

3. Forschungsstand: Die in Glossierung und Kommentierung sichtbare intensive Arbeit am P.-Text einerseits und die durch K. Siewert vorgelegten Neufunde andererseits machen es wahrscheinlich, dass in der P.-Überlieferung noch weitere deutsche Glossen entdeckt werden können. Die Ausgangslage ist denkbar günstig, denn der einschlägige Bestand an P.-Handschriften des Zeitraums bis gegen 1200 ist von B. Munk Olsen, L’Étude, mit dem Anspruch auf Vollständigkeit verzeichnet. 4. Glossographische Aspekte: Regelmäßig sind die deutschen Glossen Teil einer Praxis der Texterschließung (Glossierung, Kommentierung), die weit überwiegend die lat. Sprache nutzt. Die Frage, warum stellenweise statt der bewährten lat. Praxis eine Glossierung in deutscher Sprache erfolgt, wäre von Fall zu Fall zu prüfen. 5. Räumliche und zeitliche Verteilung: Lat. glossierte und kommentierte P.-Handschriften sind seit dem 9. Jh. erhalten. Mit 2 obd. Hss. setzt im 10. Jh. die deutsche P.-Glossierung ein. Obd. Skriptorien sind bei den P.-Handschriften mit deutschsprachigen Glossen offenbar führend, vor allem im 11./12. Jh. Die wenigen fränkischen Glossen (oben Nr. 4, 16, 18) führen K. Siewert zu der beträchtlich überzoge-

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nen Ansicht, nach der „Köln als Ortspunkt einer eigenständig fränkischen, zu Beginn der althochdeutschen Persiusglossierung überhaupt stattfindenden Übersetzertätigkeit“ [!] anzusehen sei (in: Althochdeutsch, I, S. 624). Im Zusammenhang der relativ dünnen deutschen Glossierung von einer „volkssprachigen Persiusübersetzung“ (ebd., S. 618) zu sprechen, ist verfehlt. Glossen sind stets punktuell eingesetzte Verstehenshilfen, nicht Reste einer auf Textkohärenz zielenden Übersetzertätigkeit. 6. Beziehungen zwischen den Glossierungen: K. Siewert stellt für die deutsche P.Glossierung im Clm 19478 „eine deutliche Bindung an die Persiusglossierung des Clm 19477 (I)“ fest und bemerkt: „Über die sehr enge Filiation hinaus gehört die Glossierung des Clm 19478 in den größeren Zusammenhang einer oberdeutschen Persiusglossierung, die auch durch weitere Tegernseer Handschriften des 12. Jahrhunderts ausgewiesen ist.“ (K. Siewert, Glossenfunde, S. 128f.; sieh auch zu weiteren Verbindungen K. Siewert, in: Althochdeutsch, I, S. 620). Angesichts der durchgängig geringen Frequenz deutschsprachiger Glossen müsste man bei der Feststellung und Bewertung von Abhängigkeiten freilich auch das mittradierte Erschließungsinstrument der lat. Glossierung einbeziehen. Dazu fehlen bislang die Ansätze einer Erforschung. 7. Umfang und Bedeutung: Mit insgesamt bislang etwa 150 deutschen Gll. in 21 derzeit erfassten Hss. steht P. in der Gruppe der antiken Autoren hinsichtlich ihrer volkssprachigen Glossierung mit 1,7% der Glossen dieser Gruppe an vierter Stelle, nach Ú Vergil (87,1%), Ú Sallust (4,3%) und Ú Horaz (3,3%); sieh R. Bergmann, in: BStH I, S. 85-87. 8. Literatur: B. Bischoff, Living with the satirists, in: B. Bischoff, Mittelalt. Stud. III, S. 260-270; N. Henkel, Persius Flaccus, Aulus, in: 2VL VII, Sp. 408-411; N. Henkel, Die Satiren des Persius in einer deutschen Reimpaarübertragung, PBB 101 (Tübingen 1979) S. 66-85; N. Henkel, Glossierung und Texterschließung, in: BStH I, S. 468-496; K. Siewert, in: Althochdeutsch, I, S. 608-624; K. Siewert, Glossenfunde S. 115-129 u.ö. (s. Register).

NIKOLAUS HENKEL

‘Petruslied’ 1. Überlieferung: München, BSB Clm 6260, f. 158v. Die durchgehend mit Neumen versehene Aufzeichnung füllt als Nachtrag den unteren Teil der Schlussseite einer im 3. Viertel des 9. Jh.s in Freising unter Bischof Anno (854-875) angefertigten Kopie von Hrabans Genesiskommentar und ist einer (kalligraphisch ungeübten) Freisinger Hand aus der Zeit um 900 oder dem frühen 10. Jh. zu verdanken (vgl. B. Bischoff, Die südostdt. Schreibschulen, I, S. 69, 120f.; II, S. 218; B. Bischoff, FMSt 5 (1971)

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S. 114 (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 88); N. Daniel, Handschriften des 10. Jahrhunderts aus der Freisinger Dombibliothek, Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 2, München 1973, S. 45f., 48f., 53, 74). Ob der oberhalb des ‘P.’ (als Federprobe?) eingetragene Name Suonhart auf den Schreiber deutet, ist unklar. 2. Ausgaben: W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. XXXIII; J. B. Docen, Miscellaneen I, 1807, 21809, S. 3f. (Erstveröffentlichung); A. H. Hoffmann, Fundgruben I, S. 1; H. F. Massmann, Abschwörungsformeln, Nr. 64 mit Tafel 5 (= erste Reproduktion von Text und Neumen nach der Hs.); MSD Nr. IX, I, S. 21f., II, S. 61-64; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XXI, S. 103f. Daneben diverse Abdrucke in Anthologien: W. Haug – B. K. Vollmann, Frühe dt. Lit., S. 130f. (mit Übers.); H. Mettke, Altdt. Texte, S. 90; St. Müller, Ahd. Lit., S. 78f. (mit Übers.); H. D. Schlosser, Ahd. Lit. (1980), S. 246f. (mit Übers.); H. D. Schlosser, Ahd. Lit. (2004), S. 150f. (mit Übers.) – Faksimilia: M. Enneccerus, Die ältesten dt. SprachDenkm., Tafel 39; E. Petzet – O. Glauning, Dt. Schrifttafeln, I, Tafel 9; H. Fischer, Schrifttafeln, Tafel 20. – Zusammenstellung der musikalischen Rekonstruktionsversuche bei H. Hucke, S. 71; H. Moser – J. Müller-Blattau, S. 15; vgl. PadRep.

3. Inhalt: Das ‘P.’, neben Ú ‘Georgslied’ und Ratperts (lat.) Lobgesang auf den Hl. Gallus wichtigster Repräsentant der ahd. Heiligenpoesie und „ältestes deutsches Kirchenlied“ (M. Wehrli, S. 88), ist ein dreistrophiger Bittgesang, der je zwei vierhebige Reimpaare (bzw. zwei binnengereimte Langzeilen) mit dem gleichfalls zwei Vierheber füllenden Refrain Kyrie eleyson, Christe eleyson als festem Strophenabschluss verbindet. Strophe I hebt die von Gott verliehene Macht des Apostelfürsten hervor, jeden Menschen zu retten, der seine Hoffnung auf ihn als Heilsvermittler richtet. Strophe II variiert und konkretisiert, indem sie Petrus als Himmelspförtner vergegenwärtigt, der den Zutritt zum himmlischen Paradies erlauben, aber auch verwehren kann (vgl. Mt 16,18f.). Strophe III ruft schließlich zur gemeinsamen Bitte an den gotes trnjt (V. 7) auf, sich der sündigen Menschheit gnädig zu erbarmen. Das ‘P.’ ist ein Spiegel der unter den Karolingern auflebenden Petrusverehrung (vgl. Chr. Wells, S. 171), inhaltlich aber durchweg konventionell, und der Text „wäre literarisch überhaupt nicht bemerkenswert, wenn er nicht in deutscher Sprache und in regelmäßig alternierenden Otfridversen abgefasst wäre“ (D. Kartschoke, S. 166). Kerngedanken und Einzelwendungen zeugen von Nähe zur lat. Petrus-Hymnik. Anregungen könnten insbesondere von der dritten Strophe des Prozessionshymnus Aurea luce et decore roseo (Analecta hymnica 51, Nr. 188) ausgegangen sein. Die wiederholt geäußerte Annahme, das ‘P.’ sei Nachdichtung oder gar Kontrafaktur dieses Vorbilds, lässt jedoch außer Acht, dass der Kyrie-Ruf und die Bittformeln der Schlussstrophe zugleich auf das Muster der kirchlichen Litanei verweisen. Auch wenn ein entsprechender (paraliturgischer) Gebrauch aus Refrainresponsorium, ‘Wir’-Formen und litaneiartiger Ausrichtung des Liedtextes mit hinreichender

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Sicherheit erschlossen werden kann, das ‘P.’ also wahrscheinlich als Prozessionsoder Wallfahrtslied fungiert hat, sind alle bisherigen Versuche, einen konkreteren Verwendungszweck wahrscheinlich zu machen, Spekulation geblieben. 4. Datierung und Lokalisierung: Ungewiss ist auch das tatsächliche Alter des ‘P.’, da eine zeitliche Differenz zwischen Entstehung und Niederschrift nicht ausgeschlossen werden kann. Die Frage, ob und wie weit man den Text zurückdatieren darf, ist unterschiedlich beantwortet worden. Dass sie mit der Frage nach der Existenz einer ahd. Endreimdichtung vor Ú Otfrid zusammenhängt, ergibt sich u. a. daraus, dass ‘P.’ und ‘Evangelienbuch’ eine gemeinsame Verszeile aufweisen (V. 9 = Otfrid I,7,28), die der eine Autor sehr wohl vom anderen übernommen haben könnte. Jede der beiden in Betracht kommenden Entlehnungsrichtungen hat ihre Befürworter gefunden, wobei das für die Priorität Otfrids geltend gemachte Argument, die in rhythmischer Glätte, ebenmäßiger Kadenzgestaltung und Reinheit der Reime sich dokumentierende, hoch entwickelte Verskunst des ‘P.’ verbiete einen frühen Ansatz von selbst, von Gewicht ist. Dennoch räumt die neuere Forschung mehrheitlich die Möglichkeit einer vorotfridischen Entstehung des ‘P.’ ein, rechnet aber auch damit, dass ‘P.’ und Otfrid gänzlich unabhängig voneinander formuliert, d. h. auf vorliterarische volkssprachige Heiligenlieder zurückgegriffen haben (vgl. W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 330-332; M. Wehrli, S. 89). Buchgeschichtlicher Befund und bair. Schriftdialekt legen Freising als mutmaßlichen Entstehungsort nahe, nötigen jedenfalls nicht zur Ansetzung einer sprachlich abweichenden Vorstufe. Die eher zum Rhfrk. stimmenden Sprachmerkmale (fir- und gi-Präfixe) sind zwar als Relikte eines erschlossenen frk. Originals bzw. als Spuren eines von Hause aus frk. Schreibers gedeutet worden, treten aber auch in anderen bair. Schriftzeugnissen des 9. und 10. Jh.s auf. 5. Musikalischer Charakter: Obwohl die linienlose Neumierung des ‘P.’ keine zuverlässige Wiederherstellung der ursprünglichen Singweise erlaubt, lässt sich der Notation zweifelsfrei entnehmen, dass die durch viele Zweitonverbindungen geprägte Melodie nicht volkstümlich gewesen sein kann, sondern im Stil des gregorianischen Chorals gehalten war, vielleicht dem Bereich zwischen Hymnenmelodik und der musikalischen Faktur von Litaneitropen angehört hat. Aufzeichnungsvarianten innerhalb der drei ausnotierten Strophen dürften Vortragsfreiheiten signalisieren, nicht jedoch eine vermeintliche Leichstruktur. Über die Aufführungsmodalitäten im Einzelnen geben die Neumen keine Auskunft. Text- und Melodietyp (soweit erkennbar) sprechen zusammen mit Rückschlüssen aus der Weiterentwicklung des dt. geistlichen Liedes im Mittelalter dafür, dass das ‘P.’ als Wechselgesang zwischen Vorsänger und der mit der Refrain-Leise respondierenden Gemeinschaft vorgetragen

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‘Petruslied’

wurde: eine Praxis, die auch das Ú ‘Ludwigslied’ bezeugt (V. 46f.; vgl. W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 330). 6. Literatur: J. K. Bostock, Handbook, S. 212-214; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 203-207; U. Ernst, Der Liber Evangeliorum Otfrids, S. 371-378; H. Fränkel, Aus der Frühgeschichte des deutschen Endreims, ZDA 58 (1921) S. 41-64, hier S. 54-59; K. Gamber, Das altbairische ‘P.’ im Zusammenhang mit dem literarischen und musikalischen Leben in Regensburg während des 9. Jh.s, in: Sacerdos et Cantus Gregorianae Magister FS Ferdinand Haberl zum 70. Geburtstag, hg. v. F. A. Stein, Regensburg 1977, S. 107-116; J. S. Groseclose – B. O. Murdoch, Die ahd. poet. Denkm., S. 77-81; P. Habermann, Die Metrik der kleineren ahd. Reimgedichte, S. 29-34, 116-120; W. Haubrichs, Georgslied, S. 161-179; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 330f.; W. Haug, Funktionsformen der althochdeutschen binnengereimten Langzeile, in: Werk – Typ – Situation. FS Hugo Kuhn, S. 20-44, hier S. 23f.; W. Haug – B. K. Vollmann, Frühe dt. Lit. , S. 1117-1120; P. Hörmann, Untersuchungen zur Verslehre Otfrids, LWJB 9 (1939) S. 1-106, hier S. 66-69; H. Hucke, Die Neumierung des ahd. ‘P.’, in: Organicae voces. FS Joseph Smits van Waesberghe zum 60. Geburtstag, Amsterdam 1963, S. 71-78; A. Hübner, Die deutschen Geißlerlieder. Studien zum geistlichen Volksliede des Mittelalters, Berlin/ Leipzig 1931, S. 233-235; E. Jammers, Das mittelalterliche deutsche Epos und die Musik, HdJB 1 (1957) S. 31-90, hier S. 82-85; J. Janota, Studien zu Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter, MTU 23, München 1968, S. 219f.; D. Kartschoke, Gesch. d. dt. Lit., S. 165f.; A. Liberman, Petruslied, in: German Writers, S. 252-254; E. Meineke – J. Schwerdt, Einführung, S. 114f.; W. Mettin, Die ältesten deutschen Pilgerlieder, in: Philologische Studien. Festgabe Eduard Sievers, Halle/S. 1896, S. 277-286, hier S. 284-286; St. Müller, Ahd. Lit., S. 308f.; J. Müller-Blattau, Zu Form und Überlieferung der ältesten deutschen geistlichen Lieder, ZMW 17 (1935) S. 129-146, hier S. 140f.; H. Pongs, Das Hildebrandslied, S. 174f.; U. Pretzel, Frühgesch. d. dt. Reims, S. 14, 94f.; O. Schade, Zum ahd. ‘P.’, Wissenschaftliche Monats-Blätter 4 (1876) S. 55-60; H. D. Schlosser, Ahd. Lit. (1980), S. 361; E. Schröder, Zum Bittgesang an den heiligen Petrus, ZDA 75 (1938) S. 171; R. Schützeichel, Die Macht der Heiligen. Zur Interpretation des ‘P.’, in: FS Matthias Zender, I, Bonn 1972, S. 309-320 (= R. Schützeichel, Textgebundenheit, S. 29-44); St. Sonderegger – H. Burger, Ahd. Lit., in: Kurzer Grundriß, II, S. 354f.; St. Sonderegger, Die ahd. Lit., in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, VI. Europäisches Frühmittelalter, hg. v. K. von See, Wiesbaden 1985, S. 206f.; L. Stavenhagen, Das ‘P.’. Sein Alter und seine Herkunft, WW 17 (1967) S. 21-28; O. Ursprung, Das Freisinger ‘P.’, Die Musikforschung 5 (1952) S. 17-21; G. Vollmann-Profe, Kommentar zu Otfrids Evangelienbuch, Bonn 1976, S. 214; M. Wehrli, Gesch. d. dt. Lit., S. 88f.; Chr. Wells, in: German Literature, S. 169-171. HELMUT LOMNITZER (†) – HEIKO HARTMANN

‘Pfälzer Beichte’ Ú Beichten, Althochdeutsche und altsächsische ‘Pferdesegen, Trierer’ Ú ‘Trierer Pferdesegen’

Phocas-Glossierung

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Phocas, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Römischer Grammatiker wohl des frühen 5. Jh.s; Hauptwerk ist die Ars grammatica (auch Ars de nomine et verbo), die ausschließlich Nomen und Verbum behandelt. Sein Werk gehört zu dem im späten 4. Jh. zunehmenden Typ der Regelgrammatik, die das Erlernen der korrekten Latinität durch zahlreiche Deklinations- und Konjugationsparadigmen erleichtern soll. Die Bedeutung des Werkes bezeugen Zitate bei Priscian und Cassiodor, ein Kommentar des Remigius von Auxerre sowie die reiche Überlieferung von mehr als 70 Hss. bis zum Humanismus. Literatur: C. Jeudy, in: LexMA VI, 1993, Sp. 2106; P. L. S., in: Der Neue Pauly, IX, Sp. 910f.; Der Kleine Pauly, IV, Sp. 794. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Bonn, ULB S 218 (BStK-Nr. 71): 13 Interlineargll. in Textglossierung zur Ars grammatica; mfrk., 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 365 (Nr. DCCLVI). – 2. München, BSB Clm 14689 (BStK-Nr. 604): 41 Interlineargll. zu Textglossar zur Ars grammatica; bair., undatiert (Hs. 1. Hälfte 12. Jh.). – Ed. StSG II, S. 363-364 (Nr. DCCLV). – 3. München, BSB Clm 19440 (BStK-Nr. 665): 54 Kontextgll. in Textglossar zur Ars grammatica; bair., um 1000. – Ed. StSG II, S. 363-364 (Nr. DCCLV). – 4. München, BSB Clm 19454 (BStK-Nr. 669): 1 Marginal- und 1 Interlineargl. in Textkommentar zur Ars grammatica; undatiert (Hs. 2. Hälfte 11. Jh.). – Ed. StSG II, S. 365 (Nr. DCCLVII). – 5. Wien, ÖNB Cod. 2723 (BStK-Nr. 949): 61 Kontextgll. in Textglossar zur Ars grammatica; bair., 2. Hälfte 10. Jh. – Ed. StSG II, S. 363-364 (Nr. DCCLV). – 6. Wien, ÖNB Cod. 2732 (BStK-Nr. 950): 51 Kontextgll. in Textglossar zur Ars grammatica; bair., 10. Jh. – Ed. StSG II, S. 363-364 (Nr. DCCLV).

3. Glossographische Aspekte: Ahd. Glossen zur Ars grammatica begegnen in 6 Hss. aus dem 10. bis 12. Jh. (insgesamt 222 ahd. Gll.). Sie stehen vor allem (207 von 222 Gll.) in Textglossaren: 61 Gll. in Wien 2723, 54 Gll. in München, Clm 19440, 51 Gll. in Wien 2732 und 41 Gll. in München, Clm 14689. Die Hs. Bonn, S 218 enthält als einzige eine Textglossierung mit 13 Interlineargll. Schließlich begegnen zwei Gll. in einem Textkommentar zur Ars grammatica in München, Clm 19454. 4. Räumliche und zeitliche Verteilung: Die Glossierung setzt im 10. Jh. ein (Wien, 2732; 2. Hälfte 10. Jh.: Wien, 2723), erstreckt sich über das 11. Jh. (um 1000: München, Clm 19440; 11 Jh.: Bonn, S 218; 2. Hälfte 11. Jh.: München, Clm 19454) und endet in der 1. Hälfte des 12. Jh.s (München, Clm 14689). Die 13 Gll. der Textglossierung sind in St. Maximin in Trier (Bonn S 218) eingetragen und mfrk. Alle anderen Glossen sind bair. (München, Clm 14689: Umkreis von Regensburg; Wien, 2732: vermutl. Salzburg; Wien, 2723: Mondsee; München, Clm 19454: Tegernsee; München, Clm 19440: West- oder Süddeutschland). Die Glossen der Textglossare stehen zumeist im Glossarkontext (München, Clm 19440, Wien, 2723 und 2732), in einem

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‘Physiologus’

Fall (München, Clm 14689) interlinear. Die Glossen der Textglossierung (Bonn S 218) sind interlinear eingetragen, im 11. Jh. zeitnah zur Eintragung des Textes selbst auf nur zwei Seiten (f. 26v, 27r) des insgesamt 26 Seiten umfassenden Textes. Die Glossen zum Textkommentar stehen in einem Fall interlinear und in einem marginal (München, Clm 19454). 5. Umfang und Bedeutung: Die Ars grammatica des Phocas ist das am zweithäufigsten ahd. glossierte grammatische Werk, allerdings mit großem Abstand zu Ú Priscians grammatischen Schriften (fast 1.000 Gll.). Die Glossierung hat ihren Schwerpunkt im 10. Jh. und kommt in der Frühzeit des Ahd. nicht vor. Eine nähere Untersuchung, etwa im Hinblick auf die Auswahl der glossierten Lemmata, fehlt bislang. 6. Literatur: BStK-Nr. 71, 604, 665, 669, 949, 950; StSG II, S. 363-365; R. Bergmann, in: BStH I, S. 109f.; C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberl., S. 329, 340.

STEFANIE STRICKER

‘Physiologus, Althochdeutscher’ 1. Einleitung: Als Physiologus (‘der Naturkundige’) wird eine spätgriechische Naturlehre bezeichnet, die Pflanzen, Steine und Tiere beschreibt und allegorisch auf das Heilsgeschehen auslegt. Deutsche Physiologi sind vom 11.-15. Jh. vereinzelt aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt worden, ein ahd. (dazu weiter unten), zwei frühmhd. des 11. bzw. 12. Jh.s (der Wiener Physiologus, auch Jüngerer oder ProsaPhysiologus; der Millstätter Physiologus, Reimbearbeitung um 1200) bilden mit dem Melker Physiologus (vor 1419, Stiftsbibliothek Melk) den Bestand. Die frühen Texte gehen auf die Dicta-Version zurück. – Zu den hier nicht behandelten Physiologi, dem griech. sowie den lat. und frühmhd., sowie der Wirkungsgeschichte vergleiche man Chr. Schröder, in: 2VL VII, Sp. 620-634. Literatur: N. Henkel, Studien zum Physiologus im Mittelalter, Hermaea NF 38, Tübingen 1976.

2. Überlieferung: Wien, ÖNB Cod. 223; 65 Pergamentblätter mit zwei ursprünglich selbstständigen Teilen, wobei der dt. Text in Teil 2 steht; Teil 2: 48 Blätter; weißer Pergamenteinband der Hofbibliothek von 1753; f. 31r-33r ‘Ahd. Physiologus’ (vgl. PadRep); f. 33r auf dem unteren Rand lat.-dt. Verzeichnis der Windbezeichnungen (mit 11 ahd. Gll. auf dem unteren Rand; BStK-Nr. 898 II); f. 34r-65v Bibelglossar (mit einer ahd. Glosse zu 1. Samuel; BStK-Nr. 898 II), darin verstreut eingeschoben verschiedene kürzere Texte, darunter f. 36r Wiener Longinussegen, f. 43r gesammelte

‘Physiologus’

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Glossen (mit 5 ahd. Kontextgll.; BStK-Nr. 898 II); Teil 2 des Codex im 11. Jh. vermutlich in Hirsau entstanden, von dort vielleicht zur Ausstattung des 1091 gegründeten St. Paul im Lavanttal, spätestens aber ca. 1470 dorthin verbracht und mit Teil 1 vereinigt; im 15. Jh. sicher in St. Paul, von dort 1549 durch Wolfgang Lazius (1514-1565) nach Wien verbracht; nach seinem Tod in die Hofbibliothek eingegliedert, wo sich der Codex nach der auf f. 65v eingetragenen Signatur des Hugo Blotius seit 1576 befand (zur Geschichte der Hs. R. Schützeichel, S. 156); vgl. PadRep. 3. Werkbeschreibung: Der Text des ‘Ahd. Physiologus’ ist Übersetzung einer lat. Dicta-Version (genannt nach ihrer mittelalterlichen Zuschreibung ‘Dicta Johannis Chrysostomi de naturis bestiarum’) und entstand im 11. Jh. Von den ursprünglichen 27 Kapiteln sind 12 erhalten, die in dem Vindobonensis als „Lückenbüßer“ (N. Henkel, Studien zum Physiologus, S. 65) zwischen einer Schrift des Alkuin (De dialectica) und einem Bibelglossar überliefert sind. Der Text bricht kurz vor dem Ende des 12. Kapitels zur Eidechse mitten im Satz ab (ohne Äffin). Insgesamt ist er – wie vielleicht schon seine Vorlage – stark gekürzt, und unter den wenigen Bibelzitaten finden sich zwei lateinische. Orthographische Unterschiede zwischen Kap. 18 und 9-12 werden auf zwei Schreiber der Vorlage zurückgeführt (so E. von Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. 27, S. 133; F. Wilhelm, Denkmäler; N. Henkel, Studien zum Physiologus, S. 62, 64; E. Meineke – J. Schwerdt, Einführung, S. 118); nach M. Dallapiazza (S. 87) ist auch die ältere These von zwei Autoren nicht zu widerlegen. Der Text aus dem 11. Jh. gehört in das alem. Sprachgebiet nahe der südrhfrk. Grenze (E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 134; F. Wilhelm, Denkmäler, I, S. 4; R. Schützeichel, S. 157; E. Meineke – J. Schwerdt, Einführung, S. 117f.), wobei Kap. 18 mehr alem. und Kap. 9-12 mehr rhfrk. gefärbt sind (N. Henkel, Studien zum Physiologus, S. 62). Die vermutete Herkunft der Hs. aus Hirsau bot Anlass, die Reduktionstendenzen der Übersetzung mit dem monastischen Reformprogramm in Zusammenhang zu bringen (H. de Boor, Die dt. Lit., S. 129; H. Menhardt, ZDA 74 [1937] S. 37f.). Diesen Zusammenhang bezweifelt R. Schützeichel (S. 157). In das Alem. weisen die Assimilation von hs > ss (uuâsset Z. 81, zit. nach E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm.), von w > g (uzspîget Z. 127), weiterhin die Konjunktivformen eischoie (Z. 73), dûoge (Z. 115). Der ahd. Text ist – wie vielleicht schon seine Vorlage – stark gekürzt. Von den wenigen Bibelzitaten sind zwei lat.: Z. 27f. Gaude et laetare, Hierusalem ... und Z. 89: Saluum me fac, deus; Textvergleich bei M. Fr. Mann (S. 318-322) und H. G. Jantsch (S. 117-162). Deutlich ist, dass der Physiologus seinen festen Platz im Unterrichtswesen erhielt (R. Schützeichel, S. 157f.). 4. Ausgaben: Farbabbildungen von f. 31r, 31v, 32r, 32v, 33r (Handschriftencensus); MSD Nr. LXXXII, I, S. 262-266; II, S. 408-411; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XXVII, S. 124134; E. Irblich, S. 352 (= f. 31v, Ausschnitt); A. Salzer, I, Beilage 23 (= f. 31r); F. Maurer, Der

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Priscian-Glossierung

altdt. Physiologus, Faksimile von f. 31r; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., S. 75-77 (1,4-8,11). 5. Literatur: H. de Boor, Die dt. Lit., S. 129; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., S. 78-80; BStK-Nr. 898 I, II; M. Dallapiazza, Der Wortschatz des althochdeutschen Physiologus, Venezia 1988; M. Depietri, Der Jüngere Physiologus. Eine sprachwissenschaftliche Untersuchung, Philologia 153, Hamburg 2010, S. 25f.; V. Dollmayr (Hg.), Die altdeutsche Genesis. Nach der Wiener Handschrift, ATB 31, Halle (Saale) 1932; U. Ernst, Facetten mittelalterlicher Schriftkultur. Fiktion und Illustration, Wissen und Wahrnehmung, Beihefte zum Euphorion 51, Heidelberg 2006, S. 151; U. Hennig, ‘Altdeutsche Genesis’, in: 2VL I, Sp. 279284; 2VL XI, Sp. 80; N. Henkel, Studien zum Physiologus im Mittelalter, Hermaea NF 38, Tübingen 1976, hier S. 59-66, 86f., 137, 164-185 passim; E. Hellgardt, in: Deutsche Handschriften 1100-1400, S. 35-81, hier S. 56 (Nr. 37); E. Irblich, Reda umbe diu tier (Physiologus), in: Hemma von Gurk. Katalog. Ausstellung auf Schloß Straßburg/Kärnten. 14. Mai bis 26. Oktober 1988, Klagenfurt 1988, S. 352f. (Nr. 3.14); H. G. Jantsch, Studien zum Symbolischen in frühmittelhochdeutscher Dichtung, Tübingen 1959; F. Lauchert, Geschichte des Physiologus, Genf 1974; M. Fr. Mann, Die ahd. Bearbeitungen des ‘Ph.’, PBB 11 (1886) S. 10329; F. Maurer (Hg.), Der altdeutsche Physiologus. Die Millstätter Reimfassung und die Wiener Prosa (nebst dem lateinischen Text und dem althochdeutschen Physiologus), ATB 67, Tübingen 1967, S. 91-95 (Abdruck nach E. v. Steinmeyer); E. Meineke – J. Schwerdt, Einführung, S. 117-118; H. Menhardt, Verz. d. altdt. lit. Hss., S. 36f.; H. Menhardt, Wanderungen des ältesten deutschen Physiologus, ZDA 74 (1937) S. 37f.; H. Mettke, Älteste dt. Dichtung, S. 258-261; Romanische Kunst in Österreich. Ausstellung, veranstaltet von der Stadtgemeinde Krems an der Donau, 21. Mai bis 25. Oktober 1964, Minoritenkirche Krems-Stein, Niederösterreich, Krems 31964, S. 323 (Nr. 370); A. Salzer, Illustrierte Geschichte der Deutschen Literatur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, I, München 1912, Beilage 23; Ch. Schröder, ‘Physiologus’, in: 2VL VII, Sp. 620-634; 2VL XI, Sp. 1241, hier Sp. 628 und 1241; R. Schützeichel, Reda umbe diu tier. Wien ÖNB. Cod. 223 und das Problem der Abgrenzung des Althochdeutschen, in: Studia Linguistica et Philologica. FS Klaus Matzel, S. 153-163; K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 379-383; A. R. Wedel, The Complexive Aspect of Present Reports in the Old High German Physiologus, JEGPh 82 (1983) S. 488-499; F. Wilhelm, Denkmäler, Nr. IV, A: S. 4-21, B: S. 13-52.

STEFANIE STRICKER

‘Priestereid’ Ú ‘Klerikereid’ Priscian, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Priscian (Priscianus Caesariensis), *5./6. Jh. n. Chr. in Caesareia ,† vermutlich Konstantinopel um 530 n. Chr., ist der bedeutendste lat. Grammatiker, der wie kein anderer die Tradition der griech.-lat. Grammatik bis weit in die Neuzeit hinein beförderte. Über Priscians Leben ist wenig bekannt. Als sicher gilt, dass er unter Theoktistos in Konstantinopel studiert hat und dort ein angesehener Lehrer und Schriftsteller war. – Er schrieb zahlreiche grammatische, metrische,

Priscian-Glossierung

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rhetorische und poetische Abhandlungen und übertrug die in der Antike sehr geschätzte Periegesis, die Erdbeschreibung des Dionysios, in lat. Hexameter. – Sein Hauptwerk, Institutio de arte grammatica, umfasst 18 Bücher. Hauptquelle sind die griechischen Grammatiker Apollonios, Dyskolos und sein Sohn Herodianus. Die allgemeine Verbreitung der Institutio im Mittelalter, das die ersten 16 Bücher als Priscian maior und die beiden letzten als Priscian minor benutzte, bezeugen mehr als 1.000 Hss. sowie noch im 16 Jh. zahlreiche Drucke. Priscian entwirft in ihr ein vollständiges Gebäude der lat. Grammatik, als einziger unter Einschluss der Syntax. Die Institutio wird bereits im 8. Jh. in Britannien rezipiert (von Aldhelm, Beda, Alkuin) und von Hrabanus Maurus exzerpiert; so findet sie schon im 9. Jh. Eingang in die handschriftliche Überlieferung. Priscian hat weitere kleinere Werke verfasst: Institutio de nomine et pronomine et verbo (Extrakt aus den Büchern 6-13 der Institutio), De figuris numerorum (Schrift über römische Zahlenzeichen und das Verhältnis der griechischen und römischen Münzen und Gewichte), De metris fabularum Terentianis, De praeexercitamentis rhetoricis, De partitionibus duodecim versuum Aeneidos principalium (Schrift in Frage- und Antwortform zur Einführung von Griechen in die lateinische Literatur). – Für die Philologie bleibt Priscian der Verfasser der ersten großen lat. Grammatik, die die antike und spätantike Sprachforschung der griech. und lat. Welt zusammenfasste und bis zur Neuzeit die Standardgrammatik für den höheren Unterricht blieb und die grammatische Terminologie prägte. Literatur: I. Dorchenas, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, VII, Sp. 957965; P. L. S., in: Der Neue Pauly, X, Sp. 338f.; P. L. Schmidt, in: Der Kleine Pauly, IV, Sp. 1141f.; C. Jeudy, in: LexMA VII, Sp. 218-219. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Bonn, ULB S 218 (BStK-Nr. 71): 23 Interlineargll. in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica; mfrk., 11. Jh. (Hs. zwischen 1021 und 1083 St. Maximin in Trier). – Ed. StSG II, S. 379 (Nr. DCCLXX). – 2. Cambridge Fitzwilliam Museum McClean Collection Ms. 159 (BStK-Nr. 1025): 5 Gll. (4 interlinear und 1 marginal) in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica; Sprache unbestimmt, Glossen etwa zeitgleich mit dem Text 9./10. Jh. Westdeutschland (St. Maximin in Trier?). – Ed. R. Reiche, in: Fachprosa-Studien, S. 489. – 3. Einsiedeln, StB cod 32 (1060) (BStK-Nr. 112): 11 im Glossartext stehende Gll. in Textglossar zu Institutio de arte grammatica; alem., obd., frk.?, Glossen mit Text Anf. des 10. Jh.s, Bodenseeraum. – Ed. StSG II, S. 378 (Nr. DCCLXIX). – 4. Florenz, BML Plut. 16.5 (BStK-Nr. 151): 10 Interlineargll. zu Textglossar zu Institutio de arte grammatica; alem., alem.-bair., nd.?, Ende 12. Jh. – Ed. StSG II, S. 380 (Nr. DCCLXXII). – 5. St. Gallen, StB 903 (BStK-Nr. 252): 4 Gll. (2 marginal, 2 interlinear) in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica; Sprache unbestimmt, wohl in St. Gallen eingetragen, Glossen undatiert (Hs. 8./9. Jh. Norditalien). – Ed. StSG II, S. 378 (Nr. DCCLXVIII). – 6. Halberstadt, Domschatz Nr. 468 (BStK-Nr. 1071): 1 Interlineargl. (f. 106v) in Priscian-Hs.; Hs. Anfang 10. Jh. – Ed. E. Krotz, in: IASLonline, Abschnitt 92 [URL: http://www.iaslonline.lmu.de/index.php?vorgang_id=1261]. – 7. Innsbruck, ULB 711

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Priscian-Glossierung

(BStK-Nr. 287): 10 im Text stehende Gll. in Textglossar zu Institutio de arte grammatica; bair., alem., Glossen zeitgleich mit Text im 13. Jh. – Ed. StSG II, S. 380 (Nr. DCCLXXIII), IV, 343f. (DCCLXXIIIc). – 8. Kassel, UB, LB und MB 2º Ms. philol. 15b (BStK-Nr. 327): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica; Sprache unbestimmt, Glossen undatiert, spätestens im 3. Viertel des 9. Jh.s eingetragen). – Ed. J. Hofmann, PBB 85 (Halle 1963) S. 130; Korrektur F. J. Worstbrock, PBB 100 (Tübingen 1978) S. 208. – 9. Köln, EDDB Dom Hs. 200 (BStK-Nr. 351):12 Gll. (10 interlinear, 2 marginal) in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica; mfrk., Glossen undatiert (Hs. 2. Drittel 9. Jh. wohl in Prüm). – Ed. StSG II, S. 378 (Nr. DCCLXVII). – 10. Köln, EDDB Dom Hs. 202 (BStK-Nr. 352): 31 Interlineargll. (6 in Scholien marginal zum Text) in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica, einige Glossen in bfk-Geheimschrift; mfrk., 11. Jh. Köln. – Ed. StSG II, S. 377 (Nr. DCCLXVI); Nachtrag bei K. Siewert, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 94. – 11. Leiden, UB Voss. lat. oct. 37 (BStK-Nr. 374): 11 im Kontext stehende Gll. in Textkommentar zu Institutio de arte grammatica; nd., Glossen zeitgleich mit Text Ende 9. Jh. Reims. – Ed. StSG IV, S. 342 (Nr. DCCLXIX). – 12. London, BL Harl. 2674 (BStK-Nr. 412): 1 Interlineargl. (in marginaler Scholie) in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica; as., 10. Jh. – Ed. H. Thoma, PBB 73 (1951) S. 254. – 13. München, BSB Clm 280 A (BStK-Nr. 446): Über 210 Gll. (vorwiegend interlinear, zum Teil marginal) in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica; bair., Glossen undatiert (Hs. 1. Hälfte 10. Jh. Südwestdeutschland). – Ed. StSG II, S. 367-373 (Nr. DCCLXIV); V, S. 104. – 14. München, BSB Clm 6281 (BStK-Nr. 519): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica, Sprache unbestimmt, 10. Jh. Freising. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 73. – 15. München, BSB Clm 6398 (BStK-Nr. 535): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica; Sprache unbestimmt, Glosse undatiert (Hs. Mitte 9. Jh. Freising). – Ed. StSG IV, S. 343 (Nr. DCCLXXIIc). – 16. München, BSB Clm 6408 (BStK-Nr. 538): 11 im Kontext stehende Gll. in Textkommentar zu Institutio de arte grammatica; Sprache unbestimmt, Glossen zeitgleich mit Text Anfang 10. oder 10./11. Jh., Oberitalien. – Ed. StSG II, S. 378f. (Nr. DCCLXIX). – 17. München, BSB Clm 6411 (BStK-Nr. 539): 4 Gll. (2 marginal, 2 interlinear) in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica, 3 Gll. in Punktgeheimschrift; Sprache unbestimmt (in Bayern eingetragen), Glossen undatiert (Hs. 1. Viertel 9. Jh. Bayern). – Ed. StSG II, S. 367 (Nr. DCCLXIII). – 18. München, BSB Clm 14272 (BStK-Nr. 571): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica; Sprache unbestimmt, 11. Jh. (Hs. 1. Viertel 11. Jh. in Chartres). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 87. – 19. München, BSB Clm 14456 (BStK-Nr. 588): 94 Gll. in Textglossar zu Institutio de arte grammatica; bair., 9. Jh. (Hs. um 820 in Regensburg) – Ed. StSG IV, S. 228-230 (Nr. MCCXVII). – 20. München, BSB Clm 18375 (BStK-Nr. 642): Über 210 Gll. (zum Teil interlinear, zum Teil marginal) in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica; bair. (Tegernsee), 11. Jh. (Hs. Mitte 9. Jh. in Westfrankreich). – Ed. StSG II, S. 367-373 (Nr. DCCLXIV). – 21. München, BSB Clm 18628 (BStK-Nr. 654): 11 im Kontext stehende Gll. in Textglossar zu Institutio de arte grammatica; bair., Glossen zeitgleich mit Text im 2. Viertel oder Mitte 11. Jh. in Südwestdeutschland. – Ed. StSG II, S. 379 (Nr. DCCLXXI). – 22. München, BSB Clm 29027a (BStK-Nr. 700): 2 Interlineargll. in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica; Sprache unbestimmt, Glossen undatiert (Hs. 10. Jh.). – Ed. StSG IV, S. 343 (Nr. DCCLXXIIb). – 23. Oxford, BodlL Auct. T. 1. 26 [f. 5-179] (BStK-Nr. 722 II): 8 Gll. (7

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interlinear, 1 marginal) in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica; Sprache unbestimmt, 9./10. Jh. (Hs. 3. Drittel 9. Jh. Westdeutschland). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 108. – 24. Paris, BNF lat. 7503 (BStK-Nr. 744): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica; bair./obd., 9./10. Jh. (Hs. 1. Hälfte 9. Jh. Fleury). – Ed. L. Fleuriot – J. Fourquet, Une glose germanique inédite, ÉG 21 (1966) S. 33; U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 363. – 25. Paris, BNF lat. 7730 (BStK-Nr. 774z): 11 im Kontext stehende Gll. in Textkommentar zu Institutio de arte grammatica; Hs. 9. Jh. – Edition durch E. Krotz in Planung. – 26. Paris, BNF lat. 10403 (BStK-Nr. 774x): Fragment mit 1 Interlineargl. zu Institutio de arte grammatica; Hs. 9./10. Jh. oder 1. Hälfte 10. Jh. – Ed. E. Krotz, in: IASLonline, Abschnitt 87-89 [URL: http://www.iaslonline.lmu.de/index.php?vorgang_ id=1261]. – 27. Schlettstadt, BH Ms. 7 (früher Ms. 100) (BStK-Nr. 849): 5 (f. 59r-63v) und später 6 (f. 75r-v) marginal stehende Gll. in Textglossar zu Institutio de arte grammatica; alem., Glossen zeitgleich mit Text 12. Jh. Reichenau?. – Ed. StSG IV, S. 344 (Nr. DCCLXXIIId); S. 343 (Nr. DCCLXXIIIb). – 28. Schweinfurt, StadtA u. StadtB Cod. Fragm. Nr. 3 (Ha 188) (BStK-Nr. 1047): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica; obd., Glossen undatiert (Hs. 12. Jh.). – Ed. Otto Meyer, Fragmenta Prisciani Swinfurtensia, in: O. Meyer, Varia Franconiae Historica, II, Mainfränkische Studien 24/II, Würzburg 1981, S. 733. – 29. Wien, ÖNB Cod. 114 (BStK-Nr. 892): 160 Gll. im Kontext von Textkommentar zu Institutio de arte grammatica (davon 6 Interlineargll. zu Kommentar im Haupttext und 120 Kontextund 33 Interlineargll. zu Kommentar auf Rändern); bair., Glossen Ende 10. Jh. von Froumund und Schülern. – Ed. StSG II, S. 374-377 (Nr. DCCLXV); V, S. 104; F. Unterkircher, Der Wiener Froumund-Codex, CM 12 (1986) S. 37. – 30. Wolfenbüttel, HAB Cod. Guelf. 50 Weissenburg (BStK-Nr. 972): 137 überweigend interlineare Gll. in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica,; südrhfrk., ca. 860/870 von Otfrid von Weißenburg eingetragen. – Ed. H. Butzmann, PBB 86 (Halle 1964) S. 391-398; Nachträge und Korrekturen bei W. Kleiber, Otfrid von Weißenburg, S. 150 Anm. – 31. Zürich, ZB Ms. C 37 (BStK-Nr. 1019a): 3 Interlineargll. in Textglossierung zu Institutio de arte grammatica; Sprache unbestimmt, Glossen zeitgleich mit Text 1. Hälfte 10. Jh. St. Gallen. – Ed. K. Siewert, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 111.

3. Forschungsstand: Die Glossen der bekannten Priscian-Hss. sind – mit Ausnahme der erst im August 2012 durch Elke Krotz entdeckten Glossen der Pariser Hs. 7730 – alle ediert. Vor allem die glossenreichste Hs. Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 50 Weißenburg (BStK-Nr. 972) hat über die reine Edition hinaus Beachtung in der Forschung gefunden. Anlass dafür ist zum einen der Umstand, dass die Glossen von der Hand Otfrids von Weißenburg stammen. Zum anderen hat A. Schwarz (S. 27-34) die Glossen für seine vergleichende Analyse lat. und dt. Glossen herangezogen. Dabei ging es A. Schwarz um den Nachweis, dass den dt. Glossen gegenüber den lat. keine gesonderte Funktion zugewiesen werden kann. Anliegen einer Studie von St. Stricker (in: Entstehung des Deutschen, S. 471-490) war es, auf der Basis der gesamten deutsch glossierten Überlieferung von Priscians Grammatik bis zum Ende des 9. Jh.s exemplarisch zu zeigen, auf welche Weise ein grammatischer Sachtext in der frühen Zeit des Ahd. glossiert worden ist. Dabei ist

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sichtbar gemacht worden, dass die volkssprachige Glossierung, die in den weitaus meisten Hss. nur eine marginale Erscheinung neben der umfangreicheren lat. Glossierung darstellt, ganz im Dienste der Verständnissicherung des lat. Textes und der Wortschatzübung im Lateinischen steht. Das Interesse richtet sich hier wie auch sonst bei der Glossierung grammatischer Schriften nicht auf Fachbegriffe der Grammatik, sondern auf die Vermittlung des Inhalts der lat. Grammatik, wobei dem Deutschen die untergeordnete Rolle der Verständnishilfe zukam. In den didaktischen Kontext der Vermittlung von grammatischem Wissen fügt sich auch die Beobachtung, dass ahd. Glossen bevorzugt bei leicht verwechselbaren Wörtern auftreten und häufig Mehrfachglossierungen eines Lemmas beobachtbar sind. Auf diese Weise wird das ‘Manko’ der Kontextlosigkeit der Lemmata, die in einem grammatischen, nicht aber inhaltlichen Zusammenhang stehen, zum Teil aufgefangen. 4. Glossographische Aspekte: Ahd. Glossen zu Priscian begegnen in 31 Hss. des 8./9. bis 13 Jh. (insgesamt 981 Gll.). Der Glossierungsschwerpunkt liegt im 9. bis 11. Jh. Die Glossen stehen überwiegend in Textglossierungen (20 Hss.: BStK-Nr. 71, 252, 327, 351, 352, 412, 446, 519, 535, 539, 571, 642, 700, 722 (II), 744, 774x, 972, 1019a, 1025, 1047), wobei auch sechs Textglossare (BStK-Nr. 112, 151, 287, 588, 654, 849) und vier Kommentarhss. (BStK-Nr. 374, 538, 774z, 892) bekannt sind. Die Glossenzahl der Hss. variiert zwischen singulären Einträgen und bis zu über 210 Gll. Die Glossierung bezieht sich ausschließlich auf Priscians Hauptwerk, die Institutio de arte grammatica. In zwei Hss. begegnen in der Textglossierung Glossen in Geheimschrift. Die Kölner Hs. 202 (BStK-Nr. 352) aus dem 11. Jh. weist einige Glossen in bfk-Geheimschrift auf, der Clm 6411 (BStK-Nr. 539) aus dem 1. Viertel des 9. Jh.s 3 (von 4 Gll. insgesamt) in Punktgeheimschrift. 5. Räumliche und zeitliche Verteilung: Zu den Glossen von 17 Hss. liegen sprachgeographische Bestimmungen vor: 2 Hss. tradieren as. Glossen (London Harl. 2674, Leiden Voss. lat. oct. 37), 3 Hss. mfrk. (Bonn S 218, Köln Hs. 200, Köln Hs. 202) und 1 Hs. südrhfrk. Glossen (Wolfenbüttel Cod. Guelf. 50 Weißenburg). Alle weiteren Hss. tradieren Glossen mit obd. Merkmalen, wobei sich mit 6 Hss. ein Schwerpunkt im Bairischen zeigt: Clm 280 A, Clm 18375, Clm 14456, Clm 18628, Paris, BNF lat. 7503, Wien, ÖNB Cod. 114. Bair./alem. sind die Glossen der Hs. Innsbruck 711, alem. der Hs. Schlettstadt Ms. 7, obd. der Hs. Schweinfurt Cod. Fragm. Nr. 3 (Ha 188). Merkmale verschiedener Regionen zeigen die Glossen der Hss. Einsiedeln, cod 32 (1060) und Florenz Plut. 16.5. Datierungen der Glossen liegen für 21 Hss. vor. Die älteste Glossierung eines Werktextes liegt in der Otfridglossierung aus der 2. Hälfte des 9. Jh.s vor (Wolfenbüttel Cod. Guelf. 50 Weissenburg) und der Kasseler Hs. 2º Ms. philol. 15b aus dem

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2. Viertel des 9. Jh.s. Im 9./10. Jh. folgen die Hss. Cambridge McClean Collection Ms. 159, Oxford Auct. T. 1. 26 [f. 5-179] und Paris, lat. 7503. Je 4 Hss. enthalten Glossierungen des 10. Jh.s (London, Harl. 2674, Bonn S 218, Clm 6281, Zürich Ms. C 37) und des 11. Jh.s (Bonn S 218, Köln Hs. 202, Clm 14272 , Clm 18375. In diesen Jhh. liegt eindeutig der Glossierungsschwerpunkt. Bemerkenswert ist, dass 6 Hss. eine deutliche Distanz zwischen Entstehung der Hs. und Eintragung der Glossen zeigen. Das gilt für die Hss. Kassel 2º Ms. philol. 15b (Glossen 3. Viertel 9. Jh., Hs. 2. Viertel 9. Jh.), Oxford Auct. T. 1. 26 [f. 5-179] (Glossen 9./10. Jh., Hs. 3. Drittel 9. Jh.), Paris, lat. 7503 (Glossen 9./10. Jh., Hs. 1. Hälfte 9. Jh.), Clm 6281 (Glossen 10. Jh., Hs. 9. Jh.), Zürich Ms. C 37 (Glossen 10. Jh., Hs. 9. Jh.), Clm 18375 (Glossen 11. Jh., Hs. Mitte 9. Jh.). Die Textglossare, deren Glossen in der Regel zeitgleich mit dem Glossartext eingetragen werden, erstrecken sich über die Zeit von um 820 bis ins 13. Jh., wobei das 12. Jh. den Schwerpunkt bildet (um 820: Clm 14456; Anfang 10. Jh.: Einsiedeln, cod 32 (1060); 11. Jh.: Clm 18628; 12. Jh.: Florenz Plut. 16.5, Schlettstadt Ms. 7; 13. Jh.: Innsbruck 711). Die Überlieferung der Textglossare beginnt damit früher als die Werktextglossierung und reicht über diese auch noch hinaus. Glossen in Textkommentaren begegnen in 1 Hs. aus dem 9. Jh. (Paris, BNF lat. 7730), in 1 aus dem Ende des 9. Jh.s (Leiden Voss. lat. oct. 37), in 2 aus dem 10. Jh. (Wien, Cod. 114, Clm 6408). 6. Beziehungen zwischen den Glossierungen: Zu den Beziehungen der Glossierungen untereinander liegen keine Untersuchungen vor. Indizien für eine engere oder weitere Verwandtschaft der Glossen können der Edition in StSG entnommen werden, in der die beiden glossenreichen Hss. (beide über 210 Gll.) Clm 280 A und Clm 18375 unter einer Nr. ediert werden (StSG II, S. 367-373, Nr. DCCLXIV). Vergleichbares gilt für die Textglossarhss. Clm 6408 und Einsiedeln, cod 32 (1060) (StSG II, S. 378f., Nr. DCCLXIX), die jeweils 11 Gll. tradieren. Übereinstimmungen zeigen auch 5 Textglossareintragungen, die zweimal (f. A, 110v) in den Clm 18628 eingetragen worden sind (StSG II, S. 379, Nr. DCCLXXI). Eine wortgleiche Überlieferung der elf Gll. zeigt die neuaufgefundene Pariser Hs. 7730 mit der Leidener Hs. Voss. lat. oct. 37 (StSG IV, S. 342, Nr. DCCLXIX). 7. Umfang und Bedeutung: Im Bereich der grammatischen Schriften dominiert die Glossierung von Priscians Institutio de arte grammatica klar vor allen anderen grammatischen Werken. Sie macht allein über die Hälfte dieses Bereichs (57,8%) aus. Die folgenden Ränge besetzen Ú Phocas (13,1%), Ú Alkuin (8,4%), anonyme Schriften (6,5%), Eutyches (4,2%), Clemens Scottus (3,6%), Donat (3,2%), Ú Beda (1,9%) und Erchanbert (1,1%). An diesen prozentualen Werten spiegelt sich die außer-

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‘Pro nessia’ / ‘Contra vermes’

ordentliche Bedeutung von Priscians Grammatik für den mittelalterlichen Schulunterricht. 8. Literatur: BStK-Nr. 71, 112, 151, 252, 287, 327, 351, 352, 374, 412, 446, 519, 535, 538, 539, 571, 588, 642, 654, 700, 722 II, 744, 849, 892, 972, 1019a, 1025, 1047; StSG II, S. 367380; H. Butzmann, Althochdeutsche Priscian-Glossen aus Weissenburg, PBB 86 (Halle 1964) S. 388-402; St. Stricker, Die althochdeutsche Glossierung von Priscian: Institutio de arte grammatica. Merkmale einer Sachtextglossierung im 9. Jahrhundert, in: Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach, S. 471-490; H.-E. Teitge, Froumund von Tegernsee und die ahd. Priscianglossen, Dissertation Halle (Saale) 1949, gedruckt in: H.-E. Teitge, Berliner Manuskripte und Viadrina-Drucke. Kleine Schriften, Spolia Berlinensia 20, Hildesheim 2004, S. 13-87; A. Schwarz, Glossen als Texte, PBB 99 (1977) S. 25-36; R. Bergmann, in: BStH I, S. 109f., 118; C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberl., S. 329f. – Digitalisat: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8478988x. STEFANIE STRICKER

‘Pro nessia’ / ‘Contra vermes’ 1. Werkbeschreibung: Unter dem Titel ‘Pro nessia’/‘Contra vermes’ (‘Gang uz/ut nesso’, auch ‘Wurmsegen’) bekannter Text zur Beschwörung eines Krankheitserregers (nesso ‘Wurm’ und seine neun nessinchilinon ‘Kinder’), aus dem Mark des Patienten über Adern bzw. Knochen, Fleisch und Haut in die Horn- bzw. Haarschicht zu entweichen, also nach dem häufig anzutreffenden Prinzip von innen nach außen (dazu M. Schulz, Beschwörungen, S. 57). Dem magischen Befehl in imperativischer Anrede und vier parallelen Prosazeilen schließt sich eine christliche Schlussformel an. – Im Vergleich zu den lat. Versionen (R. Reiche, AKG 59 [1977] S. 1-24) wird engerer Bezug auf Erkrankungen speziell von Pferden vermutet, was an der wahrscheinlichen, aber nicht völlig gesicherten Deutung von ahd. tulli und as. strala als Teilen des Pferdehufs liegt (G. Eis, Altdt. Zauberspr., S. 13-16). 2. Überlieferung: Der Text ist in einer ahd. Fassung (mit der Überschrift Pro nessia: München, BSB Clm 18524b, f. 203v, 2. Drittel oder Mitte des 10. Jh.s; B. Bischoff, FMSt 5 [1971] S. 126f.) und einer as. Fassung (mit der Überschrift Contra vermes: Wien, ÖNB cod. 751, f. 188v, Ende des 9./Anf. 10. Jh.s; B. Bischoff, FMSt 5 [1971] S. 130f.) überliefert. – 1. München, BSB Clm 18524b, f. 203v; Hs. 2. Viertel 9. Jh. Salzburg (B. Bischoff, Katalog, S. 269, Nr. 3305); ahd. Text als Nachtrag auf der Rückseite des letzten Blattes (eines nachträglich hinzugefügten Einzelblattes) unter einer als Formel ausgeführten ‘Regula formatarum’ des Hs.teiles (ab f. 27r) mit Auszügen aus Hieronymus und Isidor sowie Predigten (vgl. PadRep). Hs. auch als Glossenhs. bekannt (1 Glosse zu Hieronymus (BStK-Nr. 647) und 43 im Jahr 2007 von A. Nievergelt, ZDPh 128 [2009] S. 325-345, entdeckte Griffelglossen zu Isidor). Text

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etwa im 2. Drittel 10. Jh. entstanden (B. Bischoff, Die südostdt. Schreibschulen, II, S. 152), Ort unklar (B. Bischoff, FMSt 5 [1971] S. 127); ahd. Text mit Punkt hinter jedem dritten Wort. – 2. Wien, ÖNB Cod. 751, f. 188v; Hs. 9. Jh.; Sammelcodex aus sechs Teilen unterschiedlichen Alters (alle 9. Jh., in Köln nach 870 zusammengebunden) und verschiedener Textsorten, hier Teil 6: f. 173v-187v Brevis expositio decretorum quorundam conciliorum, f. 187v-188r Beda, Martyrologium (Fragment), f. 188v als Nachträge auf freigebliebenem Raum. lat. Sprüche, lat. Aderlasstext De eo quod spvrihaiz dicimus (mit dt. Wort spvrihaiz in der Überschrift) sowie as. Texte (dazu M. Schulz, Beschwörungen, S. 154f.) eingetragen (vgl. PadRep). Als as. Texte begegnen Ú De hoc quod spurihalz dicunt (auch: As. Lähmungssegen, As. Pferdesegen, Wiener Segenssprüche; dazu W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., S. 92; G. Eis, Altdt. Zauberspr., S. 53-57), daran anschließend ‘Contra vermes’ (auch: Altsächsischer Wurmsegen). Hs. auch als Glossenhandschrift (BStK-Nr. 922) bekannt. As. Text ‘Contra Vermes’ Ende 9. oder Anfang 10. Jh. entstanden. 3. Editionen: MSD I Nr. IV. 5, S. 17, II, S. 50f.; G. Eis, Altdt. Zauberspr., S. 10 (as. Text), Abbildung beider Texte nach S. 16; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LXVII A und B, S. 374f.; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., S. 90; 1.: M. Enneccerus, Die ältesten dt. Sprach-Denkm., Tafel 8. – Zu 1.: K. A. Wipf, Ahd. poet. Texte, S. 74f. – Zu 2.: J. H. Gallée, As. sprachdenkm., Nr. VI; W. Dorow, Zwei sächsische Beschwörungsformeln aus dem 9. Jahrhundert, in: Denkmäler alter Sprache und Kunst, hg. v. W. Dorow, Bd. 1,2-3, Berlin 1824, Tafel II, S. 261-271. 4. Literatur: G. Eis, Altdt. Zauberspr., bes. S. 7-30 und 53-57; B. Bischoff, Die südostdt. Schreibschulen, II, S. 151f.; B. Bischoff, FMSt 5 (1971), S. 101-134, (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 73-111, hier S. 103f., 130f.; B. Bischoff, Katalog, S. 269, Nr. 3305; BStKNr. 647 und Nr. 922; E. Cianci, Incantesimi, S. 69-72, 100-102 (mit Abdruck des Segens); G. Eis, Altdt. Zauberspr., bes. S. 7-30 und 53-57; M. Embach, KTJ 44 (2004) S. 29-76, hier S. 40f.; M. Geier, Die magische Kraft der Poesie, DVJS 56 (1982) S. 359-385, hier S. 363-365; Chr. M. Haeseli, Magische Performativität, S. 64; Chr. M. Haeseli, Das Mittelalter 16 (2011) S. 126-141, hier S. 128; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 376f.; W. Haug – B. K. Vollmann, Frühe dt. Lit., S. 156f. (Text und Übersetzung) u. S. 1160-1162; E. Hellgardt, in: Atti della Accademia Peloritana 71 (1997) S. 5-62, hier S. 14, 45 und S. 16 und 46f.; V. Holzmann, „Ich beswer dich...“, S. 133 (Nr. 1 und 2), S. 184 (Nr. 105); Th. Klein, Studien, S. 180-182; B. Kratz, Die altdeutschen Sprüche ‘Pro Nessia’ und ein französischer Hippiatrie-Traktat des 15. Jahrhunderts, ABÄG 34 (1991) S. 23-31; St. Krogh, Die Stellung des Altsächsischen im Rahmen der germanischen Sprachen, StA 29, Göttingen 1996, bes. S. 118; N. Kruse, Die Kölner volksspr. Überl., S. 179-187 und Abb. 7, S. 387; A. Masser, in: 2RL IV, S. 957-965, bes. S. 962f.; H. Menhardt, Verz. d. altdt. lit. Hss., S. 44f.; H. Mettke, Älteste dt. Dichtung, S. 92f. (mit Abbildung der Seite); M. Müller, Über die stilform der altdeutschen zaubersprüche bis 1300, Gotha 1901, Nr. 24; B. Murdoch, Peri Hieres Nousou. Approaches to the Old High German Medical Charms, in: „mit regulu bithuungan“, S. 142-160, hier S. 144; A. Nievergelt, ZDPh 128 (2009) S. 321-345, hier S. 323f.; R. Reiche, Neues Material zu den

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Prudentius-Glossierung

altdeutschen Nesso-Sprüchen, AKG 59 (1977) S. 1-24 (umfangreiche Literaturangaben); J. Riecke, Die Frühgeschichte, I, S. 95 (mit Textwiedergabe); A. Schirokauer, Form und Formel einiger altdeutscher Zaubersprüche, ZDPh 73 (1954) S. 353-364, hier S. 354, 358f.; U. Schwab, in: Dt. Lit. u. Spr. v. 1050-1200. FS Ursula Hennig, S. 261-296, hier S. 288-289; M. Schulz, Beschwörungen; H.-H. Steinhoff, in: 2VL VII, Sp. 853; H. Stuart – F. Walla, ZDA 116 (1987) S. 53-79, hier S. 61, 67, 70f.

STEFANIE STRICKER

Prudentius (Aurelius Prudentius Clemens), Althochdeutsche Glossierung Im Bereich der ahd. Glossierung der Literatur der Spätantike nehmen die Werke von Prudentius mit großem Abstand zu allen anderen Autoren den Spitzenplatz ein, der in dem Artikel ‘Überblick über die Prudentius-Glossierung’ im Handbuch Glossographie (St. Stricker, in: BStH I, S. 497-510) entsprechend gewürdigt wird. Auf diesen Artikel wird insbesondere wegen der detaillierten Darstellung der Überlieferung der ahd. und as. Glossen ausdrücklich verwiesen. 1. Leben und Werk: Prudentius, *348 Calahorra in Spanien, † nach 405 in Spanien, gilt als größter spätantik-christlicher Dichter des Abendlandes; er gehörte im Mittelalter zu den meistgelesenen Autoren. Sein Lebenslauf ist fast nur aus der Vorrede der von ihm 404/405 veranstalteten Sammlung (8 Bücher) seiner sicher größtenteils schon früher verfassten Dichtungen bekannt. Demnach war er wahrscheinlich Rechtsanwalt, zweimal Statthalter einer span. Provinz, sodann Inhaber einer hohen Stelle beim Heer oder am Kaiserhof (vielleicht Praefectus praetorio) in nächster Nähe von Theodosius I.; 402/403 trat er aus aszetischen Motiven vom öffentlichen Leben zurück. Prudentius’ Dichtungen bekunden seine Vielseitigkeit in Versform und Dichtungsart. Das Werk umfasst: 1. Cathemerinon (Sammlung von 12 lyrischen Hymnen, die den Tageszeiten und Festtagen des Kirchenjahres entsprechende Themen behandeln); 2. Apotheosis (Lehrgedicht aus 1.084 Hexametern über die Lehre der Trinität und das Wesen Christi); 3. Hamartigenia (hexametrisches Lehrgedicht über den Ursprung der Sünde und des Bösen); 4. Psychomachia (allegorisches Gedicht aus 915 Hexametern, das den Kampf der christlichen Tugenden gegen die heidnischen Laster als lebendiges Schlachtgeschehen auf der Basis antiker epischer Bauformen und Vorbilder (Vergil, Ovid, Lucan u.v.a.) darstellt); 5. 2 Bücher Contra Symmachum (dichterisch abgefasste Streitschrift gegen Symmachus, einen einflussreichen Anhänger des römischen Heidentums, der im Jahre 384 in einer Bittschrift des Senats an die Kaiser für das Heidentum plädiert hatte, angelehnt an Lukrez); 6. Liber Peristephanon (14 Hymnen in lyrischen Strophen zu Ehren von Märtyrern); 7. ‘Tituli historiarum’ (48 vierzeilige Epigramme zu je 24 Bildern aus dem AT und NT). Die

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Bedeutung des Prudentius liegt darin, dass er die gesamte Breite paganer Dichtung für die Anliegen der christlichen Literatur erschloss. Im Mittelalter gehörte Prudentius zu den am meisten gelesenen und kommentierten Autoren, wovon über 300 Hss. zeugen; beeinflusst ist Prudentius insbesondere von Ambrosius von Mailand, stilistisch besonders von Vergil. Literatur: E. Reichert, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, VII, Sp. 10101013; Der Kleine Pauly, IV, Sp. 1202f.; Pauly-Wissowa XXIII/1, Sp. 1039-1071; LThK VIII, Sp. 845-846; J. Gruber, in: LexMA VII, Sp. 289-290.

2. Überlieferung und Edition der Glossen: Eine Übersicht über die Hss. mit ihrer Datierung und Lokalisierung sowie der Zahl und Art der Glossen, ihrer Eintragungszeit und dem Eintragungsort liefert der Artikel im Handbuch Glossographie (I, S. 502-510). Die Daten werden hier nicht wiederholt, sondern um Angaben zur Edition ergänzt: 1. Admont, StB 718 (BStK-Nr. 7). – Ed. H. Naumann, Glossen aus Admont, ZDA 64 (1927) S. 77f. – 2. Admont, StB 640 (BStK-Nr. 8c). – Ed. StSG II, S. V, Anm.; H. Hoffmann, Altdeutsche Blätter, II, Leipzig 1840, S. 196f.; 8 Gll. nicht ediert. – 3. Berlin, SBPK Ms. Hamilt. 542 (BStK-Nr. 36). – Ed. StSG IV, S. 345 (Nr. DCCXCIXb). – 4. Bern, BB Cod. 264 (BStK-Nr. 65). – Ed. StSG II, S. 523-529 (Nr. DCCCI). – 5. Brüssel, BR 9968-72 (BStK-Nr. 81). – Ed. StSG II, S. 557-571 (Nr. DCCCVIII). – 6. Brüssel, BR 9987-91 (BStKNr. 82). – Ed. StSG II, S. 572-574 (Nr. DCCCIX); J. H. Gallée, As. sprachdenkm., S. 320323. – 7. Düren, Leopold-Hoesch-Museum (Kriegsverlust) (BStK-Nr. 102). – Ed. StSG V, S. 32 (Nr. DCCCXI). – 8. Düsseldorf, ULB Ms. F 1 (BStK-Nr. 105). – Ed. StSG II, S. 575590 (Nr. DCCCXI); V, S. 105; J. H. Gallée, As. sprachdenkm. S. 132-149; E. Wadstein, Kleinere as. sprachdenkm., Nr. XIX, S. 89-104; Berichtigungen: E. v. Steinmeyer, ADA 22 (1896) S. 279; ADA 26 (1900) S. 202f.; Th. Stührenberg, Die ahd. Prudentiusglossen, S. 4071. – 9. Düsseldorf, ULB F 44 (früher unsigniert) (BStK-Nr. 106). – Ed. J. H. Gallée, As. sprachdenkm., S. 329; E. Wadstein, Kleinere as. sprachdenkm, Nr. XX, S. 105; StSG IV, S. 345 (Nr. DCCCXI); Nachtrag E. v. Steinmeyer, ADA 26 (1900) S. 205; Berichtigung: H. Tiefenbach, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 116. – 10. Edinburgh, National Library of Scotland Adv. MS. 18. 5. 10 (BStK-Nr. 107). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 26; ergänzte Neuedition bei E. Tiemensma-Langbroek, ABÄG 11 (1976) S. 3-36; nochmals ergänzte Neuedition bei E. Langbroek, Die althochdeutschen Glossen des Codex Adv. Ms. 18.5.10 der National Library of Scotland Edinburgh (2), ABÄG 19 (1983) S. 79-104; Ergänzungen dazu bei E. Langbroek, Adv. Ms. 18.5.10 (Edinburgh): Ergänzung und Ausblick, ABÄG 26 (1987) S. 14-16; weitere Ergänzung bei E. Langbroek, Adv. Ms. 18.5.10 (Edinburgh): Einige nachträgliche Bemerkungen, ABÄG 33 (1991) S. 36-38; erneute Edition bei E. Langbroek, Zwischen den Zeilen, S. 52, 63-118. – 11. Einsiedeln, StB cod 15 (487) (BStK-Nr. 108). – Ed. StSG II, S. 381 (Nr. DCCLXXVI), S. 529f. (Nr. DCCCII), S. 531 (Nr. DCCCIII). – 12. Einsiedeln, StB cod 302 (450) (BStK-Nr. 126); – Ed. StSG II, S. 382 (Nr. DCCLXXVIII), S. 529f. (Nr. DCCCII). – 13. Einsiedeln, StB cod 312 (541) (BStK-Nr. 128). – Ed. StSG II, S. 521-523 (Nr. DCCC). – 14. Einsiedeln, StB cod 316 (606) (BStK-Nr. 129). – Ed. StSG II, S. 501-521 (Nr. DCCXCIX). – 15. Essen-Werden, Pfarrhof unsigniert

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(BStK-Nr. 150). – Ed. StSG IV, S. 344 (Nr. DCCXCIXa Nachtr.). – 16. Florenz, BML Plut. 16.5 (BStK-Nr. 151). – Ed. StSG II, S. 532-538 (Nr. DCCCV). – 17. Freiburg, UB 981 (BStK-Nr. 162). – Ed. K. J. Heinisch, ZDA 72 (1935) S. 207f. – 18. St. Gallen, StB 134 (BStK-Nr. 186). – Ed. StSG II, S. 486-489 (Nr. DCCXCVI). – 19. St. Gallen, StB 135 (BStKNr. 187). – Ed. StSG II, S. 474 (Nr. DCCXCI). – 20. St. Gallen, StB 136 (BStK-Nr. 188). – Ed. StSG II, S. 484f. (Nr. DCCXCV); Berichtigung W. Schulze, Zu den altirischen Glossen, ZCPh 17 (1928) S. 103. – 21. St. Gallen, StB 292 (BStK-Nr. 221). – Ed. StSG II, S. 494-501 (Nr. DCCXCVIII); C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberl., S. 104f. – 22. Göttweig, StB 34/44 (früher J 7) (BStK-Nr. 263). – Ed. StSG II, S. 382-385 (Nr. DCCLXXX), S. 387f., S. 390 (Nr. DCCLXXXIII); Berichtigungen bei K. Siewert, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (I), S. 241f.; Berichtigungen und Nachträge dazu bei H. Tiefenbach, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 122. – 23. Graz, UB verschollen (BStK-Nr. 270b). – Ed. StSG IV, S. 346 (Nr. DCCCXXd Nachtr.). – 24. Karlsruhe, BLB St. Peter perg. 87 (BStK-Nr. 324). – Ed. StSG II, S. 494-501 (Nr. DCCXCVIII). – 25. Karlsruhe, BLB Fragm. K 1375 (BStK-Nr. 324b). – Ed. K. Siewert, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 87f. – 26. Kiel, UB Cod. MS. KB 145 (BStK-Nr. 340). – Ed. StSG II, S. 478-483 (Nr. DCCXCIII); vollständige Neuedition mit Berichtigungen und Nachträgen bei B. Kölling, S. 69-142. – 27. Klosterneuburg, StB CCl 1095 (BStK-Nr. 342a). – Mindestens 1 von Eckhard Meineke entdeckte Prudentiusgl., deren Edition noch aussteht. – 28. Köln, HA GB Kasten A Nr. 12 (BStK-Nr. 344). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 42 (1 Gl.); Edition sowie Nachtrag von 2 Gll. bei Th. Klein, Studien, S. 79; die 2 nicht bei H. Mayer edierten Gll. ohne Bezugnahme auf Th. Klein ebenfalls ediert bei K. Siewert, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 90f., 92f. – 29. Köln, EDDB Dom Hs. 81 (BStK-Nr. 348). – Ed. Ph. Jaffé – W. Wattenbach, Ecclesiae Metropolitanae Coloniensis Codices Manuscripti, Berlin 1874, S. 112-124; StSG II, S. 557-571 (Nr. DCCCVIII). – 30. Leiden, UB Burm. q. 3 (BStK-Nr. 363). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 45. – 31. Leiden, UB Voss. lat. oct. 15 (BStK-Nr. 373). – Ed. StSG II, S. 339f. (Nr. DCCV), S. 484 (Nr. DCCXCIV) [nach der Kopie des F. Junius]; Neuedition nach der Wiederentdeckung bei StSG IV, S. 232-234 (Nr. MCCXXI); Berichtigungen und Nachträge bei StSG IV, S. 344; erneute Edition R. Bergmann, in: Landschaft und Geschichte. FS Franz Petri, S. 46-48. – 32. London, BL Add. 15090 (BStK-Nr. 388). – Ed. StSG II, S. 590f. (Nr. DCCCXIII); Berichtigungen und Nachträge bei H. Thoma, PBB 73 (1951) S. 205. – 33. London, BL Add. 16894 (BStK-Nr. 389). – Ed StSG II, S. 382-385 (Nr. DCCLXXX), S. 387-391 (Nr. DCCLXXXIII); Berichtigungen und Nachträge bei H. Thoma, PBB 73 (1951) S. 201f. – 34. London, BL Add. 34248 (BStK-Nr. 402). – Ed. StSG II, S. 538-551 (Nr. DCCCVI); Berichtigungen und Nachträge bei H. Thoma, PBB 73 (1951) S. 197, 202-204. – 35. München, BSB Clm 475 (BStK-Nr. 453). – Ed. StSG II, S. 459-462, 465-467, 473 (Nr. DCCXC). – 36. München, BSB Clm 2622 (BStK-Nr. 462). – Ed. StSG II, S. 595 (DCCCXIX). – 37. München, BSB Clm 13108 (BStK-Nr. 563). – Ed. StSG II, S. 594f. (Nr. DCCCXVI). – 38. München, BSB Clm 14395 (BStK-Nr. 579). – Ed. StSG II, S. 413-474 (Nr. DCCXC). – 39. München, BSB Clm 15962 (BStK-Nr. 620). – Ed. StSG V, S. 32 (Nr. DCCLXXX Nachtr.). – 40. München, BSB Clm 18922 (BStK-Nr. 658). – Ed. StSG II, S. 474-477 (Nr. DCCXCII); Edition der Griffelglossen in Vorbereitung (A. Nievergelt). – 41. München, BSB Clm 19451 (BStK-Nr. 667). – Ed. StSG II, S. 595 (Nr. DCCCXVIII). – 42. München, BSB Clm 29031a (BStK-Nr. 701). – Ed. StSG II, S. 776 (Nr.

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DCCCXXb Nachtr.). – 43. Neapel, BNN ms. IV. G. 68 (BStK-Nr. 713). – Ed. T. Starck, in: Mediaeval Studies in Honor of Jeremiah Denis Matthias Ford, S. 304-308, 314f. – 44. Oxford, BodlL Auct. T. 2. 22. (BStK-Nr. 723). – Ed. P. Lehmann, Mitteilungen aus Handschriften, II, SB München 1930, Heft 2, München 1930, S. 36; Nachtrag bei H. Meritt, AJPh 55 (1934) S. 233f. – 45. Paris, BNF lat. 18554 (BStK-Nr. 770). – Ed. StSG II, S. 595 (Nr. DCCCXVII), Nachtrag bei StSG V, S. 105, Z. 31-34; Nachträge sowie vollständige Edition bei E. Wadstein, Kleinere as. sprachdenkm., Nr. XVIII, S. 88; Berichtigungen und Nachträge dazu bei E. Steinmeyer, ADA 22 (1896) S. 279 und E. Steinmeyer, ADA 26 (1900) S. 203; erneute vollständige Edition bei U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 400-411; erneute vollständige Edition bei H. Tiefenbach, Die altsächsischen Glossen zur Psychomachie des Prudentius im Pariser Codex lat. 18554, Sprachwissenschaft 28 (2003) S. 62-67 . – 46. Paris, BNF Nouv. acquis. lat. 241 (BStK-Nr. 771). – Ed. StSG II, S. 413-474 (Nr. DCCXC). – 47. Prag, UK MS VIII H 4 (BStK-Nr. 785). – Ed. StSG II, S. 385f. (Nr. DCCLXXXI), S. 400407 (Nr. DCCLXXXVI). – 48. Rom, BAV Pal. lat. 1715 (BStK-Nr. 813). – Ed. StSG II, S. 407-409 (Nr. DCCLXXXVII), S. 413 (Nr. DCCLXXXIX); K. Bartsch, Die altdeutschen Handschriften der Universitäts-Bibliothek in Heidelberg, Heidelberg 1887, S. 195f. – 49. Rom, BAV Reg. lat. 339 [Fragment 1] (BStK-Nr. 821 I). – Ed. StSG II, S. 596 (Nr. DCCCXX). – 50. Rom, BAV Reg. lat. 339 [Fragment II] (BStK-Nr. 821 II). – Ed. StSG II, S. 594 (Nr. DCCCXV). – 51. Rom, BAV Reg. lat. 348 (BStK-Nr. 822). – Ed. H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 232f.; Nachtrag B. Hertenstein, Joachim von Watt, S. 152, Anm. 101; Griffelgll. in Vorbereitung durch A. Nievergelt. – 52. Rom, BAV Reg. lat. 469 (BStK-Nr. 824). – Ed. StSG IV, S. 345 (Nr. DCCCXXc Nachtr.); Nachtrag bei A. Wilmart, Codices Reginenses Latini, II, Rom 1945, S. 631; Berichtigungen und Nachtrag bei H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 242. – 53. Rom, BAV Vat. lat. 3860 (BStK-Nr. 834). – Ed. H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 229-232. – 54. Rom, BAV Vat. lat. 5821 (BStK-Nr. 835). – Ed. StSG II, S. 409-412 (Nr. DCCLXXXVIII), S. 778; Berichtigungen und Nachträge bei H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 238. – 55. Stuttgart, WLB HB XII 6 (früher Poet. 6) (BStK-Nr. 874). – Ed. StSG II, S. 489-493 (Nr. DCCXCVII). – 56. Trier, BPS Hs 61 (früher R. III. 13) (BStK-Nr. 877). – Ed. StSG II, S. 590 (Nr. DCCCXII). – 57. Trier, StadtB 1093/1694 (früher 1464) (BStK-Nr. 881). – Ed. StSG II, S. 551-557 (Nr. DCCCVII) – Nachtrag bei StSG V, S. 105, Z. 15f. – 58. Wien, ÖNB Cod. 171 (BStK-Nr. 896). – Ed. StSG II, S. 400 (Nr. DCCLXXXV). – 59. Wien, ÖNB Cod. 247 (BStK-Nr. 901). – Ed. StSG II, S. 391-400 (Nr. DCCLXXXIV); Nachtrag bei StSG V, S. 104, Z. 32. – 60. Wolfenbüttel, HAB Cod. Guelf. 56.18. Augusteus 4º (BStK-Nr. 960). – Ed. StSG II, S. 574 (Nr. DCCCX), Nachtrag bei StSG V, S. 105, Z. 18 (= StSG IV, S. 661, Nr. 630); Nachtrag einer weiteren Glosse bei K. Siewert, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 110. – 61. Wolfenbüttel, HAB Cod. Guelf. 77 Weissenburg (BStK-Nr. 976). – Ed. StSG II, S. 386f. (Nr. DCCLXXXII); Nachträge und Berichtigungen bei W. Kleiber, Otfrid von Weißenburg, S. 150 Anm. – 62. Zürich, ZB Ms. Car. C 164 (BStK-Nr. 1008). – Ed. StSG II, S. 501-521 (Nr. DCCXCIX). – 63. Zürich, ZB Ms. Rh. 62 (BStK-Nr. 1014). – Ed. StSG II, S. 531f. (Nr. DCCCIV), S. 591594 (Nr. DCCCXIV).

Nachgewiesen sind (außer der noch nicht genauer identifizierten Klosterneuburger Hs. CCl 1095) 62 Überlieferungsträger des 9. bis 13. Jh.s mit ahd. oder as. Glossen.

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Zwei heute getrennt aufbewahrte Fragmente (BStK-Nr. 36 und 822) gehörten ehemals einer St. Galler Hs. an; 2 heute zusammengebundene Fragmente (BStK-Nr. 821 (I) und (II)) gehörten ursprünglich verschiedenen Codices an. Von diesen 62 Überlieferungsträgern enthalten 45 einen glossierten Werktext (BStK-Nr. 8c, 36, 65, 81, 82, 102, 105, 106, 126, 128, 129, 150, 162, 186, 187, 188, 270b, 324b, 340, 344, 348, 363, 388, 402, 453, 462, 563, 579, 658, 701, 723, 770, 771, 821 [I], 822, 824, 834, 835, 874, 881, 896, 901, 960, 1008, 1014), 6 einen glossierten Werktext und ein Textglossar (BStK-Nr. 108, 263, 389, 713, 785, 976) sowie 6 ausschließlich ein Textglossar (BStK-Nr. 151, 221, 324, 813, 821 [II], 877). 3 Hss. (BStK-Nr. 107, 373, 620) enthalten Glossen zu Prudentiuskommentaren und 1 Hs. einen Prudentiusauszug im Kontext eines Florilegs (BstK-Nr. 342a). Die Hs. BStK-Nr. 7 weist 3 Gll. auf, die eventuell mit Prudentius in Verbindung stehen, ebenso die Hs. BStK-Nr. 667, die marginal am oberen Rand 1 Glosse enthält. 3. Entstehung und Ausbreitung der Glossierung: Prudentius gehört vom frühen MA. an zum Lektürekanon der Schule (G. Glauche, Schullektüre im MA, S. 5f.); in diesem Zusammenhang sind auch die verschiedenen Kommentare entstanden und wahrscheinlich auch Glossierungen der Hss. vorgenommen worden. Neben die das ganze MA. hindurch übliche und ganz überwiegende lat. Glossierung treten seit dem 9. Jh. auch dt. Glossen. Prudentius ist nach Gregor dem Großen der am stärksten dt. glossierte Autor. Die ersten Glossierungen galten noch nicht dem Prudentiustext, sondern einem lat. Kommentar, der unter dem Titel ‘Glosa super libros Prudentii’ in zahlreichen Hss. den Werken des Prudentius angehängt oder eingeschoben ist. Die Scholien der Glosa sind auch den entsprechenden Stellen des Prudentiustextes über- und beigeschrieben. Außerdem weist die Glosa eine Reihe dt. Glossen auf, die in nahezu allen glossierten Prudentiushss. wiederkehren. Der Kommentar findet sich mit einer Anzahl dt. Glossen bereits im 9. Jh. in Weißenburg (BStK-Nr. 976), zur selben Zeit dürfte er auch ins Bair. gelangt sein, wo er im 11. Jh. mit nahezu identischem Glossenbestand bezeugt ist (BStK-Nr. 389 aus Salzburg). Eine Gruppe von 20-30 Gll. kehrt in kaum veränderter Form in allen glossierten Hss. des Kommentars wieder und bildet, an den entsprechenden Stellen in den Prudentiustext übernommen, den Grundstock der ahd. Glossierung (so in den Hss. BStK-Nr. 65, 107, 186, 187, 188, 263, 340, 348, 389, 579, 658, 771, 785, 976). Da der gemeinsame Glossenbestand der Gesamtüberlieferung aber deutlich über den der Glosa hinausgeht, scheint sich unabhängig davon eine erweiterte Fassung entwickelt zu haben. Erst von dieser Stufe aus leitet sich die Hauptmasse der ahd. Prudentiusglossen her. Ausgangspunkt der dt. Textglossierung war der alem. Raum, wohin nicht nur die frühesten erhaltenen Hss. (St. Gallen: BStK-Nr. 36/822, 821 (I), 188, 186, 835, 187;

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Vorlage von 976; Reichenau: BStK-Nr. 65), sondern auch zahlreiche stehengebliebene alem. Dialektformen in Hss. anderer Provenienz (BStK-Nr. 126, 340, 348, 579, 771, 960) deuten. Vom Alem. aus ging die Entwicklung gen Norden ins Moselfrk. (BStK-Nr. 81 aus Trier; BStK-Nr. 881 aus Echternach). In der 1. Hälfte des 10. Jh.s ging es rheinabwärts bis an den nördlichsten Endpunkt im as. Kloster Werden (BStKNr. 106: Th. Klein, Studien, S. 154-158), wobei die ältesten Werdener Prudentiusglossen ihre alem. Vorlage zu erkennen geben. Gegen Ende des 10. Jh.s wird in Werden eine alem.-frk. Mischglossierung teilweise im originalen Lautstand abgeschrieben, teilweise ins As. transponiert und durch zahlreiche genuin as. Glossen ergänzt. Diese as. Hs. (BStK-Nr. 105: Th. Stührenberg) enthält nun wie viele frk. Hss. eine große Zahl an Glossen, die in der Entwicklung vom Alem. zum As. isoliert stehen, die aber in bair. Hss. des 11. Jh.s wiederkehren. Da die bair. Hss. oft alem. Lautung zeigen, ist auch hier altes alem. Gut bewahrt. Insgesamt gibt es eine frk.-as. und eine bair. Gruppe, die je alem. Wurzeln haben. Die Entwicklungen sind allerdings nicht geradlinig verlaufen; es zeigen sich auch wechselseitige Beeinflussungen, so zwischen frk. und as. Hss. (Th. Klein, Studien, S. 20-158; B. Kölling, S. 55-66; E. Langbroek, Zwischen den Zeilen, S. 191-228). Der Archetyp x der dt. Prudentiusglossen ist wahrscheinlich während der Abtschaft Walahfrid Strabos (Abtschaft 838-849) auf der Reichenau oder in St. Gallen entstanden (dazu s.u. die f-Kennzeichnung). Wenn auch die Reichenau der Ursprungsort der Prudentiusglossen gewesen sein mag, so ist die weitere Pflege und Verbreitung in St. Gallen geleistet worden. Dort bilden die Prudentiusglossen in der zweiten Hälfte des 9. und im 10. Jh. einen Schwerpunkt der glossographischen Tätigkeit. 4. Glossographische Aspekte: Die dt. Glossen sind mehrheitlich interlinear, zuweilen marginal eingetragen. In der Regel handelt es sich um Einzelwörter, allerdings kommen auch Syntagmen vor. Der Clm 14395 (BStK-Nr. 579) weist einen relativ hohen Anteil an Syntagmen auf (B. Meineke, S. 54-91). Mehrere Hss. haben Eintragungen in bfk-Geheimschrift. Das gilt für BStK-Nr. 65 (Mehrzahl der 172 Gll. in Geheimschrift), 82, 129, 348, 579, 658 und 344. In einigen Glossen hat sich der Zusatz f (= francice) erhalten, so in BStK-Nr. 263, 348, 389, 771, 785. Die f-Glossen sind auch für den Archetyp der Prudentiusglossen (x) anzunehmen. Da die glossographische Übung der f-Kennzeichnung wohl von der Reichenau stammt, möglicherweise initiiert durch Walahfrid Strabo, und von dort auf St. Gallen übergegangen ist, werden die f-Glossen als Indiz für eine Entstehung der ahd. Prudentiusglossen nach 838 auf der Reichenau oder etwas später in St. Gallen gewertet (Th. Klein, Studien, S. 37-43).

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Für die Prudentiusglossen bislang noch nicht oder nicht hinreichend untersucht sind Fragen der Formenkongruenz zwischen lat. Bezugswort und dt. Interpretament (zu syntaktischen Übersetzungsproblemen, besonders beim finiten Verb, C. Biener), Fragen zu Kontext- oder Vokabelübersetzung, zu Besonderheiten des Wortschatzes (Glossierung traditionellen Wortgutes oder (autoren-)spezifisch verwendeter Lexeme; Auftreten von Hapaxlegomena; Mehrfachbelegung von Wörtern) oder zum Auftreten von Fehlglossierungen. Da Prudentius nachweislich zum Lektürekanon des ma. Schulunterrichts gehörte, ist die dt. Glossierung am ehesten in den Zusammenhang klösterlichen Grammatikunterrichts zu stellen (für die Hs. BStK-Nr. 340: B. Kölling, S. 235). 5. Räumliche und zeitliche Verteilung: Dialektgeographisch zeigt sich bei den Glossen ein Schwerpunkt im Alem. (BStK-Nr. 36, 65, 108, 126, 128, 129, 162, 186, 187, 188, 221, 713, 822, 835, 874). Halb so viele Glossen sind bair. (BStK-Nr. 8c, 263, 340 (einzelne alem.; dazu B. Kölling), 388, 389, 453, 658). Mehrere Glossen weisen Mischungen obd. Merkmale auf (BStK-Nr. 324b, 579, 771, 785, 813, 901, 1014). 4 Hss. haben as. Glossen (BStK-Nr. 82, 105, 106, 150). Ein weiterer Schwerpunkt wird im Frk. sichtbar (BStK-Nr. 105, 221, 324b, 344, 877), wobei in mehreren Hss. neben dem frk. Dialekt noch eine obd. (BStK-Nr. 81, 881) oder alem. Vorlage (BStK-Nr. 348, 960) erkennbar ist (dazu R. Bergmann, Mittelfränk. Glossen, S. 135f., 156f., 208-210, 318). Auch Dialektmischungen zwischen dem Obd. und Frk. und/oder dem As. begegnen (BStK-Nr. 151, 324, 402, 770, 1008). Die Hss. stammen aus dem 9. bis 13. Jh.; der Schwerpunkt liegt auf dem 9. bis 11. Jh. (mit 49 von 62 Überlieferungsträgern). Datierungen der Glossen weisen 28 Hss. mit Textglossierungen auf. Bei 11 Hss. stimmen die Datierungen der Glossierung und der Entstehung der Hs. überein. Die Glossierung beginnt in der 2. Hälfte des 9. Jh.s (BStK-Nr. 976: ca. 860/870 von der Hand Otfrids; BStK-Nr. 713: 9./10. Jh.), setzt sich im 10. (BStK-Nr. 344; BStK-Nr. 162: 2. Hälfte 10. Jh.; BStK-Nr. 658: Ende 10. Jh.) und 11. Jh. fort (BStK-Nr. 129: 10. oder 11. Jh.; BStK-Nr. 102, 340, 723), wo sie ihren Schwerpunkt zeigt. Zwei Hss. sind im 12. Jh. (BStK-Nr. 896; BStK-Nr. 263), eine im 13. Jh. glossiert (BStK-Nr. 8c). Die meisten Hss. mit Textglossierungen zeigen eine mehr oder weniger große Distanz zwischen Entstehung der Hs. und Eintragung der Glossen (Auflistung nach Chronologie der Glossierung): BStK-Nr. 188: 9. oder 10. Jh. (Hs. Mitte 9. Jh.); BStK-Nr. 82: spätes 9. und 10. Jh. (Hs. 3. Viertel 9. Jh.); BStK-Nr. 363: 1. Hälfte 10. Jh. (Hs. 2. Viertel 9. Jh.); BStK-Nr. 65, 105: 10. Jh. (Hs. 3. Drittel 9. Jh.); BStK-Nr. 770: 10. oder 11. Jh. (Hs. Mitte oder 2. Hälfte 9. Jh.); BStK-Nr. 824: 10. oder 1. Hälfte 11. Jh. (Hs. Mitte oder 3. Viertel 9. Jh.); BStK-Nr. 106: Ende 10. oder Anfang 11. Jh. (Hs. 1. Hälfte 10. Jh.); BStK-Nr. 348: Ende 10. und 11. Jh. (Hs. Ende 10. Jh.);

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BStK-Nr. 835: 11. Jh. (Hs. Ende 9. oder 1. Hälfte 10. Jh.); BStK-Nr. 402: 11. Jh. (Hs. 1 Hälfte 10. Jh.); BStK-Nr. 36, 822: 11. Jh. (Hs. 9./10. Jh.); BStK-Nr. 874: 12. Jh. (Hs. 2. Hälfte 11. Jh.); BStK-Nr. 128: z.T. 13. Jh. (Hs. 2. Hälfte 10. Jh.). Auch hier zeigt sich ein Glossierungsschwerpunkt im 10. und 11. Jh. Danach verebbt die Glossierung von Prudentius schnell. Von den Textglossaren und den Kommentaren sind 12 datiert. Nur eine Glosse in der Otfridhs. gehört noch dem 9. Jh. an (BStK-Nr. 976). Je eine weitere Hs. weist mit ihrer Glossierung in das 10. (BStK-Nr. 813) und 10./11. Jh. (BStK-Nr. 821 (II)). Vier Glossierungen gehören in das 11. Jh. (BStK-Nr. 221, 324, 373, 877), fünf in das 12. Jh. (BStK-Nr. 7, 107, 151, 263, 620). Die Glossierungen der Kommentare und die Textglossare sind folglich jünger als die Textglossierungen. 6. Umfang und Bedeutung: Die 63 dt. glossierten Prudentiusüberlieferungen enthalten zusammen über 12.000 dt. Glosseneintragungen, wobei die Zahl der dt. Glossen in den Hss. zwischen 1 und 2.500 variiert. Die reichhaltigste Prudentius-Glossierung weist der aus Augsburg stammende Parisinus Nouv. acquis. 241 (BStK-Nr. 771) mit seiner Regensburger Abschrift, dem Clm 14395 (BStK-Nr. 579 [dazu B. Meineke; J. Berg]; beide 11. Jh.), auf. Beide Hss. tradieren zusammen gut 4.100 dt. Gll. In den Textglossaren sind nicht ganz 1.000 dt. Gll. enthalten. Die dt. Glossierung erstreckt sich über das ganze Werk. Am stärksten sind Cathemerinon und Psychomachia glossiert. Die ahd. Glossierung spätantiker Literatur erstreckt sich zu zwei Drittel auf die Werke von Prudentius (74,1%). Mit großem Abstand folgen die Glossierungen von Ú Boethius (9,8%) und Ú Arator (9,1%), sodann von Ú Sedulius (2,6%), Ú Juvencus (1,7%) und Ú Avitus von Vienne (1,5%). Der Anteil aller weiteren Autoren macht weniger als 1% dieses Bereichs der Glossierung aus. Betrachtet man nicht allein die Glossierung der spätantiken Literatur, sondern die Glossierung nichtbiblischer Schriften insgesamt, wird Prudentius nur noch von Ú Gregor dem Großen mit annähernd 14.000 Gll. übertroffen. Die Glossierungsdichte in den Hss. liegt bei Prudentius mit 195 Gll. pro Hs. höher als bei Gregor dem Großen mit 141 Gll. pro Hs. 7. Literatur: BStK-Nr. 7, 8c, 36, 65, 81, 82, 102, 105, 106, 107, 108, 126, 128, 129, 150, 151, 162, 186, 187, 188, 221, 263, 270b, 324, 324b, 340, 342a, 344, 348, 363, 373, 388, 389, 402, 453, 462, 563, 579, 620, 658, 667, 701, 713, 723, 770, 771, 785, 813, 821 I, 821 II, 822, 824, 834, 835, 874, 877, 881, 896, 901, 960, 976, 1008, 1014; StSG II, S. 382-596; S. 776; IV, S. 344-346; V, S. 32; R. Bergmann, in: BStH I, S. 89f.; St. Stricker, Überblick über die Prudentiusglossierung, in: BStH I, S. 497-510; A. Arweiler, Prudentius: Carmina, in: Glaube und Wissen im Mittelalter. Die Kölner Dombibliothek, München 1998, S. 317-321; J. Berg, Die Althochdeutschen Prudentiusglossen der Codd. Paris. (Nouv. acquis. 241) u. Monac. 14395 u. 475, Diss. Halle/Wittenberg 1889; C. Biener, Syntaktische Beobachtungen an den

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althochdeutschen Prudentiusglossen, PBB 64 (1940) S. 308-334; G. Glauche, Schullektüre im MA, S. 60; K. J. Heinisch, Prudentius-Handschriften aus Freiburg, ZDA 72 (1935) S. 207208; P. Katara, Die Glossen des Cod. Sem. Trev.; Th. Klein, Studien; B. Kölling, Kiel UB. Cod. MS. K.B. 145. Studien zu den althochdeutschen Glossen, StA 1, Göttingen 1983; E. Langbroek, Zwischen den Zeilen; H. Lauffer, Der Lehnwortschatz der althochdeutschen und altsächsischen Prudentiusglossen, Münchner Germanistische Beiträge 8, München 1976, S. 12, Anm. 15; M. Manitius, Zu den Prudentiusglossen, HVJSch 28 (1933/34) S. 142-152; B. Meineke, Syntaktische und semantische Aspekte althochdeutscher Prudentiusglossen, in: Semantik der syntaktischen Beziehungen, S. 54-91; T. Starck, Unpublished Old High German Glosses to Boethius and Prudentius, in: Mediaeval Studies in Honor of Jeremiah Denis Matthias Ford, Cambridge (Massachusetts) 1948, S. 301-317; E. Steinmeyer, ZDA 16 (1873) S. 1-110; R. Stettiner, Die illustrierten Prudentiushandschriften, Diss. Straßburg, Berlin 1895; Th. Stührenberg, Die althochdeutschen Prudentiusglossen der Handschrift Düsseldorf F 1, Rheinisches Archiv 91, Bonn 1974; S. O’Sullivan, Early medieval glosses on Prudentius’ Psychomachia. The Weitz Tradition, Mittellateinische Studien und Texte 31, Leiden/Boston 2004, S. 33f., 38-86; H. J. Thomson, Prudentius with an English Translation in two volumes, I-II, London 1949; C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberl., S. 331f., 340; G. R. Wieland, The Latin Glosses on Arator and Prudentius in Cambridge University Library, MS Gg. 5.35, Studies and Texts 61, Toronto 1983; G. Wolf, Der Sprachstand der althochdeutschen Glossen des Codex 81 der Kölner Erzdiözesanbibliothek, Rheinisches Archiv 71, Bonn 1970; H. Woodruff, The illustrated Manuscripts of Prudentius, Art Studies 7 (1929) S. 33-79. – Zu ae. Prudentiusglossen und zu einer frühnhd. Übersetzung der Tituli historiarum (Dittochaeum) sieh St. Stricker, in: 2VL XI, Sp. 1277 und 1277f.

STEFANIE STRICKER

Psalter: ‘Fragmente einer altalemannischen Interlinearversion’ Reste einer ehemals vollständigen althochdeutschen Interlinearversion des Psalters (wohl unter Einschluss der Cantica); 2. Drittel des 9. Jahrhunderts; südwestdeutsches Sprachgebiet (alem.). 1. Überlieferung: Dillingen a.d. Donau, StudB (seit 1966; früher Kreis- und Studienbibliothek; früher Lyzealbibliothek) XV Fragm. 3 [(früher) oft als unsigniert bezeichnet; die Einordnung als Fragment 3 (s. f. 1r: rechte obere Ecke) ist aber bereits von A. Schröder im Rahmen einer Neuordnung der Fragmente der Dillinger Bibliothek im Jahre 1917 vorgenommen worden; A. Schröder, Archiv für die Geschichte des Hochstifts Augsburg 5 (1916-1919) S. 623 und S. 620-622]: 1 Doppelblatt; München, BSB Cgm 5248/1: 2 Einzelblätter. Alle erhaltenen vier Pergamentblätter sind in sekundärer Verwendung, wohl gegen Ende des 16. Jh.s, als Material zu Bucheinbänden genutzt worden. Blatt 1 des Dillinger Doppelblatts hat dabei durch einen senkrecht zur Schrift geführten Schnitt knapp die Hälfte an Text verloren. Bei den beiden Münchner Einzelblättern halten

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sich dagegen die Textverluste als solche in engen Grenzen. Bei allen vier Blättern ist heute jedoch die Lesbarkeit aufgrund des im Ganzen sehr schlechten Erhaltungszustandes mehr oder weniger stark eingeschränkt oder teilweise nicht mehr gegeben. Das gilt in besonderer Weise für das erste Münchner Blatt. – Bei dem Trägerband, von dem der Augsburger Domkapitular Anton Steichele im Jahre 1848 das Dillinger Doppelblatt ablösen ließ (J. A. Schmeller, Beiträge zur Geschichte des Bisthums Augsburg 2 [1852] S. 135), handelt es sich um das im Jahre 1587 in Freyburg in der Eydgnoschafft (Freiburg/Fribourg in der Schweiz) gedruckte Buch ‘Histori vom Leben vnnd Sterben deß H. Einsidels vnd Martyrers S. Meinradts ...’. Das Werk, das sich an den christlichen Leser richtet, ist, über die Vita des Heiligen Meinrad hinaus, auch von den weiteren Viten und den sonstigen geistlich-frommen Inhalten her ausschließlich auf die Benediktinerabtei Einsiedeln in der Schweiz und die damit verbundene Wallfahrt bezogen. Auf die Benediktinerabtei Einsiedeln weist darüber hinaus auch, dass die inneren Seiten des Bucheinbandes des Trägerbandes mit einem Flugblatt ausgeklebt waren, das in deutscher Übersetzung den der Einsiedler Klosterkirche mit Datum vom 2. Januar 1512 verliehenen Ablassbrief des Papstes Julius II. (1502-1513) beinhaltet hat (J. A. Schmeller, Beiträge zur Geschichte des Bisthums Augsburg 2 [1852] S. 141). Das Flugblatt selbst soll nach J. A. Schmeller noch „in demselben oder doch nächstfolgenden Jahre gedruckt“ worden sein. Nach Ausweis der handschriftlichen Provenienzvermerke auf dem Titelblatt des Dillinger Trägerbandes war der damalige Wössinger Pfarrer Fridericus Lindtmair der Erstbesitzer, der dieses Buch vermutungsweise am ehesten wohl in Einsiedeln selbst, wahrscheinlich im Rahmen einer Wallfahrt, erworben haben dürfte und es späterhin im Jahre 1601 der Bibliothek des Dillinger Jesuitenkollegs als Geschenk überließ. Der Donator dieses Buches, Fridericus Lindtmair, ist eindeutig mit Friedrich Lind(en)mair (um 1550- 1608) zu identifizieren, der mit einem großzügigen Vermächtnis von rund 700 Bänden sowie 500 Gulden für Buchankäufe den Bestand der damaligen Dillinger Bibliothek erheblich vermehrt hat. Friedrich Lind(en)mair war ehemals Student der von den Jesuiten geführten Dillinger Universität (immatrikuliert 1572) und hat später auch am Collegium Germanicum in Rom (1574-1581) studiert. Von 1584-1590 war er als Pfarrer in Wallerstein (Bayern) und von 1592-1607 als Pfarrer in Wössingen (Baden-Württemberg) tätig (zu Friedrich Lind(en)mair und seinem Vermächtnis s. im Ganzen R. May, in: Die Universität Dillingen und ihre Nachfolger, S. 635, mit Anm. 42). Die beiden räumlich enger benachbarten Orte Wallerstein und Wössingen liegen heute diesseits und jenseits der bayerisch/baden-württembergischen Landesgrenze. Wössingen war aber nach J. A. Schmeller (Beiträge zur Geschichte des Bisthums Augsburg 2 [1852] S. 142) kirchenterritorial „vormals zum bischöflich Augsburgischen Landkapitel Wallerstein gehörig“. – Im Gegensatz zum Dillinger Doppelblatt ist über den ehemaligen Trägerband der beiden Münchner Blätter, die im Jahre 1850

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entdeckt und ausgelöst worden sind, wovon J. A. Schmeller aber erst am 23. Januar 1851 Kenntnis erhielt, trotz teils anderslautenden Aussagen in der Sekundärliteratur, nichts Genaueres bekannt (E. Wunderle, ZDA 139 [2010] S. 201). 2. Inhalt und Einrichtung: Sieht man von den durch die Zweitverwendung der Blätter eingetretenen jeweiligen Textverlusten im Einzelnen ab, so erfassen das Dillinger Doppelblatt die Verse Ps 107,7-108,5 und 113,20(12)-114,8 und die beiden Münchner Blätter die Verse Ps 123,2-124,5 und 128,7-130,2. Somit sind insgesamt nur die beiden kurzen Psalmen 124 und 129 ‘vollständig’ überliefert. Die einspaltig beschriebenen Blätter sind im Grundsatz so eingerichtet, dass die einzelne Seite insgesamt 26 liniierte Zeilen aufweist, wobei der fortlaufende lat. Psalmtext die Zeilen 2, 4, 6 usw. einnimmt, dem in den Zeilen 1, 3, 5 usw. die jeweiligen ahd. Wörter übergeschrieben sind. Der lat. Text ist, abgesehen von bestimmten Formen der Auszeichnung (z. B. rote zweizeilige Majuskel zu Beginn eines Psalms), durchgehend in schwarz gehalten. Die von einer anderen Hand stammenden ahd. Eintragungen sind dagegen vollständig in roter dünnerer Schrift ausgeführt. Das Althochdeutsche erscheint dabei im Gegensatz zum lat. Text der Psalmen schon von der äußeren Form her (kleinere und größere Spatien zwischen den einzelnen Eintragungen) nicht etwa als fortlaufender Text. Vielmehr ist das deutliche Bemühen erkennbar, die ahd. Eintragungen als Wörter, allenfalls als kleinere Einheiten (z. B. bei präpositionalen Fügungen) dem jeweiligen lat. Bezugswort bzw. -text auch optisch möglichst eindeutig zuzuordnen. Im Ganzen ist die planmäßige und anspruchsvolle Gestaltung (s. dazu auch E. Hellgardt, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 262f. und 266; L. Voetz, in: BStH I, S. 911f.) dieser Interlinearversion in der besonderen Art ihrer Ausführung im Althochdeutschen ohne jede Parallele (zur Einrichtung s. insgesamt E. Wunderle, ZDA 139 [2010] S. 201; E. Wunderle, Die mittelalterlichen Handschriften der Studienbibliothek Dillingen, S. 424; B. Bischoff, FMSt 5 [1971] S. 119 (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 94f.); B. Bischoff, Katalog, I, Nr. 1010, S. 218; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XXXVIII, S. 298f.). 3. Ausgaben. Editionsgeschichte und Editionslage. Abbildungen: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XXXVIII, S. 293-298. – Für die Dillinger und Münchner Fragmente liegt bis heute keine Edition vor, die ein im Ganzen angemessenes und zuverlässiges Bild des Überlieferungsbefundes widerspiegelt. Unter den nicht wenigen (Teil-)Ausgaben der altalem. Interlinearversion (zu den älteren Editionen vor Erscheinen der ‘Sprachdenkmäler’ s. E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 299) vermitteln von der äußeren Form der Präsentation her am ehesten noch die von J. A. Schmeller (Beiträge zur Geschichte des Bisthums Augsburg 2 [1852] S. 135-142, Edition: S. 136-139) vorgelegte Erstveröffentlichung des Dillinger Doppelblattes sowie die im Jahre 1898 erschienene Wiedergabe der beiden Münchner Blätter von

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P. Piper (Nachträge, S. 309f.) einen einigermaßen adäquaten Eindruck von der Anlage der erhaltenen Blätter als Interlinearversion. Beide Teileditionen sind von den Lesungen her jedoch mit erheblichen Fehlern behaftet. Von der Qualität der Lesungen her kann unter allen bisher erschienenen Ausgaben allein die von E. v. Steinmeyer maßgebend sein. Über den von ihm in dieser Hinsicht gesetzten Standard wird wohl angesichts der teilweise schwierigen bzw. nicht mehr gegebenen Lesbarkeit der insgesamt vier Blätter im Ganzen auch nicht entscheidend hinauszukommen sein. An der Ausgabe E. v. Steinmeyers ist jedoch als schwerwiegendes Manko zu beanstanden, dass er die Interlinearversion des Psalters, wie alle von ihm edierten Interlinearversionen, in Form einer zweispaltigen Bilingue präsentiert, was in völligem Widerspruch zur tatsächlichen Überlieferung steht (zu dieser Problematik s. im Ganzen L. Voetz, in: BStH I, S. 889-891). Im Übrigen führt das Erscheinungsbild der Steinmeyer’schen Edition, vor allem bezüglich des ersten beschnittenen Blattes des Dillinger Fragments, auch dazu, dass dem Nutzer der Edition – schon rein optisch – kaum klar wird, warum in einem scheinbar fortlaufenden Text im althochdeutschen Teil an verschiedensten Stellen immer wieder Auslassungen auftreten. Ein angemessenes Bild des tatsächlich Überlieferten kann so im Ganzen nicht entstehen. In keinem Punkt weiterführend ist die knapp ein halbes Jahrhundert nach E. v. Steinmeyer, ebenfalls in Form einer Bilingue, erschienene Ausgabe von U. Daab (Drei Reichenauer Denkmäler, 1963, S. 77-92), die in der neueren Sekundärliteratur häufig sogar als alleinige Textgrundlage angegeben wird. Sie stellt in allem, auch von der gegenüber E. v. Steinmeyer ohne einen in der Sache liegenden Grund nochmals veränderten kleinteiligeren äußeren Anlage her, eine erhebliche Verschlechterung der Steinmeyer’schen Edition dar. Eine Autopsie der Überlieferungsträger hat nicht stattgefunden. Den gegenüber der Steinmeyer’schen Ausgabe schlechteren „jetzigen Stand der Lesbarkeit“ meint U. Daab (S. 77f.) dennoch allein auf Grundlage von Fotokopien feststellen zu können. Außer den beiden in der Darstellungsweise inadäquaten bilingualen Ausgaben von E. v. Steinmeyer und U. Daab, die dem Eindruck Vorschub leisten, dass einem lat. Basistext ein ins Althochdeutsche übertragener, gleichwertiger, ebenfalls für sich lesbarer Text gegenüberstünde (zu den gravierenden Unterschieden zwischen Interlinearversion und Text s. L. Voetz, in: BStH I, insb. S. 914-917), hat noch ein anderer unglücklicher editionsgeschichtlicher Umstand zu der anhaltenden fatalen Folgewirkung beigetragen, die altalem. Interlinearversion unberechtigterweise als einen ahd. Text erscheinen zu lassen. – Da es nicht mehr dazu kam, dass J. A. Schmeller (1785-1852) die beiden erst nach dem Fund des Dillinger Doppelblatts in der ‘eigenen’ Bibliothek entdeckten beiden Münchner Blätter, von denen er erst zu Beginn des Jahres 1851 Kenntnis erhielt, in derselben Weise wie das Dillinger Fragment

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publizierte, erfuhr die wissenschaftliche Öffentlichkeit erst im Jahre 1857 Näheres zum Inhalt der Münchner Blätter: Weil die Erstedition des Dillinger Doppelblatts an entlegener Stelle erschienen war und der genauere Inhalt der beiden Münchner Blätter bis dahin letztlich unbekannt geblieben war, entschloss sich der damalige Herausgeber der Zeitschrift ‘Germania’, F. Pfeiffer, fünf Jahre nach dem Tod J. A. Schmellers, einen Beitrag unter dessen Namen (J. A. Schmeller, Germania 2 [1857] S. 98-105) zu veröffentlichen, der sich aus drei ganz verschiedenartigen Publikationen zusammensetzt (s. dazu genauer die einleitenden Bemerkungen von F. Pfeiffer, Germania 2 [1857] S. 98f.), die im Zusammenhang der Beschäftigung J. A. Schmellers mit den Dillinger und Münchner Fragmenten noch zu seinen Lebzeiten erschienen sind. Dabei griff F. Pfeiffer bezüglich der Wiedergabe (Germania 2 [1857] S. 102-105) der beiden Münchner Blätter, aber – ohne sachliche Notwendigkeit! – auch im Falle des Dillinger Doppelblatts auf einen von J. A. Schmeller erstellten Text zurück, der als separater ‘privater’ Druck „nur an wenige Freunde vertheilt wurde“ (F. Pfeiffer, Germania 2 [1857] S. 98). Dieser im Jahre 1851 – ohne Angabe des Autornamens – erstellte Druck ([J. A. Schmeller,] Ueberreste einer vor-notkerischen Verdeutschung der Psalmen, auf alten Pergament-Einbänden entdeckt im J. 1850 [München 1851]; jetzt in einem Exemplar über www.bsb-muenchen.de online einsehbar!), der von F. Pfeiffer (Germania 2 [1857] S. 99) als ‘zweiter vollständiger [!] Abdruck beider Fragmente’, von E. v. Steinmeyer (Sprachdenkm., S. 299) dagegen als ‘anonymer Sonderabdruck’ bezeichnet wird, weist inhaltlich gegenüber der Edition des Dillinger Doppelblattes jedoch zwei – von weiteren gewichtigen Kriterien einmal ganz abgesehen – entscheidende Besonderheiten auf. Es fehlt zum einen jeglicher lat. Text, zum anderen aber sind die ahd. ‘Passagen’ an den infolge von Textverlusten oder nicht mehr gegebener Lesbarkeit eingetretenen Fehlstellen – durch Kursivdruck gekennzeichnet – ‘ergänzt’, sodass sich, zumindest vom äußeren Erscheinungsbild her, der Eindruck eines fortlaufenden ahd. Textes geradezu zwangsläufig ergibt. In dieser von F. Pfeiffer im Jahre 1857 öffentlich gemachten Gestalt wurde die altalem. Interlinearversion, die als solche jetzt nicht mehr erkennbar war, vor Erscheinen der Steinmeyer’schen Ausgabe (und zum Teil noch bis heute) weitgehend wahrgenommen, was in der Sache einen unglaublichen Rückschritt gegenüber der Erstausgabe des Dillinger Doppelblattes (mit der Beigabe einer Abbildung (!) von f. 2v, Z. 3-14 zu Ps. 114,3-5) durch J. A. Schmeller darstellt. – Die Publikation von 1857 führte im Weiteren unter anderem auch dazu, dass das von W. Braune im Jahre 1875 erstmals herausgegebene ‘Althochdeutsche Lesebuch’ die insgesamt drei ganz oder nahezu vollständig überlieferten Psalmen 114, 123 und 129 auswählte (W. Braune, Ahd. Lesebuch, 1875, Nr. XIII, S. 33f.) und unter Hinzufügung von Längenzeichen und einer modernen Interpunktion in der von F. Pfeiffer im Jahre 1857 in den

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Druck gegebenen Gestalt, mithin ohne lat. Text und unter Einschluss der ‘ahd. Ergänzungen’, veröffentlichte. Dabei ist es dann letztlich auch, von einigen späterhin durchgeführten Korrekturen der Lesungen nach E. v. Steinmeyer abgesehen, durch alle Auflagen hindurch bis zur letzten Auflage im Jahre 1994 geblieben – sogar unter Beibehaltung der zum Teil falschen Verszählung und anderer Irrtümer (W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. XVII.1, S. 39f.). Letztlich wirkt hier, ohne dass sich die Herausgeber dessen selbst bewusst sind, die Schmeller’sche Textfassung im Separatdruck von 1851 bzw. in der von F. Pfeiffer publizierten Form von 1857 uneingeschränkt fort. Schon von der gesamten äußeren Erscheinungsweise her wird durch nichts erkennbar, dass es sich von der Überlieferung her um eine Interlinearversion handelt. Vielmehr muss der Nutzer des ‘Althochdeutschen Lesebuches’ vom Gesamteindruck der Wiedergabe her davon ausgehen, dass es sich um einen fortlaufenden ahd. Text handelt. – Derselbe Eindruck stellt sich im Übrigen auch in der Wiedergabe (ebenfalls ohne lat. Text!) derselben drei Psalmen 114, 123 und 129 in einer von W. Haug und B. K. Vollmann (Frühe dt. Lit., S. 32-35) im Jahre 1991 herausgegebenen Sammlung ein, in der diese Psalmen dann ins Neuhochdeutsche ‘übersetzt’ werden. Abbildungen: Die beiden Münchner Blätter sowie das Dillinger Doppelblatt sind über www.bsb-muenchen.de, das Dillinger Doppelblatt auch über PadRep abrufbar (alle Abbildungen in Farbe). – G. Baesecke, Der dt. Abrogans, Tafel VI und VII, nach S. 10: Abbildungen (schwarz-weiß-Faksimiles) der beiden äußeren Seiten von Dillingen, StudB XV Fragm. 3, f. 2v und 1r (= E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Bl. 2b [S. 295] und Bl. 1a [S. 293]) sowie von Cgm 5248/1, f. 2v (= E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Bl. 4b [S. 297f.]). – Erste bildliche Wiedergabe: J. A. Schmeller, Beiträge zur Geschichte des Bisthums Augsburg 2 (1852) S. 135-142; die im Titel des Beitrags als ‘Facsimile’ bezeichnete Nachbildung bietet einen Ausschnitt aus dem Dillinger Doppelblatt zu Ps. 114,3-5: f. 2v, Z. 3-14 (= E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 295,10-18); das ungezählte Blatt kann – je nach Einzelexemplar des Zeitschriftenbandes – an unterschiedlicher Stelle erscheinen.

4. Lokalisierung. Datierung. Sprache: In der älteren Forschung (zum Teil aber auch noch in jüngerer Zeit) wird die altalem. Interlinearversion von ihrer Lokalisierung her – außer mit Murbach – vor allem mit der Reichenau in Verbindung gebracht (R. Kögel, Gesch. d. dt. Litt., I.2, S. 474-476; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 299), wobei methodisch häufig unklar bleibt, worauf sich die jeweiligen Äußerungen zur Lokalisierung wie auch zur Sprache tatsächlich beziehen, auf ein sogenanntes ‘Original’ oder auf eine ‘Abschrift’ und wofür man den einzig erhaltenen Überlieferungsträger gerade hält. Durch die Autorität G. Baeseckes (s. z. B. G. Baesecke, Der dt. Abrogans, S. 10: „Ps muß Murbacher Abschrift eines Reichenauer Originals sein“; S. 62: „die Reichenauer ... Psalterübersetzung“; s. auch G. Baesecke, PBB 69 [1947] S. 398: „Die Reichenauer Psalter-Interlinearversion“) hat sich zumindest für das postulierte ‘Original’ die angeblich Reichenauer Herkunft verfestigt, die sich

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dann bei U. Daab bereits im Titel ihrer Edition ‘Drei Reichenauer Denkmäler der altalemannischen Frühzeit’ (1963) manifestiert. Zeitlich wurde die altalem. Interlinearversion mit teils sogar sehr genauen Datierungen in den Anfang bzw. in die beiden ersten Jahrzehnte des 9. Jh.s bis in die Zeit um 820 gesetzt (so E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 300). Zumindest in Bezug auf den – nur noch resthaft – erhaltenen Überlieferungsträger hat B. Bischoff (FMSt 5 [1971] S. 119 (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 94f.); B. Bischoff, Katalog, I, Nr. 1010 [Dillinger Doppelblatt], S. 218; II, S. 220, nach Nr. 2916: zu Cgm 5248/1 lediglich Verweis auf Katalog, I, Nr. 1010) den Ansichten der älteren Forschung aufgrund paläographischer Kriterien entschieden widersprochen. Die Schrift der erhaltenen Fragmente lässt sich nach B. Bischoff mit keinem der behaupteten oder erwogenen Skriptorien (Reichenau, Murbach oder auch St. Gallen) verbinden und auch von der Datierung her sei eine Zeit vor dem mittleren Drittel des 9. Jh.s sicher auszuschließen. Die Schriftheimat sei innerhalb des südwestdeutschen Sprachgebiets nicht genauer festlegbar. – In den alem. Raum weisen im Übrigen auch die sich im Zusammenhang mit dem Trägerband des Dillinger Doppelblattes ergebenden buchgeschichtlichen Umstände. Demnach ist davon auszugehen, dass die in das zweite Drittel des 9. Jh.s zu datierende Hs. gegen Ende des 16. Jh.s am ehesten in Einsiedeln makuliert worden ist (vgl. auch J. A. Schmeller, Beiträge zur Geschichte des Bisthums Augsburg 2 [1852] S. 141f.). Die Handschrift kann jedoch nicht in Einsiedeln entstanden sein, da die Gründung der Benediktinerabtei, die an der Stelle der Einsiedelei des von der Reichenau kommenden hl. Märtyrers Meinrad († 861) errichtet wurde, erst im Jahre 934 erfolgte. Dabei richtete sich die Abtei nach dem Vorbild St. Gallens aus. Aus St. Gallen und dem rätischen Raum kam dann auch ein erster Grundbestand der Einsiedler Bibliothek (H. Finger, in: Lexikon des gesamten Buchwesens, II, S. 442; E. Gilomen-Schenkel, in: LexMA III, Sp. 1743f.). Der alem. Sprachcharakter der altalem. Interlinearversion ist im Ganzen nie ernsthaft in Frage gestellt worden, was mit der paläographischen Bestimmung der erhaltenen Fragmente in Einklang steht. Innerhalb der Grenzen des Alemannischen lässt sich bisher jedoch keine sichere Zuweisung der – räumlich wie zeitlich! – nicht einheitlichen sprachlichen Merkmale vornehmen. Nach R. Kögel (Gesch. d. dt. Litt., I.2, S. 473) erkennt man die sprachliche Heimat „auf den ersten Blick als hochalemannisch“. Aber nach Anführung vielfältiger sprachlicher Erscheinungen und Besonderheiten (ebenda, S. 473-476) tendiert er letztlich dann doch aus eher allgemeinen Gründen und wohl auch vor dem Hintergrund seiner Annahmen zu den ‘Murbacher Hymnen’ für die ‘Copie’, womit er die Hs. meint, der die heute noch erhaltenen Fragmente einst angehört haben, zu Murbach und für das nicht erhaltene ‘Original’ zur Reichenau. – Die bisher einzige umfangreichere sprachliche Untersuchung von C. T. Stewart (Beiträge zur Kunde der indogermanischen Sprachen 28 [1904] S.

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161-191) aus dem Jahre 1904 ist von E. v. Steinmeyer (Sprachdenkm., S. 299) als ‘wertlos’ bezeichnet worden. Dieses harte Urteil ist zumindest in zwei Punkten völlig zutreffend: nämlich bezüglich der Quellengrundlage (basierend auf J. A. Schmeller, Germania 2 [1857] S. 102-105) sowie der Datierung (C. T. Stewart, S. 191: „we cannot determine the date ... more accurately than about the year 812-14“). Ein Zeitansatz zwischen 812-814 lässt sich in keiner Weise aus dem von C. T. Stewart zusammengestellten sprachlichen Material begründen, sondern beruht letztlich offensichtlich auf der Bemerkung R. Kögels (Gesch. d. dt. Litt., I.2, S. 476), dass er „die Psalmenübersetzung noch in die letzten Jahre Karls des Grossen setze“. Geradezu grotesk ist unter anderem auch die völlig sinnlose Zusammenstellung der angeblichen Kürzungen (C. T. Stewart, S. 162f., § 6) der altalem. Interlinearversion. Diese ‘ergeben’ sich lediglich daraus, dass J. A. Schmeller die durch Beschnitt der Fragmente unvollständig überlieferten ahd. Wörter in Kursivdruck vervollständigt hat (s. Germania 2 [1857] S. 102-105) und C. T. Stewart diese Wörter dann irrigerweise als Kürzungen, die im Überlieferungsträger selbst erscheinen, gewertet hat. – Umfangreichere Äußerungen zu verschiedenen sprachlichen Erscheinungen und Besonderheiten der altalem. Interlinearversion finden sich über die bereits genannte Literatur hinaus unter anderem auch noch bei E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 299f. und G. Baesecke, PBB 69 (1947) S. 402-409; s. auch schon J. A. Schmeller, Beiträge zur Geschichte des Bisthums Augsburg 2 (1852) S. 139-141. 5. Einordnung: Die von sachlichen Fehlern nicht freie altalem. Interlinearversion ist von der Konsequenz der Durchführung wie von der äußeren Einrichtung her die ‘vollständigste’ und am sorgfältigsten angelegte ahd. Interlinearversion (vgl. auch E. Hellgardt, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, insb. S. 266 und 275). Sie überträgt unter strenger Beibehaltung der Wortfolge den Text des Psalters Wort für Wort und Form für Form ins Ahd., wobei jedoch – gegen den lat. Text – gelegentlich der Artikel hinzugefügt wird. Das betrifft jedoch, wenn auch nicht in allen Fällen, ausschließlich den Genitiv Singular. Selbst die lat. Kleinwörter werden alle ins Ahd. übertragen, wie sogar lat. in – ahd. in. Entgegen einer grundsätzlich vorherrschenden Praxis in den zeitlich vor 800 und in den ersten Jahrzehnten des 9. Jh.s entstandenen frühen altalem. Interlinearversionen (Ú ‘St. Galler Interlinearversion zu Joh. 19,38’, Ú ‘St. Pauler Interlinearversion zu Lc 1,64 – 2,51’, Ú ‘Benediktinerregel’, Ú ‘Murbacher Hymnen’) erfahren auch die lat. Namen in der ‘ahd. Zeile’ durchgängig eine Form der Wiedergabe. Das gilt selbst bei Namenidentität im Lateinischen wie im Deutschen (z. B. lat. moab – ahd. moab, lat. sion – ahd. sion). In einem Sonderfall wird der Name Sichem (lat. Sicima) – zumindest auf den ersten Blick – sogar ins Ahd. ‘übersetzt’, indem der lat. Akk. sicimam (E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 293,4 zu Ps 107,8) mit dem Hapaxlegomenon ahd. euuilendi (st. N.) ‘Schafland’

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wiedergegeben wird (E. Seebold, Chronolog. Wb. II, S. 498 und 640; SchW S. 93; s. dazu auch schon J. A. Schmeller, Beiträge zur Geschichte des Bisthums Augsburg 2 [1852] S. 140f.). Diese Art der Wiedergabe des Namens lat. Sicima ist inhaltlich wohl durch die Bibelstelle Gen. 37,12f. veranlasst (E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 293, Anm. 2 zum ahd. ‘Text’), in der davon die Rede ist, dass die Söhne Jakobs bei Sichem die Schafe ihres Vaters weiden. In diesem Falle läge dann mit dem Interpretament ahd. euuilendi ‘Schafland’ keine Übersetzung, sondern eher eine Art von erläuternder Sachglossierung vor (zum weiteren Hintergrund des Verständnisses und der Behandlung des Namens lat. Sicima s. ausführlicher auch E. Hellgardt, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 278-280). Doppelte Übersetzungen zu nur einem lat. Wort, wie sie in anderen frühen altalem. Interlinearversionen durchaus nicht selten sind, kommen nicht vor. In gekürzter Form erscheinen unter den ahd. Wörtern nur der Name Israhel und das hier als Nomen Sacrum aufzufassende truhtin (zur grundsätzlichen Systematik der für die frühen altalem. Interlinearversionen verschiedenen charakteristischen Erscheinungen s. im Ganzen L. Voetz, Die St. Pauler Lukasglossen, 1985, S. 112-162). Obwohl sich demnach die altalem. Interlinearversion in einer Reihe von charakteristischen Punkten von den frühen altalem. Interlinearversionen unterscheidet, ist es doch wahrscheinlich, dass sie direkt oder über eine Zwischenstufe auf einer älteren Vorlage beruht, die zeitlich in den ersten Jahrzehnten des 9. Jh.s innerhalb des alem. Sprachraums entstanden sein dürfte. Unter diesem Gesichtspunkt wäre dann die fragmentarisch erhaltene altalem. Interlinearversion des Psalters am ehesten als ein später ‘Nachklang’ in die Reihe der frühen altalem. Interlinearversionen einzuordnen. Die weitgehende ‘Einebnung’ der charakteristischen Merkmale ließe sich dann am ehesten so verstehen, dass in der ältesten Form der Vorlage diese Elemente durchaus vorhanden gewesen sein werden, dass aber in der Folgezeit ein zunehmendes und starkes Interesse an der Verdeutlichung und – zumindest äußerlichen – ‘Perfektionierung’ der Interlinearversion der Psalmen bestanden hat. Aufgrund der erhaltenen Reste dieser im zweiten Drittel des 9. Jh.s entstandenen Hs. kann kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, dass dieser lat./ahd. Psalter, wohl unter Einschluss der Cantica und eventuell auch der katechetischen Stücke, das älteste noch greifbare Zeugnis einer vollständigen ahd. Interlinearversion des Psalters darstellt. Die altalem. Interlinearversion ist damit zugleich dann auch die einst umfangreichste ahd. Interlinearversion des frühen Althochdeutschen, wenn nicht des Althochdeutschen überhaupt. Diese nur noch fragmentarisch erhaltene Interlinearversion darf aber nicht als eine entwicklungsgeschichtliche Zwischenstufe zwischen volkssprachiger Glossierung und volkssprachiger Übersetzung verstanden werden. Sie stellt vielmehr, wie alle ahd. Interlinearversionen des Althochdeutschen, im

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Ganzen eine Form sui generis dar, die von der Intention her allein der Aneignung des lat. Textes mittels der Volkssprache gedient hat. Die altalem. Interlinearversion des Psalters hat keine erkennbaren Nachwirkungen auf spätere ahd. oder auch as. oder anl. Interlinearversionen gehabt (K. E. Schöndorf, Die Tradition, S. 16, 149, 27; A. Quak, Studien, S. 119-125; E. Seebold, Chronolog. Wb. II, S. 33). Sie stellt auch, obwohl im selben Sprachraum beheimatet, keine erkennbare Vorstufe zu der, rund anderthalb Jahrhunderte späteren, kommentierenden Psalterübersetzung Ú Notkers dar, dessen Werk sich von der Intention und von der Qualität her von jedweder Interlinearversion gravierend unterscheidet. Wohl aber legt die altalem. Interlinearversion deutlich davon Zeugnis ab, dass man sich im deutschsprachigen Südwesten schon weit vor Notker der Volkssprache bedient hat, um den lat. Psalter im Rahmen eines ‘schulisch-monastischen Umfeldes’ (s. dazu im Ganzen W. Haubrichs, in: Sprache. Literatur. Kultur, insb. S. 243 und 259-261; W. Haubrichs, Die Anfänge, insb. S. 204-207; N. Henkel, in: Übersetzen im Mittelalter, insb. S. 51f. und 71f.; E. Hellgardt, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 263; L. Voetz, in: BStH I, S. 908-910) zumindest lexikalisch-grammatisch ‘vollständig’ zu erfassen. 6. Literatur: G. Baesecke, Der dt. Abrogans, S. 9-11, 62 und Tafel VI und VII, nach S. 10; G. Baesecke, Unerledigte Vorfragen der ahd. Textkritik und Literaturgeschichte, PBB 69 (1947) S. 361-409, hier S. 398-409: VI. Die Reichenauer Psalter-Interlinearversion, die ‘Altalemannische Psalmenübersetzung’; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134, hier: S. 119 ( = B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 73-111, hier: S. 94f.); B. Bischoff, Katalog, I, Nr. 1010 (Dillinger Doppelblatt), S. 281; II, S. 220, nach Nr. 2916: zu Cgm 5248/1 lediglich Verweis auf Katalog, I, Nr. 1010; W. Braune, Althochdeutsches Lesebuch. Zusammengestellt und mit Glossar versehen, [1. Aufl.] Halle an der Saale 1875 [bereits 1874 erschienen!], Nr. XIII, S. 33-34; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. XVII.1, S. 39-40; U. Daab, Zur Datierung der altalemannischen Psalmenübersetzung, PBB 83 (Tübingen 1961/1962) S. 281-301; U. Daab, Drei Reichenauer Denkmäler der altalemannischen Frühzeit, ATB 57, Tübingen 1963, S. 77-92; H. Finger, Einsiedeln, in: Lexikon des gesamten Buchwesens, 2. A., II, Stuttgart 1989, S. 442; E. Gilomen-Schenkel, Einsiedeln, in: LexMA III, Sp. 1743-1746; W. Haubrichs, Das monastische Studienprogramm der ‘Statuta Murbacensia’ und die altalemannischen Interlinearversionen, in: Sprache, Literatur, Kultur. FS Wolfgang Kleiber, S. 237261; W. Haubrichs, Die Anfänge, insb. S. 204-207; W. Haug – B. K. Vollmann, Frühe dt. Lit., S. 32-35, 1054-1056; E. Hellgardt, Einige altenglische, althochdeutsch- und altniederdeutsche Interlinearversionen des Psalters im Vergleich. Mit zehn Abbildungen, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 261-296, insb. S. 266 und 282; N. Henkel, Die althochdeutschen Interlinearversionen. Zum sprach- und literarhistorischen Zeugniswert einer Quellengruppe, in: Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Kolloquium 1994. Hg. v. J. Heinzle – L. P. Johnson – G. Vollmann-Profe, Wolfram-Studien 14, Berlin 1996, S. 46-72, mit Abbildungen 1-5, nach S. 483; Warhafftige vnd gründliche Histori vom Leben vnnd Sterben deß H. Einsidels vnd Martyrers S. Meinradts ... Auffs neuwe gemehrt vnd mit fleiß vbersehen ... Freyburg in

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der Eydgnoschafft [Freiburg/Fribourg in der Schweiz] M. D. XXCVII. [1587]; R. Kögel, Gesch. d. dt. Litt. I, 2, S. 472-477; R. May, Von der „geistlichen Rüstkammer“ für Kolleg und Hochschule zur Studienbibliothek, in: Die Universität Dillingen und ihre Nachfolger. Stationen und Aspekte einer Hochschule in Schwaben. Festschrift zum 450jährigen Gründungsjubiläum, im Auftrag des Historischen Vereins Dillingen und der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung, in Zusammenarbeit mit R. Poppa hg. v. R. Kiesling, Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen an der Donau. C. Jahrgang 1999, Dillingen/Donau 1999, S. 627-642, hier: S. 635 und Anm. 42; P. Piper, Nachträge, S. 309-310; A. Quak, Studien zu den altmittel- und altniederfränkischen Psalmen und Glossen, Amsterdamer Publikationen zur 6SUDFKHXQG/LWHUDWXU$PVWHUGDPLQVE6-$6FKPHOOHU ‚ ,P Folgenden werden verschiedene Publikationen angeführt, die zwischen 1851 und 1857 unter dem Namen J. A. Schmellers (oder ohne Autornamen) – wohl in der hier vorgestellten zeitlichen Abfolge – erschienen sind und in unmittelbaren Zusammenhang mit den Funden des Dillinger Doppelblatts und der beiden Münchner Fragmente sowie entsprechenden Vorträgen und Erstpublikationen J. A. Schmellers stehen (hierzu finden sich in der Sekundärliteratur, soweit diese Beiträge überhaupt angegeben werden, oft (völlig) falsche Angaben): Gelehrte Anzeigen. Herausgegeben von Mitgliedern der k. bayer. Akademie der Wissenschaften, 32. Band (München 1851) Sp. 641-642 [Es handelt sich hier nicht, wie teilweise behauptet, um eine Ausgabe, sondern lediglich um eine namentlich nicht gekennzeichnete kurze protokollartige Mitteilung, aus der u.a. hervorgeht, dass J. A. Schmeller in der Sitzung am 9. November 1850 (gewiss zum Dillinger Doppelblatt!) und in der vom 15. März 1851 (wohl zu den beiden Münchner Blättern) über „Bruchstücke einer deutschen Uebersetzung der Psalmen“ berichtet habe; weiterhin erfolgt ein Hinweis darauf, dass die beiden Münchner Blätter etwas später gefunden worden seien und dass zum Dilinger (!) Fragment das „Nähere“ („nebst einem Facsimile desselben“) in dem gedruckten Beitrag J. A. Schmellers im Band 2 der Beyträge zur Geschichte des Bistums Augsburg, S. 135-142, zu finden sei. Dieser Bericht ist zum größten Teil von F. Pfeiffer wiederabgedruckt worden: s. J. A. Schmeller, Germania 2 (1857) S. 102]. – J. A. Schmeller, Verdeutschung der Psalmen vor Notker. Vortrag gehalten in der Sitzung der philologisch=philosophischen Klasse der k. Akademie der Wissenschaften zu München am 9. Nov. 1850, (Mit einem Facsimile.), Beiträge zur Geschichte des Bisthums Augsburg. Herausgegeben von Anton Steichele 2 (1852) S. 135-142 (bereits im Jahre 1851 erschienen!). (Auf S. 142 findet sich unmittelbar nach Abschluss des Beitrags von J. A. Schmeller noch folgender Text des Herausgebers: „So eben macht mir Hr. Bibliothekar Schmeller die Mittheilung, daß sich seitdem auf der K. Bibliothek zu München, ebenfalls zu einem älteren Einband verwendet, noch zwei andere Blätter derselben Psalmenübersetzung gefunden haben.“). [Zu dieser Publikation J. A. Schmellers findet sich häufiger die bibliographisch völlig falsche Angabe, er sei erschienen im: Archiv für die Pastoral=Conferenzen im Bisthume Augsburg (Herausgegeben von Mathias Merkle) 3 (1852) S. 135-142 (mit Abb. S. 134). Beide Zeitschriften sind zwar teilweise im Verbund miteinander erschienen, sie haben aber verschiedene Herausgeber, verschiedene Inhalte und eine je eigene Seitenzählung! Auch weist das von J. A. Schmeller beigegebene sogenannte Facsimile nicht die Seitenzahl 134 aus. Vielmehr erscheint das ungezählte Blatt mit der Nachbildung eines Ausschnitts aus dem Dillinger Doppelblatt (f. 2v, Z. 3-14: zu Ps. 114,3-5) in verschiedenen Exemplaren des gebundenen Bandes 2 (1852) der Zeitschrift ‘Beiträge zur Geschichte des Bisthums Augsburg’ an

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unterschiedlicher Stelle: so nach S. 136, aber z. B. auch nach S. 96 oder nach S. 134 oder nach S. 142.] – [J. A. Schmeller,] Ueberreste einer vor-notkerischen Verdeutschung der Psalmen, auf alten Pergament-Einbänden entdeckt im J. 1850 [München 1851] [Dieser separate Druck weist keinen Autornamen, keinen Erscheinungsort und kein Erscheinungsjahr aus! Er enthält auf insgesamt drei bedruckten Seiten die Edition des Dillinger Doppelblatts [Dilinger [!] Fragment. [Sieh A. Steichele’s Beitr. z. Gesch. des Bisth. Augsburg II. B. 135. ff.]] und der beiden Münchner Blätter [Münchner Fragment], jedoch nur den ahd. ‘Text’ mit Ergänzungen in Kursivdruck! Dieser Druck bildet offensichtlich die Grundlage für den Wiederabdruck durch F. Pfeiffer im Jahre 1857: s. J. A. Schmeller, Germania 2 (1857) S. 102-105]. Der separate Druck ist jetzt online über www.bsb-muenchen.de einsehbar. Bei diesem Exemplar findet sich vor Beginn des Druckes auf einer ansonsten leeren Seite in insgesamt 5 Zeilen der handschriftliche Eintrag: Herausgegeben / von / J. A. Schmeller / München / 1851.]. – J. A. Schmeller, Überreste einer Vor-Notkerischen Verdeutschung der Psalmen, Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Alterthumskunde. Hg. v. F. Pfeiffer, 2 (Stuttgart 1857) S. 98-105 [postum erschienen; S. 98f.: Vorbemerkungen von F. Pfeiffer; S. 102-105: Edition des Dillinger Doppelblatts und der beiden Münchner Blätter, jedoch nur des ahd. ‘Textes’ mit Ergänzungen in Kursivdruck!]; K. E. Schöndorf, Die Tradition der deutschen Psalmenübersetzung. Untersuchungen zur Verwandtschaft und Übersetzungstradition der Psalmenverdeutschung zwischen Notker und Luther, Mitteldeutsche Forschungen 46, Köln/Graz 1967, S. 16, 149, 273; A. Schröder, Mitteilungen aus Archiven und Bibliotheken. 4. Bruchstücke von lateinischen u. deutschen Handschriften im Besitz der K. Kreis- und Studienbibliothek Dillingen, Archiv für die Geschichte des Hochstifts Augsburg 5 (1916-1919) S. 620-629, insb. S. 623 (Nr. 3) (Die hier gemachten Aussagen zum Dillinger Doppelblatt sind teilweise fehlerhaft; vor allem ist auch durch Verwechselung der verschiedenen Zeitschriften ‘Germania’ die Angabe falsch, dass der von J. A. Schmeller postum im Jahre 1857 erschienene Beitrag bereits in Band 2 (1837) [also vor Entdeckung des Dillinger Doppelblatts!] in der von F. H. v. d. Hagen herausgegebenen ‘Germania’ erschienen sei!); E. Seebold, Chronolog. Wb. II, S. 33f. (T14); St. Sonderegger, in: 2VL I, Sp. 272-273; St. Sonderegger, Althochdeutsch auf der Reichenau. Neuere Forschungen zur ältesten Volkssprache im Inselkloster, in: Die Abtei Reichenau. Neue Beiträge zur Geschichte und Kultur des Inselklosters. Hg. v. H. Maurer, Bodensee-Bibliothek 20, Sigmaringen 1974, S. 69-82, insb. S. 78f.; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm. Nr. XXXVIII, S. 293-300, Edition: S. 293-298; C. T. Stewart, Grammatical Treatise on the Fragments of an Alemannic Translation of the Psalms, Beiträge zur Kunde der indogermanischen Sprachen 28 (1904) S. 161-191; L. Voetz, Die St. Pauler Lukasglossen. Untersuchungen – Edition – Faksimile. Studien zu den Anfängen althochdeutscher Textglossierung. Mit 4 farbigen Abbildungen, StA 7, Göttingen 1985; L. Voetz, Durchgehende Textglossierung oder Übersetzungstext: Die Interlinearversion, in: BStH I, S. 887-926, insb. S. 906 und passim; E. Wunderle, Die mittelalterlichen Handschriften der Studienbibliothek Dillingen, Wiesbaden 2006, S. 424-426: XV Fragm. 3. Altalemannische Psalmenübersetzung; E. Wunderle, Cgm 5248. Die sogenannten althochdeutschen Fragmente der Bayerischen Staatsbibliothek München, ZDA 139 (2010) S. 197-221, insb. S. 201f.: Cgm 5248/1. ‘Altalemannische Psalmenübersetzung’.

LOTHAR VOETZ

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‘Fragmente einer amfrk. und anfrk. Interlinearversion’

Psalter: ‘Fragmente einer altmittelfränkischen und altniederfränkischen Interlinearversion’ auch ‘Altniederländische Psalmen’, ‘Wachtendoncksche Psalmen’ 1. Überlieferung: Die Psalmenfragmente und Glossen basieren auf einer verlorenen Hs. (B), die eine interlineare Übersetzung der Psalmen und Cantica enthielt. Diese Hs., die Justus Lipsius um 1591 bei dem Lütticher Kanonikus Arnold van Wachtendonck (1535-1605) einsehen konnte, stammte aus der Abtei Munsterbilzen (westl. Maastricht) (M. Wijnen, 1999); dort befand sie sich schon vor der Mitte des 15. Jh.s (M. Wijnen, 2004; zum weiteren Schicksal der Hs. s. van Hal, 2006). Eine gleichfalls verschollene Hs. C, die sich 1894 im Besitz von F. W. E. Roth befand, enthielt 7 interlineare Glossen zu Ps. 55, die der Hs. B oder ihrer mfrk. Vorlage *A entnommen sein dürften (F. W. E. Roth; H. Götz). Alles sonst Erhaltene beruht direkt oder über Zwischenstufen auf einer – selbst wiederum verlorenen – Abschrift D von B, die von oder für Lipsius angefertigt wurde (zum Folgenden vgl. M. Gysseling, Corpus S. 43f.; Übersichtsgrafik: P. Slechten, S. 28f.): I. Textfragmente: (1) Ps. 1,1-3,5, die sog. ‘Mfrk. Psalmen’: Abschrift (um 1600) eines von Lipsius nach D verfertigten Auszugs (Leeuwarden, Provinciale en Bumabibliotheek Ms. B H 149). – (2) Ps. 18: hs.liche Druckvorlage des Abraham Mylius (T. van Hal, ABÄG 68 [2011] S. 53-63); danach gedr. in: Abrah(am) Vander Milii, Lingva Belgica [...], Leiden 1612, S. 152-155. – (3) Ps. 53,7-73,9: von zwei Schreibern wohl um 1600 für Lipsius angefertigte Kopie von D: Berlin, SBPK Ms. Diez C Quart. – II. verlorene Wortauszüge aus D von Lipsius (‘Lipsiussche Glossen’, darauf basierend: (4) Auszug gedr. in: Justi Lipsii Poliorceticon sive de machinis, tormentis telis libri quinque, Antwerpen 1596, S. 7. – (5) alphabetisches Glossar von anderer Hand mit Korrekturen und Anmerkungen von Lipsius (Leiden, UB, Lipsiana 53). – (6) Glossen, die Lipsius 1598 brieflich dem Antwerpener Juristen Henricus Schottius mitteilte; gedr. in: Justi Lipsii Epistolarum selectarum centuria prima ad Belgas, Antwerpen 1602, S. 41-62. – Abbildungen: von (1) und (6) komplett: A. Quak, Studien, S. 93, 95; 43-50; von (2) komplett: T. van Hal, ABÄG 68 (2011) S. 59-63; von (3) teilweise: R. L. Kyes, Old Low Franconian Psalms and Glosses; Einzelabbildungen zu (1) – (6): P. Slechten, S. 21-27. Den Kopisten der Zeit um 1600 unterliefen sehr viele Lese- und Schreibfehler, teils auch beeinflusst durch ihre eigene neuniederländische Sprache. Daher besteht eine Hauptaufgabe bei der Edition und Auswertung der Wachtendonckschen Psalmen darin, diese Fehler soweit wie möglich zu korrigieren und so den ursprünglichen Wortlaut zu rekonstruieren. 2. Ausgaben: M. Heyne, Kleinere altnd. Denkmäler, S. 1-59; W. L. van Helten, Die altostniederfränkischen Psalmenfragmente, die Lipsius’schen Glossen und die altsüdmittelfrän-

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kischen Psalmenfragmente. Mit Einleitung, Noten, Indices und Grammatiken, Groningen 1902 (Nachdr. 1969, 1971), I; H. K. J. Cowan, De Oudnederlandse (Oudnederfrankische) psalmenfragmenten (Lesetext), Leiden 1957; R. L. Kyes, Old Low Franconian Psalms and Glosses (dipl. Abdruck von II, III, IV), Ann Arbor 1969; M. Gysseling, Corpus van Middelnederlandse teksten (tot en met het jaar 1300). M. m. v. en van woordindices voorzien door Willy Pijnenburg, Reeks II: Literaire handschriften, deel 1, fragmenten, ’s-Gravenhage 1980, S. 43-111; A. Quak, Die altmittel- und altniederfränkischen Psalmen und Glossen, nach den Handschriften und Erstdrucken neu herausgegeben, Amsterdam 1981; L. de Grauwe, De Wachtendonckse psalmen en glossen, II, S. 405-503.

3. Lateinische Vorlage, Verwandtschaftsbezüge, Art der Übersetzung. Bei dem der Übersetzung zugrunde liegenden lateinischen Psalmentext handelt es sich nach A. Quak (Studien, S. 35) um eine Version des Psalterium Gallicanum, „die offenbar dem alkuinischen Konzept nahestand, aber Lesarten aus dem Psalterium Romanum und möglicherweise auch aus Augustins Psalmenkommentar enthielt.“ – Für die volkssprachige Übersetzung hat die Forschung Verwandtschaftsbezüge zu mnd. und mhd. Psalterübersetzungen wie den Süwestfälischen Psalmen, den Schleizer Psalmen und dem Wegelebener Psalter wahrscheinlich zu machen gesucht, ohne sie jedoch stemmatisch präzisieren zu können: E. Rooth (1924); E. Rooth (1941); E. Rooth (1974, S. 191-208); B. Hellenius, S. 28-62; zusammenfassend K. E. Schöndorf (S. 56-59). – Der Übersetzungstyp ist der einer Interlinearversion, die dem lat. Text zumeist Wort für Wort folgt; ungeachtet einiger Übersetzungsfehler stellen die W.P. dabei vergleichsweise eine jüngere, fortgeschrittene Stufe dieses Übersetzungsverfahrens dar; dazu und zum Folgenden A. Quak, in: Ars et Ingenium, S. 99-111; A. Quak, ABÄG 66 (2010) S. 68-71. Das Subjektpronomen wird häufig (in der 1. und 2. Pers. Sg. überwiegend) hinzufügt (J. de Smet) und seine Stellung gibt Aufschlüsse über die Stellung des finiten Verbs (Vf2 im Hauptsatz, s. J. M. van der Horst); der Artikel wird dagegen nicht ergänzt. Auffällig ist die konsequente Wiedergabe des lat. Futurs durch die Periphrase mit sulan + Infinitiv. Beim Passiv lassen sich ähnlich wie im Ahd. ein Zustands- (wesan + Part. Prät) und ein Vorgangspassiv (werthan + Part. Prät.) unterscheiden. Einzelne verbliebene Lücken in der Übersetzung lassen A. Quak erwägen, dass die Vorlage der Hs. B zunächst nur lückenhaft glossiert war, sukzessive aber von vielleicht verschiedenen Händen, zuletzt vom altniederländischen Bearbeiter, zu einer vollständigen Interlinearversion ergänzt wurde. Dies böte vielleicht auch eine Erklärung für die komplexe Sprachmischung (A. Quak, in: Ars et Ingenium, S. 109; ABÄG 66 [2010] S. 67f.). 4. Sprachstand und Lokalisierung: Neben der problematischen Überlieferung gibt der Sprachstand der Fragmente und Glossen die meisten Fragen auf. Die ersten drei Psalmen sind noch mfrk. geprägt, enthalten aber auch schon nfrk. Formen, die in den Wortauszügen zu den folgenden Psalmen stark zunehmen und spätestens im erhalte-

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nen Ps. 18 und mehr noch in den Psalmen 53 bis 73 mit nur vereinzelten Ausnahmen herrschen. Dieses Bild wird so gedeutet, dass ein nfrk. Bearbeiter sich anfangs noch stärker an seine (vornehmlich) mfrk. Vorlage hielt, sie bald aber weitgehend konsequent in sein eigenes Altniederländisch übertrug (W. Sanders [1968], S. 84f.; [1972], S. 170-173). Der Sprachstand der Vorlage *A wird seit W. L. van Helten als „südmfrk.“ (genauer: westmoselfrk.) angegeben, wofür die h-Pronomina himo ‘ihm’, hin ‘ihnen’ und der Lautverschiebungsstand maßgeblich sind (M. Gysseling, Corpus, S. 51f.; J. Smith; A. Quak, in: Gehugdic sis samnungun thinro, S. 277-291); doch gibt es auch südlichere, nicht mfrk. Merkmale wie einzelne verschobene t < germ. d, die M. Gysseling zu einer Lokalisierung von *A ins südwestlichste Moselfrk. (Saarbrücken-Saarlouis-Boulay[Bolchen]) führen; nach A. Quak handelt es sich um „eine verhältnismäßig südliche Mundart“. Möglicherweise ging *A noch eine (süd)rhfrk. oder obd. Vorstufe voraus. Eine weitere Komplikation bedeuten Formen mit Sprachmerkmalen, die weder mfrk. noch anl. sind und – da sie sich wiederum vornehmlich in den ersten 20 Psalmen finden – wohl gleichfalls aus *A stammen. Sie wurden bereits von P. J. Cosijn, S. 320f.) als as. („Saxonismen“) bezeichnet. Es handelt sich insbesondere um Nasalschwund vor germ. þ (z.B. farknjtha ‘abscheuliche’), erhaltenes j nach Konsonant (z.B. kunnea Dat. Sg. ‘Geschlecht’), erhaltenes h im Anlaut vor Sonant (hue ‘wer’, hlothu ‘Beute’) und endsilbisches -as/-a statt -es/-is, -e/-i (vgl. Th. Klein, S. 276-295; A. Quak, JVNSp 103 (1981) S. 7-21; A. Quak, in: De consolatione philosophiae, S. 709-715; A. Quak, in: Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach, S. 355-366). Einiges davon kann aber auch ae. sein: L. de Grauwe (TNTL 98 [1982] S. 88-96) plädiert für ae. Entlehnungen in B, so tohopa ‘Hoffnung’, hlothu, farkutha, wobei er sich teils auf lexikalische Parallelen in ae. Psalmenübersetzungen stützen kann. Es bleibt allerdings ein Problem, wie die as./ae. Elemente in die Entstehungsgeschichte der Wachtendonckschen Psalmen einzuordnen sind. – Die Hauptmasse des Überlieferten stellt sich demgegenüber als ein recht einheitliches östliches Altniederländisch dar, das weithin übereinstimmend im südnfrk.-niederrh. Raum lokalisiert wird, vgl. dazu bes. W. Sanders (1968), S. 90-100; M. Gysseling, Corpus, S. 54-58: Raum Krefeld. Falls die anl. Bearbeitung für das Kloster Munsterbilzen angefertigt worden sein sollte, wie mehrfach vermutet, so war der Bearbeiter mundartlich jedenfalls nicht in Limburg, in der Umgebung Munsterbilzens, sondern erheblich weiter östlich beheimatet, wie insbesondere seine h-losen Pronominalformen imo, iro, im ‘ihm, ihr(er), ihnen’ zeigen. – Laut- und Formenlehre: A. Borgeld; W. L. van Helten, Die altostniederfränkischen Psalmenfragmente, II; H. K. J. Cowan, LB 50 (1961) S. 1-54; R. L. Kyes, Old Low Franconian Phonology; G. Simone, Quaderni di Filologia Germanica ... Bologna 2 (1982) S. 293-303; A. Quak, in: Zur Phonologie und Morphologie, S. 81-123; A. Quak – J. M van der Horst, Inleiding Oudnederlands. Bislang nicht befriedigend beantwortet ist die Frage

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nach dem Stand der Nebensilbenreduktion im Altniederländischen der Psalmen. Während H. K. J. Cowan (TNTL 75 [1957] S. 161-180; LB 50 [1961] S. 9f.) aufgrund der schwankenden (aber durchaus nicht regellosen!) Bezeichnung der Nebensilbenvokale ihren durchgängigen Zusammenfall in Schwa, also einen bereits mnl. Stand annimmt, vermutet Th. Klein (S. 287f.) ein System von noch drei durch e ~ i, o ~ u und a bezeichneten Nebensilbenvokalen ähnlich wie im Ae. und An. Allerdings dürfte positionell, vor allem in Mittelsilbe und teils auch in gedeckter Endsilbe, schon Reduktion zu Schwa eingetreten sein. Die Frage bedürfte – auch wegen ihrer Relevanz für die zeitliche Einordnung – neuerlicher Prüfung. – Eine umfassende Untersuchung und vergleichende Einordnung des Wortschatzes bietet L. de Grauwe (De Wachtendonckse psalmen en glossen); die Wachtendoncksen Psalmen bilden auch eine Hauptquelle des Oudnederlands Woordenboek (online: http://gtb.inl.nl/). 5. Entstehungszeit: Da die Hss. B und C verschollen sind, lässt sich ihre Entstehungszeit nicht mehr paläographisch bestimmen; so bleibt man auf die vageren und zudem durch die schlechte kopiale Überlieferung beeinträchtigten sprachlichen Datierungskriterien angewiesen. Mit ihnen gelangt M. Gysseling (Corpus, S. 53f., 57) in dem bislang einzigen detailliert begründeten Datierungsversuch zu dem Ergebnis, dass die mfrk. Psalmenübersetzung *A in der Mitte oder im letzten Drittel des 9. Jh.s und die anl. Bearbeitung B in der zweiten Hälfte des 10. Jh.s entstanden sei. Die frühe Datierung von *A gründet M. Gysseling allerdings auf die sonst als as./ae. betrachteten Formen, wobei er für das Westmoselfrk./Lothringische des 9. Jh.s die ‘archaischen’ Endungen -as/-a im Gen./Dat. Sg. der a-Deklination postuliert (vgl. dagegen Johannes Franck, Altfränkische Grammatik, 2. A. von R. Schützeichel, Göttingen 1971, § 57). Tatsächlich wirkt der Sprachstand des noch vorlagennahen mfrk. Anfangsteils von B, der freilich sehr fehlerhaft überliefert ist (vgl. A. Quak, Studien, S. 89-108), jünger als etwa der des Trierer Capitulare (Mitte 10. Jh., s. H. Tiefenbach, Ein übersehener Textzeuge des Trierer Capitulare, RhVB 39 (1975) S. 302305), sodass wohl auch die mfrk. Vorlage *A ins 10. Jh. gerückt werden müsste. 6. Literatur: Bibliographie bis 1971: C. Minis, Bibliographie zu den Altmittel- und Altniederfränkischen Psalmen und Glossen, Beschreibende Bibliographien 2, Amsterdam1971. – Weitere Literatur: A. Borgeld, De Oudnederfrankische psalmen. Klank- en vormleer, Groningen 1899 ; P. J. Cosijn, De Oudnederfrankische psalmen, TNTL 15 (1896) S. 316-323; Th. Coun – M. Wijnen, De Wachtendonckse psalmen en het kapittel van Munsterbilzen, Limburg – Oude Land Loon 77 (1998) S. 213-219; H. K. J. Cowan, Opmerkingen over Oudnederfrankische structurele grammatica, TNTL 75 (1957) S. 161-180; H. K. J. Cowan, De localisering van het Oudnederfrankisch der psalmenfragmenten, LB 48 (1959) S. 1-47; H. K. J. Cowan, Esquisse d’une grammaire fonctionelle du vieux-néerlandais (vieux bas-francique) (d’après le psautier carolingien de Wachtendonck, LB 50 (1961) S. 1-54; H. K. J. Cowan, Nogmaals de localisering van het Oudnederfrankisch der psalmenfragmenten, LB 58 (1969)

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S. 114-132; H. K. J. Cowan, Oudnederfrankische varia, TNTL 87 (1971) S. 184-203; H. Götz, Aus der Werkstatt des Althochdeutschen Wörterbuches, 26. Zu Gll 4,685, 34-40, 44-50. (Versuch einer Glossenbestimmung), PBB 81 (Halle 1959) S. 188-214; L. de Grauwe, De Wachtendonckse psalmen en glossen. Een lexikologisch-woordgeografische studie met proeve van kritische leestekst en glossaria, I-II, Gent 1979/1982; L. de Grauwe, Anglosaxonismen in de Oudnederlandse psalmen, TNTL 98 (1982) S. 81-103; M. Gysseling, Corpus van Middelnederlandse teksten, II.1, S. 43-111; M. Gysseling, Zu einigen Grundlagen des Altniederländischen, NW 18 (1978) S. 48-63; T. van Hal, Een ‘geurtje’ rond de Wachtendonckse Psalmen? Een omstreden bijdrage van Justus Lipsius tot de Germaanse filologie, in: Iam illustravit omnia. Justus Lipsius als lievelingsauteur van het Plantijnse huis, onder redactie van Jeanine de Landtsheer en Pierre Delsaerdt. Speciaal nummer van: De gulden passer 84 (2006) S. 27-44; T. van Hal, Der 18. Wachtendoncksche Psalm: einen kleinen Schritt näher zur Quelle, ABÄG 68 (2011) S. 53-63; B. Hellenius, Ein Wegelebener Psalter vom Jahre 1345. Trierer Dombibl. Ms. 51, Lunder germanistische Forschungen 16, Lund/Kopenhagen 1944; W. L. van Helten, Die altostniederfränkischen Psalmenfragmente, II; J. M. van der Horst, De plaats van der persoonsvorm in de ‘Wachtendonckse Psalmen’, ABÄG 57 (2003) S. 269-280; Th. Klein, Studien, S. 276-295; R. L. Kyes, Old Low Franconian Phonology, Diss. Univ. of Michigan, Ann Arbor 1964; A. Quak, Studien zu den altmittel- und altniederfränkischen Psalmen und Glossen, Amsterdam 1973; A. Quak, Zum Umlaut des /Ɨ/ in den Wachtendonckschen Psalmen, ABÄG 19 (1983) S. 67-78; A. Quak, Hintergründe eines altniederländischen Textes, ABÄG 66 (2010) S. 63-74; A. Quak, Zur Sprache der sogenannten Wachtendonckschen Psalmen, JVNSp 103 (1981) S. 7-21; A. Quak, Zur Übersetzungstechnik in den Wachtendonckschen Psalmen, in: Ars et Ingenium. Studien zum Übersetzen. Festgabe für Frans Stoks zum sechzigsten Geburtstag, Amsterdam 1983, S. 99-111; A. Quak, Über hvor Liquiden und Nasalen im Altniederländischen, in: De consolatione Philologiae. FS Evelyn S. Firchow, 2000, S. 709-715; A. Quak, Über Reflexe von /j/ in unbetonter Silbe im Altniederländischen, in: Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach, S. 355-366; A. Quak, Altmittelfränkisches in den ‘Wachtendonckschen Psalmen’, in: Gehugdic sis samnungun thinro. Liber amicorum Willy Pijnenburg. A. Quak en T. Schoonheim (red), Groningen 2005, S. 277-291; A. Quak, Versuch einer Formenlehre des Altniederländischen auf der Basis der Wachtendonckschen Psalmen, in: Zur Phonologie und Morphologie des Altniederländischen, hg. v. R. H. Bremmer Jr. und A. Quak, NOWELE Supplement vol. 7, Odense 1992, S. 81-123; A. Quak – J. M. van der Horst, Inleiding Oudnederlands, Leuven 2002; E. Rooth, Studien zu den altniederfränkischen und altwestfälischen Psalterversionen, Uppsala universitets årsskrift 1924,5, Uppsala 1924; E. Rooth, Zu den Schleizer Psalmenbruchstücken, Bibel und deutsche Kultur 11 (1941) (Festschrift für Hans Vollmer), S. 182-186; E. Rooth, Zur Vorgeschichte der Südwestfälischen Psalmen, in: Germanistische Streifzüge. FS für Gustav Korlén. Hg. v. G. Melbourn, H. Müssener, H. Rossipal, B. Stolt, Stockholm 1974, S. 191-208; F. W. E. Roth, ZDPh 26 (1894) S. 70; W. Sanders, Zu den altniederfränkischen Psalmen, ZDA 97 (1968) S. 49-107, S. 81-107; W. Sanders, Oudnederlands. Drie hoofdstukjes uit de vroegste Nederlandse taal- en letterkunde, TNTL 88 (1972) S. 161-177; K. E. Schöndorf, Die Tradition der deutschen Psalmenübersetzung. Untersuchungen zur Verwandtschaft und Übersetzungstradition der Psalmenverdeutschung zwischen Notker und Luther, Mitteldeutsche Forschungen 46 Köln/Graz 1967, S. 56-59; G. Simone, Salmi di Wachten-

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donck (1.1-3.5): sistema grafetico e problemi di interpretazione del vocalismo, Quaderni di Filologia Germanica della Facoltà di Lettere e Filosofia dell’Università di Bologna 2 (1982) S. 293-303; P. Slechten, Belangrijke Oud- en Mittelnederlandse handschriften uit de streek van Bilzen, Bilzen 1999, S. 17-32; J. de Smet, Het subjectspronomen in de Oudnederfrankische psalmenfragmenten, Studia Germanica Gandensia 12 (1970) S. 145-158; J. Smith, Mittel- und Niederfränkisches in den Wachtendonckschen Psalmen (mit Anhang), NW 16 (1976) S. 63-74; M. Wijnen, Arnold Wachtendonck en de Wachtendonckse Psalmen, in: Symposium Bilzen en de oudste bronnen van het Nederlands. Lezingen gehouden te Bilzen op 11 december 1999, P. Slechten (red.), Bilzen 1999, S. 19-26; M. Wijnen, De Wachtendonckse Psalmen: een ooggetuigenverslag uit 1443/1444, in: Heemkundig tijdschrift Tesi Samanunga. Een uitgave van Heemkundige Kring Munsterbilzen 13 (2004) S. 352-353.

THOMAS KLEIN

Psalter: ‘Fragmente einer rheinfränkischen Interlinearversion der Cantica’ Reste einer Cantica-Interlinearversion (ehemals wohl eine vollständige Interlinearversion des Psalters – unter Einschluss der Cantica und wohl einiger katechetischer Stücke); spätes 10. Jh. / frühes 11. Jh.; rheinfränkisch. 1. Überlieferung, Inhalt und Einrichtung: Paris, BNF Ms. néerlandais 107: Zwei unvollständig erhaltene Einzelblätter. – Die beiden nur in ihrem größeren oberen Teil erhalten gebliebenen Einzelblätter haben in sekundärer Verwendung als Einbandmakulatur gedient. Entdeckt wurden sie von L. Delisle, der den Ersteditor G. Huet anlässlich seiner Einsichtnahme und Untersuchungen zum Fonds néerlandais in der Bibliothèque Nationale in Paris im März des Jahres 1885 auf die beiden Fragmente aufmerksam machte (G. Huet, BÉC 46 [1885] S. 496). Über den Trägerband ist nichts Genaueres bekannt. Die beiden Blätter überliefern insgesamt Teile von vier sogenannten Cantica – ‘Liedern’, die außerhalb des biblischen Buchs der Psalmen im Alten und Neuen Testament enthalten sind. Im Buchtyp des Psalters erscheinen diese Lieder in nicht immer gleicher Auswahl und Abfolge in unmittelbarem Anschluss an die 150 Psalmen, von denen jedoch im vorliegenden Fall nichts erhalten geblieben ist. Im Weiteren können auch noch einige sogenannte katechetische Stücke hinzutreten. Bei den vier hier nur resthaft erhaltenen Cantica handelt es sich – in der Begrifflichkeit nach E. v. Steinmeyer – um das ‘Canticum Ezechiae’ (Is 38,10-20), das ‘Canticum Annae’ (I Sm 2,1-10), das ‘Canticum Habacuc’ (Hab 3,1-19) und das ‘Canticum Mosis’ (Dt 32,1-43), das auch als ‘Canticum Deuteronomii’ bezeichnet wird. Von diesen vier Cantica ist keines vollständig erhalten geblieben. Die einzelnen Seiten überliefern die folgenden Verse: f. 1r: das Ende des ‘Canticum Ezechiae’ (Is 38,18-20) und den Anfang des ‘Canticum Annae’ (I Sm 2,1-2); f. 1v: weitere Verse des ‘Canticum Annae’ mitsamt dem Schluss (I Sm 2,5-10); f. 2r: das Ende

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des ‘Canticum Habacuc’ (Hab 3,17-19) und den Anfang des ‘Canticum Mosis’ (Dt 32,1-4); f. 2v: weitere Verse des ‘Canticum Mosis’ (Dt 32,8-13). Zwischen den beiden heute noch erhaltenen Fragmenten fehlen vom ursprünglichen Bestand her zwei Blätter, die im Vergleich mit anderen Psalterien mit größter Wahrscheinlichkeit das ‘Canticum Moysi’ (Ex 15,1-19) vollständig sowie den Anfang und den bei weitem größten Teil des ‘Canticum Habacuc’ (Hab 3,1-17) enthalten haben werden (vgl. dazu I. J. Steppat, PBB 27 [1902] S. 505). Diese Abfolge der Lieder entspräche damit auch von den – unter Einschluss des ‘Canticum Moysi’ – insgesamt fünf hier angeführten Cantica der Auswahl und der Abfolge im Psalter Ú Notkers. Aus diesen und anderen Erwägungen ist auch zu folgern, dass die Reihe der Cantica hier – ebenso wie bei Notker – wohl mit dem ‘Canticum Isaiae’ (Is 12,1-6) eröffnet worden ist. Ob dem nunmehr fehlenden Schluss des ‘Canticum Mosis’ bzw. ‘Canticum Deuteronomii’ (Dt 32,13-43) noch andere Cantica oder sogenannte katechetische Stücke gefolgt sind, bleibt ungewiss. Im weiteren Vergleich mit dem Psalter Notkers ist es aber durchaus nicht unwahrscheinlich, dass der Psalter, dem die beiden erhaltenen Blätter einmal angehört haben, unter anderem noch die beiden katechetischen Stücke des ‘Vaterunsers’ (Notker: ‘Oratio Dominica’) und des ‘Apostolischen Glaubensbekenntnisses’ (Notker: ‘Symbolum apostolorum’) sowie die beiden neutestamentlichen Cantica des ‘Hymnus Zachariae’ (Benedictus: Lc 1,68-79) und des ‘Canticum sanctae Mariae’ (Magnificat: Lc 1,46-55) aufgewiesen haben. Dagegen wird das im Psalter Notkers den Schluss bildende ‘Athanasianische Glaubensbekenntnis’ (Notker: ‘Fides sancti Athanasii episcopi’), das sonst im Rahmen der Cantica und der katechetischen Stücke eher selten erscheint, wohl nicht Bestandteil des heute nur noch äußerst fragmentarisch erhaltenen Psalters gewesen sein. Die Hs. ist planmäßig als Interlinearversion in der Weise angelegt worden, dass jede Seite wohl 17 oder 18 vorgeritzte Linien zur Aufnahme des lat. Textes aufgewiesen haben dürfte, von denen sich infolge der späteren Makulierung jedoch nur die oberen jeweils 11-12 erhalten haben (zur Einrichtung im Ganzen s. insb. I. J. Steppat, PBB 27 [1902] S. 504f.; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 304 und E. Hellgardt, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 268; man vgl. dazu auch die von E. Hellgardt beigegebenen Abbildungen, S. 293f.). Dabei wurde zwischen den Linien genügend Raum für die ahd. Wörter gelassen. Der lat. Text wie die ahd. Eintragungen stammen von derselben Hand. Je zwei vertikale Linien am linken und rechten Rand des Schriftspiegels waren im Rahmen von Formen der Auszeichnung zur Aufnahme von Majuskeln und Initialen vorgesehen. Zumindest bei den erhaltenen Blättern ist dies aber nur sehr begrenzt und wohl erst von späterer Hand durchgeführt worden. Bei der Eintragung der ahd. Wörter ist das Bestreben erkennbar, sie den jeweiligen lat. Bezugswörtern eindeutig zuzuordnen. In Fällen der Wiedergabe einer lat. Wortform durch mehr als ein ahd. Wort, wie etwa lat. gaudebo (f. 2r, Z. 2 des lat. Textes zu Hab

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3,18 = St. [= E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm.] 302,14) – ahd. ich sal mendon, wird durch enge Zusammenrückung, wenn nicht sogar fast schon Zusammenschreibung der Wörter besonderer Wert darauf gelegt, sie dem lat. Wort ‘passend’ überzuschreiben. Auffallend ist auch das Faktum, dass in einer ganzen Reihe von Fällen der für die ahd. Wörter vorgesehene Raum nicht etwa linear gefüllt wird, sondern die Eintragungen ‘blockhaft’ so vorgenommen werden, dass sie sich von links unten nach rechts oben schräg aufsteigend an den End- und Anfangspunkten der jeweiligen ‘Einheit’ sogar überschichten, wie z. B. im Falle der 11. Zeile des lat. Textes von f. 1r, wo sich bezüglich der ahd. Wörter in drei ‘Blöcken’ die aufsteigende imäginäre Linie sehr deutlich erkennen lässt (ahd. nist heileger; also ist drohtin und noh geuuisse zu I Sm 2,2 = St. 301,18f.). Im Gegensatz zu den im lat. Text, im Rahmen eines üblichen Repertoires, häufig auftretenden Abbreviaturen erscheint in den ahd. Anteilen der Interlinearversion nur eine einzige Kürzung: unÿ (mit durchstrichenem d) für ahd. unde. Diese Kürzung wird allerdings konsequent insgesamt 27-mal (Th. von Grienberger, PBB 48 [1924] S. 37) angewendet. (Die zahlreichen Fälle von Kürzungen im lat. Text sind in der Edition von I. J. Steppat – im Gegensatz zu der von G. Huet – zuverlässig durch Kursivdruck kenntlich gemacht. Die Kürzung von ahd. unde ist in beiden Editionen bewusst unaufgelöst geblieben.) Die jeweils nur einmal vorkommenden biblischen Namen adam, israel und iacob (St. 303,3; 303,5 und 303,6 zu Dt 32,8f.) sind nach lat. Muster gekürzt, wobei insbesondere die Wiedergabe des ungekürzten lat. iacob gegenüber gekürztem ahd. iaJ (mit durchstrichem b) für iacob zeigt, dass es sich um einen geübten Schreiber handeln muss, der mit dem lat. Abbreviatursystem gut vertraut war. – Ob die lat.-ahd. Interlinearversion nicht nur die Cantica und die eventuell vorhandenen katechetischen Stücke umfasst hat, sondern den ganzen Psalter – und somit auch die 150 Psalmen – betraf, lässt sich nicht sicher behaupten. Grundsätzlich scheint es aber als sehr wahrscheinlich, dass auch die Psalmtexte planmäßig als Interlinearversion angelegt waren. In dieser Hinsicht wäre innerhalb des Althochdeutschen die rhfrk. Interlinearversion mit der zeitlich früheren altalem. Interlinearversion ( Psalter: ‘Fragmente einer altalemannischen Interlinearversion’), von der sich ihrerseits nur einige Fragmente zu den Psalmtexten erhalten haben, nicht aber die Cantica, durchaus vergleichbar. 2. Ausgaben – Übersetzungen – Abildungen: Die Interlinearversion der rhfrk. Cantica lässt sich, einmal ganz abgesehen von den Schwierigkeiten der Lesung bestimmter Eintragungen, drucktechnisch kaum adäquat wiedergeben. Von der Qualität der Wiedergabe des lat. Psalmtextes sowie der ahd. Eintragungen her ist im Ganzen der Ausgabe von E. v. Steinmeyer (Sprachdenkm., Nr. XXXIX, S. 301-303) der Vorzug zu geben, zumal er sich insbesondere auch auf die vorgängige Edition von I. J. Steppat stützen konnte. Einen Eindruck von der tatsächlichen Beschaffenheit ver-

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mittelt die Edition von E. v. Steinmeyer durch seine grundsätzliche Entscheidung, die von ihm herausgegebenen ahd. Interlinearversionen in der Form einer Bilingue zu präsentieren, aber in keiner Weise. In dieser Hinsicht kommt die Ausgabe von I. J. Steppat (PBB 27 [1902] S. 507-512) durch ihre interlineare zeilenweise Wiedergabe der Quelle sicherlich noch am nächsten. Eine ebenfalls interlineare Wiedergabe bietet auch bereits die jedoch mit einer Reihe kleinerer Fehllesungen behaftete Erstedition von G. Huet (BÉC 46 [1885] S. 499-502), die als einzige Ausgabe auf Autopsie beruht, während sich I. J. Steppat (PBB 27 [1902] S. 506) auf einen ‘photographischen Abdruck’ stützt, den er späterhin auch E. v. Steinmeyer (Sprachdenkm., S. 304) zur Verfügung gestellt hat. Ohne jeden eigenständigen Wert ist die Wiedergabe bei J. H. Gallée (TNTL 5 [1885] S. 275-277), die auf der Grundlage des Drucks von G. Huet lediglich die ahd. Anteile der Interlinearversion, mit neuzeitlicher Interpunktion und anderen Eingriffen, versweise als fortlaufenden Text bietet. Zwar hatte G. Huet J. H. Gallée ein ‘Facsimile’ zukommen lassen, das diesem aber lediglich dazu diente, sich mit eigenen Augen vom Alter der Schrift des Denkmals zu überzeugen (J. H. Gallée, TNTL 5 [1885] S. 274 und S. 277). Zu einer angemessenen Beurteilung der nur scheinbar einfachen handschriftlichen Gegebenheiten ist es unerlässlich, sich – über die angeführten Editionen hinaus – stets auch einen eigenen Eindruck von der Beschaffenheit der Fragmente zu machen. Dazu bietet sich seit der Veröffentlichung des Beitrags von E. Hellgardt aus dem Jahre 2001 eine entsprechende Möglichkeit, da dort alle Seiten der beiden Blätter erstmalig photographisch wiedergegeben sind (s. dazu weiter unten Abbildungen). – Die bilinguale Wiedergabe aller Texte im Ahd. Lb. (Nr. XVII.5, S. 42f.) basiert auf den Editionen von I. J. Steppat und E. v. Steinmeyer. Wiedergaben mit einer Übertragung ins Neuhochdeutsche bieten: H. D. Schlosser, Ahd. Lit., 2. A. 2004, Nr. 25.4, S. 142-147 (alle Texte; Wiedergabe bilingual) [s. auch die entsprechenden vorgängigen Auflagen und Ausgaben von H. D. Schlosser aus den Jahren 1998, 1989 und 1970] und St. Müller, Ahd. Lit., S. 124-127 (‘Canticum Annae’; interlineare zeilenweise Wiedergabe). – Abbildungen (schwarz-weiß) aller 4 Seiten: E. Hellgardt, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 292f. 3. Datierung, Lokalisierung und Sprache: In der breiter gefächerten Sekundärliteratur finden sich zum zeitlichen Ansatz der Interlinearversion der Cantica die unterschiedlichsten Angaben, so beispielsweise ‘um 900’, ‘10. Jh.’, ‘um 1000’, ‘11. Jh.’ sowie verschiedene Zwischenstufen, wobei meist unklar bleibt, wie es zu solchen Angaben kommt und was dabei datiert wird. Für die erhaltenen Fragmente erscheint vom paläographischen Befund her – wobei jedoch bis heute keinerlei genauere Untersuchung vorliegt – wohl ein zeitlicher Ansatz ‘spätes 10. Jh. / frühes 11. Jh.’ am ehesten als angemessen (E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 304: X./XI.

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Jh., ebenda aber auch: „ihre jetzige Gestalt ... reicht schwerlich über das Jahr 1000 hinauf“; E. Hellgardt, in: Deutsche Handschriften, S. 55, Nr. 23: Ende 10./Anfang 11. Jh.; E. Hellgardt, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 268: Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert). Davon zu trennen ist der Versuch einer Datierung einer anzunehmenden älteren Vorlage, von der E. v. Steinmeyer (Sprachdenkm., S. 304) aussagt, „dass sie kaum später als um 900 entstanden“ sei. E. v. Steinmeyer führt als einzigen Beleg für diese Annahme jedoch nur die Endung -emis in der Wortform singemis (St. 301,9 zu Is 38,20) an. Eine weitere Form der 1. Pers. Pl. Ind. Präs. ist vom Sprachmaterial her ansonsten nicht bezeugt (s. I. J. Steppat, PBB 27 [1902] S. 533). Ähnlich wie zur paläographischen Datierung gibt es auch beim Versuch einer genaueren sprachlichen Bestimmung in der bisherigen Forschung eine breite Palette von Meinungen. Einmal ganz abgesehen davon, dass G. Huet (BÉC 46 [1885] S. 497; s. dazu J. H. Gallée, TNTL 5 [1885] S. 274; R. Kögel, Gesch. d. dt. Litt. I. 2, S. 532; A. Quak, Studien, S. 125, 130) die von ihm erstmals veröffentlichten Fragmente als einen Teil der altmittelfränkischen und altniederländischen Psalter-Interlinearversion betrachtet hat (Ú Psalter: ‘Fragmente einer altmittelfränkischen und altniederfränkischen Interlinearversion’), umfasst die bisherige sprachgeographische Einordnung im Ganzen einen Bereich, der vom Süden des Rheinfränkischen bis zum mittelfränkischniederrheinischen Raum reicht, wobei im Einzelfall sogar sehr verschiedene kleinteilige Gebiete benannt werden. – So spricht beispielsweise R. Kögel (Gesch. d. dt. Litt. I. 2, S. 533), der einen Zusammenhang mit der altmittelfränkischen und altniederländischen Psalter-Interlinearversion entschieden ausschließt, davon, dass die Schreibsprache des Denkmals im Allgemeinen rhfrk. oder hessisch (Lahngegend) sei und die mfrk.-nrh. Spuren auf den ‘Abschreiber’ zurückzuführen seien. – J. H. Gallée (TNTL 5 [1885] S. 278) meint dagegen zunächst sehr allgemein, dass die Schreibsprache der Fragmente einem der fränkischen Sprachräume der Zeit des 9. oder 10. Jh.s zuzuordnen sei. Er schließt dann jedoch das Nfrk. mit Bestimmtheit aus und denkt am ehesten an einen Raum südlich der Mosel bzw. an das Gebiet des Mittelrheins zwischen Koblenz und Bingen (J. H. Gallée, TNTL 5 [1885] S. 288f.; s. auch J. H. Gallée, PBB 28 [1903] S. 269). – In der bisher einzigen umfangreicheren sprachlichen Untersuchung aus dem Jahre 1902, in der das gesamte Material vollständig ausgebreitet wird, führt I. J. Steppat unter anderem aus, dass die Interlinearversion der Cantica vom möglichen Vergleichsmaterial her eine vollkommen isolierte Stellung einnimmt (PBB 27 [1902] S. 512-541; zusammenfassend s. insb. S. 533537, S. 539-541) und eine genaue Lokalisierung nicht möglich sei (S. 536). Er stellt aber verschiedentlich fest, dass im Ganzen von einer Lokalisierung im Rhfrk., speziell im Süden des Rhfrk. in unmittelbarer Nachbarschaft zum Oberdeutschen, auszugehen sei (so z. B. I. J. Steppat, PBB 27 [1902] S. 533 und 537). Das Mfrk. schließt er allein schon wegen des allerdings nur ein einziges Mal vorkommenden

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daz aus (S. 533), wobei er aber im Einzelfall mfrk. Spuren nicht leugnet (so z. B. S. 534f.). Zeitlich setzt er die Entstehung des Denkmals in die zweite Hälfte des 10. Jh.s (S. 541). – E. v. Steinmeyer (S. 304) geht für die von ihm postulierte Vorlage, die „kaum später als um 900 entstanden“ sei, davon aus, dass sie dem „Stande der Dentalen zufolge“ rhfrk. war, dass die in den erhaltenen Fragmenten zu beobachtende Schreibsprache aber „in eine mehr nördliche Gegend“ weise. – Aus dieser Bemerkung E. v. Steinmeyers zieht im Übrigen A. Quak (Studien, S. 120 und Anm. 13) den falschen Schluss, dass die Sprache der „rheinfränkischen Cantica“ mfrk. sei und außerdem „auch in eine mehr nördliche Gegend zu weisen“ scheine. – Es wäre somit wohl an der Zeit, den zeitlich wie räumlich durchaus uneinheitlichen Sprachstand der Interlinearversion der Cantica einmal erneut zu untersuchen und zu bewerten und dabei auch zu klären, was auf einer möglichen Vorlage beruht und was auf die Bearbeitung einer späteren Zeit und eines vielleicht anderen Raums zurückzuführen ist. Das Nebeneinander von abgeschwächten und nicht abgeschwächten Formen sowie von verschobenem geminierten vorahd. -pp- in drophon (St. 302,26) und aphilon (St. 303,11) einerseits, um hier nur einige Beispiele zu nennen, und dem von E. v. Steinmeyer angesprochenen Stand der Dentale andererseits, z. B. dot (St. 301,2), gode (St. 301,15) oder lerida (St. 303,10) lässt sich jedenfalls nicht ohne Weiteres zeitlich und räumlich in Einklang bringen. 4. Einordnung: Die Interlinearversion der rhfrk. Cantica steht in keinerlei innerem oder äußerem Traditionszusammenhang mit der im zweiten Drittel des 9. Jh.s aufgezeichneten altalem. Interlinearversion des Psalters (Ú Psalter: ‘Fragmente einer altalemannischen Interlinearversion’) oder den weiteren frühalem. Interlinearversionen der Zeit gegen Ende des 8. und der ersten Jahrzehnte des 9. Jh.s (Ú ‘St. Galler Interlinearversion zu Joh. 19,38’, Ú ‘St. Pauler Interlinearversion zu Lc 1,64-2,51’, Ú ‘Benediktinerregel’, Ú ‘Murbacher Hymnen’). Aber auch im Vergleich mit den as. und anl. Interlinearversionen des Psalters scheint die Interlinearversion der rhfrk. Cantica isoliert dazustehen. K. E. Schöndorf führt sie in seiner Monographie ‘Die Tradition der deutschen Psalmenübersetzung’ (S. 149) aus dem Jahre 1967 in der Gruppe ‘Nichteingeordnete Handschriften und Drucke’ an. Hingegen vertritt A. Quak (Studien, S. 125, 131-141) in einem auf Übereinstimmungen im Wortschatz (S. 141) beruhenden Vergleich der rhfrk. Interlinearversion mit der altmfrk. und altnl. Psalter-Interlinearversion (Ú Psalter: ‘Fragmente einer altmittelfränkischen und altniederfränkischen Interlinearversion’) die Auffassung, dass es nicht ausgeschlossen sei, dass beide (und auch die as. Interlinearversion des Ú ‘Lublin/Wittenberger Psalters’) auf eine identische oder doch eng verwandte Vorlage zurückgehen, die auf einer bestimmten Tradition im mfrk. Raum beruhe (A. Quak, Studien, S. 141). Dagegen sieht K. Kirchert (Der Windberger Psalter, I, S. 20) die durch Wortschatz-

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vergleich gewonnenen Ergebnisse A. Quaks als methodisch problematisch an und hält die Behauptung von verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen diesen (und anderen) Texten für nicht bewiesen. Die rhfrk. Interlinearversion der Cantica hält sich in der Übertragung des lat. Textes ins Ahd. im Ganzen streng an die im Ausgangstext vorgegebene Wortfolge und ist dabei zudem durchgängig bemüht, die Zuordnung des jeweiligen ahd. Wortes zum lat. Bezugswort auch optisch deutlich herzustellen. Grundsätzlich wird jedes lat. Wort durch ein ahd. Wort wiedergegeben. Das betrifft auch immer wiederkehrende Kleinwörter und ebenso die im vorliegenden Text allerdings nur spärlich anzutreffenden Namen. Selbst das unmittelbar aufeinanderfolgende lat. Uiuens uiuens wird in beiden Fällen mit ahd. lebendiger lebendiger (St. 301,4f. zu Is 38,19) wiedergegeben. Nur selten finden sich Ausnahmen von dieser Regel. So ist beispielsweise mehrfach ein Personalpronomen hinzugefügt (z. B. ahd. anaruophen ih zu lat. inuacabo [St. 302,28 zu Dt 32,3]), zweimal wird das lat. Futur durch sulan + Infinitiv wiedergegeben (z. B. ahd. ih sol urouuen zu lat. exultabo [St. 302,15 zu Hab 3,18]) und nur einmal erscheint der bestimmte Artikel (ahd. in demo huse drohtinis zu lat. in domo domini [St. 301,10f. zu Is 38,20]). Nachdem bereits R. Kögel (Gesch. d. dt. Litt. I. 2, S. 533) die Qualität der Übersetzung der rhfrk. Interlinearversion der Cantica in der Weise beurteilt hat, dass sie einen noch tieferen Rang einnehme als die der altmfrk. und altnl. Psalter-Interlinearversion, stand das endgültige ‘Urteil’ spätestens mit der folgenden Aussage I. J. Steppats (PBB 27 [1902] S. 538) aus dem Jahre 1902 fest: „Letztere [= die Interlinearversion der Cantica] hält sich sclavisch an den lat. text, oft mit geringem verständnis desselben, und die gröbsten grammatikalischen schnitzer laufen dabei unter.“ Dieses nie genauer überprüfte und in Relation gesetzte Urteil der angeblich sklavischen Abhängigkeit vom lat. Text und der geringen Qualität der rhfrk. Cantica setzt sich in der ‘Forschungsliteratur’ perpetuierend bis heute ungebrochen fort. Lediglich die Aussage E. v. Steinmeyers (Sprachdenkm., S. 304) hebt sich im vergleichsweise milden Ton davon ab: „Sonderlich gelungen ist sie nicht: ungeschickt zum mindesten ist: ...“. Es gilt hier allerdings insgesamt zu bedenken, dass die Basis für solche vernichtenden Urteile auf falschen Grundlagen beruhen. Keine der frühen deutschen Interlinearversionen ist von – meist nicht wenigen – Übersetzungsfehlern frei. Vor allem macht es grundsätzlich geradezu das Wesen der Interlinearversionen aus, dass sie sich bei der Wort-für-Wort-Übertragung in die Volkssprache grundsätzlich an die vorgegebene Wortfolge des lat. Textes halten und gerade keine Übersetzung intendieren, sondern primär der lexikalisch-grammatischen Erschließung des lat. Textes mittels der Volkssprache dienen. Es ist daher völlig unangebracht, die Qualität der ersten deutschsprachigen Interlinearversionen an späterhin gegebenen Ansprüchen zu messen, vor allem aber, wie das direkt (so auch bei I. J. Steppat, PBB

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27 [1902] S. 538) oder indirekt so gut wie stets geschieht, dass man sie unmittelbar mit den Übersetzungsleistungen Ú Notkers vergleicht, dessen Werke ja gerade nicht als Interlinearversionen angelegt und zu verstehen sind (s. dazu insb. K. Kirchert, ZDA 113 [1984] S. 61-78, insb. S. 61-63, 67-72; Ch. März, in: Übersetzen im Mittelalter, S. 73-86). – Unter den bis heute erhalten gebliebenen frühen deutschen Interlinearversionen stellen jedenfalls, unabhängig von der Frage der Datierung und Lokalisierung einer Vorlage, die beiden nur noch unvollständig überlieferten Blätter das älteste greifbare Zeugnis einer Interlinearversion der Cantica dar. 5. Literatur: W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. XVII.5, S. 42-43; J. Franck, Altfränkische Grammatik. Laut- und Formenlehre, 2. A. von R. Schützeichel, Göttingen 1971 (Nachdruck der 1. A. von 1909), S. 5 [§ 3]; J. H. Gallée, Parijsche fragmenten eener Psalmvertaling, TNTL 5 (1885) S. 274-289 (S. 275-277: Wiedergabe des ahd. ‘Textes’); J. H. Gallée, Zur althochd. Interlinearversion der Cantica; suueiga (Beitr. 27, 504.), PBB 28 (1903) S. 265-270; Th. von Grienberger, Althochdeutsche Texterklärungen IV. 20. Der Rheinfränkische psalter [!], PBB 48 (1924) S. 36-42 (Erläuterungen verschiedenster Art nach Vorkommen im Text); E. Hellgardt, in: Deutsche Handschriften 1100-1400, S. 35-81; hier: S. 55, Nr. 23; E. Hellgardt, Einige altenglische, althoch- und altniederdeutsche Interlinearversionen des Psalters im Vergleich. Mit zehn Abbildungen, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 261-296, insb. S. 268, 283 und Abb. 9 und 10, S. 292f.; G. Huet, Fragments inédits de la traduction des cantiques du Psautier en vieux-néerlandais, BÉC 46 (1885) S. 496-502 (S. 499-502: Edition); K. Kirchert, Der Windberger Psalter, I. Untersuchung, MTU 59, Zürich/München 1979; K. Kirchert, Grundsätzliches zur Bibelverdeutschung im Mittelalter, ZDA 113 (1984) S. 61-78; R. Kögel, Gesch. d. dt. Litt. I. 2, S. 532-533; Ch. März, Von der Interlinea zur Linea. Überlegungen zur Teleologie althochdeutschen Übersetzens, in: Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Kolloquium 1994. Hg. v. J. Heinzle – L. P. Johnson – G. Vollmann-Profe, Wolfram-Studien 14, Berlin 1996, S. 73-86; St. Müller, Ahd. Lit., S. 124127, 335-336; A. Quak, Studien zu den altmittel- und altniederfränkischen Psalmen und Glossen, Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 12, Amsterdam 1973, insb. S. 119-125, 130-141; H. D. Schlosser, Ahd. Lit., Nr. 25.4, S. 142-147 und S. 207; K. E. Schöndorf, in: 2VL VIII, Sp. 31-32; K. E. Schöndorf, Die Tradition der deutschen Psalmenübersetzung. Untersuchungen zur Verwandtschaft und Übersetzungstradition der Psalmenverdeutschung zwischen Notker und Luther, Mitteldeutsche Forschungen 46, Köln/Graz 1967, S. 16 und 149; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm. Nr. XXXIX, S. 301-304; I. J. Steppat, Bruchstücke einer althochdeutschen interlinearversion [!] der Cantica, PBB 27 (1902) S. 504-541 (S. 507512: Edition mit Anmerkungen; S. 512-541: sprachliche Untersuchungen); L. Voetz, Durchgehende Textglossierung oder Übersetzungstext: Die Interlinearversion, in: BStH I, S. 887926, insb. S. 906f. und passim.

LOTHAR VOETZ

Psalter: ‘Gernroder Psalter’

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Psalter: ‘Gernroder Fragmente eines altsächsischen Psalter-Kommentars’ 1. Überlieferung: Dessau, Ehemaliges Herzogliches Residenzschloss. Herzogliche Gipskammer (verschollen). 2. Ausgaben: M. Heyne, Kleinere and. Denkmäler, Nr. III, S. 60-63; MSD Nr. LXXI, I, S. 233-236, II, S. 372-375; E. Wadstein, Kleinere as. sprachdenkm., Nr. II, S. 4-15 (A. Text nach der Hs.; B. Text mit Ergänzungen), S. 121-123. – Facsimile: J. H. Gallée, As. sprachdenkm., Facs. Slg., Nr. IXa-c (f. 1r, 2v); vgl. PadRep.

Die beiden jeweils in zwei Teile zertrennten, ursprünglich zusammenhängenden Blätter, wohl das innere Doppelblatt einer Lage, sind um 1856 als Umschläge von Rechnungen des Stifts Gernrode aufgefunden worden. Die stark abgeriebenen und vermoderten Fragmente konnten durch die Editoren nur teilweise entziffert werden und sind heute nicht mehr auffindbar. Der Text bietet einen versweise ausgeführten Kommentar in as. Sprache zu Psalm 4,8-9; 5,1-3 (f. 1) und 5,7-10 (f. 2) mit knappen lat. Incipits zu den jeweiligen Psalmversen. Der volkssprachige Text basiert auf gängigen Kirchenväterkommentaren, doch ist eine direkte lat. Vorlage bisher nicht ermittelt worden. Scheinbare Höreransprachen haben Vorbilder in entsprechenden lat. Kommentarwendungen, sodass sie nicht für eine Qualifizierung des Textes als ‘Predigt’ in Anspruch genommen werden können (anders J. H. Gallée, S. 221). Die Datierung der Schrift, die etwa in das späte 10. Jh. führt (B. Bischoff, S. 107), hat das Stift Gernrode, eine Gründung des Markgrafen Gero, die Otto I. 961 bestätigte, als möglichen Ursprungsort der Hs. ins Spiel gebracht. Inzwischen ist die Schrift jedoch dem Essener Skriptorium zugewiesen worden, aus dem händeidentische lat. Vergleichsstücke erhalten sind (H. Hoffmann, S. 124; K. Bodarwé, S. 128, 370). Das Interesse der Essener Stiftsdamen an Bibelkommentaren bezeugen noch zahlreiche erhaltene lat. Handschriften (K. Bodarwé, S. 260f.). Doch ist eine rein volkssprachige Kommentierung, überdies in einer Qualität, die in die Vorläuferschaft Notkers gestellt worden ist (H. de Boor, S. 44; H. Tiefenbach, S. 116f.), sonst nicht erhalten. Nach Gernrode könnte die Hs. über die erste Äbtissin Hathuui († 1014), die verwitwete Schwiegertochter Geros, gekommen sein, die als Nichte der Königin Mathilde in das Netzwerk der königlichen Frauenstifte der Ottonenzeit eingebunden war. Sprachlich ist der Text, für den früher auch ostfälische Herkunft erwogen worden ist, als ein deutlich südwestfälisches Denkmal zu erweisen (die Einzelheiten bei Th. Klein, S. 543-549), dessen Zugehörigkeit zu den Essener as. Sprachzeugnissen gesichert zu sein scheint. 3. Literatur: B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134 (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 73-111); K. Bodarwé, Sanctimoniales litteratae; H. de Boor, Die dt. Lit.; J. H. Gallée, As.

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Psalter: ‘Lublin/Wittenberger Psalter’

sprachdenkm., S. 217-232 (mit einer problematischen Nachbildung des Textes); H. Hoffmann, Das Skriptorium von Essen in ottonischer und frühsalischer Zeit in: Kunst im Zeitalter der Kaiserin Theophanu, S. 113-153; Th. Klein, Studien; W. Sanders, in: 2VL II, Sp. 1262; H. Tiefenbach, in: Essen u. d. sächs. Frauenstifte im Mittelalter, S. 113-128; Ch. Warnke, Das Kanonissenstift St. Cyriakus zu Gernrode im Spannungsfeld zwischen Hochadel, Kaiser, Bischof und Papst von der Gründung 961 bis zum Ende des Investiturstreits 1122, in: Studien zum Kanonissenstift, hg. v. I. Crusius, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 167. Studien zur Germania Sacra 24, Göttingen 2001, S. 201-274.

HEINRICH TIEFENBACH

Psalter: ‘Lublin/Wittenberger Fragmente einer altsächsischen Interlinearversion’ 1. Überlieferung: Warschau, Biblioteka Narodowa, Zaklad RĊkopisów, akc 6748; Lutherstadt Wittenberg, Bibliothek des Evangelischen Predigerseminars, 2º H. Th. 677 (Vorsatzblatt). 2. Ausgaben: Lubliner Fragmente: L. Zalewski, Psalterii versionis interlinearis vetusta fragmenta Germanica, Prace Komisji JĊzykowej Polskiej Akademji UmiejĊtnoĞci 11, Krakau 1923; A. Kleczkowski, Nowoodkryte fragmenty starosaskiego przekładu psalmów z epoki Karolingów. CĊĞü I. Neuentdeckte altsächsische Psalmenfragmente aus der Karolingerzeit. Teil I, Prace Komisji JĊzykowej Polskiej Akademji UmiejĊtnoĞci 12, Krakau 1923. – Wittenberger Fragment: U. Winter, „Ginagi drohtin ore thin…“ – Neues zu den altsächsischen Psalmen-Fragmenten, in: Fata Libellorum. FS für Franzjosef Pensel zum 70. Geburtstag, hg. v. R. Bentzinger und U.-D. Oppitz, GAG 648, Göppingen 1999, S. 337-346. Gesamtausgabe: H. Tiefenbach, Die altsächsische Psalmenübersetzung im Lublin/Wittenberger Psalter, in: Volksspr.-lat. Mischtexte, S. 385-465. – Faksimile: L. Zalewski; U. Winter; E. Hellgardt, Einige altenglische, althoch- und altniederdeutsche Interlinearversionen des Psalters im Vergleich, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 261-296, hier S. 284-291; vgl. PadRep.

3. Textbestand: Eine wohl ursprünglich vollständige as. Interlinearversion des Psalters ist nur durch wenige Blätter bezeugt, die als Buchbindermakulatur in Inkunabeln Verwendung gefunden haben. Zwei Doppelblätter mit Psalm 28,1-29,6; 32,9-33,5 und 110,10-111,10 (111,8 teilweise, 9-10 unübersetzt) samt Gloria, Requiem; 114,29; 115,10-19 sind bereits in der Zeit des Ersten Weltkriegs in einem Kloster in der Nähe von Lublin entdeckt und dann durch L. Zalewski und A. Kleczkowski ediert, beschrieben und grammatisch analysiert worden. Dazu ist unlängst ein Einzelblatt mit Psalm 84,7-85,9 getreten, das sich in einer Wittenberger Inkunabel noch in situ befindet und dessen Zugehörigkeit zu dem inzwischen in Warschau aufbewahrten Lubliner Psalter U. Winter erkannt hat. Der einstige Codex ist eigens für die Interlinearversion angelegt worden, wie die Einrichtung erkennen lässt, bei der für die

Psalter: ‘Lublin/Wittenberger Psalter’

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volkssprachige Version eine eigene Zeile vorgesehen ist. Unübersetzt bleiben die Kollekten, die an monastische Provenienz denken lassen. Die großformatige (29 x 22,5 cm), breitrandige und zweispaltige Hs. mit farbig gestalteten Initialen zu Beginn jedes Verses, für die sich ein Umfang von mehr als 190 Blättern errechnen lässt, muss aus einem sehr leistungsfähigen Skriptorium stammen, in dem sie in der Mitte oder der 2. Hälfte des 10. Jh.s (H. Hoffmann bei H. Tiefenbach, S. 418 Anm. 132; B. Bischoff, S.106) angefertigt wurde. H. Hoffmann, der Händegleichheit für Psalmtext und Glosse annimmt und die Kollektenhand davon unterscheidet, hält als Schriftheimat den Raum zwischen Corvey und Quedlinburg für möglich, ohne Westfalen (mit Ausnahme von Essen und Werden) ausschließen zu wollen. 4. Sprache und Heimat: Die sprachliche Beurteilung des Denkmals ist lange durch die Untersuchung von A. Lasch bestimmt worden. Sie rechnet mit einer ahd. Vorstufe aus dem Mainz-Fuldaer Raum, die, auch mit Einflüssen ae. Schreiber, in mehreren Schritten in die jetzt vorliegende Fassung umgesetzt worden sei. Zahlreiche ahd. Relikte neben ae. Restformen seien Zeugen dieses Prozesses. Einer Nachprüfung haben viele dieser Thesen nicht standhalten können (H. Tiefenbach). Insbesondere die Schlüsse aufgrund des lat. Psaltertextes treffen nicht zu, weil A. Lasch die Unterschiede zwischen den Psalterversionen nicht berücksichtigt hat. Der eingetragene lat. Text folgt dem Gallicanum mit deutlichen redaktionellen Optimierungsbemühungen. Der der Übersetzung zugrunde liegende Text beruht jedoch nicht auf genau dieser Vorlage, sondern zeigt Einflüsse der Versionen Romanum und iuxta Hebraeos. Besserungsversuche sind auch hier zu beobachten, die aber offensichtlich nicht überall zum Abschluss gekommen sind. Den Redaktoren haben vermutlich unterschiedliche Psalterhandschriften zur Verfügung gestanden. Im Licht solcher Ergebnisse wären auch die vielfach bemerkten Bezüge zu anderen Interlinearversionen (K. E. Schöndorf 1967, S. 50-53), insbesondere zum Windberger Psalter, neu zu überprüfen. Ungeklärt ist die sprachliche Heimat der volkssprachigen Version, auch wegen der geringen Zahl von Vergleichsmöglichkeiten. Sicher auszuscheiden sind EssenWerden, wo deutlich andere Flexionsformen in Gebrauch sind, sowie die für den Archetyp erschließbare Sprachform des Heliand. Der von A. Kleczkowski (1926, § 23) vorsichtig vermutete Westen des asächs. Sprachgebiets kommt schwerlich infrage. Doch ist über die bereits von H. Steinger (S. 36) vorgenommene Zuweisung des Psalters in die ‘engere Gruppe’ (Merseburger, Lamspringer, Oxforder Glossen u.a.) auch jetzt noch nicht entscheidend hinauszukommen. Vielleicht gehört der Codex in Zusammenhänge der Gründungen im ottonischen Ostsachsen, die in der Errichtung des Erzbistums Magdeburg durch Otto I. im Jahre 937 einen ihrer Höhepunkte haben. Die hd. Formen der Interlinearversion hatte A. Lasch für Reste der

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Psalter: ‘Paderborner Psalter’

ahd. Vorlage gehalten. Für deren eigentümliche Verteilung (nur Verschiebungsbelege für germ. /p/ und /t/, nie für /k/) könnten auch andere Erklärungen erwogen werden (H. Tiefenbach). 5. Literatur: B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134 (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, 1981, S. 73-111); A. Kleczkowski, Neuentdeckte altsächsische Psalmenfragmente aus der Karolingerzeit. Teil II. Nowoodkryte fragmenty starosaskiego przekładu psalmów z epoki Karolingów. CĊĞü II, Prace Komisji JĊzykowej Polskiej Akademji UmiejĊtnoĞci 12, Krakau 1926; Th. Klein, Studien, S. 479-481 und passim; A. Lasch, Die altsächsischen Psalmenfragmente, in: A. Lasch, Ausgew. Schriften, S. 60-103 (zuerst 1932); K. E. Schöndorf, ‘Altsächsische Psalmen-Fragmente’, 2VL I, Sp. 318f.; K. E. Schöndorf, Die Tradition der deutschen Psalmenübersetzung. Untersuchungen zur Verwandtschaft und Übersetzungstradition der Psalmenverdeutschung zwischen Notker und Luther, Mitteldeutsche Forschungen 46, Köln/Graz 1967; H. Steinger, JVNSp 51 (1925) S. 1-54; H. Tiefenbach, s. o. bei Ausgaben.

HEINRICH TIEFENBACH

Psalter: ‘Paderborner Fragment einer altsächsischen Interlinearversion’ 1. Überlieferung: Paderborn, Erzbischöfliche Bibliothek, Fra 6 (verschollen); dazu PadRep. 2. Ausgaben: A. Quak, Zum Paderborner Fragment einer altsächsischen interlinearen Psalmenübersetzung, ABÄG 26 (1987) S. 1-10; A. Quak, Nachträge zum Paderborner Fragment einer altsächsischen interlinearen Psalmenübersetzung, Germanistische Schlaglichter 4 (1999) S. 213-220. 3. Textbestand und Sprache: Das im Jahre 1979 bekannt gewordene und inzwischen wieder verschollene Fragment einer as. Interlinearversion des Psalters umfasst den oberen Teil eines Blattes, von dem sieben Zeilen (die siebte im lat. Text weitgehend abgeschnitten) seiner Rückseite mit Psalm 37,2-6 fotografisch dokumentiert sind (Niederdeutsche Handschriften und Drucke, Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 86, Sondernummer, 1979, S. 3*f. (linksseitig beschnitten) mit Datierung „um 950“; Digitalisat: Handschriftencensus. Von der Vorderseite mit Psalm 36,30-34 (?) ist keine Abbildung bekannt. Durch Abrieb und Verschmutzung bedingt waren hier nur vier volkssprachige Wörter zu entziffern. Insgesamt sind etwas über fünfzig Wörter für das Fragment ermittelbar. Die Handschrift scheint, anders als beim ‘Lublin/Wittenberger Psalter’ (Ú Psalter, ‘Lublin/Wittenberger Fragmente’), nicht von vornherein für die Aufnahme einer Interlinearversion angelegt worden zu sein. Die volkssprachige Fassung ist mit blasser Schrift wortentsprechend über die lat. Textwörter eingetragen, deren Buchstaben fast die dreifache

Psalter: ‘Psalm 138’

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Größe haben und auf mit Tinte vorlinierten Zeilen stehen (H. Beckers bei A. Quak, 1999). Auf dem wohl einst als Einbandmakulatur verwendeten Blatt sind die Titel von Inkunabeln verzeichnet, deren Zugehörigkeit zum Kloster Abdinghof auf Provenienz des Fragments zu dieser 1015 gegründeten Benediktinerabtei weisen könnte. Die sprachlichen Merkmale (Th. Klein, S. 201, Anm. 8: St. Krogh, S. 251, 266, 311, 373) widersprechen dem nicht: Präkonsonantisches h- fehlt in den beiden möglichen Fällen (uuande), Dativ und Akk. des Pers. Pron. der 1. Person sind unterschieden (mi : mik), Flexiv -emu bei mƯnemu, -era bei thƯnera und -un bei mƯnun (Dat.Pl.) sowie beim ǀn-Verb giheuigade (daneben ), dazu meist Aufhellung. Formen mit Abschwächung wie afnjloden (3. Pl. Ind. Prät.) machen gemeinsam mit zahlreichen unabgeschwächten Belegen eine Datierung der Sprache ins frühere 11. Jh. wahrscheinlich. 4. Literatur: E. Hellgardt, Einige altenglische, althoch- und altniederdeutsche Interlinearversionen des Psalters im Vergleich, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 261-296; Th. Klein, Die Straubinger Heliand-Fragmente: Altfriesisch oder Altsächsisch?, ABÄG 31/32 (1990) S. 197-225; St. Krogh, Die Stellung des Altsächsischen, 1996.

HEINRICH TIEFENBACH

Psalter: ‘Psalm 138’ Ahd. Versbearbeitung des biblischen Psalms (‘Ps.’), um 930. 1. Überlieferung: ‘Ps.’ steht auf dem vorletzten Blatt einer in Regensburg oder Freising entstandenen Hs. des 10. Jh.s, deren Hauptinhalt das ‘Formelbuch’ Notkers I. von St. Gallen ist: Wien, ÖNB Cod. 1609, f. 69rv. Ausgaben: Faksimilia: H. Fischer, Schrifttafeln, Tafel 23; ZDA 77 (1940) nach S. 76; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. XXXVIII (zit.); W. Haug – B. K. Vollmann, Frühe dt. Lit., S. 142-145 (mit Übers.); H. Mettke, Altdt. Texte, S. 91f.; MSD Nr. XIII, I, S. 31-33, II, S. 85-88; St. Müller, Ahd. Lit., S. 90-93 (mit Übers.); H. D. Schlosser, Ahd. Lit, 1980, S. 42f. (mit Übers.); H. D. Schlosser, Ahd. Lit., 22004, S. 138-141 (mit Übers.); E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XXII, S. 105-109; vgl. PadRep. Die Sprache des handschriftlichen Textes ist bairisch. Während G. Baesecke das Gedicht in St. Emmeram in Regensburg beheimatete, plädierten H. Menhardt und B. Bischoff für Freising. 2. Strophische Gliederung: Der aus 38 binnengereimten Langzeilen bestehende Text ist durch vorgerückte Initialen in 17 Abschnitte gegliedert, die Strophen von je

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Psalter: ‘Psalm 138’

zwei oder drei Reimverspaaren (Zeilen) entsprechen. Nach Z. 14 weicht die Gedankenfolge von der des biblischen Psalms ab, was teils auf fehlerhafte Überlieferung, teils auf Kompositionsfreiheit zurückgeführt wurde. Es kommen auch wiederholte, den Refrainstrophen bei Ú Otfrid und im Ú ‘Georgslied’ vergleichbare Verse vor. W. Scherer (MSD II, S. 85f.; so auch W. Haug – B. K. Vollmann, Frühe dt. Lit, S. 1131) stellte die Zeilen nach Z. 14 um, tilgte die Wiederholungen (Z. 18, 33, 35 und damit die dreigliedrigen Strophen) und bezog Z. 22-24 unter Annahme eines zweiten Psalmenfragments auf Ps 139,5 (wo jedoch das Bild des feindlichen Geschosses fehlt). Dagegen sah R. Kögel in dem überlieferten Text „eine ganz richtige strophische Gliederung und eine ... sehr vernünftige Gedankenfolge“. Auch E. v. Steinmeyer betonte, dass man „von der überlieferten Gestalt nicht wohl abweichen“ dürfe (S. 108). In diesem Sinne empfiehlt St. Müller, wie vor ihm schon H. D. Schlosser (1980, S. 344), von ‘Ps.’ keine „textuelle Schlüssigkeit“ zu erwarten, sondern von einer „frei assoziierenden Übertragung“ auszugehen, die „an die punktuelle Schwerpunktsetzung und freie Bildverknüpfung der breiten Tradition der Psalmenillustration erinnert“ (S. 313). Dies scheint auch deshalb angemessen, weil zum einen mittelalterliche Texte nicht immer modernen Kohärenzerwartungen entsprechen und zum anderen die Psalmen selber oft lose Bilder- und „Ideenketten“ (O. Pächt) darstellen, für die gedankliche Sprünge, assoziative Verbindungen und gebetartige Wiederholungen geradezu konstitutiv sind. 3. Inhaltliche Tendenz und Anlass: Auf die traditionelle Hymnenapostrophe Uellet ir gihǀren Daviden den guoton folgt die Wiedergabe von Davids touginon sin. Manches in der biblischen Vorlage wird übergangen, anderes deutend oder veranschaulichend ausgeweitet. Nach D. Kartschoke handelt es sich insofern nicht „um eine bloße Versübersetzung, sondern um die erklärende und meditierende Paraphrase des biblischen Psalms“ (Gesch. d. dt. Lit., S. 163) nach der lat. Fassung der Vulgata. Auch in der Grundhaltung sind Vorlage und Bearbeitung verschieden: Aus jener spricht die Ergriffenheit des Psalmisten angesichts der göttlichen Allwissenheit und Allgegenwart, aus dieser seine darauf begründete Ergebenheit in den Willen Gottes. Wünscht der Psalmist, Gott möge die peccatores töten, und heißt er die homines sanguinum von ihm weichen, verkündigt der Verfasser von ‘Ps.’ seinen Entschluss, sich selbst von den mansleccun loszusagen, sowie von allen, die ihm den unrehton rihtuom anrieten. „Das Gedicht ist ein von innerer Erhebung ... eingegebenes Gebet zu Gott dem Allwissenden und Allgegenwärtigen; der Ruf eines Mächtigen, der, von Vertrauen zu Gott getragen, sich vor ihm demütigt“ (G. Ehrismann, S. 215). David, als Reiter und Krieger gedacht (Z. 7; vgl. W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 317), heißt hier, wie der Held des Ú ‘Ludwigsliedes’, ‘der gute’. Er ‘grüßt’ seinen Herrn, der ihm mit herie begegnet. Aus dieser Schilderung eines aktiven, gotterge-

Psalter: ‘Psalm 138’

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benen Königs ist möglicherweise eine Anpassung an germanisches Gefolgschaftsdenken (vgl. Chr. Wells, S. 177), nach O. Ludwig sogar ein Echo zeitgenössischer Missionsbestrebungen, herauszuhören. W. Haubrichs (in: Architectura Poetica. FS Johannes Rathofer, S. 67-106) sieht einen möglichen historischen Anlass der volkssprachigen Psalmbearbeitung hingegen in der Synode von Trebur (895), auf der der ostfränkische König Arnulf als Streiter Gottes und als Beschützer von Kirche und Klerus auftrat und in seiner Antwort an die ihn als Richter anrufenden Bischöfe ebenfalls explizit den 138. Psalm zitierte. W. Haubrichs’ These zufolge war ‘Ps.’ möglicherweise „Bestandteil des psallentium voce gestalteten, jubelnden und feiernden Introitus“, der „dem König am nächsten Morgen in der Basilika von Trebur bereitet wurde“ (S. 105). Unter den teilnehmenden Bischöfen war auch Waldo von Freising, in dessen Rechtsbuch ‘Ps.’ auf einem ursprünglich nur zum Schutz des Buchblocks angenähten Blatt aufgezeichnet wurde. Bereits H. D. Schlosser (1980) erkannte im Ideal des gerechten Königs in ‘Ps.’ „Anklänge an einen Fürstenspiegel“ (S. 344; vgl. W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 317). Jenseits aller Versuche, für ‘Ps.’ konkrete historische Bezüge dingfest zu machen, ist das volkssprachige Reimlied jedoch zuallererst als Bibeldichtung zu verstehen, der es in freier Paraphrase um die Ausdeutung und Meditation eines in Gebet und Liturgie zentralen Textes geht. 4. Verstradition; Wegen der vermuteten Entstehung in Freising (im Umkreis Bischof Waldos) wird ‘Ps.’ in der Literatur häufig in die Nähe des Freisinger Otfrid (Hs. F) gerückt. Die Berührungen sind aber gering, und Ú Otfrids Werk ist reimtechnisch weit überlegen. Vielleicht fassen wir hier eine vorotfridsche Verstradition, die sowohl wiederholte Zeilen als auch dreizeilige Strophen wie in Ú ‘Christus und die Samariterin’ und dem Ú ‘Ludwigslied’ zuließ. Die Alliterationen in ‘Ps.’ sind schwerlich Nachklänge der Stabreimkunst. Die Reimtechnik deutet vielmehr auf den beginnenden Zusammenfall der Endsilbenvokale hin. 5. Literatur: G. Baesecke, PBB 46 (1922) S. 431-494; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 126; H. de Boor, Die dt. Lit., S. 85; J. K. Bostock, Handbook, S. 218-222; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 211-215; J. S. Groseclose – B. O. Murdoch, Die ahd. poet. Denkm., S. 82-86; W. Haubrichs, Arcana Regum. Der ahd. 138. Psalm und die Synode zu Tribur (895), in: Architectura Poetica. FS Johannes Rathofer, S. 67-106; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 314317; W. Haug – B. K. Vollmann, Frühe dt. Lit., S. 1130-1135; D. Kartschoke, Altdt. Bibeldichtung, S. 75-77; D. Kartschoke, Gesch. d. dt. Lit., S. 162f.; J. Kelle, Gesch. d. dt. Litt., I, S. 185; R. Kienast, Die deutschsprachige Lyrik des Mittelalters, in: DPhA II, S. 25f.; R. Kögel, Gesch. d. dt. Litt., II, S. 117-126; W. Krogmann, Der ahd. 138. Psalm. Forschungsgesch. Überblick u. Urfassung, Dt. Bibelarchiv, Abhh. u. Vorträge 5, Hamburg 1973; A. Leitzmann, Die quelle des 138. psalms, PBB 39 (1914) S. 558-563; O. Ludwig, Der ahd. u. der bibl. Psalm 138. Ein Vergleich, Euphorion 56 (1962) S. 402-409; J. Mass, Das Bistum Freising im Mittelalter, hg. v. Verein für Diözesangeschichte von München und Freising.

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Pseudo-Abdias-Glossierung

Geschichte des Erzbistums München u. Freising 1, München 1986, S. 97f.; H. Menhardt, Verz. d. altdt. lit. Hss., I, S. 51; H. Menhardt, Zur Überlieferung des ahd. 138. Psalms, ZDA 77 (1940) S. 71-84; St. Müller, Ahd. Lit., S. 313-315; E. Ochs, Psalm 138, NPhM 59 (1958) S. 220f.; H. Penzl, Zur Phonologie des ahd. Psalms 138, in: Studies for Einar Haugen, hg. v. E. S. Firchow u.a., Den Haag/Paris 1972, S. 460-468; U. Pretzel, Frühgesch. d. dt. Reims, S. 93-96; H. D. Schlosser, Ahd. Lit, 1980, S. 344; E. Sievers, Zu Ps. 138, PBB 34 (1909) S. 571575; W. von Unwerth – Th. Siebs, Gesch. d. dt. Lit., S. 178f.; Chr. Wells, in: German Literature, S. 176f.; F. Willems, Psalm 138 u. ahd. Stil, DVJS 29 (1955) S. 429-446.

DAVID R. MCLINTOCK (†) – HEIKO HARTMANN

Pseudo-Abdias, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Unter dem Namen Pseudo-Abdias wird – zu Unrecht – eine lat. Schrift mit dem Titel Virtutes apostolorum (nach Wolfgang Lazius: Historia Apostolica) geführt, die dem Leben der Apostel Petrus, Paulus, Jakobus (Bruder des Herrn), Philippus, Andreas, Jakobus (Bruder des Johannes), Johannes, Thomas, Bartholomäus, Matthäus, Simon und Judas gewidmet ist. Die Virtutes apostolorum könnten auch von Gregor v. Tours zusammengetragen worden sein. Schon 1552 schrieb W. Lazius die Sammlung einem Abdias zu, Bischof von Babylon und Zeitgenossen der Apostel, und begründete dies mit einem Hinweis, der sich auf das Leben des Simon und Judas bezieht. Literatur: E. Junod, in: LThK I, Sp. 18. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. St. Gallen, StB 292 (BStK-Nr. 221): 67 Gll. im fortlaufenden Glossartext und 26 Interlineargll. in Textglossar zur Historia Apostolica; alem.-frk., 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 738-740 (Nr. DCCCXCII). – 2. Karlsruhe, BLB St. Peter perg. 87 (BStK-Nr. 324): 41 Gll. im fortlaufenden Glossartext und 26 Interlineargll. in Textglossar zur Historia Apostolica; as.-hd., 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 738-740 (Nr. DCCCXCII). – 3. Oxford, BodlL Jun. 25 (f. 158-193) (BStK-Nr. 725 IV): 4 Gll. in Textglossar zur Passion des Hl. Jakobus; alem., 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 745 (Nr. DCCCCIV). – 4. Wien, ÖNB Cod. 534 (BStK-Nr. 916): 30 Interlineargll. in Textglossierung zur Historia Apostolica; bair., 9. oder 10. Jh. – Ed. A. Quak, Unveröffentl. ahd. Glossen aus dem Codex Vindobonensis 534, ABÄG 4 (1973) S. 118-125; H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 140-142; A. Quak, Besprechung von H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., ABÄG 8 (1975) S. 180f. 3. Glossographische Aspekte: Ahd. Glossen zu Pseudo-Abdias begegnen in vier Hss. aus dem 9. bis 11. Jh. (insgesamt 194 ahd. Gll.). Sie stehen vor allem (160 Gll.) in zwei Textglossaren des 11. Jh.s der Schrift Historia Apostolica. Mit 93 Gll. ist die in St. Gallen entstandene Hs. 292 (BStK-Nr. 221) am stärksten glossiert. 67 Gll. weist die in Lorsch entstandene Hs. Karlsruhe, St. Peter perg. 87 (BStK-Nr. 324) auf, deren ahd. Wortschatz vollständig auch in der St. Galler Hs. enthalten ist. Eine

Pseudo-Abdias-Glossierung

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Textglossierung zur Historia Apostolica mit 30 Interlineargll. enthält die Hs. Wien 534 (BStK-Nr. 916), die im 2. Drittel des 9. Jh.s in Salzburg entstanden ist. – Allein zur Passion des Hl. Jakobus tradiert die Hs. Oxford Jun. 25 (BStK-Nr. 725 IV), die im 9. Jh. im Bodenseegebiet entstanden ist, ein Textglossar mit 4 Gll. 4. Räumliche und zeitliche Verteilung: Sprachgeographisch zeigen die Glossen eine Streuung: Die 93 in St. Gallen eingetragenen Textglossarglossen sind alem.-frk. (BStK-Nr. 221), während die 67 Gll. der Karlsruher Hs. (BStK-Nr. 324) aus Lorsch eine as.-hd. Mischung zeigen. Die aus Salzburg stammende Textglossierung (BStKNr. 916) ist bair., die Glossen des nur schwach ahd. glossierten Textglossars aus dem Bodenseegebiet alem. (BStK-Nr. 725 IV). – Die Glossierung beginnt mit 4 Gll. des Junius 25 im 9. Jh., setzt sich im 9. oder 10. Jh. mit 30 Gll. im Vindobonensis fort und weist schließlich im 11. Jh. mit 160 Gll. in der St. Galler und Karlsruher Hs. den Hauptteil der Überlieferung (über 80%) auf. 5. Umfang und Bedeutung: Die Historia Apostolica des Pseudo-Abdias gehört zu den weniger stark ahd. glossierten Schriften der Spätantike, die ihren Glossierungsschwerpunkt in zwei Glossaren des 11. Jh.s hat, aber bereits im 9. Jh. eine Textglossierung hervorgebracht hat. Pseudo-Abdias nimmt mit einem Umfang von 194 Glossen in vier Hss. Rang 8 der ahd. Glossen zu kirchlich-theologischem Schrifttum der Spätantike ein. Die Glossen machen aber nur 1,0% dieses Überlieferungskomplexes aus. Nach Ú Gregor dem Großen, der mit 76,6% drei Viertel der Überlieferung allein ausmacht, sowie Ú Hieronymus (5,6%), Ú Sulpicius Severus (4,8%), Ú Eusebius von Cäsarea (3,9%), Ú Isidor von Sevilla (3,3%), Ú Cassianus (1,3%) und Ú Orosius (1,1%) steht Pseudo-Abdias (1,0%) vor einer Gruppe von Autoren mit einem unter 1,0% reichenden Anteil. Diese Zahlen sagen aber nichts über den Anteil der lat. Glossierung aus. – Eine nähere Untersuchung, etwa im Hinblick auf die Auswahl der glossierten Lemmata, fehlt bislang. 6. Literatur: BStK-Nr. 221, 324, 725 IV, 916; StSG II, S. 738-740, S. 745; R. Bergmann, in: BStH I, S. 94f.; C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberl., S. 286f. STEFANIE STRICKER

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Pseudo-Apuleius-Glossierung

Pseudo-Apuleius, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Pseudo-Apuleius (auch Apuleius Barbarus, Apuleius Platonicus), † nach 162, unbekannter Schriftsteller, der im Mittelalter fälschlich für den Platoniker Apuleius v. Madaura gehalten wurde. Diesem wurde seit der Spätantike das im 4. Jh. erschienene illustrierte Kräuterbuch Herbarium (oder De herbarum virtutes) zugeschrieben. Das Werk, dessen ältestes erhaltenes Exemplar aus dem 6. Jh. stammt, war im Mittelalter sehr populär und in vielen Abschriften verbreitet. Es stellt in 131 Kapiteln Heilpflanzen jeweils mit Name, Abbildung, Standort, Sammelzeit, Zubereitung und Heilwirkung vor. Im Text eingestreut finden sich Gebete und Zaubersprüche (zur lat. Version und den deutschen Übersetzungen des 15. Jh.s G. Keil). Literatur: G. Keil, in: 2VL, XI, Sp. 122-125; I. Müller, in: LexMA I, Sp. 818f.; VII, Sp. 306 und Sp. 1661f.

2. Überlieferung und Edition der Glossen: Alle ahd. Glossen zu Pseudo-Apuleius stehen im Herbarium: 1. Breslau, Biblioteka Uniwersytecka III F 19 (BStK-Nr. 76): 3 Interlineargll. und 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Herbarium; Sprache unbestimmt (Hs. Metz ?), 1 Gl. 10. Jh., die weiteren 11. Jh. (Hs. 1. Drittel 9. Jh.). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 18. – 2. Kassel, UB, LB und MB Bibl. 2º Ms. phys. et hist. nat. 10 (BStK-Nr. 328): 22 Gll. in Textglossierung zu Herbarium, Glossen z.T. im Bildbereich der Pflanzen; Sprache unbestimmt (Hs. aus der Loire-Gegend oder Fulda); 10./11. und 12. Jh. (Hs. 2. Drittel 9. Jh.). – Ed. StSG III, S. 589f. (Nr. MXXXV). – 3. Leiden, UB Voss. lat. q. 40 (BStK-Nr. 375b): mindestens 3 Gll. (f. 7v, 9v, 11r) im Glossartext; Sprache unbestimmt, Glossen undatiert (Hs. 12. Jh.). – Ed. K. A. de Meyier, Codices Vossiani Latini. II. Codices in Quarto, Leiden 1975, S. 107. – 4. London, BL Harl. 4986 (BStK-Nr. 421): 33 Marginal- und 10 Interlineargll. in Textglossierung zu Herbarium, Glossen meist zu lat. Bildbeschriftungen; Sprache unbestimmt, Glossen undatiert (Hs. 11./12. Jh.). – Ed. StSG III, S. 587f. (Nr. MXXXIII). – 5. München, BSB Clm 17403 (BStK-Nr. 632): 11 Marginalgll. auf dem Rand bzw. in den Pflanzenbildern in Textglossierung zu Herbarium; bair., Glossen undatiert (Hs. 1241). – Ed. StSG III, S. 587 (Nr. MXXXII). – 6. Paris, BNF lat. 13955 (BStK-Nr. 767): 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Herbarium; nd. oder frk. (Hs. Corbie), 9./10. Jh. (Hs. 2. Hälfte 9. Jh.). – Ed. A. Beccaria, I codici, S. 176; U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 148. – 7. Uppsala, UB C. 664 (BStK-Nr. 884): 3 Gll. in Textglossierung zu Herbarium; Sprache unbestimmt (Hs. Oberitalien), Anfang 11. Jh. (Hs. 1. Hälfte 9. Jh.). – Ed. A. Beccaria, I codici, S. 344. – 8. Wien, ÖNB Cod. 187 (BStK-Nr. 957a): 21 Gll. (interlinear, marginal und im Kontext) in Textglossierung zu Herbarium; Sprache unbestimmt, Anfang 14. Jh. – Ed. R. Reiche, in: Fachprosa-Studien, S. 496; R. Reiche, Althochdeutsche Pflanzenglosssen aus Codex Vindobonensis 187 und Codex Stuttgart HB XI 46, SA 57 (1973) S. 8-11. 3. Glossographische Aspekte: Ahd. Glossen zum Herbarium begegnen in acht Hss. aus dem 9. bis 14. Jh. (mindestens 108 Gll.). Abgesehen von einem Glossar in der aus dem 12. Jh. stammenden Hs. Leiden Voss. lat. q. 40 (BStK-Nr. 375b), deren Glossen noch nicht vollständig ediert sind (mindestens 3: f. 7v, 9v, 11r), weisen die

Pseudo-Apuleius-Glossierung

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Hss. Textglossierungen auf. Die stärkste Glossierung begegnet mit 43 Gll. (33 marginal, 10 interlinear), die meist lat. Bildbeschriftungen zugeordnet sind, in der aus dem 11./12. Jh. stammenden Londoner Hs. Harl. 4986 (BStK-Nr. 421). 22 Glossen, die z.T. im Bildbereich der Pflanzen stehen, enthält die Kasseler Hs. Bibl. 2° Ms. phys. et hist. nat. 10 (BStK-Nr. 328). Während die Hs. im 2. Drittel des 9. Jh.s in der Loire-Gegend oder in Fulda entstanden ist, werden die Glossen erst im 10./11. und 12. Jh. nachgetragen. Ein vergleichbarer zeitlicher Abstand zwischen der Entstehung der Hs. und der Eintragung der Glossen zeigt sich auch bei der Hs. Uppsala C. 664 (BStK-Nr. 884), die bereits in der 1. Hälfte des 9. Jh.s in Oberitalien entstanden, aber erst Anfang des 11. Jh.s glossiert worden ist (3 Gll.). Von den 4 Glossen (3 interlinear, 1 marginal) der Hs. Breslau III F 19 (BStK-Nr. 76) ist eine Glosse im 10. Jh. eingetragen worden, die weiteren im 11. Jh. Die Hs. selbst stammt aus dem 1. Drittel des 9. Jh.s. (vielleicht aus Metz) und stellt damit die älteste ahd. glossierte Hs. des Herbarium dar. 21 Gll. (interlinear, marginal und im Kontext) enthält die Wiener Hs. 187 (BStK-Nr. 957a) aus dem Anfang des 14. Jh.s. Im Clm 17403 (BStK-Nr. 632), der 1241 in Scheyern entstanden ist, sind 11 Marginalgll. enthalten, die auf dem Rand bzw. in den Pflanzenbildern erscheinen. Schließlich begegnet eine Marginalglosse des 9./10. Jh.s in der Pariser Hs. lat. 13955 (BStK-Nr. 767), die in der 2. Hälfte des 9. Jh.s in Corbie entstanden ist. 4. Räumliche und zeitliche Verteilung: Nur zu 12 Gll. liegen sprachgeographische Bestimmungen vor. Die Marginalglossen des Clm 17403 (BStK-Nr. 632) werden als bair. bestimmt (Entstehung in Scheyern), die eine Marginalglosse der Pariser Hs. als nd. oder frk. (Entstehung in Corbie). Die ahd. Glossen zum Herbarium zeichnen sich einerseits durch eine zuweilen deutliche Distanz zwischen Entstehung der Hs. und Eintragung der Glossen aus (BStK-Nr. 76, 328, 884), zum anderen durch das Spezifikum der Glossierung von Pflanzenbildern (BStK-Nr. 328, 421, 632; zu Nr. 328 die Abbildungen in BStK V, S. 2778-2781). 5. Umfang und Bedeutung: Im Kontext der medizinischen Schriften machen die Kompendien von Ú Macer Floridus (47,8%), die Rezepte (31,5%) sowie das Herbarium des Pseudo-Apuleius (8,7%) fast 90% der Glossierung dieses Bereichs aus. Gegenüber Macer Floridus und den Rezepten, die oft in den Text eingebettete Wörter, aber keine Glossen im eigentlichen Sinn enthalten, rangiert die Glossierung des Herbarium an dritter Stelle, allerdings mit deutlichem Abstand zu den genannten Werken. Eine genauere Analyse der ahd. Glossierung steht noch aus. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die ahd. Glossen in einem Abstand von etwa 200 Jahren zur Anlage der Hss. eingetragen worden sind, die Überlieferungen also nach zwei Jhh.

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‘Rb’

noch gebraucht worden sind. Die Glossen sind meist in den Bildbereich eingetragen worden, wohl um eine möglichst eindeutige Identifizierung der Pflanze zu sichern. 6. Literatur: BStK-Nr. 76, 328, 375b, 421, 632, 767, 884, 957a; StSG III, S. 587-590; R. Bergmann, in: BStH I, S. 112f., 119; A. Groos, Wolframs Schlangenliste (‘Parzival’ 481) und Pseudo-Apuleius, in: Licht der Natur. FS Gundolf Keil, S. 129-148; W. Puhlmann, Die lateinische medizinische Literatur des frühen Mittelalters. Ein bibliographischer Versuch, Kyklos 3 (1930) S. 413f.; J. Riecke, Die Frühgeschichte19. Oktober 2012, S. 141-151. STEFANIE STRICKER

‘Rb’ ‘Rb’ ist ein umfangreiches textreihenfolgebezogenes lat.-ahd. Glossar zu Büchern des Alten Testaments ab der Genesis (ca. 1.560 Gll.) und zu Gregors Homilien (ca. 500 Gll.). 1. Überlieferung: Karlsruhe, BLB Aug. IC, f. 53r-104v. Provenienz und Schriftheimat: Reichenau, 8./9. Jh. (B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 80). Edition: StSG I; Angaben bei BStK-Nr. 296 (II); Beschreibungen: StSG IV, S. 399-401, Nr. 54; A. Holder, I, S. 256-260; zur Schrift vgl. auch CLA VIII, Nr. 1078f.; BStK-Nr. 296 (II). 2. Forschungsgeschichte: Die wichtigsten Fragen, die in der Forschungsdiskussion behandelt werden, sind erstens, ob die vorliegende Überlieferung in Glossarform eine Originalaufzeichnung oder eine Abschrift darstellt, und wenn ja, welche Gestalt die unmittelbare Vorlage hatte, und drittens, ob die Urstufe der Überlieferung ein Glossar oder eine interlineare Textglossierung ist. 3. Indizien für eine Abschrift: Auf mechanische Abschrift deuten korrigierte Fehler (E. Meineke, Bernstein, S. 89-91) wie der folgende hin: In occupauerunt uada. piuiangun stoma mit ru über dem o von stoma (Aug. IC, f. 60r, Z. 7; StSG I, S. 387, 19, zu Iudicum 3,28) wurde zunächst das Interpretament strouma der Vorlage zu stoma verlesen und anschließend durch die darübergesetzten Buchstaben ru zu strouma korrigiert. Daneben gibt es eine größere Anzahl von Fehlern, die unkorrigiert stehengeblieben sind (E. Meineke, Bernstein, S. 91-98). 4. Die Gestalt der unmittelbaren Vorlage: Zur Beantwortung der Frage, welche Gestalt die unmittelbare Vorlage aufweist, können falsch angeordnete Lemmata und Interpretamente als Indiz herangezogen werden (E. Meineke, Bernstein, S. 98-103). So findet sich in den Bibelglossen folgender Eintrag (Aug. IC, f. 69v, Z. 4f.; StSG I, S. 410, 14f., zu ISamuel 9,27 und 9,27):

‘Rb’

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de industria. fona uuizzantheiti untarstant luzzil subsiste paulisper untarstant luzzil. Im Mikrofilm ist von den im obigen Zitat durch Unterstreichung als radiert ausgewiesenen Wörtern u......... luzzil schwach zu erkennen. Das in der ersten Zeile radierte zweite ahd. Interpretament gehört zum folgenden Lemma. Der Irrtum wurde unmittelbar nach dem Schreiben bemerkt, es wurde das falsch zugeordnete Interpretament gelöscht und in der nächsten Zeile dann an richtiger Stelle eingetragen. Die ahd. Interpretamente sind hier von einem anderen Schreiber als dem der lat. Lemmata eingetragen worden. Dem Schreiber der ahd. Glossen fiel damit die Aufgabe zu, die ahd. Interpretamente den lat. Lemmata korrekt zuzuordnen. Die lat. Lemmata der beiden hier niedergeschriebenen ahd. Glossen stehen aber in einer angenommenen Vulgatatextvorlage nicht zusammen. Ginge man davon aus, dass dem Einträger der ahd. Glossen auf der einen Seite die unfertige Handschrift mit den lat. Lemmata und auf der anderen Seite unmittelbar eine Textvorlage zum Aufsuchen der ahd. Glossen zur Verfügung gestanden hätte, wäre ein derartiges Versehen nicht möglich gewesen. Die unmittelbare Vorlage der Überlieferung dürfte demnach selbst eine Glossarfassung gewesen sein (E. Meineke, Bernstein, S. 180-191). Dabei wurden zunächst die lat. Lemmata allein abgeschrieben. Sodann wurden die ahd. Glossen aufgezeichnet. 5. Hinweise auf ursprüngliche Textglossierung: Viele Belege (E. Meineke, Bernstein, S. 103-115) sind aber in formaler oder inhaltlicher Hinsicht Argumente dagegen, dass der Ursprung von ‘Rb’ in der mechanischen, kontextlosen Glossierung einer lat. Wortsammlung liegt, was die frühe Forschung teilweise vermutete. Dabei werden hier die Fragen der semantischen Kontextglossierung oder der semantischen Vokabelglossierung noch gar nicht berührt. In der Glossierung obruet eum lapidibus. biuellen inan steinum (E. Meineke, Bernstein, S. 106) hat das volkssprachige Interpretament im finiten Verb biuellen den Konjunktiv, was insoweit der textkritisch richtigen Form obruat (StSG I, S. 363, Anm. 10) entspricht. Die überlieferte Korruptel obruet steht stattdessen im Indikativ. Es ist auch nicht anzunehmen, dass das Futur der entstellten Form obruet infolge der Zukünftigkeit des Bezeichneten – es geht um eine Aufforderung – mit Konjunktiv wiedergegeben worden wäre; das Futur wird in ‘Rb’ ansonsten mit ahd. Präsens Indikativ glossiert. Vor allem aber fällt auf, dass das finite Verb des ahd. Interpretaments Plural hat, nicht Singular wie die lat. Lemmaseite. Der Zusammenhang ist der, dass Gott gebietet, denjenigen zu steinigen, der am Sabbat Holz sammelt: obruat eum lapidibus omnis turba extra castra (Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem. Adiuvantibus Bonifatio Fischer, Johanne Gribomont, H. F. D. Sparks, W. Thiele recensuit et brevi apparatu instruxit Robertus Weber, I-II, 4. A. Stuttgart 2005, I, S.

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‘Rb’

202) ‘die ganze Gemeinde soll ihn außerhalb des Lagers steinigen’. Der Glossator übersetzt mit dem Plural des Verbs trotz des formalen Singulars der Vorlage, weil er gedanklich offenbar von mehreren Leuten ausgeht. Aus den bisher an ausgewählten Beispielen vorgeführten Verschreibungen und anhand der sonstigen Diskrepanzen zwischen lat. Lemmata und ahd. Interpretamenten ergibt sich die These, dass dem überlieferten Glossar ‘Rb’ als Grundstufe eine interlineare Textglossierung mit einzelnen Marginalglossen bei längeren Syntagmen zugrunde liegt. Diese These kann noch durch die Analyse anderer, enger in die Semantik hineinführender Eigentümlichkeiten erhärtet werden. 6. Semantische Kontextglossen: Der Charakter der Grundlage von ‘Rb’ als interlineare Textglossierung müsste sich auch an der semantischen Qualität der ahd. Interpretamente zeigen lassen. Semantisch kontextbezogene Glossen sollten in ausreichender Anzahl vorhanden und zweifelsfrei als solche nachweisbar sein. Diese Glossierungen finden sich tatsächlich (E. Meineke, Bernstein, S. 166-180). So wird in labii unius Genesis 11,1 (Biblia Sacra iuxta Latinam vulgatam versionem. Ad codicum fidem ... cura et studio monachorum abbatiae pontificae Sancti Hieronymi in urbe ordinis Sancti Benedicti edita, I, Romae 1926, S. 181) das Wort labium ‘Lippe’ übertragen gebraucht: erat autem terra labii unius ‘es war aber auf der Erde nur eine Sprache’. Dem nicht übertragenen Lemma entspräche eine Übertragung wie lefses eines, die in ‘Rb’ auch als erstes Interpretament steht. Darauf folgt jedoch edo einera spracha (E. Meineke, Bernstein, S. 180-191). Die Metonymie ‘Lippe’ Ú ‘Sprache’, die sich nur aus dem Kontext erschließen lässt, wurde also erkannt. 7. Gesamtwürdigung: Das Glossar ‘Rb’ ist die zweitgrößte Glossenhandschrift des 8. Jh.s. Seine Bedeutung wird dadurch unterstrichen, dass durch die Annahme einer zugrunde liegenden Textglossierung bei den Bibelglossen und einer Zwischenstufe zwischen ihr und der Überlieferung ‘Rb’ – Analoges gilt für die Gregorglossen in ‘Rb’ – die Datierung des Originals um einiges früher angesetzt werden kann. 8. Literatur: E. G. Graff, Diutiska, I, S. 490; A. Holtzmann, Althochdeutsche Glossare und Glossen, Germania 11 (1866) S. 67-69; E. Sievers, Die Murbacher Hymnen, S. 5f.; StSG IV, S. 400, 36f.; R. Kögel, Gesch. d. dt. Litt., I, 2, S. 509-512; R. E. Ottmann, Grammatische darstellung des althochdeutschen glossars Rb, Berlin 1886, S. 84; R. Kögel, Etymologien, PBB 16 (1892) S. 510-515, S. 512f.; A. Holder, Die Reichenauer Handschriften, I, S. 259; W. Schröder, PBB 65 (1942) S. 1-105; G. Baesecke, Frühgeschichte 2, S. 174-176; E. Meineke, Bernstein im Althochdeutschen. Mit Untersuchungen zum Glossar Rb, StA 6, Göttingen 1984, S. 75-86, 87-218; E. Meineke, Das Glossar Rb, in: BStH I, S. 760-779.

ECKHARD MEINEKE

Sallust-Glossierung

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‘Rezepte, Basler’ Ú ‘Basler Rezepte’ ‘Rheinfränkische Cantica’ Ú Psalter: ‘Fragmente einer rheinfränkischen Interlinearversion der Cantica’ ‘Reichenauer Beichte’ Ú Beichten, Althochdeutsche und altsächsische ‘Römische Federprobe’ Überlieferung: Rom, Archivio del Vaticano – Archivio di S. Pietro, Cod. D 217, f. 97v. – Ahd. Federprobe des 11. Jh.s: nur noch teilweise lesbarer Satz. Edition: H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 247; vgl. PadRep. ROLF BERGMANN

Sallust (C. Sallustius Crispus), Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: S. (1.10.86-13.5.34 v. Chr.) war seit den 60er Jahren in mehreren politischen Ämtern der römischen Republik tätig, widmete sich aber nach Caesars Tod 44 v. Chr. der Historiographie. In ihrer Echtheit umstritten sind eine Schmähschrift gegen Cicero (Invectiva in Ciceronem) und zwei Briefe an Caesar (Epistulae ad Caesarem). Das Bellum Catilinarium (Cat.), um 42 v. Chr. gilt einem Aufstand in den Jahren 64-62, Catilina ist hier aus prononciert moral- und gesellschaftskritischer Perspektive als Inbegriff des korrupten Emporkömmlings dargestellt. Das Bellum Iugurthinum (Iug.), entstanden um 40 v. Chr., hat den Krieg gegen den Numiderkönig Jugurtha in den Jahren 111-105 zum Gegenstand. Die Historiae, 39 begonnen, sollten die nähere Zeitgeschichte umfassen, sind aber unvollendet geblieben und nur in Bruchstücken (einige Reden und Briefe) ins Mittelalter gelangt. Die Bedeutung von S.s Werken für das Mittelalter, insbesondere von Cat. und Iug., bezeugt die Überlieferung: Bis gegen 1200 sind 172 vielfach lat. glossierte und oft auch kommentierte Texthss. sowie 5 weitere Kommentarhss. nachgewiesen. Bis gegen 1500 kommen weitere rd. 340 Hss. sowie über 70 Druckausgabe dazu. Literatur: B. Munk Olsen, L’Étude, II, S. 307-363; IV,1, S. 99-103; P. J. Osmond – R. W. Ulery, Sallustius, in: Catalogus Translationum et Commentariorum VIII, Washington 2003, S. 183-326 (mittelalterliche Kommentare zu Cat. S. 225-235; zu Iug. S. 284-289); L. D. Reynolds, Texts and Transmission, S. 341-352; P. L. Schmidt, C. Sallustius Crispus, in: Der Neue Pauly X, 2001, Sp. 1254-1258. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Einsiedeln, StB cod 303 (483) (BStK-Nr. 127): Teil 2, um 1100, einer Sammelhandschrift mit S., Cat. und Iug. Mit durchgängiger lat.

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Sallust-Glossierung

interlinearer Glossierung und marginaler Kommentierung. Insgesamt 139 dt. Gll. (H. Bischoff, S. 49: rhfrk. und alem.), davon 39 zu Cat. (38 interlinear, 1 marginal stehend) und 100 zu Iug. (interlinear). 11./12. Jh., wohl Einsiedeln. – Ed. StSG II, S. 610-613 (Nr. DCCCXXXI); Nachtrag: StSG V, S. 105, Z. 40-106,2. – 2. Leipzig, UB Rep. I.4 (BStK-Nr. 378): Durchgängig reich lat. glossierte Sammelhs. röm. Klassiker (Sallust, Horaz, Lucan), dazu Martianus Capella. 2. Hälfte10. Jh. Insgesamt 11 dt. Interlineargll., davon 4 zu Cat., 4 zu Iug. As./ ostfäl.. 11. Jh., wohl Magdeburg. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 46; Berichtigungen dazu bei K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung, S. 405f. – 3. München BSB Clm 4559 (BStK-Nr. 481): S., Cat. und Iug. Mit durchgängiger lat. interlinearer Glossierung und marginaler Kommentierung. Insgesamt 11 obd. Gll., davon 6 zu Cat. und 5 zu Iug. 1 Gl. in bfk-Geheimschrift. 11. Jh., wohl Benediktbeuern. – Ed. StSG II, S. 613 (Nr. DCCCXXXII). – 4. München, BSB Clm 14477 (BStK-Nr. 591): Teil 1 einer Sammelhs. (u.a. Ordo Stellae aus dem Weihnachtsoffizium, Berno von Reichenau); f. 23r-56v: S., Cat. und Iug., S.-Vita und Accessus. Mit durchgängig intensiver lat. interlinearer Glossierung und marginaler Kommentierung. 1 obd. Gl. zu Cat. 1. Hälfte 11. Jh., Hersfeld. – Ed. StSG II, S. 614 (Nr. DCCCXXXV). – 5. München, BSB Clm 14515 (BStK-Nr. 597): S.-Werkausgabe (1. Hälfte12. Jh.) mit Cat. und Iug., dazu (2. Hälfte 12. Jh.): Komm. zu Cat. und zu Iug. Mit lat. interlinearer Glossierung und marginaler Kommentierung. 7 obd. Interlineargll. zu S., davon 3 zu Cat., 4 zu Iug. Um 1100/1150, Regensburg, St. Emmeram.– Ed. StSG II, S. 613 (Nr. DCCCXXXIII). – 6. München, BSB Clm 14685 (f. 1-55) (BStK-Nr. 603 I): Teil 1 einer Sammelhs.: S., Cat, und Iug. Spärliche lat. Glossierung und marginale Kommentierung. 1 obd. Interlineargl. zu Iug. – Ed. StSG II, S. 614 (Nr. DCCCXXXVII). – 7. München, BSB Clm 19479 (BStK-Nr. 673): S., Cat. und Iug. Durchgängig lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 5 obd. Interlineargll. zu Cat. 10./11. Jh., wohl Tegernsee. – Ed. StSG II, S. 613 (Nr. DCCCXXXIV). – 8. Paris, BNF lat. 10195 (BStK-Nr. 758): Sammelhs. vom Ende des 10. Jh.s (Echternach oder Trier) u.a. mit Cicero, Somnium Scipionis und dem Kommentar des Macrobius, S., Cat. und Iug., Plato, Timaeus, lat. von Chalcidius. Zu S., Cat. und Iug. reiche und durchgängige lat. interlineare Glossierung und marginale Kommentierung (B. Munk Olsen II, S. 344: 10.-12. Jh.; BStK: Mitte 11. Jh.). 115 mfrk. Interlineargll. zu S., darunter eine in bfk-Geheimschrift; vermutlich von der Hand des Thiofried von Echternach, dessen Anteil an der lat. Glossierung noch zu bestimmen ist.– Ed. StSG II, S. 608-610 (Nr. DCCCXXX); III, S. 608 (Nr. MLXVII). – 9. Rom, BAV Pal. lat. 889 (BStK-Nr. 805): S., Accessus, Cat. und Iug. Lorsch, 10. Jh. Lat. marginale und interlineare Glossen. 33 rhfrk. Gll. wohl des 12. Jh.s, davon 1 marginal stehend; weitere dt. Glossen des 15. Jh.s. – Ed. StSG II, S. 608f. (Nr. DCCCXXX); Berichtigungen und Nachträge bei H.Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 238. – 10. Zürich, ZB Ms. Car. C 143a (BStK-Nr. 1007): S., Cat. und Iug. jeweils mit Accessus. Mit durchgängiger lat. interlinearer Glossierung und marginaler Kommentierung. 4 vereinzelte obd. Interlineargll., eingebettet in die lat. interlineare Glossierung und Kommentierung zu Iug. Ende 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 614 (Nr. DCCCXXXVI).

3. Forschungsstand: Die für die dt. Glossierung noch maßgebliche Untersuchung von H. Bischoff verdient insbesondere hinsichtlich der Datierung der Archetypen der Glossenüberlieferung eine neuere Überprüfung. Zu erwägen wäre die Einbeziehung der lat. Glossierung in die Feststellung von Abhängigkeiten und Zusammenhängen.

Sallust-Glossierung

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4. Glossographische Aspekte: Die dt. Glossierung der beiden Geschichtswerke ist, sieht man von der Einsiedler Hs. (Nr. 1) ab, eher sparsam gesetzt. Auch für die lat. Glossierung gilt, dass sie in den beiden Prosatexten keineswegs so dicht ist wie bei Texten der Dichtung (z. B. Horaz, Juvenal, Vergil), denen in der Bildungsvermittlung der Kloster- und Domschulen des frühen und hohen Mittelalters ein anderer Stellenwert zukam. Das dürfte daran liegen, dass historiographische Texte wie Cat. und Iug. nahezu ausschließlich von in der Sprachpraxis fortgeschrittenen Lesern studiert wurden. In den gängigen Lektüreprogrammen der Kloster und Domschulen ist S., wie etwa auch Livius, kaum einmal vertreten. Gleichwohl dürften bei einer zukünftigen Prüfung der Überlieferung noch weitere deutsche Glossierungen zu erwarten sein. Der Bestand an einschlägigen S.-Handschriften des Zeitraums bis gegen 1200 ist von B. Munk Olsen, L’Étude, mit dem Anspruch auf Vollständigkeit verzeichnet worden. 5. Räumliche und zeitliche Verteilung: Die lat. Glossierung der Werke des S. setzt im 9. Jh. ein, die volkssprachige im ausgehenden 10. Jh. mit Schwerpunkt im 11./12. Jh. Einen offenbar isolierten Beleg für den as. Sprachraum bildet die Leipziger Hs. (oben Nr. 2). Eine Gruppe bilden nach H. Bischoff die von einander abhängigen frk. Glossierungen (oben Nr. 8, 9, zum Teil auch 1), eine weitere, jedoch ohne erkennbare Abhängigkeit die obd. Belege in Nr. 3-7, 10, zum Teil auch 1). 6. Beziehungen zwischen den Glossierungen: Die Untersuchung von H. Bischoff bezieht 9 der bislang bekannten S.-Hss. mit deutscher Glossierung ein (oben Nr. 1, 310). Für die Gruppe der frk. Glossierungen (oben Nr. 8, 9, 1) nimmt sie aufgrund schreibsprachlicher Indizien einen Archetyp aus Lorsch aus der Zeit um 1000 an (ebd., S. 80), was freilich die zumindest vermutete Mitwirkung Thiofrieds von Echternach († 1110) unmöglich machen würde (sieh oben Nr. 8). Dabei sei die Glossierung der Einsiedler Hs. (oben Nr. 1) für den Anteil rhfrk. Glossen aus einer Lorscher Vorlage abzuleiten (ebd., S. 81). Für die obd. Hss. (oben Nr. 3-7, 10; zum Teil 1) lasse sich kein Verwandtschaftsverhältnis feststellen (ebd. S. 82). 7. Umfang und Bedeutung: Mit bislang 327 bekannten dt. Glossen in derzeit 10 Hss. steht S. in der Gruppe der antiken Autoren nach Ú Vergil (rund 7.200 dt. Gll. in 49 Hss.) an zweiter Stelle (sieh R. Bergmann, in: BStH I, S. 85-87), was aber nicht auf einer repräsentativen Breite der Belege beruht, sondern im Wesentlichen der ungewöhnlichen Glossierungsdichte in Nr. 1 und 8 (139 bzw. 115 dt. Gll.) zuzuschreiben ist. 8. Literatur: H. Bischoff, Althochdeutsche Glossen zu den historischen Werken des Sallust und Lucan und ihr Zusammenhang, Diss. (masch.) Halle/Wittenberg 1951; R. Mollweide,

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‘Salomonisches Glossar’

Über die Glossen zu Sallust, Straßburg 1888 (Lyceum zu Straßburg in Elsaß. Beilage zum Programm für das Schuljahr 1887/1888).

NIKOLAUS HENKEL

‘Salomonisches Glossar’ 1. Werkbeschreibung: Das ‘Salomonische Glossar’ ist ein zweimal das Alphabet durchlaufendes lat.-lat. Wörterbuch, das im Süden des deutschen Sprachraums Verbreitung gefunden hat. Der Überlieferungsschwerpunkt liegt im 12. und 13. Jh. Mehrere Hss. enthalten zusätzlich spätahd. Interpretamente, die sich teilweise wohl auf dem S.G. voraus- und zugrunde liegende Textglossierungen zurückführen lassen. Die Zuschreibung des Werkes an einen der Konstanzer Bischöfe mit dem Namen Salomo ist bereits früh nachzuweisen, z.B. in St. Gallen, StB cod. 905 (um 900, allerdings ohne ahd. Glossen). Gemeint ist wahrscheinlich Salomo III., 890-919. Der Bischof und Abt von St. Gallen kommt jedoch allenfalls als Initiator einer relativ frühen Abschrift, nicht aber als eigentlicher Urheber oder gar Autor in Betracht (vgl. M. Manitius, Gesch. d. lat. Lit., I, S. 595-598; J. R. McGeachy, S. 131, W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 239). 2. Überlieferung: Admont, StB cod. 3 (11. Jh., BStK-Nr. 1), f. 1r-518v. – Brüssel, BR. ms. IV 622, nº 9 (11. Jh., Fragment eines Doppelblattes, BStK-Nr. 85). – Einsiedeln, StB cod. 293 (12. Jh., BStK-Nr. 278), S. 1-500; S. 1-1070. – Heiligenkreuz, StB cod. 17 (12. Jh.), f. 23r-275v – ýeské BudČjovice, Staátní vČdeckà Knihovna (ehem. Hohenfurt, Klosterbibl.) Hs. 1 VB CCXVIII (14. Jh., BStK-Nr. 1029, Fragmente zweier Blätter aus dem Buchstaben T). – Innsbruck, ULB cod. 711 (13. Jh., BStK-Nr. 287), f. 115v-119v (Auszüge aus dem Buchstaben C). – Lawrence, University of Kansas, Kenneth Spencer Research Library, MSJ 6:2:1-2 (12./13. Jh., BStK-Nr. 1032, Fragmente aus dem Buchstaben A). – Lilienfeld, StB cod. 228 (13. Jh., BStK-Nr. 1036). – Ljubljana, Städt. Archiv ohne Signatur (12. Jh., 10 Blätter, BStK-Nr. 359). – London, BL Ms. Add. 18397 (13. Jh., BStK-Nr. 391), f. 2r-149v. – London, BL Ms. Harl. 2610 (13./14. Jh., BStK-Nr. 410 (II)), f. 38r-40v (Fragmente aus dem Buchstaben S). – München, BSB Cgm 187,II (11./12. Jh., Einzelblatt, BStK-Nr. 440(II)). – München, BSB clm 7999 (13. Jh., BStK-Nr. 546), f. 1r-142v (gekürzte Fassung). – München, BSB clm 13002 (12. Jh., BStK-Nr. 558), f. 8v-208r. – München, BSB clm 17152 (12. Jh., BStK-Nr. 626), f. 1r-217v. – München, BSB clm 17403 (13. Jh., BStK-Nr. 632), f. 8r-217v. – München, BSB clm 22201 (12. Jh., BStK-Nr. 681), f. 4r-222v. – München, BSB clm 23496 (12. Jh., BStK-Nr. 689), f. 1r-9r (Auszüge). Folgende Fragmente unter der Sammelsignatur clm 29660 waren früher zusammen mit anderen Bruchstücken unter der Signatur clm 29121 in einem Konvolut vereinigt: München, BSB clm 29660,1 (11. Jh., BStK-Nr. 708(I), Einzelblatt aus dem Buchstaben I). – München, BSB clm 29660,2 (11./12. Jh., BStK-Nr. 710q), Doppelblatt aus dem Buchstaben V). – München, BSB clm 29660,3 (12./13. Jh., BStK-Nr. 710z). – München, BSB clm 29660,5 (13. Jh., BStK-Nr. 708 (III), 2 Blätter aus den Buchstaben P-R). – München, BSB clm 29660,6 (13. Jh., BStK-Nr. 708 (II), Fragment aus dem Buchstaben V). – Prag, Knihovna Národního

‘Salomonisches Glossar’

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Muzea, cod. X A 11 (13. Jh., BStK-Nr. 788), f. 1r-480r; cod. 20. G. 22 (13. Jh., früher Kynžvart, cod. 57), f. 1r-155v. – Solothurn, StaatsA Hs. 43 (13. Jh., Doppelbatt). – Wien, ÖNB cod. 2276 (Ende 13. Jh., BStK-Nr. 944), f. 1r-201v. – Zwettl, StB cod. 1 (13. Jh., BStKNr. 1020), f. 12v-213v.

Um 1474 wurde das ‘Salomonische Glossar’ in Augsburg gedruckt. Vgl. C. F. Bühler (mit Liste erhaltener Exemplare und BStK-Nr. 1023); R. Schmidt, S. 89-92. Ausgaben: StSG IV, S. 27-174, V, S. 45; A. Kocher, Mittelalterliche Handschriften aus dem Staatsarchiv Solothurn, 1974, S. 98-101; B. Ryba, Die Hohenfurter Fragmente der Glossae Salomonis, Studie o rukopisech 13, Prag 1974, S. 19-25; H. Thoma, PBB 73 (1951) S. 197271, hier S. 208-227, 264 (Korrekturen und Ergänzungen zur Edition in StSG). Zur Text-, Forschungs- und Editionsgeschichte vgl. B. Meineke 1990. 3. Entstehung und Überlieferung: Einzelheiten der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte bedürfen noch der Klärung. Der von M. Manitius (I, S. 595), G. Goetz (S. 244-247) und W. M. Lindsay (S. 11) vertretenen Ansicht, das ‘Salomonische Glossar’ sei auf der in Clm 14429 vorliegenden verkürzten Fassung des ‘Liber Glossarum’ verfasst worden, hat J. R. McGeachy mit dem Hinweis auf eine Reihe von Übereinstimmungen mit dem ungekürzten Text widersprochen. Auch der Sprachstand der ahd. Glossen ist noch nicht im Einzelnen untersucht. Aufgrund der Provenienz der Hss. zeichnet sich jedoch eine bair.-alem. Dominanz ab. 4. Literatur: V. Bok, Zur Bestimmung der ahd. Glossen im Fragment des Salomonischen Glossars der Klosterbibliothek von Hohenfurt, Germanistica Pragensia 8 (1980) S. 23-29; C. F. Bühler, Remarks on the Printing of the Augsburg Edition (c. 1474) of Bishop Salomo’s Glossae, in: H. Lehmann-Haupt (Hg.), Hommage to a Bookman. Essays on Manuscripts, Books and Printing, written for H. P. Kraus, Berlin 1967, S. 133-135; E. S. Firchow – W. Winter, The Kansas Old High German Glosses, ABÄG 25 (1986), S. 1-27; G. Goetz, Der Liber Glossarum, SB Leipzig 13 (1893) S. 213-289; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 239f.; N. Henkel, Althochdeutsches im 15. Jahrhundert. Die ‘Glossae Salomonis’ der Augsburger Inkunabel HC 14134, Gutenberg-Jahrbuch 2006, S. 156-167; A. Kocher (s.o. Ausgaben); M. Manitius, Gesch. d. lat. Lit., I, S. 594-598; W. M. Lindsay, Glossaria Latina, I, Paris 1926; J. R. McGeachy, The Glossarium Salomonis and its Relationship to the Liber Glossarum, Speculum 13 (1938) S. 309-318; B. Meineke, Zu einem Münchener Fragment der sogenannten Glossae Salomonis, Sprachwissenschaft 15 (1990) S. 226-233 (zu Clm 29660,2); B. Meineke, Althochdeutsches aus dem 15. Jahrhundert, StA 16, Göttingen 1990 (zu Lilienfeld 228); B. Meineke, glose sub iussu salomonis ... sub breuitate collecte, Sprachwissenschaft 16 (1991) S. 459-469; B. Meineke, Zu einer Edition der sogenannten Glossae Salomonis, in: Probleme der Edition ahd. Texte, S. 18-37; B. Meineke, Die Glossae Salomonis, in: BStH I, S. 829-858; B. Ryba (s.o. Ausgaben); R. Schmidt, Reichenau und St. Gallen. Ihre literarische Überlieferung zur Zeit des Klosterhumanismus in St. Ulrich und Afra zu Augsburg um 1500, Vorträge

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‘Samanunga worto’

und Forschungen, Sonderband 33, Sigmaringen 1985, S. 89-92; R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 42f.; H. Thoma (s.o. Ausgaben).

HANS ULRICH SCHMID

‘Salzburger Bienensegen’ Überlieferung: Salzburg, BEA a VII 3, f. 222v. Die um 800 entstandene Handschrift wurde 1982 als Glossenhandschrift bekannt gemacht und im Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften (Nr. 845c) behandelt. Sie enthält aber keine Glossen im engeren Sinne, sondern einen im 10. oder frühen 11. Jh. eingetragenen, 11 Zeilen umfassenden lat. Bienensegen, in dessen Text drei ahd. Wörter integriert sind. R. Schützeichel hat den Text ab der 6. Auflage im ‘Althochdeutschen Wörterbuch’ (Sigle SS.) ausgewertet. Edition und Literatur: B. Bischoff, Anecdota nov., S. 259f.; BStK-Nr. 845c; PadRep; SchW S. 17.

ROLF BERGMANN

‘Samanunga worto’ 1. Überlieferung: Wien, ÖNB cod. 162, f. 10ra-43rb (R bzw. RĮ); Faksimile der ganzen Hs. in Unterkircher, 1960. – Drei Fragmente: Wien, ÖNB cod. 482, f. 87r (Rȕ); München, BSB Cgm 5153a (losgelöstes Doppelblatt aus dem Rückendeckel von clm 14429) (RȖ); München, BSB cbm Cat 14/3, S. 1805f. (Rį); verkleinerte Ablichtungen bei J. Splett, 1979, S. 311-315. R ist nach B. Bischoff von einem in Freising geschulten Schreiber in Regensburg unter Bischof Baturich um 820-830 geschrieben und von mehreren Händen – darunter der Regensburger Diakon Ellenhart – durchkorrigiert. Rȕ, das den Anfang der ‘Samanunga worto’ (‘S.’) überliefert, ist um 800 auf der Reichenau am Ende einer Fredegar-Hs. eingetragen. RȖ stammt wie R aus St. Emmeram/Regensburg, ist kurz vor Amtsantritt Baturichs (817) niedergeschrieben und überliefert Teile aus dem Buchstaben I. Das nur in einer Abschrift Coleman Sanftls in dessen Katalog der St. Emmeramer Hss. (v. J. 1809) erhaltene Rį, das Teile aus dem Buchstaben S überliefert, beruht vermutlich auf der durch RȖ repräsentierten Hs. Der Sprachstand aller Hss. ist bair. Nicht zur ‘S.’-Überlieferung im engeren Sinne zählen die von G. Baesecke angeführten Textzeugen: Karlsruhe, BLB cod. Aug. IC, f. 102ra-140vb; Oxford, BodlL, Jun. 25, f. 88vb-106va u. f. 118ra-121vd; München, BSB clm 19410, S. 36f. 2. Ausgaben: J. G. von Eckhart, Commentarii, S. 950-976 (dazu Berichtigungen: E. G. Graff, Diutiska III, S. 192-195) (R); E. G. Graff, Diutiska II, S. 373f. (Rȕ); maßgebliche Edition parallel zum Ú ‘Abrogans’ ist die Ausgabe von E. Steinmeyer und E. Sievers (StSG I, S. 1-270, dazu Berichtigungen: StSG V, S. 87f.; J. Splett, 1979, S. 10-17).

‘Samanunga worto’

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3. Verhältnis zum zugrunde liegenden ‘Abrogans’-Glossar: Den Namen dieses Glossars hat G. Baesecke nach der in R überlieferten Überschrift samanunga uuorto fona deru niuuiun anti deru altun euu neu eingeführt für den alten Namen ‘Hrabanisches Glossar’, der auf einem erst aus der Humanistenzeit stammenden unzutreffenden Zusatz in derselben Hs. (B. Bischoff, 1974, S. 210) beruhte. Die ‘S.’, deren Archetypus man um 790 in Regensburg ansetzt, ist eine stark kürzende, teilweise bessernde Bearbeitung des lat.-ahd. Ú ‘Abrogans’. Die genaue Einordnung in das in vielen Punkten umstrittene Stemma der ‘Abrogans’-Hss. (G. Baesecke, S. 77; J. Splett, 1990, S. 241) ist schwierig. Feststeht, dass sie vor der gemeinsamen Vorstufe der St. Galler (K) und der Karlsruher ‘Abrogans’-Hs. (Ra) einzureihen ist. Der Schwerpunkt der Bearbeitung liegt bei der Ersetzung der überkommenen ahd. Glossierung; die beiden Glossaren gemeinsamen Übersetzungsgleichungen machen nur noch knapp ein Drittel des ahd. ‘S.’-Wortschatzes aus. Auf der ersten Stufe (R und Rȕ) sind vor allem zahlreiche lat. Interpretamente mit den ahd. Glossierungen bzw. auch nur ihre ahd. Glossierungen ausgelassen, auf einer zweiten Stufe (RȖ, Rį) die lat. Interpretamente mit ihren Glossierungen in das Abc der Lemmata eingereiht worden. Der Weg führt also zu einem die ahd. Komponente stark zurückdrängenden – rund ein Drittel der ‘S.’ in R ist lat.-lat. –, strikt alphabetischen Wörterbuch. 4. Zweckbestimmung: Die Zweckbestimmung des zugrunde liegenden ‘Abrogans’ als ‘sekundäres’ Bibelglossar (vgl. J. Splett, 1985) dürfte auch für die ‘S.’ gelten, zumal die auf die Bibel bezogenen Überschriften im Zuge der Bearbeitung nicht getilgt worden sind. 5. Wortschatz: Die ‘S.’ überliefert 1.453 ahd. Wörter in 2.199 Belegen. Davon sind 710 ahd. Wörter in 924 Belegen nicht im ‘Abrogans’ überliefert. Vgl. den vollständigen ahd.-lat.-nhd. und den lat.-ahd. Wortindex bei J. Splett, 1979, S. 152-258 bzw. S. 259-309, mit den entsprechenden Markierungen. 6. Literatur: J. G. von Eckhart, Commentarii; K. Heinemann, Über das Hrabanische glossar, 1881; L. Wüllner, Das Hrabanische Glossar u. die ältesten bair. Sprachdenkm. Eine gramm. Abh., 1882; G. Baesecke, PBB 46 (1922) S. 431-494, (= G. Baesecke, Kleinere Schriften, S. 38-85); F. Unterkircher (Hg.), Notitiae Regionum Urbis Romae et Urbis Constantinopolitanae / Glossarium Latino-Theotiscum. Cod. Vindob. 162, Umbrae Codicum Occidentalium 2, Amsterdam 1960; B. Bischoff, Die südostdt. Schreibschulen, I; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134) (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud. III, S. 73-111); J. Splett, Zur ‘Samanunga uuorto’, in: ‘Sagen mit sinne’. FS Marie-Luise Dittrich, S. 401-410; J. Splett, Samanunga-Studien, 1979 (Bibliogr. S. IX-XXIV); J. Splett, Zur Frage der Zweckbestimmung des Abrogans, in: Collectanea Philologica. FS Helmut Gipper, II, 1985, S. 725-735; J. Splett, Der Abrogans und das Einsetzen althochdeutscher Schriftlichkeit im 8. Jahrhundert, in: Typen der Ethnogenese, 1990, S.235-241. Vgl. auch die Lit. im Art. Ú ‘Abrogans’. Letzte

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‘Schlettstädter Glossar’

zusammenfassende Darstellung des Forschungsstandes: J. Splett, Das ‘Samanunga’-Glossar, in: BStH, S. 742-748.

JOCHEN SPLETT

‘Schlettstädter Glossar’ Das zwischen 1118 und 1130 (J. Fasbender, S. 11) niedergeschrieben lat.-ahd. Glossar geht auf ältere, teilweise bis ins frühe 9. Jh. zurückreichende Vorlagen zurück und verarbeitet Wortmaterial verschiedener lat. Autoren und Werke. Die Niederschrift erfolgte vermutlich in einem südschwäbischen Kloster (J. Fasbender, S. 19). 1. Überlieferung und Ausgaben: Schlettstadt, BH Ms. 7 (BStK-Nr. 849). – W. Wackernagel, Die Schlettstädter Glossen, ZDA 5 (1845) S. 318-368; StSG IV, S. 612-614 (Edition hier jedoch nicht geschlossen, sondern nach Maßgabe der glossierten Werke verteilt auf die einzelnen Bände); J. Fasbender (S. 205-223) (nur die lat. Glossen des alphabetischen Vergilvokabulars); O. B. Schlutter, Weitere Nachträge zu den ahd. Glossen, JEGPh 20 (1921) S. 385-390; Mittelalterliche Schatzverzeichnisse I, hg. v. Zentralinstitut für Kunstgeschichte in Zusammenarbeit mit B. Bischoff, 1967, S. 154-156 (auf der Grundlage von StSG III, S. 653-656). 2. Inhalt: Die Hs. enthält zunächst sporadisch interlinear glossierte lat. Texte unterschiedlichen geographischen und historischen Inhalts, sodann Glossen zu Arator, ein ungeordnetes und ein alphabetisches Vergilossar, Einhards ahd. Monats- und Windnamen, Glossen zum Lukas-Evangelium, den ‘Vitaspatrum’, christlichen antiken und frühmittelalterlichen Autoren (Eusebius, Hieronymus, Cassian, Fulgentius, Orosius, Gregor, Beda), zu Lucan, den Canones, ferner mehrere alphabetisch und sachlich geordnete Glossare; vgl. StSG IV, S. 612-614. 3. Sprache: In sprachlicher Hinsicht bietet das ‘Schlettstädter Glossar’ ein „ziemlich buntes Gemisch verschiedener Dialekte“ (C. Wesle, S. 161), dessen Ursache die unterschiedliche Herkunft der Glossen ist. Dialektbestimmungen sind problematisch, da mit Zwischenstufen (frk., bair.) zu rechnen ist. Der Dialekt des letzten Redaktors ist alem. – J. Fasbender (S. 130-203) und C. Wesle (S. 36-160) sind den Beziehungen zu älteren Glossaren nachgegangen. Die Tatsache, dass mit Überlieferungslücken zu rechnen ist, setzt einer Klärung der Verwandtschaftsverhältnisse jedoch Grenzen. 4. Literatur: BStK-Nr. 849; J. Fasbender, Die Schlettstadter Vergilglossen und ihre Verwandten, Straßburg 1908; C. Wesle, Die ahd. Gll.; K. Siewert, Die ahd. Horazglossierung.

HANS ULRICH SCHMID

Sedulius-Glossierung

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‘Schöpfungshymnus, Wessobrunner’ Ú ‘Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet’ ‘Schreibervers, St. Galler’ Ú ‘St. Galler Schreibervers’ ‘Schularbeit, St. Galler’ Ú ‘St. Galler Schularbeit’ Sedulius, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Sedulius, aus Südgallien oder Italien stammend; weder Vorname (Caelius) noch genaue Lebensdaten gesichert bekannt (unter den Kaisern Theodosius II., 408-450, und Valentinian III., 424-455); Studium der Philosophie; Übertritt in den geistlichen Stand. Sedulius’ Werk umfasst das Carmen paschale in Hexametern, in dem die Wunder des AT (1. Buch) und des NT (2.-5. Buch) dargestellt sind, eine Prosafassung desselben mit dem Titel Opus paschale sowie zwei Hymnen (Hymnus I = Elegie, Hymnus II: Abecedarius). Das Widmungsschreiben des Carmen paschale an den Auftraggeber, den Presbyter Macedonius, lässt vermuten, dass Sedulius zu dieser Zeit schon Geistlicher war. Schon bei Venantius Fortunatus (ca. 540600) gehört Sedulius zum festen Kreis der Bibelepiker. Seit der karolingischen Zeit gehört das Carmen paschale, das zumeist zusammen mit Hymnus I überliefert ist (so auch in der Antwerpener Hs. M. 17.4 (BStK-Nr. 11) zum Kanon des klösterlichen Unterrichts. Eine dt. Übersetzung bieten die Bruchstücke einer um 1200 geschriebenen md. Interlinearversion im Codex Ms. Theol. 4º 5 der Ratsbücherei Lüneburg aus dem 15. Jh. (s. Handschriftencensus). Literatur: G. Glauche, Schullektüre im MA; Handschriftencensus; C. Jeudy, in: LexMa VII, Sp. 1666f.; J. Schwind, in: Der Neue Pauly, XI, Sp. 319-320; Carl P. E. Springer, The Manuscripts of Sedulius. A Provisional Handlist, Transactions of the American Philosophical Society 85, 5, Philadelphia 1995; M. Stähli, Sedulius: Carmen paschale – Bruchstücke einer frühen deutschen Interlinearversion, ZDA 114 (1985) S. 330-337; F. J. Worstbrock – B. Wachinger, in: 2VL XI, Sp. 1408-1413. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Antwerpen, Museum Plantin-Moretus M 17.4 (früher 126) (BStK-Nr. 11): 56 Interlinear- und 4 Marginalgll. in Textglossierung zu Carmen paschale; mfrk., nicht vor dem letzten Drittel des 9. Jh.s. – Ed. StSG II, S. 616f. (Nr. DCCCXXXIX); Neuedition mit Nachträgen und Berichtigungen bei P. Pauly, Die althochdeutschen Glossen der Handschriften Pommersfelden 2671 und Antwerpen 17.4. Untersuchungen zu ihrem Lautstand, Rheinisches Archiv 67, Bonn 1968, S. 116-140. – 2. St. Gallen, StB 242 (BStK-Nr. 208): 3 Interlineargll. in Textglossierung zu Carmen paschale; alem., 10. Jh. – Ed. H. Hattemer, Denkmahle, I, S. 279-282; Neuedition mit Korrekturen bei StSG II, S. 622 (Nr. DCCCL). – 3. St. Gallen, StB 292 (BStK-Nr. 221): 24 Gll. im Kontext des Textglossars zu Carmen paschale, davon 15 interlinear stehend, 9 im fortlaufenden Glos-

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Sedulius-Glossierung

sartext; alem.-frk., 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 619, Nr. DCCCXLII; Neuedition mit Ergänzung von C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberl., S. 172-181. – 4. Gotha, FB M I 75 (BStKNr. 267b): 1 vereinzelte Interlineargl. in Textglossierung zu Carmen paschale; Sprache unbestimmt (Hs. wohl Murbach), wohl 9. Jh. – Ed. Bruno Krusch, Über eine Handschrift des Victurius, NA 9 (1884) S. 271-281, S. 272. – 5. Karlsruhe, BLB Aug. CCXVII [f. 1-67] (BStK-Nr. 312 I): 18 Interlinear- und 10 Marginalgll. in Textglossierung zu Carmen paschale; alem., 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 620f. (Nr. DCCCXLV). – 6. Karlsruhe, BLB Aug. CCXVII [f. 68-169] (BStK-Nr. 312 II): 19 Interlinear- und 1 Marginalgll. in Textglossierung zu Carmen paschale; alem., 9. und 10. Jh. – Ed. StSG II, S. 618 (Nr. DCCCXLI). – 7. Karlsruhe, BLB St. Peter perg. 87 (BStK-Nr. 324): 26 Gll. im Kontext des Textglossars zu Carmen paschale, davon 25 interlinear, 1 im fortlaufenden Glossartext stehend; obd.-alem. mit wenigen, nicht obd., wohl frk., Merkmalen, 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 619 (Nr. DCCCXLII); Neuedition von C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberl., S. 172-181. – 8. Köln, HA Hss-Fragm. A 13 (BStK-Nr. 345c): 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Carmen paschale; ahd., rib. nicht ausgeschlossen, undatiert (Hs. 10./11. Jh.). – Ed. K. Siewert, Glossenfunde, S. 53f. – 9. München, BSB Clm 14569 (BStK-Nr. 599): 8 Interlineargll. in Textglossierung zu Carmen paschale; Sprache unbestimmt, undatiert (Hs. 11. Jh.). – Ed. StSG II, S. 621 (Nr. DCCCXLVIII). – 10. München, BSB Clm 14693 [f. 57-117] (BStK-Nr. 605 II): 2 Interlineargll. in Textglossierung zu Carmen paschale; Sprache unbestimmt, undatiert (Hs. 11. Jh.). – Ed. StSG II, S. 622 (Nr. DCCCLII). – 11. München, BSB Clm 18628 (BStK-Nr. 654): 42 Interlinear- und 7 Marginalgll. in Textglossierung zu Opus paschale; bair., 2. Viertel o. Mitte 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 617f. (Nr. DCCCXL). – 12. München, BSB Clm 19455 (BStK-Nr. 670): 3 Interlineargll. in Textglossierung zu Carmen paschale; Sprache unbestimmt, wohl 12. Jh. – Ed. StSG V, S. 32 (Nr. DCCCXLa). – 13. Oxford, BodlL Jun. 25 [f. 158-193] (BStK-Nr. 725 IV): 28 Interlineargll. im Kontext des Textglossars zu Carmen paschale; alem.(-frk.), 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 619f. (Nr. DCCCXLIII). – 14. Pommersfelden, Graf von Schönbornsche SchlossB 12 (2671) (BStK-Nr. 781): 127 Interlinear- und 2 Marginalgll. in Textglossierung zu Carmen paschale; mfrk., 12. Jh. – Ed. StSG II, S. 614-616 (Nr. DCCCXXXVIII), Neuedition mit Korrekturen und Nachträgen bei P. Pauly, S. 57-79. – 15. Trier, BPS Hs 61 (früher R. III. 13) (BStK-Nr. 877): 5 Interlineargll. in Textglossierung zu Carmen paschale; mfrk., 1. Drittel 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 624 (Nr. DCCCLIV); Korrekturen, Nachträge sowie vollständige Edition der ahd. und lat. Glossen bei P. Katara, Die Glossen des Cod. Sem. Trev., S. 81-224, dazu: O. B. Schlutter, Zu den althochdeutschen Glossen, ZDW 14 (19121913) S. 173-190, S. 174-189. – 16. Wien, ÖNB Cod. 246 (BStK-Nr. 900): 2 Interlineargll. in Textglossierung zu Carmen paschale; Sprache unbestimmt, undatiert (Hs. 12. Jh.). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 145. – 17. Wien, ÖNB Cod. 307 (BStK-Nr. 906): 10 Interlineargll. und 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Carmen paschale; Sprache unbestimmt, undatiert (Hs. 11. Jh.). – Ed. StSG II, S. 621 (Nr. DCCCXLVI). – 18. Wien, ÖNB Cod. 2171 (BStK-Nr. 942): 17 Gll. im Kontext des Textglossars zu Carmen paschale; Sprache unbestimmt (Hs. süddeutscher Raum), 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 620 (Nr. DCCCXLIV). – 19. Zürich, ZB Ms. C 68 (BStK-Nr. 1003): 1 Interlineargl. in Textglossierung von Carmen paschale; Sprache unbestimmt, undatiert (Hs. 9. Jh.). – Ed. StSG II, S. 622 (Nr. DCCCLI).

Sedulius-Glossierung

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3. Glossographische Aspekte: Volkssprachige Seduliusglossen sind mit insgesamt 417 Gll. in 19 Hss. überliefert. Für 6 Hss. ist unklar, wann die ahd. Glossen eingetragen worden sind (4 der Hss. sind im 10./11. bzw. 11. Jh. geschrieben worden), bei 7 sind die Glossen räumlich nicht verortet. – Eine exemplarische Beschreibung für Probleme bei der zeitlichen und räumlichen Zuweisung für das Fragment A 13 des Kölner Historischen Archivs bei R. Bergmann, Kölner Glossenhandschriften, in: BStH II, S. 1245-1256, S. 1255. Die Werktextglossierung zeigt mit 5 Hss. einen Schwerpunkt im 9. Jh., und auch zwei der Textglossare stammen aus dem 9. Jh. (BStK-Nr. 725 IV, 942). Die GlossenÜberlieferung ist mit je 2 Hss. im 11. und 12. Jh. für die Werktextglossierung als kontinuierlich zu bewerten; die beiden weiteren Glossare stammen aus dem 11. Jh. Bezüglich der räumlichen Zuordnung zeigen sich mit je 3 Hss. Schwerpunkte im alem. und im mfrk. Raum. Für die Glossen je einer Hs. ist hd. (rib.?) bzw. bair. Lautstand feststellbar. Zwei Textglossare (BStK-Nr. 221, 725 IV) zeigen alem.-frk. Merkmale, eines (BStK-Nr. 324) zeigt bei obd.-alem. Lautstand auch as. Merkmale. Die Hss. sind in unterschiedlicher Dichte auch lat. glossiert, wenig beispielsweise in den beiden ehemals selbständigen Teilen der Karlsruher Handschrift Aug. CCXVII (BStK-Nr. 312 I und II), die neben Sedulius auch Juvencus tradieren, gar nicht in der Hs. München, Clm 14693 [f. 57-117] (BStK-Nr. 605 II). Bei nur 3 bzw. nur 1 dt. Glosse findet sich eine dichte lat. Glossierung in Codex St. Gallen 242 (BStK-Nr. 208) und im Fragment A 13 des Historischen Archivs Köln (BStK-Nr. 345c), aber auch die Hss. München, Clm 14569 (BStK-Nr. 599) und Pommersfelden 12 (2671) (BStK-Nr. 781) sind durchgehend lat. glossiert, was auf eine intensive Textarbeit weist. Fünf der Sedulius überliefernden Codices enthalten Glossen in bfk-Geheimschrift: Karlsruhe, Aug. CCXVII [f. 1-67] und [f. 68-169] (BStK-Nr. 312 I und II), Karlsruhe, St. Peter perg. 87 (BStK-Nr. 324), München, Clm 14569 (BStK-Nr. 599) und Wien, Cod. 307 (BStK-Nr. 906). Textglossierung: Zur Werktextglossierung des Sedulius sind insgesamt 322 Gll. bekannt. Glossiert sind das Carmen paschale in 14 Handschriften mit 273 Gll. (85%) und die spätere Prosafassung, das Opus paschale, in einer Handschrift mit 49 Gll. (15%). Textglossar: Glossare gibt es nur zum Carmen paschale (BStK-Nr. 221, 324, 725 IV, 942); alle 4 finden sich in Hss., die (viele) weitere Textglossare überliefern. Zusammen überliefern sie mit 95 Gll. knapp 23% aller dt. Sedulius-Glossen. Eine deutliche, aber nicht unmittelbare Abhängigkeit gibt es zwischen BStK-Nr. 221 und BStK-Nr. 324.

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Sedulius Scottus-Glossierung

Eine autorbezogene Untersuchung der Sedulius-Glossen steht noch aus. Einem Hinweis auf Glossen in der Hs. Prag MS XXIII F 137 aus dem 12. Jh. (BStK-Nr. 787b) auf f. 7v bei F. J. Worstbrock, in: 2VL. XI, Sp. 1411, ist bisher nicht nachgegangen worden. 4. Umfang und Bedeutung: In der Rangfolge der spätantiken Autoren (s. auch BStH I, S. 90) nimmt Sedulius mit 2,6% den vierten Platz ein, wobei die Prozentzahlen der vorausgehenden Autoren Ú Prudentius, Ú Boethius und Ú Arator (deutlich) höher sind, 74,1%, 9,8% bzw. 9,1%. Im Kontext der Glossierung nichtbiblischer Texte liegt Sedulius mit einem Glossenanteil von 0,69% auf Rang 20 (zum Vergleich: 1. Ú Gregor der Große, 23,1%; 2. Prudentius, 20,0%; 3. Ú Vergil, 11,0%). 5. Literatur: BStK-Nr. 11, 208, 221, 267b, 312 (I), 312 (II), 324, 345c, 599, 605 (II), 654, 670, 725 (IV), 781, 877, 900, 906, 942, 1003; StSG II, S. 614-622; StSG V, S. 32; R. Bergmann, in: BStH I, S. 90, 119; K. Siewert, Glossenfunde; C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberl., S. 289f.

CLAUDIA WICH-REIF

Sedulius Scottus, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Sedulius Scottus (9. Jh.); Beiname nach seiner Heimat Irland, die er Mitte des 9. Jh.s Richtung Lüttich verlässt; Wirken unter Bischof Hartgar (840-855); um 850 Aufenthalte in Köln und Metz. Als Dichter und Grammatiker ist Sedulius Scottus um den Zeitraum von 840 bis 870 tätig. Bekanntheit haben die folgenden Werke erlangt: der Fürstenspiegel Liber de rectoribus christianis, der Kommentar Collectaneum in apostolum zu den Paulusbriefen und etwa 80 Gedichte. Ferner verfasste Sedulius Scottus Kommentare zum Matthäus-Evangelium, zu den Grammatiken von Priscian, von Donat und von Eutyches sowie eine als Collectaneum bezeichnete Exzerptensammlung, der 73 Sentenzen (Proverbia Grecorum) vorangestellt sind. Literatur: F. Brunhölzl, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, I, München 1975, S. 449-467; R. Düchting, Sedulius Scottus. Seine Dichtungen, München 1968; R. Düchting, in: LexMA VII, Sp. 1667f.; P. Redmond, Das „Sedulius De Greca“-Glossar in den Handschriften St. Gallen Stiftsbibliothek 291 und Karlsruhe, Badische Landesbibliothek St. Peter perg. 87, Germanistische Bibliothek 42, Heidelberg 2012. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. St. Gallen, StB 292 (BStK-Nr. 221): 41 Interlinear- und 16 im fortlaufenden Glossartext stehende Glossen im Kontext des Textglossars ‘De Greca’; alem.-frk., 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 623f. (Nr. DCCCLIII); Neuedition von P. Redmond, S. 41-165. – 2. Karlsruhe, BLB St. Peter perg. 87 (BStK-Nr. 324): 29 Interlineargll. im Kontext des Textglossars ‘De Greca’; obd.-alem. mit wenigen, nicht obd., wohl

Sedulius Scottus-Glossierung

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frk., Merkmalen, 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 623f. (Nr. DCCCLIII); Neuedition von P. Redmond, S. 41-165. – 3. München, BSB Clm 6238 (BStK-Nr. 507): 1 Interlineargl. in Textglossierung von Collectaneum in epistolas Pauli; Sprache unbestimmt, um 900. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 71. – 4. Rom, BAV Pal. lat. 242 (BStK-Nr. 795): 35 Gll. im Kontext von Textkommentaren: 21 Interlinear-, 8 Marginal- und 5 im fortlaufenden Text stehende Glossen zu Explanationes in Praefationes Sancti Hieronymi ad Evangelia; 1 Marginalgl. zu Expositiuncula in Argumenta secundum Marcum; alem., Ende 10. Jh. – Ed. StSG I, S. 719f. (Nr. CCCLXIX); Neuedition und Ergänzung bei StSG IV, S. 293f. (Nr. CCCLXIX Nachtr.), S. 295 (Nr. CCCLXXVIIIa Nachtr.); Berichtigungen hierzu sowie ein Nachtrag bei H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 242; neue Gesamtedition bei A. Schlechter, S. 186-204.

3. Glossographische Aspekte: Die insgesamt 123 dt. Gll. umfassende Überlieferung zu Sedulius Scottus in vier Codices ist heterogen. 86 Gll. sind in miteinander in Beziehung stehenden Glossaren in zwei Codices ohne direkten Überlieferungszusammenhang überliefert (St. Gallen 292, BStK-Nr. 221 und Karlsruhe St. Peter perg. 87, BStK-Nr. 324). In St. Peter perg. 87 stehen die Artikel unter der Überschrift SEDVLIVS DE GRECA ·, sodass die Glossare, Steinmeyer folgend, Sedulius Scottus zugewiesen wurden: „gemeint kann dem charakter der lat. worte nach nur Sedulius Scotus sein.“ (StSG II, S. 623, Anm. 1). Bis heute (jüngst P. Redmond) konnte die Einordnung als Textglossar nicht von der Hand gewiesen, aber auch nicht bestätigt werden. Weiter sind 1 Interlineargl. zu dem Kommentar Collectaneum in epistolas Pauli (München, Clm 6238, BStK-Nr. 507) und 35 Gll. im Rahmen der Explanationes in Praefationes Sancti Hieronymi ad Evangelia sowie 1 Gl. zu Expositiuncula in Argumenta secundum Marcum (Rom, Pal. lat. 242, BStK-Nr. 795) überliefert. Die Glossen der Glossare sind im 11. Jh. als Bestandteile umfangreicher Textglossarhss. eingetragen, die Interlinearglosse im Codex München, Clm 6238 (BStK-Nr. 507) ist um 900 datiert, der Codex Rom, Pal. lat. 242 (BStK-Nr. 795) in das Ende des 10. Jh.s. Während die Sprache der Münchener Glosse nicht bestimmt ist, weisen die anderen Glossen in den alem.-frk. (St. Gallen 292) bzw. in den alem. (Rom, Pal. lat. 242) Raum. Die Glossen der Hs. Karlsruhe, St. Peter perg. 87 zeigen obd.-alem. mit wenigen wohl frk. Merkmalen. 4. Umfang und Bedeutung: Die wenig umfangreiche, in nur 4 Codices überlieferte Sedulius Scottus-Glossierung spiegelt die Vielfalt der Werke des Autors wider, zeugt aber auch davon, dass er eher als Dokumentator und Kommentator und nicht als Literat tätig war. In der Rangfolge nichtbiblischer Texte steht Sedulius Scottus auf Platz 37 (0,20%). Die Zuweisung dieses Status erlaubt allein die rätselhafte TextglossarÜberlieferung. 5. Literatur: BStK-Nr. 221, 324, 507, 795; StSG I, S. 719f.; 623f.; StSG II, S. 623f.; StSG IV, S. 293-295; R. Bergmann, in: BStH I, S. 90, 119; H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 71; P. Redmond, Das „Sedulius De Greca“-Glossar; H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 242; A.

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‘Sigiharts Gebete’

Schlechter, Die althochdeutschen Sedulius-Scottus-Glossen der Frankenthaler Handschrift Vat. Pal. Lat. 242. Mit Anhang, I. Der anonyme Wortkommentar zu Sciendium etiam, II. Überblick über die römischen Palatinahandschriften mit althochdeutschen Glossen, in: Miscellanea Bibliothecae Apostolicae Vaticanae, S. 175-235, S. 186-204; C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberl.

CLAUDIA WICH-REIF

Segen Ú ‘Admonter Segen’, ‘Contra Malum Malannum’, ‘Engelberger Drei-Engel-Segen’, ‘Lorscher Bienensegen’, ‘Pro nessia’, ‘Salzburger Bienensegen’, ‘Trierer Blutsegen’, ‘Trierer Pferdesegen’, ‘Wiener altsächsischer Segen’, ‘Wiener Hundesegen’, ‘Zürcher Blutsegen’, ‘Zürcher Hausbesegnung’ ‘Sigiharts Gebete’ 1. Überlieferung: München, BSB Cgm 14, f. 125r. Aus Freising stammende, gemäß dem Subskript (Waldo episcopus istud euangelium fieri iussit. Ego sigihardus indignus presbiter scripsi) hier wohl zwischen 902 und 906 geschriebene Hs. F des ‘Evangelienbuches’ Ú Otfrids von Weißenburg. Auf den Schlussvers der abgeschriebenen Dichtung (V. 25,104) zunächst nach einzeiligem Spatium: Tu autem domine miserere nobis. Domine iubenedicere [= iube benedicere]. AMEN; hierauf nach gleich großem Spatium von anderer Hand, aber in gleicher Aufmachung wie der Haupttext, die beiden ahd. ‘Gebete’ (‘S. G.’) auf 4 Zeilen. 2. Ausgaben: W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Leseb., Nr. XXXVII,2; H. Mettke, Altdt. Texte, S. 68; MSD Nr. XV, I, S. 34, II, S. 90; St. Müller, Ahd. Lit., S. 194f. (mit Übers.); K. Pivernetz, Otfrid, I; H. D. Schlosser, Ahd. Lit., S. 148f. (mit Übers.); E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XX, S. 102. – Faksimile in: M. Enneccerus, Die ältesten dt. Sprach-Denkm., Tafel 44; Friedrich Maurer, Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts nach ihren Formen besprochen und herausgegeben, I, Tübingen 1964, Abb. 1 (nach S. 8); E. Petzet – O. Glauning, Dt. Schrifttafeln, Tafel VIII; K. Pivernetz, Otfrid, II, S. 134; vgl. PadRep.

3. Verfasserschaft und Funktion: Es war lange herrschende Ansicht, dass diese in otfridscher Manier abgefassten endreimenden Verse konventionelle Schlussformeln des im Subskript genannten Schreibers Sigihart seien. Doch ‘S. G.’ stammen von einer anderen Hand als der Otfrid-Text und die lat. Schreibernotiz. W. Milde hat unter Rückgriff auf eine Vermutung von B. Bischoff (S. 105) mithilfe paläographischer Analysen nachgewiesen, dass u. a. das Minuskel-e in ‘S. G.’ mit den eFormen des Otfridtextes nicht identisch ist. Eine Verfasserschaft Sigiharts ist daher auszuschließen (vgl. K. Pivernetz, Otfrid, II, S. 124f.). Im Übrigen zeigt der voraufgehende lat. Text an, in welchen Zusammenhang ‘S. G.’ gehören: Im (monastischen) Officium folgte bei den nächtlichen Lesungen im frk. FrühMA auf das Versikel Jube,

Smaragdus-Glossierung

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domine, benedicere die Benediktion, d. h. der Lesersegen, darauf die Lesung, die ihrerseits mit einem Versiculum, meist mit Tu autem, domine, miserere nobis, beendet wurde. ‘S. G.’ sind Umsetzungen solcher in mannigfacher Variation überlieferten Benediktionen. Dementsprechend hat man die (lat. u. dt.) Eintragungen am Ende der Freisinger Otfrid-Hs. als ein Gebrauchsschema für die Lesung der einzelnen Kapitel von Otfrids Dichtung zu verstehen, wobei ‘S. G.’ keine Schlussformeln sind, sondern wahrscheinlich in alternativer Verwendung als ‘Benedictio’ der Lesung vorausgehen sollen (vgl. Chr. Wells, S. 168). Insofern sind ‘S. G.’ über ihre sprach- und vershistorische Bedeutung hinaus ein wichtiges Zeugnis für die monastische Rezeption und den paraliturgischen Vortrag von Otfrids ‘Evangelienbuch’ (vgl. F. Ohly, S. 28). „Inspiriert wurde der Schreiber wohl von der ... lat. Zeile (mit jüngerer e-Form), die er in die neue gereimte deutsche Form brachte, die mit Otfrids Text Einzug ins Kloster hielt“. (St. Müller, S. 358f.). 4. Literatur: S. Bäumer, Geschichte des Breviers. Versuch einer quellenmässigen Darstellung der Entwicklung des altkirchlichen und des römischen Officiums bis auf unsere Tage, Freiburg i. Br. 1895, bes. S. 268-270; B. Bischoff, Die südostdt. Schreibschulen, I, S. 129f.; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 101-134; H. de Boor, Die dt. Lit., S. 85; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 180, 216; W. Kleiber – E. Hellgardt, Otfrid, I/2, S. 10f.; R. Kögel, Gesch. d. dt. Litt., I,2, S. 111; H. Kuhn, Gattungsprobleme der mittelhochdeutschen Literatur, in: H. Kuhn, Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 1959, S. 251, Anm. 3 (zu S. 43); A. Masser, Der handschriftliche Befund und seine literarhistorische Auswertung, in: Probleme der Edition ahd. Texte, S. 124-134; W. Milde, Das ahd. ‘Gebet des Sigihard’ und sein Schreiber. Eine paläographische Studie, in: Septuaginta quinque. FS Heinz Mettke, S. 285-293; St. Müller, Ahd. Lit., S. 358f.; F. Ohly, Zum Dichtungsschluss Tu autem, domine, miserere nobis, DVJS 47 (1973) S. 26-67; K. Pivernetz, Otfrid, II, S. 124f.; H. Reifenberg, Stundengebet und Breviere im Bistum Mainz seit der romanischen Epoche, Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, Heft 40 / Veröffentlichungen des Abt-Herwegen-Instituts, Maria Laach, Münster 1964, S. 60, Anm. 395, 62f.; Chr. Wells, in: German Literature, S. 168. ACHIM MASSER – HEIKO HARTMANN

Smaragdus von St. Mihiel, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Smaragdus von St. Mihiel († um 825), Abt von St. Mihiel an der Maas, verfasste u.a. einen Kommentar zur Regula S. Benedicti, einen Liber in partibus Donati, einen Fürstenspiegel sowie die Expositio libri comitis. Liber comitis oder auch Comes wurde ein Verzeichnis der Evangelien- und Epistel-Perikopen genannt, dann auch das mit den Perikopentexten ausgestattete Lektionar (= Epistolar und Evangelistar). Smaragdus kompilierte dazu aus patristischen Quellen ein Homiliar. Nur zu diesem Liber comitis sind ahd. Glossen überliefert.

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Smaragdus-Glossierung

Literatur: J. H. Emminghaus, in LexMA III, Sp. 76; D. Misonne, in: LThK IX, Sp. 836f.; F. Rädle, in: LexMA VII, Sp. 2011f. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Einsiedeln, StB cod 39 (480) (BStK-Nr. 114): 2 Interlineargll. in Textglossierung; Sprache unbestimmt, 9.-10. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 27. – 2. Melk, StB Unsigniert unauffindbar (BStK-Nr. 435): 18 Kontextgll. in alphabetischem Textglossar; bair., 9. Jh.– Ed. StSG I, S. 820 (Nr. CCCCXCVI). – 3. München, BSB Clm 14689 (BStK-Nr. 604): 316 Interlineargll. in Textglossar; bair., undatiert (Hs. 1. Hälfte 12. Jh.) – Ed. StSG I, S. 803-820 (Nr. CCCCXCV). – 4. München, BSB Clm 18140 (BStK-Nr. 637): etwa 335 Gll. in Textglossar, überwiegend im Kontext; bair., 3. Viertel des 11. Jh.s – Ed. StSG I, S. 803-820 (Nr. CCCCXCV). – 5. München, BSB Clm 19440 (BStK-Nr. 665): 503 Gll. in Textglossar, überwiegend im Kontext; bair., um 1000. – Ed. StSG I, S. 803-820 (Nr. CCCCXCV). – 6. Salzburg, BEA a IX 28 (BStK-Nr. 844): 1 Marginalgl. in Textglossierung; Sprache unbestimmt, 10. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 130. – 7. Wien, ÖNB Cod. 804 (BStK-Nr. 926): 2 Gll. in Textglossar; bair., Ende 12. Jh. – Ed. StSG I, S, 803f. (Nr. CCCCXCV) . – 8. Wien, ÖNB Cod. 2723 (BStK-Nr. 949): etwa 390 Kontextgll. in Textglossar; bair. 2. Hälfte 10. Jh. – Ed. StSG I, S. 803-820 (Nr. CCCCXCV). – 9. Wien, ÖNB Cod. 2732 (BStK-Nr. 950): etwa 385 Kontextgll. in Textglossar; bair., 10. Jh. – Ed. StSG I, S. 803-820 (Nr. CCCCXCV). – 10. Würzburg, UB M. p. th. q. 60 [f. 1-6] (BStK-Nr. 998 I): 2 Kontextgll. in Textglossar; ofrk., 13. Jh. – Ed. StSG I, S, 803f. (Nr. CCCCXCV). 3. Forschungsstand: Eine Untersuchung der Liber comitis-Glossen fehlt. 4. Glossographische Aspekte: Die Glossen zum Liber comitis sind fast ausschließlich in Textglossaren überliefert, lediglich 3 Gll. in Textglossierung (2 in Einsiedeln cod. 39 (480), 1 in Salzburg a IX 28). Wie die Edition von E. Steinmeyer zu erkennen gibt, stehen die Glossen in dem Melker Fragment in einem alphabetischen Textglossar als eigenständiger Überlieferung. In allen übrigen Handschriften stehen die Glossen im Kontext eines Textglossars, das mit der Ú Mondseer Bibelglossatur sowie Glossaren zu Werken Ú Gregors des Großen und anderen zentralen kirchlichen Texten überliefert ist. Die 1.933 Glossenbelege beziehen sich daher auf rund 500 Lemmata, die zum größten Teil aus den kommentierten biblischen Perikopentexten stammen, weshalb E. Steinmeyer diese Glossen auch als Anhang zu den Bibelglossen in Band I seiner Ausgabe ediert hat. Sie stammen vorwiegend aus dem 10. bis 12. Jh. und zeigen bair. Sprachstand. 5. Umfang und Bedeutung: Mit 1.954 Glossenbelegen in 10 Hss. steht die Liber comitis-Glossierung im Bereich des kirchlich-theologischen Schrifttums des Mittelalters, dem sie trotz der überwiegend biblischen Herkunft der Lemmata zugeordnet wurde, an der Spitze, wobei relativierend bemerkt werden muss, dass die Glossierung dieses Bereichs nur gut 10% aller Glossierungen zu nichtbiblischen Texten ausmacht. In der Gesamtliste steht das Werk des Smaragdus immerhin nach Ú Gregor

‘Straßburger Eide’

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dem Großen, Ú Prudentius, Ú Vergil und den Ú Canones mit 3,2% auf Rang 5 aller glossierten Autoren/Werke. 6. Literatur: BStK-Nr. 114, 435, 604, 637, 665, 844, 926, 949, 950, 998 (I); R. Bergmann, in: BStH I, S. 99-105.

ROLF BERGMANN

‘Spottvers, St. Galler’ (Cod. 30) Ú ‘St. Galler Spottvers’ (Cod. 30) ‘Sprichwörter, St. Galler’ Ú ‘St. Galler Sprichwörter’ ‘Spruch, Trierer’ Ú ‘Trierer Spruch’ ‘Spruch wider den Teufel’ Ú ‘Trierer Verse wider den Teufel’ ‘St. Galler ...’ Ú unter G ‘Straßburger Eide’ 1. Überlieferung: Zwei ahd. und zwei afrz. Eidestexte, die der Historiograph Nithard, ein Enkel Karls d. Gr., in Kap. III, 5 seiner Historiarum libri quattuor wiedergibt; das Werk ist nur in einer nordfranzösischen Handschrift vom Ende des 10. Jh.s, Paris, BNF lat. 9768 (f. 13rb-13va) überliefert. Literatur: J. Brakelmann – J. Zacher, Die Nithardhandschrift und die Eide von Straßburg, ZDPh 3 (1871) S. 85-95; G. de Poerck, Le ms. B. N. lat. 9768 et les Serments de Strasbourg, Vox Romanica 15,II (1956) S. 188-214; A. Tabachovitz, Les Serments de Strasbourg et le ms. B. N. lat. 9768, Vox Romanica 17 (1958) S. 36-61; PadRep. 2. Ausgaben: MSD Nr. LXVII, I, S. 231f., II, S. 365f.; Ernst Müller (Hg.), Nithardi Historiarum libri IIII. Accedit: Angelberti rhythmus de pugna Fontanetica, MGH Scriptores rerum Germanicarum 44, 3. A. Hannover 1907, S. X-XIV, S. 35-37; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XV, S. 82-84; Ph. Lauer (Hg.), Nithard. Histoire des fils de Louis le Pieux. Avec un facsimilé des Serments de Strasbourg, Les classiques de l'histoire de France au moyen âge 7, 2. A. Paris 1964, S. XIV-XVII, S. 102-109; K. Gärtner – G. Holtus, Die erste deutschfranzösische ‘Parallelurkunde’. Zur Überlieferung und Sprache der Straßburger Eide, in: Beiträge zum Sprachkontakt und zu den Urkundensprachen zwischen Maas und Rhein, hg. v. K. Gärtner und G. Holtus, Trierer historische Forschungen 29, Trier 1995, S. 97-127 (mit Abdruck); St. Müller, Ahd. Lit., S. 44-47. – Faksimiles: M. Enneccerus, Die ältesten dt. SprachDenkm., S. 24-26, Tafel 34-36; G. Eis, Altdt. Hss., Nr. 14, S. 42f.; Ph. Lauer, Nithard, nach S. XX (= f. 13rb und 13va, Ausschnitte); K. Gärtner – G. Holtus, Abb. 1 und 2 (= f. 13r u. 13v); Digitalisat des Codex: Handschriftencensus.

3. Historischer Zusammenhang: Nach dem Tod Kaiser Ludwigs des Frommen im Jahre 840 kommt es zu politischen und militärischen Auseinandersetzungen zwi-

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‘Straßburger Eide’

schen Ludwigs Söhnen, die am 25. Juni 841 in einer Schlacht bei Fontenoy im Auxerrois gipfeln, in der Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle ihren Bruder Lothar I. und ihren Neffen Pippin II. von Aquitanien besiegen. Am 14. Februar 842 erneuerten Ludwig und Karl ihr Bündnis in Straßburg, bekräftigten es durch gegenseitige Eide und ließen es zusätzlich durch Eide ihrer Anhänger sichern. Nithard berichtet von dem Straßburger Treffen, gibt die Ansprachen der beiden Könige lateinisch wieder und überliefert die volkssprachigen Texte der Eide, die Ludwig der Deutsche in romanischer und Karl der Kahle in germanischer Sprache schworen, ihre Anhänger jeweils in ihrer romanischen bzw. germanischen Sprache: Et sacramenta, quĊ subter notata sunt, Lodhuuicus romana, Karolus uero teudisca lingua iurauerunt. [...] Sacramentum autem, quod utrorumque populus quique propria lingua testatus est, romana lingua sic se habet[: ...] Teudisca autem lingua[: ...]. 4. Sprachhistorische Bedeutung: Für die besondere sprachhistorische Bedeutung der romanischen Eide als ältestes altfranzösisches Denkmal überhaupt ist hier auf die entsprechende romanistische Literatur zu verweisen. In der ahd. Überlieferung sind die beiden Eidtexte die einzigen Zeugnisse ihrer Art und daher bedeutende Dokumente der volkssprachigen Rechtssprache (R. Schmidt-Wiegand). Die Brüder schwören, sich gegenseitig zu begegnen, „wie man von Rechts wegen seinem Bruder begegnen soll“, und mit Lothar keine Verbindung einzugehen, die dem anderen schaden könnte. Die Heere der beiden schwören, dass sie in dem Fall, dass ihr Herr eidbrüchig werde, sein Bruder aber den Eid halte, und sie ihren Herrn nicht daran hindern können, ihn nicht gegen seinen Bruder unterstützen werden. Die mehrsprachige gegenseitige Eidleistung bezeugt für die karolingische Oberschicht „germanischromanische Zweisprachigkeit“ (R. Schützeichel, E. Koller). 5. Literatur: Zum historischen Zusammenhang R. Schieffer, Die Karolinger, Stuttgart 1992, S. 139ff.; M. L. Bulst-Thiele, Nithard, in: 2VL VI, Sp. 1164-1166; J. L. Nelson, Public Histories and Private History in the Work of Nithard, Speculum 60 (1985) S. 251-293; zur germanistischen Erforschung R. Schützeichel, Die Grundlagen des westlichen Mitteldeutschen. Studien zur historischen Sprachgeographie, 2. A. Tübingen 1976, S. 108ff.; R. Schmidt-Wiegand, Eid und Gelöbnis, Formel und Formular im mittelalterlichen Recht, in: Recht und Schrift im Mittelalter, hg. v. P. Classen, Vorträge und Forschungen 23, Sigmaringen 1977, S. 55-90, bes. S. 62-72; R. Schmidt-Wiegand, in: 2VL IX, Sp. 377-380; F. van der Rhee, Die Straßburger Eide altfranzösisch und althochdeutsch, ABÄG 20 (1983) S. 7-25; E. Koller, Zur Volkssprachlichkeit der Straßburger Eide und ihrer Überlieferung, in: Althochdeutsch, I, S. 828-838; zur romanistischen Erforschung K. Ewald, Formelhafte Wendungen in den Straßburger Eiden, Vox Romanica 23 (1964) S. 35-55; P. Wunderli, Die ältesten romanischen Texte unter dem Gesichtswinkel von Protokoll und Vorlesen, Vox Romanica 24 (1965) S. 44-63; G. Hilty, Die Romanisierung in den Straßburger Eiden, Vox Romanica 25 (1966) S. 227-235; H. L. W. Nelson, Die Latinisierungen in den Straßburger Eiden, Vox Romanica 25 (1966) S. 193-226; S. Becker, Untersuchungen zur Redaktion der Straßburger

Sulpicius-Glossierung

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Eide, Europäische Hochschulschriften Reihe XIII. Französische Sprache und Literatur 13, Bern/Frankfurt 1972; M. Perret, Introduction à l'histoire de la langue française, Paris 1998; 3ème éd. mise à jour, 2009.

ROLF BERGMANN

Sulpicius Severus, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Sulpicius Severus (*um 360, Aquitanien – 420/425), adeliger Abstammung, Ausbildung als Advokat wahrscheinlich in Bordeaux, Veräußerung der Güter bzw. Übertragung auf die Kirche, Übernahme der asketischen Vorstellungen des Martin von Tours, Klosterbau in Primuliacum (wahrscheinlich in der Gegend zwischen Narbonne und Toulouse), wohl Presbyter. Literarische Bedeutung erlangte Sulpicius Severus als Biograph des Hl. Martin von Tours. Die Vita S. Martini galt als Archetyp der abendländischen Hagiographie. Sie ist zusammen mit drei Widmungsschreiben überliefert: an Eusebius (Epistola ad Eusebium), an Aurelius Diaconus (Epistola ad Aurelium diaconum) und an Sulpicius’ Schwiegermutter Bassula (Epistola ad Bassulam parentem). Aufgrund der Inhalte des Briefes an Aurelius ist davon auszugehen, dass die Vita S. Martini und der Brief an Eusebius vor 393, dem Todesjahr des Martinus, geschrieben wurden. Weiter verfasste Sulpicius Severus eine Chronik (Chronicorum Libri duo, auch: Historia sacra), eine Paraphrase des Alten Testaments, die nach 402 vollendet wurde, daneben ein Werk zum Arianismus und Priscillianismus sowie die um das Jahr 406 entstandenen Dialogi. Literatur: J. Fontaine, in: LexMA VIII, Sp. 301-302; A. Kappelmacher, in: Paulys Realencyclopädie, VII, Sp. 863-871.

2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. St. Gallen, StB 105 (BStK-Nr. 181 I): 3 Interlineargll. in Textglossierung zu Vita S. Martini; obd., wohl alem., 2. Hälfte 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 760 (Nr. DCCCCXIII); Neuedition mit Berichtigungen und Nachtrag bei U. Thies, S. 494f. – 2. St. Gallen, StB 292 (BStK-Nr. 221): 24 Gll. im Kontext des Textglossars zu Vita S. Martini, davon 7 interlinear, 17 im fortlaufenden Glossartext stehend; alem.-frk., 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 759f. (Nr. DCCCCXII); Neuedition mit Korrekturen von U. Thies, S. 352-373. – 3. St. Gallen, StB 557 (BStK-Nr. 233): 1 Interlinear- und 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Vita S. Martini; alem., frühes 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 760 (Nr. DCCCCXIV); Neuedition von U. Thies, S. 471-474. – 4. Karlsruhe, BLB St. Peter perg. 87 (BStK-Nr. 324): 25 Gll. im Kontext des Textglossars zu Vita S. Martini, davon 14 im fortlaufenden Glossartext, 11 interlinear stehend; obd.-alem. mit wenigen, nicht obd., wohl frk., Merkmalen, 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 759f. (Nr. DCCCCXII); Neuedition von U. Thies, S. 352-397. – 5. Leiden, UB Voss. lat. q. 69 (BStK-Nr. 372): 1 Interlineargl. im Kontext des Textglossars zu Vita S. Martini (U. Thies weist die übrigen bei StSG edierten Glossen als ae. aus); hd., ausgehendes 8. Jh. – Ed. StSG II, S. 746 (Nr. DCCCCIX); Berichtigungen sowie Neuedition von U. Thies, S. 534f. – 6. München, BSB Clm 4605 (BStK-Nr. 485): 3 Interlineargll. in Textglossierung zu Vita S. Martini, 1 Interlineargl. in Textglossierung zu Epistola ad Eusebium, 4 Interlineargll.

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in Textglossierung zu Dialogi (da: Vita Nicolai); Glossen zu Vita Nicolai bair., Glossen zu Vita S. Martini obd. (bair.?), undatiert (Hs. Mitte 11. Jh.). – Ed. 5 Gll. bei H. Hempel, Althochdeutsche Glossen in Clm. 4605, ZDA 74 (1937) S. 164, Berichtigungen und Nachträge bei H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 233, Neuedition der Glossen zu Vita S. Martini und Epistola ad Eusebium von U. Thies, S. 505f. – 7. München, BSB Clm 9536 (BStK-Nr. 549): 10 Interlinear- und 3 Marginalgll. in Textglossierung zu Vita S. Martini; bair., 12. Jh., von der Texthand. – Ed. StSG IV, S. 353 (Nr. DCCCCXIIb Nachtr.), Neuedition bei U. Thies, S. 456-461. – 8. München, BSB Clm 14747 (BStK-Nr. 611): 11 Interlineargll. im Kontext des Textglossars zu Vita S. Martini; bair., 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 758f. (Nr. DCCCCXI), Neuedition bei U. Thies, S. 439-445. – 9. München, BSB Clm 17143 (BStK-Nr. 624): 2 Interlineargll. in Textglossierung zu Vita S. Martini; obd., wohl 12. Jh. – StSG V, S. 33 (Nr. DCCCCXa), Neuedition mit Korrektur bei U. Thies, S. 511f. – 10. München, BSB Clm 18547b (BStK-Nr. 650): 1.027 Gll. in Textglossierung zu Vita S. Martini: 560 Federgll. (davon 152 interlinear, 408 marginal stehend), 433 Griffelgll. (davon 350 interlinear und 83 marginal stehend) und 34 Farbstiftgll. (davon 31 interlinear und 3 marginal stehend) – mitgezählt wurden auch ahd.?-Fälle bei A. Nievergelt; bair., zwischen 982 und 1001 unter Abt Gozpert im Kloster Tegernsee. – Ed. Federgll. sowie 5 Griffelgll. bei StSG II, S. 747-758 (Nr. DCCCCX), Neuedition mit Berichtigungen und Ergänzungen bei U. Thies, S. 52-307, Edition der Griffel- und Farbstiftglossen sowie Neuedition aller bis dahin nicht hinreichend beschriebenen Federglossen mit Berichtigungen und Ergänzungen zu den vorausgehenden Editionen bei A. Nievergelt, Die Glossierung der Handschrift Clm 18547b, S. 165-602, 678-716, 805913 (mit Überblicksdarstellung). – 11. München, BSB Clm 2566 (BStK-Nr. 710t): je 1 im Kontext marginaler Scholien stehende Glosse zu Vita S. Martini und zu Epistola ad Bassulam; obd., wohl um 1200. – Ed. U. Thies, S. 519f. – 12. Stuttgart, WLB Cod. hist. 4º 36 (BStK-Nr. 859): 1 Interlinear- und 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Vita S. Martini; wohl frk., spätes 9. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 133, Neuedition mit Korrektur bei U. Thies, S. 526f. – 13. Zürich, ZB Ms. Rh. 36 (BStK-Nr. 1011): 6 Interlineargll. und 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Vita S. Martini; obd., wohl alem., wohl 11. Jh. – Ed. StSG V, S. 33 (Nr. DCCCCXIVb), Neuedition bei U. Thies, S. 481-484.

3. Glossographische Aspekte: Insgesamt sind heute 1.127 ahd. Sulpicius SeverusGlossen bekannt; das ist mit der Edition von A. Nievergelt zu der Hs. München, Clm 18547b (BStK-Nr. 650) ein Zuwachs von 247 Gll. Die Sulpicius Severus-Glossen sind in 13 Hss. überliefert. Die Textüberlieferung zeigt Kontinuität vom 9. bis zum 12. Jh. (2 Hss. 9. Jh., 1 Hs. 10. Jh., 2 Hss. 11. Jh., 3 Hss. 12. Jh.), eine der Hss. ist undatiert. Bei der Glossarüberlieferung liegt die früheste Überlieferung bereits im ausgehenden 8. Jh.; weiter sind ein Glossar aus dem 9. und zwei aus dem 11. tradiert. Räumlich sind die Glossen zweier Hss. dem Obd., zweier wohl dem Alem. und eine sicher dem Alem. zugeordnet, weiter weisen die Glossen in einer Hs. auf den obd.bair. Raum, einer auf den frk. Raum. Die Glossen dreier Hss. zeigen spezifisch bair. Merkmale. Die Glossen in den Textglossaren sind einmal dem hd., einmal dem obd.alem. Raum (mit wohl frk. Merkmalen), einmal dem alem.-frk. und einmal dem bair. Sprachraum zugewiesen.

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Zwei der Codices überliefern ahd. Glossen in Geheimschrift (B = bfk-Geheimschrift, C = cgl-Geheimschrift, V = Vokalpunkte): BStK-Nr. 324 (B), BStK-Nr. 650 (BCV). Die Überlieferung in der Hs. München, BSB Clm 18547b (BStK-Nr. 650) ist insofern sehr außergewöhnlich, als mehrere Geheimschrifttypen nebeneinander verwendet werden, darunter die cgl-Geheimschrift (in einer von insgesamt nur sechs Hss. in der ahd. und as. Glossenüberlieferung). Der um 1000 von 11 geübten und ungeübten, zum Teil mit den Texthänden identische Tegernseer Schreibern verfasste Teil des Codex Clm 18547b (BStK-Nr. 650), der die glossenreichste Textglossierung zur Vita S. Martini des Sulpicius Severus enthält, zeigt eine weitere Besonderheit: Sie enthält Feder-, Farbstift- und auch Griffelglossen. Textglossierung: Mit 1.066 Gll. liegt allein im Bereich der Werktextglossierung eine stattliche Anzahl vor; allerdings sind davon 1.027 (mehr als 96%) in einer einzigen Hs. überliefert, im Codex München, Clm 18547b, der Rest von 39 Gll. verteilt sich auf acht Codices mit einer Anzahl von 2 bis 13 pro Codex. Die Suplicus SeverusTexte sind in unterschiedlicher Dichte auch lat. glossiert. So weisen die Hss. St. Gallen 105 (BStK-Nr. 181 I) und Zürich, Ms. Rh. 36 (BStK-Nr. 1011) sporadische lat. Glossen auf, ebenso wie die Hs. München, Clm 2566 (BStK-Nr. 710t), für die bekannt ist, dass die ahd. und die lat. Glossen in der Zisterze Aldersbach im Bistum Passau von einer Hand eingetragen wurden. In der Hs. St. Gallen 557 (BStK-Nr. 233) sind die beiden ahd. Einträge die einzigen Glossen überhaupt. Der Codex mit den meisten ahd. Glossen (München, Clm 17143) enthält auch eine umfangreiche lat. Glossierung, die von A. Nievergelt (S. 805-913) mit dokumentiert ist. Textglossar: Von den vier Textglossarhss. stehen die im 11. Jh. geschriebenen Codices St. Gallen 292 (BStK-Nr. 221) mit 24 Gll. und Karlsruhe, St. Peter perg. 87 (BStK-Nr. 324), die beide eine Vielzahl von Textglossaren enthalten, mit 25 Gll. in enger, wenngleich nicht unmittelbarer Beziehung zueinander. Auch die Hs. Leiden Voss. lat. q. 69 (BStK-Nr. 372) tradiert eine Vielzahl von Textglossaren. Neben den ahd. Glossen ist auch eine Vielzahl an ae. Glossen überliefert, die in älteren Editionen als dt. interpretiert wurden. Sie sind mit einer Datierung ins ausgehende 8. Jh. die ältesten bekannten Sulpicius Severus-Glossen. Das Textglossar in der Hs. München, Clm 14747 (BStK-Nr. 611) zeigt keine Auffälligkeiten. 4. Umfang und Bedeutung: Nach dem Stand von BStH (I, S. 90) belegt Sulpicius Severus als patristischer Autor mit 880 Gll. hinter Ú Gregor dem Großen (76,6%) und Ú Hieronymus (5,6%) mit 4,8% Rang 3. Unter Einbezug der 247 Neufunde zu Vita S. Martini tauschen Hieronymus (weiterhin 5,6%) und Sulpicius Severus (jetzt 1.127 Gll. = 6,1%) die Positionen. Im Kontext der Glossierung nichtbiblischer Texte insgesamt sieht die Überlieferung prozentual folgendermaßen aus: 1. Gregor der

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Große (23,1%), 2. Ú Prudentius (20,0%), 3. Ú Vergil (11,0%), 4. Ú Canones (10,5%), 5. Smaragdus von St. Mihiel (3,2%). Sulpicius Severus erscheint mit einem Anteil von 1,5% an 13. Stelle (BStH I, S. 118). Unter Einbezug der Neufunde steht er auf Rang 9 (1,8%). Fast ausschließlich liegen die Glossen zu Vita S. Martini und/oder den dazugehörigen Widmungsbriefen vor. Eine einzige Hs. tradiert auch ahd. Glossen zu einem anderen Text: München, BSB Clm 4605 (BStK-Nr. 485) enthält neben Vita S. Martini-Glossen 4 Interlineargll. zu den Dialogi (da: Vita Nicolai). U. Thies ediert die dt. Vita S. Martini-Glossen (einschließlich der Glossen zu den Widmungsbriefen) aller 13 Hss. mit Korrekturen und Ergänzungen insgesamt und setzt die einzelnen Überlieferungen zueinander in Beziehung. Ergänzend ist die umfangreiche Studie von A. Nievergelt zur Glossierung der Handschrift Clm 18547b heranzuziehen. 5. Literatur: BStK-Nr. 181 (I), 221, 233, 324, 372, 485, 549, 611, 624, 650, 710t, 859, 1011; StSG II, S. 746-760; StSG IV, S. 353; StSG V, S. 33; R. Bergmann, in: BStH I, S. 95, 118; H. Hempel, ZDA 74 (1937) S. 164; A. Nievergelt, Die Glossierung der Handschrift Clm 18547b; Ulrike Thies, Die volkssprachige Glossierung der Vita Martini des Sulpicius Severus, StA 27, Göttingen 1994; C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberlieferung, S. 289f.; C. Wich-Reif, Textglossare zu antiken, partristischen und spätantiken Autoren, in: BStH I, S. 647-664, S. 654-660.

CLAUDIA WICH-REIF

‘Summarium Heinrici’ 1. Werkcharakterisierung: Das ‘Summarium Heinrici’ (‘SH’) ist das umfangreichste lat. Kompendium mittelalterlichen Schulwissens, das volkssprachig glossiert ist. Das Werk ist – abgesehen von den ersten eineinhalb Büchern – mit dt. Glossen durchsetzt, insgesamt weit über 4.200 (Hochrechnung nach R. Hildebrandt, in: Brüder-Grimm-Symposion, S. 57f., der einige Überlieferungen nicht kannte oder nicht berücksichtigt hat). Der Verfasser ist unbekannt, dürfte aber aufgrund werkinterner Indizien Schulmeister im Reichskloster Lorsch oder mit größerer Wahrscheinlichkeit in der Domschule Würzburg gewesen sein (dazu genauer unter 7.). Das ‘SH’ besteht ursprünglich aus zehn sachlich geordneten Büchern (mit zahlreichen Unterkapiteln) und einem alphabetisch angelegten elften Buch. Die zehn sachlich geordneten Bücher bilden die Urfassung, die als Redaktion A bezeichnet wird. Die wenig später erfolgte Umarbeitung der zehn Bücher in sechs Bücher führt zu einer zweiten Fassung, der Redaktion B. Das alphabetisch angelegte elfte Buch wird ebenfalls in zwei Fassungen überliefert, in einer Kurzfassung, die ausschließlich in unmittelbarer Anbindung an die zehn sachlich geordneten Bücher tradiert wird, und in einer Langfassung, die in fünf Hss. ebenfalls an die Sachbücher angeschlossen

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ist, in zwanzig Hss. jedoch selbstständig, das heißt losgelöst von den Sachbüchern, überliefert wird. Entstehung und Herkunft des Werkes sind in der Forschung umstritten. Die von W. Wegstein (Studien, S. 35ff.; W. Wegstein, in: Althochdeutsch, II, S. 1223) vorgenommene Spätdatierung in die 2. Hälfte des 11. Jh.s gründet darauf, dass der im Prolog zitierte Seneca-Brief in Deutschland nicht vor der Mitte des 12. Jh.s. bekannt gewesen sein könnte und auch die handschriftliche Überlieferung erst in der 2. Hälfte des 12. Jh.s einsetzt. D. Gottschall (ZDA 119 [1990] S. 397-403) hat beide Annahmen zu widerlegen gesucht. N. Wagner (ZDA 104 [1975] S. 118-126) hat darauf hingewiesen, dass der Völkername Flavi valwun für ein Reitervolk aus dem Osten erst 1076 in der Kirchengeschichte Adams von Bremen in Westeuropa nachweisbar ist. H. Tiefenbach (BNF NF 10 [1975] S. 257ff.) macht dagegen eine Entstehung des Werkes in der 1. Hälfte des 11. Jh.s im ofrk. Sprachraum wahrscheinlich, wofür der spätahd. Sprachstand der dt. Wörter spricht. Ob dieser durch eine konservative Einstellung des Verfassers zu erklären ist, bleibt fraglich. In dem Fall wäre auch eine Datierung in die 2. Hälfte des 11. Jh.s möglich (zusammenfassende Darstellung bei St. Stricker, Basel ÖBU. B IX 31, S. 70-85). 2. Titel: Der Titel Summarium ‘kurzgefasste Übersicht’ ist eine Wortprägung Senecas, die auch noch durch ein wortwörtliches Zitat aus einem Brief Senecas ad Lucilium (33. und 39. Brief) im Prosaprolog des ‘SH’ in ihrer direkten Abhängigkeit von Seneca untermauert wird. Im Prosaprolog bekennt sich der Verfasser auch zu seiner Hauptquelle, den zwanzig Büchern der Etymologien des Isidor von Sevilla. Das erste Buch seines Werkes, Liber primus de grammatica, ist ein komprimierter Extrakt aus Priscians grammatischem Lehrwerk. Im zweiten Buch, dem Liber secundus de variis dogmatibus, finden sich zudem Exzerpte zu rhetorischen und didaktischen Inhalten aus Cassiodor (II, 14) und Beda (II, 6+7). Zwei Hss. (Wien, ÖNB Cod. 2400 und München, BSB Clm 2612) tradieren vor dem Prosaprolog einen Versprolog in 21 Hexametern, der durch die Nennung des Namens Heinricus als Akro-, Meso-, Telestichon gekennzeichnet ist. Vermutlich geht dieser Prolog auf eine sekundäre Bearbeitung des Werkes im frühen 12. Jh. zurück. Auch einige Texterweiterungen könnten in diese Phase gehören (z. B. Buch I, 24 und 35, II, 11-13 sowie die hinteren Teile von Kapitel 16 und 17). Mit Heinricus könnte Bischof Heinrich I. von Würzburg (995/996 – ca.1018) identifiziert werden, auf dessen Veranlassung oder unter dessen Pontifikat das Werk erstellt wurde (dazu H. Tiefenbach, BNF NF 10 [1975] S. 277. Buch I und II (außer Kap. 15, 18, 19) enthalten keine dt. Glossen. Mit Kapitel II, 15 nimmt der Verfasser immer stärker auch dt. Glossen auf, und zwar vermehrt als

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Äquivalente zu lat. Interpretamenten. Diese sind nur anfangs noch mit id est angefügt. 3. Aufbau: Der Grammatik des Lat. in Buch I und II folgen Bücher mit realenzyklopädischem Inhalt: Buch III: Die Welt der tierischen Lebewesen, einschließlich Gott und Mensch; Buch IV: Die Welt der pflanzlichen Lebewesen; Buch V: Die bewegte, aber unbelebte Welt des Universums und der Erde; Buch VI: Steine, Metalle und deren Verarbeitung; Buch VII: Städte, Länder und menschliche Bauwerke; Buch VIII: Völkerschaften und Berufsstände; Buch IX: Kleidung, Essen und Trinken; Buch X: Militär, Schifffahrt, handwerkliche Tätigkeiten, Medizin. Für diese Bücher dient Isidor als Quelle, allerdings wird ein neuer Aufbau von belebter und unbelebter Natur umgesetzt. Für Kapitel III, 16 De piscibus ist eine weitere Quelle auszumachen: Das Kapitel beginnt mit 16 einheimischen Fischen, die nicht bei Isidor zu finden sind, sondern aus den Ú ‘Versus de piscibus’ (StSG III, S. 45-47) stammen. Es finden sich mehrfach auch veraltete Angaben. In Kapitel VIII, 2 wird unter den Amtsträgern ein zur Zeit des Verfassers nicht mehr aktuelles Amt des corbiscof (H. Tiefenbach, BNF NF 19 [1984] S. 424) angeführt. Eine genauere Untersuchung über die sich in dem dt. Wortschatz des ‘SH’ widerspiegelnden Kenntnisse und den geistigen Horizont des Verfassers steht noch aus. 4. Buch XI: Auf die onomasiologisch angelegten Bücher I bis X folgt ein alphabetisch angelegtes Buch XI, für das es auch ein Vorbild bei Isidor gibt. Dem Usus der Zeit entsprechend sind die Lemmata nur nach dem ersten Buchstaben alphabetisiert (bei T, U/V und Z mit strengerer Alphabetisierung nach den drei ersten Buchstaben), wobei eingangs jeweils hebräische Wörter, dann griech. Wörter (jeweils in lat. Umschrift) und zuletzt auch schwere lat. Wörter erscheinen. Das Buch XI ist kein Register zu den vorausgehenden Büchern, sondern ein eingenständiges Werk mit zusätzlichem dt. Wortgut. Das Buch XI wurde in der Langfassung in etlichen Hss. losgelöst von den ersten Büchern als eigenständiges Werk tradiert. Es trägt zuweilen auch eigene Titel: Glossarium latino-theotiscum (Hs. c; Siglen nach R. Hildebrandt), Vocabularius secundum alphabeti ordinem (Hs. e) oder Glose super alphabetum (Hss. i, k). Diese Titelgebung verdeckt die Zugehörigkeit zum ‘SH’, weshalb auch in jüngerer Zeit noch Neuentdeckungen erfolgten (Baseler Hss., Kölner Hs.). Darüber, ob die Kurzfassung eine Vorstufe der Langfassung oder aber ein Exzerpt aus dieser war, gibt es keine klare Entscheidung: Einerseits ist sie voll in der Langfassung (Version 1) integriert, andererseits waren beide auch nebeneinander im Gebrauch, sodass die Kurzfassung im Zuge einer späteren Redaktion (Hss. A, B) erneut der Langfassung blockweise einverleibt werden konnte. Allerdings gibt es auch eine

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Version 2 der Langfassung, die neben anderen Auslassungen vor allem die Lemmata der Kurzfassung weglässt. Die Überschrift von Buch XI (in Kurz- und Langfassung), die nur in den Hss. Wien, ÖNB Cod. 2400, München, BSB Clm 2612 und Graz, UB 859 enthalten ist, weist explizit auf den Zusammenhang mit dem vorausgehenden Text und somit auch auf den gleichen Verfasser hin. Auch gemeinsame Fehler in beiden Fassungen legen die gleiche Autorschaft nahe. 5. Redaktion B (Sechs-Bücher-Fassung): Die Sechs-Bücher-Fassung des ‘SH’ ist nur in Martin Gerberts Nachdruck aus dem Jahre 1765 (St. Blasien, StB verschollen) vollständig erhalten, wird aber durch fünf weitere Textzeugen in ihrer vormaligen Existenz bestätigt. Indirekt wird sie aber auch durch die sog. Lingua ignota der Hildegard von Bingen gestützt, die ein dreisprachiges Glossar darstellt mit tausend Substantiven einer fiktiven Ausgangssprache und deren lat. und/oder dt. Glossierungen. Hildegard hat sich überwiegend dieser Fassung des ‘SH’ bedient (R. Hildebrandt, in: Stand und Aufgaben der deutschen Dialektlexikographie, S. 89-110), um das inhaltliche Gerüst ihres Lingua-ignota-Wortschatzes zu etablieren, einschließlich weitgehender Übereinstimmungen bei den dt. Glossierungen. Wenn man davon ausgeht, dass Hildegards Lingua ignota eher ein jugendliches Frühwerk der Äbtissin darstellt, dann muss diese zweite Fassung bereits um 1225 fertiggestellt gewesen sein. Das würde sich auch mit einem zweiten Datierungsindiz decken: mit der nur in der zweiten Fassung benannten Stadt Braga als metropolis totius Boemiæ (Buch V, 3), die durch die um 1225 fertiggestellte Gründungslegende dieser Stadt durch Cosmas von Prag ins allgemeine Bewusstsein gerückt worden war (R. Hildebrandt, ZDA 97 [1986] S. 122). Der Bearbeiter der zweiten Fassung hat die beiden ersten Bücher der Redaktion A nicht übernommen, das ursprüngliche Anordnungskonzept aufgegeben und den Text um fast die Hälfte verkürzt, vor allem auf Kosten der lat. Bestandteile, während die dt. Glossierungen im Gegensatz dazu ganz wesentlich vermehrt worden sind. Als vollständige Komplexe sind aus der ersten Fassung nur die Kapitel über Steine, Metalle, Gewichte, Maße (VI, 1-9), priesterliche Gewänder (IX, 1), Juristerei (X, 11-13, 15) und Medizinisches (X, 27) weggelassen worden. Bei den dt. Wörtern ist zu beobachten, dass sie nach wie vor volle Endsilbenvokale aufweisen, die sich auch weiterhin sogar noch bei den vielen dt. Wörtern der Hildegard von Bingen zeigen. Da der lat. Text insgesamt reduziert wird, die Glossen aber erhalten bleiben, kommt diesen noch größeres Gewicht zu. 6. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Admont, StB 269 (BStK-Nr. 4): über 900 in abgesetzten Zeilen von zwei Händen eingetragene Glossen zu Buch XI in Langfassung (AU/V); bair., bair.-frk.; Mitte 12. Jh. – Ed. StSG III, S. 264-292 (Nr. DCCCCXXXVIIIb); R.

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Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 147-535 (Sigle d). – 2. Basel, UB B. IX. 31 (BStKNr. 34c): 615 Gll. zu Buch XI in Langfassung; alem.-ofrk., 2. Hälfte 15. Jh. Basel. – Ed. St. Stricker, Basel ÖBU. B IX 31, S. 145-255. – 3. Basel, UB B. X. 18 (BStK-Nr. 34d): 156 Gll. zu Buch XI in Langfassung; alem.-frk., 14. Jh. Basel. – Ed. St. Stricker, Basel ÖBU. B X 18, S. 32-91. – 4. Berlin, SBPK Ms. lat. 8º 93 (BStK-Nr. 53): 400 Gll. zu Buch XI in Langfassung (A bis P), Glossen meist von jüngerer Hand mit Bleistift unterstr.; bair.-frk., 12. Jh. – Ed. StSG III, S. 221-251 (Nr. DCCCCXXXVIIIa2); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 147-177, 187-198, 202-238, 251-265, 278-289, 292-299, 310-319, 321-341, 344-346, 353356, 358-373, 375-381, 383-401 (Sigle a) . – 5. Berlin, SBPK Ms. lat. 8º 445 (BStK-Nr. 37): 619 Gll. zu Buch XI in Langfassung (A bis S); Glossar zunächst fortlaufend, dann in abgesetzten Zeilen eingetragen; frk., Anfang o. Mitte 12. Jh. Weißenau. – Ed. H. Hoffmann, ZDA 3 (1843) S. 468-477; StSG III, S. 310-323 (Nr. DCCCCXXXVIIIe); Nachträge bei U. Winter, Weißenauer Handschriften in der Deutschen Staatsbibliothek Berlin, in: Über Bücher, Bibliotheken und Leser. Gesammelte Beiträge zum 60. Geburtstag von Horst Kunze, 86. Beiheft zum ZBB, Leipzig 1969, S. 239; erneute Edition bei R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 147-173, 175, 184-198, 202-238, 243, 245, 249-265, 268-288, 292-304, 308-340, 344-356, 358-373, 375-396, 403-422, 431, 435-446, 449-472 (Sigle g). – 6. Bern, BB Cod. 722, 1 (BStK-Nr. 66): 63 im Text stehende Gll. zu Redaktion A (VIII, 8; IX, 2-6); frk., mfrk., alem.; 12. oder 13. Jh. (Hs. 12. oder 13. Jh.; bayer.-österr. Raum). – Ed. StSG III, S. 480-485 (Nr. MX); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I, S. 56-59, 65-69, 296-301, 320-325 (Sigle P1). – 7. St. Blasien, StB verschollen (BStK-Nr. 68): 1.466 Gll. zu Redaktion B; alem., Glossen undatiert (Hs. 12. oder 14. Jh.). – Ed. StSG III, S. 176-217 (Nr. DCCCCXXXVIIB); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 1-15, 18-100 (Sigle D). – 8. Bonn, ULB S 476 (BStK-Nr. 72): 124 im Text stehende Gll. zu Redaktion A (VI, 9-VII, 1; VIII, 6-8); frk., 12. oder 13. Jh. (Hs. 12. oder 13. Jh.; bayer.-österr. Raum). – Ed. StSG III, S. 58-175 (Nr. DCCCCXXXVIIA); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I, S. 248-254, 283-289 (Sigle P3). – 9. Brixen, BPS D 19 (Nr. 86) (BStK-Nr. 77): 592 meist interlinear stehende Gll. zu Redaktion B; obd., Anfang 13. Jh., Südtirol? – Ed. StSG III, S. 176-217 (Nr. DCCCCXXXVIIB); Berichtigungen, Ergänzungen sowie vollständige Edition bei R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 4, 11-55, 98 (Sigle N). – 10. Darmstadt, ULB 6 (BStK-Nr. 93): 1.075 Gll. zum ‘SH’, davon 975 im Text stehende Gll. zu Redaktion A, 100 in abgesetzten Zeilen eingetragene Gll. in überarbeiteter Fassung von Buch XI in Langfassung (A-D); mfrk.; Ende 12. Jh., Trierer Raum, viell. Himmerod. – Ed. StSG III, S. 65-116, 121-124, 155f., 163-168 (Nr. DCCCCXXXVIIA); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I, S. 117-168, 170-222, 226228, 246-252, 339-341, 360-365, 367-371 (Sigle H); Neuedition W. Wegstein, Studien, S. 155-217. – 11. Einsiedeln, StB cod 171 (688) (BStK-Nr. 118): 2.024 im Text stehende Gll. zu Redaktion A; alem.; 12. Jh.; (Hs. 12. Jh. im Alem.). – Ed. StSG III, S. 65-171 (Nr. DCCCCXXXVIIA); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I, S. 111-381 (Sigle E). – 12. Einsiedeln, StB cod 364 (385) [p. 45-48] (BStK-Nr. 135): 113 im fortlaufenden Text stehende Gll. zu Redaktion B; obfrk.?; Glossen undatiert; (Hs. nach der Mitte 13. Jh.). – Ed. StSG III, S. 79-82, 98-104 (Nr. DCCCCXXXVIIA); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I, S. 184-192; II, S. 47-51, 58-61 (Sigle I). – 13. Engelberg, StB Codex 66 (früher 4/11) (BStKNr. 138): 114 überwiegend im Text stehende Gll. (10 interlinear eingetragen) zu Buch XI in Langfassung (A-C), zweispaltig abgesetzt geschrieben; alem., 12. Jh. Engelberg . – Ed. StSG

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III, S. 310-314 (Nr. DCCCCXXXVIIIe); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 147-222 (Sigle h). – 14. Erfurt, UB Dep. Erf. Fragment aus T. hom. 2°° 81 (BStK-Nr. 142): 321 im fortlaufenden Text stehende Gll. zu Redaktion A; frk.; Anfang 13. Jh., Straßburg. – A. Hortzschansky, ZDPh 12 (1881) S. 305-322; StSG III, S. 90-106 (Nr. DCCCCXXXVIIA); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I, S. 168-195, 232-250 (Sigle L). – 15. Erlangen, UB Ms. 396 (BStK-Nr. 145): etwa 2.280 Gll. zu Redaktion A und Buch XI in Kurzfassung; Sprache unbestimmt; 1.294 Heilsbronn. – Ed. R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I, S. 2-79, 97380; II, S. 101-146, 569-575 (Sigle V); Nachträge und Berichtigungen bei St. Stricker, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (III), S. 354-364. – 16. Erlangen, UB B 23 (früher Ms. 2006) (BStK-Nr. 146): 60 in fortlaufendem Text stehende Gll. zu Buch XI in Kurzfassung (A-T); obd. oder frk.-alem.?, 12./13. Jh. – Ed. StSG III, S. 292f. (Nr. DCCCCXXXVIIIc); Glossen des ‘SH’ bei R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 174, 180, 200, 246-248, 357, 374, 382, 428f., 436, 450-455, 487f., 554-557 (Sigle m). – 17. Florenz, BML Plut. 16.5 (BStK-Nr. 151): 1.013 Gll. zu Buch XI in Langfassung (A-Z); alem., Ende 12. Jh. – Ed. StSG III, S. 293-310 (Nr. DCCCCXXXVIIId); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 147-176, 180-184, 187-238, 246-249, 251-265, 267-288, 291-306, 309341, 343-422, 425, 428-431, 435-446, 449-484, 493-514, 516-539, 541, 547-552 (Sigle f); Neuedition bei P. Scardigli, Germanica Florentina II. Die althochdeutschen Glossen der Bibliotheca Laurentiana, in: Althochdeutsch, I, S. 592-596, 598f.; Berichtigungen St. Stricker, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (III), S. 299f. – 18. St. Florian, StB XI 54 (BStK-Nr. 153): 51 überwiegend im Text stehende Gll. in dem Kräuterglossar aus Redaktion A (Buch IV); bair., 14. Jh., St. Florian. – Ed. StSG III, S. 592 (Nr. MXXXVII); Nachtrag von 2 Gll. bei St. Stricker, Sprachwissenschaft 18 (1993) S. 92. Sigle X. – 19. St. Florian, StB XI 588 (BStK-Nr. 154a): über 500 Gll., zur Hälfte zu Redaktion A (II, 18-IV, 7), zur Hälfte zu Buch XI in Langfassung (A-S); frk.-obd., 13. Jh., St. Florian. – Ed. von 312 der Gll. in Jahrbücher der Literatur 41 (1828) Anzeigeblatt S. 23-26. – 20. Graz, UB 859 (früher 42/34 4º) (BStK-Nr. 269): 992 Gll. in fortlaufendem Text zum ‘SH’: 657 Gll. in Buch XI in Langfassung und 40 Gll. in Buch XI in Kurzfassung; 295 Gll. in Redaktion A (VIII, 8; III, 12; II, 19; III, 3-8; V, 1-7; X, 27); obd., 13. Jh. – Ed. StSG III, S. 58, 65-76, 112-114, 136-144, 170f. (Nr. DCCCCXXXVIIA), S. 219-221 (Nr. DCCCCXXXVIIIa1), S. 221-264 (Nr. DCCCCXXXVIIIa2); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I, S. 112-138, 209-215, 286-308, 375-381; II, S. 101-145, 147-176, 187-265, 268-289, 292-305, 310-512, 520-540 (Sigle Q). – 21. Heidelberg, UB Cod. Heid. Hs. 3957 (früher 362a, Nr. 28, Heft 5, Blatt 26a/b und 27a/b) (BStK-Nr. 277): 95 im fortlaufenden Text stehende Gll. zu Redaktion A (III, 16, 17; IV, 7, 8); frk.; alem., Ende 12. oder Anfang 13. Jh., Salem. – Ed. StSG III, S. 84-87, 104-107 (Nr. DCCCCXXXVIIA); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I, S. 159-164, 193-198 (Sigle K). – 22. Kiel, UB Cod. MS. KB 47 (BStK-Nr. 339): 542 in abgesetzten Zeilen geschriebene Gll. zu Buch XI in Langfassung; zahlreiche Unterstreichungen von jüngeren Händen; frk.obd.; Anfang 12. Jh.; (Hs. Anfang 12. Jh.). – Ed.; StSG III, S. 264-292 (Nr. DCCCCXXXVIIIb); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 147-176, 180-182, 187-207, 227-239, 243-249, 251-265, 267-305, 308-423, 428-430, 435-486, 488, 491-512, 516, 518539, 547-552 (Sigle c). – 23. Klagenfurt, UB Perg. HS 11 (früher Studienbibliothek 11) (BStK-Nr. 341): 262 Gll. zu Redaktion A (Buch IV, 3-12); bair., 13. Jh. – Ed. StSG V, S. 3337 (Nr. DCCCCXXXVII A); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I, S. 176-208 (Sigle T);

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‘Summarium Heinrici’

Berichtigung dazu bei St. Stricker, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (III), S. 355. – 24. Köln, HA W* 91 (BStK-Nr. 345a): 590 Gll. zu Buch XI in Langfassung; mfrk. und nd., 13. Jh. Gladbach. – Ed. U. Thies, S. 157-187. – 25. München, BSB Clm 2612 (BStK-Nr. 461): etwa 3.770 Gll., davon über 2.200 zu Redaktion A (Bücher I-X), 1.570 zu Buch XI in Langfassung; bair., 12. oder 13. Jh., Aldersbach. – Ed. StSG III, S. 58-175 (Nr. DCCCCXXXVIIA), S. 221-264 (DCCCCXXXVIIIa2); Berichtigungen und ein Nachtrag S. 723; vollständige Edition bei R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I, S. 1-108, 111-381; II, S. 147-180, 187-200, 202-244, 251-290, 292-308, 310-342, 344-428, 435-518, 520-547, 549553 (Sigle B). – 26. München, BSB Clm 3215 (BStK-Nr. 464): 860 Gll. zu Buch XI in Langfassung; Glossen von den jeweiligen Texthänden eingetragen, meist von späterer Hand rot unterstrichen; bair., frk.-obd., 13./14. Jh. Asbach. – Ed. StSG III, S. 264-292 (Nr. DCCCCXXXVIIIb); vollständige Edition bei R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 147-176, 178, 180-182, 187-239, 243-249, 251-265, 267-305, 308-423, 428-430, 435-488, 490-512, 514, 516-522, 525-539, 541, 547-553 (Sigle e). – 27. München, BSB Clm 12658 (BStK-Nr. 556): 348 Gll. zu Buch XI in Langfassung; bair.-frk., 14. Jh. Ranshofen. – Ed. StSG III, S. 323-328 (Nr. DCCCCXXXVIIIf). – 28. München, BSB Clm 17151 (BStK-Nr. 625): 585 im fortlaufenden Glossartext stehende Gll. zu Buch XI in Langfassung (A bis U/V); Textverlust durch 2 Blätter; von dem f. 26 folgenden Blatt nur noch ein schmaler Streifen erhalten; frk.-obd., bair.-frk., 12. Jh. Schäftlarn. – Ed. StSG III, S. 328-347 (Nr. DCCCCXXXVIIIg); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 147-151, 152-173, 176, 187198, 202-238, 251-265, 268-288, 292-295, 310-319, 321-340, 344-356, 358-373, 375-381, 383-422, 435-446, 450-484, 493-511, 520-539, 548f. (Sigle i). – 29. München, BSB Clm 17153 (BStK-Nr. 627): 633 Gll. in fortlaufendem Text zu Buch XI in Langfassung (A bis U/V); frk.-obd., bair.-frk., 12. Jh. Schäftlarn. – Ed. StSG III, S. 328-347 (Nr. DCCCCXXXVIIIg); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 147-151, 153-173, 176, 187198, 202-238, 251-265, 268-288, 292-304, 310-319, 321-340, 344-356, 358-381, 383-422, 435-446, 450-484, 493-511, 520-539, 548f. (Sigle k). – 30. München, BSB Clm 17194 (BStK-Nr. 630): 630 in fortlaufendem Text stehende Gll. zu Buch XI in Langfassung (AU/V); frk.-obd., bair.-frk., 12. Jh. – Ed. StSG III, S. 328-347 (Nr. DCCCCXXXVIIIg); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 147-151, 153-173, 176, 187-198, 202-238, 251-265, 268-288, 292-304, 310-319, 321-340, 344-356, 358-373, 375-381, 383-422, 435-446, 450484, 493-511, 520-539, 548f. (Sigle l). – 31. München, BSB Clm 23796 (BStK-Nr. 691): etwa 910 im Text stehende Gll. zu Redaktion A (II, 18-VI, 5); bair., frk.-obd., 15. Jh. – Ed. StSG III, S. 65-119 (Nr. DCCCCXXXVIIA); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I, S. 111240, 393 (Sigle F). – 32. München, BSB Clm 27329 (BStK-Nr. 694): 33 Gll. in Redaktion B (Auszüge); frk., 13./14. Jh. – Ed. StSG III, S. 217f. – 33. München, BSB Clm 29670/9 (BStK-Nr. 710x): 28 Gll. zu Buch XI in Langfassung (A und B); alem., besonders elsäss., Ende 11., Anfang 12. Jh. – Ed. B. Meineke, S. 28-32. – Fragment zu München, UB 4º Cod. ms. 914 vermisst und Nürnberg, GNM Hs. 42517 gehörend. – 34. München, UB 4º Cod. ms. 914 vermisst (BStK-Nr. 711): 17 Gll. zu Buch XI in Langfassung (M und N); Sprache unbestimmt, Ende 11., Anfang 12. Jh. – Ed. StSG III, S. 349 (Nr. DCCCCXXXVIIIk). – Fragment zu München, BSB Clm 29670/9 und Nürnberg, GNM Hs. 42517 gehörend. – 35. Nürnberg, GNM Hs. 42517 (BStK-Nr. 715): 21 Gll. zu Buch XI in Langfassung (A und C); bair., Ende 11., Anfang 12. Jh. – Ed. StSG III, S. 347f. (Nr. DCCCCXXXVIIIh); erneute, vollständige

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Ed. B. Meineke, S. 66-70. – Fragment zu München, BSB Clm 29670/9 und München, UB 4º Cod. ms. 914 vermisst gehörend. – 36. Nürnberg, GNM Hs. 27773 (BStK-Nr. 716a): 30 Interlineargll. zu grammatischem Exzerpt aus Redaktion A (II, 12); alem., 2. Hälfte 12. Jh. – Ed. W. Wattenbach, Eine alte Grammatik, AKDV NF 19 (1872) Sp. 121; R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I, S. 92-94 (Sigle U). – 37. Prag, UK MS XXIII E 54 (BStK-Nr. 786): 1.673 Gll. zu Redaktion A; frk.-obd., frk.-alem.?, Anfang 13. Jh. – Ed. StSG III, S. 65-170 (Nr. DCCCCXXXVII A); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I, S. 116-199, 201-374, 393401 (Sigle G). – 38. Sheffield, UL MS 1 (früher *MS 091 (G)) (BStK-Nr. 852): 35 im fortlaufenden Text stehende Gll. zu Buch XI in Langfassung (Buchstabe V); Sprache unbestimmt, Ende 13. Jh. – Ed. StSG V, S. 37f. (Nr. DCCCCXXXVIIIb). – 39. Straßburg, BNU B 114 verbrannt (BStK-Nr. 854): 138 Gll. zu Redaktion B (bekannt ist nur das Stück des ‘SH.’, das W. Wackernagel abgedruckt hat: Buch IV, 7-9, 15; V, 3-6); alem., frk.-alem., 14. Jh. – Ed. StSG III, S. 205-209 (Nr. DCCCCXXXVIIB); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 7073, 76f., 79-81 (Sigle M). – 40. Trier, StadtB 1124/2058 (früher 31) (BStK-Nr. 882): 2.455 Gll. zu ‘SH’, davon 2.339 zu Redaktion A (Buch II-X), 116 zu Buch XI in Kurzfassung; mfrk. nach rhfrk.-obd. Vorlage, Ende 12. Jh. Trier. – Ed. StSG III, S. 58-171 (Nr. DCCCCXXXVIIA); III, S. 219-221 (Nr. DCCCCXXXVIIIa1); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I, S. 1-3, 67-81, 97-103, 112-381, 392; R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 101-145 (Sigle C); Nachträge und Edition der jüngeren Glossen bei St. Stricker, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (III), S. 314-350. – 41. Wien, ÖNB Cod. 160 (früher 232) (BStK-Nr. 894): 355 vorwiegend interlinear, gelegentlich im Text stehende Gll. zu Buch XI in Langfassung (A-P); frk.-obd., Ende 12. Jh. Salzburg. – Ed. StSG III, S. 221-253 (Nr. DCCCCXXXVIIIa2); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 147-434 (Sigle b); Korrekturen dazu bei J. Splett, ZDPh 105 (1986) S. 460. – 42. Wien, ÖNB Cod. 413 (BStK-Nr. 913): auf geographische Namen beschränkter Auszug von 86 im fortlaufenden Text stehenden Gll. aus Redaktion B; Sprache unbestimmt, 13./14. Jh. Niederaltaich. – Ed. StSG III, S. 206209 (Nr. DCCCCXXXVIIB); vollständige Edition bei R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 72-76, 78-81 (Sigle R). – 43. Wien, ÖNB Cod. 2400 (BStK-Nr. 945): 3.633 Gll., davon 2.063 Gll. im Kontext der Redaktion A (Bücher I-X) und 1.570 Gll. im Kontext zu Buch XI in Langfassung; bair., obd., frk., Anfang 13. Jh. Heiligenkreuz. – Ed. StSG III, S. 58-171 (Nr. DCCCCXXXVIIA), S. 221-264 (Nr. DCCCCXXXVIIIa2) – Nachtrag bei StSG III, S. 723, Z. 16f., S. 723 (Nr. DCCCCXXXVIIIa2); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I, S. 1-65, 91108, 111-381; R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 147-180, 187-200, 202-244, 251290, 292-308, 310-342, 344-373, 375-381, 383-428, 435-491, 493-518, 520-547, 549-553 (Sigle A). – 44. Wien, ÖNB Cod. 2532 (BStK-Nr. 948): 107 Gll. in fortlaufend eingetragenem Kräuterglossar aus Redaktion A (Buch IV, 7-12, 3); ofrk.?, 12. Jh. – Ed. StSG III, S. 171173 (Nr. DCCCCXXXVIIA, Anhang a), S. 569f. (MXXIII); R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I, S. 187-195, 197, 200f., 203-206, 208 (Sigle W). – 45. Würzburg, UB M. p. th. q. 60 [f. 79-121] (BStK-Nr. 998 III): 32 Gll. zu Buch XI in Langfassung (Exzerpte: C-H, M); frk., 13. Jh. (Hs. bayer.-österr. Raum). – Ed. StSG III, S. 348f. – 46. Zürich, ZB Ms. C 58 (BStK-Nr. 1001): 273 im fortlaufenden Text stehende Gll. zu Redaktion A (Buch IV, 1-11); alem., obd., Ende 12. Jh. – Ed. StSG III, S. 90-111 (Nr. DCCCCXXXVIIA); Edition der Glossen bei R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I, S. 170-207 (Sigle S).

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Es gibt vollständige Codices in teilweise prächtiger Ausstattung, allen voran Hs. B (München, Clm 2612), aber auch A (Wien, Cod. 2400) und V (Erlangen, cod. 396). Es überwiegen aber die einfach gestalteten, meist auch schlecht erhaltenen und z. T. Auslassungen aufweisenden Hss. wie C (Trier, Cod. 1124/2058), H (Darmstadt, cod. 6), Q (Graz, cod. 859: mit Lang- und Kurzfassung von Buch XI und dann einigen wenigen vermischten Kapiteln aus den Büchern II, III, V, VIII und X); lediglich Exzerpte aus den Büchern II-IV sowie eine stark verkürzte Fassung des XI. Buches bietet die Hs. St. Florian, cod. XI. 588. Einige Hss. enthalten nur die sachlich geordneten Bücher bzw. Teile daraus: E (Einsiedeln, cod. 171), F (München, Clm 23796), G (Prag, MS XXIII E 54), L (Erfurt, cod. F 81). Drei Hss. enthalten nur Pflanzenkapitel aus Buch IV: S (Zürich, cod. C 58), T (Klagenfurt, cod. 11), W (Wien, cod. 2532); Einzelblattfragmente: K (Heidelberg, Cod. Heid. Hs. 3957, f. 11 u. 12) P1, 2, 3 (Bern, Cod. 722,1; Zürich, Ms. C 58, Nr. 4; Bonn, S 476), U (Nürnberg, Cod. 27773). Die Sechs-Bücher-Fassung überliefern die Hss. D (St. Blasien, nach einem Frühabdruck von 1765 verschollen), M (Straßburg, B 114 verbrannt, nur kurze Auszüge bekannt); Einzelblattfragmente: I (Einsiedeln, cod 364 (385) [p. 45-48]), N (Brixen, D 19 (Nr. 86)), R (Wien, Cod. 413). Das XI. Buch (Langfassung) allein und ohne Summariumtitel tradieren in Version 1: f (Florenz, Plut. 16.5, teilweise mit Version 2 kontaminiert), g (Berlin, Ms. lat. 8º 445), h (Engelberg, Codex 66), i (Clm 17151), k (Clm 17153), l (Clm 17194) und Köln, W* 91; in Version 2 neben der Hs. Q noch: a (Berlin, Ms. lat. 8º 93), b (Wien, Cod. 160), c (Kiel, Cod. KB 47), d (Admont, Cod. 269), e (Clm 3215) sowie Basel, B. IX. 31 und Basel, B. X. 18. In den Hss. A (Wien, Cod. 2400) und B (München, Clm 2612) sind beide Versionen kontaminiert, und die Kurzfassung ist noch zusätzlich eingebracht. Über die genannten Hss. hinaus sind bisher noch 6 Zeugnisse mit Textexzerpten bekannt geworden, z. B. m (Erlangen, Cod. 2006). 7. Forschungsstand: Datierung und Lokalisierung: Die ältere Forschung (StSG III, S. 712; E. Schröder) entnahm aus dem Kapitel über die Bischofsstädte zunächst einen terminus post quem, nämlich 1007 als Gründungsjahr des in der Aufzählung (Buch VII, 3) genannten Bistums Bamberg, sodann aber auch einen terminus ante quem, der sich aus der nicht genannten Verlegung des Zeitzer Bischofssitzes 1032 nach Naumburg ergeben sollte. Letzteres ist jedoch nicht stichhaltig, da sich aus dem Fehlen einer Glosse kein sicherer Beweis ableiten lässt. Die besten und ältesten Hss. zeigen einen spätahd. Lautstand, was zur Annahme der Entstehung des Werks im 11. Jh. führt und extreme Spätdatierungen in die Mitte des 12. Jh.s (erste Fassung) und Anfang oder Mitte des 14. Jh.s (zweite Fassung) (W. Wegstein, ZDA 101 [1972] S. 312; W. Wegstein, Studien, S. 35ff.; W. Wegstein, in:

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Althochdeutsch, II, S. 1223) nicht zulässt. Viele Glossen weisen zudem mehr in die sprachlichen Horizonte des 10. und 11. Jh.s (H. Tiefenbach, BNF NF 10 [1975] S. 241-280), andere, die eher einer späteren Zeit angehören, können natürlich auch als Wortaustausch jüngeren Redaktionen zuzuschreiben sein. Wegen der unmittelbaren Textabhängigkeit einer Stelle des ‘SH’ von einer Marginalglosse Ekkehards IV. von St. Gallen wola herro heile gnadigo (‘SH’ Buch II, 1357) ist jüngst auch eine engere Beziehung des Verfassers zu Ekkehard ins Blickfeld gerückt, möglicherweise während dessen Aufenthalts in Mainz nach 1022 (R. Hildebrandt, in: Verborum amor, S. 238-248). Für das Ende des 11. Jh.s liefert die Nennung der Kumanen als Flavi valwun (Buch VIII, 1) ein beweiskräftiges Kriterium: Dieses turksprachige Reitervolk trat erst in der zweiten Hälfte dieses Jh.s in den Gesichtskreis der europäischen Völker (N. Wagner, ZDA 104 [1975] S. 118-126). D. Gottschall (ZDA 119 [1990] S. 397-403) wies nun durch die Bezeugung einer Hs. von Buch III des ‘SH’ im mal. Bibliothekskatalog des Klosters Blaubeuren das Jahr 1101 als Terminus ante quem nach. Die ganz neu nachgewiesene Benutzung der Kurzfassung des ‘SH’ durch Hildegard von Bingen (s. u. 6.) kommt der frühen Datierung ebenfalls entgegen. Die beiden ältesten Hss. c und g (spätestens Anfang des 12. Jh.s) überliefern nur das XI. Buch, dieses aber schon in den zwei unterschiedlichen Versionen, sodass also bereits eine gewisse Zeitspanne tradierender Bearbeitung vorausgegangen sein muss. Möglicherweise hat aber auch der Verfasser selbst sein Werk mehreren Bearbeitungsphasen unterworfen. Wenn er es für den eigenen Schulunterricht konzipiert hatte, haben es seine in Jahrgängen aufeinanderfolgenden Schüler evtl. auch in verschiedenen Versionen kennengelernt und abgeschrieben. Eine bezeichnende und zeitbedingte Schwachstelle des Textes ist in dieser Hinsicht das Kap. de musica (Buch II, 17), das in der isidorischen Version offenbar als so veraltet erschien, dass es in allen Hss. außer V ausgelassen wurde, in V selbst aber im Anschluss an den Text nach Isidor sogleich noch eine textliche Ergänzung aus dem Werk des zeitgenössischen Musiktheoretikers Guido von Arezzo († 1050) erfuhr. Das muss nicht unbedingt einem späteren Redaktor zuzuschreiben sein, es könnte auch auf einen Eingriff des Verfassers selbst in einer späteren Bearbeitungsphase zurückgehen. Der Text der Hs. V ist jedenfalls wohl der autornächste überhaupt. Ein erster Versuch (E. Schröder, ZDA 73 [1936] S. 103f.), die Heimat des Verfassers im Mittelrheingebiet mit Worms als geistigem Zentrum (Bischof Burchard), jedoch einem südlicheren Umland wegen des (vermeintlich) obd. Charakters der Sprache zu suchen, ist neuerdings in zweifacher Richtung relativiert worden. Worms behält aber in beiden Fällen einen mittelbaren Stellenwert durch die Schlüsselfunktion der Glosse Wormatienses l*trudin (Buch VII, 3).Lange Zeit für undeutbar gehalten, gilt es heute als sicher, dass es sich bei dieser Glosse um ein Schimpfwort

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handelt: entweder gedeutet als ‘Rotten’- oder ‘Hordenhunde’ oder möglicherweise auch als ‘Lästerhunde’. Bei der ersten Deutung hätte man sich einen Verfasser vorzustellen, dem die urkundlich bezeugten ständigen räuberischen Überfälle des Bischofsgesindes von Worms auf rechtsrheinisches Gebiet ein Ärgernis waren; dann wäre ganz konkret das Kloster Lorsch als Sitz des Verfassers im Blickfeld (R. Hildebrandt, Summarium Heinrici I, S. XXIIIf., modifiziert auch W. Wegstein, Studien, S. 49ff.). Bei der zweiten Deutung stünde ein theologischer Schulstreit im Vordergrund, der in den Jahren 1025 bis 1044 zwischen den Domschulen von Worms und Würzburg entbrannt war und sich in den Dokumenten auf Würzburger Seite mehrfach in dem lat. Schimpfäquivalent canes für die Wormser niedergeschlagen hat (H. Tiefenbach, BNF NF 10 [1975] S. 260). Der damit nahegelegte Würzburger Standort des Verfassers wird vor allem durch das (z.T. auch in Lorsch realisierte) Kriterium der nichtpostvokalischen Verschiebung von /p/ zu /pf/ untermauert. Für eine Würzburger Verortung der Sprache sprechen auch weitere, zumindest in Buch XI durchgeführte Verschiebungen von nichtpostvokalischem /k/ sowie anlautendem /b/ und /d/ (zusammenfassende Darstellung bei St. Stricker, Basel ÖBU. B IX 31, S. 70-85). 8. Glossographische Aspekte: Die dt. Glossen variieren lautlich-graphematisch wie auch hinsichtlich der Wortwahl von Hs. zu Hs. Ihre Zugehörigkeit zum Text wird aber nicht angetastet und auch nicht prinzipiell gekürzt oder ausgeweitet. Einzelne Überlieferungen weisen aber zahlreiche individuelle Ergänzungen auf (z.B. in Basel, B IX. 31). Eine stemmatische Gruppierung der Hss. der Zehn-Bücher-Fassung nach zwei Hauptzweigen (W. Wegstein, Studien, S. 97) muss problematisch bleiben, auch eine dreifache Verzweigung ist nicht auszuschließen. Vollends unrealistisch wäre die Suche nach einer Urfassung des XI. Buches. Über die erkennbaren Versionen 1 und 2 und Derivate von beiden sowie mögliche Kontaminationen zwischen beiden hinaus ist eine eindeutig erschließbare Anfangskonzeption nicht zu ermitteln, das verhindert bereits der ungeklärte Stellenwert der Kurzfassung von Buch XI. 9. Räumliche und zeitliche Verteilung: Heute sind 44 Hss. bekannt, die das ‘SH’ oder Teile des Werkes überliefern. Diese Textzeugen sind in verschiedener Hinsicht heterogen, und zwar hinsichtlich des Umfangs, hinsichtlich der Authentizität, des Bearbeitungsstandes, der Herkunft und des Alters. Die Hss. stammen aus fünf verschiedenen Jhh. Der Schwerpunkt der Überlieferung liegt im 12. und 13. Jh. Bei der Lokalisierung der Hss. steht der süddeutsche Raum im Mittelpunkt, jedoch stammen mehrere Überlieferungsträger auch aus dem westlichen Mitteldeutschen, in einem Fall sogar aus dem ribuarischen Sprachgebiet. Die Verteilung der Hss. stellt sich in zeitlicher Hinsicht wie folgt dar: Eine Hs., von der drei Fragmente erhalten sind (Nürnberg, Hs. 42517, München, Clm 29670/9,

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München, 4º Cod. ms. 914 vermisst), stammt aus dem späten 11. Jh. oder frühen 12. Jh. 17 Hss. (Siglen C, E, H, K, S, U, W, a, b, c, d, f, g, h, i, k, l) gehören dem 12. Jh. an. Vom 12./13. Jh. bis zum Ende des 13. Jh.s sind 15 Hss. (A, B, G, I, L, N, P1-3, Q, T, V, m und St. Florian, XI 588, Köln, W* 91, Sheffield, MS 1, Würzburg, M. p. th. q. 60 [f. 79-121]) zu nennen, wobei drei an unterschiedlichen Orten aufbewahrte Fragmente, die ursprünglich einer Hs. angehörten (L. Voetz), auch als eine Hs. gezählt werden. Aus dem 13./14. Jh. bzw. dem 14. Jh. stammen acht Hss. (Siglen D, R, M, e, Basel, B. X. 18, St. Florian, XI 54, München, Clm 12658, München, Clm 27329), und zwei Hss. (Sigle F und Basel, B. IX. 31) verteilen sich schließlich über das 15. Jh. Aus der Zeit bis zum Ende des 13. Jh.s sind mindestens 34 von insgesamt 44 Hss. bekannt (= 77%). Für die Frage, ob all diese Hss. noch dem Ahd. zuzurechnen sind bzw. welche Hss. möglicherweise ausgeschlossen werden, ist die Datierung der Hss. nahezu unbedeutend. 10. Beziehungen zwischen den Glossierungen: Über die Beschaffenheit des Originals ist keine Aussage möglich. Der Prosaprolog, der eine paraphrasierende Inhaltsangabe aller elf Bücher darstellt, stammt zwar mit Sicherheit vom Verfasser, ist aber wahrscheinlich erst dem abgeschlossenen Werk beigefügt worden, evtl. auf einem Zusatzblatt, wie es auch die nachträgliche Voransetzung von anderer Hand in der Hs. C wahrscheinlich macht. Der Versprolog dagegen ist erst ein Zusatz der jüngsten Bearbeitungsstufe, die von den Hss. A, B, (F, P) repräsentiert wird. Dabei dürften auch fünf nachträgliche Grammatikkapitel (I, 24, 35; II, 11-13) eingefügt worden sein, die keine Auszüge aus älteren Autoren darstellen, sondern sicherlich Produkte des 12. Jh.s sind. Zur stemmatologischen Gruppierung der Hss. hat W. Wegstein (Studien, S. 97) wesentliche Vorarbeiten geleistet, die von R. Hildebrandt (in: BStH I, S. 674-680) modifiziert und um die Erkenntnisse zur Redaktion B ergänzt werden. Grundlegend bleibt die zweigeteilte Ausgangssituation aller Hss. mit den ersten Bearbeitungsstufen X und Y im Anschluss an eine Redaktion A, die als Endprodukt einer längeren Bearbeitungsphase des Verfassers unter der Zielvorstellung eines virtuellen Originals entstanden ist. Redaktion B mit ihrer Umordnung in sechs Bücher ist denkbar schlecht bezeugt, macht aber mit ihren dt. Wortbestandteilen überraschend deutlich, dass sie im engsten Verbund mit der Hss.gruppe G, V, S steht, d. h. dass für beide die Vorstufe Y maßgebend war, die so gut wie immer den Wortschatz des Verfassers bewahrt haben dürfte, wobei in der Redaktion B sogar der spätahd. Lautstand noch weitgehend beibehalten wurde. Das lässt die Vermutung aufkommen, dass die Redaktion B noch vom Verfasser selbst oder doch unter seinen Augen vorgenommen worden

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sein könnte. Diese Vermutung wäre übrigens genauso wie für die Kurzfassung auch für die Langfassung des elften Buches, zumindest in der von den Hss. Q, a, b vertretenen Fassung, anzustellen. Die Analyse der dt. Wortvarianten zeigt in hohem Maße eine Übereinstimmung zwischen den Hss. G, S, V der Redaktion A mit D, (I, M, N, R) der Redaktion B, das heißt, sie gehen über die Vorstufe Y direkt auf den Verfasser zurück (dazu im Einzelnen R. Hildebrandt, in: BStH I, S. 674-680). Wenn weitere Gemeinsamkeiten auch mit den Hss. C oder C, E oder C, E, H bestehen, dann ist der originäre Wortschatz erst allmählich stufenweise über die Redaktionen X, X1 und X2 geändert worden. 11. Wirkungsgeschichte: Das ‘SH’ hat bis in die Zeit der großen neuen Vokabularien des 14. /15. Jh.s nachgewirkt, wie z. B. die Datierung der Hs. F ins 15. Jh. und der Baseler Hs. B IX 31 sogar ins späte 15. Jh. beweisen. In beiden ist noch an textgetreuer Wiedergabe festgehalten. Einen freieren Umgang mit dem Text kann man in dieser Spätphase z. B. an der Fassung des Clm 1268 aus dem 14. Jh. erkennen. Eine unmittelbar greifbare Einwirkung ist beim Hortus deliciarum (2. Hälfte 12. Jh.) der Herrad von Landsberg festzustellen, in den das ‘SH’ in umfangreichen Textexzerpten eingegangen ist. Dass auch Hildegard von Bingen das ‘SH’, hauptsächlich in der zweiten Fassung, ausgiebig benutzt und in zwei ihrer Werke (Lingua ignota und Physica) eingebracht hat, konnte inzwischen ebenfalls nachgewiesen werden (R. Hildebrandt, in: Stand und Aufgaben der deutschen Dialektlexikographie, S. 89-110). Dies unterstreicht den Charakter des ‘SH’ als Lehrbuch für den Elementarunterricht, wie er in der Erlanger Hs. V auch einmal als sekundäre Kapitelüberschrift explizit gemacht ist: Manger hande dinge lere hie anvaht gern lernder kinde (Buch X, 26, Zeile 399). Die enge Verzahnung des XI. Buches mit einer frühen, nicht von Papias abhängigen, aber noch vor Osbern und Hugucio anzusetzenden Sammlung von Derivationen, wie sie in den drei Hss. i, k und l aus Schäftlarn vorliegt, zeigt ebenfalls den beträchtlichen Gebrauchswert des ‘SH’ in Verbindung mit jüngeren Lehrbuchkonzeptionen. Indirekte Einwirkungen dürfte das (veraltende) ‘SH’ deshalb auch auf jüngere und zeitgemäßere Neuschöpfungen gehabt haben wie den Vocabularius optimus des Johannes Kotman, den Liber ordinis rerum oder die Vokabulare des Fritsche Klosener und Jacob Twinger sowie den Vocabularius Ex quo. Genauere Untersuchungen darüber liegen bislang noch nicht vor. 12. Umfang und Bedeutung: Das ‘SH’ ist die größte und bedeutendste Realenzyklopädie des Mittelalters, die ursprünglich (nach Ausweis des Prosaprologs) für den Lateinunterricht konzipiert worden ist. Mit seiner breiten Überlieferung (44 Hss.) und seinem großen Bestand an dt. Wortgut (weit über 4.200 Gll.) stellt das ‘SH’ in der Spätphase des Ahd. neben den Ú ‘Salomonischen Glossaren’ und den Ú ‘Versus

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de volucribus …’ das dritte große Glossar dar, das noch originär aus dem 11. Jh. stammt, aber bis in das 15. Jh. hinein weitertradiert wird. Das ‘SH’ überragt die Glossae Salomonis deutlich hinsichtlich der Breite der handschriftl. Überlieferung und die Versus-Überlieferung durch die thematische Breite und den Umfang an dt. Glossen (R. Bergmann – St. Stricker, in: Dt. Texte der Salierzeit, S. 91-108). Konzeptionell geht das ‘SH’ eigene Wege, da es sein Wissen in 10 Büchern sachlich-thematisch und in einem elften Buch alphabetisch organisiert. Die dt. Glossen gehören lautlich in die Spätphase des Ahd., reichen überlieferungsgeschichtlich aber in eine weit jüngere Zeit hinein. Das Werk hat die ahd. Glossartradition über fünf Jahrhunderte mitbestimmt, bevor es in nachahd. Zeit durch eine neue Vokabularüberlieferung ersetzt worden ist. 13. Literatur: BStK-Nr. 4, 34c, 34d, 37, 53, 66, 68, 72, 77, 93, 118, 135, 138, 142, 145, 146, 151, 153, 154a, 269, 277, 339, 341, 345a, 461, 464, 556, 625, 627, 630, 691, 694, 710x, 711, 715, 716a, 786, 852, 854, 882, 894, 913, 945, 998 III, 1001; StSG III, S. 58-350, 701712; R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I. Textkritische Ausgabe der ersten Fassung Buch I-X, II. Textkritische Ausgabe der zweiten Fassung Buch I-VI sowie des Buches XI in Kurzund Langfassung, R. Hildebrandt – K. Ridder, Summarium Heinrici, III. Wortschatz. Register der deutschen Glossen und ihrer lateinischen Bezugswörter auf der Grundlage der Gesamtüberlieferung, QF NF 61, 78, 109, Berlin/New York 1974, 1982, 1995; G. Becht, Die wiederentdeckten Fragmente des ‘Summarium Heinrici’, HdJB 27 (1983) S. 144-148; R. Bergmann – St. Stricker, Neuanfänge und Kontinuitäten in der deutschsprachigen Glossographie, in: Dt. Texte der Salierzeit, S. 91-108; W. Crossgrove, Die dt. Sachlit., S. 35-37; D. Gottschall, Ein neuer Fund zur Datierung des Summarium Heinrici’, ZDA 119 (1990) S. 397-403; R. Hildebrandt, Das ‘Summarium Heinrici’, in: BStH I, S. 665-682; R. Hildebrandt, (Besprechung von: W. Wegstein, Studien zum ‘Summarium Heinrici’), ZDA 97 (1986) S. 120-129; R. Hildebrandt, Die Florentiner Handschrift des ‘Summarium Heinrici’ (Buch XI), MeR. 2 (1988) S. 1-16; R. Hildebrandt, Nagolder Stecklinge. Zur Heimatfrage des Summarium-Verfassers, SLSF 118 (1995) S. 155-166; R. Hildebrandt, Summarium Heinrici: Eigilo, der engagierte Kopist, in: Althochdeutsch, I, S. 600-607; R. Hildebrandt, Summarium Heinrici: Das Lehrbuch der Hildegard von Bingen, in: Stand und Aufgaben der deutschen Dialektlexikographie, S. 89-110; R. Hildebrandt, Summarium Heinrici: Der Rachinburgius ist ein Landrechter, in: Sprache und Recht. FS Ruth Schmidt-Wiegand, I, S. 246-262; R. Hildebrandt, Zu einer Textausgabe des ‘Summarium Heinrici’: Der Erlanger Codex (V), ZDA 101 (1972) S. 289-303; R. Hildebrandt, in: 2VL IX, Sp. 510-519; R. Hildebrandt, Uuillechomô! Ekkehards IV. beliebte Grußformel, in: Verborum amor. FS Stefan Sonderegger, S. 238-248; R. Hildebrandt, Zum Wortschatz der Hildegard von Bingen (Essigkalb, Denemarcha, ziergerne), in: Studier i Talesprogsvariation og Sprogkontakt. Festskrift til Inger Eiskjær på halvfjerdsårsdagen den 20. maj 1996, Kopenhagen 1996, S. 124-134; R. Hildebrandt, Der Wort‘Schatz’ des Summarium Heinrici, in: Brüder-Grimm-Symposion zur Historischen Wortforschung. Beiträge zu der Marburger Tagung vom Juni 1985, hg. v. R. Hildebrandt – U. Knoop, Berlin/New York 1986, S. 40-58; P. Höpfel, Die Lehnprägungen im Glossar Heinrici Summarium, Dissertation München, Augsburg 1970; A. Hortzschansky, Aus dem Summarium Hein-

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‘Summarium Heinrici’

rici, ZDPh 12 (1881) S. 305-322; B. Meineke, Liber Glossarum und Summarium Heinrici. Zu einem Münchner Neufund. Mit 2 Abbildungen, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Dritte Folge 207, Göttingen 1994; K. Ridder, (Besprechung von: W. Wegstein, Studien zum ‘Summarium Heinrici’), ZDL 55 (1988) S. 245-249; E. Schröder, Summarium Heinrici, ZDA 73 (1936) S. 103f.; E. Schröder, Heinricus Francigena, ZDA 66 (1929) S. 32; J. Splett, (Besprechung von: R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II), ZDPh 105 (1986) S. 458-461; J. Splett, (Besprechung von: St. Stricker, Basel ÖBU. B IX 31.), LB 80 (1991) S. 115-118; J. Splett, (Besprechung von: W. Wegstein, Studien zum ‘Summarium Heinrici’), ZDPh 107 (1988) S. 117-119; St. Stricker, Basel ÖBU. B IX 31. Studien zur Überlieferung des Summarium Heinrici. Langfassung Buch XI, StA 13, Göttingen 1989; St. Stricker, Die Summarium-Heinrici-Glossen der Handschrift Basel ÖBU. B X 18, StA 15, Göttingen 1990; St. Stricker, Nochmals zum Summarium Heinrici. Basel ÖBU. B IX 31, Sprachwissenschaft 16 (1991) S. 453-458; St. Stricker, Florentinisches. Zur Überlieferung des Summarium Heinrici, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (III), S. 298-308; St. Stricker, Nachzutragende Glossen aus der Handschrift Trier, StadtB. 1124/2058, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (III), S. 309-351; St. Stricker, Nachträge und Korrekturen zur Ausgabe der Summarium-Heinrici-Handschrift Erlangen, UB. Erlangen/ Nürnberg Ms. 396, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (III), S. 352-364; St. Stricker, Editionsprobleme des Summarium Heinrici, in: Probleme der Edition ahd. Texte, S. 38-75; U. Thies, Graphematisch-phonematische Untersuchungen der Glossen einer Kölner Summarium-Heinrici-Handschrift. Mit Edition der Glossen, StA 14, Göttingen 1989; H. Tiefenbach, (Besprechung von: R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II,), BNF NF 19 (1984) S. 419-424; H. Tiefenbach, Der Name der Wormser im Summarium Heinrici. Bemerkungen zur Neuedition des Glossars mit Beiträgen zu Lokalisierung, Datierung und Werktitel, BNF NF 10 (1975) S. 241-280; L. Voetz, Summarium Heinrici Codex discissus P. Kodikologische und stemmatologische Vorarbeiten zur sprachlichen Auswertung einer althochdeutschen Glossenhandschrift, Sprachwissenschaft 5 (1980) S. 364-414; N. Wagner, Zur Datierung des ‘Summarium Heinrici’, ZDA 104 (1975) S. 118-126; W. Wegstein, Über ‘Abavus ûrano, uuerano’ im ‘Summarium Heinrici’. Anmerkungen zur Lautgeschichte von ur-, in: Althochdeutsch, II, S. 1222-1230; W. Wegstein, Anmerkungen zum ‘Summarium Heinrici’, ZDA 101 (1972) S. 303-315; W. Wegstein, (Besprechung von: R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, I), ADA 88 (1977) S. 8-15; W. Wegstein, Datierungsprobleme des ‘Summarium Heinrici’ und die zeitliche Abgrenzung des Althochdeutschen, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 529-536; W. Wegstein, Studien zum ‘Summarium Heinrici’. Die Darmstädter Handschrift 6. Werkentstehung, Textüberlieferung, Edition, Texte und Textgeschichte. Würzburger Forschungen 9, Tübingen 1985.

STEFANIE STRICKER

‘Tatian’

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‘Tatian’ Evangelienharmonie, 2. Viertel des 9. Jahrhunderts. 1. Überlieferung: a) St. Gallen, StB 56; 171 Bll., zweispaltig geschriebene lat.-ahd. Bilingue, 2. Viertel 9. Jh. aus Fulda (= G). – b) Aus einer seit Ende des 17. Jh.s verschollenen Hs. veröffentlichte der niederländische Gelehrte Bonaventura Vulcanius, in dessen Besitz sie sich damals befand, a. 1597 einige Textproben. Eine von ihm für Marquard Freher veranlasste (unvollständige) Abschrift gelangte aus dessen Nachlass a. 1653 in den Besitz von Franciscus Junius und nach dessen Tod (a. 1677) als Ms. Jun. 13 in die Oxford Bodleian Library (= B) (sieh besonders J. Rathofer, PBB 95 [Tübingen 1973] S. 13f.; M. Flöer, Altêr uuîn in niuuen belgin, 1999, S. 37. – c) Paris, BNF lat. 7641 enthält im Anschluss an die sogenannten Ú ‘Pariser Gespräche’ auf den Rändern der Bll. 4v-16r von einer Hand des späten 9. oder frühen 10. Jh.s mit „ausgesprochen französischer Schrift“ (B. Bischoff, FMSt 5 [1971] S. 133) einige Wendungen und Einzelwörter, die aus den letzten Lagen der lat.-ahd. TatianBilingue exzerpiert worden sind, und zwar grundsätzlich in rückläufiger Abfolge (‘Pariser Fragmente’ = P) . – d) Vermutungen über weitere Handschriften (sieh bereits E. Sievers, Ausgabe, S. XVIf.) und verschollene Zwischenstufen (u. a. G. Baesecke, Die Überlieferung des althochdeutschen Tatian, 1948; H. Endermann, in: Septuaginta quinque. FS Heinz Mettke, 2000, S. 64-66) entbehren jeder Grundlage (A. Masser, Sprachwissenschaft 35 [2010] S. 291-310). Doch ist anzunehmen, dass außer dem nach St. Gallen verbrachten Original (G) ein Zweitexemplar (Kopie) in Fulda verblieben ist (s. u.), und es spricht nichts dagegen, diese Hs. in jener zu sehen, die sich später im Besitz des Bonaventura Vulcanius befunden hat (= B). Die Pariser Tatian-Zitate dürften aus Hs. B stammen. – Zur Hs. G sieh auch PadRep. 2. Ausgaben: Handschriftnahe Ausgabe durch A. Masser unter Mitarbeit von E. De FelipJaud, Die lateinisch-althochdeutsche Tatian-Bilingue Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. 56. StA 25, Göttingen 1994 (G); E. Sievers, Tatian. Lateinisch und altdeutsch mit ausführlichem Glossar, Paderborn 1872 (vgl. dazu die Rezension von E. Steinmeyer, ZDPh 4 [1873] S. 474477), 2. A. 1892, unveränd. Nachdr. Darmstadt 1960 u. ö. (G); hiernach Textproben u. a. bei W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. XX. – Editio princeps (auf der Grundlage von Hs. B) durch Johann Philipp Palthen, Tatiani Alexandrini Harmoniæ Evangeliæ antiquissima Versio Theotisca, Greifswald 1706 (reprogr. Neudr. durch P. Ganz, Amsterdam/Atlanta 1993); erste Ausgabe nach Hs. G durch J. A. Schmeller, Ammonii Alexandrini quae et Tatiani dicitur Harmonia Evangeliorum, Wien 1841; zu weiteren älteren Ausgaben sieh E. KargGasterstädt, in: VL IV, Sp. 373. – Faksimile bei H. Fischer, Schrifttafeln, Taf. 9 (= S. 25 der Hs.); G. Baesecke, Der dt. Abrogans, Taf. VIII und Taf. IX (= S. 124 und S. 170 der Hs.; Taf. VIII nachgedruckt von G. Eis, Altdt. Hss., S. 30). – Cod. Sang. 56 vollständig in den Codices Electronici Sangallenses unter http://www.cesg.unifr.ch/de/index.htm. – Ausgabe der ‘Pariser Fragmente’ (P) von E. Sievers, Ausgabe (1892), S. 290-292 (dazu E. Steinmeyer, StSG V, S.

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‘Tatian’

521-524); H. Endermann, in: Septuaginta quinque. FS Heinz Mettke, S. 61-82; H. U. Schmid, in: Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach, S. 395-425 (mit Abb.).

3. Grundlage: Der ahd. ‘Tatian’ trägt seinen Namen nach dem Verfasser der ältesten bekannten Evangelienharmonie, dem zeitweilig in Rom lebenden Syrer Tatian(-us/ -os). Dessen um das Jahr 170 griechisch oder syrisch abgefasstes Diatessaron, in dem (unter gelegentlicher Berücksichtigung auch apokrypher Texte) die Berichte der Synoptiker in den chronologischen Rahmen des Johannesevangeliums eingearbeitet sind, war weit verbreitet und fand bis ins 5. Jh. in der syrischen Kirche auch liturgische Verwendung (zu Tatianos B. Altaner – A. Stuiber, Patrologie, 91993 Freiburg/Basel/Wien). Eine früh erfolgte, nicht erhaltene Übersetzung ins Lateinische ist gegen Mitte des 6. Jh.s von Bischof Victor von Capua († 554) überarbeitet und an den inzwischen zur Geltung gekommenen Wortlaut der Bibelübersetzung des Hieronymus (Vulgata) angeglichen worden. Vermutlich von Bonifatius († 754) bei Gelegenheit einer seiner Romreisen (dann also spätestens im Jahre 738/39) erworben und aus seinem Besitz in den Grundstock der Bibliothek des von ihm a. 744 gegründeten Klosters Fulda übergegangen (= Fulda, HLB Cod. Bonifat. 1), ist diese Bearbeitung dort in hohen Ehren gehalten worden. Die Hs., die außer der Evangelienharmonie auch alle anderen Bücher des NT enthält, ist im übrigen von erheblichem Wert für die textkritische Arbeit am Neuen Testament, vgl. B. Fischer, Lateinische Bibelhandschriften im frühen Mittelalter, Vetus Latina. Aus der Geschichte der lateinischen Bibel 11, Freiburg 1985, S. 57-66. Ausgabe: Codex Fuldensis. Novum Testamentum latine interprete Hieronymo ex manuscripto Victoris Capuani edidit, prolegomenis introduxit, commentariis adornavit Ernestus Ranke. Marburgi et Lipsiae 1868 (digitalisiertes Exemplar dieser Ausgabe: München, BSB, Sign. B. lat. 473). 4. Anlage der St. Galler Hs.: Im 2. Viertel des 9. Jh.s wurde „unter dem Zwang eines verbindlichen Programms“ (J. Rathofer) von dieser in Fulda vorhandenen lat. Evangelienharmonie eine detailgetreue (dabei aber textlich stellenweise korrigierte und im übrigen aus der Unziale der Vorlage in die karolingische Minuskel transferierte) Kopie angefertigt und anschließend unter Mitwirkung mehrerer Übersetzer ins Deutsche übertragen. In einem dritten, aufwendigen und mühevollen Arbeitsgang sind diese Kopien und ihre Übersetzung sodann (aus bis dahin getrennten Vorlagen) in eine zweispaltig angelegte lat.-ahd. Bilingue zusammengeführt worden. Hierbei haben die beteiligten sechs Schreiber jeweils den lat. wie den ahd. Text Zeile für Zeile parallel und unter Bedachtnahme auf eine exakte textliche Korrespondenz von linker Spaltenzeile und rechter Spaltenzeile eingetragen. Der uns überlieferte Cod. Sang. 56 ist das – originale – Ergebnis dieser beschwerlichen Arbeit und zeugt an zahlreichen Stellen (J. Rathofer, 1971, bes. S. 88-94) von den Schwierigkeiten, die

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461

sich für die Schreiber ergaben, um die beabsichtigte genaue Übereinstimmung zwischen lat. und ahd. Text zu erreichen (sieh auch A. Masser, in: Grammatica ianua artium. FS Rolf Bergmann, S. 49-70). Der Umfang des jeweiligen Anteils der sich abwechselnden Schreiber ist unterschiedlich, die Gründe für die fallweisen Wechsel sind nur unvollkommen einsichtig, so etwa wenn der Schreiber ε nach nur reichlich vier Seiten Mitarbeit wieder ausscheidet, und zwar wegen offensichtlicher Unfähigkeit, was zugleich für die ständige Kontrolle durch einen verantwortlichen Leiter zeugt. Dieser Leiter der Schreibarbeiten ist im Schreiber ζ zu erkennen, der persönlich den größten Schreibanteil hat und im übrigen eine abschließende Gesamtkorrektur des Textes vorgenommen hat. Bei dieser Tätigkeit war er unter anderem augenscheinlich darauf bedacht, von bestimmten Mitarbeitern gebrauchte veraltete Sprach- und Schreibformen durch jüngere zu ersetzen (A. Masser, Die lat.-ahd. Tatianbilingue u. ö.), vielleicht auch (Th. Klein, in: Sprachgeschichte, Dialektologie, Onomastik, Volkskunde, S. 17-43) dialektale Eigenheiten zu beseitigen. Nicht ausdiskutiert ist schließlich die Frage nach dem Verhältnis von Übersetzern und Schreibern (sieh auch Th. Klein). 5. Verhältnis Lateinisch-Althochdeutsch: Das gegenseitige Verhältnis von lat. und ahd. Tatiantext hat wechselnde Bewertung erfahren. Während man lange eher unreflektiert davon ausging, dass der ahd. Text der Bilingue unmittelbare Übersetzung des neben ihm stehenden lat. Textes und dieser seinerseits direkt aus dem Fuldaer Tatiantext geflossen sei (man vgl. z. B. bereits E. Sievers, Ausgabe, S. XVIII f.), kam unter dem Einfluss der in der Germanistik erst spät rezipierten DiatessaronForschung während etwa zweier Jahrzehnte als scheinbar gesicherte Auffassung zur Geltung, der lat. Text der St. Galler Bilingue sei weder die Vorlage für deren dt. Text gewesen, noch habe er selbst etwas mit dem Cod. Fuldensis zu tun. Diesbezügliche Arbeiten (G. Baesecke, Die Überlieferung; W. Wissmann; A. Baumstark – J. Rathofer; P. Ganz) fußten auf der Überzeugung, dass gewisse, seit je bekannte Differenzen zwischen lat. und dt. Text der St. Galler Bilingue nicht fallweise durch Versehen oder Verständnisfehler des Übersetzers entstanden oder auch als übersetzungstechnisch bedingte Abweichungen zu verstehen seien, sondern dass sie ihre Ursache in Vorlagen mit entsprechend abweichenden, in der breiten Tatian-Überlieferung meist auch irgendwo nachweisbaren Lesarten gehabt hätten. Der hier verfolgte Ansatz erwies sich jedoch als methodisch falsch. Seither haben die Untersuchungen J. Rathofers in dieser Hinsicht zu grundlegend neuen, oben dargestellten Einsichten geführt. 6. Fulda und Hrabanus Maurus: Gestützt auf die Sprache und gewisse Eigenheiten im Wortschatz haben vornehmlich allgemeine Erwägungen schon immer auf das Kloster Fulda zur Zeit des Hrabanus Maurus gewiesen, und man sah folglich in der

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Tatian-Bilingue „eine um 830 entstandene Arbeit der Hrabanischen Schule“ (E. Sievers, Ausgabe, S. LXX), wobei Hraban selbst als Anreger und Leiter des Unternehmens wahrscheinlich war. G. Baesecke, ZDA 58 (1921) S. 241-279, hat diesen Ansatz ausgebaut und Hraban gar als Mitarbeiter, Schreiber und Korrektor in Anspruch genommen. Solche Annahme verkennt den Stellenwert derartigen Tuns im Vergleich mit den vielfältigen und gewichtigen Aufgaben, die der Abt eines bedeutenden Klosters, wie es Fulda war, zu erfüllen hatte; im übrigen ist inzwischen die tatsächliche Handschrift Hrabans wie auch die des ebenfalls als Mitarbeiter vermuteten Walahfrid Strabo identifiziert worden (H. Butzmann, Bibliothek und Wissenschaft 1 [1964] S. 20f.; B. Bischoff, FMSt 5 [1971] S. 106f.). Doch auch im Blick auf die immer wieder herausgestellte Rolle Hrabans als des Initiators und großen, nahezu alleinigen Förderers volkssprachiger Literatur in nachkarlischer Zeit ist nichts greifbar, sodass Zurückhaltung gegenüber älteren Forschungspositionen angebracht ist. Das gilt auch für den ‘Tatian’. Die Berechtigung, seine Entstehung in Fulda als sicher anzunehmen, folgt entscheidend nicht aus einer vermuteten Mitwirkung Hrabans, sondern aus dem Umstand, dass die Art und Weise, wie der Fuldaer Cod. Bonifat. 1 im Blick auf die Herstellung dieser Tatian-Bilingue dupliziert wurde, nur in Fulda selbst geschehen konnte. Die Ergebnisse jüngerer, an fuldischem Vergleichsmaterial orientierter Untersuchungen zum Lautstand des althochdeutschen ‘Tatian’ (D. Geuenich, Die PN von Fulda) sowie der als eindeutig fuldisch erkannte Schriftcharakter der Hs. (B. Bischoff, s. o.) kommen hinzu. 7. Funktion: Über die Gründe, die zur Erarbeitung der lat.-ahd. Tatian-Bilingue geführt haben, wie über die Ziele, denen sie dienen sollte, gibt es keine zeitgenössischen Äußerungen, doch lässt sich einiges vermuten. Die bis ins Detail sorgfältige Planung sowie die außerordentlich zeitaufwendige und mit philologischer Akribie durchgeführte Herstellung halten den Gedanken an ein Hervorgehen des Werkes aus der Routine klösterlichen Schreibstubenbetriebes fern. Man hat vielmehr davon auszugehen, dass hier ein Projekt verwirklicht wurde, an dem nach den Vorstellungen eines Projektleiters und unter dessen ständiger Kontrolle ein Kreis weisungsabhängiger Mitarbeiter beteiligt war. Ähnlich wie bei der ahd. Interlinearversion der Ú ‘Benediktinerregel’ waren für die Herstellung der Tatian-Bilingue ganz bestimmte Voraussetzungen aufgrund ganz bestimmter lokaler Gegebenheiten und singulärer wissenschaftlicher Interessen erforderlich. Das fertige Werk war für diesen Bereich vorgesehen und hat ihn nicht verlassen: Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Handschrift nach ihrer Fertigstellung noch längere Zeit in Fulda verblieben, insonderheit, dass sie hier benutzt worden ist. Erkennbare Benutzerspuren weisen andererseits auf ein frühzeitiges Vorhandensein der Handschrift im alemannischen Raum, speziell in St. Gallen, und es gibt Anhaltspunkte dafür, die Bilingue im

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Zusammenhang mit den in St. Gallen besonders in der Mitte des 9. Jh.s unter der tatkräftigen Leitung Hartmuts (seit a. 849 Dekan und Proabbas, von a. 872-883 Abt des Klosters) betriebenen Bibelarbeiten zu sehen und sie als eine in Fulda durchgeführte Auftragsarbeit für St. Gallen zu verstehen (A. Masser, Die lat.-ahd. Tatianbilingue; A. Masser, Sprachwissenschaft 35 [2010] S. 291-310). Es ist von daher einsichtig, dass eine darüber hinaus gehende Verbreitung des Werkes nicht intendiert sein konnte. Die zu vermutende Rückbehaltung einer Kopie in Fulda steht dem nicht entgegen (s. o. unter 1.). 8. Datierung und Sprache: Der früher allgemein übliche Zeitansatz ‘um 830’ ist so eng weder vom sprachlichen Befund noch vom Schriftcharakter her gerechtfertigt. Hingegen lässt das ‘2. Viertel’ des 9. Jahrhunderts genügend Spielraum, wobei man aus allgemeinen Erwägungen (vgl. o.) wohl näher an die Jahrhundertmitte heranrücken sollte. Aufgrund seines ofrk. Lautstandes sowie des Umstandes, dass er der bei weitem umfangreichste Prosatext aus der Zeit vor Ú Notker III. von St. Gallen ist, prägen seit dem 19. Jh. die Formen des ahd. ‘Tatian’ die grammatischen Paradigmen und die Ansätze im Wörterbuch. Der dem umfänglichen Text entsprechende große Wortschatz (rund 2.030 Wörter) ist zu nicht weniger als 14% in anderen althochdeutschen Quellen unbezeugt (E. Gutmacher). Die hierdurch entstandene Eigentümlichkeit des ‘Tatian’ weist teils auf seine Einbindung in nördliche wortgeographische Zusammenhänge, ist zum anderen aber in der weitgehenden Verwendung einer religiösen und im engeren Verstand einer theologisch-intellektuellen Terminologie begründet, die sich im Einflussbereich angelsächsischer Mission und Wirksamkeit, zu dem das Kloster Fulda in besonderem Maße gehörte, herausgebildet hatte und die sich von einer vornehmlich süddeutschen kirchensprachlichen Schicht adäquater Ausdrücke in vielfacher Hinsicht abhob. 9. Übersetzungsleistung: Die Übersetzungsleistung ist nicht einheitlich und wird unterschiedlich beurteilt. Neben Textpartien, die – zumindest in bestimmten Bereichen – das Bemühen um eine muttersprachlichen Erfordernissen gerecht werdende Wiedergabe erkennen lassen, finden sich solche, in denen die Übersetzung ‘interlinearartig’, das heißt in engster Nähe zum lat. Ausgangstext erfolgt. Letzteres wird gestützt und jenes fallweise eingeschränkt durch das von vornherein bestehende Ziel der Zeile-für-Zeile Ausrichtung des bilingualen Textes. Insgesamt können diese feststellbaren Unterschiede in der Übersetzungsleistung nicht überraschen. In ihnen spiegeln sich ungleiche Fähigkeiten wie möglicherweise auch differierende Vorstellungen von einer angemessenen Übersetzung der am Projekt beteiligten Mitarbeiter. Wie viele Personen speziell an der Übersetzung mitgewirkt haben mögen und wie sich ihre jeweiligen Anteile gegeneinander abgrenzen lassen, konnte bisher nicht befriedigend geklärt werden, auch wenn man die teilweise recht abenteuerlichen Vermu-

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tungen, die diesbezüglich zuweilen in älterer Forschung angestellt worden sind, unbeachtet lässt. Bezüglich der generellen Einschätzung sollte man jedoch zur Erklärung der weithin ganz engen Bindung der Übersetzung an den lat. Basistext nicht sagen, dies sei „keine Frage des Könnens, sondern des Wollens“ (H. Eggers), wie sich andererseits der ahd. ‘Tatian’ insgesamt keineswegs „als schlechtes Stück Übersetzungsliteratur“ (A. Lippert) einstufen lässt. Derartige Gesamtbewertungen werden den im einzelnen sehr differenzierten Verhältnissen nicht gerecht. Gewiss erreicht der ahd. ‘Tatian’ nirgends die Höhe der Monseer Matthäusfragmente (Ú ‘Isidor, Althochdeutscher’ und ‘Mon(d)seer Fragmente’). Aber diese ebenso frühe wie herausragende Leistung zum generellen Maßstab für alles Spätere zu machen, ist nicht statthaft. Im Falle des ahd. ‘Tatian’ ist zudem nie aus dem Blick zu verlieren, dass der deutsche Text lediglich die eine Seite des sorgfältig durchdachten und in allen Phasen seiner Verwirklichung in Gemeinschaftsarbeit bewältigten Projektes ist, das als solches zu einem erfolgreichen Abschluss geführt wurde und das insoweit wie der ihm zu Grunde liegenden Idee nach einmalig in altdeutscher Zeit ist. 10. Weitere Literatur in Auswahl: G. Baesecke, ZDA 58 (1921) S. 241-279 (= G. Baesecke, Kleinere Schriften, S. 7-37); G. Baesecke, Die Überlieferung des althochdeutschen Tatian, Hallische Monographien 4, Halle 1948; A. Baumstark, Die Vorlage des althochdeutschen Tatian. Herausgegeben, überarbeitet, mit Vorwort und Anmerkungen versehen von J. Rathofer, Niederdeutsche Studien 12, Köln/Graz 1964; A. Betten, Zur Satzverknüpfung im althochdeutschen Tatian. Textsyntaktische Betrachtungen zum Konnektor thô und seinen lateinischen Entsprechungen, in: Althochdeutsch, I, S. 395-407; H. de Boor, Die dt. Lit., S. 4143; W. Braune, Althochdeutsch und Angelsächsisch, PBB 43 (1918) S. 361-445; W. Breidbach, faran und gangan im althochdeutschen Tatian, PBB 110 (1988) S. 332-350; M. Bürgisser, Unters. z. Wortbildung im Ahd. u. And.; E. Dentschewa, Finalität des Infinitivkomplements – dargestellt am Beispiel des althochdeutschen Tatian, ZPhSpK 39 (1986) S. 318-338; E. Dentschewa, Zur sprachlichen Eigenständigkeit der althochdeutschen Tatian-Übersetzung in bezug auf den Gebrauch des Infinitivs, BEDSp 7 (1987) S. 207-232; A. Dittmer und E. Dittmer, Studien zur Wortstellung – Satzgliedstellung in der althochdeutschen Tatianübersetzung. Für den Druck bearbeitet von M. Flöer und J. Klempt, StA 34, Göttingen 1998; E. Dittmer, Die Wortstellung im althochdeutschen Tatian, in: Ahd. Syntax und Semantik, S. 245258; H. Eggers, Deutsche Sprachgeschichte, I, Reinbek 1963 u. ö.; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., S. 286-290 (mit älterer Literatur); H. Endermann, Untersuchungen zur Sprache und zum Wortschatz des althochdeutschen Tatian, Diss. (masch.) Jena 1971; H. Endermann, Zu den Tatian-Fragmenten in der Handschrift der Pariser Gespräche, in: Septuaginta quinque. FS Heinz Mettke, S. 61-82; E. Feist, Der religiöse Wortschatz der althochdeutschen TatianÜbersetzung in seiner Abhängigkeit vom Latein der Vorlage, Diss. (masch.) Freiburg i. Br. 1953; M. Flöer, Alter uuin in niuuen belgin. Studien zur Oxforder lateinisch-althochdeutschen Tatianabschrift, StA 36, Göttingen 1999; P. Ganz, Ms. Junius 13 und die althochdeutsche Tatianübersetzung, PBB 91 (Tübingen 1969) S. 28-76; D. Geuenich, Die PN von Fulda, insbes. S. 232ff., 260 ff.; D. Geuenich, in: Von der Klosterbibl. z. Landesbibl., S. 99-124; E. Gutmacher, Der Wortschatz des althochdeutschen Tatian in seinem Verhältnis zum Altsäch-

‘Tatian’

465

sischen, Angelsächsischen und Altfriesischen, PBB 39 (1914) S. 1-83, 229-289, 571-577; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 212-219; W. Henss, Zur Quellenfrage im Heliand und im althochdeutschen Tatian, JVNSp 77 (1954) S. 1-6 (wiederabgedruckt in: Der Heliand, S. 191199); E. Karg-Gasterstädt, in: VL IV, 1953, Sp. 370-373 (mit älterer Literatur); Th. Klein, Zur Herkunft von ‘Tatian’ γ und zum Schreiber/Übersetzer-Problem der lateinisch althochdeutschen Tatianbilingue, in: Sprachgeschichte, Dialektologie, Onomastik, Volkskunde, S. 17-43; F. Köhler, Zur Frage der Entstehungsweise der althochdeutschen Tatianübersetzung, Diss. Leipzig 1911; F. Köhler, Lateinisch-althochdeutsches Glossar zur Tatianübersetzung, Paderborn 1914 (unveränderter Nachdruck 1962); L. Kramp, Die Verfasserfrage im althochdeutschen Tatian, ZDPh 47 (1918) S. 322-360; H. Kurosawa, Über den Modusgebrauch im althochdeutschen Tatian, Doitsu-bungaku. Neue Beiträge 3 (2004) S. 196-209; ebenda, Die deutsche Literatur 50 (2006) S. 17-38; ebenda 52 (2008) S. 1-22; R. H. Lawson, Weak-Verb Categories and the Translator Problem in Old High German ‘Tatian’, ABÄG 14 (1979) S. 3341; J. Lippert, Beiträge zu Technik und Syntax althochdeutscher Übersetzungen, Medium Aevum 25, München 1974; Ph. Marcq, Le Systeme des prepositions temporelles dans la langue de Tatien, ÉG 33 (1978) S. 257-269; Ph. Marcq, Syntax im Dienste der Semantik, in: Ahd. Syntax und Semantik, S. 359-366; A. Masser, Die lateinisch-althochdeutsche Tatianbilingue des Cod. Sang. 56. Mit 12 Abbildungen, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. Philologisch-Historische Klasse. Jahrgang 1991, Nr. 3, Göttingen 1991; A. Masser, Syntaxprobleme im althochdeutschen Tatian, in: Semantik der syntaktischen Beziehungen, S. 123-140; A. Masser, Wege zu gesprochenem Althochdeutsch, in: Grammatica ianua artium. FS Rolf Bergmann 1997, S. 49-70; A. Masser, Neue Wege bei der Edition altdeutscher Texte, in: Septuaginta quinque. FS Heinz Mettke 2000, S. 239-258; A. Masser, „Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?“ Die Wiedergabe von Joh. 2,4 im Althochdeutschen, Altsächsischen und anderswo, Sprachwissenschaft 21 (1996) S. 1-11; A. Masser, Die Überlieferung des althochdeutschen Tatian, Sprachwissenschaft 35 (2010) S. 291-310; H. Mettke, Zum Wortschatz von Tatian-γ, JVNSp 84 (1961) S. 35-42; H. Mettke, Zur Periodisierung im Frühfeudalismus, Linguistische Studien, Reihe A., Heft 88, Berlin 1982, S. 110127; W. G. Moulton, Scribe γ of the Old High German Tatian Translation, PMLA 59 (1944) S. 307-334; R. Neumann, Der bestimmte Artikel ther und thie und seine Funktionen im althochdeutschen Tatian, Beiträge zur deutschen Philologie 37, Gießen 1967; V. A. Pakis, John 2.4A in the Old High German ‘Tatian’, PBB 128 (2006) S. 221-250; B. Raposo, Die Wiedergabe des lateinischen Ablativs in der althochdeutschen Übersetzungsliteratur, GAG 337, Göppingen 1982; J. Rathofer, Zur Heimatfrage des althochdeutschen Tatian, AION 14 (1971) S. 1-98; J. Rathofer, ‘Tatian’ und Fulda. Die St. Galler Handschrift und der Victor-Codex, in: Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung. FS Fritz Tschirch, Köln/Wien 1972, S. 337-356; J. Rathofer, Die Einwirkung des Fuldaer Evangelientextes auf den althochdeutschen Tatian. Abkehr von der Methode der Diatessaronforschung, in: Literatur und Sprache im europäischen Mittelalter. FS Karl Langosch, Darmstadt 1973, S. 256-308; J. Rathofer, Ms. Junius 13 und die verschollene Tatian-Hs. B. Präliminarien zur Überlieferungsgeschichte des althochdeutschen Tatian, PBB 95 (Tübingen 1973) S. 13-125; J. Rohrer, Otfrid und Tatian. Beiträge zur Frage einer althochdeutschen Schrift- und Kirchensprache, Diss. (masch.) Tübingen 1955; A. Scaffidi-Abbate, Möglichkeiten der Futurbezeichnung im althochdeutschen Tatian und in anderen althochdeutschen literarischen Denkmälern, Sprachwissenschaft 6 (1981) S. 288-334;

466

‘Trierer Blutsegen’

H. U. Schmid, Zu den Korrekturen im althochdeutschen ‘Tatian’ (Cod. 56 der Stiftsbibliothek St. Gallen), in: Strukturen und Funktionen. FS Franz Simmler, S. 43-70; I. Schröbler, Fulda und die althochdeutsche Literatur, LWJB NF 1 (1960) S. 1-26; W. Schröder, Zur Passiv-Bildung im Althochdeutschen, PBB 77 (Halle 1955) S. 1-76, hier S. 53-76; W. Schröder, Kontinuität oder Diskontinuität in der Frühgeschichte der deutschen Literatur?, ZDA 100 (1971) S. 195-213, hier S. 206f.; E. Schröter, Walahfrids deutsche Glossierungen zu den biblischen Büchern Genesis bis Regum III und der althochdeutsche Tatian, Hermaea 16, Halle 1926; R. Schützeichel, Zum Tatian, in: Festschrift für Herbert Kolb zu seinem 65. Geburtstag. Herausgegeben von K. Matzel und H.-G. Roloff. Bern/Frankfurt a. M./New York/Paris 1989, S. 605-625; R. Schützeichel, Die althochdeutsche Tatian-Übersetzung, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (III), S. 86-88; E. Sievers, Heliand, Tatian und Hraban, PBB 50 (1927) S. 410-429; F. Simmler, Makrostrukturen in der lateinisch-althochdeutschen Tatianbilingue, in: Deutsche Grammatik – Thema in Variationen. FS Hans-Werner Eroms, Heidelberg 1998, S. 299-335; F. Simmler, Satzverknüpfungsmittel und ihre textuellen Funktionen in der lateinisch-althochdeutchen Tatianbilingue und ihre Geschichte, in: Konnektoren im älteren Deutsch, S. 9-40; F. Simmler, Gesamtsatzstrukturen in der Tatianbilingue und in Otfrids ‘Evangelienbuch’, in: Syntax. Althochdeutsch – Mittelhochdeutsch, S. 91-122; F. Simmler, Reihenfolge und Aufbauprinzipien von Satzgliedern in der lateinisch-althochdeutschen ‘Tatianbilingue’ und in Otfrids ‘Evangelienbuch’ und ihre Textfunktionen, in: Probleme der deutschen Syntax unter besonderer Berücksichtigung ihrer Textgebundenheit. Akten zum internationalen Kongress an der Freien Universität Berlin 2005, Berlin 2007, S. 49-125; K. Stackmann, Die Göttinger Abschriften des St. Galler ‘Tatian’ oder Über die Mühsal althochdeutscher Studien in napoleonischer Zeit, in: Althochdeutsch, II, S. 15041520; T. Starck, Der Wortschatz des althochdeutschen Tatian und die Übersetzerfrage, in: Studies in Honor of H. Collitz, Baltimore 1930, S. 190-202; K. Toth, Der Lehnwortschatz der althochdeutschen Tatian-Übersetzung, Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 6, Königshausen 1980; A. Wedel, Syntagmatische und paradigmatische Mittel zur Angabe der aspektuellen Differenzierung: die Wiedergabe des lateinischen Perfekts im althochdeutschen Isidor und Tatian, NPhM 88 (1987) S. 80-89; W. Wissmann, Zum althochdeutschen Tatian, in: Indogermanica. Festschrift für Wolfgang Krause zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1960, S. 249-267; B. Wulf, Variantentypen der althochdeutschen Tatianüberlieferung Oxford Bodleian Library Ms. Jun. 13, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (III), S. 365-396.

ACHIM MASSER

Taufgelöbnisse Ú ‘Altsächsisches Taufgelöbnis’, ‘Fränkisches Taufgelöbnis’, ‘Kölner Taufgelöbnis’ ‘Trierer Blutsegen’ auch ‘Ad catarrum dic’, ‘Erster Trierer (Zauber-)Spruch’ Überlieferung: Trier, StadtB Hs 40/1018 8º (BStK-Nr. 879), f. 19v, 10. Jh. Der Segen wurde zusammen mit anderen heilkundlichen Texten (Ú ‘Trierer Pferde-

‘Trierer Capitulare’

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segen’) im 11. Jh. (Th. Klein, Studien, S. 208) auf die unteren Ränder einer Glossarhandschrift geschrieben. Ausgaben: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 378; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., S. 92; F. W. E. Roth – E. Schröder, Althochdeutsches aus Trier, ZDA 52 (1910) S. 171 bzw. 178 (Erstausgabe); H. D. Schlosser, Ahd. Lit., S. 136f.; Abbildungen bei M. Embach, Trierer Lit.geschichte, S. 65; E. Cianci, in: I Germani e la scrittura, S. 58; Chr. M. Haeseli, Magische Performativität, S. 216 (in Farbe); vgl. PadRep.

Gereimter Blutsegen, der sich in der Überschrift unspezifisch gegen Katarrh (eigentlich Sekret der Atemwege) richtet. Die kurze einleitende Analogieerzählung nimmt Bezug auf eine nicht überlieferte, eventuell apokrypher Tradition entstammende Verwundung Christi und ihre prompte Heilung. Wie auch der spätere ‘Bamberger Blutsegen’, zu dessen Verspartie eine hohe Ähnlichkeit zu verzeichnen ist, gehört der ‘Trierer Blutsegen’ nicht dem Typ des weitaus verbreiteteren Longinussegens an. E. Schröder (S. 177) beurteilte ihn gemeinsam mit dem ‘Trierer Pferdesegen’ als mfrk., W. Braune (S. 554) „erklär[t]e ihn geradezu für altsächsisch“. R. Schützeichel hat ihn wohl aus diesem Grund nicht in sein Althochdeutsches Wörterbuch aufgenommen, während H. Tiefenbach ihn in seinem Altsächsischen Handwörterbuch (Berlin/New York 2010) als BENTR (S. XIV) berücksichtigt hat. Literatur: W. Braune, Zu den Trierer Zaubersprüchen, PBB 36 (1910) S. 551-556; E. Cianci, Incantesimi, S. 109f.; E. Cianci, in: I Germani e la scrittura, S. 51-67, bes. S. 57; M. Embach, KTJ 44 (2004) S. 29-76, bes. S. 31-35; M. Embach, Trierer Lit.geschichte, S. 64-70; Chr. M. Haeseli, Magische Performativität, S. 106f.; Chr. M. Haeseli, Das Mittelalter 16 (2011) S. 126-141, bes. S. 133-141; E. Hellgardt, in: Atti della Accademia Peloritana 71 (1997) S. 5-65, bes. S. 16, 42f.; V. Holzmann, „Ich beswer dich“, S. 88f., 182; Th. Klein, Studien, S. 208-216; C. L. Miller, The OHG and OS Charms, S. 107f.; H. D. Schlosser (s. Ausg.), S. 205; E. Schröder – F. W. E. Roth (s. Ausg.), S. 169-182; H. Schiel, Trierer Segensformeln und Zaubersprüche, Trierisches Jahrbuch 1953, S. 23-36, bes. S. 24f.; H.-H. Steinhoff, in: 2VL I, Sp. 27f.; E. von Steinmeyer (s. Ausg.); R. Wisniewski, Dt. Lit., S. 256f.

FALKO KLAES

‘Trierer Capitulare’ Übersetzung von c. 6 eines Kapitulars Ludwigs des Frommen aus der Zeit a. 818/19 (MGH Capit. I, Nr. 139), das zur Gruppe der Capitula legibus addenda gehört. 1. Überlieferung: Trier, StadtB, Hs. 1362 a/110 a 4º, f. 33v-34r; Christophorus Brower, Annalium Trevericorum proparasceue et metropoli libri XXIV. Tomus I, XII libris cum proparasceue explicatus, Coloniae 1626, S. 35f.

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‘Trierer Capitulare’

Ausgaben: MSD, Nr. LXVI, I, S. 229f., II, S. 363-365; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. XL, S. 305-308; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., S. 45f.; H. Tiefenbach, Ein übersehener Textzeuge des Trierer Capitulare, RhVB 39 (1975) S. 283-286; H. D. Schlosser, Ahd. Lit., S. 156-159.; St. Müller, Ahd. Lit., S. 48-53. Abb. der Hs. und des Druckes der Trierer StadtB bei H. Tiefenbach, RhVB 39 (1975) nach S. 280. 2. Inhalt: Bei der Trierer Hs. handelt es sich nach H. Tiefenbach um ein dem Druck vorausgegangenes Arbeitsmanuskript mit teilweise besseren Lesarten, jedoch nicht um die unmittelbare Druckvorlage. Bei Ch. Brower ist der lat. Text des Kapitulars in der sekundären Fassung des Ansegis abgedruckt, während die ahd. Übersetzung von Handschrift und Druck auf den Text des Capitulare selbst zurückzugehen scheint. Von hier aus ist es denkbar, dass Ch. Brower keine Interlinearversion vorgelegen hat, wie sein Abdruck nahelegt, sondern eine Übersetzung in die Volkssprache, der Ú ‘Althochdeutschen Lex Salica’ vergleichbar, der er aber dann selbstständig einen lat. Text unterlegt hätte. Die Capitula legibus addenda von 818/19 sollten Abänderungen des salischen Stammesrechts, die im Jahre 816 vereinbart worden waren, auch für die anderen Stammesrechte verbindlich machen. Dies entsprach dem reichsrechtlichen Grundzug oder dem territorialen Charakter der Kapitularien ganz allgemein. Die Capitula legibus addenda erhielten wie alle Kapitularien ihre bindende Kraft durch das verbum imperatoris, d. h. durch die adnuntiatio oder Aufkündigung. Um wirksam zu werden, mussten sie von den Königsboten (missi) oder Grafen in der Volkssprache verkündet und erläutert werden. Die Bestimmung des ‘T. C.’ (c. 6) handelt davon, dass jeder freie Mann das Recht haben soll, sein Vermögen zum Heil seiner Seele nach freiem Willen zu verschenken, ohne dass seine nächsten Erben dies verhindern oder die Schenkung rückgängig machen können, wenn die Übereignung rechtmäßig und unter Zeugen vonstatten gegangen ist. Damit wurde in Bezug auf das Erbrecht das Stammesrecht zugunsten der Kirche durchbrochen. 3. Sprachliche Einordnung: Aufgrund der Sprachformen dürfte der ursprüngliche Text am ehesten am „Südrand des Mittelfränkischen“ (H. Tiefenbach, S. 293) (Trier?) in der Mitte des 10. Jh.s abgefasst worden sein. Der Zweck der Übersetzung wurde von der Forschung unterschiedlich bewertet: Bereits J. Kelle dachte an einen öffentlichen Vortrag etwa im Rahmen der Predigt, was jedoch in Anbetracht der dem lat. Text der Vorlage eng folgenden lat. Syntax unwahrscheinlich ist. E. v. Steinmeyer (S. 308) verstand sie als „eine Privatübung ohne praktischen Zweck“. In diesem Zusammenhang verdienen die Randglossen, die eventuell ahd. Glossen aus der Ch. Brower vorliegenden Ansegisüberlieferung darstellen, besondere Beachtung. Hier könnte sich das Bedürfnis äußern, dass die Bestimmung im konkreten Fall den

‘Trierer Pferdesegen’

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Schenkenden erläutert werden musste, wofür sowohl die einzelnen Glossen als auch der an Wort-für-Wort-Übersetzung erinnernde Text des ‘T. C.’ geeignet waren. Es finden sich im Text eine Reihe von Wörtern, die in der Folgezeit zu zentralen Begriffen der Rechtssprache werden sollten, wie gewalt ‘Verfügungsgewalt’, firsellen ‘übereignen’, sala ‘Übereignung’, salunga ‘Übereignung, Übertragung’, wizzôd ‘(Stammes-)Recht’, urkundeo ‘Zeuge’, burgio ‘Bürge’, geanerbo ‘heres proximus, heres’ (‘Mit-)Erbe’. 4. Literatur: W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 155f.; J. Kelle, Gesch. d. dt. Litt., S. 131; St. Müller (s. Ausg.), S. 296f.; H. D. Schlosser (s. Ausg.), S. 209; R. Schmidt-Wiegand, in: 2VL IX, Sp. 1040f.; R. Schmidt-Wiegand, FMSt 30 (1996) S. 1-18, bes. S. 10f.; R. SchmidtWiegand, in: Sprachgeschichte, I, S. 72-87; H. Tiefenbach (s. Ausg.), S. 272-310; R. Wisniewski, Dt. Lit., S. 96f. RUTH SCHMIDT-WIEGAND – FALKO KLAES

‘Trierer Gregorius-Spruch’ Ú ‘Trierer Spruch’ ‘Trierer Pferdesegen’ auch ‘Zweiter Trierer (Zauber-)Spruch’, ‘Incantatio contra equorum egritudinem quam nos dicimus spurihalz’ Mfrk. Segen nach as. Vorlage gegen die Pferdekrankheit spurihalz, wohl das Lahmen (nach G. Eis ausgelöst durch das Verfangensein, die Windrähe). Überlieferung: Trier, StadtB Hs 40/1018 8º (BStK-Nr. 879), f. 36v-37v, 10. Jh. Der Segen wurde zusammen mit anderen heilkundlichen Texten (Ú ‘Trierer Blutsegen’) im 11. Jh. (Th. Klein, Studien, S. 208) auf die unteren Ränder einer Glossarhandschrift geschrieben. Ausgaben: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LXIII, S. 367-370; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., S. 92; F. W. E. Roth – E. Schröder, Althochdeutsches aus Trier, ZDA 52 (1910) S. 174 (Erstausgabe); H. Mettke, Altdt. Texte, S. 46; W. Haug – B. K. Vollmann, Frühe dt. Lit., S. 154f.; H. D. Schlosser, Ahd. Lit., S. 134f.; St. Müller, Ahd. Lit., S. 272f. Abbildungen bei M. Embach, Trierer Lit.geschichte, S. 71 (f. 36v); Chr. M. Haeseli, Das Mittelalter 16 (2011) S. 137 (vollständig); Chr. M. Haeseli, Magische Performativität, S. 217f. (vollständig, in Farbe); vgl. PadRep.

Auf Parallelen des aus einleitender Historiola und folgender Prosa-Incantatio bestehenden Segens des Begegnungstypus mit anschließendem an Christus gerichteten Gebet mit dem zweiten der Ú ‘Merseburger Zaubersprüche’ wurde früh und wiederholt hingewiesen, es ergeben sich jedoch „keine direkten Abhängigkeitsverhältnisse im Sinne einer stemmatischen Verwandtschaft“ (W. Beck, S. 262). Das erkrankte

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‘Trierer Spruch’

Pferd des Pferdeheiligen Stephan wird bei einer gemeinsamen Reise nach Saloniun (Jerusalem?) von Jesus geheilt. Der von einem mittel- oder rheinfränkischen Schreiber kopierte Spruch weist deutliche Spuren einer älteren, etwa zu Beginn des 10. Jh.s entstandenen as. Vorlage auf. Literatur: W. Beck, Die Merseb. Zauberspr., S. 259-262 (mit weiterer Literatur); H.-J. Behr, Von Wodan bis Henne? Überlegungen zur Klassifikation und Pragmatik einiger althochdeutscher und altsächsischer Zauber- und Segenssprüche, in: Sprache im Leben der Zeit. Beiträge zur Theorie, Analyse und Kritik der deutschen Sprache in Vergangenheit und Gegenwart. Helmut Henne zum 65. Geburtstag, Tübingen 2001, S. 335-349; W. Braune, Zu den Trierer Zaubersprüchen, PBB 36 (1910) S. 551-556; E. Cianci, Incantesimi, S. 73-76; H. Eichner – R. Nedoma, Die Sprache 42 (2000/01), S. 1-195, bes. S. 54-56, 67f., 71f., 111f.; G. Eis, Altdt. Zauberspr., S. 48-52; M. Embach, KTJ 44 (2004) S. 29-76, bes. 35-42; M. Embach, Trierer Lit.geschichte, S. 70-78; Chr. M. Haeseli, Magische Performativität, S. 107112; Chr. M. Haeseli, Das Mittelalter 16 (2011) S. 126-141, bes. 133-141; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 361f.; W. Haug – B. K. Vollmann (s. Ausg.), S. 1156-1158; E. Hellgardt, in: Atti della Accademia Peloritana 71 (1997) S. 5-65, bes. S. 16, 42f.; V. Holzmann, „Ich beswer dich“, S. 84-86, 182; Th. Klein, Studien, S. 208-216; N. Kruse, Die Kölner volksspr. Überl., S. 179-187; R. M. Meyer, Trier und Merseburg, ZDA 52 (1910) S. 390-396; C. L. Miller, The OHG and OS Charms, S. 44-48; St. Müller (s. Ausg.), S. 395f.; H. D. Schlosser (s. Ausg.), S. 205; E. Schröder – F. W. E. Roth (s. Ausg.), S. 169-182, 396; M. Schulz, Magie, S. 303f.; W. von Unwerth, Der zweite Trierer zauberspruch, ZDA 54 (1913) S. 195-199; H. Schiel, Trierer Segensformeln und Zaubersprüche, Trierisches Jahrbuch 1953, S. 23-36, bes. S. 25-27; H.-H. Steinhoff, in: 2VL IX, Sp. 1055f.; R. Wisniewski, Dt. Lit., S. 261. FALKO KLAES

‘Trierer Spruch’ auch ‘Trierer Reimspruch’, ‘Trierer Gregorius-Spruch’, ‘(Zweiter) Trierer Teufelsspruch’ Überlieferung: London, BL Add. 10940, f. 5v, 11. Jh. Ausgaben: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkmäler, Nr. LXXXI, S. 400; R. Priebsch, Ein ausspruch Gregors des großen in althochdeutschen reimversen, PBB 38 (1913) S. 341 (Erstausgabe); vgl. PadRep.

Auf den leeren f. 3v-6v sowie f. 124v-125r der Augustinus-Handschrift aus dem 3. Viertel des 11. Jh.s (H. Hoffmann) aus dem Benediktinerkloster St. Maximin in Trier wurden verschiedene Exzerpte aus Texten vor allem Augustins und Gregors des Großen von mehreren Händen eingetragen. Auf f. 5v findet sich in den Z. 7-9 eine ahd. endgereimte Übersetzung der vorangegangenen Sentenz aus Gregors ‘Moralia in Iob’ 2,10,20. Sie wendet sich gegen die unbegründete Furcht vor dem Teufel, der nur unter der Billigung Gottes Macht habe. Der kurze Text ist je nach Beurteilung

‘Trierer Verse wider den Teufel’

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des verschobenen iz als das Rhfrk. oder auch Mfrk. eines eventuell nd. Schreibers zu bestimmen. Literatur: M. Embach, KTJ 44 (2004) S. 29-76, bes. S. 67f.; M. Embach, Trierer Lit.geschichte, S. 100-102; J. S. Groseclose – B. O. Murdoch, Die ahd. poet. Denkm., S. 101; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 348; H. Hoffmann, Buchkunst und Königtum im ottonischen und frühsalischen Reich, Textband, Schriften der Monumenta Germaniae Historica 30, I, Stuttgart 1986, S. 477f.; Th. Klein, Studien, S. 217f.; R. Priebsch, (s. Ausg.), S. 338-343; R. Schützeichel, Teufelstexte. Von Übersetzung, Bedeutung und Sinn, in: FS für Märta Åsdahl Holmberg zu ihrem 80. Geburtstag, hg. v. D. Krohn u. a., Germanistische Schlaglichter 4, Göteborg 1999, S. 284-295; H.-H. Steinhoff, in: 2VL IX, Sp. 1058f.; E. v. Steinmeyer (s. Ausg.), S. 400; R. Wisniewski, Dt. Lit., S. 253.

FALKO KLAES

‘Trierer Verse wider den Teufel’ auch ‘(Erster) Trierer Teufelsspruch’, ‘(Spruch) Wider den Teufel’ Überlieferung: Trier, StadtB Hs 564/806 8º, f. 65v, 8./9. Jh. Ausgaben: M. Keuffer, Die Ascetischen Handschriften der Stadtbibliothek zu Trier. No. 523-653 des Handschriften-Katalogs, Beschreibendes Verzeichnis der Handschriften der Stadtbibliothek zu Trier 5, Trier 1900, S. 27 (Erstveröffentlichung ohne Auflösung der Geheimschrift, mit falscher Angabe „f. 75“, die von der Forschung teilweise wiederholt wurde); E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LXXX, S. 399f. (Erstveröffentlichung des entschlüsselten Textes); R. Laufner, Entschlüsselung einer karolingischen Geheimschrift, KTJ 5 (1965) S. 6 (mit Abb. auf S. 7); H. Mettke, Altdt. Texte, S. 102f.; St. Müller, Ahd. Lit., S. 282f. Weitere Abb. bei W. Haubrichs, in: Lotharingia, S. 228; E. Cianci, in: I Germani e la Scrittura, S. 57; vgl. PadRep.

Am Ende des 9. Jh.s in bfk-Geheimschrift auf den unteren Rand einer Handschrift der Benediktinerabtei St. Mattthias-St. Eucharius vor Trier geschriebener Eintrag über drei Zeilen. Der sprachlich zumindest zum Mfrk. und damit auch zu Trier passende Text wurde von der Forschung als „Ausfahrtsegen“ (R. Schützeichel, ZDA 94 [1965] S. 239) oder auch im Zusammenhang der Teufelsaustreibung (W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 348) gedeutet. Literatur: E. Cianci, Incantesimi, S. 213f.; E. Cianci, in: I Germani e la scrittura, S. 51-67, bes. S. 58; M. Embach, KTJ 44 (2004) S. 29-76, bes. S. 67f., M. Embach, Trierer Lit.geschichte, S. 98-100; J. S. Groseclose – B. O. Murdoch, Die ahd. poet. Denkm., S. 100f.; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 348;W. Haubrichs, in: Lotharingia, S. 227; W. Jungandreas, Zur sprachlichen Einordnung des entschlüsselten Textes der karolingischen Geheimschrift, KTJ 5 (1965) S. 9-11; R. Laufner (s. Ausg.), S. 5-9; R. Schützeichel, Zu einem ahd. Denkmal aus Trier, ZDA 94 (1965) S. 237-243; R. Schützeichel, Trierer Verse. Wider den Teufel, in: Textgebundenheit, S. 68-76; R. Schützeichel, Teufelstexte. Von Übersetzung, Bedeutung und

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Vergil-Glossierung

Sinn, in: FS für Märta Åsdahl Holmberg zu ihrem 80. Geburtstag, hg. v. D. Krohn u.a., Germanistische Schlaglichter 4, Göteborg 1999, S. 284-295; St. Müller (s. Ausg.), S. 403; H.-H. Steinhoff, in: 2VL IX, Sp. 1058f.; R. Wisniewski, Dt. Lit., S. 253.

FALKO KLAES

‘Trierer (Zauber-)Spruch, Erster’ Ú ‘Trierer Blutsegen’ ‘Trierer (Zauber-)Spruch, Zweiter’ Ú ‘Trierer Pferdesegen’ ‘Urbar, Werdener’Ú ‘Werdener Urbar’ ‘Verduner Mischtext’ Überlieferung: Verdun, Bibliothèque Publique Ms. 69, f. 1v. Die Handschrift des 9. Jh.s wurde 1982 als Glossenhandschrift bekannt gemacht und im Katalog behandelt (BStK-Nr. 1052). Sie enthält aber keine Glossen im engeren Sinne, sondern einen über drei Zeilen gehenden ahd.-lat. Mischtext, der von U. Blech ediert und – soweit deutbar – sprachlich analysiert wurde. R. Schützeichel hat den Text im ‘Althochdeutschen und Altsächsischen Glossenwortschatz’ ausgewertet, wo er (z.B. s.v. bƯzan) als ‘Einzeleintrag’ charakterisiert wird. Edition und Untersuchung: BStK-Nr. 1052; U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 430-436; vgl. PadRep; SchG. ROLF BERGMANN

Vergil (Publius Vergilius Maro), Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Vergil, vor Ovid und Horaz der bedeutendste Dichter der augusteischen Klassik, ist mit seinem Werk bis in die Neuzeit anerkanntes Muster literarischer, insbesondere sprachlicher und stilistischer Gestaltung. Geb. am 15.10.70 v. Chr. in Mantua, ist V. vielfach, u.a. von Maecenas, gefördert worden, der ihm auch die persönlichen Kontakte zu Augustus ermöglichte. Das Œuvre umfasst drei Hauptwerke: die 10 Hirtengedichte (Bucolica/Eclogae: Ecl.) entstanden zwischen 42 und 39 v. Chr., das Landbaugedicht der Georgica (Georg.) in vier Büchern, zu datieren etwa in die Jahre 37-30, sowie die Aeneis (Aen.), das große historisch-panegyrische Epos in 12 Büchern zu Ehren des Augustus, begonnen wohl um 29 v. Chr. und bei Vergils Tod in Brindisi am 21.9.19 v. Chr. abgeschlossen, jedoch formal nicht ganz vollendet. Dazu kommt die sog. Appendix Vergiliana (Appendix), eine hinsichtlich ihrer Authentizität und Zusammensetzung nicht sicher zu bestimmende Gruppe kleinerer Dichtungen.

Vergil-Glossierung

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Bereits in der Spätantike ist Vergils Rang als Klassiker unumstritten mit der Folge, dass seine Werke kommentiert (Donat, Servius) und, vor allem die Aeneis, als Schullektüre verwandt wurden. Sichtbar wird das – nach den spätantiken Papyri und Kodizes – in den mehr als 400 noch erhaltenen und großenteils lat. glossierten und/oder kommentierten V.-Textzeugen und weiteren rund 100 Kommentar-Hss. des 8.-12. Jh.s. An die reiche spätmittelalterliche Handschriftentradition schließt sich eine breite Drucküberlieferung bis in die Gegenwart an. Literatur: Enciclopedia Virgiliana, I-V1/2, Roma 1984-1991; B. Munk Olsen, L’Étude, II, S. 673-826; L’Étude, III,2, S. 138-153; L’Étude, IV,1, S. 111-121; L. D. Reynolds, Texts and Transmission, S. 433-440; W. Suerbaum, Vergilius Maro, Publius, in: Der Neue Pauly XII,2, 2002, Sp. 42-60; Vergilii Opera, ed. R. A. B. Mynors, Oxford 1969 (u.ö.). 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Augsburg, Staats- und StadtB Fragm. lat. 7 (BStK-Nr. 17b): Fragment einer lat. glossierten und kommentierten Aen.-Hs. (8,1-51 und Argumentum zu Buch 8). Anfang 11. Jh. 1 vereinzelte ahd. Gl. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. – Ed. fehlt. – 2. Berlin, SBPK Ms. lat. 4º 215 (BStK-Nr. 50): Ecl. und Georg. mit den ps.-ovidianischen Argumenta. Lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. Ende 10./Anfang 11. Jh. 110 alem. Glossen von mehreren Händen der Zeit zu Ecl. und Georg., davon 103 interlinear, 6 marginal, 1 über einem marginalen Scholion stehend. – Ed. StSG II, S. 719-721 (Nr. DCCCLXVII). – 3. Budapest, Országos Széchényi Könyvtár CLMAE 7 (BStK-Nr. 1063): Werkausgabe mit Ecl., Georg., Aen., Appendix und den ps.-ovidianischen Argumenta. 10./11. Jh., aus Werden. Durchgängig reich lat. glossiert und kommentiert. Rund 540 ahd. und as. Gll., davon nach H. Tiefenbach 14 großenteils as. Gll. in den Ecl., 137 ostfäl. Gll. in den Georg. und rund 380 moselfrk. Gll. in der Aen., vereinzelte ahd. Elemente verdanken sich der Vorlage (H. Tiefenbach); sieh auch P. Lehmann, Mitteilungen aus Handschriften 5, München 1938, S. 53f.; B. Munk Olsen, L’Étude, II, S. 711; H. Tiefenbach, Zur Sprache der Vergilglossen in Budapest (im Druck). – Ed. wird von N. Bohnert und H. Tiefenbach vorbereitet. – 4. Dresden, SLUB A 118 und Wien, ÖNB Cod. 15306 (Suppl. 2702 (BStK-Nr. 98 und 953): Zwei Fragmente einer Werkausgabe mit Ecl., Georg., Aen. Durchgehend lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 27 as. Gll., davon interlinear 1 zu den Ecl., 15 zu den Georg. (bes. zu Baumbezeichnungen), 9 zur Aen., dazu 2 marginal stehend. 10./Anfang 11. Jh.– Ed. StSG II, S. 719 (Nr. DCCCLXVI); H. Tiefenbach, Nachträge zu den altsächsischen Glossen aus Kopenhagen und aus dem Dresden-Wiener Codex Discissus, ABÄG 52 (2000) S. 233, 235f. – 5. Edinburgh, National Library of Scotland Adv. MS 18. 5. 10 (BStK-Nr. 107): Kommentarauszüge zu Juvenal, Lucan, Persius, Sedulius, Horaz, Vergil, Prudentius. Insges. 118 ahd. Gll., überwiegend interlinear, seltener im Kontext oder marginal stehend, davon 67 zu Vergil (16 zu Ecl., 37 zu Georg., 14 zu Aen.). 1. Hälfte 12. Jh. Sprachgeogr. Einordnung unklar (K. Siewert: frk.; E. Langbroek: alem.). E. Tiemensma-Langbroek, ABÄG 11 (1976) S. 1-36. – Ed. E. Langbroek, Zwischen den Zeilen, S. 52; 63-118. – 6. Einsiedeln, StB cod 365 (220) [p. 1-4] (BStK-Nr. 136 I): Fragment: Teile von Ecl. und Georg., mit ps.Ovid, Argumentum zu den Georg. 2. Drittel 9. Jh. Im 11. Jh. lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. Insgesamt 16 obd. Interlineargll., davon 12 zu Ecl., 4 zu Georg. 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 721 (Nr. DCCCLXIX). – 7. Erlangen, UB Ms. 393

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Vergil-Glossierung

(BStK-Nr. 147c): Werkausgabe in drei ursprünglich selbstständigen Teilen: Ecl., Georg, Aen. Intensiv lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. Ende 12. Jh. Zahl der ahd. Glossen (12./13. Jh.) bislang nicht erhoben. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. – Ed. 6 dt. Gll. bei H. Fischer, Die lateinischen Pergamenthandschriften der Universitätsbibliothek Erlangen, Katalog der Handschriften der Universitätsbibliothek Erlangen. Neubearbeitung 1, Erlangen 1928, S. 467; vollständige Edition steht aus. – 8. St. Gallen, StB 1394 [p. 109-112] (BStK-Nr. 255 II): Fragment einer Werkausgabe mit Teilen von Ecl. und Georg. Reiche lat. interlineare Glossierung und marginale Kommentierung (Servius). 1 obd. Interlineargl. zu Georg. 2. Viertel 9. Jh. – Ed. StSG IV, S. 461, Nr. 221. – 9. Gotha, FB Membr. II 56 (BStKNr. 267c): Aen. Durchgehend lat. zum Teil dicht interlinear glossiert und marginal kommentiert. 12./13. Jh. Bisher 1 Interlineargl., von K. Siewert entdeckt. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. Überprüfung auf weitere dt. Glossen steht aus. – Ed. steht aus. – 10. Kremsmünster, StB Fragment III/154 (BStK-Nr. 358): Fragment, Aen. 4,406-487; 5,97-178. Intensive lat. interlineare Glossierung und marginale Kommentierung. 1 dt. Interlineargl. Ende 11. Jh. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt.– Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 44. – 11. London, BL Add. 21910 (BStK-Nr. 398): Servius, Kommentar zur Aen.; Aen. mit den ps.-ovidianischen Argumenta, unvollständig (1,1-8,161). Durchgängig interlinear lat. glossiert und marginal kommentiert. 5 obd. Gll. zu Aen., davon 3 interlinear, 2 marginal stehend. 12. Jh. – Ed. StSG II, S. 721 (Nr. DCCCLXVIII); E. Sievers, ZDA 15 (1872) S. 371; Korrekturen bei H. Thoma, PBB 73 (1951) S. 206. – 12. London, BL Egerton 267 (f. 3-4) (BStK-Nr. 409 I): Fragment mit Georg. und Aen. 1. Hälfte 10. Jh. Nur geringfügig lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 3 obd. Interlineargll. 10./11. Jh, wahrscheinlich St. Gallen. – Ed. StSG V, S. 32 (Nr. DCCCLXXIVa); Nachtrag bei H. Thoma, PBB 73 (1951) S. 231. – 13. London, BL Harl. 2668 (BStK-Nr. 411): Werkausgabe (am Schluss unvollständig) mit Ecl., Georg., Aen. (1,1-4,678), mit den ps.-ovidianischen Argumenta und Epitaphium Vergilii. Lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. Insgesamt 6 ahd. Gll., davon 2 zu Ecl. (interlinear), 4 zu Georg. (3 interlinear, 1 marginal stehend). Ende 12. Jh. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt.– Ed. H. Thoma, PBB 73 (1951) S. 255. – 14. London, BL Harl. 2644 (BStK-Nr. 422a): Lat. Fabelsammlung und Vergil, Ecl. und Georg. Geringe lat. Interlinearglossierung. 1 dt. Interlineargl. zu Ecl. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. – Ed. K. Siewert, Glossenfunde, S. 171. – 15. Melk, StB Cod. 717 (früher 1863, davor C 2) (BStK-Nr. 434): Große Werkausgabe mit Ecl., Georg., Aen. Appendix, V.-Viten, ps.-ovidianischen Argumenta. Von mehreren Händen dicht lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 10. Jh. Etwa 600 dt. Gll. (frk. nach alem. Vorlage), davon rd. 70 zu Ecl., 10 zu Georg., 520 zu Aen., zum Teil interlinear, zum Teil marginal stehend. 11 in bfkGeheimschrift „wohl Anfang des 11. Jh.s aus einer Vorlage der 2. Hälfte des 10. Jh.s übernommen.“ (BStK, S. 914). – Ed. StSG II, S. 688-697 (Nr. DCCCLXIII). – 16. München, BSB Clm 305 (BStK-Nr. 447): Dares, De excidio Troiae, große Werkausgabe mit Ecl., Georg., Aen., Appendix, V.-Viten, ps.-ovidianischen Argumenta. Von vier Händen sehr intensiv lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. Insgesamt etwa 160 alem. Gll., davon 16 zu Ecl., 49 zu Georg., 95 zu Aen., meist interlinear, zum Teil auch marginal notiert. 11./12. Jh., vielleicht aus Regensburg-Prüfening. – Ed. StSG II, S. 671-675 (Nr. DCCCLX); Berichtigungen und Nachträge bei H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 238f. – 17. München, BSB Clm 6221 (BStK-Nr. 502 II): Fragment auf der Innenseite des Vorderdeckels der Hs.; gehört mit

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zwei weiteren Stücken (s. B. Munk Olsen, L’Étude, II, S. 739) zu den Resten einer VergilHs.; erhalten sind Georg. 3,460-4,8 und Argumentum zu Georg. 4. Lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 2 obd. Interlineargll. 2. Hälfte 9. Jh. – Ed. 1 Glosse bei StSG II, S. 722 (Nr. DCCCLXXIIIa); zweite Glosse noch nicht ediert. – 18. München, BSB Clm 6358 (BStK-Nr. 531): Fragment: Georg. mit lat. durchgehender interlinearer Glossierung und marginaler Kommentierung. 1 ahd. Interlineargl. 11. Jh. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. – Ed. StSG II, S. 722 (Nr. DCCCLXXIIIb). – 19. München, BSB Clm 18059 (BStKNr. 634): Großes Vergil-Kompendium: Kommentar des Servius zu Ecl., Georg., Aen.; Werke: Ecl., Georg., Aen., Appendix; ps.-ovidianische Argumenta u.a. Intensiv lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. Insgesamt über 3.160 deutsche (bair.) Gll., davon 12 (interlinear) zum Kommentar des Servius (7 zu Ecl., 2 zu Georg., 3 zu Aen.); die übrigen rd. 3.150 dt. Gll. stehen innerhalb der von 2 Händen notierten lat. Glossierung des Vergil-Textes. 11. Jh., wohl Tegernsee; sieh E. Hellgardt, in: Stand und Aufgaben der deutschen Dialektlexikographie, S. 73-88. – Ed. StSG II, S. 625-671 (Nr. DCCCLIX; S. 724 (Nr. DCCCLXXVI). – 20. München, BSB Clm 21562 (BStK-Nr. 678): Werkausgabe mit Ecl., Georg., Aen., Appendix, dazu ps.-ovidianische Argumenta, V.-Viten. Lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. Insgesamt 104 obd. Gll., davon 12 zu Ecl., 43 zu Georg., 49 zu Aen. 12. Jh., möglicherweise Weihenstephan. – Ed. StSG II, S. 671-675 (Nr. DCCCLX); Berichtigungen und Nachträge bei H. Thoma, PBB 85 (Halle 1963) S. 238f. – 21. München, BSB Clm 29216/2 (früher Clm 29005/1a) (BStK-Nr. 696 I): Fragment, nur Ecl. teilweise (3,12-81) erhalten. Intensiv lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 1 ahd. Interlineargl. zu Ecl. 1. Hälfte 11. Jh. (B. Munk Olsen, L’Étude, II, S. 743: 1. Hälfte 12. Jh.). – Ed. StSG IV, S. 685, Z. 17; H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 106. – 22. München, BSB Clm 29216/1 (früher Clm 29005/1.2) (BStK-Nr. 696 II): Fragmente einer Vergil-Hs. mit Ecl. und Georg. Lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. Insgesamt 6 obd. Gll. von der Texthand, davon 1 interlinear zu Ecl., 4 interlinear und 1 marginal stehend zu Georg. 10. Jh. (B. Munk Olsen, L’Étude, II, S. 743: 1. Hälfte 11. Jh.).– Ed. StSG II, S. 722, Z. 4, 6, 13, 14 (Nr. DCCCLXXI); Nachtrag bei B. Bischoff, PBB 52 (1988) S. 167. – 23. München, BSB Clm 29216/3 (früher Clm 29005/2, Nr. 3.4) (BStK-Nr. 696 III): Fragment, nur Reste der Georg. erhalten. Lat. interlinear glossiert. 2 obd. Interlineargll. Anfang 12. Jh. (B. Munk Olsen, L’Étude, II, S. 743: 11. Jh.).– Ed. B. Bischoff, PBB 52 (1988) S. 167. – 24. München, BSB Clm 29216/4 (früher Clm 29005/2, Nr. 5) (BStK-Nr. 696 IV): Fragment, nur Reste der Georg. erhalten. Lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 2 obd. Interlineargll. 1. Hälfte 12. Jh. Dt. Glossen sind erwähnt in: Katalog der lateinischen Fragmente der Bayerischen Staatsbibliothek, I. Clm 29202-29311. Beschrieben von Hermann Hauke, Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis, IV, 12, 1, Wiesbaden 1994, S. 29, konnten bei Autopsie (R. Bergmann) jedoch nicht gefunden werden. – 25. München, BSB Clm 29216/6 (früher Clm 29005/2, Nr. 7) (BStK-Nr. 696 V): Fragmente, nur Reste der Georg. erhalten. Durchgehend lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 1 obd. Interlineargl. 1. Hälfte 12. Jh.– Ed. StSG II, S. 722, Z. 2 (Nr. DCCCLXXI). – 26. München, BSB Clm 29216/11 (früher Clm 29005/3, Nr. 17) (BStK-Nr. 696 VI): Fragmente, nur Reste der Aen. erhalten. Durchgehend lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 2 obd. Gll., davon 1 interlinear, 1 marginal stehend. 1. Hälfte 12. Jh.– Ed. StSG II, S. 722, Z. 15, 16 (Nr. DCCCLXXI). – 27. Oxford, BodlL Auct. F. 1. 16 (BStK-Nr. 721): Vergil-Kompendium

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(Anfang mit Ecl. und Beginn der Georg. fehlt) mit Georg., Aen., einem anonymen Kommentar zu Ecl., Georg., Aen. und dem Kommentar des Servius zu den drei Werken einschl. Accessus und den ps.-ovidianischen Argumenta. Eingeschoben: varia glosemata (Worterklärungen zu Wörtern aus verschiedenen Texten). V.-Texte intensiv lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. Insgesamt etwa 320 volkssprachige Gll., davon 56-57 zu den varia glosemata, z.T. ae., im übrigen as.: etwa 180 interlinear und marginal stehende Gll. zu den Werken Vergils; 15 Interlineargll. zum Kommentar des Servius; etwa 65 Kontextgll. im anonymen V.-Kommentar. – Ed. StSG II, S. 716-719 (Nr. DCCCLXV). Weitere Angaben in BStK-Nr. 721, S. 1377. – 28. Paris, BNF lat. 7930 (BStK-Nr. 748): Werkausgabe mit Ecl., Georg., Aen., den ps.-ovidianischen Argumenta, der Donat-Vita und Texten der Appendix (nur Culex und Moretum). Äußerst intensiv lat. glossiert und marginal kommentiert. 3 wohl rhfrk. Interlineargll. zum Moretum. 1. Hälfte 11. Jh. – Ed. H. Lohmeyer, Vergil im deutschen Geistesleben, S. 178, Anm.; Berichtigung und vollständige Edition bei U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 372-374. – 29. Paris, BNF lat. 9344 (BStK-Nr. 752): Werkausgabe mit Ecl., Georg., Aen., mit den ps.-ovidianischen Argumenta. Echternach, um 1000. Intensiv lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. Insgesamt etwa 1.080 mfrk. Gll., davon 928 zu den Werken Vergils: 136 interlinear, 792 marginal stehend; mehrere in bfk-Geheimschrift eingetragen; zum Teil von Hand X (wohl Thiofried von Echternach), deren Anteil an der lat. Glossierung noch zu erheben ist. Um 1000, einige Gll. auch Mitte 11. Jh. eingetragen. – Ed. StSG II, S. 698-716 (Nr. DCCCLXIV). Dt. Glossen von Hand X: J. Schroeder, PSHL 91 (1977) S. 349-351. – 30. Rom, BAV Pal. lat. 1631 (BStK-Nr. 836c): Handschrift des spätantiken Vergilius Palatinus. Italien, 5./6. Jh. (Ecl., Georg., Aen.). Im 9. Jh. wurde der Aen.Text – neben wenigen Tintenglossen – durchgängig in den Büchern 1-6, mit über 600 mit dem Griffel ausgeführten Notaten, darunter etwa 500 lat. Griffelgll., ausgestattet, die z.T. auch in tironischen Noten ausgeführt sind. 16 meist interlinear stehende dt. (frk.) Griffelgll. 9. Jh., fraglich, ob aus Lorsch (sieh M. McCormick, S. 11f.). – Ed. M. McCormick, Five Hundred Unknown Glosses from the Palatine Virgil, (The Vatican Library, MS. Pal. Lat. 1631), Studi e Testi 343, Vatikanstadt 1992; die dt. Glossen hier S. 34, 47, 50, 56, 58, 60, 63-65, 69, 71, 77f.; mit Kommentar: H. Tiefenbach, Zu den althochdeutschen Griffelglossen der Handschriften Clm 6300, 6312 und Vatikan Pal. lat. 1631, Sprachwissenschaft 26 (2001) S. 99101; sieh auch E. Glaser – A. Nievergelt, in: Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach, S. 17. – 31. Schlettstadt, BH Ms. 7 (BStK-Nr. 849): Umfangreiche Sammlung von Glossaren u.a. zu Kirchenvätern und -lehrern und zur Bibel, auch 2 Glossare zu V., lat.-lat. und lat.- ahd. Insgesamt etwa 2.600 alem. Gll.; die Vergilglossare mit 104 bzw. 717 alem. Gll. 1. Viertel 12. Jh. – Ed. StSG II, S. 675-686 (Nr. DCCCLXI) und 686-688 (Nr. DCCCLXII). – 32. Trient, Biblioteca Comunale Cod. 1660 TC (BStK-Nr. 876): Werkausgabe mit Ecl., Georg., Aen. und den ps.-ovidianischen Argumenta sowie Accessus. Lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert, vielfach Servius folgend. Glossierung von Texten und Kommentaren. Insgesamt etwa 230 alem. Gll., davon etwa 180 interlinear, 50 marginal stehend, zum Teil auch den Scholien zugeordnet. 11. Jh. Dt. Glossen zum Teil verwandt mit der Glossierung in Melk, StB Cod. 717 (BStK-Nr. 434, oben Nr. 15). – Ed. StSG IV, S. 347-352 (Nr. DCCCLXIIIb Nachtr.). – 33. Trier, StadtB Hs. 1092/1335 (BStK-Nr. 883a): Sammelhandschrift des 12./13. Jh.s, die u.a. ein Klassiker-Florileg enthält (12. Jh.), in dem ein hier zitierter Vergilvers 1 dt. Gl. (moselfrk.) aufweist, s. B. Munk Olsen, Les classiques latins dans les

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florilèges médiévaux antérieurs au XIIIe siècle, RHT 9 (1979) S. 70f. – Ed. B. C. Bushey, Die deutschen und niederländischen Handschriften der Stadtbibliothek Trier bis 1600, Beschreibendes Verzeichnis der Handschriften der Stadtbibliothek zu Trier. Neue Serie 1, Wiesbaden 1996, S. 312; R. Reiche, in: Fachprosa-Studien, S. 492. – 34. Wien, ÖNB Cod. 81* (BStKNr. 889): Fragment einer Aen.-Hs. Intensiv lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 4 obd. Gll., davon 3 interlinear, 1 marginal stehend. 10. Jh. – Ed. StSG II, S. 723 (Nr. DCCCLXXIV). – 35. Wien, ÖNB Cod. 15306 (Suppl. 2702) (BStK-Nr. 953): Sieh BStK-Nr. 98, oben Nr. 4. – 36. Wien, ÖNB Cod. 15484 (Suppl. 2703) (BStK-Nr. 955): Fragment einer Werkausgabe mit Resten von Ecl. und Georg. Lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 5 obd. Gll. zu Georg., davon 3 interlinear, 2 marginal stehend. 2. Hälfte 11. Jh.– Ed. StSG II, S. 722 (Nr. DCCCCLXXII). – 37. Wien, ÖNB Cod. 806 (BStK-Nr. 957d): Fragment einer V.-Hs. mit Ecl. Intensiv lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 1 rhfrk. Interlineargl. 1. Hälfte 11. Jh. – Ed. K. Siewert, Glossenfunde, S. 166. – 38. Wolfenbüttel, HAB Cod. Guelf. 66 Gud. lat. 2º (BStK-Nr. 961): Werkausgabe. 1. Hälfte 9. Jh., wohl aus Lorsch. Anfang und Schluss fehlen; erhalten sind Teile von Georg. und Aen. Von mehreren Händen 9.-11. Jh. lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 1 dt. Interlineargl. zu Aen. 10. Jh. Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 146. – 39. Würzburg, UB M. p. misc. o. 1. (BStK-Nr. 999a): Fragment einer Vergil-Handschrift; erhalten: Reste von Ecl. und Georg. Durchgehend lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. 1 dt. Interlineargl. zu Ecl. 9. Jh. (B. Munk Olsen, L’Étude, II, S. 796: 10. Jh.) Sprachgeogr. Einordnung nicht bestimmt. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 148; H. Thurn, Die Handschriften aus benediktinischen Provenienzen, II. Die Handschriften aus St. Stephan zu Würzburg, Die Handschriften der Universitätsbibliothek Würzburg, 2,2, Wiesbaden 1986, S. 27. – 40. Princeton (N. J.), UL Garrett Collection 108 (BStK-Nr. 1046): Fragment einer Aen.-Hs. Lat. glossiert. 3 mfrk. Interlineargll. 1. Hälfte 10. Jh. – Ed. H. Mayer, ABÄG 21 (1984) S. 71f.

3. Servius, Vergil-Kommentar: S. ist biographisch kaum fassbar. Sein Wirken liegt am Ende des 4./Anfang des 5. Jh.s. Neben einigen grammatischen Schriften (u.a. De metris Horatii und einem Kommentar zur Ars minor des Donat) ist sein Hauptwerk der große V.-Kommentar. Die Verwendung der Werke V.s im Schulunterricht machte bereits in der Spätantike eine Lexikon, Syntax, Grammatik, Stilistik und Realien erschließende Kommentierung notwendig. Grundlage des V.-Kommentars des S. ist der bis auf die Einleitung verlorene V.-Kommentar des Aelius Donatus (4. Jh.). Der Kommentar des S. beherrscht und leitet die Beschäftigung mit V. bis in die frühe Neuzeit. Es sind 145 Kommentar-Hss. bis gegen 1200 erhalten; daneben sind der Kommentar oder Teile davon auch in zahlreichen Vergil-Text-Hss. erhalten. Hinzu kommen Auszüge, die in wechselnder Zusammensetzung und Auswahl in fast alle mittelalterlichen Kommentare eingegangen sind. Die Überlieferung hält bis ins 15. Jh. an und wird dann überlagert von den neu aufkommenden Kommentaren italienischer Humanisten.

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Literatur: B. Munk Olsen, L’Étude, II, S. 796-826; IV,1, S. 19-29; J. J. Savage, The Manuscripts of Servius’s Commentary on Virgil, HStCPh 45 (1934) S. 147-204; L. D. Reynolds, Texts and Transmission, S. 385-388; W. Suerbaum, Servius, in: Der Neue Pauly XI, 2001,Sp. 470-472; G. Thilo – H. Hagen, Servii Grammatici qui feruntur in Vergilii Carmina Commentarii, I-III1/2, Leipzig 1881-1902. 4. Überlieferung und deutsche Glossierung des Servius-Kommentars: S1. Bonn, ULB S 218 (BStK-Nr. 71): Lat. durchgehend glossierte Sammlung von Notizen (Rapularius) aus zahlreichen Wissensgebieten der Artes. Mehrere Hände. 11. Jh. Etwa 230 mfrk. Gll., davon 1 Gl. zum Servius-Kommentar, sieh R. Reiche, Ein rhein. Schulbuch, S. 11-214. – Ed. ebd., S. 334. – S2. St. Gallen, StB 861 und 862 (BStK-Nr. 244): Auf zwei Bände verteilter Kommentar des S. zu Aen. Lat. interlinear und marginal glossiert. In Teil II (Cod. 862) 2 obd. Interlineargll. 2. Hälfte 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 725 (Nr. DCCCLXXX). – S3. Glasgow, University of Glasgow. The Library (Hunterian Museum) U. 6. 8 (früher S. 6. 9) (BStK-Nr. 259): Mehrere Teile und Exzerpte von Kommentaren des S. zu V., Ecl. und Georg. 9./10. Jh., wohl St. Gallen (B. Bischoff). Bislang 1 ahd. Gl. ediert. – Ed. StSG V, S. 32 (Nr. DCCCLXXXb); Hinweis auf weitere ahd. Gll. bei B. Bischoff, Katalog, I, S. 292, Nr. 1397. – S4. Karlsruhe, BLB Aug. CXVI (BStK-Nr. 299): S., Kommentar zu V., Ecl., Georg., Aen. 1. Hälfte 10. Jh., Reichenau. Lat. interlinear und marginal glossiert. Insgesamt 10 alem. Gll., davon 1 interlinear zu Ecl., 1 interlinear zu Georg., 8 zu Aen., davon 6 interlinear, 2 marginal stehend. 10. und 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 724 (Nr. DCCCLXXVII); IV, S. 404, Nr. 56. – S5. Kassel, UB, LB und MB 2º Ms. poet. et roman. 6 (BStK-Nr. 329): S., Kommentar zu Aen. Lat. interlinear und marginal glossiert. Mitte 9. Jh., wohl aus Fulda. 1 dt. Marginalgl. 11./12. Jh. – Ed. StSG II, S. 725 (Nr. DCCCLXXIX); E. Sievers, ZDA. 15 (1872) S. 371. – S6. Leipzig, UB Rep. I. 36b (BStK-Nr. 381): S., Kommentar zu Ecl., Georg., Aen. 10. Jh. Lat. Interlinear- und Marginalgll. von verschiedenen Händen. 10. und 12. Jh. Insgesamt 17 nd. oder mfrk. Gll. (wohl 10. Jh.) zu Ecl. und Georg., davon 10 marginal und 7 interlinear stehend; 7 davon in Geheimschrift (u.a. bfk). – Ed. StSG II, S. 723 (Nr. DCCCLXXV); E. Sievers, ZDA 15 (1872) S. 372. – S7. Linz/Donau, Bundesstaatliche StudB Cod. 473 (ehemals 35 bzw. Cc VII 7) (BStK-Nr. 386).Theologische Sammelhs. (Augustinus, Isidor von Sevilla, Eucherius von Lyon); dazu Auszüge aus Servius, Komm. zu Ecl. Insgesamt 11 obd. Gll., davon 2 Interlineargll. zu Servius, Komm. zu Ecl. 12. Jh. Vorlage der Hs. einschließlich der Gll. ist Zwettl, StB Cod. 49 (BStK-Nr. 1021, unten Nr. S11). – Ed. StSG IV, S. 237 (Nr. MCCXXIVa); S. 352 (Nr. DCCCLXXVIIIb Nachtr.). – S8. München, BSB Clm 6394 (BStK-Nr. 534): S., Kommentar zu V., Ecl., Georg., Aen. Lat. Interlinear- und Marginalgll. 6 bair. Interlineargll. zum Kommentar. 11. Jh. – Ed. StSG IV, S. 352 (Nr. DCCCLXXVI Nachtr.). – S9. München, BSB Clm 18059 (BStK-Nr. 634): V.-Kompendium: S., Kommentar zu V., Ecl., Georg., Aen.; V.Werke: Ecl., Georg., Aen., Appendix; ps.-ovidianische Argumenta u.a. Intensiv lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. Insgesamt über 3.160 bair. Gll., davon 12 (interlinear) zum Kommentar des Servius (7 zu Ecl., 2 zu Georg., 3 zu Aen.). 11. Jh., wohl Tegernsee; sieh E. Hellgardt, in: Stand und Aufgaben der deutschen Dialektlexikographie, S. 73-88. – Ed. StSG II, S. 724 (Nr. DCCCLXXVI). – S10. Oxford, BodlL Auct. F. 1. 16 (BStK-Nr. 721): V.-Kompendium (Anfang mit Ecl. und Beginn der Georg. fehlt) mit Georg., Aen., einem anonymen Kommentar zu Ecl., Georg., Aen. und dem Kommentar des Servius zu den drei Werken V.s. Texte intensiv lat. interlinear glossiert und marginal kommentiert. Insge-

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samt etwa 320 volkssprachige Gll., davon 15 as. Interlineargll. zum Kommentar des Servius; etwa 65 as. Kontextgll. zum anonymen Kommentar. – Ed. StSG II, S. 724-725 zu Servius (Nr. DCCCLXXVIII); S. 725-727 zum Kommentar des Anonymus (Nr. DCCCLXXXI). Weitere Angaben in BStK-Nr. 721, S. 1377. – S11. Zwettl, StB Cod. 49 (BStK-Nr. 1021): Sammelhs. aus 4 Teilen, u.a. mit theologischen Schriften (Augustinus, Isidor von Sevilla, Eucherius); Auszüge aus Servius, Komm. zu Ecl. 2 obd. Gll. zu Servius. Ende 12. Jh. Vorlage der Hs. Linz Cod. 473 (BStK-Nr. 386, oben Nr. 7 ). – Ed. StSG IV, S. 252 (Nr. DCCCLXXVIIIb).

5. Forschungsstand: Der hinsichtlich des Umfangs des deutschen Glossenmaterials beeindruckende Neufund (BStK-Nr. 1063; B. Munk Olsen, L’Étude, II, S. 711; oben Nr. 3) zeigt, dass die weitere Prüfung der handschriftlichen Vergil-Überlieferung eine zumindest quantitative, in nicht wenigen Fällen auch eine qualitative Erweiterung des Gesamtbestandes deutscher Glossenwörter erbringen kann. Ausgangspunkt ist der einschlägige Bestand an Handschriften der Vergil-Überlieferung sowie des Servius-Kommentars bis 1200, der von B. Munk Olsen, L’Étude, mit dem Ziel der Vollständigkeit erfasst ist. 6. Glossographische Aspekte: Deutschsprachige Glossen sind regelmäßig Teil einer Praxis der Texterschließung (Glossierung, Kommentierung), die nahezu vollständig die lat. Sprache nutzt. Die Frage, warum statt der bewährten lat. Praxis eine Glossierung in deutscher Sprache erfolgt, wäre von Fall zu Fall zu prüfen. 7. Räumliche und zeitliche Verteilung: Die lat. V.-Glossierung setzt im 8./9. Jh. ein. Vom 9. Jh. an wird auch – zunächst zögerlich – die Volkssprache zur Glossierung herangezogen. Angesichts der Fülle des volkssprachigen Glossenmaterials zu V.s Werken ist auch der as. Sprachraum früh und gut vertreten (sieh oben Nr. 3, 4, 27, S6, S10). Die Schwerpunkte liegen aber auch bei der V.-Glossierung im frk. und obd. Sprachraum und im 10.-12. Jh. 8. Beziehungen zwischen den Glossierungen: Die umfangreiche Abschreibetätigkeit, die dem Werk V.s während des Mittelalters galt, bot ganz natürlich die Möglichkeit, sowohl lat. Glossierungen und marginal notierte Kommentarelemente wie auch deutsche Glossen vollständig, wie auch in bedarfsbestimmter Auswahl zu übernehmen oder den Bestand an diesen texterschließenden Instrumenten nach Bedarf zu erweitern und zu ergänzen. So hat bereits E. v. Steinmeyer den auf Abhängigkeit deutenden Zusammenhang der Glossierung etwa in München, Clm 305 mit der in Clm 21562 (oben Nr. 16 und 20) festgestellt. Andere von ihm festgestellte punktuelle Zusammenhänge sind hingegen sachbedingt und deuten nicht auf Abhängigkeiten der Glossierung in unterschiedlichen Handschriften hin, so etwa bei Pflanzenbezeichnungen wie Aneti – dilli ‘Dill’ oder Calta – chle ‘Klee’ oder Carduus – thistil ‘Distel’ (StSG II, S. 672, 3-9). Parallelbezeugung ist in diesen und vergleich-

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baren Fällen kein sicherer Indikator von Anhängigkeit in der volkssprachigen Glossierung. 9. Umfang und Bedeutung: Die bislang erfassten über 7.200 dt. Gll. verteilen sich auf 40 meist glossierte und kommentierte Texthandschriften (Nr. 1-40), 9 reine Kommentarhandschriften (S1-S8, S11) sowie 2 V.-Texthandschriften, die eigenständige Kommentarüberlieferung bieten (Nr. 19 = S9; Nr. 27 = S10). Damit steht V. in der Rangordnung der Gruppe der dt. glossierten lat. Klassiker auf dem ersten Platz, erst mit großem Abstand gefolgt von Ú Sallust (327 dt. Gll. in 10 Hss.). Hinsichtlich der dt. Glossierungen insgesamt wird V. nur übertroffen von Ú Gregor dem Großen (rund 13.950 Gll. in 99 Hss.) und Ú Prudentius (rund 12.000 Gll. in 62 Hss.); sieh R. Bergmann, in: BStH I, S. 83-122. Der umfangreiche Bestand volkssprachiger V.-Glossierungen in bislang 49 Hss. erklärt sich indes plausibel aus dem hohen Gesamtbestand der insgesamt rd. 500 Text- und Kommentar-Hss. bis gegen 1200, die wiederum die kulturelle, genauer: die bildungsgeschichtliche Bedeutung des Vergil-Œuvre bezeugen. Der hohe Bestand an dt. Glossen verteilt sich aber nicht gleichmäßig über die gesamte Überlieferung: Von den über 7.200 dt. Gll. wird das Gros, etwa 6.600, von nur 6 Hss. tradiert (oben Nr. 3, 15, 19, 29, 31, 32). Doch auch in diesen Fällen gehäufter deutschsprachiger Interpretamente überwiegt die lat. Glossierung die volkssprachige um mindestens das Acht- bis Zehnfache. Auch im Bezug auf V. ist also die Verwendung der dt. Sprache bei der Glossierung weitgehend als Sonderfall innerhalb der lat. Praxis der Texterschließung einzustufen. 10. Literatur: N. Bohnert, Untersuchungen zur altsächsischen Vergilglossierung in Oxford Auct. F.1.16, Dresden cod. A 118 und Wien 15306, Magisterarbeit Trier 2000; J. Fasbender, Die Schlettstadter Vergilglossen und ihre Verwandten, Untersuchungen zur Deutschen Sprachgeschichte 2, Straßburg 1908; E. Hellgardt, Die lateinischen und althochdeutschen Vergilglossen des clm 18059, in: Stand und Aufgaben der deutschen Dialektlexikographie, II, S. 73-88; E. Hellgardt, Exemplarische Analyse und Auswertung der lateinischen und althochdeutschen Glossen des Clm 18059 aus Tegernsee (Buch II, Vers 328-377) Oder: Wie man im deutschen Frühmittelalter Vergils Aeneis las, in: BStH I, S. 398-467; N. Henkel, in: Theodisca, S. 387-413; N. Henkel, in: Lesevorgänge, S. 237-262; E. Langbroek, Vergil im altsächsischen Unterricht? Bemerkungen zum Aufbau der Oxforder Handschrift Codex Auct. F.1.16 und eine erneute Untersuchung der altsächsischen Georgicaglossen, ABÄG 52 (2000) S. 117-154; H. Lohmeyer, Vergil im deutschen Geistesleben bis auf Notker III., Germanische Studien 96, Berlin 1930; E. Petri-Bean, Die Lehnbildungen der althochdeutschen Vergilglossen, Diss. München, Augsburg 1974; B. Schneider, Vergil. Handschriften und Drucke der Herzog August Bibliothek, Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek Nr. 37, Wolfenbüttel 1982.

NIKOLAUS HENKEL

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Verse Ú‘St. Galler Schreibervers’, ‘St. Galler Spottvers’, ‘St. Galler Verse’ (Cod. 105), ‘Hicila-Vers’, ‘Trierer Verse wider den Teufel’ ‘Versus de volucribus, bestiis, arboribus’ 1. Werkcharakterisierung: Als Versus de volucribus, bestiis, arboribus, piscibus, canibus, herbis, membris, humanis werden im Anschluss an die Glossenedition von E. Steinmeyer in Hexametern abgefasste Merkverse zur lat. Terminologie bezeichnet, die dt. glossiert sind. Die Zahl der Hexameter und die Werkbezeichnungen (z.B. Versus de volucribus, Nomina avium oder Nomina volucrum) schwanken in den einzelnen Glossaren. Am umfangreichsten sind die Versus de volucribus, die aus 22 Hexametern mit 72 Vogelbezeichnungen bestehen. Die Versus de bestiis umfassen dagegen nur 12 Hexameter mit 38 Tierbezeichnungen, die Versus de arboribus 17 Hexameter mit 60 Baumbezeichnungen. Die Zahl der Hexameter über die Fischbezeichnungen (Versus de piscibus) schwankt. Ob sie und die Versus de canibus, die Versus de herbis und die Versus de membris humanis noch Bestandteile des originären Werks sind oder erst im Verlauf der Überlieferungsgeschichte den bestehenden Versus nachgebildet worden sind, ist unklar. Die Glossenzahl aller Versus in den Hss. reicht von einzelnen Glossen bis zu über 400. Insgesamt umfassen die Versus annähernd 10.000 volkssprachige Belege. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: Hss., die ahd. Glossen aufweisen: 1. Admont, StB 106 (BStK-Nr. 2): 156 Gll. in Versus de volucribus, bestiis et arboribus; frk.-obd., 12. Jh. – Ed. StSG III, S. 20-45 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle A). – 2. Admont, StB 476 (BStKNr. 5): über 160 Gll. in Versus de volucribus, bestiis, arboribus; bair., bair.-frk., 12. Jh. – Ed. StSG III, S. 20-45 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle B). – 3. Admont, StB 759 (BStK-Nr. 8): etwa 120 Gll. in Versus de volucribus, bestiis et arboribus; obd.-frk. (Hs. Gurk), 3. Drittel 12. Jh. – Ed. StSG III, S. 20-45 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle C). – 4. Augsburg, AB HS 16 (BStK-Nr. 16): 141 Gll. in Versus de volucribus, bestiis et arboribus; alem. (Hs. Ottobeuren), 11./12. Jh. – Ed. G. Müller, BEDSp 6 (1986) S. 50f., 53-58, 61. – 5. Augsburg, UB Ms. I, 2, 2º, 21 (BStK-Nr. 274): 156 Gll. in Versus de volucribus, bestiis et arboribus; bair., obd.-frk., 1. Hälfte 14. Jh. – Ed. StSG III, S. 20-45 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle i); P. Piper, LBGRPh 18 (1897) Sp. 77. – 6. Basel, UB A. V. 33 (BStK-Nr. 34a): etwa 160 Gll. in Versus de bestiis, volucribus, arboribus; alem., 1. Hälfte 15. Jh.; Basel Predigerkloster. – Ed. steht noch aus. – 7. Basel, UB A. VI. 31 (BStK-Nr. 34b): etwa 450 Gll. in Versus de volucribus, piscibus, bestiis, arboribus; Sprache unbestimmt, 15. Jh. (1424). – Ed. steht noch aus. – 8. Basel, UB F. V. 41 (BStK-Nr. 34e): etwa 240 Gll. inVersus de volucribus, bestiis, arboribus, piscibus; obd. (Hs. Basel Steinenkloster); Gll. undatiert (Hs. von etwa 1427-1435). – Ed. steht noch aus. – 9. Berlin, SBPK Ms. theol. lat. 2º 311 (BStK-Nr. 59c): zahlreiche Gll. in Versus de volucribus, bestiis, arboribus; nd. (Hs. Brandenburg); Glossen undatiert (Hs. 1422). – Ed. einige Gll.: Valentin Rose, Verzeichnis der lateinischen Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Berlin, II, Berlin 1901, S. 915. – 10. Engelberg, StB Codex 46 (BStK-Nr. 138b):

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135 Gll. in Versus de volucribus, bestiis et arboribus; alem., Engelberg; Gll. undatiert (Hs. 2. Hälfte 12. Jh.). – Ed. StSG III, S. 20-45 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle D). – 11. Erlangen, UB Ms. 396 (BStK-Nr. 145): 51 Gll. in Versus de volucribus, bestiis, arboribus, Gll. fortlaufend eingetragen, Merkverse aufgelöst; Sprache unbestimmt (Hs. Heilsbronn), Ende 13. Jh. – Ed. R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, S. 146. – 12. Erlangen, UB Ms. 400 (BStK-Nr. 147d): 130 Gll. in Versus de volucribus, bestiis, arboribus, piscibus et vermibus; bair., 13. Jh. Heilsbronn. – Ed. K. Siewert, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S.79-83. – 13. Frankfurt am Main, Stadt- und UB Fragm. Lat. II 6 (im 19. Jh. ausgelöst aus Ms. Barth. 29) (BStK-Nr. 160): 288 Gll. in Versus de arboribus, volucribus, piscibus, herbis; frk., 2. Hälfte 13. Jh. – Ed. StSG III, S. 20-31, 41-52 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle E), 723. – 14. Göttingen, NSSUB Ms. Lüneburg 2 (BStK-Nr. 260): 97 Gll. in Versus de volucribus, bestiis, arboribus, piscibus, vermibus, canibus (auf den Rändern eingetragen); Sprache unbestimmt; Gll. undatiert (Hs. 2. Hälfte 15. Jh.). – Ed. StSG III, S. 20-49 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle F). – 15. Göttingen, NSSUB Cod. Ms. W. Müller I, 6 (früher deutsches Seminar) (BStK-Nr. 262): 137 Gll. in Versus de arboribus, volucribus et bestiis; bair. Gll. undatiert (Hs. 2. Hälfte 13. Jh.). – Ed. StSG III, S. 713-715 (Nr. DCCCCXXXIV). – 16. Graz, UB 1531 (früher 42/136 4º) (BStK-Nr. 270): 12 Gll. in Versus de piscibus (auf Rückspiegel eingetragen); obd., 14. Jh. – Ed. StSG III, S. 45f. (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle G); R. Schützeichel, Ein ‘Hauch- und Schnauf’-Hexameter, in: Sprache und Name in Mitteleuropa. FS für Maria Hornung, Wien 2000, S. 447. – 17. Innsbruck, ULB 355 [f. 1-69] (BStK-Nr. 285 I): 225 Gll. in den Versus de piscibus, vermibus et canibus sowie nochmals in den Versus de volucribus, bestiis, vermibus et arboribus; bair.-obd., Gll. undatiert, (Hs. Stams 14. Jh.). – Ed. StSG III, S. 20-49 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle H). – 18. Klagenfurt, UB Pap. 48 (BStK-Nr. 341a): über 170 Gll. in Versus de volucribus, bestiis, arboribus et piscibus; obd., Gll. undatiert (Hs. 15. Jh. Klagenfurt). – Ed. steht noch aus. – 19. Klosterneuburg, StB CCL 1092 (BStK-Nr. 342): 13 Gll. in Versus de bestiis; Sprache unbestimmt, Gll. undatiert (Hs. Klosterneuburg 13. Jh.). – Ed. StSG III, S. 33-36 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle I). – 20. Köln, HA HSS – Fragm. A 27 (BStK-Nr. 345): 110 Gll. in Versus de piscibus, volucribus, bestiis, arboribus; mfrk., 14. Jh. – Ed. StSG III, S. 20-45 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle x). – 21. Kremsmünster, StB CC 124 (BStK-Nr. 358a): 76 Gll. in Versus de volucribus, bestiis, arboribus; bair., 13. oder eher 14. Jh. Kremsmünster. – Ed. K. Siewert, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 95-97. – 22. Laibach, Nadškofijski Arhiv (BStK-Nr. 1030): unbestimmte Zahl an Gll. in Versus de piscibus (ohne Hexameter); südbair., 1. Hälfte 14. Jh. – Ed. J. Stanonik, Althochdeutsche Glossen aus Ljubljanaer Handschriften, AN 6 (1973) S. 21. – 23. Leipzig, UB MS 106 (BStK-Nr. 376): 188 Gll. in Versus de volucribus, bestiis, vermibus et arboribus; Sprache unbestimmbar, Anfang 13. Jh. Leipzig. – Ed. StSG III, S. 20-45, 47-48 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle K). – 24. Leipzig, UB MS 1348 (BStK-Nr. 384b): 109 Gll. in Versus de frumentis, piscibus et arboribus; nd., 15. Jh. (Hs. 1488). – Ed. J. Zacher, ZDPh 11 (1880) S. 314-317. – 25. Linz, Bundesstaatliche StudB A 33 (ehemals 178) (BStK-Nr. 386a): 16 Gll. in Fischglossar in der Reihenfolge der Versus de piscibus; Sprache unbestimmt, 12./13. Jh. (Hs. Gleink). – Ed. steht noch aus. – 26. Luzern, ZHB KB Msc. 40. 4º (BStK-Nr. 1037): etwa 220 Gll. in Versus de volucribus, feris, piscibus, arboribus; alem., Gll. undatiert (Hs. Luzern 15. Jh.). – Ed. steht noch aus. – 27. Melk, StB Nr. 592 (BStK-Nr. 432): etwa 180 Gll. in Versus de volucribus, bestiis, arboribus, piscibus; bair., obd., 14. Jh. (Hs.

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Melk ?). – Ed. StSG III, S. 20-46 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle L). – 28. München, BSB Cgm 649 (BStK-Nr. 441): über 140 Gll. in Versus de volucribus, bestiis, arboribus, piscibus; obd., 6. August 1468 in Augsburg. – Ed. StSG III, S. 20-46 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle M). – 29. München, BSB Cgm 5250, 28b (BStK-Nr. 444): 47 Gll. in Versus des bestiis, arboribus, piscibus (ohne lat. Hexameter); bair., Gll. undatiert (Hs. 11 Jh., Tegernsee?). – Ed. StSG III, S. 53f. (Nr. DCCCCXXXV). – 30. München, BSB Clm 614 (BStK-Nr. 454): 109 Gll. in Versus de volucribus, piscibus et bestiis; obd., 13. Jh. – Ed. StSG III, S. 20-36, 47 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle N). – 31. München, BSB Clm 632 (BStK-Nr. 456): 48 Gll. in Versus de arboribus; obd., 13. Jh. – Ed. StSG III, S. 36-45 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle O). – 32. München, BSB Clm 3537 (BStK-Nr. 466): 113 Gll. in Versus de volucribus, bestiis et arboribus; obd., 15. Jh. Elchingen bei Augsburg. – Ed. StSG III, S. 21-45 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle P). – 33. München, BSB Clm 4350 (BStK-Nr. 472): 129 Gll. in Versus de volucribus, bestiis et arboribus; obd., 14. Jh. (Hs. Augsburg). – Ed. StSG III, S. 20-44 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle Q). – 34. München, BSB Clm 4583 (BStK-Nr. 483): 49 Gll. in Versus de arboribus; bair., 2. Hälfte 12. Jh. – Ed. StSG III, S. 36-44 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle R). – 35. München, BSB Clm 4660 (BStK-Nr. 491): 100 Gll. in Versus de volucribus et bestiis; obd., 13./14. Jh. (Hs. 1230 Tirol, Neustift bei Brixen?). – Ed. StSG III, S. 20-36 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle S). – 36. München, BSB Clm 11481 (BStK-Nr. 554): 126 Gll. in Versus de volucribus, bestiis, arboribus; obd., Gll. undatiert (Hs. 1390). – Ed. StSG III, S. 20-44 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle T). – 37. München, BSB Clm 12665 (BStK-Nr. 557): 121 Gll. in Versus de volucribus, arboribus, bestiis, vermibus, piscibus; Sprache unbestimmt, 15. Jh. – Ed. StSG III, S. 21-46, 48 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle U); St. Stricker, Sprachwissenschaft 18 (1993) S. 98f. – 38. München, BSB Clm 14717 (BStK-Nr. 606): 20 Gll. in Versus de piscibus; Sprache unbestimmt, Anfang 13. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachträge, S. 92f. – 39. München, BSB Clm 14745 (BStK-Nr. 610): 24 Gll. in Versus de volucribus; obd., 14. Jh. – Ed. StSG III, S. 21-24 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle V). – 40. München, BSB Clm 17142 (BStK-Nr. 623): 2 Gll. in Versus de volucribus; bair., 12. Jh. – Ed. StSG III, S. 20 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle W). – 41. München, BSB Clm 17154 (BStK-Nr. 628): 14 Gll. in Versus de volucribus; Sprache unbestimmt, Gll. undatiert (Hs. Schäftlarn 12. Jh.). – Ed. StSG IV, S. 354 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle u). – 42. München, BSB Clm 17194 (BStK-Nr. 630): 59 Gll. in Versus de volucribus, keine Gll. in Versus de vermibus; Sprache unbestimmt, 14. Jh. – Ed. StSG III, S. 20-30 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle X). – 43. München, BSB Clm 19488 (BStK-Nr. 675): 142 Gll. in Versus de volucribus, bestiis, arboribus, piscibus; bair., 12. Jh. – Ed. StSG III, S. 20-45 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle Y). – 44. München, BSB Clm 22213 (BStK-Nr. 682): 95 Gll. in Versus de volucribus, bestiis, arboribus; bair., 12. Jh. Windberg. – Ed. StSG III, S. 20-22, 24-41, 43, 45 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle Z). – 45. München, BSB Clm 23496 (BStK-Nr. 689):179 Gll. in Versus de volucribus, bestiis, arboribus, piscibus; bair., 12. Jh. – Ed. StSG III, S. 20-46 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle a). – 46. München, BSB Clm 24727 (BStK-Nr. 692): 144 Gll. in Versus de volucribus, bestiis, arboribus; obd., 14. Jh. – Ed. StSG IV, S. 354-356 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle v). – 47. München, BSB Clm 27329 (BStK-Nr. 694): 240 Gll. am Rande inVersus de membris humanis, bestiis, volucribus, piscibus, arboribus, herbis; frk., 13./14. Jh. – Ed. StSG III, S. 21-27, 29f., 32-44, 46f., 49-53 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle b). – 48. Prag, UK MS XXIII F 127 (BStK-Nr. 787): 99 Gll. in Versus de volucribus, keine Gll. in Versus de bestiis, arboribus; frk., Gll. undatiert (Hs. Weißen-

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au 12. Jh.). – Ed. StSG III, S. 21-45 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle c). – 49. Salzburg, BEA a V 27 (BStK-Nr. 845b): 109 Gll. in Versus de volucribus, bestiis, arboribus; bair., 3. Drittel 12. Jh. Salzburg. – Ed. St. Stricker, Sprachwissenschaft 18 (1993) S. 103-106. – 50. Schlettstadt, BH Ms. 7 (BStK-Nr. 849): 54 Gll. in Versus de arboribus; alem., 1. Viertel 12. Jh. – Ed. StSG III, S. 36-45 DCCCCXXXIV: (Sigle d). – 51. Straßburg, BNU A 157 (verbrannt) (BStK-Nr. 853): 149 Gll. in Versus de volucribus, bestiis, arboribus, piscibus; alem., Gll. undatiert (Hs. 12. Jh.). – Ed. StSG III, S. 20-45 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle e). – 52. Stuttgart, WLB Cod. theol. et phil. 2°° 210 (BStK-Nr. 862): 157 Gll. in Versus de volucribus, bestiis et arboribus; frk., alem., Gll. im 12. Jh. nicht lange nach 1110 eingetragen. – Ed. StSG III, S. 20-45 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle f). – 53. Stuttgart, WLB Cod. theol. et phil. 2°° 218 (BStK-Nr. 863): 103 Gll. in Versus de volucribus et bestiis; alem., 12. Jh. oder später. – Ed. StSG III, S. 20-36 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle g). – 54. Stuttgart, WLB HB XII 8, Vorderer Spiegel (BStKNr. 875): 61 Gll. in Einbandspiegel vorne Versus de volucribus; Sprache unbestimmt, 14. Jh. – Ed. StSG III, S. 20-31 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle h). – 55. Stuttgart, WLB HB VI 88 (BStK-Nr. 875b): etwa 85 Gll. in Versus de volucribus, bestiis, arboribus; Sprache unbestimmt, 14. Jh. – Ed. steht noch aus. – 56. Wien, ÖNB Cod. 85 [f. 1-42] (BStK-Nr. 890 I): 139 Gll. in Versus de volucribus, bestiis et arboribus; bair., Gll. undatiert (Hs. 1. Hälfte 12. Jh.). – Ed. StSG III, S. 20-44 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle k). – 57. Wien, ÖNB Cod. 650 (BStK-Nr. 919): 14 Gll. in Versus de piscibus; obd. 12. Jh. Sittich. – Ed. StSG III, S. 45f. (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle l). – 58. Wien, ÖNB Cod. 804 (BStK-Nr. 926): 47 Gll. in Versus de arboribus (ohne die Hexameter); bair. (Hs. St. Florian), Ende 12. Jh. – Ed. StSG III, S. 36-45 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle m). – 59. Wien, ÖNB Cod 1118 (BStK-Nr. 933): 168 Gll. f. 79v80r ohne die Hexameter; frk.-obd., frühes 13. Jh. Mondsee. – Ed. StSG III, S. 54-57 (Nr. DCCCCXXXVI). – 60. Wien, ÖNB Cod. 1325 (BStK-Nr. 938): etwa 155 Gll. in Versus de volucribus, bestiis, arboribus, piscibus; bair., 14. Jh. – Ed. StSG III, S. 20-53 (Nr. DCCCCXXXI: Sigle n). – 61. Wien, ÖNB Cod. 2237 (BStK-Nr. 943): 19 Gll. in Versus de piscibus; Sprache unbestimmt; 13./14. Jh. – Ed. StSG III, S. 45f. ( DCCCCXXXIV: Sigle o). – 62. Wien, ÖNB Cod. 2524 (BStK-Nr. 947): 4 Gll. in Versus de bestiis (am Rand); obd., 14./15. Jh. – Ed. StSG III, S. 35 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle p). – 63. Wien, ÖNB Cod. 3213 (BStK-Nr. 951): 210 Gll. in Versus de arboribus, piscibus, canibus, volucribus, bestiis, vermibus, bair., 15. Jh. (Hs. 1458). – Ed. StSG III, S. 20-43, 45-49 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle q). – 64. Wien, ÖNB Cod. 12840 (BStK-Nr. 952): 78 Gll. in Versus de bestiis, volucribus, arboribus; ohne Gll. in Versus de piscibus; obd., Gll. undatiert (Hs. St. Paul im Lavanttal von etwa 1463-1472). – Ed. StSG III, S. 21-31, 33-45, 47, Anm. 9 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle r). – 65. Zürich, ZB Ms. C 58 (BStK-Nr. 1001): 13 Gll. in Versus de piscibus; alem., Ende 12. Jh. – Ed. StSG III, S. 35, 45f. (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle s). – 66. Zwettl, StB 293 (BStK-Nr. 1022): etwa 160 Gll. in Versus de volucribus, bestiis et arboribus; obd., 14. Jh. – Ed. StSG III, S. 20-45 (Nr. DCCCCXXXIV: Sigle t). Hss., die zu den Versus keine dt. Glossen aufweisen: 67. Admont, StB 249 (BStK-Nr. 3): Versus de piscibus (ohne dt. Gll.); 13. Jh. – 68. Göttweig, StB 34/44 (früher J 7) (BStK-Nr. 263): Versus de volucribus, bestiis; Versus de filomela (ohne dt. Gll.); 4. Viertel 12. Jh. – 69. München, BSB Clm 14584 [f. 1-124] (BStK-Nr. 600 I): Versus de volucribus (ohne dt. Gll.); 4. Viertel 13. Jh. – 70. München, BSB Clm 19413 (BStK-Nr. 661): Versus de volucribus, bestiis uel iumentis (ohne dt. Gll.); 10. Jh. süddeutscher Raum. – Jüngere Hss., die keine dt.

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Gll. zu den Versus enthalten oder solche, die nicht mehr dem Ahd. zugewiesen werden können: 71. Admont, StB 119: f. 47v Versus de volucribus, bestiis; Hs. Admont?; 14. Jh. – 72. Admont, StB 547: f. 121r Versus de volucribus, bestiis; Hs. Admont?; 14. Jh. – 73. Altenburg, StA Cod. AB 15 B4: unbestimmte Zahl an Gll. in Nomina ferarum, volucrum, piscium, arboribus; bair.-österr., Hs. 1443, Hinweis: K. Kirchert, Städtische Geschichtsschreibung und Schulliteratur, Wiesbaden 1993, S. 205. – 74. Altenburg, StA Cod. AB 13 B2: unbestimmte Zahl an Gll. in Nomina ferarum, volucrum, piscium, arboribus, bair.-österr., Hs. 1448. – Hinweis: K. Kirchert, ebenda, S. 205. – 75. Basel, UB F III 17: 15. Jh. – 76. Berlin, SBPK Ms. lat. 2º 660: f. 12rb Versus de volucribus, bestiis; Hs.1424. – 77. Berlin, SBPK Ms. germ.4º 765: Versus de avibus, bestiis (ohne dt. Gll.); Hs. 14./15. Jh. – 78. Bern, BB 723: f. 140r-149r Versus de bestiis, volucribus, arboribus; Hs. Buxheim, 2. Viertel 15. Jh. – 79. Darmstadt, ULB 2225: f. 51r-53v Versus de bestiis, volucribus, arboribus, piscibus (ohne dt. Gll.); Hs. Süddeutschland (Rothenburger Raum), 1410. – 80. Erfurt, UB Fol. 166: f. 34r Versus de volucribus, arboribus (ohne dt. Gll.); Hs. Süddeutschland (Rothenburger Raum), Mitte 15. Jh. – 81. Erlangen, UB 161: f. 53v Versus de arboribus, bestiis (ohne dt. Gll.); Hs. Heilsbronn, Anfang 13. Jh. – 82. St. Florian, StB XI.124: f. 39v-40r Versus de volucribus, bestiis, arboribus, piscibus; Hs. St. Florian, 14. Jh. – 83. Frankfurt am Main, Stadt- und UB Praed. 60: f. 74r Versus de volucribus, bestiis, arboribus (ohne dt. Gll.); Hs. Straßburg/Köln, 1442-1444. – 84. Halberstadt, Domgymnasium 68: f. 72r Versus de volucribus (ohne dt. Gll.); Hs. Halberstadt, 14. Jh. – 85. Halle, UB und LB Yg 22 Q: f. 239 Versus de volucribus, bestiis, piscibus, arboribus; Hs. Regensburg?, 1477. – 86. Harburg, Fürstlich Oettingen-Wallerstein’ sche Bibliothek B. II,1,4°° ,11: f. 228r Versus de bestiis; Hs. 15. Jh. – 87. Klagenfurt, UB Pap.-Hs. 16: Versus de volucribus, bestiis, arboribus (ohne dt. Gll.); Hs. Millstadt, 2. Drittel 15. Jh. – 88. Melk, StB 985 (= alt 829 = P 15): f. 238v-240r Versus de volucribus, bestiis, arboribus, piscibus; Hs. Melk?, 15. Jh. – 89. Melk, StB 1025: f. 242-243 Versus de volucribus, bestiis, arboribus; Hs. Raum Straubing?, ≈1465. – 90. München, BSB Clm 4146: f. 330va-330vb Versus de volucribus (ohne dt. Gll.); Hs. Elchingen bei Augsburg, 15. Jh. – 91. München, BSB Clm 18910: Versus de bestiis (ohne dt. Gll.); Hs. Tegernsee, 1495. Derzeit sind 91 Überlieferungen bekannt, die einzelne oder mehrere Versus mit oder ohne dt. Glossen überliefern. Von diesen sind 70 Hss. in BStK erfasst, da sie zu den Versus oder zu einem anderen Text ahd. Glossen enthalten (BStK-Nr. (3, 263, 600 I, 661,) 2, 3, 5, 8, 16, 34a, 34b, 34e, 59c, 138b, 145, 147d, 160, 260, 262, 263, 270, 274, 285 I, 341a, 342, 345, 358a, 376, 384b, 386a, 432, 441, 444, 454, 456, 466, 472, 483, 491, 554, 557, 600 I, 606, 610, 623, 628, 630, 661, 675, 682, 689, 692, 694, 787, 845b, 849, 853, 862, 863, 875, 875b, 890 I, 919, 926, 933, 938, 943, 947, 951, 952, 1001, 1022, 1030, 1037). Vier dieser 70 Hss. weisen zu den Versus keine dt. Glossen auf (BStK-Nr. 3, 263, 600 I, 661). 21 Hss. sind nicht in den Katalog aufgenommen worden. Von diesen weisen wahrscheinlich neun keine dt. Glossen auf und 12 enthalten Glossen, die nicht mehr dem Ahd. angehören. Zu diesen 21 Hss. liegen kaum sichere Kenntnisse vor, sodass auch über die Glossen nichts ausgesagt werden kann. Ohne dt. Glossierung stehen die Versus in folgenden 13 Hss.: Admont 249; Göttweig 34/44 (früher J 7); München, Clm 14584 [f. 1-124]; München, Clm 19413; Berlin, Ms.germ.quart. 765; Darmstadt 2225; Erfurt, Fol. 166; Erlangen 161; Frankfurt am Main, Praed. 60; Halberstadt 68; Klagenfurt, Pap.-Hs. 16; München, Clm 4146; München, Clm 18910. – Die folgenden elf Hss., die Glossen zu den Versus enthalten, stammen aus nachalthochdeutscher Zeit: Admont

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119; Admont 547; Altenburg, Cod. AB 15 B4; Altenburg, Cod. AB 13 B2; Basel, F III 17; Berlin, Ms. lat. 2º 660; Bern, 723; St. Florian, XI.124; Harburg, B. II,1,4 º,11; Melk 985 (= alt 829 = P 15); Melk 1025 (= alt 779 = O15). – Die fortschreitende Erschließung der Hss.bestände wird wahrscheinlich noch weitere Textzeugen zum Vorschein bringen. Die Versus sind häufig auf einzelne frei gebliebene Seiten einer Hs. eingetragen worden. Die Verwandtschaftsverhältnisse der Hss. zueinander sind noch nicht geklärt.

3. Edition der Versusglossen: Dass die Versus einen nennenswerten Überlieferungskomplex darstellen, weiß man spätestens, seitdem J. Zacher (ZDPh 11 [1880] S. 299-324) im Jahre 1880 auf 26 Versus-Hss. aufmerksam gemacht hat. Im Jahre 1880 folgt die erste umfassende Edition von StSG, womit bis zum Jahre 1922 die Glossen von 50 Hss. ediert sind. W. Wegstein (in: Studia Linguistica et Philologica, S. 285-294) kann 1984 weitere Nachträge anführen und kommt unter Einschluss der nicht dt. glossierten Versus auf 85 Textzeugen. Inzwischen hat sich die Anzahl um weitere sechs Überlieferungsträger erhöht, sodass derzeit 91 Versushss. bekannt sind. Eine systematische Suche brächte sicher weitere Textzeugen zutage. Die Versus sind nämlich recht unscheinbar und oft auf nur einem Blatt untergebracht. Nach der Edition von StSG und den Nachträgen von W. Wegstein u.a. sind Editionen einzelner Textzeugen nachgeliefert worden (zu BStK-Nr. 16 G. Müller; zu BStK-Nr. 59c einige Glossen bei V. Rose; zu BStK-Nr 145 R. Hildebrandt; W. Wegstein, ZDA 101 (1972) S. 309; zu BStK-Nr. 146d K. Siewert; zu BStK-Nr 358a; zu BStK-Nr. 606 H. Mayer; zu BStK-Nr. 845b St. Stricker; zu BStK-Nr. 1030 J. Stanonik). Von den 68 glossentragenden Überlieferungen sind derzeit noch nicht alle Glossen ediert. Der Hauptgrund für diese lückenhafte Editionslage liegt in dem langen Überlieferungszeitraum der Versus von fünf Jahrhunderten. Die Überlieferung der Versus mit deutschen Glossen setzt erst im 11. Jh. ein, also in der Spätzeit des Ahd. Die Überlieferung reicht bis ins 15. Jh. hinein, wobei die deutschen Glossen der jungen Überlieferungen sprachlich nicht mehr für das Ahd. in Anspruch genommen werden können. Aus dem Grund sind auch längst nicht alle bekannten Textzeugen in der Edition von StSG berücksichtigt. Auch in BStK sind nicht alle Textzeugen aufgenommen worden, da manche Überlieferungen in ihrer sprachlichen Form keinen Reflex des Ahd. mehr zu erkennen geben. Die Glossen der folgenden Textzeugen sind noch nicht erhoben oder noch nicht vollständig ediert: Admont 119; Admont 547; Altenburg, Cod. AB 15 B4; Altenburg, Cod. AB 13 B2; Basel, A. V. 33; Basel, A. VI. 31; Basel, F. III 17; Basel, F. V. 41; Berlin, Ms. lat. 2º 660; Berlin, MS. theol. lat. 2º 311; Bern 723; St. Florian, XI.124; Frankfurt am Main, Praed. 60; Halle, Yg 22 Q; Harburg II,1,4º,11; Linz/Donau 33 (ehemals 178); Luzern, KB Msc. 40. 4º; Melk 985 (= alt 829 = P 15); Melk 1025 (= alt 779 = O15); Stuttgart, HB VI 88 (BStK Nr. 875b).

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4. Forschungsstand: Die Datierung der Versus ist nicht genau möglich. Ein terminus post quem muss vorläufig offen bleiben. Es ist aber festzuhalten, dass bislang keine Hs. auch nur mit einiger Sicherheit vor das Jahr 1100 zu datieren ist. Dies gilt auch für die von G. Müller (BEDSp 6 [1986] S. 49-67) dem 11. Jh. zugeordneten Hss. Ein Terminus ante quem kann aus der Verwendung der Versus und ihrer Glossierung in anderen Glossensammlungen ermittelt werden. So hat der Verfasser des Ú ‘Summarium Heinrici’ die Versus de volucribus für das Kapitel III,17, De avibus, benutzt. Das ist wohl für all die Textstellen anzunehmen, bei denen die Abfolge der Exzerpte aus seiner Quelle, Isidors Etymologien, durch Eintragungen unterbrochen wird, die außerhalb der Versus sonst nicht bekannt sind; sicher zu belegen ist dies dadurch, dass mindestens eine ganze Verszeile (V. 13 der Versus de volucribus) vollständig übernommen ist: Aurificeps, cupude sepicecula cruriculeque. Darauf hat bereits E. Steinmeyer hingewiesen. Später sind die Versus dann noch in den Glossen Hildegards von Bingen relevant. Während die Hildegard-Glossen auf wenige Jahre genau, nämlich a. 1151 bis 1158, datierbar sind, ist die Datierung des ‘Summarium Heinrici’ nach wie vor problematisch, wahrscheinlich aber in der 1. Hälfte des 11. Jh.s anzusiedeln. An dem weiteren Auftreten dieser lat. Lemmata und teilweise der zugehörigen Glossen, die geradezu als Signet der Versus de volucribus gelten können, lassen sich die Spuren der Versus – ob nun über das ‘Summarium Heinrici’ vermittelt oder direkt – noch in dem Glossar Id. (Oxford, BodL Jun. 83) und den Glossen der Hildegard von Bingen weiterverfolgen, und letztere können verlässlich in die Zeit zwischen 1151 und 1158 datiert werden. Fragen zur Entstehung der Versus sind großenteils noch unbeantwortet. Dazu gehören die Fragen, ob eine einzige Sammlung von Hexametern oder mehrere Gedichte Basis sind, ob die Versus von Anfang an als Verbindung von lat. Versen und dt. Glossierung entstanden sind, oder ob die Hexameter erst nachträglich glossiert worden sind. 5. Glossographische Aspekte: Die Versus bestehen aus lat. Hexametern, die aus einer Aneinanderreihung lat. Bezeichnungen für Vögel, Tiere und Bäume bestehen. Die Bezeichnungen werden allenfalls durch Konjunktionen wie et, atque, vel verbunden. Damit ist die kürzeste und präziseste Möglichkeit der Auflistung von Sachtermini gewählt. Der Vers dient dabei als mnemotechnisches Hilfsmittel. Die Versus nehmen eine Zwischenstellung ein zwischen einer Textglossierung, die in der Regel spätere Zutat zu dem Text ist, und einem Glossar, bei dem die Glossen feste Bestandteile des Glossartextes sind. Wie ein Werktext können die Hexameter auch ohne deutsche Glossierung existieren, sie tun das in immerhin mindestens 13 Überlieferungen: Admont 249; Berlin, Ms.germ.quart. 765; Darmstadt 2225; Erfurt, Fol. 166; Erlangen 161; Frankfurt am Main, Praed. 60; Göttweig 34/44; Halberstadt 68;

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Klagenfurt, Pap.-Hs. 16; München, Clm 4146; 61: München, Clm 14584; München, Clm 19413; München, Clm 18910. Die deutschen Glossen sind insofern auch Zutat, aber kein sekundäres Ergebnis einer Textanalyse, sondern sie sind von vornherein wie bei einem Glossar als Bestandteil vorgesehen. In ihrer graphischen Anlage ähneln die Versus einer Textglossierung, in ihrer Entstehung und Funktion aber eher einem Glossar. Die Glossen der Versusüberlieferung sind in Verbindung mit dem lat. Vers Instrument der Terminologieaneignung. Bei den Versus kommt es ganz offensichtlich auf die Erlernung des lat. Wortschatzes an. Dabei hilft die metrische Struktur der Zeilen. Das Deutsche hat die Funktion, das Lat. verständlich zu machen. Das Erlernen des lat. Spezialwortschatzes setzt die Kenntnis der muttersprachlichen Bezeichnungen voraus. Sie gehören sozusagen verbindlich zum lat. Wortschatz. Funktional sind die Versus damit zweisprachigen Glossareintragungen vergleichbar. Das Gros der Hss. organisiert den Wortschatz aus mnemotechnischen Gründen in Hexametern, die je eine eigene Zeile beanspruchen. Die deutschen Glossen sind den einzelnen lat. Lemmata interlinear zugeordnet. Im engeren Sinne interlinear, also zwischen den Zeilen, stehen die Glossen nur in wenigen Fällen. Meist ist für die Glossierung eine eigene Zeile eingerichtet, die Glossierung also von vornherein interlinear geplant. Der Text ist zweisprachig realisiert, und war das wahrscheinlich auch von Anfang an. Dennoch ist das Deutsche dem Lat. nachgeordnet. Es gehört nicht zum eigentlichen Memoriertext, sondern zur Hilfszeile. Dem Gedächtnis wurde primär der lat. Text anvertraut. Mit den Formveränderungen, denen die Versus im Verlauf der Überlieferung unterliegen, belegen sie paradigmatisch den Funktionswandel innerhalb der Glossographie. Die Versusglossen sind zunächst über die jeweiligen Bezugswörter geschrieben worden, entweder in eigens vorgesehenen Zeilen oder interlinear zwischen die Zeilen mit den lat. Hexametern. Im Verlauf der Überlieferung sind sie dann neben die lat. Bezugswörter geschrieben worden und somit in fortlaufende Zeilen eingerückt. So ist ein Glossar entstanden, das zwar nicht mehr über die lat. Hexameter verfügt, aber die Glossen noch in der Reihenfolge der Versus aufführt (Erlangen, UB 396 (1294); München, BSB Cgm 5250, 28b; Wien, ÖNB 804). Auf der letzten Entwicklungsstufe sind die Glossareintragungen alphabetisch geordnet worden. Ein solches Glossar lässt nur im Idealfall, d.h. ohne größere Zusätze oder Auslassungen, die Versus noch als Basis erkennen. Die lat. Hexameter waren wahrscheinlich von Anfang an deutsch glossiert, die Glossen sind also nicht erst später hinzugekommen. Die von StSG (III, S. 47-53) mit den Versus de volucribus, den Versus de bestiis, Versus de arboribus und Versus de piscibus an gleicher Stelle edierten weiteren Versus de vermibus, Versus de canibus, Versus de herbis, Versus de membris humanis sowie die vereinzelt mitüberlieferten

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Versus de frumentis und Versus de iumentis gehören nicht zum Grundbestand der Versus und werden auch nur von einigen wenigen Hss. überliefert. 6. Räumliche und zeitliche Verteilung der Überlieferung: Für eine Datierung und Lokalisierung bieten die Texte selbst keine Ansatzpunkte. Die Angaben in Hss.katalogen sind oft auch nicht sehr aufschlussreich. Die Hexameter sind nämlich häufig, zumindest in 40 Hss., auf freien Raum am Ende eines Codex von anderer Hand als der vorausgehende Text eingetragen worden (am Ende einer Hs.: BStK-Nr. 2, 5, 59c, 138b, 147d, 270, 274, 342, 358a (Ende eines Teils), 384b, 454, 456, 483, 610 (Ende eines Teils), 623, 628, 630, 682, 689, 692, 787, 862, 875b, 919, 933, 938, 943, 951, 1037 sowie Admont 547, Basel, F V 41, Halberstadt 68, Melk 1025; am Anfang einer Hs.: BStK-Nr. 3, 160, 376, 875 (im Einband), 947, 952; im Inneren einer Hs.: BStK Nr. 8, 16, 145, 260, 263, 285, 341a, 386a, 389, 432, 441, 466, 472, 491, 554, 557, 606, 675, 694, 845b, 849, 853, 863, 890, 926, 1001, 1022 sowie Admont 119, Basel, A V 33, Basel, A VI 31, Bern 723, Darmstadt, 2225, Erfurt, Fol. 166, Erlangen, 161, St. Florian, XI.124, Frankfurt, Praed. 60, Klagenfurt, Pap.-Hs. 16, Melk 985, München, Clm 18910). In diesen Fällen kann die Eintragung der Versus also auch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt sein. Entstehung der Hs. und Eintragung der Versusglossen müssen nicht in einem Arbeitsgang erfolgt sein. Dieser Unsicherheitsfaktor ist zu beachten, wenn die Versusüberlieferung hinsichtlich ihrer Entstehung beschrieben werden soll. Nach derzeitigen Erkenntnissen erstreckt sich die Überlieferung der Versus mit volkssprachigen Glossen über die Zeit vom 12. bis 15. Jh., wobei dem 12. und 13. Jh. 40 Hss., dem 14. und 15. Jh. 50 zugewiesen werden. Nach den Darlegungen W. Wegsteins (in: Probleme der Edition ahd. Texte, S. 76-82, hier S. 77) lässt sich keine der Hss. mit Sicherheit vor das Jahr 1100 datieren. Die Überlieferung der Versus zeigt einen deutlichen Schwerpunkt im Obd., besonders in der frühen Überlieferung. Sie strahlt aber bis in den nd. Raum aus. Vernachlässigt man die Hss., die nicht sicher lokalisierbar sind oder noch nicht lokalisiert sind, so ergibt sich folgendes Bild: Aus dem nd. und md. Raum stammt ein halbes Dutzend Hss., dem schwäb.-alem. Raum können 10 zugeordnet werden. Der bair.-österr. Raum dominiert mit über 50 Hss. (53) deutlich. 7. Wirkungsgeschichte: Durch die breite zeitliche wie räumliche Streuung liefern die Versusglossen dem Sprachhistoriker wichtiges Material für die historische Wortforschung. Dabei ist vor allem das Verhältnis Latein und Deutsch am Beispiel der Lexik genauer zu untersuchen, denn einige der lat. Bezeichnungen für die Vögel erscheinen als vom Deutschen her motivierte Neubildungen, womöglich auch erst des 12. Jh.s, da sie vorher nicht zu belegen sind.

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Die Mitüberlieferung und die Verwendung des Verses zur Vermittlung lat. Terminologie deuten auf schulische Zusammenhänge. Der Kompilator der Carmina Burana hat die Versus de volucribus und die Versus de bestiis einschließlich der dt. Glossen – als Lehrgedichte aus dem Schulalltag – in seine Sammlung (Nr. 133 und 134) aufgenommen und ihnen damit den Status von Gebrauchspoesie zuerkannt. Zudem finden sich die versustypischen Vogelbezeichnungen aus V. 13 als Aurificeps Ysvogel. Cruricula. Auis quedam. Cupuda. Auis quedam. Sepicecula vel sepiecula Auis, que vocatur lister in den Wörterbüchern der beiden Straßburger Geistlichen Fritsche Klosener und Jakob Twinger von Königshofen aus der 2. Hälfte des 14. Jh.s wieder und belegen, dass die Versus auch noch in der versorientierten grammatischlexikographischen Literatur aufgegangen sind, die im 13. und 14. Jh. besondere Produktivität entfaltet. 8. Umfang und Bedeutung: Die Versus de volucribus gehören neben dem Ú ‘Summarium Heinrici’ und dem Ú ‘Salomonischen Glossar’ zu den großen originären Glossaren am Ende der ahd. Zeit (R. Bergmann – St. Stricker, in: Dt. Texte der Salierzeit, S. 91-108). Die Versusüberlieferung, die oft nur eine Seite einer Hs. in Anspruch nimmt, weist mit 91 Textzeugen eine extrem reiche Überlieferung auf, die vom 11. bis zum Ende des 15. Jh.s reicht. Die Glossen der Versus sind in den meisten Fällen dem Ahd. zugehörig, reichen aber auch in das Mhd. hinein. Die Versus sind dicht dt. glossiert und tradieren meist zwischen 100 und 200 Glossen, in der Spitze bis zu 450 Glossen. Insgesamt weisen sie allein in den editorisch erschlossenen Textzeugen über 7.500 Glossenbelege auf. In einigen Fällen fehlt die dt. Glossierung. Das Werk, das im Laufe der Jahrhunderte großen Formveränderungen unterliegt, ist auf die Vermittlung lat. Terminologie ausgerichtet und somit für den Unterricht konzipiert. Das Werk liefert in einer mnemotechnischen Aufbereitung Spezialwortschatz über ausgewählte Bereiche der Tier- und Pflanzenwelt. Es hat die Glossarlandschaft über fünf Jahrhunderte mitbestimmt und noch in die im 13. bis 15. Jh. neu aufkommende Vokabulartradition hineingewirkt. 9. Literatur: BStK-Nr. 2, 3, 5, 8, 16, 34a, 34b, 34e, 59c, 138b, 145, 147d, 160, 260, 262, 263, 270, 274, 285 I, 341a, 342, 345, 358a, 376, 384b, 386a, 432, 441, 444, 454, 456, 466, 472, 483, 491, 554, 557, 600 I, 606, 610, 623, 628, 630, 661, 675, 682, 689, 692, 694, 710ae, 787, 845b, 849, 853, 862, 863, 875, 875b, 890 I, 919, 926, 933, 938, 943, 947, 951, 952, 1001, 1022, 1030, 1037; StSG III, S. 20-57; III, S. 713-715; IV, S. 354-358; St. Stricker, Die Versus-Sachglossare, in: BStH I, S. 683-697; R. Bergmann – St. Stricker, Neuanfänge und Kontinuitäten in der deutschsprachigen Glossographie des 11. Jahrhunderts, in: Dt. Texte der Salierzeit, S. 91-108; R. Hildebrandt, Summarium Heinrici, II, QF NF 78, Berlin/New York 1982, S. 146; G. Müller, Die althochdeutschen Glossen der Handschrift Augsburg, Arch. 16, BEDSp 6 (1986) S. 49-67; St. Stricker, Zu den Erträgen einer Werktypologisierung für eine Funktionsbestimmung am Beispiel der Versus de volucribus, in: Mittelalterl. volksspr. Glos-

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sen, S. 551-573; W. Wegstein, Anmerkungen zum ‘Summarium Heinrici’, ZDA 101 (1972) S. 303-315; W. Wegstein, Zur Überlieferung der ‘Versus de volucribus, bestiis, arboribus’, in: Studia Linguistica et Philologica. FS Klaus Matzel, S. 285-294; W. Wegstein, Zur Edition der ‘Versus de volucribus’. Vorschläge für ein EDV-gestütztes Editions-Supplement, in: Probleme der Edition ahd. Texte, S. 76-82; W. Wegstein, in: 2VL X, Sp. 313-316; J. Zacher, Die nomina volucrum und die termini juristarum, ZDPh 11 (1880) S. 299-324.

STEFANIE STRICKER

Vitae et Passiones, Althochdeutsche Glossierung 1. Werkbeschreibung: Schriften über das Leben und Leiden von Heiligen gibt es im Mittelalter in großer Zahl, auch solche, die ahd. glossiert sind. Dazu gehören Werke wie die folgenden, deren Autoren namentlich bekannt sind: die Vita S. Martini von Sulpicius Severus; die Vita S. Germani und die Vita S. Martini von Venantius Fortunatus; die Vita S. Malchi monachi des Reginald von Canterbury; die Vita des Antonius von Athanasius; die Vita des Severin von Eugippius; die Vita des Hilarion von Hieronymus. Diese Schriften sind in unterschiedlichem Umfang ahd. glossiert, die Vita S. Martini von Ú Sulpicius Severus z.B. in über einem Dutzend Hss. Die folgende Darstellung bezieht sich ausschließlich auf die Viten und Passionen, die keinem Autor zugewiesen werden können. Einbezogen wird die Überlieferung der Vitae patrum (‘der Väter Leben’, ‘Väterbuch’), worunter frühchristliche Sammelwerke über Leben und Wirken urchristlicher Eremiten und Glaubenszeugen verstanden werden, die im 3. bis 5. Jh. in Kleinasien und Nordafrika gelebt haben. Als Quellen dienten hagiographische Texte, wie etwa die Viten der Heiligen Antonius, Hieronymus, Hilarion, Ambrosius und Augustinus. Werke dieser Art wurden schon in der Benediktregel für die monastischen Lesungen und als erbauliche Lektüre vorgeschrieben. Im Laufe der Zeit wurden die Berichte über spätere Heiligengestalten ergänzt, so etwa die der Heiligen Georg und Martin von Tours. Den Viten und Passionen ist ihre Funktion der Vermittlung von vorbildhafter Lebensführung gemein. Literatur: U. Williams – W. J. Hoffmann, in: 2VL X, Sp. 449-466. 2. Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Basel, UB F. III. 15b (BStK-Nr. 30): 2 Marginalgll. in Textglossierung zur Vita des Antigonus und der Eupraxia; Sprache unbestimmt, 1. Viertel 9. Jh. in Fulda eingetragen. – Ed. P. Lehmann, PBB 52 (1928) S. 168. – 2. Einsiedeln, StB cod 257 (BStK-Nr. 125): 1 Marginalgl. in Textglossierung zur Vita des Kolumban; Sprache unbestimmt, Gll. undatiert (Hs. 10. Jh. Einsiedeln). – Ed. StSG II, S. 743, Nr. DCCCXCVIII. – 3. Karlsruhe, BLB St. Peter Perg. 87 (BStK-Nr. 324): 3 Gll. im Kontext des Textglossars zur Passion des Sebastian (Ed. StSG II, S. 763, Nr. DCCCCXXI) und 4 Gll. im Kontext des Textglossars zur Passion des Dionysius (Ed. StSG II, S. 744, Nr. DCCCC); as. und hd., 11. Jh. – 4. Linz, Bundesstaatliche StudB 473 (BStK-Nr. 386c): 15

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Interlineargll. in Textglossierung zur Vita des Severinus; Sprache unbestimmt, 13. Jh. Suben (Oberösterreich). – Ed. 11 Gll. bei W. Wattenbach, Aus Handschriften, NA 4 (1879) S. 407f., 4 Gll. noch unediert. – 5. München, BSB Clm 4503 (BStK-Nr. 474): 1 Marginalgl. in Textglossierung zur Passion des Petrus und Paulus; Sprache unbestimmt, um 1065 in Benediktbeuern. – Ed. StSG II, S. 359 (Nr. DCCXLV). – 6. München, BSB Clm 4554 (BStK-Nr. 479): 3 Interlineargll. in Textglossierung, davon 2 zur Passion des Julianus und 1 zur Passion der Agatha und Agnes, Griffelgll.; Sprache unbestimmt, ausgehendes 8. Jh. und Wende 8./9. Jh. – Ed. H. Meritt, AJPh 55 (1934) S. 232. – 7. München, BSB Clm 9673 (BStK-Nr. 553): 2 Interlineargll. in Textglossierung zur Vita der Hilario; Sprache unbestimmt (Hs. Oberaltaich), 1 Gl. 12. Jh. und 1 Gl. 14. Jh. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 83. – 8. München, BSB Clm 14364 (BStK-Nr. 575): 20 Rötel-Interlineargll. in Textglossierung zur Passion des Vitus und zur Vision des Barontus; Sprache unbestimmt, Gll. undatiert (Hs. 1. Hälfte 9. Jh., Bayern). – Ed. B. Bischoff, PBB 52 (Halle 1928) S. 159f. – 9. München, BSB Clm 14689 (BStK-Nr. 604): 7 Interlineargll. in Textglossar zu den Vitae patrum; bair., Gll. undatiert (Hs. 1. Hälfte 12. Jh. Regensburg). – Ed. StSG II, S. 727f. (Nr. DCCCLXXXII). – 10. München, BSB Clm 14747 (BStK-Nr. 611): 293 fast durchgehend im Kontext stehende Gll. in Textglossaren, davon 2 Gll. zur Passion des Philippus (Ed. StSG II, S. 763, Nr. DCCCCXX), 10 Gll. zur Passion des Jacobus (5 f. 83v, 5 f. 98r-98v) (Ed. StSG II, S. 745, Nr. DCCCCV), 3 Gll. zur Vita des Johannis (Ed. StSG II, S. 746, Nr. DCCCCVIII), 38 Gll. zur Passion des Simon und Judas (Ed. StSG II, S. 763f., Nr. DCCCCXXII), 31 Gll. zur Memoria Michaelis (Ed. StSG II, S. 760f., Nr. DCCCCXV), 11 Gll. zur Vita des Stephanus (Ed. StSG II, S. 765, Nr. DCCCCXXIV), 38 Gll. zu Passion der Caecilia (Ed. StSG II, S. 742f., Nr. DCCCXCVII), 13 Gll. zur Passion der Thecla (Ed. StSG II, S. 765, Nr. DCCCCXXV), 127 Gll. zu Vitae patrum (bis auf 1 interlinear, 1 marginal alle weiteren im Kontext) (Ed. StSG II, S. 732-734, Nr. DCCCLXXXIV); bair., 9. Jh. – 11. München, BSB Clm 18140 (BStK-Nr. 637): 160 vorwiegend im Kontext stehende Gll. in Textglossar zu den Vitae patrum; bair., 3. Viertel 11. Jh. Tegernsee. – Ed. StSG II, S. 728-731, Nr. DCCCLXXXIII). – 12. München, BSB Clm 18475 (BStK-Nr. 643): 3 Interlineargll. in Textglossierung zu den Vitae patrum, Sprache unbestimmt, spätes 11. Jh. Tegernsee. – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 95. – 13. München, BSB Clm 18628 (BStK-Nr. 654): 1 Marginalgl. in Textglossierung zu Passion des Petrus und Paulus; bair., 2. Viertel oder Mitte 11. Jh., südwestd. Raum. – Ed. StSG II, S. 359 (Nr. DCCXLV). – 14. München, BSB Clm 19162 (BStK-Nr. 659): 30 Gll. in Textglossierung: 3 Gll. (1 interlinear, 2 marginal) zur Vita der Walburga, 1 Gl. in bfk-Geheimschrift (Ed. StSG II, S. 766, Nr. DCCCCXXVII), 1 Interlineargl. zur Vita des Emmeram (Ed. StSG II, S. 744, Nr. DCCCCI), 1 Interlineargl. zur Vita des Corbinian (Ed. StSG II, S. 743, Nr. DCCCXCIX), 25 Gll. (24 interlinear, 1 marginal) zur Vita des Nikolaus, 1 Gl. in bfk-Geheimschrift (Ed. StSG II, S. 761, Nr. DCCCCXVI; Neufunde bei A. Nievergelt, Die Glossierung der Hs. Clm 18547 b, S. 784f.); bair., Ende 10. Jh., Tegernsee. – 15. München, BSB Clm 19440 (BStK-Nr. 665): 29 Kontextgll. in Textglossar zu den Vitae patrum; bair., 3. Viertel 11. Jh., West- oder Süddeutschland. – Ed. StSG II, S. 727f. (Nr. DCCCLXXXII). – 16. München, BSB Clm 22272 (BStK-Nr. 684): 5 Interlineargll. in Textglossierung zur Passion des Georg; obd., kurz nach Niederschrift des Textes 11./12. Jh. Windberg. – Ed. StSG II, S. 744, Nr. DCCCCII. – 17. Oxford, BodlL Jun. 25 (BStK-Nr. 725 IV): 13 Gll. in Textglossar zur Passion des Andreas (Ed. StSG II, S. 741), 33 Gll. in Textglossar zur Passion des Bartho-

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lomaeus (Ed. StSG II, S. 742, Nr. DCCCXCVI), 30 Gll. in Textglossar zur Passion des Thomas (Ed. StSG II, S. 766, Nr. DCCCCXXVI); alem., 9. Jh. Bodenseegebiet. – 18. Salzburg, UB M II 279 (BStK-Nr. 846): 75 Kontextgll. in Textglossar zu den Vitae patrum; bair., 2. Hälfte 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 728-730, Nr. DCCCLXXXIII. – 19. Schlettstadt, BH Ms. 7 (BStK-Nr. 849): 66 Gll. in Textglossar zu den Vitae patrum; alem., 1.Viertel 12. Jh. – Ed. StSG II, S. 735f., Nr. DCCCLXXXVI. – 20. München, BSB Clm 14689 (BStK-Nr. 864): 1 Marginalgl. in Textglossierung zu den Vitae patrum; obd., 9./10. Jh. (Hs. 8./9. Jh. St. Amand). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 134. – 21. Wien, ÖNB Cod. 358 ( BStK-Nr. 908): 1 Interlineargl. in Textglossierung zur Passion des Jacobus; Sprache unbestimmt, 10. oder 11. Jh. südl. Elsass (Hs. 3. Drittel 9. Jh., vermutl. Oberitalien). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 139. – 22. Wien, ÖNB Cod. 420 (BStK-Nr. 914): 1 Interlineargl. in Textglossierung zur Passion der Theodosia; Sprache unbestimmt, 10. Jh. (Hs. Ende 8., Anfang 9. Jh., Salzburg). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 140. – 23. Wien, ÖNB Cod. 553 (BStK-Nr. 917): 1 Marginalgl. (mit Verweiszeichen) in Textglossierung zur Passion des Bartholomaeus; obd., 1. Hälfte 11. Jh. kurz nach Niederschrift des Textes. – Ed. StSG IV, S. 353, Nr. DCCCXCVIa. – 24. Wien, ÖNB Cod. 2723 (BStK-Nr. 949): 28 Gll. in Textglossar zu den Vitae patrum; bair., 2. Hälfte 10. Jh. Mondsee. – Ed. StSG II, S. 727f. (Nr. DCCCLXXXII). – 25. Wien, ÖNB Cod. 2732 (BStK-Nr. 950): 26 Gll. in Textglossar zu den Vitae patrum; bair., 10. Jh., Salzburg. – Ed. StSG II, S. 727f. (Nr. DCCCLXXXII). – 26. Wolfenbüttel, HAB Cod. Guelf. 553 Helmstadiensis (BStK-Nr. 966): 4 Gll. (3 interlinear, 1 marginal) in Textglossierung zur Vita und Passion des Adalbert; as., 11. Jh. – Ed. StSG II, S. 741, Nr. DCCCXCIII. – 27. Wolfenbüttel, HAB Cod. Guelf. 48 Weissenburg (BStK-Nr. 971): 1 Marginalgl. in Textglossierung zur Passion des Petrus und Paulus, 1 Interlineargl. in Textglossierung zur Passion des Thomas, Sprache unbestimmt; 10./11. Jh. Weißenburg. – Ed. H. Butzmann, Die Weissenburger Handschriften, Kataloge der Herzog August Bibliothek. Die neue Reihe, Frankfurt (Main) 1964, S. 184; H. Butzmann, Althochdeutsche PriscianGlossen aus Weissenburg, PBB 86 (Halle 1964) S. 402. – 28. Zürich, ZB Ms. Rh. 99 (BStKNr. 1017): 55 Kontextgll. in Textglossar zu den Vitae partum; alem., 9. Jh. – Ed. StSG II, S. 734f., Nr. DCCCLXXXV. – 29. Bologna, Biblioteca Universitaria Cod. 1702 (BStK-Nr. 1024): 2 Interlineargll. zur Vita des Germanus; mfrk. oder rhfrk., 2. Hälfte 10. Jh. (Hs. Ende 9. Jh. Paris). – Ed. H. Mayer, Ahd. Gll.: Nachtr., S. 17. – Nachtrag: Nach Hinweisen von A. Nievergelt noch unedierte Gll. in St. Gallen, StB 553 (BStK-Nr. 256 ag).

3. Glossographische Aspekte: Ahd. Glossen zu Viten und Passionen werden von 29 Hss. tradiert (894 Gll. insgesamt). Sie setzen im ausgehenden 8. Jh. (BStK-Nr. 479) ein und verebben im 14. Jh. (BStK-Nr. 553), wobei der Schwerpunkt der Glossierung im 11. Jh. liegt. Damit zeigen die Viten und Passionen eine Verteilung der Glossierung, die so auch insgesamt für die Glossierungstätigkeit im Ahd. gilt. Eine hohe Glossenzahl tradieren die Glossare zu den Vitae patrum, die allein bereits 576 Gll. in 10 Hss. (BStK-Nr. 604, 611, 637, 643, 665, 846, 849, 949, 950, 1017) enthalten und damit 64,42% der Glossen dieses Bereichs ausmachen. Besonders sticht der Clm 14747 (BStK-Nr. 611) hervor, der mit 293 Gll. die glossenreichste Überlieferung darstellt. Die Hs. präsentiert sich als Glossarsammelhand-

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schrift, die neben Sachglossaren auch Textglossare zu den Canones, zu Sulpicius Severus, zu Aldhelm, zur Bibel sowie zu einzelnen Viten und den Vitae patrum tradiert. Es gibt 7 Hss., die nur eine ahd. Glosse (BStK-Nr. 125, 474, 654, 864, 908, 914, 917) enthalten, und zehn Hss., die 2-7 Glossen (BStK-Nr. 30, 324, 479, 553, 604, 643, 684, 966, 971, 1024) aufweisen. Somit sind 17 der 29 Hss. nur schwach glossiert. 4. Umfang und Bedeutung: Die ahd. Glossierung der Viten und Passionen nimmt innerhalb des Bereichs des kirchlich-theologischen Schrifttums des Mittelalters einen Anteil von 14,3% ein. Damit rangieren die Viten und Passionen nach Ú Smaragdus von St. Mihiel, Liber comitis (30,0%) und Herrad von Landsberg, Hortus deliciarum (18,7%) an dritter Stelle und damit noch vor den Bibelkommentaren (11,0%) und den Werken von Ú Walahfrid Strabo (8,0%), Ú Beda Venerabilis (4,4%) und Ú Hrabanus Maurus (3,4%). Bedenkt man zudem, dass Herrad von Landsberg kaum noch dem Ahd. zugerechnet werden kann, bilden die Viten und Passionen einen zentralen Bereich des kirchlich-theologischen Schrifttums. 5. Literatur: BStK-Nr. 30, 125, 324, 386c, 474, 479, 553, 575, 604, 611, 637, 643, 654, 659, 665, 684, 725 IV, 846, 849, 864, 908, 914, 917, 949, 950, 966, 971, 1017, 1024; StSG II, S. 359, 736-746, 761, 763-766; R. Bergmann, in: BStH I, S. 103, 118; C. Wich-Reif, Studien zur Textglossarüberl., S. 336-338 (BStK-Nr. 324, 604, 611, 637, 665, 725 IV, 846, 849, 949, 950, 1017).

STEFANIE STRICKER

‘Vocabularius Sancti Galli’ 1. Werkbeschreibung: Der ‘Vocabularius Sancti Galli’ (‘Voc.’) ist das älteste Sachglossar des Ahd. und zugleich ein wichtiges Sprachzeugnis der ags. Mission in ahd. Zeit. Er trägt seinen Namen aufgrund seines Aufbewahrungsortes St. Gallen, indem seine Verfasserschaft schon früh fälschlicherweise dem Heiligen Gallus selbst zugeschrieben wurde. Das rein lat.-dt. Sachglossar – der eigentliche ‘Voc.’ – ist überliefert als Teil der Hs. St. Gallen, StB 913, p.181-206 (BStK-Nr. 254), auf die sein Name übertragen wurde und deren Entstehung immer noch Rätsel aufgibt. G. Baesecke bezeichnet den ‘Voc.’ aufgrund seiner Herkunft als Deutsche Hermeneumata. Das ist die Bearbeitung der griech. Hermeneumata (Hermeneumata Pseudo-Dositheana), einem griech.-lat. Wörterbuch, das mit den lat.-ags. Hermeneumata verwandt ist. 2. Überlieferung und Inhalt: Der ‘Voc.’ findet sich (ausschließlich) in dem kleinen (etwa 9,0 x 8,7 cm) Codex St. Gallen, StB 913 (auf p. 181-206), der aus Ausschusspergament und ungleich großen, schmutzigen, löchrigen und oft genähten Blättern

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besteht. Die Hs. besitzt einen modernen Messingeinband mit Lederrücken aus dem 18. Jh. Die Paginierung beginnt nach drei ungezählten neueren Blättern, die – wohl in neuerer Zeit, da die Tatsache bisher kaum Beachtung gefunden hat – in der äußeren oberen Ecke mit A-F gekennzeichnet sind, mit der Seite 3 und ist bis Seite 206 von jüngerer Hand jeweils am äußeren oberen Rand der Seite fortgeführt. Diese paginierten Blätter weisen deutliche Gebrauchsspuren auf. Die Blätter p. 1/2 und p. 199/200 fehlen, letzteres verschwand zwischen 1988 und 1990. Am Ende finden sich erneut drei neuere ungezählte Blätter, in der äußeren oberen Ecke mit den Großbuchstaben U-Z gekennzeichnet. Der Text ist insgesamt 10-11-zeilig, auf p. 3-181 einspaltig, der ‘Voc.’ ist mehrspaltig eingetragen: auf p. 181-198 und p. 205-206 vierspaltig, auf p. 201-203 zweispaltig, auf p. 204 dreispaltig. Die zusätzlichen Blätter 2 und 3 am Beginn – also die Seiten C-F – enthalten Inhaltsvermerke, p. 3 und 4 sind leer. Die Hs. ist dreigeteilt: Teil 1: p. 5-148; auf p. 5-71 findet sich ein Brief des Hieronymus an Paulus, auf p. 71-148 Schriften bzw. Exzerpte, eine Sammlung theologischer Gelehrsamkeit und sonstigen Schulwissens, darunter p. 105-115 Isidor von Sevilla, De litteris, p. 139-144 ein Tierglossar, das aus Leviticus XI geschöpft ist. – Teil 2: p. 149-180. Die Seiten enthalten ein Fragebüchlein, die ‘Joca monachorum’, Erläuterungen zu alttestamentlichen und neutestamentlichen Personennamen u.ä. – Teil 3: p. 181-206. Den 3. Teil bildet der ‘Voc.’. Am Schluss sind auf p. 206 das kaum lesbare Fragment eines alphabetischen Glossars und Glossen zu Ú Aldhelm, De laudibus virginum eingetragen. Der in der 2. Hälfte des 8. Jh.s vermutlich in Deutschland entstandene Codex ist wohl nicht aus einem Skriptorium hervorgegangen, sondern als persönlich zusammengestellter Taschencodex der Hand eines ags. beeinflussten, kontinentalen Schreibers oder ags. Missionars entsprungen. Darauf weist auch die Schrift, eine ags. Halbunziale und Minuskel. Damit ist die fälschlich dem Heiligen Gallus (ca. 550-640 n. Chr.) zugeschriebene Verfasserschaft schon aus zeitlichen Gründen zurückzuweisen. Auch die Glossarartikel des ‘Voc.’ sind in einem Zug eingetragen worden, da bei längeren lat. Lemmata das ahd. Interpretament allein in die folgende Zeile geschrieben wurde. Zahlreiche Lesefehler, Lücken und Auslassungen gegenüber den zu rekonstruierenden Vorlagen lassen darauf schließen, dass es sich beim Cod. Sang. 913 um eine Abschrift handeln muss. Auch die offensichtliche Störung der Reihenfolge der Glossen durch Vertauschung von 4 Vorlagenblättern ist ein Indiz dafür. Die korrekte Reihenfolge ist 3.48-5.1, dann 1.1-3.47, schließlich 5.2 bis zum Ende des Sachvokabulars (E. Seebold, Chronolog. Wb., I, S. 61). Der Vocabularius-Teil der Hs. umfasst 1. ein Sachglossar nach Gruppen (Reihenfolge vielfach gestört und lückenhaft), 2. Gesprächsreste, z.B. indiga zeigo (7,1115), 3. Reste eines alphabetischen Glossars (N-O 7,16-20; C-G 7,21-43; L 8,1), 4. Glossen zu Aldhelms Carmen (8,2-24).

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3. Editionen: Heute maßgebliche Edition StSG III, S. 1-8, (Nr. DCCCCXXXI). Frühere Editionen: Ildefons von Arx, Geschichten d. Kantons St. Gallen I, St. Gallen 1810, S. 191201; C. Lachmann, Specimina lingvae franciscae, Berlin 1825, S. 1; E. G. Graff, Ahd. Sprachschatz, I, S. LXV-LXVII; C. J. Greith, Spicilegium Vaticanum, Frauenfeld 1838, S. 33-45; H. Hattemer, Denkmahle, I, S. 5-14; J. C. H. Büchler, Vocabularius St. Galli. Auch Wörterbuch des heiligen Gallus aus dem 8. Jh. Hs. 913 der Stiftbibliothek in St. Gallen. Die Grundlagen oder die Quellen, Urkunden und Denkmäler der hochdeutschen Sprache, enthalten in den bisher aufgefundenen theils gedruckten theils ungedruckten Hss. Brilon: Friedländer 1869; R. Henning, Über die sanctgallischen Sprachdenkmäler, 1874, S. 14-23. – Auszüge in: W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb.; H. Fischer, Schrifttafeln, S. 1 u. 4* (Faksimile und Teiledition der Seiten 192-193); Faksimilia bei G. Baesecke, Der Voc. Sti. Galli, S. 1-2 des Anhangs (10 Faksimiles verschiedener Seiten); K. Schmuki – C. Dora, Tempel der Musen, 1996, S. 101 (Faksimiles des gestohlenen Blattes); Edition der ae. Glossen zu Leviticus: StSG IV, S. 459-461; O. B. Schlutter, Altenglisches aus Schweizer Handschriften, Anglia 36 (1912) S. 389-394; H. D. Meritt, Old English Glosses, New York 1971, no. 36; F. Kluge, Angelsächsisches Lesebuch, 1915, S. 12; vollständige Digitalisierung der Hs. im Internet (seit 2006) unter CESG.

4. Entstehungszeit und -ort: Grundlage des ‘Voc.’ ist ein griech.-lat. Sachglossar, ein Teil der Hermeneumata Pseudo-Dositheana, aus dem 3. Jh., das zur Erschließung griech. Texte durch Lateinsprecher gedient haben muss. Die aus einem griech.-lat. Wörterbuch, dem Sachglossar und einem Gesprächsteil bestehenden Hermeneumata gelangten – möglicherweise zusammen mit den ‘Joca monachorum’ mit Theodor von Tarsus († 690), der von Papst Vitalian um 670 als zukünftiger Erzbischof nach Canterbury geschickt wurde, in Begleitung des späteren Abtes Hadrian – nach England, wo man die griech. Wörter wegließ und die lat. ins Ags. übersetzte. Diese Version eines Latein- oder Angelsächsisch-Lehrbuches brachten später vermutlich Missionspriester aufs Festland, wo man die as. Lemmata ins Deutsche übersetzte. Teile der alphabetischen Liste und des Gesprächsbüchleins aus den Hermeneumata finden sich in den Ú ‘Kasseler Glossen’ (Kassel, UB, LB und MB 4º Ms. theol. 24, 15r-17v) und dem daran angehängten Kasseler Gesprächsbüchlein. Außerdem ist eine Verwandtschaft zu dem aus St. Gallen stammenden Leidener Glossar cod. Voss. lat. 4º 69, den Epinal-Erfurter Glossen und einer vatikanischen Hs., die die Hermeneumata überliefert, konstatiert worden. G. Baesecke (Der Voc. Sti. Galli, S. 82) stellt die komplexen Verhältnisse in einem Stemma dar. Seine Argumentation und die Rekonstruktionen werden von Th. Klein, ZDPh 131 (2012) S. 5-26, mit guten Gründen in Zweifel gezogen. Die ags. Herkunft wird seit G. Baesecke nicht mehr bezweifelt. Vorher hatte man eine Nähe zur irischen Mission gesucht. Die Anhänge des ‘Voc.’ weisen aber Beziehungen zu den ags. Corpusglossen und zu Aldhelm (639-709) auf (J. Splett, in: RGA XII, S. 223), mit dem die lat. Dichtung in England beginnt und dessen Werke weit

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verbreitet waren und in England wie auf dem Festland glossiert wurden. Einige Glossen stimmen überein mit den Aldhelm-Glossen des aus St. Gallen stammenden Cod. SB u. UB Bremen b. 52 und fügen sich somit in die sonstige ahd. Ú Aldhelmglossierung. Außerdem finden sich, wie angedeutet, ags. Tierglossen zum Leviticus im selben Codex. Zudem wird der Name des Abtes Hadrian erwähnt: IV,460,52: larum hraga adrianus dicit meum esse. Auch die Schrift ist nach B. Bischoff (FMSt 5 [1971] S. 118f.) nicht irisch, sondern angelsächsisch. Diese Schrift ist in St. Gallen einzigartig, der älteste Buchkatalog der St. Galler Bibliothek aus dem 9. Jh. enthält den Cod. Sang. 913 auch nicht. Damit ist die Entstehung der vorliegenden Hs. in St. Gallen unwahrscheinlich, allenfalls hätte ein fremder Schreiber sie dort abgeschrieben. Keinen paläographischen Anschluss sieht G. Baesecke (Der Voc. Sti. Galli, S. 20-25) an die Reichenau, dafür findet er eine vergleichbare Hand in Murbach, wegen der obd. Sprache lassen sich nd. und rhein. Klöster ausschließen. Paläographisch ließe sich Cod. Sang. 913 aber auch Fulda oder Würzburg zuordnen, die Schrift findet sich zudem schon in der 1. Hälfte des 8. Jh.s in Kent, was zur angesprochenen Nähe zu Canterbury passt. Wegen der frk. Erscheinungen neben den alm. Spuren ordnet G. Baesecke die Hs. letztlich Murbach zu. Er versucht auch, den Weg der ‘Joca’ von Spanien und der Provence nach Frankreich und dann in den alem. Raum nachzuzeichnen. Ausgehend von seiner lokalen Zuordnung trifft er dann die zeitliche Einstufung auf das Jahr 790: Das verwendete Latein und die Schrift müsse in Murbach vor die Isidor-Verdeutschung und die Wirkungszeit Karls fallen (G. Baesecke, Der Voc. Sti. Galli, S. 31). Schon angesprochen wurde die Verwandtschaft zu den Kasseler Glossen. Andere Teile des Cod. 913 sind verwandt mit der Hs. München, BSB Clm 22053 aus Wessobrunn. G. Baesecke setzte ihre Vorstufen in Fulda an, folglich auch die des Sangallensis 913. Seine Argumentation diesbezüglich kann hier nicht nachgezeichnet werden, er untersucht dafür das Schrifttum der ags. Mission, Bibliothekskataloge und anderes. Nach B. Bischoff aber ist der Kasseler Codex im Regensburger, der Wessobrunner im Augsburger Raum geschrieben. Der ‘Voc.’ sei in Deutschland entstanden, es sei aber Angelsächsisches enthalten, womit der ‘Voc.’ ein Beleg sei für den „englischen Einfluss, der für das Gebiet am Main, in Hessen und im nördlichen Bayern die Grundlage der lateinisch-kirchlichen Kultur schuf, aber auch jenseits dieser Grenzen Stützpunkte wie Echternach besaß“ (B. Bischoff, FMSt 5 [1971] S. 118f.). Er möchte der Lokalisierung der Entstehung des ‘Voc.’ in Murbach durch G. Baesecke nicht zustimmen. „Man müsse es wohl bei der schon von E. A. Lowe (CLA VII, Nr. 976) gegebenen weiten Einordnung belassen, dass die Voc-Handschrift St. Gallen 913 vermutlich in Deutschland von einem festländischen, in angelsächsischer Tradition ausgebildeten Schreiber in der 2. Hälfte des 8. Jh.s geschrieben worden sei.“ (Th. Klein, ZDPh 131 [2012] S. 4). Den Weg der ‘Deutschen Hermeneumata’

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von England über ein Kloster am Nieder- oder Mittelrhein – evtl. Echternach – nach Süden legen nach H. Mettke (in: Althochdeutsch, I, S. 500-507) andere mit dem St. Galler Codex verwandte Hss. nahe: Paris, BNF lat. 2685 mit den Leviticusglossen, romanischen Bestandteilen, die es auch in der ‘Voc.’-Hs. und den Kasseler Glossen gibt, mit mfr. Glossen u. a. sowie Reichenauer Hss. „Für die Einordnung des Voc in den Umkreis der angelsächsischen Mission auf dem Kontinent war bisher mehr noch als die angelsächsisch geprägte Schrift des Sangallensis 913 die Rekonstruktion der Verwandtschaftsverhältnisse und der Vorgeschichte des Voc durch Georg Baesecke (1933: 22-82) entscheidend.“ (Th. Klein, ZDPh 131 [2012] S. 5). Th. Klein trägt Beobachtungen zusammen, die an der Rekonstruktion der Verwandtschaftsverhältnisse durch G. Baesecke erheblichen Zweifel wecken. Der alphabetische Teil des ‘Voc’ (‘VocAlph’) lässt sich recht genau in die Tradition der aus der Schule von Canterbury hervorgegangenen alphabet. Glossare einordnen, während der sachliche Teil (‘VocSach’) damit „wenig oder nichts zu tun hat“ (Th. Klein, ZDPh 131 [2012] S. 10). Für ‘VocSach’ liegt ein ags. Übersetzer nahe, der gelegentlich defizitäre Ahd.-Kenntnisse zeigt. (Th. Klein, ebenda). Die Übersetzung in ‘VocSach’ und ‘VocAlph’ ist nicht fehlerfrei; es finden sich ae. Relikte verschiedener Art. Bei Annahme eines Angelsachsen als Übersetzer erklärt sich auch die sprachliche Heterogenität des Ahd., das frk. und obd. Züge zeigt. 5. Sprachliche Einordnung: Gegen St. Gallen als Entstehungsort sprechen auch Formen und Wörter, die für den St. Galler Dialekt des 8. Jh.s nicht belegt sind. Die Sprache ist teils obd. (eher bair. als alem.), teils frk. (Lit. bei BStK-Nr. 254) und mit zahlreichen Altertümlichkeiten durchsetzt, z.B. keine Diphthongierung, h vor Konsonant. Im lat. Tierglossar zur Bibel, Leviticus (XI) sind auch einige ae. Glossen zu finden. E. Seebolds (Chronolog. Wb. I, S. 61) Fazit ist: „Die Bestimmung der Schrift als in den deutsch-insularen Bereich gehörig und die Bestimmung der Sprache als vermutlich alemannisch passen nicht recht zusammen – die Herkunft des Codex gibt also noch einige Rätsel auf. Am ehesten ist er von einem englischen Missionar [im Raum Mainz-Kassel-Fulda] geschrieben, der sich um das Deutsche bemühte.“ – Th. Klein (ZDPh 131 [2012] S. 26) resümiert: „Versucht man eine Zusammenschau, so scheint der Wortschatz des Voc, soweit er sich innerhalb des Althochdeutschen genauer verorten lässt, wortgeographisch vom äußersten Nordwesten über das Hessische und Thüringische bis hinunter ins Oberdeutsche, und hier besonders ins Bairische, zu reichen. Bezogen auf die angelsächsische Mission hieße das, dass Willibrords Echternach ebenso vertreten wäre wie die räumlichen Schwerpunkte der Tätigkeit des Winfrid-Bonifatius in Hessen, Thüringen und Bayern. Man könnte darin wortgeographische Reflexe der peregrinatio jenes angelsächsischen Klerikers sehen, dem die ahd. Fassung des Vocabularius Sti. Galli zu verdanken ist.“

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6. Wortschatz und Übersetzungsstil: Das sachlich geordnete Glossar des ‘Voc.’ (p. 181-205) enthält 457 ahd. Gll., wobei durch den Verlust des Blattes p. 199/200 aktuell nur noch 408 Gll. vorhanden sind. Die Lemmata lassen sich folgenden Sachgruppen zuordnen: Bäume, Pflanzen, Gewässer; der Mensch, Stand, Körperteile, Eigenschaften, Verwandtschaft (diese Seite ist gestohlen; darauf finden sich u. a. genitor gater, genetrix moter, noverea steofmoter, germanus proder), Krankheiten; Tiere; die Erde, Ackerbau, Straßen, Häuser; der Himmel, Wettererscheinungen, Jahreszeiten. Außerdem gibt es nach H. Mettke vielleicht Gesprächsreste, z. B. indiga zeigo (7,11-15), schließlich das alphabetische Glossar (N-O 7,16-20; C-G 7,21-43; L 8,1) und Glossen zu Aldhelms Carmen (8,2-24). Der überlieferte Wortschatz ist somit Alltagswortschatz ohne spektakuläre Besonderheiten. 7. Zweckbestimmung: Wegen der Leviticus-, der Corpus- und der Aldhelmglossen erkennt G. Baesecke (Der Voc. Sti. Galli, S. 14) „eine Hs. englischer Abkunft in Deutschland“ mit „engen Beziehungen zur Schule von Canterbury“. Damit liegt die Nähe zur angelsächsischen Mission auf dem Festland nahe. Dahingehend lassen sich nach G. Baesecke auch der Brief des Hieronymus, ein „Trostbrief für Missionspriester“, und die gelehrten Stücke sowie der ‘Voc.’ deuten: als Teile eines „Hilfsbüchleins“ eines englischen Klerikers auf Missions- oder Pilgerfahrt. Dabei ist zu denken an den Büchersack, den irische Pilger mit sich trugen, außerdem an die Bücherbesessenheit der angelsächsischen Missionare, so auch des Bonifatius. Doch gegen eine solche Interpretation sprechen die nicht durchgängig zweckhafte Textauswahl und die Lücken und Wiederholungen. So entsteht eher ein Bild einer „Art Diarium, in dem allerhand Lesefrüchte neben Schulaufzeichnungen gesammelt und auch leergebliebene Plätzchen ausgestopft wurden, allenfalls ein Buch, das erst im Sinne der Mission begonnen war und dessen leergebliebene Blätter dann unordentlich mit jener Tagesware der Schulwelt gefüllt wurden“ (G. Baesecke, Der Voc. Sti. Galli, S. 16f.). Da die Hs. eine Abschrift ist, gilt dieser Befund natürlich für die Vorlage. Auch die vorliegende Hs. bleibt aber durch die insulare Schrift in Verbindung zur angelsächsischen Mission. In seinen oben erwähnten Überlegungen zum Anschluss der Vorlagen des Cod. Sang. 913 an Fulda kommt G. Baesecke zur alternativen Interpretation der Hs. als Abschrift eines Würzburger Bibliotheksbuches. Ihr Zweck wäre dann der eines Schulbuchs für die deutsch-englische Bevölkerung Fuldas. Nach G. Baesecke und W. Betz (in: 2RL I, S. 29) kann man sich den ‘Voc.’ gut als „ersten Sprachführer für Angelsachsen und andere des Lateins, aber nicht des Ahd. kundige Missionare“ vorstellen. Trotz aller Versuche der Aufklärung kann also der Zweck nicht als abschließend bestimmt gelten. Der Codex ist eine Abschrift eines persönlich zusammengestellten Taschencodex eines ags. Schreibers oder eines ags.

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beeinflussten deutschen Schreibers. Als sicher kann dabei angesehen werden, dass es sich um einen Privat-Codex gehandelt haben muss. 8. Bedeutung: Der ‘Voc.’ ist ein nach Gruppen geordnetes lat.-ahd. Sachglossar; er gehört neben dem Ú ‘Abrogans’ und den Ú ‘Kasseler Glossen’ zu den ältesten dt. Wörterbüchern. – Der ‘Voc.’ ist neben dem ‘Abrogans’ eine Hauptquelle des ältesten Ahd. und gilt als Sprachzeugnis für die ags. Mission des 8. Jh.s. 9. Literatur: BStK-Nr. 254; St. Stricker, Der Vocabularius Sti. Galli, in: BStH I, S. 749759; Th. Klein, Zu Herkunft, Sprache und Übersetzer des Vocabularius Sti. Galli, ZDPh 131 (2012) S. 3-32; G. Baesecke, Der Voc. Sti. Galli; G. Baesecke, Frühgeschichte, S. 147-149, 155-166; G. Baesecke – W. Betz, Althochdeutsche Literatur, in: 2RL I, S. 24-39, S. 29; R. Bergmann, Die althochdeutsche Glossenüberlieferung des 8. Jahrhunderts, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. Philologisch-Historische Klasse, Jahrgang 1983, Nr. 1, Göttingen 1983, S. 36f.; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 118f.; H. de Boor, Die dt. Lit., S. 17 u. 21; W. Crossgrove, Die dt. Sachlit., S. 27f.; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., S. 258f.; R. Koegel, Gesch. d.dt. Litt. 2, S. 437-443; K. Löffler, Die St. Galler Schreibschule in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts, Palaeographia latina 6 (1929) S. 5-66; H. Mettke, Zum Kasseler Cod. 4º 24 u. zur Herleitung des ‘VSG’, in: Althochdeutsch, I, S. 500-507; H. Mettke, Älteste dt. Dichtung, S. 128-130; H. Mettke, Die althochdeutschen Aldhelmglossen, Jena 1957, S. 37-40, 56; H. Mettke, in: 2VL X, Sp. 479-482; W. Schröder, in: ²VL III, Sp. 6163; St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 97, 184; H. Thoma, Glossen, althochdeutsche, in: 2 RL I, S. 584f.

STEFANIE STRICKER

‘Vorauer Beichte’ Ú Beichten, Althochdeutsche und altsächsische ‘Wachtendoncksche Psalmen’ Ú Psalter: ‘Fragmente einer altmittelfränkischen und altniederfränkischen Interlinearversion’ Walahfrid Strabo, Althochdeutsche Glossierung 1. Leben und Werk: Walahfrid Strabo (808/809 – 18.08.849) war Mönch (spätestens seit 822) und Abt auf der Reichenau. Zwischen 827 und 829 war er in Fulda Schüler des Hrabanus Maurus, anschließend hielt er sich bis 838 am Hof Ludwigs des Frommen in Aachen auf. Hier soll er Erzieher Karls des Kahlen gewesen sein (hiergegen jedoch I. Fees). Es wird vermutet, dass Ludwig Walahfrid 838 gegen den Willen der Mönche als Abt der Reichenau eingesetzt habe. Ob er dieses Amt auch ausführte, ist ungewiss; kurze Zeit später jedoch floh Walahfrid nach dem Tod des Kaisers vor Lothar dem Deutschen nach Speyer in Lothringen. Im Jahr 842 erreichte Grimald von Weißenburg seine (Wieder-)Einsetzung als Abt der Reichenau. Zu Walahfrids vielfältigem Werk zählen unter anderem vor allem auf Kürze bedachte

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Kommentare zu biblischen Büchern, ein liturgisches Werk ‘Liber de exordiis’, Heiligenviten in Prosa und Versform, Überarbeitungen historiographischer Schriften sowie Lehrgedichte. Nicht zu seinem Werk gehören die ‘Glossa ordinaria’, die ein weitaus späteres Werk des 12. Jh.s aus Laon sind. 2. Glossen in Walahfrids Vademecum St. Gallen 878 – Überlieferung und Edition der Glossen: St. Gallen, StB 878 (BStK-Nr. 249): 6 Interlineargll., 1 Kontextgl. in Rezepten; unbest.; 1. Hälfte 9. Jh. – Ed.: StSG IV, S. 455.

B. Bischoff identifizierte die Hs. St. Gallen, StB 878 (Ú ‘Abecedarium Nordmannicum’) als persönliches Vademecum Walahfrid Strabos, das Auskunft über seine vielfältigen Interessensgebiete, aber auch über seine Schriftentwicklung gibt. Auf p. 333 der Hs. finden sich innerhalb von medizinischen Rezepten insgesamt 7 ahd. Glossen zu Sachbezeichnungen. Hinzu kommen fünf in die Rezepttexte integrierte volkssprachige Wörter, davon eins doppelt in variierter Graphie. 3. Glossen zur ‘Visio Wettini’ – Überlieferung und Edition der Glossen: 1. München, BSB Clm 18628 (BStK-Nr. 654): 1 Interlineargl. in Textglossierung; Sprache der gesamten Glossierung der Hs. (über 70 Gll.) bair., 11. Jh. – Ed. StSG II; S. 769 (Nr. DCCCCXXX). 2. Oxford, BodlL Laud misc 410 (BStK-Nr. 737): 6 Interlineargll. in Textglossierung; Sprache unbest., undatiert (Hs. 11. Jh.). – Ed. StSG II, S. 769. (Nr. DCCCCXXX); E. Dümmler, Glossen zu Walahfrid, ZDA 22 (1878) S. 256. – 3. Rom, BAV Reg. lat. 356 (BStK-Nr. 823): 1 Marginalgl. und 28 Interlineargll., zumeist in bfk-(einmal in Punkt-)Geheimschrift in Textglossierung; frk. (nicht ofrk.), 10./11. Jh. (Hs. 9./10 Jh.). – Ed. StSG II, S. 768f. (Nr. DCCCCXXIX). – Die insgesamt 36 Gll. zur ‘Visio Wettini’ sind bislang nicht zusammenhängend untersucht.

4. Glossen zum ‘Liber de cultura hortorum’ – Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Leipzig, UB Rep. I. 53 (BStK-Nr. 383): 6 Marginal- und 99 Interlineargll. in Textglossierung, über 350 lat. (zumeist interlineare) Gll.; alem./obd., 10. Jh. – Ed. StSG II, S. 767f. (Nr. DCCCCXXVIII); C. Cigni, in: Giardini, S. 74-102. – 2. München, BSB Clm 666 (BStK-Nr. 457): 22 Interlineargll. in Textglossierung, von H. Schedel 1463 aus Leipzig UB Rep. I. 53 zum Teil modernisierend abgeschrieben; nach Th. Frings, Erle und aune, PBB 91 (Halle 1969) S. 182, nicht bestimmbar. – Ed. StSG II, S. 767f. (Nr. DCCCCXXVIII). – 3. Rom, BAV Pal. lat. 1519 (BStK-Nr. 810): 1 Marginalgl. und 3 Interlineargll. in Textglossierung, nur bis Vers 11; Sprache unbest., undat. (Hs. 10./11. Jh.). – Ed. StSG II, S. 767f. (Nr. DCCCCXXVIII). Die ‘Hortulus’-Handschriften boten sicherlich aufgrund ihres Inhalts Anlass für eine ökonomischere volkssprachige Glossierung von Fachtermini. Übersetzt wurden zumeist Substantive. Die Glossen sind jeweils eingebettet in eine umfangreichere lat. Glossierung. Die funktionale Analyse der Glossierung der Hs. Leipzig im Kontext der lat. Glossierung bei C. Cigni (in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 457-466)

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ergibt in Anlehnung an W. Berschin, Karolingische Gartenkonzepte, FDA 104, 3. Folge 36 (1984) S. 16, die wahrscheinliche Verwendung im Schulunterricht. 5. Glossen bzw. volkssprachige Elemente in ‘De homine et partibus eius’ – 1. Amiens, BM MS 110 (BStK-Nr. 10): 3 Interlineargll. in Glossar (unvollständig); wmd., 12. Jh. – Ed. StSG IV, S. 356 (Nr. DCCCCLIXa Nachtr.); U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 321f. – 2. Fulda, HLB C 11 (BStK-Nr. 167): 58 Kontextgll.; Sprache obd. mit frk. Elementen (G. Baesecke, ZDA 58 [1921] S. 261), 15. Jh. (wahrscheinlich Abschrift aus verlorener Partie der Hs. St. Gallen StB 899 (BStK-Nr. 251)). – Ed. StSG III, S. 432f. (Nr. DCCCCLI Xa). – 3. München, BSB Clm 14689 (BStK-Nr. 604): 53 Interlineargll. (2 von späterer Hand, restl. mit Text), 1 Kontextgl.; bair., Hs. 11./12. Jh. – Ed. StSG III, S. 432f. (Nr. DCCCCLIXa); I. Frank, Aus Glossenhss., S. 119-122. – 4. München, BSB Clm 14754 (BStK-Nr. 612): 57 Kontextgll.; bair., 4. Viertel 9. Jh. – Ed. StSG III, S. 432f. (Nr. DCCCCLIXa). – 5. Paris, BNF lat. 16702 (BStK-Nr. 769): 8 Kontextgll.; ofrk., 12. Jh. (Sprachstand 11. Jh) – Ed. StSG V, S. 39 (Nr. DCCCCLIXa); U. Blech, Germ. Glossenstud., S. 379-382.

‘De homine et partibus eius’ ist ein auf den Schulunterricht bei Hrabanus Maurus zurückgehendes Traktat. Es ordnet Isidor, Etymologiae XI,1 unter starker Straffung neu an und bietet für viele der Körperteile ahd. Übersetzungen. Nicht zu klären ist die Frage, ob es sich bei den volkssprachigen Wörtern um integrale Bestandteile Walahfrids (oder sogar Hrabans) oder sekundäre Hinzufügungen handelt. Dass in zwei Handschriften nur wenige Glossen enthalten sind, könnte mit ihren wahrscheinlich französischen Schreibern zusammenhängen. Die pauschale Bestimmung als alem. bei W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., S. VII, stimmt nicht für die gesamte Überlieferung. G. Baesecke (ZDA 58 [1921] S. 262) vermutete ein frk. Original, das in den meisten Überlieferungen obd. überformt worden sei. G. Baesecke (ZDA 58 [1921] S. 243f.) war darüber hinaus der Ansicht, Spuren des Traktats in sieben weiteren Glossarhandschriften finden zu können, sodass man von einer gewissen Verbreitung und Bedeutung des Werks ausgehen darf. 6. Glossen bzw. volkssprachige Elemente in Walahfrids Abkürzungen von Hrabans Bibelexegese: Bei Walahfrids Abkürzungen von Hrabans Bibelkommentaren handelt es sich um Kurzfassungen der Bibelexegese aus dem Schulunterricht bei Hrabanus Maurus. Sie waren vergleichsweise weit verbreitet und werden öfters mit anderen Bibelkommentaren Hrabans in einer Hs. überliefert (häufig mit der Genesis) aber auch anderen Kommentaren wie z. B. von Remigius von Auxerre. Im Gegensatz zu den Hrabanischen Bibelkommentaren zum Pentateuch weisen einige Kommentare Walahfrids (zumeist alem.) volkssprachige Kontextglossen auf: In der Regel 1 zu Exodus, 8-11 zu Leviticus und 5 (davon 1 ae.) zu Deuteronomium. Abweichungen nach unten lassen sich zumeist mit der Annahme von nicht des Ahd. mächtigen Schreibern erklären, nach oben durch Übernahme von Glossen anderer Eintragungs-

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art in den Kommentartext. Hinzu kommen in wenigen Hss. vereinzelte interlineare und marginale Glossen, die aber auch identisch mit den ansonsten im Kontext überlieferten Glossen sein können. Bislang einziger bekannter Überlieferungsträger ohne Glossen ist Grenoble BM 267 (346) aus dem 13. Jh. (E. Meineke, in: Addenda und Corrigenda [II], S. 64). Überlieferung und Edition der Glossen: 1. Admont StB 426 (BStK-Nr. 8b): 1 Kontextgl. im Ex-Komm., 9 Kontextgll. im Lev-Komm.; Hs. 12. Jh. – Ed. F. Klaes (in Vorb.). – 2. Cambrai, Médiathèque Municipale 304 (286) (BStK-Nr. 86a) 1 Kontextgl. im ExKomm., 2 Kontextgll. im Lev-Komm., 5 Kontextgll. im Deut-Komm.; Hs. 12. Jh. – Ed. E. Meineke, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 60. – 3. Cambridge Trinity College Ms. B.2.4 (BStK-Nr. 89a): 1 Kontextgl. im Ex-Komm., 8 Kontextgll. im LevKomm., 1 Kontextgl. im Deut-Komm.; Hs. 12. Jh. – Ed. F. Klaes (in Vorb.) – 4. Einsiedeln, StB 184 (190) (BstK-Nr. 121): 1 Marginalgl. in Textglossierung zum Ex-Komm., 1 Interlineargl. und 13 Kontextgll. im Lev-Komm., 5 Kontextgll. im Deut-Komm.; Hs. 10. Jh. – Ed. StSG IV, S. 252 (Nr. XXV Nachtr.), S. 255f. (Nr. XL Nachtr.), S. 259 (Nr. LXV Nachtr.). – 5. St. Gallen, StB 283 (BStK-Nr. 219): 1 Interlineargl. und 1 Kontextgl. im Ex-Komm.; 1 Interlineargl. und 13 Kontextgll. im Lev-Komm., 5 Kontextgll. im Deut-Komm.; Hs. 9. Jh. – Ed. StSG I, S. 325 (Nr. XXVII), S. 340f. (Nr. XL), S. 366 (Nr. LXV), S. 821; IV, S. 259, Anm. 12 (Nr. LIV); F. Klaes (in Vorb.). – 6. Grenoble, BM Ms. 43 (früher 266) (BStK-Nr. 1028): 1 Kontextgl. im Lev-Komm., 1 Kontextgl. im Deut-Komm.; Hs. 12. Jh. – Ed. E. Meineke, in R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 64. – 7. Karlsruhe, BLB Aug. CCXXXI (BStK-Nr. 314): 4 Interlineargll. (davon einmal Doppelglossierung) und 14 Kontextgll. im Lev-Komm.; Hs. 10. Jh. – Ed. StSG I, S. 340f. (Nr. XL); I. Frank, Aus Glossenhss., S. 51-53. – 8. Linz/Donau, Bundesstaatliche StudB 386 (97) (BStK-Nr. 386b): 1 Kontextgl. im Ex-Komm., 10 Kontextgll. im Lev-Komm.; Hs. 12. Jh. – Ed. F. Klaes (in Vorb.). – 9. Linz/Donau, Bundesstaatliche StudB 481 (41) (BStK-Nr. 386d): 1 Kontextgl. im ExKomm.; Hs. 13. Jh. – Ed. F. Klaes (in Vorb.). – 10. Le Mans, BM Ms. 213 (BStK-Nr. 1034): 1 Kontextgl. im Ex-Komm., 10 Kontextgll. im Lev-Komm., 5 Kontextgll. im Deut-Komm.; Hs. 1. Hälfte 9. Jh. – Ed. E. Meineke, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 57f. – 11. St. Mihiel, BM Ms. 25 (BStK-Nr. 1041): 1 Interlineargl. und 5 Kontextgll. im Deut-Komm.; Hs. 11. Jh. – Ed. H. Thoma, Althochdeutsche Glossen zum Alten Testament, S. 27; E. Meineke, Saint-Mihiel BibliotheҒque Municipale Ms. 25. Studien zu den althochdeutschen Glossen, StA 2, Göttingen 1983, S. 252-254. – 12. München, BSB Clm 5116 (BStKNr. 492): 1 Kontextgl. im Ex-Komm., 2 Interlineargll. und 6 Kontextgll. im Lev-Komm.; Hs. 12. Jh. – Ed. StSG IV, S. 252 (Nr. XXV Nachtr.), S. 255f. (Nr. XL Nachtr.). – 13. München, BSB Clm 6221 (BStK-Nr. 502 (I)): 1 Ex; 11. Jh. – Ed. StSG IV, S. 252 (Nr. XXV Nachtr.). – 14. München, BSB Clm 6227 (BStK-Nr. 504): 1 Kontextgl. im Ex-Komm., 9 Kontextgll. im Lev-Komm.; Hs. 2. H. 10. Jh. – Ed. StSG. IV, S. 252 (Nr. XXV Nachtr.), S. 255f. (Nr. XL Nachtr.). – 15. München, BSB Clm 17114 (BStK-Nr. 622): 1 Kontextgl. im Ex-Komm., 4 Kontextgll. im Lev-Komm.; 12. Jh. – Ed. StSG IV, S. 252 (Nr. XXV Nachtr.), S. 255f. (Nr. XL Nachtr.). – 16. München, BSB Clm 18528a (BStK-Nr. 648): 1 Kontextgl. im Ex-Komm., 1 Interlineargl., 1 Marginalgl. und 10 Kontextgll. im Lev-Komm.; Hs. Ende 10. Jh. – Ed. StSG IV, S. 252 (Nr. XXV Nachtr.), S. 255f. (Nr. XL Nachtr.). – 17. München, BSB Clm

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22307 (BStK-Nr. 685): 1 Interlineargl. im Ex-Komm.; Hs. 10./11. Jh. – Ed. StSG I, S. 326 (Nr. XXVIII). – 18. Orléans, BM Ms. 31 (28) (BStK-Nr. 1044): 1 Kontextgl. im Ex-Komm., 10 Kontextgll. im Lev-Komm., 5 Kontextgll. im Deut-Komm.; Hs. Mitte 9. Jh. – Ed. E. Meineke, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 59. – 19. Oxford, BodlL Ashmole 1516 (BStK-Nr. 739e): 1 Kontextgl. im Ex-Komm.,10 Kontextgll. im Lev-Komm., 4 Kontextgll. im Deut-Komm.; Hs. 12. Jh. – Ed. F. Klaes (in Vorb.) – 20. Oxford, New College 29 (BStK-Nr. 740): 1 Kontextgl. im Ex-Komm., 8 Kontextgll. im Lev-Komm., 1 Kontextgl. im Deut-Komm.; Hs. 13. Jh. – Ed. StSG IV, S. 252 (Nr. XXV Nachtr.), S. 255f. (Nr. XL Nachtr.), S. 259 (Nr. LXV Nachtr.). – 21. Paris, BN lat. 9568 (BStK-Nr. 774k):1 Kontextgl. im Ex-Komm., 10 Kontextgll. im Lev-Komm., 3 Kontextgll. im Deut-Komm.; 11. Jh. – Ed. F. Klaes (in Vorb.) – 22. Paris, BN lat. 12307 (BStK-Nr. 774y): 10 Kontextgll. im Lev-Komm., 5 Kontextgll. im Deut-Komm.; Hs. 12. Jh. – Ed. F. Klaes (in Vorb.) – 23. Reims BM 130 (BStK-Nr. 790a): 1 Kontextgl. im Ex-Komm., 1 Interlineargl., 13 Kontextgll. im Lev-Komm.; Hs. 9./10. Jh. – Ed. F. Klaes (in Vorb.) – 24. Tours, BM Ms. 69 (BStK-Nr. 1049): 9 Kontextgll. im Lev-Komm., 5 Kontextgll. im Deut-Komm.; Hs. 11. Jh. – Ed. E. Meineke, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 60f. – 25. Tours, BM Ms. 70 (BStK-Nr. 1050): 9 Kontextgll. im Lev-Komm., 5 Kontextgll. im Deut-Komm.; Hs. 11. Jh. – Ed. E. Meineke, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 61f. – 26. Troyes, Médiathèques de l’Agglomération Troyenne 31 (BStK-Nr. 1074): 1 Kontextgl. im ExKomm., 2 Kontextgll. im Lev-Komm., 5 Kontextgll. im Deut-Komm.; Hs. 12. Jh. – Ed. F. Klaes (in Vorb.) – 27. Universitat de València, Biblioteca Histórica 684 (früher 392) (BStK-Nr. 1076): 1 Kontextgl. im Ex-Komm., 2 Kontextgll. im Lev-Komm., 4 Kontextgll. im Deut-Komm.; 15. Jh. – Ed. F. Klaes (in Vorb.). – 28. Verona, Biblioteca Capitulare LXIX (66) (BStK-Nr. 1053: 1 Kontextgl. im Ex-Komm.; Hs. 9. Jh. – Ed. J. A. Mingarellus, Anecdotorum fasciculus, Rom 1756, S. 74; StSG. IV, S. 252, Anm. 2. – 29. Wien, ÖNB Cod. 1042 (BStK-Nr. 932): 1 Kontextgl. im Ex-Komm., 9 Kontextgll. im Lev-Komm.; Hs.10. Jh. – Ed. StSG IV, S. 252 (Nr. XXV Nachtr.), S. 255f. (Nr. XL Nachtr.). – 30. Wolfenbüttel, HAB Cod. Guelf. 29 Weissenburg (BStK-Nr. 969): 1 Marginalgl. im Ex-Komm., 13 Kontextgll. im Lev-Komm., 5 Kontextgll. im Deut-Komm.; Hs. 9. Jh. – Ed. StSG IV, S. 252 (Nr. XXV Nachtr.), S. 255f. (Nr. XL Nachtr.), S. 259 (Nr. LXV Nachtr.). – 31. Zwettl, StB 95 (BStKNr. 1022a): 1 Kontextgl. im Ex-Komm., 10 Kontextgll. im Lev-Komm.; Hs. 1. Hälfte 13. Jh. – Ed. F. Klaes (in Vorb.). – Unbekannt ist der Verbleib und damit auch die Zahl eventueller Glossen der ehemaligen Hs. Toronto, Bergendahl Collection 108.

7. Bedeutung und Umfang der Glossen: Die Bedeutung der Glossierungen zu Walahfrid hängt stark von der Beurteilung der Glossen in ‘De homine et partibus eius’ und in den Bibelkommentaren ab. Letztere werden seit Steinmeyers Aufnahme in das Corpus der ahd. Glossen als Glossen betrachtet, sie stellen aber einen Spezialfall dar, vergleichbar den Monats- und Windbezeichnungen bei Einhard, die sehr häufig abgeschrieben wurden, da sie zum Textbestand gehören. Lässt man diese beiden Gruppen, ferner die vielleicht von Walahfrid selbst eingetragenen Wörter aus seinem Vademecum bei der quantitativen Betrachtung unberücksichtigt, so finden sich insgesamt 131 Glossen (kopiale Überlieferung eingeschlossen) zu Werken

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Walahfrids, deren Gros die Glossierung des ‘Liber de cultura hortorum’ der Leipziger Handschrift ausmacht. 8. Literatur: G. Baesecke, ZDA 58 (1921) S. 214-279; B. Bischoff, Eine Sammelhandschrift Walahfrid Strabos (Cod. Sangall. 878), in: B. Bischoff, Mittelalt. Stud. II, S. 34-51; C. Cigni, Il ‘Liber de cultura hortorum’ di Valafrido Strabone nella tradizione glossografica tedesca antica: il manoscritto Leipzig, Universitätsbibliothek, Rep. I. 53, in: Giardini. A cura di M. Billi, Studi Anglo-Germani 1, Viterbo 2000, S. 71-111; C. Cigni, Volkssprachige und lateinische Glossierung zu Walahfrid Strabos ‘Liber de cultura hortorum’, in: Mittelalterl. volksspr. Glossen, S. 453-473; I. Fees, War Walahfrid Strabo der Lehrer und Erzieher Karls des Kahlen?, in: Studien zur Geschichte des Mittelalters. Hg. v. M. Thumser – A. WenzHaubfleisch – P. Wiegand, Stuttgart 2000; F. Klaes, Unedierte und übersehene Glossen zu Walahfrid Strabos Bibelkommentaren nach Hrabanus Maurus (in Vorb.); F. Klaes – C. Moulin, Wissensraum Glossen: Zur Erschließung der althochdeutschen Glossen zu Hrabanus Maurus, Archa Verbi (2007) S. 68-89; K. Langosch, in: VL IV, Sp. 734-769; K. Langosch – B. K. Vollmann, in: ²VL X, Sp. 584-603; P. Lehmann, Kennen wir Walahfrids Schrift?, ZBB 45 (1928) S.116-123; J. A. Mingarellus, Anecdotorum fasciculus, sive S. Paulini Nolani, anonymi scriptoris, Alani magni, ac Theophylacti opuscula aliquot, Rom 1756; E. Meineke, Unedierte Glossen zu Bibelkommentaren des Walahfrid Strabo in Handschriften französischer Bibliotheken, in: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (II), S. 57-64; C. Moulin – F. Klaes, in: BStH I, S. 562-592; B. Murdoch, Walhafrid Strabo, in: German Writers, S. 143146; Walahfrid Strabo: De cultura hortorum (Hortulus). Das Gedicht vom Gartenbau. Eingeleitet und hg. v. W. Berschin. Mit Pflanzenbildern von C. Erbar und einem Beitrag „Ein Gärtchen nach Maß“ von W. Fels, Heidelberg 2007; H. Thoma, Althochdeutsche Glossen zum Alten Testament, ATB 82, Tübingen 1975. FALKO KLAES

‘Weingartner Buchunterschrift’ Überlieferung: Stuttgart, WLB HB VII 32, f. 177r. – In einer Handschrift des 10./11. oder der 1. Hälfte des 11. Jh.s mit den vier Büchern der Dialoge Gregors des Großen steht nach dem Explicit von Buch III ein ahd. Kurztext, in dem der Begriff Dialog erklärt wird. Edition: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm. Nr. LXXXVII, S. 404; N. Kruse, Die Weingartner Buchunterschrift, in: Althochdeutsch, I, S. 895-899 mit Faksimile und Edition; vgl. PadRep.

ROLF BERGMANN

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‘Weißenburger Katechismus’

‘Weißenburger Katechismus’ Katechetische und liturgische Texte, frühes 9. Jh. 1. Überlieferung: Wolfenbüttel, HAB Cod. 91 Weissenburg, f. 149v-154v, aus Weißenburg, doch nach B. Bischoff (FMSt 5 [1971] S. 117f.) sicher nicht hier, hingegen möglicherweise im Domstift Worms geschrieben. Entstehung in Worms untermauert von W. Haubrichs (in: Volksspr.-lat. Mischtexte, S. 131-173). Die kleinformatige, 175 Blätter starke Hs. besteht aus sechs ursprünglich selbstständigen Teilen (zu deren Abgrenzung E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 34f.; H. Butzmann, Die Weissenburger Handschriften, Kataloge der Herzog-August-Bibliothek. Die neue reihe 10, Frankfurt (Main) 1964, S. 257-268; W. Haubrichs, in: Volksspr.-lat. Mischtexte, S. 133-145). Der fünfte Teil (f. 127-160), für sich wieder eine Sammelhandschrift, wurde Anfang 9. Jh.s geschrieben und enthält ab f. 149r eine Gruppe katechetischer und liturgischer Stücke, beginnend mit einer Aufzählung der kirchlichen Weihegrade, gefolgt von Fragen und Antworten über Messopfer und Taufe (lat.), danach von teils dt., teils lat. Texten (s. u.). Sie werden f. 154v abgeschlossen von einem dt. Gloria in excelsis, dem nach vier Leerzeilen von anderer Hand Incipits und Explicits von Homilien Gregors d. Gr. über die Evangelien sowie über Ezechiel folgen. Zumindest die ahd. Texte sind Abschrift nach unbekannten Vorlagen. – Zur Handschrift sieh auch PadRep. Ausgaben: MSD Nr. LVI, I, S. 204-209, II, S. 335-341; P. Piper, Nachträge, S. 11-17 (ahd. wie lat. Texte in diplomatischem Abdruck); E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. VI, S. 29-38 (mit Angabe weiterer älterer Ausgaben); W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., Nr. XIII; – Faksimile u. a. bei M. Enneccerus, Die ältesten dt. Sprach-Denkm.,Tafel 21-28 (die deutschen Texte vollständig); H. Fischer, Schrifttafeln, Tafel 7 (f. 154r u. 154v).

2. Inhalt: Den erwähnten Fragen und Antworten einer examinatio presbyteri de missa et baptismate folgt f. 149v, Z. 22 bis f.150v, Z. 4 ein ahd. Vaterunser, dem sich unmittelbar unter schrittweiser Wiederholung der einzelnen Gebetsteile eine sprachlich gelungene, schlichte und leicht fassliche ahd. Erklärung der Anrede wie der sieben Bitten anschließt. Darauf folgt f. 150v, Z. 4 ohne Absatz eine Aufzählung von 20 criminalia peccata per quae diabolus mergit homines in infernum, lat. mit ahd. Übersetzung jeder einzelnen Sünde. Das nächste Stück ist eine wesentlich ausführlichere und auch intellektuell anspruchsvollere lat. Paternoster-Erklärung, die mit der ahd. nichts zu tun hat. Hieran schließt sich – ebenfalls lat. – ein unzutreffend als Symbolum apostolorum bezeichnetes interpretierendes Glaubensbekenntnis f. 152v, Z. 20 bis f. 153r, Z. 2 sodann wieder ahd. das Apostolische Glaubensbekenntnis (in der Fassung des ‘Textus receptus’), gefolgt – nach der lat. Überschrift Quicumque uult saluus esse. & reliqui – von einem ahd. Athanasianischen Glaubensbekenntnis (f.

‘Weißenburger Katechismus’

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153r, Z. 3 bis f. 154v, Z. 5), dem sich ab der Folgezeile noch ein ahd. Guatlichi in hohostem gote (= Gloria in excelsis deo) anschließt (bis f. 154v, Z. 20). Insgesamt sind diese frühen ahd. Texte Zeugnis für eine sehr beachtliche Übersetzungsleistung zumal bei der Bewältigung auch gedanklich schwieriger Begriffe. 3. Historischer Hintergrund: In der ahd. Vaterunser-Erklärung des ‘Weißenburger Katechismus’ begegnet parallel zu dem völlig unabhängigen Ú ‘Freisinger Paternoster’ erstmals in deutscher Sprache eine seit dem frühen Mittelalter greifbare typische Form der Vaterunser-Katechese, die auf deutsch durch das ganze Mittelalter und hernach vor allem auf dem Weg über Martin Luthers Kleinen Katechismus bis in die Gegenwart hinein üblich geblieben ist. Gleichwohl darf gerade diese neuzeitliche Verwendung des Katechismus im Religionsunterricht nicht zu der Annahme verleiten, auch die Texte des ‘Weißenburger Katchismus’ seien abgefasst und zusammengestellt worden, um in analoger Weise vom ‘christlichen Volk’ auswendig gelernt und aufgesagt zu werden. Dafür käme allenfalls die reine Vaterunser-Übersetzung in Frage, in zweiter Linie auch das Apostolische Glaubensbekenntnis. Alle übrigen Texte aber sind für solche Verwendung ungeeignet, und zwar nicht nur die lat., sondern auch die deutschen. Der Titel ‘(Weißenburger) Katechismus’ ist daher sachlich nicht gerechtfertigt, aber eingebürgert; er beruht auf mangelnder Einsicht in den Funktionszusammenhang dieser Stücke, nicht zuletzt aufgrund fehlgehender Analogieschlüsse aus nachmittelalterlichen Formen der Volkskatechese (sieh W. Haubrichs, in: Volksspr.-lat. Mischtexte, S. 131ff.). Seit Karls d. Gr. programmatischer Admonitio generalis vom 23. März 789 wurde in den folgenden Jahrzehnten immer wieder die Forderung nach Priesterbildung wie nach Unterweisung der Laien in den wichtigsten Stücken des christlichen Glaubens erhoben. Insbesondere wird die Kenntnis von Paternoster und Credo verlangt, und zwar sowohl bei den Laien als auch bei den Geistlichen, und bei diesen zunächst, um es jenen beibringen zu können (vgl. auch Ú ‘Exhortatio ad plebem christianam’; Zusammenstellung einschlägiger Belege u. a. MSD II, S. 325f.; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 291-293; W. Haubrichs, in: Volksspr.-lat. Mischtexte, S. 168f. u. besonders Anm. 55-56). Das notwendige Zugeständnis war: Qui vero aliter non potuerit vel in sua lingua hoc discat (a. 813, MGH Conc. aevi Karol. I, 272). Freilich ist damit nicht gesagt, dass die uns überlieferten ahd. Texte unmittelbar aus diesen amtlichen Impulsen resultieren müssen, wie denn auch z. B. gezeigt werden konnte (G. de Smet), dass die Criminalia peccata des ‘Weißenburger Katechismus’ keineswegs, wie verschiedentlich behauptet, notwendigerweise aus einer entsprechenden Aufzählung in der Admonitio generalis fließen. 4. Funktion: Scheint auch im Blick auf die Annahme konkreter Abhängigkeiten und Zuordnungen Zurückhaltung geboten, so ist doch die generelle Nähe zu den genann-

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‘Weißenburger Katechismus’

ten Anordnungen unzweifelhaft. Dem entspricht auch die Art des hier Zusammengestellten: Die von mehreren Händen aufgezeichneten Texte sind nicht einheitlichen Ursprungs. Obwohl etwa die Übertragung des Athanasianums dem frühen Übersetzer viel abfordert, sind die lat. Stücke doch erkennbar anspruchsvoller als die deutschen, bei denen wiederum deutliche sprachliche Differenzen unterschiedliche Übersetzer bzw. Vorstufen signalisieren. Ob die – sprachlich südrhfrk. – verschiedenen Teile des ‘Weißenburger Katechismus’ ursprünglich in Murbach zusammengefügt wurden und das Überlieferte „Abschrift eines Murbacher Originals“ (R.-M. S. Heffner) ist, bleibe dahingestellt. Offensichtlich ist jedenfalls im ‘Weißenburger Katechismus’ zusammengetragen worden, was an geeigneten Texten bekannt war, wobei lat. und deutsche Stücke zweifellos eine intentionale Einheit bilden. Dass die Sammlung nicht für eine wie immer geartete ‘Volksunterweisung’ bestimmt war, beweisen nicht nur die lat. Stücke: Das Gloria in excelsis gehört in die Liturgie, und wenn es übersetzt wird, so um sein Verständnis bei geistlichen, nicht bei laikalen Personen zu fördern; das Athanasianische Glaubensbekenntnis ist für den sogenannten ‘Gläubigen’ viel zu schwierig. Die Zusammenstellung der lat. wie der ahd. Texte ist vielmehr, wie W. Haubrichs zeigen konnte, ganz deutlich im Blick auf Priesterbildung und Fundierung der Geistlichen erfolgt, möglicherweise als Grundlage für eine Examination durch den hierfür zuständigen und verpflichteten Bischof. Dass die solchermaßen qualifizierten Seelsorger im Rahmen der ihnen aufgetragenen Katechese dann wieder auf einige von diesen Texten zurückgreifen konnten, steht dem nicht entgegen. 5. Literatur: B. Adam, Katechetische Vaterunserauslegungen. Texte und Untersuchungen zu deutschsprachigen Auslegungen des 14. und 15. Jahrhunderts, Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 55, Zürich/München 1976; G. Baesecke, Unerledigte Vorfragen der althochdeutschen Textkritik und Literaturgeschichte, PBB 69 (1947) S. 361-367, bes. S. 365-367; B. Bischoff, FMSt 5 (1971) S. 117f.; H. de Boor, Die dt. Lit., S. 27; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 306-309; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 238f.; W. Haubrichs, Das althochdeutsch-lateinische Textensemble des Cod. Weiss. 91 (‘Weißenburger Katechismus’) und das Bistum Worms im frühen neunten Jahrhundert, in: Volksspr.-lat. Mischtexte, S. 131-173; R.-M. S. Heffner, Zum Weißenburger Katechismus, JEGPh 40 (1941) S. 545-554; 41 (1942) S. 194-200; A. Masser, Die althochdeutschen Übersetzungen des Vaterunsers, PBB 85 (Tübingen 1963) S. 34-45; A. Masser, in: 2VL X, Sp. 824828; G. de Smet, Zum Weißenburger Katechismus, in: Mediaevalia Litteraria. FS Helmut de Boor, S. 39-53. ACHIM MASSER

‘Werdener Urbar’

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‘Werdener Urbar’ 1. Überlieferung: Düsseldorf, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Werden, Akten IX a Nr. 1 a (früher Msc. A 88), f. 34v. http://www.marburger-repertorien.de/abbildungen/pr/DussHstAWerdenIXa1a_Bl34v 2. Ausgaben: MSD II, S. 371; E. Wadstein, Kleinere as. sprachdenkm., Nr. VIII, S. 23 (Z. 14 l. uuerrAtadi); 132f.; R. Kötzschke, Die Urbare der Abtei Werden a. d. Ruhr. A. Die Urbare vom 9.-13. Jahrhundert, Rheinische Urbare. Sammlung von Urbaren und anderen Quellen zur Rheinischen Wirtschaftsgeschichte 2, Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 20, Bonn 1906 (Nachdruck 1978), S. 73f.; vgl. PadRep.

3. Inhalt: Das volkssprachige Stück inventarisiert zum Kloster Werden gehörige Liegenschaften und Zubehör (Fischwehre) im westlichen Friesland. Es ist (mit einigen lat. Einsprengseln) von einer Hand aus der 1. Hälfte des 10. Jh.s in einen Freiraum des ansonsten in lat. Sprache abgefassten ältesten Verzeichnisses des Werdener Klosterguts (Urbar A, eingehend beschrieben in der Edition von R. Kötzschke, S. CIX-CXXII; B. Bischoff, Katalog, Nr. 1054) hineingezwängt worden, wobei von der zweiten Zeile ab die Randbegrenzung überschrieben, die vorletzte Zeile unter die Zeilenritzung der vorhergehenden gehängt und der letzte Posten in einen Freiraum des nächsten Paragraphen geschrieben wurde. Die Trägerhs. ist um 880-890 angelegt worden und resultiert aus der Neuordnung der klösterlichen Besitzverhältnisse, die nach dem Ende der Zeit als Eigenkloster der Familie des Klostergründers Liudger notwendig geworden war. Mit Urkunde von 877 bestätigt Ludwig der Jüngere die Kommendation der Abtei unter Königsschutz durch Bischof Hildigrim (II.) von Halberstadt, den letzten der ‘Liudgeriden’ († 886). In den Anlagebestand des Urbars sind bereits ältere Besitzübereignungen und Vergabungen von Gerechtsamen übernommen worden und auch in der Folgezeit sind zahlreiche Ergänzungen des 10. und 11. Jh.s hinzugetreten, die die allmähliche Entwicklung Werdens zur einer bedeutenden Großgrundherrschaft dokumentieren und deren Namenbelege ein differenziertes Bild der frühen Werdener Sprachgeschichte erlauben (H. Tiefenbach). Die verzeichneten Gebiete erstrecken sich über einen weiten Raum, der die Umgebung Werdens, den unteren Niederrhein, das Rheinmündungsgebiet, Friesland, Westfalen und das Emsland umfasst (grundlegend zu Werden: W. Stüwer). Auch der volkssprachige Nachtrag ist vielleicht einer vorausgehenden urkundlichen Aufzeichnung entnommen, wie sie im ‘Werdener Chartular’ ebenfalls abschriftlich gesammelt sind, wodurch das Abweichen von der sonst befolgten lat. Norm erklärbar wäre. Die Verwendung der Volkssprache bei Verzeichnung von Grundbesitz ist im Bereich des Ahd. durch die ‘Hammelburger’ und die ‘Würzburger Markbeschreibungen’ bezeugt und kann auf Anregungen altenglischer Vorbilder beruhen. Dergleichen ist auch beim Klostergründer Werdens Liudger denkbar, der

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‘Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet’

aus einer friesischen Familie stammt und seine Ausbildung in Utrecht und später in York unter Alkuin erhalten hat. Die angelsächsische Prägung der Anfänge Werdens ist in vielfältiger Weise belegt (J. Gerchow). Die Besitztümer in der Umgebung von Utrecht und am IJsselmeer, die der Eintrag nennt (zur Lokalisierung R. E. Künzel et al. passim) und wozu auch Swezen (wohl das heutige Zuilen bei Maarsen), der Geburtsort Liudgers, gehört, sind vielleicht schon zur Zeit von Liudgers Missionstätigkeit in diesem Gebiet in seine Hände gelangt (R. Kötzschke 1958, S. CCLXXVIf.). 4. Literatur: J. Gerchow, Liudger, Werden und die Angelsachsen, in: Das Jahrtausend der Mönche, 1999, S. 49-58; R. E. Künzel – D. P. Blok – J. M. Verhoeff, Lexicon van nederlandse toponiemen tot 1200, Publikaties van het P. J. Meertens Instituut 8, 2. A. Amsterdam 1989; R. Kötzschke, Die Urbare der Abtei Werden a. d. Ruhr. Einleitung und Register, Rheinische Urbare. Sammlung von Urbaren und anderen Quellen zur Rheinischen Wirtschaftsgeschichte 4, Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 20, Bonn 1958; R. Schmidt-Wiegand, in: 2VL X, Sp. 886-889; W. Stüwer, Das Erzbistum Köln. 3. Die Reichsabtei Werden an der Ruhr, Germania sacra. Neue Folge 12. Die Bistümer der Kirchenprovinz Köln, Berlin/New York 1980; H. Tiefenbach, Von Mimigernaford nach Reganespurg. Gesammelte Schriften zu altsächsischen und althochdeutschen Namen, hg. v. A. Greule und J. Riecke, Regensburger Schriften zur Namenforschung 6, Regensburg 2009, S. 235-270, 283294, 307-333.

HEINRICH TIEFENBACH ‘Wessobrunner

Schöpfungshymnus und Gebet’

Zwei zusammenhängend aufgezeichnete, (vorwiegend) bairische Texte, überliefert am Anfang des 9. Jh.s: Ein am Schluss unvollständiges Stabreimgedicht, (das älteste in deutscher Sprache erhaltene) zum Thema der Welterschaffung aus dem Nichts (WSch) und unmittelbar anschließend ein Prosagebet (WG); beide Texte bestimmt für den Gebrauch vor oder nach der Beichte. 1. Überlieferung: Trägerhandschrift ist München, BSB Clm 22053 (Wess. 53, Cim. 20). Mittelalterliche Bibliotheksheimat war das Benediktinerkloster Wessobrunn; als Schriftheimat ließ sich nur die Augsburger Region bestimmen, nähere Lokalisierungen (Wörth im Staffelsee? Benediktbeuren? Augsburg?) bleiben unsicher. Die Hs. gehört zu einer Gruppe von vier weiteren „paläographisch wohlumschriebenen“ aber ebenfalls nicht genau lokalisierten Handschriften aus diesem Raum (B. Bischoff, Die süddostdt. Schreibschulen, I (21960), S. 18-22; B. Bischoff, FMSt 5 [1971] S. 101134, hier S. 116 (= B. Bischoff, Mittelalt. Stud., III, S. 73-111, hier S. 91). 2. Ausgaben – Faksimiles – Übersetzungen: E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm.,Nr. II, S.16-19 (Zitate); MSD Nr. I, I, S.1-2; II, S. 1-8; U. Schwab (1988/1989) (diplomatische

‘Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet’

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Abdrucke) – Zu Abbildungen und Digitalisat vgl. PadRep. – Text und Übersetzung: W. Haug – B. K. Vollmann, S. 48-49, Kommentar S. 1063-1068; St. Müller, Ahd. Lit., S. 200, Kommentar S. 359-362.

3. Zum Inhalt der Handschrift: BStK Nr. 680. Ahd. Glossen auf f. 58r-59r, 60v-63r, 64r, 84r. Der Kodex besteht aus fünf Faszikeln, in deren zweitem (f. 22-66) ‘WSch/ WG’ auf f. 65v-66r in folgender Umgebung stehen: f. 22r-35v Theodosius, De locis sanctis; f. 35v-47v theologische Exzerpte; f. 47v-65r Worterklärungen zu Isidor, Etymologiae, sowie zu metrologisch (nicht meteorologisch!)-geographischen Wörtern; f. 65v-66r ‘WSch/WG’ sowie vom gleichen Schreiber nach einer Leerzeile der Satz: Qui non uult peccata sua penitere ille uenit iterum ubi iam amplius illum non penitebunt nec illorum se ultra erubescit. – Auf der ursprünglich freien Seite 66v (nicht 66r-v!) ego bonefacius scripsi von anderer Hand (!) Abschrift einer Freilassungsurkunde aus Hesilinloh aus den Jahren zwischen 788 und 800 (MGH Diplomata VII, S. 373) – bonefacius kann also nur als Name des Schreibers der Urkundenvorlage gelten. – Das Weitere wieder von der vorigen Hand: f. 67r-76v biblische Schriften und Kommentare; f. 77r-93r Worterklärungen; f. 93r-98v theologische Schriften (Exzerpte); f. 99r-v chronologische Notizen, in denen die Jahreszahlen 814 und 815 erwähnt sind (Tod Karls d. Gr. und Konsekration Ludwigs des Frommen). Zu Spuren einer programmatischen Einbettung von ‘WSch/WG’ in dieses Textensemble G. Ehrismann Gesch. d. dt. Lit., I, S. 146-147. 4. Zum Verständnis der Texte: ‘WSch/WG’ stehen unter dem gemeinsamen Titel ‘De poeta’. Das ist wahrscheinlich zu deuten als Latinisierung von ʌȠȚȘIJŽȞ Ƞ½ȡĮȞȠȣ țĮȓ ȖȢ ‘Schöpfer des Himmel und der Erde’ aus dem griechischen Glaubensbekenntnis (W. Perret, J. A. Huisman). Verse und Prosa von ‘WSch/WG’ gehören ursprünglich nicht zusammen. Die Verse brechen im Satzinneren ab, die Prosa ist syntaktisch konsistent. Der handschriftlich in keiner Weise markierte Übergang stellt ein ungelöstes Problem dar. Vielleicht sind die Verse zu denken als Zitat eines bekannten Hymnus, das hier sozusagen mit einem „und so weiter ...“ abbricht; etwa in diesem Sinne auch P. Ganz, der beim Abbruch der Verse mit einem rhythmisch-emphatischen Zeichen rechnet, als das er an dieser Stelle die hier gebrauchte tironische Note N deutet, die auch sonst in den Versen und der Prosa als Kürzel für enti mehrfach vorkommt. Zum Verständnis der Kombination beider Stücke, wie sie hier vorliegt, hat U. Schwab (1988/1989, S. 354) auf die funktionale Analogie im Zauberspruch hingewiesen: Zusammengehörigkeit von historiola als Erzählung eines „Präzedenzfalles“ und magischem Befehl unter Berufung auf diesen. Der in den Versen erzählte Akt der einstmaligen Weltschöpfung als Gabe für die Menschen wäre dann zu verstehen

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‘Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet’

als die Vorbildhandlung, durch welche die göttliche Macht zu geben erwiesen ist, und um dessen Erneuerung die Prosa nunmehr (imperativisch) betet. 5. Textparaphrase: Die Verse beginnen mit einer Umschreibung der Vorstellung, dass dinghaft alles, was mit der Schöpfung ins Dasein kam, davor noch nicht da war (niuuas 4). Danach brechen sie mit einem weitgespannten, unvollständigen Satz, der sich dem Raumzeithaften zuwendet, so ab: „Als es damals (Do dar 6a) weder Anfang noch Ende (enteo ni uuenteo 6b) gab und als damals (do 7a) allein der allmächtige, für die Menschen überaus gabenreiche Gott (manno miltisto 8a; Genitivus objectivus, U. Schwab, 1988/1989, S. 364) existierte (uuas 7a) und dort (dar 8b) – bei ihm – viele ruhmreiche (cootlihhe 9a) Geister (die Engel) waren, und ( N [= enti] 9b) der heilige Gott …“. Man kann spekulieren, dass die Erzählung nun fortfuhr mit dem Mythos vom Engelssturz und abschließend in eine Paraphrase des Sechstagewerks mündete, durch welches die zuvor nicht existierende Welt den Menschen als Daseinsraum geschenkt wurde, ihnen, die bestimmt waren, an die Stelle der abgefallenen Engel zu treten. So wie die Texte vergesellschaftet sind, greift nun aber die Prosa die Nennung des allmächtigen Gottes aus den Versen (almahtico cot 7b) als Gebetsanrede Cot almahtigo (10a) auf, als Anrufung des Gottes, der Himmel und Erde machte (du himil enti erda gauuorahtos). Auch die Gaben, die Gott den Menschen in freigiebigster Weise schenkte (manno miltisto 8a, s. o.), können in der Prosa echoartig wiedererkannt werden: Dann sind es die vielen guten Gaben, die Gott den Menschen (damals [= präterital], zur Zeit der historiola]) geschenkt hatte (du mannon so manac coot forgapi Prosa 10-11), und auf deren verpflichtendes Vorbild sich der Beter nun präsentisch und imperativisch (forgip mir ‘verleihe mir’ Prosa 11) beruft, nämlich mit seiner formelhaften, aktuellen Bitte um die Gaben rechten Glaubens, guten Willens, der Weisheit und der Kraft, den Teufeln zu widerstehen und Gottes Willen zu erfüllen. 6. Kosmogonie und Kosmologie: Die Verse, die schon mit ihrer Stabreim-Metrik in vorliterarische Zeit zurückweisen, die in der Stabreimdichtung anders geartete Parallelen in Cædmons Hymnus und im Schöpfungspreis von Hrodgars Sänger im Beowulf haben (90-98, hier vergleichbar dem kosmologischen Festvortrag in Vergils Aeneis I,740-747) sind sicherlich typologisch von Vorbildern kosmologisch-kosmogonischer, vorliterarischer und germanisch-heidnischer Mythologie und Dichtung inspiriert. Vor allem sprechen dafür die motivisch und zum Teil formelhaft-wörtlich anklingenden Verse der altnordischen kosmogonischen Dichtung und Prosa (W. Haug – B. K. Vollmann, S. 1064; U. Schwab, 1988/1989, S. 366-384), besonders der Voluspá (Str. 3), aber auch anderer eddischer Gedichte (Vafthrúðnismál Str. 21, Grimnismál Str. 40) und der Mythologie der Prosa-Edda Snorris (Gylfaginning,

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Skáldskaparmál), auch wenn all diese erst im 13. Jh. überlieferten Texte längst christlich überformt sind. Ein markanter Unterschied des kosmogonischen Konzepts gegenüber dieser Tradition, liegt im ‘WSch’ jedoch darin, dass hier die Erschaffung der Welt im christlichen Sinn radikal als creatio ex nihilo formuliert ist, was freilich erst in der Zusammenstellung mit der Gebetsprosa deutlich wird (du himil und erda gauuorahtos10). Das ist ein Gedanke, welcher der nordischen Kosmogonie kaum fassbar wäre, ihr jedenfalls durchaus fremd ist, und der bei der Germanenbekehrung nachweislich eine zentrale Rolle gespielt hat (Hinweise auf Daniel von Winchester / Bonifatius und auf Gregor von Tours schon bei G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., I, S. 140 und wieder bei U. Schwab, 1988/1989, S. 365, mit vielen weiteren Hinweisen). 7. Bußwesen: Mag dies auch die ursprüngliche Stoßrichtung der Verse gewesen sein, aktuell in der vorliegenden Überlieferung stehen sie zusammen mit der Prosa im Dienst des Bußwesens. Handgreiflich auf Buße und Beichte (peccata, penitere, penitebunt, erubescit) nimmt der oben zitierte Zusatz nach der Prosa Bezug, wenn er auch im Einzelnen schwer verständlich bleibt: Qui non uult peccata sua penitere ille uenit iterum (in infernum konjiziert U. Schwab, 1988/1989, S. 353) ubi iam amplius illum non penitebunt nec illorum se ultra erubescit. Formelhafte Entsprechungen zur Prosa des Gebetes wurden in der Beichte des ‘Altbairischen Gebetes’, in der ‘Fuldaer Beichte’ und in weiteren Beichttexten (Ú Beichten) nachgewiesen (dazu U. Schwab, 1988/1989, S. 355-356). ‘WSch/WG’ wären gut denkbar als Inserate vor oder nach der Beichte im Kontext der elaborierten Dramaturgie der ordines ad dandam poenitentiam wie sie in Sakramentarien und Pontifikalien des 10. und 11. Jh.s vorgeschrieben waren und von S. Hamilton ausführlich beschrieben wurden. 8. Zu Sprache und (Vorlagen-)Herkunft von ‘WSch/WG’: Eine paläographische Merkwürdigkeit in der Aufzeichnung von ‘WSch/WG’ ist die Verwendung der von U. Schwab sogenannten Sternrune (U. Schwab, Sternrune, besonders S. 22-30 und U. Schwab, 1988/1989, S. 358-359). Das Zeichen wird von U. Schwab als Argument für eine bairische, nicht fränkische oder sächsische Vorlage und Herkunft von ‘WSch/WG’ im Clm 22053 in Anspruch genommen, gegen G. Baesecke, der das Denkmal letztlich auf die angelsächsische Mission zurückführen wollte und speziell auf Herkunft aus Fulda. Es handelt sich bei der Sternrune um ein Zeichen, das im Clm 22053 als senkrecht (einmal auch waagerecht) durchstrichenes X erscheint, in der Variante mit senkrecht durchstrichenen X auch öfters in einer anderen aus Bayern stammenden Handschrift der Zeit (London, BL Arundel 393, BStK-Nr. 407). Das Zeichen X steht in der englischen (und nordischen) Runenschrift für den Laut [g] und ist in den beiden bayerischen Handschriften um die senkrechte bzw. waage-rechte Durchstreichung erweitert. Dort, wo es im Clm 22053 als waagerecht durchstriche-

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‘Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet’

nes X erscheint, gibt es sich klar als Kürzel für das Präfix ka- (‘ge-’) zu erkennen. Das senkrecht durchstrichene X wird im ‘WG’ auch einmal als Ersatz für eine Stammsilbe eingesetzt: du … forcapi ‘du … verliehst’ (10-11), an einer Stelle, wo auch der Sinn des Textes -ca- (nicht -ki- oder -ke-) verlangt. Daraus folgert U. Schwab: das senkrecht durchstrichene X in ‘WSch/WG’ ist nicht als ga-, wie es die Editionen tun, sondern als bair. -ca- aufzulösen, besonders aber – und darauf kommt es an – kann man von diesem Zeichen aus nicht auf fränk. oder sächs. -g- in einer Vorlage schließen; g-Schreibungen an einigen Stellen in ‘WSch/WG’ seien lediglich auf lässliche Inkonsequenz des Schreibers zurückzuführen. Mit dem zweimal im Text erscheinenden t in dat (1 und 2) liegt nun aber doch ein eindeutig niederdeutsches Merkmal vor. Hier hat man sich mit der Annahme zu helfen versucht, diese Sprachform sei als „Ergebnis einer oberflächlichen, aber bewusst archaischen Stilisierung“ zu verstehen (W. Haubrichs, S. 244 und entsprechend St. Müller, S. 360). In eine ähnliche Verlegenheit führt gafregin (1) ‘ich erfuhr’ am Anfang der Verse. Ein starkes Verbum der Klasse V *gafregnan ist im Ahd. nicht nachweisbar. Im Ae. und As. aber sind die entsprechenden Wörter ae. fri