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German Pages 160 Year 2013
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Angelika Kampfer
ALT – umsorgt, versorgt Mit einem Vorwort von Margit Fischer
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Mein Vater war ein wunderbarer Mensch. Ihm widme ich dieses Buch. Trotz zunehmender Hilfsbedürftigkeit verlor er nie seine Würde, seine Geduld, seinen Humor und seine Liebenswürdigkeit.
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Vorwort Gerne komme ich der Einladung von Angelika Kampfer nach, mit einem Vorwort zu ihrem eindrucksvollen Buch „ALT – umsorgt, versorgt“ beizutragen und Stellung zu nehmen. Dieses Buch beschönigt nicht das Altern und auch nicht das Alter. Aber es zeigt, besonders durch die beeindruckenden Bilder, dass die älteren und alt gewordenen Menschen durch liebevolle Unterstützung ihre Integrität bewahren und würdevoll leben können. Die Bilder und Wortmeldungen erinnern uns auch eindringlich, dass es ein Kommen und Gehen gibt, aber dass wir in allen Phasen unserer Existenz Teil der Gesellschaft sind. Auf einen Menschen in seinem späten Leben einzugehen und ihn fühlen zu lassen, dass man ihn so wie er ist respektiert und schätzt, das ist eine große und wichtige Aufgabe in einer Gesellschaft der Langlebigkeit. Wir müssen uns darauf einstellen und mit dieser Herausforderung umgehen lernen. Angelika Kampfers Buch hilft dabei. Es gibt wunderbare Sätze und Aussagen in diesem Werk, die jeden Menschen, unabhängig von seinem Alter, zum Mitfühlen und Nachdenken anregen: So heißt es zum Beispiel, dass ein alter Mensch für seine Lebensführung neben Unterstützung und Hilfe von außen auch
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ein großes Maß an Selbstdisziplin benötigt. Das heißt, dass er sich immer auch um die Führung des eigenen Lebens und der praktischen Seiten der Aufrechterhaltung seines Daseins bemühen muss – trotz aller Schwierigkeiten! Wir sollten dabei unterstützend eingreifen, aber gleichzeitig auch fühlen und verstehen, wie dieser Mensch leben will und wie schwer es oft sein kann, sich nicht aufzugeben. Dafür müssen wir im Miteinander einen „guten Blick“ erwerben. Die guten, eindringlichen Photographien im Buch sind eine „Schule“ für diesen „guten Blick“, denn Menschen sind bekanntlich ganz unterschiedlich und sie wollen auch Unterschiedliches. Das ist auch im Alter so. So bedarf die Pflege eines älteren Menschen immer wieder auch eines täglichen Lernprozesses – sowohl für jenen, der gepflegt wird, als auch für den, der sich ihm in dieser Pflege zuwendet. „Pflege, ohne einen Sinn zu stiften, bringt nichts“, lautet ein herausfordernder Satz im Buch von Angelika Kampfer.
Durch die Lebendigkeit des Buches, der Texte und Bilder, werden wir als Leserinnen und Leser dazu aufgefordert, weiterzudenken. Wie wollen wir selbst in Zukunft denken, handeln und leben? Es ist gut, sich rechtzeitig damit zu befassen. Das Buch ermutigt zu persönlichen Rückblicken, und ich freue mich über dessen anregende Wirkungen. Dafür ist Frau Angelika Kampfer und allen, die zum Entstehen des Buches beigetragen haben, sehr herzlich zu danken. Daher wünsche ich dem Buch eine gute Aufnahme bei einer hoffentlich zahlreichen Leserschaft.
Margit Fischer
Durch die Abbildungen der alten Menschen in ihrer Verschiedenheit wächst auch das Interesse, mehr über ihr Schicksal und den gesamten Lebenszusammenhang zu erfahren. Und manche der porträtierten Menschen teilen sich auch in berührender Weise mit.
Vorwort
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Inhalt
Zum Buch . ....................................................................... Seite 11 Essen auf Rädern . ............................................................ Seite 12 Zu Hause leben . ............................................................... Seite 29 Die Wohnung meines Vaters . ............................................. Seite 47 Im Pflegeheim ................................................................... Seite 57 Das Alpha und das Omega . ............................................... Seite 93 Im Altersheim . ................................................................... Seite 99 24-Stunden-Pflege ........................................................... Seite 113 Betreutes Wohnen . ......................................................... Seite 127 In der Seniorenresidenz ................................................... Seite 133 Gemeinsam das Alter meistern ......................................... Seite 141
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Zum Buch Das Buch soll ein Dank sein an alle Pflegenden, ein Denkmal, eine Anerkennung. Es steht stellvertretend für die sichtbaren und unsichtbaren, die professionellen und privaten, die in- und ausländischen Betreuerinnen und Betreuer. Und es steht natürlich für die Angehörigen, von deren Arbeit und Belastung oft nicht einmal die nähere Umgebung eine Ahnung hat und die nicht selten vor der Frage stehen, ab wann, in welcher Form oder woher sie zusätzliche Unterstützung ins Haus holen sollen. Das Buch will den Blick öffnen für das Altsein aus der Sicht der Betroffenen, der Angehörigen, der pflegenden Personen, der Betreuer und Betreuerinnen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Das Buch soll Mut machen. Wer will heute schon alt sein? Die meisten Menschen wehren sich dagegen, als alt bezeichnet zu werden. Alt sein, das ist in unserer Gesellschaft ein Makel, wir blenden das gerne aus, schieben die Bilder weg. Wir sollten lernen, es als Teil unseres Lebens zu akzeptieren. Und wir sollten die Möglichkeit nutzen, unsere Eltern oder Großeltern anzuschauen: So werde ich auch einmal sein. Das Buch soll die Angst davor nehmen, selbst einmal ein „Betreuungsfall“ zu werden. Es soll Mut machen, Hilfe anzunehmen, wenn Hilfe nötig ist. Und es soll zeigen, dass es möglich ist, in Würde zu leben – bis zum Schluss. Wie das Altsein in meine Arbeit und mein Leben kam. Der Anstoß dazu kam von Renate Obud. Nach einem Sturz mit angebrochener Schädelbasis ihrer Mutter saß sie seit sechs Monaten täglich an deren Bett und sah: Die Situation in Alters- und Pflegeheimen sollten wir beleuchten. Das Thema lag in der Luft – auch für mich. Ich be-
merkte, dass meine Eltern mehr und mehr Hilfe brauchten und im Freundeskreis tauchte die Frage immer öfter auf: Wie organisierst du das mit deinen Eltern? Welche Möglichkeiten gibt es? Das Alter kommt langsam, schrittweise. Zuerst reagieren wir ungeduldig, weil alles zu lange dauert, weil häufig etwas vergessen, weil gestolpert und verschüttet wird. Irgendwann akzeptieren wir die Situation. Mantel, Schuhe, Schal, Haus absperren, einsteigen – alles braucht Zeit. Ist das einmal klar, stimmt das Gleichgewicht wieder: Es ist eben so. Wichtig im Alter ist und bleibt das Leben: das vergangene und das gegenwärtige. Ich habe fröhliche, dankbare, zufriedene Menschen gesehen, aber auch sehr einsame. Das ist die Bilanz unseres Lebens. Nicht erst im Alter sucht man sich aus, wie man lebt. Um ein gutes soziales Umfeld und eine positive Lebenseinstellung muss man sich das ganze Leben lang kümmern. Wünschenswert ist es, wenn der alte Mensch nicht „aus dem Leben fällt“, sondern möglichst lange möglichst mittendrin bleiben kann. Er sitzt auf dem Sofa oder hinter der Küchenbank, er ist dabei, er gehört dazu – auch wenn er selbst nicht mehr mitlaufen kann. Die Familie, die Kinder, der Lärm, die Streitereien, die Freude, die Feste und der Alltag bringen das Leben in sein Leben. Es ist gut, dass er da ist und bleiben kann. Auch für die anderen. Und wenn das nicht (mehr) möglich ist? Ja, es gibt sie – professionelle Einrichtungen, die alte Menschen pflegen und versorgen. Den menschlichen Beitrag, das „Leben“, die persönliche Beziehung jedoch – da sind wir als Angehörige in der Pflicht. Wir gehen dabei nicht leer aus. Daran glaube ich. Angelika Kampfer
Zum Buch
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Anna Scharf
Anna ist 87 Jahre alt, aufgeweckt und voller Witz. Sie hat vier Buben „in allen Größen“, sitzt im Rollstuhl und ist umgeben von allerlei Krimskrams. „Ich hab ein glückliches Leben gführt. Mein Mann ist zu früh gestorben, er hat einen Unfall ghabt. Er war ein guter Mann.“ – Hat er nicht ins Glasl gschaut? „Freilich hat er ins Glasl gschaut, aber i a, wir haben miteinand ins Glasl gschaut! Mit’n Gstell (Traktor) samma dann hamgfahrn, hat ja kana gfragt!“ „Am liabstn is ma a Schweinsbraten mit Knedl und Kraut, Grammelknödl, Fleischknödl! Als Mehlspeis iss i alles.“ „Im Leben ist das Leben wichtig. Oba wenn man nimma arbeiten kann, is es schwer.“
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Maria und Leopold Kargl
Maria ist 81 Jahre alt und kann kaum mehr gehen. Ihr Mann Leopold ist 77. Er redet gern und viel. Den Hof bewohnen die beiden alleine. Der Sohn ist mit seiner Frau in die Stadt gezogen. „Ohne Caritas wuratn die Leit sunst gar nit so alt.“ „I iss alls. Früher hab i gar ka Hendl gessn, jetzt iss i´s a. Und Schnitzel haben wir auch nicht so oft gehabt.“
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Hedwig Zimmerl
Hedwig wurde 1928 geboren, ihr Alter – 83 Jahre - fällt ihr nicht ein. Sie wohnt mit einem ihrer Söhne und Hund Asta im Haus. Während des Fotografierens fragt sie immer wieder: „Soll ich mich nicht frisieren?“ „I bin z‘frieden, i teaf nix sagen, i tat allein nix kochen. Der Sohn geht eh in die Arbeit und isst dort.“
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Hermine und Franz Müllner
Franz ist 82 Jahre alt, er war seit 1951 verheiratet. Seine Frau Hermine starb eine Woche nach dem Fototermin an einer Lungenentzündung. Als er 1985 einen schweren Unfall hatte, überlebte er nach eigener Angabe nur, weil er immer an seine Frau dachte: „Mei Schutzengel!“ Seine Hermine war gelernte Schneiderin. Franz sollte ihr einen Stachelwärmer (für das Bügeleisen) machen, dann hat „der Teifl eing‘schlagn“. „Freilich samma z‘frieden mit Essen-auf-Rädern. Früher hamma gern Gselchtes von den eigenen Schweindln gessn.“ „Alls, wonn S‘ do obe schaun und alls, wonn S‘ do aufe schaun, gheart uns.“
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Anton Jaresch
Anton ist 79 Jahre alt, seine Frau ist seit einem Jahr im Pflegeheim. Einmal im Monat fährt er sie besuchen. Papagei Susi hat er aus dem Internet, auf seinem Computer sind Spiele installiert. „Das Essn is schon guat, war früher nicht besser. I iss alles, nur kann Apfelstrudl.“
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Anna Kletzel
Anna ist 80 Jahre alt und wohnt seit drei Jahren im Gemeindebau. Das eigene Haus war baufällig, der Sohn hat sich „etwas angetan“ und lebt nicht mehr. „Wie i im Dienst war, des war meine schönste Zeit. 10 Jahre war ich beim Spittaler, dort war i wie dahoam. Die Frau war am Feld und i hab hamgehen können und kochen. I hab guate Herrenleut ghabt.“ „Lieblingsessen? Des is verschieden. Was i gekocht hab, ist gessn worden.“
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Maria Hofstätter
Maria ist 82 Jahre alt. Ihr zweiter Mann ist vor einem Jahr verstorben. Sie bewohnt den Bauernhof ihrer Eltern. Wer ihn heute führt, kann sie nicht mehr sagen. „I mecht noch gern da bleibn, a wenn´s ab und zu schlecht geht. Oba die Vergesslichkeit – manchmal schimpf i mit mir selber. Und des Allansein ... Wie viel Kinder i hab? – Da muss i nachdenken ...“ „Was ess i gern? Mir schmeckt alles, was i kriag. I bin froh, i mecht neama kochn.“
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zu Hause leben
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Mein Opa und das Leben früher Wir haben einen sehr schönen Bauernhof in Obertweng ob Radenthein. Hier wohnen meine Mama, mein Papa, mein Opa, meine Oma und meine drei Geschwister. Wir haben zehn Rinder, vier Schweine, ein paar Hühner, drei Katzen und unser Pferd – es heißt Moritz. Mein Opa, Johann Buchholzer, wurde 1932 in unserem Haus geboren. Das Leben damals war ganz anders als heute. Die Leute waren weniger anspruchsvoll, sagt der Opa. Geld war keines da, sie waren keine großen Bauern. Es wurde alles angebaut: Gerste, Weizen, Hafer, Roggen, Erdäpfel und Runkeln für die Schweine. Fleisch gab es nur am Sonntag, und das auch nicht an jedem. Geschlachtet wurde im Winter. Das Blut wurde in einem Schaff aufgefangen und die Lunge hineingeschnitten. Dann ist die „Goadl“ gefroren und blieb den ganzen Winter draußen im Hof. Man hackte sich dann immer ein Stück ab und machte eine Suppe mit Rollgerste. Fleisch und Gemüse wurden in Gläsern eingeweckt, es gab ja keine Kühltruhe. Es war halt so, man hat nichts anderes gehabt. Das Gewand war aus Leinen oder Wolle, man hat selbst gesponnen. Dann kam der Weber auf den Hof und baute seinen Webstuhl auf. Der Störschneider ist auch gekommen, aber es wurde auch selbst genäht. Und alles war geflickt, man hatte ja nicht so viel. Einmal wurde der Opa am Schulweg fotografiert. Alle Kinder hatten Hosen, die bis übers Knie gingen und Wollstrümpfe mit einem Strumpfgürtel, auch im Winter. Die Schuhe waren aus Leder und selbst gemacht. Man bekam sie erst, wenn man in die Schule ging. Vorher hatten sie Holzzockel. Die Schuhe waren wertvoll und man musste sie schonen. Die Großmutter hat immer gesagt: „Wenn du die Schneeflecken auf dem Mirnock zählen kannst, musst du bloßhaxat gehen.“ Zu Weihnachten bekamen die Kinder keine Süßigkeiten, sondern ein Paar selbst gestrickte Socken oder Handschuhe und ganz selten einen Pullover. Mein Opa hat von 1939 bis 1943 die Volksschule in Feld am See besucht. Sie hatten keine Hefte, sondern schrieben auf einer Schiefertafel. Am Donnerstag war immer schulfrei, da mussten die Kinder am Hof mitarbeiten. Mein Opa wollte in die Hauptschule gehen, aber die musste man bezahlen und der Stiefvater wollte das nicht. Mit 16 Jahren musste er zu den Holzknechten gehen, um Geld zu verdienen. Im Krieg hatte er Glück, für die Wehrmacht war er zu jung. 1958, mit 26 Jahren, hat mein Opa meine Oma Friederike Leitgeb geheiratet. Sie stammte von einem großen Bauernhof, und sie bekamen drei Töchter. Meine Mutter ist die mittlere. Zuerst haben sie mit einer Kuh gearbeitet, ab 1970 mit dem Pferd und dann kam der erste „Muli“ auf den Hof. Opa hat dann den Autoführerschein gemacht, aber ein Auto war nicht drin. 1970 hat mein Opa im Magnesitwerk zu arbeiten begonnen. Er hat Akkord gearbeitet und vor und nach der Arbeit den Hof bewirtschaftet, genauso wie mein Papa jetzt. 1987, mit 65 Jahren ging mein Opa in Pension und übergab den Hof an meine Mama. Er hat aber weiterhin mit angepackt, im Holz, im Stall oder beim Heumachen: „Wos man halt so daton hot.“ Bis er vor zwei Jahren ganz plötzlich den Schlaganfall hatte. Karolin Glanzer, 11 Jahre
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Mein Opa und das Leben heute Mein Opa bekam am 29. Juni 2009 in der Nacht einen Schlaganfall und wurde mit der Rettung ins Krankenhaus gebracht. Danach war er auf der linken Seite gelähmt, es ging ihm gar nicht gut. Er konnte nicht mehr gehen, nicht reden und nur mehr schlecht sehen. Vier Wochen war er im Krankenhaus, dann kam er für sechs Wochen nach Hermagor zur Rehabilitation. Als er nach Hause kam, saß er im Rollstuhl. Über die Stiegen hat ihn die Mama Schritt für Schritt hinaufgehoben. Wir bauten das ganze Badezimmer um, die Tür wurde vergrößert und wir kauften ein Krankenbett. Tagsüber sitzt er in der Küche und macht fleißig seine Therapieübungen. Jede Woche kommen zwei Therapeutinnen. Er arbeitet auch ein bisschen, er schält Kartoffeln und knackt Nüsse auf, er legt Socken zusammen und spitzt unsere Farbstifte. Zwischendurch musste er immer wieder einmal nach Hermagor, aber lieber ist er zu Hause. Als er das erste Mal wieder nach Hause kam, war ich geschockt und dachte: „Jetzt wird er nie wieder gehen können!“ Aber heute geht er wieder wie ein Einser. Jeden Tag nimmt er den Rollator und unsere Oma geht mit ihm spazieren. Er kann jetzt auch schon zwei Stunden allein zu Hause bleiben. Ich mag es gerne, wenn ich von der Schule nach Hause komme, und er sitzt in der Küche. Manchmal spiele ich mit ihm einen Schnapser. Meistens gewinnt er, aber ich werde immer besser und bald hat er keine Chance mehr, mich zu besiegen. Wenn ich hier aufzählen würde, was er jetzt noch alles machen kann, würde ich morgen noch da sitzen. Deshalb lasse ich es lieber. Ich bin froh, dass mein Opa bei uns am Hof lebt, mittendrin. Hier ist er zur Welt gekommen und aufgewachsen. Hier hat er sein Leben verbracht. Hier ist sein zu Hause. Er gehört an keinen anderen Ort.
Evelin Glanzer, 11 Jahre
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„Das Einzige für mich ist meine Frau“ Familie Loderer Im Alter mussten Sie mit gewaltigen Veränderungen fertigwerden. Wie kam das? Bei mir war es meine Erblindung und bei meiner Frau der Schlaganfall – das waren gewaltige Veränderungen. Es ist schwer, aber ich habe das angenommen, weil man das ja muss, und mache das Beste draus. Eines Tages in der Früh wachte ich auf und sagte: „Mutti, willst du nicht aufstehen und das Frühstück machen?“ Ich dreh sie zu mir her und sehe, dass sie ganz verzogen ist. Der Arzt sagte, sie hätte um Mitternacht einen Schlaganfall gehabt, da war keine Rettung mehr. Trotzdem leben Sie mit Ihrer Frau zu Hause – warum? Die Ärzte sagten uns, dass es für mich unmöglich wäre, meine Frau nach diesem Schlaganfall zu Hause zu pflegen. Sie legten uns nahe, sie in ein Heim zu geben, aber das kam für mich nie in Frage, weil sie spüren muss, dass sie zu Hause ist. Man hat ja eine ganz andere Verbindung zu seinem Partner als zu einem Fremden. Mein Sohn hat alles getan, um uns Hilfe bei der Pflege zu organisieren, er ist großartig, er kümmert sich sehr um uns. Wie klappt es mit der 24-Stunden-Pflege? Ich habe da gute und weniger gute Erfahrungen, aber es muss gehen. Grundvoraussetzung ist die Liebe zum Pflegen, sonst geht es nicht. Eine Krankenschwester vom Roten Kreuz kommt zweimal täglich, und unser Hausarzt betreut uns regelmäßig. Wie kommen Sie persönlich mit der Situation zurecht? Manchmal verzweifle ich, da ich immer selbstständig war und jetzt so auf Hilfe angewiesen bin. Körperlich bin ich – bis auf die Augen – noch ganz fit und mein Kopf stimmt auch noch. Ich muss noch was machen, das brauche ich. Und meiner Frau kann ich nicht so helfen, wie ich möchte. Ich kann sie nur streicheln, und das mach ich immer wieder. Wie gehen Sie mit der Veränderung Ihrer Frau um? Man muss es annehmen, wie es kommt. Wir haben eine wunderschöne Zeit miteinander verbracht, und von der Erinnerung lebe ich jetzt noch. Die Erinnerungen kann man nicht löschen, davon zehrt man. Das Schönste für mich ist, dass sich der Zustand meiner Frau so gut stabilisiert hat. Wir stützen und tragen uns gegenseitig. Was vermissen Sie an Ihrer Frau jetzt am meisten? Sie ist noch immer die Gleiche, man spürt das. Ich kann zu ihr gehen und meine Hände in ihren warmen Händen wärmen. Wenn ich mich am Abend verabschieden gehe und ihr einen Kuss gebe, dann nimmt sie meine Hand und drückt sie so und will sie nicht auslassen. Kann man sagen, dass Sie mit der schwierigen Aufgabe noch einmal gewachsen sind? Für mich, ja. Das Einzige für mich ist meine Frau. Interview: Renate M. Obud Textbearbeitung: Ulli Schark
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Die Wohnung meines Vaters – ein Universum für sich – in Auflösung! Beim Steigen der unzähligen Stufen gerate ich regelmäßig außer Atem. Die Wohnung meines Vaters liegt im obersten Stockwerk. Das hindert meine Nase nicht, schon im Stiegenhaus den ihr eigenen Geruch zu erahnen. Es ist eine Mischung aus Pfeifentabak, dem Rauch von Zigarillos und seinem unverkennbaren Rasierwasser. Schon als Kind habe ich diesen Geruch geliebt. Und noch heute vermittelt er mir ein Gefühl von Geborgenheit und Verlässlichkeit – und eine wohlige Behaglichkeit. Es ist, als läge hier – hoch oben in der väterlichen Mansardenwohnung – meine Kindheit wie auf tiefem Meeresgrund und beim Betreten der Räume erwacht augenblicklich das Kind in mir. Mein Vater ist ein Lebenskünstler. Auch wenn er nicht mehr die Vorzüge seiner gemütlichen Wohnung genießen kann, so hat er es doch mit der ihm anhaftenden Sturheit beibehalten, jede Sekunde seines Daseins zu genießen. Nach einem folgenschweren Sturz musste er beinahe drei Monate im Spital verbringen. Diagnose: Oberschenkelhalsbruch mit schweren Komplikationen. Ein Klassiker, meinten viele meiner Freunde. „Du wirst sehen, von jetzt an geht’s bergab.“ Doch er hat gekämpft wie ein Löwe. Und er hat den Kampf bestanden. Nun lebt er bereits seit beinahe einem Jahr in einem Seniorenwohnheim. Für mich unvorstellbar, mein Vater, ein Individualist stärkster Prägung und das reglementierte Leben eines solchen vielerorts mit Kunstblumen geschmückten Hauses. Aber der vollkommene Verlust von Mobilität und das Ausbleiben der nötigen Energie, für sich selber zu sorgen, ein hohes Maß an Pflegebedarf und eine nicht mehr enden wollende Rekonvaleszenz haben den dauerhaften Aufenthalt hier notwendig gemacht. Anfangs dachte er, es sei wohl nur für kurze Zeit. Wir aber ahnten, dass es kein Zurück in die Wohnung geben wird. Und seltsamerweise dachte er immer weniger an sie und seine dort gehorteten Schätze: seine Blumen, die vielen Bücher und unzähligen Pfeifen. Die Vorzüge des Seniorenwohnhauses, ein sonniges Zimmer mit barrierefreiem und angenehmem Ambiente, aber auch seine alten, schmerzenden Knochen und ein rapid schwindendes Kurzzeitgedächtnis, haben gesiegt. Mein Vater will neuerdings da bleiben und nicht mehr zurückkehren in seine Wohnung. Hat nun seine Vernunft gesiegt? Hat er – wohl oder übel – klein beigegeben? Oder fühlt er sich hier wirklich bereits wohler als in seiner vertrauten Wohnung? Wir wissen es nicht, was die eigentlichen Gründe für seinen plötzlich geäußerten Entschluss waren, aber wir – meine „kleine“ Schwester und ich – sind erleichtert darüber und froh, dass unser Vater diese schwere Entscheidung nun aus eigenen Stücken und ohne unser besorgtes Drängen getroffen hat. Aber er konnte sich trotzdem lange nicht zur Auflösung seiner geliebten Wohnung entscheiden. Wir argumentierten mit den monatlich anfallenden Kosten und dass das Geld für andere, das Leben erleichternde Dinge besser investiert sein könnte. Er wollte davon nichts wissen. Es dauerte, und er nahm sich wohl die Zeit, die er für den Entschluss brauchte, endgültig Abschied von seinem schönen, langjährigen Heim zu nehmen. Von einem Tag auf den anderen gab er uns „grünes Licht’“ und nun ist seine Wohnung – nicht überstürzt, aber doch in langsamen Schritten – zu räumen, aufzulösen und an die Eigentümer zu übergeben. Das wird keine leichte Arbeit. Ich habe in dieser Wohnung viele schöne und intensive Stunden mit meinem Vater verbracht. Es ist, als würden an den Wänden noch Reste unserer Gesprächsfetzen kleben. Über vierzig Jahre hat er hier gewohnt. Ich war siebzehn, als sich unsere Eltern scheiden ließen. Unsere Mutter war damals zutiefst verletzt und lastete unserem Vater alle Schuld am Misslingen ihrer Ehe an. Und sie erschwerte uns Kindern den Zugang zu ihm. Das war ihre verzweifelte Art, mit der Katastrophe umzugehen. Ich habe mich
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damals nicht beirren lassen und ihrer Sicht der Dinge meine ganz eigene hinzugefügt. Und im Laufe der allzu schnell vergangenen Jahre um den Kontakt zu meinem Vater gekämpft. Zugegeben – anfangs hinter dem Rücken der Mutter, die es nicht ertragen hätte, dass wir Kinder ihm nicht auch übel nehmen, was er allein ihr angetan hat. Ich habe damals, mit meinen zarten siebzehn Jahren begriffen, dass es beide waren, die ihrer Ehe keine Zukunft mehr geben konnten, dass beide viel Öl ins Feuer gegossen haben und dass es niemals nur die Schuld meines Vaters allein war, dass unsere Familie zerbrochen ist. Vielleicht war ich auch ein Vaterkind? So vieles habe ich mir von ihm abgeschaut. Seine Liebe zu Büchern, zur Literatur, seinen unverwechselbaren Lebensstil, seinen Freiheitsdrang bei gleichzeitigem Sinn für Ordnung, seine unerschütterliche Disziplin. In Diskussionen war stets sein Freigeist zu spüren, gepaart mit einem tiefen Wissen um die Notwendigkeit von auferlegten Regeln für ein gelungenes Zusammenleben. Trotz dieser Weisheit war sein Leben voller Widersprüche und Unzulänglichkeiten, die auch uns mit einschlossen. Er hat um seine Kinder und Enkelkinder nie wirklich gekämpft und er hat den von unserer Mutter für ihn bestimmten Platz – sehr am Rande des familiären Geschehens – hingenommen und sich hinausdrängen lassen. Nun gut, vielleicht hat er das alles nicht einfach hingenommen, vielleicht auch hat er resignierend diese Außenseiterrolle akzeptieren müssen. Aber für uns ist er lange Zeit aus dem Familienverband herausgefallen, und er fehlte sehr. Meiner kleinen Schwester noch mehr als mir, die zum Zeitpunkt der Ehescheidung erst neun Jahre alt war. Besonders schmerzhaft erschien uns dabei die Tatsache, dass er als Heilpädagoge seine ganze Kraft und Liebe damals milieugeschädigten Kindern schenkte und es wohl besser hätte wissen müssen als andere geschiedene Väter anderer beruflicher Provenienzen, wie sehr seinen Töchtern der Vater fehlen musste. Nach langen Jahren räumlicher Distanz durch Heirat und Auslandsaufenthalt war es mir nach meiner Rückkehr wichtig, die gewohnte Nähe zu ihm und seiner Wohnumgebung wiederherzustellen. Die geografisch große Entfernung und meine Erfahrungen in einem fremden Land machten mir klar, dass er mich für ein selbstbestimmtes und bewusstes Leben wahrlich gut ausgestattet hat. Das Nachhausekommen zu ihm und in seine Wohnung fühlte sich an, als würde ich neuerlich lange unbetretenes Kindheitsterrain wiedererobern und zurückgewinnen. Es war immer schon der Geruch, der in mir Vergangenes wach gerufen und Kindheitsträume an die Oberfläche gebracht hat. Seine Art, eine liebevoll ausgewählte Pfeife zu stopfen, ja überhaupt erst den Tabak dafür auszuwählen, war ein Ritual. Es war oftmals nicht einfach ein im Tabakladen gekaufter, sondern ein nach seiner speziellen Rezeptur gemischter Pfeifentabak. Dabei durfte ich ihm als Kind mit meinen noch ungeschickten Fingern helfen, die Tabakfäden gut zu vermischen und das Resultat in dafür bereitgestellte Dosen zu verstauen. Ganz oben wurden – je nach Jahreszeit – Orangenschalen oder Apfelspalten zur Erhaltung der Feuchtigkeit gelegt. Der Geruch frisch-feuchten Pfeifentabaks gehört zum Feinsten, was meine kindliche Nase je eingesogen hat. Nie anfreunden konnte ich mich allerdings mit dem Zigarettenrauch stärkster Sorten. Aber ich habe auch nie dagegen protestiert, womit ich mir allenfalls den Ärger mit mir selber eingebrockt habe. Zu sehr respektierte ich den Vater. Seine Pfeifensammlung liegt bei weit über 200 an der Zahl. Viele davon hat er selber „geschnitzt“ und mithilfe eines ausrangierten Zahnarztbohrers schöne, genoppte Oberflächen entstehen lassen. Das Beizen einer einmal fertigen Pfeife ergab einen ganz eigenen Geruch, der danach lange in den Räumen hing. Und das erstmalige sogenannte Einrauchen eines neuen Stückes wurde ebenso zelebriert und dabei der Innenraum der Pfeife zuvor mit
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hochprozentigem Alkohol eingelassen. Natürlich benötigt ein Pfeifenraucher spezielle Aschenbecher und ich sehe noch vor mir, wie er behutsam eine Pfeife darin abstellt, sie zuvor aber vorsichtig ausklopft und reinigt. Es sind dies Tätigkeiten, die er mit Ruhe und Achtsamkeit ausübte und aus denen ich in meiner langen Kindheit mit großen Augen beobachtet habe, wie man an Dinge herangehen, mit ihnen umgehen kann. Später wurde ich anlässlich eines Sardinienurlaubs beauftragt, ein schön gefasertes Pfeifenholz, gewonnen von den Wurzeln der dort wachsenden struppigen Macchiasträucher, mitzubringen. Sardinien ist berühmt für seine schönen Pfeifenhölzer, wurde ich aufgeklärt. Und es war für mich eine Ehre der besonderen Art, eine Einführung in die schönsten gemaserten Linien im Holz zu erhalten, wenn auch der Auftrag schlussendlich unerfüllt bleiben musste, da wir dort vergebens nach einem Pfeifenholzhändler suchten. Wenn man das Wohnzimmer betritt, dominieren zwei Dinge den Raum – Bücher und Pfeifen. Ob nun im Fall meines Vaters die Bücher den Pfeifen – oder aber umgekehrt – die Pfeifen den Büchern den Vorrang abringen, ist schwer zu sagen. Für mich bildeten diese beiden – schon von Kindheitsbeinen an – eine unzertrennliche Einheit. Auch weil mein Vater nicht nur viele seiner Pfeifen selber hergestellt und damit viel Zeit in dieses Hobby investiert hat, sondern auch weil er ein Meister des Bücherbindens war. Diese Kunst hat er sich selber angelernt. Nein, richtiger, er hat sie sich bei einem Buchbinder der Stadt abgeschaut und dann für sich meisterhaft vervollkommnet. Dafür wurde echtes Pergament und feinstes Leder in den verschiedensten Farben verwendet. Der Buchschnitt wurde – jeweils passend – mit Farbe koloriert und die in Arbeit befindlichen Werke für bestimmte Zeit in Pressen gezwängt, die, sperrig, wie sie waren, wenn man nicht aufpasste, Risse in den Nylonstrümpfen verursachten. Nicht nur wertvolle Bücher – meist aus dem Antiquariat oder vom befreundeten Buchhändler geschenkte Leseexemplare neu erschienener Romane – wurden gebunden, sondern auch Märchenbücher, mein Poesiealbum und mein Tagebuch. Letzteres musste ich selber heften und schneiden lassen. Auf der Vorderseite malte mein Vater mit Tusche und Feder meine damaligen Initialen. Ein Meisterwerk, das ich in all den Jahren in alle meine Behausungen mitschleppte. Was aber wären die unzähligen Bücher ohne die Kunst des Lesens? Diese hohe Kunst habe ich mir von meinem Vater im wahrsten Sinne des Wortes „abgeschaut“ – und folgerichtig war mein Erstberuf der einer von Literatur besessenen Buchhändlerin. Mein Vater hat freilich dabei etwas Schicksal gespielt und mich damals beim Finden einer geeigneten Lehrlingsstelle unterstützt. Vielleicht nicht ganz uneigennützig? Was soll’s?! Schön waren später die gemeinsamen Leseerlebnisse. Der Austausch über Autoren und deren neu erschienene Buchtitel. Schön noch heute diese gelebte Gemeinsamkeit, auch wenn mein Vater seit seinem langen Krankenhausaufenthalt kein Buch mehr in die Hand nimmt. Trotzdem besteht er darauf, dass wir alle seine Bücher in die kleine Seniorenwohnung übersiedeln. Das wird eine Herausforderung und ein nicht geringer Teil seiner Schätze wird wohl aus Platzmangel in Schachteln in seinem Kellerabteil dort landen müssen. Da ist es schon leichter, seine Pfeifensammlung in seinem neuen Heim unterzubringen. Denn auch diese wird nun vollständig dorthin übersiedelt. „Die müssen alle mit“, war seine klare Antwort auf unsere bange Frage: „Und die Pfeifen?“ Seine Lieblingsbilder wurden bereits vor einigen Monaten von den Wänden entfernt und in seinem schönen, neuen Zimmer aufgehängt. Das hat – so hoffen wir – sein Ankommen und Einleben im Seniorenwohnheim unterstützt und den Räumen dort ein bisschen seinen ureigenen Charakter und Anstrich verliehen. Die Bücher und Pfeifen werden das ihre tun und die Behaglichkeit und Wärme seiner alten
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Wohnung hoffentlich auch hierher bringen. Indessen schaut es in der alten Mansardenwohnung immer trauriger aus. Sie ist wie eine verlassene Geliebte. Die Wände sind kahl, nur die Ränder der abgehängten Bilder verraten noch, dass hier einmal ein Bild hing. Die Buchstellage zeigt noch die Schmutzränder der jahrelang dort gelagerten Bücher und die einstmals mit unzähligen Pfeifen gefüllten und mit Samt ausgelegten Laden zeigen gähnende Leere und so manche Krume getrockneten Tabaks. Im Abstellraum, in dem noch alle Werkzeuge für seine nun zwangsläufig auf Eis gelegten Hobbys lagern, stehen auch noch eine Menge ausgedienter Blumentöpfe – er war ein liebevoller Gärtner und stutzte eine Zimmerpflanze niemals zurecht, sondern ließ sie ins Uferlose wachsen. Er ließ ihnen ihren Willen und verriet mir nicht nur einmal, dass sie eben allesamt auch Lebewesen seien. Ansonsten bringt dieser Raum den Beweis dafür, dass er unter anderem auch ein notorischer Sammler war. Joghurtbecher stapeln sich heillos übereinander und unzählige Plastiksäcke ergänzen das Sammlersortiment. Hier lebt die Devise: Weggeworfen wird nichts. Diese Haltung wird uns beim endgültigen Räumen noch viel Muskelkraft abverlangen. Ich frage mich des Öfteren, wie es wohl meinem Vater dabei geht, nun die Auflösung seines Jahrzehnte währenden Lebensraums, dem er so sehr seinen ganz persönlichen Stempel aufgedrückt hat, miterleben zu müssen. SEINE Wohnung, sein Domizil, sein Universum wird zerstört. Er geht tapfer an diesen Abschied heran, wenngleich er den letztendlichen Zeitpunkt der Übergabe noch hinauszögert. Was ökonomisch zweifelsohne unklug ist. Aber kann bei einem solchen Schritt von Klugheit oder Dummheit überhaupt die Rede sein? Bei meinen letzten Besuchen im Seniorenwohnheim machte ich eine Entdeckung: Beim Öffnen der Tür dringt ein mir eindeutig vertrauter Geruch in meine Nase. Der Rauch von Zigarillos und ein ganz bestimmtes Rasierwasser liegen in der Luft und im Raum. Ein Grund mehr, mein Gefühl kindlichen Heimkommens weiterhin am Leben zu erhalten und an diesen Ort zu verlagern.
Eleonore Köck
Die Wohnung meines Vaters
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Im Pflegeheim Gedanken und Reflexionen von Martin Knopper, Altenpfleger.
Was ist wichtig in der Pflege? Wenn du nur das Essen ausgibst und einen alten Menschen körperlich betreust, ist das zu wenig, denn er sehnt sich in seinem letzten Abschnitt noch mehr nach wahrhaftiger Geborgenheit, die er vielleicht in seinem früheren Leben niemals so gehabt hat. In den Pflegeheimen wird oft gar nicht daran gedacht, wie wertvoll persönliche Wärme und persönliche Beziehungen für die Qualität des Ganzen sind. Körperliche Nähe Menschen, die in einem Pflegeheim leben, erfahren oft nur durch ihre Betreuer menschliche Nähe, wenn sie sich umarmen oder liebevoll ihre Hände halten. Es wird oft eine intensive Bindung aufgebaut, die für alte Menschen wertvoller ist als die Bindung zur eigenen Familie. Die Familie ist in vielen Fällen weniger dazu in der Lage, diese Nähe auszuhalten, als professionelle Pfleger. Die Menschen werden wieder selbstständiger, wenn sie sich geistig wohlfühlen. Dann entsteht auch wieder das Bedürfnis, sich schön zu machen. Frau K. trägt wieder Ohrringe oder legt ein Parfum auf, sodass sich ihre weibliche Sexualität wieder entfalten kann, die in jedem Menschen bis ins hohe Alter da ist. Damit sich der alte Mensch nicht nur als ein Objekt fühlt, sondern als eine Frau oder als ein Mann. Weisheit Wir müssen erkennen, dass das Altsein ein wahrhaftiger Teil des Lebens ist, so wie die Kindheit. In unserer Wegwerf- und Verbrauchergesellschaft sagen wir: Du bist eh schon verbraucht, dich kann ich nicht mehr brauchen. Dass ein alter Mensch aber noch Botschaften für unsere Gesellschaft bringt, sehen wir nicht. Viele alte Menschen können ein Vorbild sein. Sie zeigen, wie man etwas ertragen kann, von dem ein anderer sagen würde: Das ist nicht mehr lebenswert. Gesellschaft Wir, die Gesellschaft, dürfen das Problem der Pflege nicht an eine höhere Instanz abschieben. Die Gesellschaft ist der Träger der Politik, wir – jeder Einzelne – sind dafür zuständig.
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Alt Die rüstigen Alten reisen und führen ein schönes, unbeschwertes Leben. So wird uns oft ein verzerrtes Bild präsentiert. Alle Werbeeinschaltungen, der ganze Medikamentenboom, die geben uns eine falsche Wirklichkeit. Der Weg des Altwerdens ist mit vielen tiefen körperlichen und emotionalen Erfahrungen verbunden, denen wir uns alle einmal stellen müssen. Hilfe annehmen. Ja. Du musst lernen, Hilfe anzunehmen. Würde Manche Pflegeheime funktionieren wie „Pflegefabriken“. Da darf ein Mensch nicht einmal mehr selbst essen, obwohl er dazu in der Lage wäre, weil die Bettdecke dreckig werden könnte, und der Pfleger müsste sie dann neu beziehen. Um vier Uhr früh beginnt die Morgenpflege, weil das Personal fehlt. Die Frage der Lebensqualität stellt sich da gar nicht mehr. Der Mensch wird in das System integriert, er wird nur noch als Objekt wahrgenommen, das zu putzen ist. Da fehlt das „Menscheln“, der menschliche Anteil, der unserem Leben trotz widrigster Umstände Sinn gibt. Geben und Nehmen Dieses Geben und Nehmen. Ich gebe dir meine Hilfe, die du brauchst, und du gibst mir etwas aus deinem Leben, und wenn es nur ein Wort ist oder eine Geste oder das Vertrauen. Materiell hat der alte Mensch oft nichts mehr. Er ist bis auf sein Nachthemd nackt. Pflege als Beruf Leicht hat man es nicht, wenn man sich entschließt, den Beruf als Pfleger in einem Pflegeheim auszuüben. Vieles kommt auf dich zu, nicht nur das Erlernen von physiologischen und pathologischen Grundlagen und die daraus resultierende pflegerische Maßnahme. Es tauchen Fragen auf, die Glaubensfrage, die Sinnfrage, die Leidfrage, das Altern, der Tod, die Differenzen zwischen Jung und Alt. Du kannst nicht alles so hinnehmen und sagen: Da wird gestorben! Du musst darüber nachdenken. Du musst lernen, damit umzugehen. Ich würde in der Ausbildung der Pflege mehr menschliches Verständnis lehren. Meine Arbeit ist erfüllend, wenn jemand sagt: „Du bist ein guter Kerl.“ Und du bist nicht nur ein guter Kerl, weil du es sein musst, sondern weil du es sein willst.
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Lebensfreude JETZT Der eine versinkt im Selbstmitleid und jammert – und der andere sagt: „Jetzt geh ich’s an!“ Frau O. hat mich gerufen, dass sie Kekse haben will, weil sie auch früher immer gern welche gegessen hat. Obwohl sie kaum mehr greifen kann, bekam sie von mir eine kleine Schüssel, in ihr Bett und sie hat die Kekse mit ihren schwachen Fingern herausgeholt. Oft hat sie ins Leere gegriffen, aber wenn sie dann ein Keks erwischt und gegessen hat, war das für sie ein Erfolg: Lebensfreude JETZT. Als Frau K. in unser Haus kam, war sie eine verlorene Seele. Sie hat nur noch existiert und vegetiert. Ich habe mich ihrer angenommen und versucht, sie dort abzuholen, wo es noch etwas gibt für sie. Nach dem Tod ihres Mannes ist sie viel gereist, sie hatte alle Fotoalben ihrer Reisen mitgebracht. In jedem meiner Nachtdienste haben wir uns zusammengesetzt und diese Alben angeschaut. Das war eine heftige Arbeit und ein langwieriger Prozess. Sie hatte früher ein Schreibbüro und interessierte sich für Literatur und Theater. Deshalb habe ich ihr eine Schreibmaschine besorgt, und jetzt schreibt sie Gedichte ab und dichtet auch selber welche. Bei ihr hat es gewirkt, sie ist immer lebendiger geworden und sie braucht nicht mehr meinen unmittelbaren Ansporn. Sie geht wieder spazieren, singt im Chor und trägt wieder Ohrringe. Sie ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie man einen Menschen wieder selbstständig machen kann, aber das erfordert Empathie – auch die Verbindung zwischen uns hat gestimmt. Dadurch ist sie wieder eine feine, adrette Frau geworden. Liebe und Sexualität im Alter Wärme, Liebe, Geborgenheit, ehrliche Berührung – alte Menschen brauchen das genauso, wie wir es brauchen. Herr A. und Frau E. haben sich vor 20 Jahren im Strandbad kennengelernt. Hier im Altersheim haben sie einander wiedergefunden. Beide sind verwitwet. Er lebt selbstständig, sie ist bei uns auf der Pflegestation. Er kommt sie jeden Nachmittag für eine Stunde besuchen, dann gehen sie spazieren und halten sich an der Hand. Diese Bindungen sind so wichtig und es ist schön, wenn man sieht, wie Liebe und Sexualität im Alter funktionieren. Wir hatten einmal ein Paar, die kuschelten sich ins Bett. Er sagte zu mir: „Das Mausen, das ist nicht mehr so, wie du dir das vorstellst. Bei mir geht das nicht mehr, weil ich da unten ja ein Sackale (Katheter) habe. Aber du kannst dir nicht vorstellen, wie schön das ist, wenn sie bei mir liegt!“ Volle Scheunen Die vollen Scheunen der Vergangenheit von Viktor Frankl sind für mich ein schönes Bild. Es ist unsere Aufgabe, unsere Scheunen mit Leben zu füllen, um im Alter daraus Kraft zu ziehen, um diese Zeitspanne, diesen schweren Lebensweg, auch noch leben zu können. Herr K. zog immer mit Zirkussen umher, er schlief im Bärenkäfig, eine Familie hatte er nie. Vor 25 Jahren kam er hierher ins Haus, zuerst als Sozialfall. Meine Kolleginnen wurden zu seiner Familie. Als es zu Ende ging mit ihm, schrie er immer, er wollte Aufmerksamkeit, die Vergangenheit holte ihn ein. Er verhielt sich wie ein kleines Kind – ich brauch dich. Herr K. ist verzweifelt gestorben, er hatte nichts, seine Scheunen waren leer geblieben.
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Glaube Ich habe einmal eine Frau gefragt, die immer den Rosenkranz gebetet hat, ob sie sich dadurch näher bei Gott fühlt. Und sie sagt: „Eigentlich nicht, aber mir ist immer gesagt worden, ich muss das machen. Deshalb tu ich es weiter.“ Der Glaube kann aber auch ein Halt, ein Anker sein, wie für Frau E. Ihre Madonna wird immer abgebusselt, dann fällt sie hinunter, und ich muss sie aufheben. Wie oft habe ich sie schon aufgehoben und zusammengeklebt! Und ihren Rosenkranz habe ich ihr auch schon zusammengenäht. Wie sie sich gefreut hat, dass er wieder ganz war. Sich einbringen Ein Problem ist das behütende Pflegen. Pflegen, ohne einen Sinn zu stiften, bringt nichts. Die Menschen vereinsamen immer mehr. Täglich die frischen Handtücher aus der Wäscherei zusammenzulegen, wie es Frau G. macht, obwohl sie sich schwer tut, kann ein Höhepunkt sein. Es muss uns jungen Menschen erst klar werden, mit welchen kleinen, scheinbar unwichtigen Dingen alte Menschen Lebensqualität erfahren und das Gefühl haben, gebraucht zu werden. Ich akzeptiere lieber Langeweile im Alter als Zwangsbeglückung durch kindliches Basteln, Malen und Händeklatschen. Das ist eine Verhöhnung des Alters. Ich würde früh genug anfangen, die Menschen durch Arbeit oder Gespräche zu reaktivieren. Sie wollen nicht unterhalten, nicht belustigt werden. Sie sollen integriert sein. Am Leben sein. Selbstdisziplin Ein alter Mensch braucht ein enormes Maß an Selbstdisziplin, sonst „verlottert“ er. Diejenigen, die es schaffen, trotz widriger Umstände auch im Alter diszipliniert zum Leben zu stehen, leben besser. Das selbstständige Gehen oder Essen ist für viele alte Menschen oft die einzige Möglichkeit, ihr eigenes Leben zu leben und nicht fremdbestimmt zu sein. Man tut Menschen nicht immer etwas Gutes, wenn man ihnen die ganze Last, die sie zu tragen haben, abnimmt. Denn wenn ich selbst nichts mehr tun kann, bin ich gestorben, bevor ich tot bin. Mit Lebensqualität alt werden Viktor Frankl spricht von der „Trotzmacht des Geistes“. Viele alte Menschen wollen sich nicht in ein System einfügen, das wir ihnen vorgeben. Wir müssen sie dabei unterstützen, wie sie leben wollen und können. Sie sind viel zufriedener, wenn sie – auch unter enormer Anstrengung – etwas erreichen, was für uns eine Kleinigkeit ist. Für Frau P. zum Beispiel ist es eine große Anstrengung, von der einen Seite des Ganges zur anderen zu gehen, aber sie wird sich niemals in einen Rollstuhl setzen. Und deshalb lebt sie mit jener Lebensqualität, die sie sich vorstellt – auch im Pflegeheim. Menschen mit der „Trotzmacht des Geistes“ können sich bis zum Tod ihre bescheidene Lebensqualität erhalten und können sagen: Mein Leben habe ich gut und selbstbestimmt gelebt.
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Ruhe Schon unsere Kinder möchten wir überbehüten. Machen wir das auch bei den Alten? Erdrückt das nicht? Vielleicht wollen sie manchmal auch allein gelassen werden. Alte Menschen wollen nicht immer beschäftigt werden. Sie wollen auch ihre Ruhe haben, einfach nur dasitzen dürfen und nichts denken. Der Mensch muss ja ruhig werden, es ist der letzte Lebensabschnitt, er muss sich zurückziehen können, auch wenn es für uns trostlos aussieht. Man kann Menschen auch einfach lassen, wenn sie damit zufrieden sind. Alte Menschen wollen nicht nur unterhalten oder belustigt werden. Sie wollen integriert sein. Sie wollen am Leben sein und daran auch teilhaben. Sein Leben in die Hand nehmen „Ohne Liebe geht es nicht. Das muss einfach sein“, sagt Frau R. Dabei ist das Leben gar nicht so gekommen, wie sie es sich gewünscht hat. Trotzdem hat sie nie ihre positive Einstellung verloren. Sie war ein lediges Kind, wurde immer wieder abgeschoben und schlecht behandelt. Sie hat nie geheiratet und sich ein Leben lang geschunden. Aber sie hatte ihren Garten, die Natur, die Bücher, Ausflüge ins Strandbad oder ins Bodental. Diese scheinbar kleinen Dinge hatten in ihrem Leben einen hohen Wert. Von diesen Erinnerungen lebt sie jetzt. „Ich tät’ ja so gern sterben, aber ich kann nicht. Ich bin nämlich so neugierig!“ Angehörige Ich bin der Meinung, Angehörige müssen zur Zusammenarbeit verpflichtet werden. Sie müssen einen Beitrag leisten, damit die menschliche Zuwendung durch sie erhalten bleibt. Nicht im Sinne pflegerischer Tätigkeit. Es gibt Dinge, die kann ein professioneller Pfleger nicht machen – und sei es einfach „nur“ das Dasein einer Tochter, eines Sohnes, eines vertrauten Menschen. Neben der professionellen Pflege gibt es auch die Pflege, die wir intuitiv können, weil wir Menschen sind. Diese menschliche Pflege kann jeder durchführen: einen Spaziergang machen, eine Geschichte erzählen, ein Buch vorlesen, über das Leben oder die Familie reden.
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Abschied und Sterben Man muss sehen, dass das Menschsein auch die Seite des Sterbens hat. Es ist ein Schatz, zu erkennen, wie sich jemand darauf vorbereitet. Die Bilder zeigen einen Menschen im letzten Stadium der Demenz. Frau K. liegt im Bett, sie kann sich nicht mehr artikulieren, nichts mehr tun. Falsch betrachtet, ist es ein schlimmes Bild. Aber was in dem Menschen vor sich geht, können wir nicht entscheiden. Wir müssen ganz ehrfürchtig zu ihm stehen und ihm alles geben, damit er sein Dasein tragen kann. Jeder Mensch ist in der Lage, sein Leid zu tragen, nur die Schmerzen müssen wir ihm nehmen. Und wir können von ihm etwas lernen: Ich kann mein Schicksal selbst tragen, ich bitte euch um Hilfe, damit es leichter wird. Einen Menschen in Ruhe seinen Weg gehen lassen. Wenn das gelingt, ist auch das Pflegeheim ein guter Platz zum Sterben. Annehmen, hingeben. Sterbehilfe Aktive Sterbehilfe lehne ich ab. Wenn jemand den Wunsch äußert, sterben zu wollen, ist das oft nur ein Hilfeschrei. Das ist die falsche Lösung und jemanden aktiv zu töten ist für mich unvorstellbar. Ich bin allerdings für passive Sterbehilfe. Jemandem eine Magensonde nicht zu geben und ihn den Weg des Sterbens gehen zu lassen, ist für mich eine legitime Sache, wenn er nicht mehr essen kann. Nicht mehr essen zu können, das ist für mich ein Zeichen: Der Mensch möchte sein Leben jetzt ausklingen lassen. Jeder Mensch hat das Recht, sein eigener Richter zu sein, selbst wenn er sich das Leben nimmt. Der Mutigere ist für mich aber der, der seinen Rucksack nimmt und sagt: Ich weiß nicht genau, was auf mich zukommt, aber das ist jetzt mein Leben und das will ich leben. Ich sehe jene Menschen als Denkmäler, die sich auch mit letzter Kraft noch entscheiden, den Weg weiterzugehen. Mit allem, was sie noch in Kauf nehmen müssen.
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Abschied Die Diagnosen Alzheimer oder Demenz sind oft ein schwerer Schlag für die Betroffenen und deren Angehörige. Man fürchtet sich vor der Ungewissheit des schleichenden Vergessens. Wenn wir nicht am alten, bestehenden Menschenbild festhalten und uns auf die jetzt notwendige Situation einstellen, dann nimmt das die Angst und man kann seine Eltern, so wie sie sind, akzeptieren und lieben. Ich weiß, es ist leichter gesagt als getan. In meinem Beruf als Pfleger habe ich schon viele Rollen gespielt. Ich war Bruder, Liebhaber, Verbrecher, Ehegatte oder Knecht. Manchmal ist es wie ein Ausflug in eine komische Szene im Theater. Wenn Frau O. sagt, ich sei jetzt der Cousin, dann bin ich es. Ich kann ja nicht jedes Mal sagen, dass ich es nicht bin, sie wird dann zornig auf mich. Sie hat ihre Fantasiewelt, kommt zurück in die Wirklichkeit und geht auch wieder.
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Martin Knopper Ja, Goldschmied wollte ich nicht mehr sein. Ich habe zuerst in Klagenfurt gearbeitet, bei einem Künstler, da habe ich selbstständig arbeiten gelernt und mir selber viel beigebracht. Mit 18 Jahren bin ich nach Graz in eine Schmuckfabrik gegangen. Und dann hab ich mir die Sinnfrage gestellt. Ich bin damals immer schon nebenbei mit der Rettung mitgefahren. Da habe ich prägende Erlebnisse gehabt, eine Zwillingsgeburt im Rettungsauto und Tod und Teufel und Menschen, die schon eine Woche irgendwo verwahrlost drinliegen und tot sind oder auch noch nicht. Auch viel Nicht-Actionreiches war dabei – ich habe ja 2000 Ausfahrten gehabt. Ich bin dann zu einem Computertechniker gekommen, den kannte ich schon von meinem Sport, und dort hab ich mit Netzwerktechnik begonnen, ein kompletter Umkehrschwung. Aber ehrenamtlich bin ich immer mit dem Roten Kreuz gefahren. Das habe ich fünf Jahre lang gemacht, und es war unbefriedigend. Ich habe mich hochgearbeitet, die steirische Landesregierung vernetzt, trotzdem habe ich mir die Frage gestellt: Was mach ich da wirklich? Und dann habe ich mir gesagt: den alten Weibalan im Rettungsauto was geben, und wenn es nur in den 10 Minuten ist. Das Klischee „Rettung“ ist zu notfallbehaftet. – Das meine ich nicht. Und ich habe beschlossen, ich hör auf mit meiner Arbeit als Netzwerktechniker – wo ich vielleicht etwas mehr verdient habe. Ich habe mit der Pflegeschule in Graz angefangen und dort hatte ich dann große Probleme mit meiner Goschn und mit meiner Sichtweise und meinem Temperament. Sie haben mit klipp und klar gesagt: Du bist unfähig für den Beruf. Ich habe dann in Graz bei einem Pflegeheim angefangen, aber dann bin ich wieder nach Kärnten zurückgegangen und habe ein Jahr in einem privaten Pflegeheim gearbeitet. Das ist eine Fabrik. Dort will ich nicht arbeiten. Viel schlimmer war es dann danach in einem anderen privaten Pflegeheim, das war für mich die schlimmste Erfahrung. Ich kündigte meine Arbeit und fing dann in einem städtischen Pflegeheim zu arbeiten an und konnte dort anfangs wunderbar mein soziales Engagement umsetzen. Jetzt kann ich so arbeiten, dass es auch für mich befriedigend ist, und ich muss nicht sagen: Ich habe maximal 10 Minuten für dich.
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Gletscherhahnenfuß Von einer Bewohnerin habe ich das wunderschöne Buch „Der Gletscherhahnenfuß“ von Bischof Reinhold Stecher geschenkt bekommen. Der Gletscherhahnenfuß ist ein zartes, weißes Blümlein mit goldenen Staubgefäßen, ein Lebenskünstler, der bis hinauf auf lebensfeindliche 4000 Meter blüht und gedeiht, selbst wenn er jahrelang unter meterhohem Schnee in einer Felsritze verborgen schlummert. Und dann kommt die Sonne und der Schnee schmilzt, der Gletscherhahnenfuß regt sich und bildet kleine, unscheinbare Blüten. Diese unscheinbare Blume nutzt das Kleinklima der Felsritzen und fängt jeden Sonnenstrahl auf. Der berühmte Enzian schafft das nicht. Der Gletscherhahnenfuß ist ein „Trotzdemblüher“, er trotzt diesen widrigen Verhältnissen und sagt: „Ihr seid mir egal, irgendwann kommt wieder die Sonne und dann habe ich meine kleinen unscheinbaren Blüten.“ Das ist eine schöne Geschichte für die Alten und für mich.
Interview: Renate M. Obud Textbearbeitung: Ulli Schark
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Das Alpha und das Omega Ein alter Mensch braucht Zeit, um sich auf Alltägliches neu einzulassen. Sein Umfeld muss respektvolle Geduld aufbringen, um zu erklären oder um Fortschritte zu loben. Ich fühle mich meiner Mutter seit jeher stark verbunden. Nach dem plötzlichen Tod meiner Schwester erlitt sie einen schweren Herzinfarkt und übersiedelte aus eigenem Entschluss in ein Seniorenheim. Sie war zu jenem Zeitpunkt bereits verwitwet und litt unter der Einsamkeit in unserer mittlerweile viel zu großen Wohnung. Im „Betreuten Wohnen“ genoss sie dann 11 Jahre lang das Dasein in einem überschaubaren Lebensraum und in der Gemeinschaft von Gleichaltrigen. Wie alles im Leben sich ändert, ließ ihre Lebenskraft nach und erste ernst zu nehmende körperliche Signale leiteten die nächste Phase ein. Vermehrte Herzbeschwerden, plötzliches Aussetzen des Atems und wiederholtes Kollabieren machten eine Übersiedlung auf die Pflegestation so rasch wie möglich notwendig. Zunächst verblieb sie noch eine Zeit lang in ihrem Appartement, denn der Ausbau der Pflegestation im Hause war erst in der Abschlussphase. Das „Betreute Wohnen“ sieht jedoch den Einsatz einer Nachtschwester nur im absoluten Notfall vor und im Akutfall vergeht ziemlich Zeit, bis es zu einer Erstversorgung kommt. Also ließ ich mir ein Notbett einrichten und machte ein Vierteljahr „Nachtdienst“. So konnte ich meiner Mutter die Angst nehmen und sicherstellen, dass sie besser betreut ist. Dann kam es zur Übersiedlung und meine Mutter rebellierte gegen die fremde Umgebung und die vielen neuen Pflegerinnen, die täglich wechselten. Sie vermochte nicht sich zurechtzufinden und wollte auch nicht wahrhaben, dass sie nicht mehr so leben konnte wie früher. Das Sprichwort „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“ fiel mir ein. Es stimmt, dachte ich und versuchte, ihr so gut ich konnte beizustehen. Immer wieder versagten ihr ganz plötzlich die Beine und mit der Zeit musste sie akzeptieren, dass selbst der Rollator, ihr „Hausfreund“, wie sie ihn nannte, keine verlässliche Stütze mehr bot. Sie blieb tapfer. Bald konnte sie nicht mehr alleine von der Bettkante aufstehen und brauchte Hilfe beim Ankleiden, bei der Körperpflege, beim Duschen und Gang zur Toilette, beim Zu-Bett-Gehen. Mit großer Willenskraft versuchte sie alles noch selbst zu schaffen – so wie früher – und kam immer wieder zu Sturz. Oft lag sie dann lange um Hilfe rufend auf dem Fußboden, ehe man sie fand. Diese „Abenteuer“ verliefen zum Glück mehr oder weniger glimpflich. Dann kam sie in den Rollstuhl. Und es tauchte bald ein nächstes Problem auf: die jahrelange Medikamenteneinnahme bewirkte eine so starke Unverträglichkeit, dass sie keine Nahrung mehr zu sich nahm und stark abmagerte. Ich erreichte, dass der Tablettenkonsum auf das Minimum reduziert wurde. Sogleich kam neues Leben in den Körper meiner alten Mutter und es folgte eine Zeit der Fresslust. Die fortschreitende Makuladegeneration verschlechterte die Sehfähigkeit stark und die Hörgeräte in beiden Ohren machten meine Mutter eher nervös, als dass sie damit wirklich besser hörte. Ich besuchte sie fast täglich. Das Spazierenfahren im Rollstuhl genoss sie sehr – ich fuhr mit ihr zum Gemüsemarkt, zum Familiengrab, in das Stadtzentrum, zum See – zu den Orten ihres aktiven Lebens. Als sich neuerlich starke Übelkeit nach jeder Mahlzeit einstellte, wurde die stationäre Aufnahme im Krankenhaus notwendig. Dort kam dann ein Sturz mit angebrochener Schädelbasis hinzu und damit begann eine erste Phase größerer Verwirrtheit. In den folgenden Nächten im Pflegeheim läutete meine Mutter „zu oft“ oder rief „zu lange“ nach ihrer Mama. Die davon betroffene Nachtschwester unterstellte ihr böswilliges Verhalten. Das wollte ich nicht glauben. So beschloss ich, wiederum eine Zeit lang bei ihr im Zimmer zu übernachten, denn ich wollte genauer wissen, was meine Mutter bewegte und welche Hilfe sie nun benötigte. Auch empfand ich das lange Rufen ohne beruhigende Zuwendung als unwürdige Behandlung eines alten Menschen, der eine Phase durchlebt, in der nichts mehr so ist
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wie früher. Meine Mutter hatte aus dieser Unsicherheit heraus in den Nächten große Angst. Sie spürte ihr Ausgeliefertsein. Zu dieser Zeit begann auch ihre Seele, sich zu den Ahnen hin zuwenden und sich an ihnen zu orientieren. Ich übernachtete also auf einer Matratze am Fußboden ihres Zimmers und saß am Tag stundenlang, oft betend an ihrem Bett und begleitete sie in dieser emotional stark belasteten Umbruchphase. Fortan war ihre Persönlichkeit geprägt durch eine Gefühlsmischung aus Früher und Jetzt: das unglückliche Kind in ihr ließ sie immer wieder nach der Mutter, der Großmutter und der geliebten Tante rufen und die Selbstachtung gebot ihr, eine menschenwürdige Behandlung beim Pflegepersonal einzufordern, wenn mit ihr geredet wurde als ob sie grenzdebil wäre. Für alte, von ihrer Umgebung abhängig gewordene Menschen bedeutet ein falscher Umgang mit ihnen großes seelisches Leid. Sie haben körperliche Schmerzen. Sie sind angewiesen auf fremde Hilfe. Sie sind oft verwirrt. Sie fühlen sich nicht ernst genommen. Sie haben keinen „Anwalt“, der für sie einsteht. Sie fühlen sich allein gelassen. Entweder reagieren sie darauf aggressiv oder sie werden apathisch. Vor zwei Jahren wurde meine Mutter ganz bettlägrig. Seither kann sie sich nicht mehr bewegen. Auch die Mahlzeiten müssen ihr verabreicht werden. Sie wurde inkontinent. Wenn ich bei ihr bin, pflege ich sie und entlaste das Pflegepersonal. Ich gehöre quasi zum „Team“. Ich bin so oft wie möglich bei ihr. Dies beruhigt sie und es schenkt uns beiden Freude. Ich gebe ihr Sicherheit. Ich bin die Verbindung zu ihrem früheren Leben. Wir reden über das, woran sie sich noch gut erinnert. Mich interessiert alles und ich frage sie aus über ihr Leben und über das meiner Großeltern und Urgroßeltern. Wir reden und lachen. Manchmal wird sie plötzlich traurig und beginnt zu weinen. Dann ist es gut, dass ich da bin, um sie zu trösten. Ein andermal reflektiert sie klar ihre Lebensumstände und ist im nächsten Augenblick ganz verwirrt. Meine Mutter ist mit ihren 94 Lebensjahren immer noch sehr lebendig und sie schafft es, andere mit kecken Sprüchen zum Lachen zu bringen. Aber auch wenn wir schweigen, fühlen wir uns miteinander wohl. Beide sind wir dankbar für die Liebe, die wir einander schenken und die uns über alles Zeitliche hinaus verbindet. Ich wurde in den Jahren des Begleitens zum „Sprachrohr“ meiner Mutter, damit sie in ihrer Hilflosigkeit gehört und als sehr alter Mensch mit ihren körperlichen, seelischen und geistigen Verlusten ernst genommen wird. Und ich bin ihre „Anwältin“, die sich darum kümmert, dass in der Pflege keine Nachlässigkeit eintritt. Diese schleicht sich in der Routine des Alltags gerne ein. Ich werde nicht müde, um eine würdevolle und medizinisch optimale Betreuung meiner Mutter, wenn es sein muss, zu kämpfen, und ich bin bereit, selber auch alles dazu beizutragen. In der Pflegesituation können nur Mitgefühl und Wertschätzung einem sehr alten Menschen Geborgenheit schenken und den eintönigen Alltag erträglicher machen. Begegnet man ihnen trotz ihrer Defizite „auf gleicher Höhe“, finden sie leichter zum Frieden, da keiner ihnen ihre Würde nimmt.1) „Man sieht nur mit dem Herzen gut“, sagt der Kleine Prinz zum Fuchs. 2) Dies ist das Alpha. Und Albert Schweitzer notierte: „Das einzig Wichtige im Leben ist die Spur an Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen.“3) Das ist das Omega. 1)
Die E.D.E-Charta über Rechte und Freiheiten älterer Menschen in Heimen, A. Maastricht, 24-09-1993, setzt sich für die Möglichkeit der älteren Menschen und ihrer Angehörigen ein, Verantwortung zu übernehmen und diese zum Ausdruck zu bringen zum Nutzen der Einrichtung. E.D.E. ist die Vereinigung der Heimleiter von Alten- und Pflegeheimen; mit der Charta hat sie die europäische gerontologische Politik bereits vor 20 Jahren zur Förderung und Unterstützung ihrer Anliegen aufgefordert. Das Kärntner Heimgesetz K-HG (LGBl. 1996/7.idgF) sieht Bewohner-/Angehörigenbeiräte in den Alten- und Pflegeheimen vor. Ebenso die Bestellung eines Kärntner Pflegeanwaltes.
2)
Antoine de Saint-Exupéry „Der Kleine Prinz“. Düsseldorf, Karl Rauch-Verlag 2006, S. 72
3)
Albert Schweitzer, 1875 – 1965, dt.-frz. Arzt, Theologe, Musiker u. Kulturphilosoph, 1951 Friedenspreis, 1952 Nobelpreis; in: Volker Bauch „Trostworte“. Leipzig, St. Benno-Verlag 2009, S. 165
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Im Altersheim Das Altersheim Franz Pfanner Haus wird von den Wernberger Schwestern – Mariannhiller Missionsschwestern vom kostbaren Blut – geführt. Derzeit beherbergt das Haus 20 BewohnerInnen. Ehrenamtliche MitarbeiterInnen – Dorfbewohner und Angehörige – verstärken das Betreuerteam. „Wir sind 13 Frauen und machen im Dorf seit gut 24 Jahren Besuchsdienste der Pfarre Langen. Wir möchten einfach unseren älteren und kranken Nachbarn Freude, Herzlichkeit, Abwechslung mitbringen.“ Maria, die Leiterin des freiwilligen Betreuungsteams, definiert, worauf es ihr ankommt: „Ich glaube daran, dass das größte Geschenk, das ich von jemandem empfangen kann, darin besteht, gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden. Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren. Wenn das geschieht, entsteht Beziehung – zum Heim, den BewohnerInnen, den MitarbeiterInnen und unter uns Ehrenamtlichen.“
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Die 24-Stunden-Pflege Katharina hat sanfte Hände. Wenn sie geschickt den Körper der 92-jährigen, ihr anvertrauten Patientin von einer Seite auf die andere wendet, sind ihre Hände aber auch stark und wissen, was sie tun. Ihre sanfte Stimme begleitet die Arbeit. Sie erklärt jeden Schritt, langsam und eindringlich, ja zärtlich. Und die Patientin dankt es ihr, indem sie mithilft, soweit es ihre Kräfte zulassen. Die beiden sind ein Team, auch wenn die Patientin sich nicht mehr mit Worten mitteilen kann. Rosi K. erlitt vor zwei Jahren einen Schlaganfall. Seitdem ist sie an ihr Bett gefesselt und auf professionelle Pflege angewiesen. Katharina, ihre 24-Stunden-Hilfe, ist ausgebildete Diplom-Krankenschwester. Eine gut aussehende 41-jährige Mutter von drei Kindern im Alter von 17, 19 und 21 Jahren. Sie stammt aus einem slowakischen Dorf, zirka 40 km von der ungarischen Grenze entfernt. Die 330 km Fahrt in einem Kleinbus zu ihrem niederösterreichischen Arbeitsplatz dauert an die viereinhalb Stunden, meist in der Nacht. Tiefe, dunkle Ringe unter ihren Augen verraten die lange Fahrt der vergangenen Nacht. Schichtwechsel ist wöchentlich. Bei früheren Stellen waren es zwei, oder gar drei Wochen. Das war viel härter. Vor allem, als die Kinder noch kleiner waren. Ohne Hilfe der Mutter wäre das alles nicht gegangen. Und Katharina hat die Trennung von ihrer Familie hinnehmen müssen. Denn das Geld spielt die allergrößte Rolle. Der Verdienst daheim deckt nicht annähernd die Lebenshaltungskosten. Dabei hatte sie das Glück, immer Arbeit zu haben. Zuvor im heimischen Krankenhaus, dann in einem Kurbetrieb und in einer Ambulanz. Aber es reichte nicht annähernd zum Überleben. Ihr Mann ist Masseur und verdient noch weniger. Und so hat sie sich mit 36 Jahren schweren Herzens entschieden, eine Arbeit im Ausland anzunehmen. Als 24-Stunden-Hilfe. Eine Kollegin erzählte damals von ihren Erfahrungen in Österreich. Sie wirkte zufrieden. Also ging auch Katharina diesen Weg. Die Familie akzeptierte ihren Entschluss und hat mit Leibeskräften mitgeholfen, den Kindern die abwesende Mutter zu ersetzen. Wenn sie von ihrer Anfangszeit in Österreich spricht, legen sich Schatten auf ihr Gesicht. Es war hart, ohne Deutschkenntnisse, völlig allein und auf sich gestellt und ohne Privatsphäre auszukommen. Auch erlebt sie hierzulande einen anderen Lebensstil – „die Leute sind etwas kalt“. Auch die Trennung von ihrem Partner war nicht leicht. Es ist bekannt, dass viele Ehen durch diese arbeitsbedingten Trennungen kaputtgehen. Sie hatte Glück. Und sie ist dankbar dafür. Aber sie stellt sich gleichzeitig die Frage: „Was ist wichtiger? Geld oder Ehe?“ Katharina lebt ständig mit einem Wecker im Ohr. Tag und Nacht. Ihre derzeitige Arbeit verlangt einen genauen Tagesablauf. Um 7 Uhr beginnt die Morgentoilette; um 10 Uhr dreht sie die Patientin sanft in die entgegengesetzte Lage, die Liegeposition wird alle zwei Stunden verändert, auch des Nachts; zwischen 11.30 und 12 Uhr Aufsetzen, Ernährung durch Sonde und Einschmieren bei trockener Haut, drei Mal wird die Temperatur gemessen, bei Bedarf Schleim abgesaugt. Um 19 Uhr erfolgt die Abendhygiene, um 22 Uhr ist Nachtruhe, die durch regelmäßiges Umdrehen unterbrochen wird. Ein Baby-Phone steht neben ihrem Bett. Am Tag wird dazwischen gewaschen und gebügelt, sauber gemacht, Medikamente und notwendige Pflegematerialien besorgt, die Sonde vorbereitet und für den Eigenbedarf etwas Schnelles gekocht. Doch dazwischen – wann immer Bedarf besteht – kann sie sich ihrer Familie widmen. Via Skype unterhält sie sich mit den halbwüchsigen Kindern und dem Rest der Familie. Nicht selten wird die Mama für die Lösung eines eben aufgetauchten Problems befragt. Das gibt ihr ein Gefühl von Nähe und ermöglicht eine – wenn auch entfernte, so doch tagtägliche –Teilnahme am Leben ihrer Lieben. Die Technik macht es möglich: sie ist nicht mehr ganz aus der Welt!
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Katharina spricht von Glück, wenn sie erzählt, dass in dem niederösterreichischen Ort noch mehr slowakische Kolleginnen tätig sind. Man trifft sich regelmäßig, tauscht Erfahrungen aus, hilft einander, wo es geht, und kann in der eigenen Sprache parlieren. Es entstehen Freundschaften. Das tut gut und reduziert das Gefühl von Isolation. Überhaupt ist sie der Meinung, dass der Mentalitätsunterschied zwischen Österreich und der Slowakei groß sei. Der im westlichen Wohlstand gelebte Individualismus wird als Egoismus erlebt. „Slowakische Menschen sind offener und lieben die Gemeinschaft“, sagt Katharina. Und wenn sie die Wahl hätte, würde sie ein Leben daheim vorziehen. Aber sie ist nicht die Einzige, die es ins Ausland verschlagen hat. Viele Gesundheitskräfte haben bereits ihr Land in Richtung Irland und England verlassen. Kleine Kinder bleiben mit den Alten zurück. Und das staatliche Gesundheitswesen in der Slowakei hat sich durch den Personalschwund deutlich verschlechtert. Trotzdem ist sie der Meinung, dass sich das Leben daheim bessert. Ihre Kinder haben nun ganz andere Möglichkeiten, als sich ihr damals boten. Die Richtung stimmt also. Aber der Prozess ist ein langer und mühsamer und – nicht nur für Katharina – ein von Trennung geprägter. Zwei Stunden täglich stehen gemäß Vertrag dem in der 24-Stunden-Hilfe beschäftigten Personal zur eigenen Verfügung. Katharina hat es besser. Denn wenn die Tochter von Rosi K. an den Wochenenden Zeit hat, ist sie an der Seite der Mutter. Das ermöglicht Katharina längere Ausgänge. Meist trifft sie sich da mit Susanne, einer aus der Nordslowakei, nahe der polnischen Grenze stammenden Kollegin, die ihr hier in Österreich zur wichtigsten Freundin geworden ist. Susanne ist studierte Erwachsenenbildnerin und arbeitet im 14-Tage-Rhythmus einerseits als 24-Stunden-Hilfe, andererseits daheim als Reporterin bei einer Lokalzeitung, in der Koordination des lokalen slowakischen Fernsehens und im Bürgermeisteramt. Eine kluge, tüchtige Frau, die sich viel lieber auf die Medienarbeit daheim konzentrieren möchte. Aber die Bezahlung ist schlecht und reicht nicht für ein einigermaßen gutes Leben. Von ihrem Mann lebt sie seit Jahren getrennt. Da sie keine gelernte Gesundheitsarbeiterin ist, holt sie sich oftmals Rat bei Katharina. Dieser Austausch funktioniert bestens. Über die erforderlichen Qualifikationen für die Pflegearbeit sind sich die beiden Frauen auch einig. Gefragt sind vor allem viel Geduld und Empathie, gute Nerven, die Fähigkeit, allein arbeiten zu können, und die Freude am Umgang mit alten Menschen. „Eine gute Pflegerin muss einen guten Charakter und eine starke Motivation für diese Arbeit mitbringen!“, ist Susanne überzeugt. Dass dies nicht auf alle in diesem Bereich beschäftigten Frauen zutreffen wird und kann, steht außer Frage. Immerhin sind finanzielle Nöte die Triebfeder für so eine Auslandsbeschäftigung fern von der Familie. Beide Frauen gestehen, dass sie sich für einen Arbeitsplatz daheim in der Slowakei entscheiden würden, wäre die Bezahlung dort eine bessere. Und dass das Image dieser Berufsgruppe durch für diese Arbeit unmotiviertes Personal leiden kann, darüber sind sich die beiden Frauen auch einig. Die Arbeit im Pflegebereich ist nicht nur ein Beruf, sondern kommt einer Berufung gleich. Susanne erzählt aus ihrem Arbeitsalltag: „Ja, es gibt durchaus auch lustige Momente, die Begegnung mit den Patienten ist ja eine durch und durch menschliche.“ Man betritt fremde Wohnungen, muss sich in den jeweils neuen Umgebungen zurechtfinden. Das verlangt die Bereitschaft zu ständigem Lernen. Dass eine pflegerische Tätigkeit rund um die Uhr sehr viel Energie kostet, wird offen ausgesprochen.
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Daher auch wird ein Einwochenrhythmus als wichtig und notwendig empfunden. „Daheim werden die Batterien wieder aufgeladen!“ Und: „LEBEN, das findet daheim statt. Man trifft sich mit Freunden. Es wird getanzt und gesungen.“ Das vertraute heimatliche Ambiente, die dort empfundene, viel sozialere Wärme schafft den notwendigen Ausgleich zur schweren Arbeit, aber auch zur fremd empfundenen Mentalität hierzulande. Doch es gibt Ausnahmen. Katharina lässt nichts über ihre derzeitigen Arbeitgeber kommen. Diese sind offen und froh über den frischen Wind, den sie mit ins Haus gebracht hat. Und Katharinas Kinder waren schon des Öfteren hier, auch ihr Mann. Sie konnten sich persönlich ein Bild machen und wissen nun, wo ihre Mutter und Frau – abwechselnd mit einer weiteren slowakischen Krankenschwester – arbeitet. Sie haben die Arbeitgeber der Mutter kennengelernt. Es sind dies die Tochter und der Schwiegersohn von Rosi K., beide im Ort beschäftigte Ärzte und jederzeit erreichbar, wenn es notwendig sein sollte. Für sie ist diese Form der Pflege ihrer Mutter optimal. Aber es ist ihnen auch wichtig, dass die soziale Verträglichkeit für die Frauen stimmt. Arbeitsintervalle werden auch nach deren Bedürfnissen individuell gestaltet. Weihnachten oder in den Sommerferien kann die Familie hier verbringen. Oder aber es kommt für diese Zeit Personal ohne Familienanhang. „Schlussendlich“, so sagt die Tochter von Rosi K., „ist doch klar, dass dieses Pflegemodell auf Gegenseitigkeit beruht oder beruhen soll!“ Und sie ortet dabei noch viele Verbesserungsmöglichkeiten. Sie schätzt nicht nur die Professionalität Katharinas, sondern vor allem auch ihre Hingabe und Zärtlichkeit, die sie bei ihrer Arbeit einfließen lässt. Auf dem Antlitz der ihr anvertrauten Patientin, im Spiel der noch immer ausdrucksstarken und schönen Hände widerspiegeln sich Würde und Einmaligkeit ihrer Persönlichkeit, ja des Menschseins. Auch noch in diesem allerletzten Abschnitt des Lebens. Eleonore Köck
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Betreutes Wohnen Dimitrie und Frieda Negrau
Dimitrie ist mit seinen 104 Jahren der älteste Grazer und zugleich der Einzige im Haus, der ganz ohne Tabletten auskommt. Frieda ist 90 Jahre alt. Seit einem knappen Jahr wohnen sie in einem „Betreutes Wohnen“-Haus der Caritas in Graz. Bis dahin lebten sie in der eigenen Wohnung im vierten Stock ohne Lift. Zum Schluss konnten sie die Wohnung kaum mehr verlassen, weil alles zu anstrengend wurde. Hilfe erhielten sie von den Enkeln, die die Einkäufe erledigten, Arztbesuche wurden mit dem Taxi absolviert, seit Frieda vor drei Jahren im Bus schwer gestürzt ist. Dimitrie ist seit vielen Jahren ziemlich schwerhörig und inzwischen fast vollständig taub. Er stammt aus Rumänien, blieb nach dem Krieg in Graz und heiratete später Frieda. Im Krieg wurde er zum Radio- und Fernsehtechniker ausgebildet. Sein eigentlicher Berufswunsch war Pfarrer. Er hat immer eine ganz bestimmte Ausgabe des „Granatapfels“ bei sich sowie Zitate und Bibelsprüche, die er selbst mit der Schreibmaschine abgetippt hat. Frieda war Modistin. Sie ist zappelig, redet immer und organisiert alles. Die einzige Tochter der beiden lebt in der Schweiz. Die Grazer Enkel schauen regelmäßig vorbei. Der Umzug erfolgte nach Friedas Zusammenbruch sehr rasch. Unter der Woche sind die Betreuer, Frau Kohlhammer oder Herr Marsam, tagsüber anwesend. Sie kaufen ein und helfen bei Erledigungen. Die Wohnung wird einmal wöchentlich geputzt, es gibt Hilfe bei der Körperpflege und beim Augen-Eintropfen. Die mobile Fußpflege kommt nach Bedarf. Frieda erzählt: „Es ging einfach nicht mehr. Die Wohnung im vierten Stock, ohne Lift, der Billa am Ende der Straße unerreichbar. Ich kann ja seit dem Unfall nichts mehr tragen, meine Hände sind zu schwach und mein Mann, der kann alleine gar nichts mehr machen. Er hört nichts mehr und er kennt sich nicht mehr aus. Man kann ihn auch nicht allein zu Hause lassen. Den Bus kann ich nicht mehr nehmen. Zum Arzt oder ab und zu zum Markt bin ich mit dem Taxi gefahren – mit Taxischeinen. Aber wir selbst haben das gar nicht bemerkt. Unser Enkel, der jeden Tag vorbeischaut und alles für uns erledigt – er ist Fahrradbote – hat gesehen, dass es nicht mehr geht. Unsere Tochter und unser Schwiegersohn sind aus der Schweiz gekommen und haben sich um alles gekümmert und gleich diese Wohnung gefunden. Was sollst du sagen, innerhalb von 14 Tagen alles ausräumen! Du musst sagen: Danke schön! Was da alles Geld hineingesteckt worden ist – Hochachtung, das war eine Meisterleistung. Die Küche, das Bad, die neuen Vorhänge, alles sehr schön. Unser Schwiegersohn hat gelacht und gesagt: „Jetzt müsst ihr noch mindestens 10 Jahre leben!“ Aber nach wie vor… der Gedanke, dass die Wohnung nicht mehr existiert. Ich muss mich immer wundern, dass ich das alles mit meinem Alter noch so kann.
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Die Küche ist anders aufgeteilt als zu Hause. Die Herren glauben ja nicht, dass da jemand einzieht, der noch etwas machen kann und will. Ich bin da nicht so zufrieden. Die Anordnung ist falsch, das Tiefkühlfach ist zu klein, das ist ja wichtig für mich, für die Semmeln. Und wo ist jetzt das Sieb? Passiert was, haben wir den Arzt und die Apotheke gleich nebenan, wir sind sehr gut versorgt. Mein Auge macht mir Sorgen, ich sehe immer schlechter und habe Schmerzen. An die Umgebung habe ich mich schon ein bisschen gewöhnt, am Wochenende haben wir einen Ausflug mit dem Taxi nach Eggenberg gemacht. Die anderen Damen sind sehr nett, wir sehen uns, wenn wir in den Aufenthaltsraum hinuntergehen. Da haben wir einen Plan oder es kommt uns jemand holen, und dort treffen wir die anderen Damen. Außer uns gibt es noch ein zweites Ehepaar, sonst sind hier nur Damen. Alle sind sehr sehr nett – und so hilfsbereit. Ich darf und kann es mir leisten, ab und zu ein Taxi zu nehmen, und dann geh ich etwas einkaufen. Sonst macht das eh immer der Herr Masam. Es ist schön, aber es ist nicht mein ICH. Jetzt geht es schon, wir wohnen jetzt schon sechs Monate hier. Was soll ich dir sagen? Man hat gar keine Zeit nachzudenken. Aber ich brauch gar nicht nachzudenken. Wenn ich aufstehe, ist alles anders. Ich bin ja ständig beschäftigt. Ich sehe es mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Was soll ich dir sagen?“ Dimitrie Dimitrie ist immer wachsam, neugierig, stellt sich ab und zu vor den Fernseher, liebt Fußball, liest immer wieder in seiner Zitatesammlung. Er hat ein genau eingeteiltes Leben, isst wenig – „wie ein Vogerl“ – trinkt nie, raucht nicht, ist immer fröhlich und liebt die Damen. Er ist in dem neuen Heim aufgeblüht. Ohne Frieda kann er – auch aufgrund seiner Demenz – nicht sein, früher musste ein Enkel kommen, wenn Frieda zum Arzt ging. Da es ihm körperlich noch besser geht, muss er die Einkäufe tragen, Teig rühren und Knoblauch auspressen. Seit Neuestem bleibt er manchmal zwei Stunden allein im Aufenthaltsraum bei den Damen. Auch wenn er nichts hört, unterhält er sich und die anderen bestens. Frieda musste sich erst darauf einstellen, dass sie allein nach oben gehen kann. Miki will 110 Jahre alt werden, das sagt er wirklich schon seit mindestens 20 Jahren. Er hört die Frage, wie es ihm hier gefällt, nicht, und legt gleich selbst los. „Ich habe meine Frieda gerne und ich bin sehr zufrieden. Frieda ist die beste Köchin.“ Aus seiner Zitatensammlung: „Das Leben ist nicht immer so, wie wir es uns vorgestellt haben. Der einzige Weg, glücklich zu werden, ist jedoch, aus dem Leben – so wie es ist – das Beste zu machen.“ „Wer positiv durchs Leben geht, sieht jung aus.“ Er zeigt auf das Zitat und grinst: „Und wie schau ich aus?“ Ulli Schark
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In der Seniorenresidenz Mit 62 Jahren zog Dr.in Friederike Tilscher als äußerst agile Jungpensionistin ins Altersheim. Eine ungewöhnliche Entscheidung, die sie jedoch bis heute nicht bereut hat. „Ich übergab vor zwei Jahren meine große Wohnung meinem Sohn und suchte für mich ein kleines Appartement. Da fragte ich mich: Wie lange wirst du diese neue Wohnung genießen können? Warum gehe ich nicht gleich ins Altersheim?“ Die ehemalige Zahnärztin entschied sie sich für ein außergewöhnliches Domizil, die „Senioren Residenz Am Kurpark Oberlaa“. Schon der Name dieses 1997 am östlichen Stadtrand von Wien errichteten Gebäudekomplexes lässt vermuten, dass es sich hier nicht um ein herkömmliches Altersheim handelt. Hier sind nicht nur Hunde und Katzen herzlich willkommen, hier wird in vielen Bereichen die Extraklasse geboten. So sind in der aus drei miteinander verbundenen Häusern und Gärten bestehenden Anlage nicht nur ein Kaffeehaus und ein Restaurant, sondern auch ein Theater, ein Andachtsraum und ein Lebensmittelgeschäft zu finden sowie ein Friseursalon, ein Kosmetikstudio, ein Hallenbad und ein Physikalisches Institut. AllgemeinmedizinerInnen und FachärztInnen ordinieren im Haus, BankbetreuerInnen, Optiker und Fachleute für Hörgeräte bieten regelmäßig ihr Service an. Rund 300 Personen im Alter zwischen 57 und 102 Jahren leben hier in 1- bis 3-Zimmer-Appartements mit Loggia oder Terrasse, die inklusive des Mittagessens und mehrerer Service-leistungen – wie z.B. 28 Tage Pflege pro Jahr bei leichter vorübergehender Erkrankung im eigenen Wohnbereich – zwischen 1.660,– und 3.890,– Euro monatlich kosten. „Dieses Haus und die wunderschöne Umgebung mit dem so gepflegten Kurpark und der Therme Wien haben mich begeistert“, erzählt Dr.in Friederike Tilscher. Sie entschied sich für die kleinste Einzimmereinheit von 32 m 2. „Mehr brauchen ich und Rolli nicht, denn für alle Aktivitäten gibt es im Haus einen passenden Raum, vom Fitnessbereich und der Bibliothek bis zum Club- und Werkraum.“ Außerdem gehört zu jedem Wohnbereich ein geräumiges Kellerabteil und bei Bedarf ein gekühlter Weinkeller, in dem man auch Obst gut lagern kann. In einem Postraum hat jede/r Bewohner/in eine eigene, verschlossene Briefbox und die Möglichkeit, Korrespondenz über einen amtlichen Postkasten zu verschicken. Es kann aber auch eine frei zugängige Internetstation benützt werden. Das Programmangebot ist so vielfältig, dass Dr.in Tilscher nie Langeweile verspürt. Basteln, Gymnastik, Gedächtnisjogging, Yoga, Tanzen, Konzerte, Theateraufführungen, Schwimmen, Ausflüge usw. Dabei kommt sie mit den MitbewohnerInnen ins Gespräch und lernt nette Leute kennen, wie z.B. in einem Bridgekurs DI Dr. Fritz Freund. Der 85-Jährige begleitet sie nun bei den Spaziergängen mit Hund Rolli durch den Kurpark, unternimmt gemeinsam mit ihr Ausflüge mit dem eigenen Auto und schwingt mit ihr beim Line-Dance das Tanzbein. Das Leben im Altersheim macht den beiden sichtlich Spaß und hält sie jung. Für DI Dr. Freund ist aber die Altersfrage nicht entscheidend: „Wichtig ist, dass man aktiv bleibt, sich immer wieder für Neues interessiert, noch Zukunftsperspektiven entwickelt, und nicht immer in der Vergangenheit lebt.“ Der gebürtige Wiener verbrachte viele Jahre im Ausland. Nach dem Tod seiner Gattin kehrte er vor zwei Jahren in seine Heimatstadt zurück und entschied sich für die Senioren Residenz in Wien-Oberlaa. „Ich habe berufsbedingt viele Altersheime auch in anderen Ländern besucht, aber das hier ist das schönste und großzügigst geplante Haus“, stellt der Techniker fest. Es wurde von der deutschen Stiftung „Augustinum“ errichtet, wobei Wert auf eine von Transparenz und Leichtigkeit geprägte Architektur gelegt wurde, die dunkle Ecken vermeidet, die Gänge von Tageslicht durchfluten lässt und viel Ausblick auf die umliegenden Gärten ermöglicht.
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Neben der Architektur und dem hohen Wohnkomfort ist für DI Dr. Freund vor allem aber wichtig, dass er hier autonom leben kann. „Denn in diesem Haus kann ich, solange es geht, völlig selbstständig wohnen und in der Gewissheit leben, dass mir bis zum Tod alle Betreuungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.“ Für die kleinen Hilfen im Alltag, wie Knöpfeannähen, Wäschewaschen oder Bügeln stehen „Etagendamen“ zur Verfügung. Sie sind genauso wie das Putzpersonal speziell geschult, um zu erkennen, wo und wann Hilfe gebraucht wird. „Denn vielfach verdrängen die Leute auch ihre Schwächen, wollen vorerst keine Unterstützung“, erklärt Direktor Georg Schimper. Da muss er dann mit viel Sensibilität und speziell geschulten Fachkräften, aber auch mithilfe der Verwandten behutsam eingreifen. Unter dem Motto „So viel Eigenständigkeit wie möglich, so viel Betreuung wie gewünscht!“ versucht er seit vielen Jahren mit einem Team von Fachkräften den BewohnerInnen ein „individuelles, autonomes Leben in der Gemeinschaft bei größtmöglicher Sicherheit und Selbstständigkeit zu ermöglichen“. Gepflegt wird, solange es geht, im eigenen Appartement. Für jene, die intensive Betreuung brauchen, gibt es zwei Abteilungen, die in diesem Haus jedoch weder Pflege- noch Bettenstation, sondern „Bella Vita“ und „Andante“ heißen. Wichtig ist Direktor Schimper, dass die Senioren Residenz mit allen ihren vielfältigen Angeboten nicht als Insel erlebt wird. Deshalb öffnet er das Haus für viele Veranstaltungen, lädt nicht nur Verwandte und FreundInnen der BewohnerInnen, sondern auch die Oberlaaer Bevölkerung und immer wieder junge KünsterInnen ein. „Damit sollen Kommunikation, gemeinsame Interessen, der Austausch zwischen Generationen ermöglicht, vor allem aber auch Vorbehalte gegenüber stationären Strukturen in einem Altersheim aufgebrochen werden.“ Aber alle Klischeebilder von einem Altersheim verschwinden sowieso, wenn man die große, helle Eingangshalle betritt. Hier herrscht die Atmosphäre eines 4-Sterne-Hotels, die vielleicht die Aufgabe des eigenen Heims erleichtert. Direktor Schimper begrüßt die ungewöhnliche Entscheidung von Dr. in Tilscher, so jung in ein Altersheim zu ziehen. Denn es sei wichtig, noch selbst zu entscheiden, wo man den Lebensabend verbringen will. „So entsteht nicht das Gefühl, ich wurde abgeschoben.“ Auch Dr.in Christine Dornaus, Vorstandsdirektorin der Wiener Städtischen Versicherung AG, plädiert für die frühe Auseinandersetzung mit einer Pflegesituation im Alter und den daraus entstehenden Kosten. Wichtig sei es, rechtzeitig eine Pflegeversicherung abzuschließen, da die Kosten für ein privates Pflegeheim meist die finanziellen Mittel der zu Pflegenden übersteigen. „Aufgrund des demografischen und gesellschaftlichen Wandels ist das Thema Pflege eines der zentralen Zukunftsthemen“, betont Dr. in Dornaus. „Die Wiener Städtische Versicherung ist sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst und engagiert sich deshalb seit vielen Jahren im Pflegebereich.“ So präsentierte sie 2004 die erste Pflegeversicherung in Österreich, „unterstützt mit großem Engagement auch seit vielen Jahren Initiativen im Pflegebereich und kooperiert partnerschaftlich mit Hilfsorganisationen in ganz Österreich“. Sie ist auch Hauptinvestor und Betreiber der Senioren Residenzen in Wien, Salzburg, Innsbruck und Dornbirn. „Mit unserem Engagement im Bereich Senioren Residenzen möchten wir gewährleisten, dass Betroffene allen erdenklichen, weit über die Grundversorgung hinausgehenden Komfort genießen können. Die Senioren Residenz Am Kurpark Oberlaa ist eine Einrichtung, die diese Anforderungen mehr als erfüllt“, ist Dr.in Christine Dornaus überzeugt. Eleonore Bayer
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Gemeinsam das Alter meistern Die kleinen Wohngemeinschaften des Diakoniewerks bieten Pflegebedürftigen eine familiäre Alltagssituation und Jugendlichen sowie Wirtschaftsfachleuten ein soziales Lernfeld. Pflegeheim – ein Begriff der häufig mit Tristesse, Hoffnungslosigkeit, grauen, langen Gängen, Altenghetto, Krankenhausatmosphäre und dem Geruch von Desinfektionsmitteln in Verbindung gebracht wird. In den „Hausgemeinschaften Erdbergstraße“ des evangelischen Diakoniewerks in Wien ist davon nichts zu spüren. Hier riecht es nach guter Hausmannskost, Kaffee und Kuchen. Denn im Zentrum jeder, jeweils nur 13 pflegebedürftige Personen umfassenden Gemeinschaft liegt eine Wohnküche, in der täglich das Essen frisch zubereitet wird. In diesem Pflegeheim neuen Stils versucht Alexander Neuhold mit seinem Team von AlltagsmanagerInnen, AltenpflegerInnen sowie Gesundheits- und KrankenpflegerInnen eine familienähnliche Atmosphäre zu schaffen, den BewohnerInnen einen möglichst normalen Tagesablauf zu bieten und deren Selbstständigkeit in gewissen Bereichen so gut es geht zu erhalten. Sie werden deshalb auch eingeladen, soweit ihnen dies möglich ist, gewohnte Tätigkeiten weiterhin durchzuführen, beim Kochen, bei der Reinigung des eigenen Zimmers und bei der persönlichen Wäsche mitzuwirken. Jene, die dies nicht mehr können, sollen durch ihren Aufenthalt in der Wohnküche gewohnte Gerüche und Geräusche aufnehmen und Alltagsgegenstände begreifen, was vor allem für Demenzkranke sehr wichtig ist. Im angeschlossenen gemütlichen, vom Tageslicht durchfluteten Wohnraum verbringt die Hausgemeinschaft gemeinsam den Alltag. Die einen lesen, die anderen plaudern oder beobachten die bunten Fische im großen Aquarium und die Katzen auf dem Kletterbaum. Für Abwechslung sorgt auch der schwarze Mops Oskar, der die alten Leute beharrlich zum Spielen mit ihm auffordert. Das gelingt dem jungen Hund nicht bei allen Anwesenden. Denn einige sind ganz in sich versunken. Eine Frau drückt innig eine lebensgroße Babypuppe an sich, eine andere döst im Lehnsessel. Jederzeit besteht aber auch die Möglichkeit zum Rückzug in das eigene, selbst ausgestaltete Zimmer. Wer Blumen und Kräuter liebt, kann diese in den Hochbeeten auf der Dachterrasse auch vom Rollstuhl aus setzen, pflegen und ernten. Dort gibt es auch Erdbeeren zum Naschen und einen herrlichen Ausblick auf den Donaukanal und die Praterauen. Denn die Hausgemeinschaften befinden sich in luftiger, sonniger Höhe. Sie wurden in drei auf den Neubau des Evangelischen Gymnasiums beim Gasometer in Wien aufgesetzten Stockwerken untergebracht. So können Jung und Alt leicht zueinanderfinden. Alter hautnah erleben „27 Mal hat meine Oma denselben Satz gesagt. Jetzt will ich schauen, ob das bei anderen alten Menschen auch so ist.“ Gernot, Schüler im Evangelischen Gymnasium in Wien, nimmt deshalb am Geragogischen Praktikum, einem unverbindlichen schulischen Übungsangebot zur Auseinandersetzung mit dem Alter, teil. „Ein Ziel dieser Übung, dieses Lernens mit älteren Menschen ist es, ein anderes Bild vom Alter zu vermitteln, die persönliche Wahrnehmung zu erweitern und zu erleben, was es heißt, wenn die Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt ist“, erklärt Mag.a Almut Krenn, ausgebildete Fachkraft für Geragogik und Leiterin dieser Übung. Die Oberstufen-SchülerInnen können eine Woche lang hautnah am Leben von pflegebedürftigen, alten Menschen Anteil nehmen und erspüren, wie es ihnen dabei geht.
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Gernot und einige seiner MitschülerInnen aus der 5. und 6. Klasse des Gymnasiums versuchen dabei, mit den Mitgliedern der Wohngemeinschaft ins Gespräch zu kommen, lauschen interessiert den persönlichen Erinnerungen der kommunikativen SeniorInnen, staunen über die Schilderungen von ganz unterschiedlichen Lebenswegen. Vor allem die detaillierten Berichte eines 94-Jährigen über dessen Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg faszinieren die Burschen. „Ich habe das vorher noch nie so gehört“, meint Vinzenz. Auch Hans ist begeistert, denn mit seiner 94jährigen Uroma führt er selten so spannende Gespräche. Gegenüber den eigenen Verwandten trauen sich die Jugendlichen oft auch nicht das Thema „naher Tod“ anzusprechen. Hier stellen jedoch manche mutig die Frage: Wie geht es Ihnen mit dem Tod? Wie reagieren Sie, wenn jemand aus der Hausgemeinschaft stirbt? Aber die SchülerInnen müssen auch erkennen, dass mit manchen alten Menschen kein Dialog mehr möglich ist. „Es war vom ersten Tag an eine große Herausforderung für uns, eine Gesprächsbasis mit jenen Leuten zu finden, die aus verschiedenen Gründen überhaupt nicht sprechen können oder gar nicht ansprechbar sind“, betont Kora. Sie nimmt bereits zum zweiten Mal an dieser schulischen Übung teil, weil sie die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Facetten des Alters und den unterschiedlichen Problemen sehr interessiert. „Am Anfang ist es sehr verstörend, wenn Personen zum Beispiel einige Sätze immer wieder wiederholen. Anfangs glaubt man, helfen zu müssen, etwas tun zu müssen, aber oft kann man deren Zustand einfach nur akzeptieren.“ Kora und ihre MitschülerInnen erleben in dieser Woche hautnah, was Demenz und Alzheimer im konkreten Lebensalltag der Menschen bedeuten. Sie lernen, dass man kein Überangebot an Hilfe geben darf, um die Selbstständigkeit eines jeden Menschen zu wahren. In Reflexionsgesprächen mit Mag.a Almut Krenn diskutieren sie dann die Frage, inwiefern können sehr betagte Leute noch Verantwortung für sich selber tragen und entscheiden, was ihnen guttut. Für Kora hat sich „dabei eindeutig gezeigt, dass der Umgang mit alten Menschen in keiner Weise der Behandlung kleiner Kinder gleicht“. In der Reflexion dieser Tage erörtern die Jugendlichen auch ihre ganz persönlichen Gefühle und Erfahrungen im Umgang mit den alten Menschen. Sie gestehen den aufkommenden Ekel angesichts des Speichelflusses mancher HeimbewohnerInnen, ihre Hilflosigkeit in unerwarteten Situationen, ihre Angst beim Gedanken daran, dass jetzt plötzlich jemand neben ihnen sterben könnte. Miriam, die sich für dieses Gymnasium entschieden hatte, um durch die Geragogischen Praktika zu erfahren, ob ein Beruf in der Altenbetreuung für sie erstrebenswert sei, weiß jetzt: „Das ist doch nichts für mich, obwohl die alten Menschen hier wirklich urnett sind.“ Alle SchülerInnen stellen nach der Praktikawoche fest, dass sich ihre Wahrnehmung vom Alter in diesen Tagen verändert hat. Ihr oft klischeehaftes Bild des Alters hat nun neue, unerwartete, differenzierte Züge. Ersatz für fehlende Großeltern Nicht nur die SchülerInnen des Evangelischen Gymnasiums besuchen die Hausgemeinschaften. Jeden Freitagnachmittag kommen Mitglieder der Koptischen orthodoxen Jugend, um die HeimbewohnerInnen mit Plaudern, Basteln und Spielen zu unterhalten. Die jungen Leute suchen Kontakt vor allem zu jenen, die sonst wenig besucht werden.
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„Wir wollen damit einen Auftrag von unserem Herrn Jesus Christus erfüllen, der uns gelehrt hat, ältere Leute zu besuchen“, erklärt Verena. Sie und ihre Schwester Manerva sowie 80 Prozent der koptischen Jugend wurden in Österreich geboren. Ihre Eltern kamen meist vor rund 20 Jahren aus Ägypten ins Land. Die Großelterngeneration blieb jedoch in der alten Heimat. So gibt es derzeit in der koptischen Gemeinde nur wenig alte Menschen. Die Jugendlichen suchten deshalb vor zwei Jahren ein Pflegeheim für ihr soziales Engagement und wurden in den Hausgemeinschaften Erdbergstraße herzlich aufgenommen. „Anfangs hatten wir eine ziemliche Scheu und wussten nicht, wie wir es angehen sollten“, erinnert sich Verena. „ Wir haben dann einfach auf gut Glück versucht, auf unterschiedliche Art mit den Leuten in Kontakt zu kommen. Mit der Zeit haben wir einander immer besser kennengelernt, wenn sich auch manche beim Wiedersehen nicht mehr genau an uns erinnern können. Jetzt wissen wir schon, wer gerne zeichnet und wer sich mit uns unterhalten will. Die Leute freuen sich jede Woche, wenn wir Jugendliche kommen, und wir freuen uns, wenn wir plötzlich auch bei jenen, die nicht mehr reden, ein Lächeln im Gesicht sehen.“ Isabella findet es besonders toll, wenn die alten Menschen aus ihrem Leben erzählen und die schweren Zeiten von früher schildern. „Wir kennen das ja nicht und lernen viel dabei.“ Ausstieg aus der eigenen Komfortzone und dem Alltagsstress Anke Naderer stellt ihren Computer auf Ruhepause, klappt den Aktendeckel zu und verlässt mitten in der Arbeitszeit ihren Schreibtisch. In den nächsten zwei bis drei Stunden steht für die Steuerberaterin persönliches Sozialengagement im Terminkalender. Gemeinsam mit ihren KollegInnen Babitha Ayiramala, Nikolaus Kraetschmer und Alexander Lackinger eilt sie vom Bürohaus der österreichischen Niederlassung von PwC PricewaterhouseCoopers, einer der größten Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften der Welt, zu den Hausgemeinschaften Erdbergstraße. Während des ca. zehnminütigen Fußmarsches versucht sie die hektische, vom Leistungsdruck geprägte Arbeitsatmosphäre hinter sich zu lassen, denn im Altersheim ticken die Uhren anders als in der Leistungsgesellschaft. Hier braucht man niemanden wortgewaltig beraten und überzeugen, muss nicht mit Fachwissen brillieren, immer schneller und noch besser sein. „Es ist eine große Herausforderung für uns, zurückzuschalten, uns einfach hinzusetzen, durchzuschnaufen und den alten Menschen zuzuhören“, gesteht Anke Naderer. „Aber es ist dann spannend, interessant und für die persönliche Entwicklung sehr wichtig, wenn ich aus meiner Komfortzone aussteige und wieder essenzielle Werte des Lebens bei dieser sozialen Tätigkeit entdecke.“ Wie schön ist es, sich selbstständig bewegen zu können, ohne Hilfe zu essen, noch gut zu hören und zu sehen! Voll Tatkraft packt die Steuerberaterin einen Rollstuhl, um mit einer gehbehinderten Dame eine kleine Ausfahrt auf die Straße zu unternehmen. Für Babitha Ayiramala ist der Sozialeinsatz im Altersheim auch eine gute Vorbereitung auf die zukünftige Konfrontation mit den Problemen von alten Menschen in der eigenen Familie. „Und es macht einfach Freude, anderen Menschen zu helfen und in einem ganz anderen Bereich als sonst tätig zu werden“, ergänzt Alexander Lackinger. Da seine Mutter Krankenpflegerin ist, hat er kaum Probleme beim Umgang mit pflegebedürftigen Menschen. Er versteht aber gut, dass es KollegInnen gibt, die sich das nicht zutrauen.
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„Diese Arbeit ist eine große Bereicherung für das eigene Leben“, stellt Nikolaus Kraetschmer fest. Der Wirtschaftsfachmann, der sich auch in seiner Freizeit beim Malteser-Hospitaldienst engagiert, findet es toll, dass PwC dieses Projekt unterstützt. Zwei Mal im Monat kommen MitarbeiterInnen von PwC während ihrer Dienstzeit in die Wohngemeinschaft der Pflegebedürftigen. Es werden auch immer wieder zweitägige Hospitationseinsätze angeboten und im speziellen Lehrgang der Firma für ihre Führungskräfte ist die Motivation der MitarbeiterInnen für diese Sozialarbeit auch ein Thema. Immer wieder organisiert PwC Ausflüge für alle Mitglieder der Hausgemeinschaften Erdbergstraße, wie z.B. nach Schönbrunn oder zu einem Adventmarkt. Das soziale Engagement von Firmen gehört heute zum guten Ton. So genannte CSR-Corporate Social Responsibility-Projekte sind üblich. Dieses PwC-Projekt beruht jedoch nicht auf einer vorgegebenen Strategie des Konzerns, sondern entstand auf privater Initiative von einem kleinen Team von MitarbeiterInnen unter der Leitung von Anke Naderer. Sie sprachen sich dafür aus, nicht nur Spenden zu überweisen, sondern ein Projekt zu starten, das strategisch Sinn macht und von dem auch die MitarbeiterInnen profitieren. So entstand in Zusammenarbeit mit dem Evangelischen Diakoniewerk Gallneukirchen das Projekt „Miteinander erleben, voneinander lernen“ in den Hausgemeinschaften Erdbergstraße. Es soll eine „Begegnung zweier Welten in der Nachbarschaft“ ermöglichen. „Wir sind jung und dynamisch, haben in unserem Beruf nichts mit Senioren zu tun, sondern arbeiten mit den Spitzen der Leistungsgesellschaft zusammen. Bei einem Stundenhonorar von bis zu 400,– Euro für Führungskräfte ist Zeit für uns das Wichtigste“, erklärt Thomas Steinbauer, Leiter des Projekts bei PwC. „Wir laden deshalb unsere Mitarbeiter ein, sich mit dieser Gegenwelt im Altersheim auseinanderzusetzen, sich auf einen anderen Lebensrhythmus, eine andere Geschwindigkeit einzustellen. Sie sollen sich auf ein Terrain begeben, wo sie nicht ihre Kompetenz auf den ersten Blick vor sich herschieben können, sondern völlig ungewohnten Situationen ausgeliefert sind. Wenn z.B. eine demente Frau plötzlich zu weinen beginnt, weil sie glaubt, unser Mitarbeiter sei ihr Sohn. Wie reagiert man dann?“ Für Thomas Steinbauer, der selbst im Heim hospitierte, bringt dieses CSR-Projekt eine Gewinnsituation für beide Seiten. Die einen erlernen soziale Kompetenz und entwickeln ihre Persönlichkeit weiter, die anderen bekommen Unterstützung und Abwechslung. „ Schwierig ist nur der erste Schritt, die Überwindung etwas Ungewohntes zu tun, sich auf etwas ganz anderes einzulassen. Wenn die Leute einmal in der Hausgemeinschaft waren, gehen sie meist wieder hin.“ Diese erfolgreiche Zusammenarbeit von PwC und der Diakonie wurde 2009 mit dem TRIGOS, dem Preis für ein außergewöhnliches CSRProjekt im Bereich Gesellschaft, ausgezeichnet. Derzeit wird versucht, dieses Modell auch anderen Firmen schmackhaft zu machen.
Eleonore Bayer
Gemeinsam das Alter meistern
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Die Zukunft der Pflege, die wir für uns, für unsere Eltern, für unsere Kinder wünschen, liegt in unseren Händen. Nicht in den Institutionen. Wenn sich die Gesellschaft nicht ändert, gehen wir keiner guten Zukunft entgegen. Egal ob wir mehr werden, wenn jeder Einzelne hilft, geht das. Man fängt bei sich selber an. Dagmar Sommeregger, Altenfachbetreuerin
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Autorinnen
Angelika Kampfer Geboren 1960, aufgewachsen in Villach. Bis 1987 Chemotechnikerin in München und Paris; 1988 bis 1990 Besuch der Staatlichen Fachschule für Fototechnik in Berlin; seit 1990 freie Fotografin. Publikationen (Auswahl): „Fremde Heimat Salzburg“ 1995; „Menschen, Orte und Kulturen, Bilder aus Südtirol“, 1995; „Ausgesetzte Zeit“, 1997; „Krieg“, 1999; „Austausch“, 1999; „“, 2001; „Aufgenommen. Leben mit Down-Syndrom“, 2003; „Übergänge. Von der DDR zur Bundesrepublik Deutschland“, 2006; „Bergbauern“, 2009; „“, 2010. Ausstellungen im In- und Ausland www.angelika-kampfer.at Eleonore Bayer Geboren 1950 in Wien, Journalistin, 1976–1988 Redakteurin und Ressortleiterin bei der katholischen Nachrichtenagentur „Kathpress“, danach bis 2010 Redakteurin bei der Zeitschrift „Welt der Frau“ und Pressereferentin der Katholischen Frauenbewegung Österreichs (kfbö), Zusammenarbeit mit Angelika Kampfer im Bereich Öffentlichkeitsarbeit für die „Aktion Familienfasttag“, eine kfb-Initiative zur Förderung von Frauen in Asien und Lateinamerika. Eleonore Köck Geboren 1949 in Salzburg, 1970–2011 wohnhaft in Wien, arbeitete zwölf Jahre als Buchhändlerin, bevor sie 1976 mit ihrem Mann für einen mehrjährigen Entwicklungshelfereinsatz nach Papua-Neuguinea ging. Nach ihrer Rückkehr im Jahr 1979 war sie weiterhin im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Sie leitete Projektreferate und spezialisierte sich auf die Programme in Papua-Neuguinea und Nicaragua bei HORIZONT3000, Österreichische Organisation für Entwicklungszusammenarbeit. Seit 2011 lebt sie wiederum in Salzburg, um u. a. in der Nähe ihres in einem Seniorenwohnheim lebenden Vaters zu sein. Dr.in phil. Renate M. Obud Geboren 1951 in Klagenfurt, 1991–2007 Leiterin der Galerie der Stadt Villach / „Galerie an der Stadtmauer“ und „Galerie Freihausgasse“, Autorin zahlreicher Beiträge für Kataloge, Bücher und Fachzeitschriften im Bereich „Bildende Kunst“. Seit 2009 Begleitung der Mutter in ihrem Alltag im Pflegeheim Hülgerthpark in Klagenfurt. Mag.a Ulli Schark Geboren 1968, wuchs in Kärnten auf und studierte Germanistik und Italienisch an der Universität Wien. Bis 2008 arbeitete sie als Texterin und Konzeptionistin für verschiedenste Auftraggeber. Seit 2009 unterrichtet sie Deutsch und Italienisch an einem Gymnasium in der Nähe Wiens.
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Adressen
Essen auf Rädern Caritas St. Pölten / Caritas Schwarzenau – Betreuen und Pflegen zu Hause, Thayagasse 31, 3900 Schwarzenau
Im Pflegeheim Städtisches Altenwohn- und Pflegeheim Hülgerthpark, 9020 Klagenfurt am Wörthersee
Im Altersheim Altersheim Langen, Abt Pfanner Heim, Dorf 6, 6932 Langen bei Bregenz
Betreutes Wohnen Caritas Graz-Seckau und Volkshilfe Steiermark, Lilienthalgasse 12/1/9, 8020 Graz
In der Senioren Residenz Am Kurpark Wien Oberlaa, Fontanastraße 10, 1100 Wien
Gemeinsam das Alter meistern Evangelisches Diakoniewerk Gallneukirchen, Hausgemeinschaften Erdbergstraße, 1110 Wien
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Ich danke allen Menschen, die ich begleiten und fotografieren durfte, für ihre Offenheit und ihr Entgegenkommen, allen Betreuerinnen und Betreuern für die Zeit und die Gespräche, die sie mir geschenkt haben, Ottilie Waringer, die mir die Türen zu den Menschen geöffnet hat, denen sie bis zu ihrem 75. Lebensjahr „Essen auf Rädern“ gebracht hat, Dr. Maria und Dr. Hermann Görg-Singer für ihr Vertrauen, ihre Aufnahme und Gastfreundschaft, Anton Schwärzler für ein langes Gespräch über Wertschätzung und Empathie in der Pflege und Sr. Margret Hemma CPS für die freundliche Zusammenarbeit.
Ein herzliches Dankeschön an unsere Sponsoren, ohne deren Unterstützung dieses Buch nicht möglich wäre.
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek. Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78919-2 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2013 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau.at http://www.boehlau.de Fotos: Angelika Kampfer Gestaltung: Schark Design Druck: Druckerei Theiss GmbH, 9431 St. Stefan Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier
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