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German Pages 250 [253] Year 2018
Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht Band 153 herausgegeben von
Rolf Stürner
Alena McCorkle
Allgemeinkundigkeit § 291 ZPO als Rechtsgrundlage richterlicher Internetrecherchen?
Mohr Siebeck
Alena McCorkle, geboren 1981; Studium der Politikwissenschaft (Magistra Artium) und der Rechtswissenschaft in Gießen und Bologna; Referendariat in Gießen, Frankfurt am Main und Chicago; seit 2014 Rechtsanwältin in Frankfurt am Main; 2018 Promotion (Universität Gießen).
Zugl.: Gießen, Univ., Diss. Rechtswissenschaft, 2018 ISBN 978-3-16-156219-8 / eISBN 978-3-16-156220-4 DOI 10.1628/978-3-16-156220-4 ISSN 0722-7574 / eISSN 2568-7255 (Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Böblingen gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungs beständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2017/2018 von der Juristischen Fakultät der Justus-Liebig-Universität Gießen als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnten im April 2018 aktualisiert und einzelne Neuauflagen in den Druckfahnen noch berücksichtigt werden. Großer Dank gilt Prof. Dr. Wolf-Dietrich Walker für die mir eingeräumte wissenschaftliche Freiheit in der Behandlung des Themas, seine hilfreichen Anmerkungen sowie die schnelle Durchsicht und Begutachtung. Prof. Dr. Jens Adolphsen sei für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens und die angeregte Diskussion in der Disputation gedankt. Prof. Dr. Rolf Stürner bin ich für die Aufnahme in die von ihm herausgegebene Schriftenreihe zu Dank verpflichtet. Dr. Anne Kroh, Aeneas Nalbantis und Marco Schneidmüller möchte ich von Herzen für ihre Freundschaft und viele offene, interdisziplinäre Diskussionen danken. Auch die Gespräche mit Prof. Dr. Thilo Kuntz haben mich inspiriert und motiviert. Der wichtigste Dank geht an meine Familie, die mich in all meinem Tun stets unterstützt und bestärkt hat – und mich in Phasen ertragen hat, in denen mir das selbst schwergefallen ist. Hätte ich Edward McCorkle nicht bereits vor Beginn der Dissertation geheiratet, würde ich es heute tun. Dank meiner Mutter Annette Gröschner habe ich nicht vergessen zu leben. Immer verlassen konnte ich mich auch auf den Zuspruch meiner Schwester Tonja Zumpe. Keineswegs selbstverständlich ist schließlich die gelungene Kombination aus Ermutigung und Zurückhaltung, mit der mein Vater Prof. Dr. Rolf Gröschner mich auf meinem wissenschaftlichen Weg begleitet hat. Ihm sei diese Arbeit gewidmet. Frankfurt am Main, im August 2018
Alena McCorkle
Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX
§ 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I. Richterliche Internetrecherchen im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 II. Gegenstand der Untersuchung und Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . 5
§ 2 Beweisrechtlicher Rahmen der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. Beibringungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Recht auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Richterliche Neutralität und Distanz zum Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Internetseiten als Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Gegenstand des Beweises: Tatsachen versus Erfahrungssätze . . . . . . . . . . . VI. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7 11 16 19 24 40
§ 3 Funktion und Verständnis des heutigen § 291 ZPO zur Zeit seiner Entstehung in der Civilprozeßordnung für das Deutsche Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 I. Historischer Kontext: Das private Wissen des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Bestimmung der Allgemeinkundigkeit im Rahmen des § 264 CPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verwertungsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. „Recherchen“ des Gerichts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43 45 51 51 55
§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit und seine Bedeutung für richterliche Internetrecherchen . . . . . . . 57 I. Ausgangspunkt: Definition der Allgemeinkundigkeit durch Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 II. Kategorien des Bekannten und des Ermittelbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
VIII
Inhaltsübersicht
III. Gängige Praxis richterlicher Internetrecherchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 IV. Im Zusammenhang mit Internetrecherchen diskutierte Problemfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
§ 5 Ermittelbarkeit als Wesensmerkmal der Allgemeinkundigkeit? 103 I. Googeln statt Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
103 104 106 125
§ 6 Vom Allgemeinkundigkeitsbegriff unabhängige Kritik am „vereinfachten Beweisverfahren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 I. Vermengung von Definition und prozessualer Behandlung allgemeinkundiger Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wortlaut und Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Telos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127 131 138 151
§ 7 Art der Kenntniserlangung als Risiko richterlicher Internetrecherchen für die Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . 153 I. Schwindende Legitimationskraft der Art der Kenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zentrales Risiko der Internetrecherche: Art der Kenntniserlangung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ablauf einer typischen Internetrecherche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Risiken für die Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Art der Kenntniserlangung als nicht nur internetspezifisches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Ausblick: Mögliche Konsequenzen für richterliche Internetrecherchen nach Erfahrungssätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153 153 154 169 197 201 206
§ 8 Wesentliche Ergebnisse und Zusammenfassung in Thesen . . . . . 209 I. Wesentliche Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 II. Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII
§ 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I. Richterliche Internetrecherchen im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 II. Gegenstand der Untersuchung und Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . 5
§ 2 Beweisrechtlicher Rahmen der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. Beibringungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Geltung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 II. Recht auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Beweisaufnahme als zentrales Element des Zivilprozesses . . . . . . . . . . . 11 2. „Recht auf Strengbeweis“: Parteiöffentlichkeit der Beweisaufnahme . . . 12 III. Richterliche Neutralität und Distanz zum Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1. Der gesetzliche Richter als unbeteiligter Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2. Verbot der Verwertung privaten Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 IV. Internetseiten als Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Internetseiten als elektronische Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Internetrecherche als Augenscheinsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3. Internetrecherche im Freibeweisverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 4. Beweisantritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 V. Gegenstand des Beweises: Tatsachen versus Erfahrungssätze . . . . . . . . . . . 24 1. Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2. Erfahrungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 a) Unterschied und Verhältnis zu Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 b) Ermittlung von Erfahrungssätzen im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . 29 aa) Kein Beweiserfordernis bei allgemeinen Erfahrungssätzen . . . . 29 bb) Sachverständigenbeweis bei fachspezifischen Erfahrungssätzen 31 cc) Eigene Sachkunde des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 dd) Keine Sachkunde durch Lektüre von Fachliteratur . . . . . . . . . . . 32 ee) Übertragung auf Internetrecherchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
X
Inhaltsverzeichnis
3. Konfusion beweisrechtlicher Maßstäbe durch Vermischung von Tatsachen und Erfahrungssätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Irrelevanz der „Offenkundigkeit“ von Erfahrungssätzen . . . . . . . . . . b) Praxisbeispiele der Maßstabskonfusion bei Internetrecherchen . . . . . aa) Das „Epoxidharz“-Urteil des Amtsgerichts Köln . . . . . . . . . . . . bb) Das „Hyperthermie“-Urteil des Landgerichts Magdeburg . . . . . c) Relevanz von Sachkunde bei der Ermittlung von Tatsachen . . . . . . . VI. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34 34 36 36 39 39 40
§ 3 Funktion und Verständnis des heutigen § 291 ZPO zur Zeit seiner Entstehung in der Civilprozeßordnung für das Deutsche Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 I. Historischer Kontext: Das private Wissen des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Bestimmung der Allgemeinkundigkeit im Rahmen des § 264 CPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gesetzesbegründung und erste Definitionsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Allgemeine Verbreitung als Hauptkriterium bei Stein und Spiegelberg . . 3. Beschränkung auf die allgemeinen Umrisse eines Geschehens . . . . . . . . III. Verwertungsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. „Recherchen“ des Gerichts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Offenkundigkeit „bei dem Gericht“ als Wesensmerkmal . . . . . . . . . . . . . 2. Grundsatz der Beweisaufnahme bei fehlender Kenntnis des Gerichts . . . 3. Umstrittene Alternative: Selbstinformation des Gerichts . . . . . . . . . . . . . V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43 45 45 48 50 51 51 51 53 54 55
§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit und seine Bedeutung für richterliche Internetrecherchen . . . . . . . 57 I. Ausgangspunkt: Definition der Allgemeinkundigkeit durch Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kategorien des Bekannten und des Ermittelbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einheitliches Verständnis: Bekanntheit und Ermittelbarkeit als kumulative Beschreibung des Allgemeinkundigen . . . . . . . . . . . . . . . a) Formulierungen des Zivilsenats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Formulierungen des Strafsenats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Weitgehende Übereinstimmung mit historischer Definition . . . . . . . d) Weitgehende Übereinstimmung mit alternativen modernen Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rolle richterlicher Ermittlungen bei einheitlichem Verständnis . . . . . . . . a) Das Urteil des Bundesgerichtshofs zur „Ermittlung“ allgemeinkundiger Lichtverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Keine Generalermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57 59 59 59 61 62 62 64 64 65
Inhaltsverzeichnis
XI
c) Allgemeine Bekanntheit Voraussetzung der „Ermittlung“ . . . . . . . . . 66 3. Isoliertes Verständnis: Ermittelbarkeit als eigenständige Alternative zur Bekanntheit . . . . . . . . 67 a) Formulierung „oder“ und Betonung der Eigenständigkeit in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 b) „Differenzierende Betrachtung“ in Monographien zur Offenkundigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 c) Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . 69 4. Vergleich mit historischer Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 a) Identität des historischen Verständnisses mit der heutigen Kategorie des Bekannten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 b) Quellen als Medium der Verbreitung in der historischen Definition 72 c) (Qualität der) Quelle als Tatbestandsmerkmal in der heutigen Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 5. Auswirkung des isolierten Verständnisses auf die Rolle richterlicher Ermittlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 a) Allgemeinkundigkeit als Voraussetzung richterlicher Selbstinformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 b) Allgemeinkundigkeit als Ergebnis richterlicher Recherche . . . . . . . . 75 6. Wesens- und Funktionsveränderung: Vereinfachtes Beweisverfahren . . . 76 III. Gängige Praxis richterlicher Internetrecherchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 1. Zurückhaltung des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2. „Allgemeinkundige“ Ergebnisse der Internetrecherchen anderer Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3. Internetbedingter (weiterer) Wandel der Allgemeinkundigkeit . . . . . . . . 82 a) Erhebliche Erweiterung des Allgemeinkundigen . . . . . . . . . . . . . . . . 82 b) Aktive Mediennutzung statt passives „Mitbekommen“ . . . . . . . . . . . 83 c) Bedeutungszuwachs des vereinfachten Beweisverfahrens . . . . . . . . . 84 4. Grundsätzliche Zustimmung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 IV. Im Zusammenhang mit Internetrecherchen diskutierte Problemfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 1. Allgemeine Zugänglichkeit und Zuverlässigkeit von Internetquellen . . . 87 a) Allgemeine Zugänglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 aa) Stetig wachsende Online-Verfügbarkeit von Informationen . . . . 87 bb) Ermittlungen aus nicht allgemein zugänglichen Quellen . . . . . . 88 cc) Registrierungs- und Kostenpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 b) Zuverlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 aa) Zentrales Problem des Internets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 bb) „Bekannt und bewährt“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 cc) Beispiel der Uneinigkeit: Wikipedia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 dd) Unterscheidung zwischen „eigenen“ und „übernommenen“ Inhalten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 ee) Konsequenz: Einzelfallprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Internetrecherche und Verwertung ohne Parteivortrag . . . . . . . . . . . . . . . 96
XII
Inhaltsverzeichnis
a) Zusammenfassung des Verwertungsstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Übertragung auf qua Internetrecherche allgemeinkundige Tatsachen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Klare Übertragbarkeit bei Dötsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Differenzierung bei Greger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96 99 99 99 100
§ 5 Ermittelbarkeit als Wesensmerkmal der Allgemeinkundigkeit? . 103 I. Googeln statt Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 II. Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 1. Offene/allgemeine „Kundigkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2. Allgemeine Ermittelbarkeit als potentielle Kundigkeit . . . . . . . . . . . . . . 105 III. Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 1. Legitimation allgemein verbreiteter/bekannter Tatsachen . . . . . . . . . . . . 106 a) Allgemeine Überzeugung als Indiz der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . 107 b) Allgemeine Überzeugung als Garant der richterlichen Neutralität . . 108 2. Legitimation aus allgemein zugänglichen, zuverlässigen Quellen ermittelbarer Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 a) Bedeutung und Legitimationseignung der allgemeinen Zugänglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 aa) Allgemeine Zugänglichkeit als Garant der allgemeinen Überzeugung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 (1) Notwendige Bedingung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 (2) Hinreichende Bedingung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 bb) Allgemeine Zugänglichkeit als Garant der Nachprüfbarkeit . . . . 110 (1) Erschwerung durch Dynamik von Internetseiten . . . . . . . . . 111 (2) Erschwerung durch unvollständige Zitierung . . . . . . . . . . . . 112 b) Bedeutung und Legitimationseignung der Zuverlässigkeit . . . . . . . . 113 aa) Zuverlässigkeit der Quelle als Indiz der Wahrheit? . . . . . . . . . . . 113 bb) Einzelfallbewertung der Zuverlässigkeit von Internetseiten . . . . 113 cc) Individuelle Bewertung durch das Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 3. Nahezu restloser Entfall der Legitimationswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 a) Individuelle statt allgemeine Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Bloße Nachprüfbarkeit des individuellen Beweisergebnisses . . . . . . 116 4. Scheinlegitimation über „Natur“ allgemeinkundiger Tatsachen . . . . . . . 117 a) Ursprüngliche Natur: Mit der Allgemeinheit geteilte (Art der) Kenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 b) Zirkelschluss bei „Natur“ als Ergebnis einer Recherche . . . . . . . . . . 119 c) Fortwirkung der Scheinlegitimation außerhalb des Internets . . . . . . . 120 5. Sonderfall: Legitimation durch Amtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 a) Amtliche Quellen als Allgemeinkundigkeitsquellen . . . . . . . . . . . . . 121 b) Eigener Ansatz: Amtliche Auskunft i. S. d. § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO . 122 aa) Amtlichkeit als Legitimationsbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
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bb) Online-Abruf als (Alternative zur) Auskunft . . . . . . . . . . . . . . . cc) Beispiel: Wetter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Beispiel: Indizes und andere statistische Daten . . . . . . . . . . . . . . ee) Amtlichkeit und Allgemeinkundigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIII
122 123 124 125 125
§ 6 Vom Allgemeinkundigkeitsbegriff unabhängige Kritik am „vereinfachten Beweisverfahren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 I. Vermengung von Definition und prozessualer Behandlung allgemeinkundiger Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Richterliche Internetrecherchen per definitionem zulässig . . . . . . . . . . . . 2. (Keine) Unterscheidung von Recherche und Verwertung . . . . . . . . . . . . 3. Ursprüngliche Selbstverständlichkeit der Unterscheidung . . . . . . . . . . . 4. Einführung eines vereinfachten Beweisverfahrens qua definitione? . . . . II. Wortlaut und Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wortlaut des § 291 ZPO und weiterer Normen: Offenkundigkeit „bei dem Gericht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wortlaut anderer Normen: Bloße Offenkundigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausdrückliche Ermittlungsbefugnis in § 293 ZPO und weiteren Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Telos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Prozessökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung der Prozessökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Orientierung am Zweck des Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sicherung und Durchsetzung privater Rechte als (Haupt-)Zweck des Zivilprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bindung an das Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Beurteilungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verwirklichung der Prozessökonomie in § 291 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kenntnis als Grund des Beweisentfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Keine „Überflüssigkeit“ der Beweisaufnahme bei fehlender Kenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Prozessökonomie eines vereinfachten Beweisverfahrens bei Einverständnis der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Prozessökonomie des parteiöffentlichen Internetbeweises . . . . . . . . e) Keine „prozessökonomische“ Lösung struktureller Probleme . . . . . . f) Bedingungen der Prozessökonomie eines vereinfachten Beweisverfahrens ohne Einverständnis der Parteien . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127 127 127 128 129 131 131 134 136 138 138 139 139 139 142 143 144 144 146 147 148 149 150 151
XIV
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§ 7 Art der Kenntniserlangung als Risiko richterlicher Internetrecherchen für die Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . 153 I. Schwindende Legitimationskraft der Art der Kenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 II. Zentrales Risiko der Internetrecherche: Art der Kenntniserlangung . . . . . . 153 III. Ablauf einer typischen Internetrecherche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 1. Google als Tor zum Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2. Rolle individueller Kenntnisse und Fähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3. Individuelle Festlegung der Suchbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 4. Ranking der Ergebnisse durch die Suchmaschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 a) Search Engine Bias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 b) „Suchmaschinenoptimierung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 c) Zunehmende Personalisierung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 d) Insbesondere: Personalisierte Preise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 5. Individuelle Auswahl der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 a) Selektive Wahrnehmung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 b) Einfluss der Ergebnispräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 c) Stand der aufgerufenen Websites . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 6. Förderung ungeplanter Entdeckungen und Tendenz zum Weitersurfen . 167 7. Konsequenz: Keine einheitlichen Maßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 IV. Risiken für die Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 1. Beibringungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 a) Googles Herrschaft über „allgemeinkundige“ Tatsachen . . . . . . . . . . 169 b) Beispielsfall: Recherche von Online-Angeboten . . . . . . . . . . . . . . . . 170 c) Mangelnde Übertragbarkeit der Argumente für amtswegige Verwertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 aa) Kein Gewissenskonflikt des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 bb) Verhinderung des „tenorierten Widersinns“? . . . . . . . . . . . . . . . 173 d) Internetrecherchen „im Rahmen des Parteivortrags“? . . . . . . . . . . . . 175 e) „Nachschau des Bekannten“ ohne Parteivortrag? . . . . . . . . . . . . . . . 176 f) Kein Anlass zur Recherche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2. Recht auf Strengbeweis: Parteiöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 a) Mangelnde Rekonstruierbarkeit der Internetrecherche . . . . . . . . . . . 179 b) Beispielsfall: Recherche zu einer Telefonnummer . . . . . . . . . . . . . . . 180 c) Parallelen zwischen Internetrecherche und Zeugenbefragung . . . . . . 183 d) Keine Rechtfertigung des Beweisentfalls durch „richtiges“ Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 e) Ergänzende Legitimation durch Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 f) Keine Gleichwertigkeit nachträglichen rechtlichen Gehörs . . . . . . . . 186 3. Richterliche Neutralität und Distanz zum Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . 188 a) Unsicherheiten individueller Wahrnehmung im Internet . . . . . . . . . . 189 b) Verführungen des Internets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 c) Beispielsfall: Recherche zu Angaben in AGB und auf Homepage . . 191 d) Keine objektive Würdigung der eigenen Recherche . . . . . . . . . . . . . 193
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e) Keine Wiederherstellung der Distanz durch rechtliches Gehör . . . . . f) Beibringungsgrundsatz und Parteiöffentlichkeit als Hüter der richterlichen Neutralität bei der Internetrecherche . . . . . . . . . . . . V. Art der Kenntniserlangung als nicht nur internetspezifisches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aktive Information anlässlich des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anlassloses Mitbekommen vor Verfahrensbeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Notwendiges Mitbekommen nach Verfahrensbeginn . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Ausblick: Mögliche Konsequenzen für richterliche Internetrecherchen nach Erfahrungssätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verwertung bei Verfahrensbeginn vorhandener Kenntnisse . . . . . . . . . . . 2. Recherche nach Erfahrungssätzen innerhalb des Verfahrens . . . . . . . . . . a) Konstruktion des Umfelds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Individualität der Kenntniserlangung unabhängig von Sachkunde . . c) Vorbereitende Recherchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XV
195 196 197 198 199 199 201 202 204 204 204 205 206
§ 8 Wesentliche Ergebnisse und Zusammenfassung in Thesen . . . . . 209 I. Wesentliche Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 1. Keine richterlichen Internetrecherchen auf der Grundlage von § 291 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 2. Verwertung vorhandenen Wissens als zentrale Funktion des § 291 ZPO . 210 3. Parteiöffentlicher Internetbeweis oder amtliche (Online-)Auskunft bei fehlender Kenntnis des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 4. Eigene Definition der Allgemeinkundigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 a) Allgemeines Wahrgenommensein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 b) Allgemeines Verbreitetwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 II. Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
§ 1 Einleitung I. Richterliche Internetrecherchen im Zivilprozess Das Internet ist aus dem Leben vieler Menschen nicht mehr wegzudenken: Sie lesen Nachrichten online, rufen Behörden- oder Unternehmensinformationen online ab, planen Outdoor-Aktivitäten nach der Wetter-App des Smartphones, sehen sich örtliche Begebenheiten bei Online-Kartendiensten an (und lassen sich dort auch gleich Wegstrecke und Fahrtdauer berechnen), kaufen online ein (nachdem sie Produkt- und Preisvergleiche recherchiert und sich in sozialen Netzwerken oder Foren mit anderen Internetnutzern über Erfahrungen ausgetauscht haben), und wenn sich in persönlichen Gesprächen Uneinigkeiten über historische oder sonstige Fakten andeuten, wird triumphiert, wenn Google und Wikipedia jede Diskussion im Keim ersticken können. Ganz selbstverständlich informiert man sich jederzeit und an jedem Ort online über alles, was man wissen will. Ebenso selbstverständlich scheinen Internetrecherchen auch für viele Richter1 geworden zu sein: Die im Rahmen dieser Arbeit ausgewertete Rechtsprechung zeigt, dass Informationen aus dem Internet immer häufiger auch in den Zivilprozess Eingang finden. Neben der gemeinsamen Internetnutzung mit den Parteien in der mündlichen Verhandlung2 hat sich dabei vor allem eine Praxis etabliert, bei der richterliche Internetrecherchen – zum Parteivortrag und darüber hinaus – ohne die Parteien im Richterzimmer stattfinden. Die Ergebnisse werden über eine Vorschrift in das Verfahren eingeführt und verwertet, die insoweit einen regelrechten Boom erfahren hat: § 291 ZPO. § 291 ZPO lautet: „Tatsachen, die bei dem Gericht offenkundig sind, bedürfen keines Beweises.“ Unter den Begriff der Offenkundigkeit werden seit jeher die Unterbegriffe der „Allgemeinkundigkeit“ einerseits und der „Gerichtskundigkeit“ andererseits gefasst.3 Zugunsten der Eindeutigkeit wird der 1 Die vorliegende Arbeit folgt hinsichtlich Berufs- und anderer Personenbezeichnungen der Sprache des Gesetzes. Da insb. die Zivilprozessordnung (zumindest bislang) keine Richterinnen, Zeuginnen etc. kennt (siehe z. B. §§ 41 ff. und 375 ff. ZPO), werden auch im Folgenden die maskulinen Formen in generischer Weise verwendet. 2 Siehe dazu insb. § 2 IV. 3 Siehe bereits für den wortgleichen Vorgängerparagraphen § 264 CPO Stein, Das private Wissen des Richters, S. 151 ff. und 157 ff.; zu § 291 ZPO statt nahezu aller Wieczorek/Schütze/ Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 7; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017,
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§ 1 Einleitung
häufigen Verwendung des Begriffs „Offenkundigkeit“ als Synonym (nur) für „Allgemeinkundigkeit“4 hier nicht gefolgt, sondern der Begriff ausschließlich als Oberbegriff benutzt. Allgemeinkundige Tatsachen sind nach der heute herrschenden Meinung nicht nur im engeren Sinn allgemein bekannte Tatsachen (wie z. B. diejenige, dass Deutschland an Österreich grenzt oder dass der Zweite Weltkrieg 1945 zu Ende ging), sondern auch solche, „[…] von denen verständige und erfahrene Menschen […] sich durch Benutzung allgemein zugänglicher, zuverlässiger Quellen unschwer überzeugen können.“5
Auf dieser Grundlage reicht die Praxis richterlicher Recherchen in „allgemein zugänglichen“ und „zuverlässigen“ Internetquellen von Wetterabfragen6 über den Online-Abruf von Allgemeinen Geschäftsbedingungen7 oder Betriebsanleitungen8 und die Einholung diverser Produktinformationen9 bis hin zu der Feststellung des Festnetz-Charakters einer polnischen Telefonnummer10 und Preisvergleichen bezüglich neuer11 oder gebrauchter12 Gegenstände, Mietwagen13 oder Fernwärme14. Selbst auf längst abgeschalteten Internetseiten wird dank entsprechender Technologien, die eine archivartige Suche ermöglichen, (weiter) nach „allgemeinkundigen“ Tatsachen recherchiert.15 Eine Gerichtskundigkeit kann sich hingegen nach dem hergebrachten (und insoweit zustimmungswürdigen) Verständnis in der Regel nicht aus Internet§ 291 Rn. 1; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4 ff.; zum einzigen signifikanten Angriff dieser Unterscheidung siehe Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 264, 279. 4 Siehe z. B. Zöller/Greger, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1 f., der zwischen „Offenkundigkeit“ und „Gerichtskundigkeit“ unterscheidet. Vorliegend wird der Begriff der Allgemeinkundigkeit auch dort verwendet, wo im Original von „Offenkundigkeit“ die Rede ist, wenn es der Sache nach um Allgemeinkundigkeit geht und sich nicht um direkte Zitate handelt. 5 BVerfG, Kammerbeschl. v. 16. 5. 1989 – 1 BvR 705/88, Rn. 9, juris; die Formulierung geht zurück auf Beschl. v. 3. 11. 1959 – 1 BvR 13/59, BVerfGE 10, 177 = NJW 1960, 31 (31); daran anknüpfend z. B. Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 8; Greger, in: FS Stürner, 289 (292); Dötsch, MDR 2011, 1017 (1017); Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4. Siehe zu dieser und ähnlichen Definitionen noch ausführlich § 4 I. und II. 6 LG Dessau-Roßlau, Urt. v. 7. 6. 2012 – 1 S 32/12, Rn. 4, juris. 7 LG Bonn, Urt. v. 7. 8. 2001 – 2 O 450/00, MMR 2002, 255 (256 f.); ähnlich auch OLG Karlsruhe, Urt. v. 25. 5. 2009 – 1 U 261/08, NZV 2011, 141 (142). 8 OLG Zweibrücken, Beschl. v. 13. 12. 2013 – 3 W 147/13, Rn. 6, juris. 9 OLG München, Urt. v. 10. 7. 2009 – 10 U 5609/08, Rn. 8, juris; OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 11. 3. 2008 – 10 U 118/07, NJW‑RR 2008, 1194 (1195); OLG Köln, Urt. v. 5. 12. 2014 – 6 U 100/14, GRUR‑RR 2015, 292 (295); LG Nürnberg-Fürth, Urt. v. 18. 5. 2017 – 2 O 8988/16, Rn. 28, juris. 10 ArbG Siegen, Beschl. v. 3. 3. 2006 – 3 Ca 1722/05, MMR 2006, 836 (837). 11 OLG Düsseldorf, Urt. v. 19. 5. 2016 – I-16 U 72/15, NJW‑RR 2016, 1073 (1076). 12 OLG Köln, Beschl. v. 25. 5. 2016 – 1 W 6/16, NJOZ 2016, 1410 (1412 f.). 13 LG Wiesbaden, Urt. v. 30. 7. 2015 – 3 S 117/14, Rn. 11, juris. 14 AG Hamburg-Altona, Urt. v. 24. 02. 2015 – 316 C 248/14, WuM 2017, 403 (404). 15 So zur eigenen Praxis Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018).
I. Richterliche Internetrecherchen im Zivilprozess
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quellen ergeben,16 da hierunter nur solche Kenntnisse fallen, die in amtlicher Eigenschaft, d. h. insbesondere bei einer richterlichen Tätigkeit in vorausgegangenen Verfahren erworben wurden.17 Insofern ist es sachgerecht, dass eine Auseinandersetzung mit richterlichen Internetrecherchen in der Literatur zumeist nur im Hinblick auf eine mögliche Allgemeinkundigkeit stattfindet.18 Die Gerichtskundigkeit ist deshalb auch nicht Gegenstand dieser Arbeit. Soweit sich Gerichte dennoch auf eine vermeintliche „Gerichtsbekanntheit“ durch Internetrecherche berufen, geht es in der Sache meist ebenfalls um Allgemeinkundigkeit: So bezeichnete z. B. das Landgericht Stuttgart den Zusammenschluss verschiedener Taxiunternehmen zu sogenannten Taxizentralen „aufgrund eigener Wahr nehmung des Vorsitzenden sowie allgemein zugänglicher Informationsquellen, wie etwa der Internet-Enzyklopädie W.“ als „gerichtsbekannt“.19 Damit meinte das Gericht offenbar keine amtlich erlangte Kenntnis, sondern lediglich eine „Bekanntheit bei dem Gericht“, die gerade nicht amtlich, sondern durch „eigene Wahrnehmung“ im Privatleben und aus Wikipedia erworben worden war. In Betracht kommt insoweit allein eine Allgemeinkundigkeit, die nach den in dieser Arbeit untersuchten Kriterien zu beurteilen ist. Entsprechendes gilt für die vom Amtsgericht Hamburg als „gerichtsbekannt“ verwerteten Tatsachen zur Organisation der Sicherheitskontrolle am Hamburger Flughafen,20 sofern sich das Wissen des Gerichts nicht aus (gleichwohl denkbaren) amtlichen Erkenntnissen aus früheren Verfahren, sondern erst aus der in Bezug genommenen Online-Pressemitteilung ergab. Ebenfalls häufig mit einer vermeintlichen Gerichtskundigkeit verwechselt werden Fragen der 16 So ausdrücklich auch Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3, Klinger, jurisPR‑ ITR 4/2012 Anm. 4 und Greger, in: FS Stürner, 289 (292). 17 Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 11; Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 7; MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 9 f.; BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 6; Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2; Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 4 f.; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3; unzutreffend daher Balzer, Beweisaufnahme und Beweiswürdigung im Zivilprozess, Rn. 3, der unter die gerichtsbekannten Tatsachen auch solche fassen will, „die das Gericht durch private Beobachtung (im Internet?)“ kennengelernt hat. Die private Kenntniserlangung wird im Rahmen der Gerichtskundigkeit ganz allgemein ausdrücklich abgelehnt, siehe dazu insb. die vorstehenden Nachweise. Vertiefend zum Verständnis der Gerichtskundigkeit siehe § 6 III.3.b); zu häufigen Fehlbezeichnungen in der Rechtsprechung sogleich. 18 Siehe insb. Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3; Dötsch, MDR 2011, 1017 f.; Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4; Greger, in: FS Stürner, 289 (292 ff.); anders hingegen Bachmeier, DAR 2012, 557 ff., der für Ergebnisse aus Recherchen, die in früheren Verfahren durchgeführt wurden, eine Gerichtsbekanntheit aufgrund „Wissen kraft Amtes“ anzuerkennen scheint. Dies würde jedoch voraussetzen, dass in dem Vorgängerprozess eine „Recherche kraft Amtes“ zulässigerweise durchgeführt wurde, was wiederum zu den in dieser Arbeit thematisierten Fragen führt. 19 LG Stuttgart, Urt. v. 24. 11. 2010 – 39 O 71/10, WRP 2011, 382 ff. 20 AG Hamburg, Urt. v. 09. 05. 2014 – 36a C 462/13, RRa 2014, 249 (251).
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§ 1 Einleitung
angelesenen Sachkunde auf dem Gebiet der Erfahrungssätze21, die von § 291 ZPO nicht erfasst und in § 2 V. 2. und 3. flankierend erörtert werden. In der Literatur hat die Praxis richterlicher Internetrecherchen im Zeichen der Allgemeinkundigkeit bislang eher wenig Aufmerksamkeit und kaum Widerspruch erfahren;22 im Gegenteil haben viele der zitierten Urteile ihren Weg in die Kommentarliteratur gefunden und werden dort als Beispiele der Allgemeinkundigkeit genannt.23 Angesichts der bislang sehr überschaubaren Publikationen zum Thema24 wird die „herrschende Meinung“ maßgeblich von Dötsch geprägt, der bei (kritisch zu prüfender) Zuverlässigkeit der Quelle25 und Gewährung rechtlichen Gehörs im Ergebnis auch recht weit- und über den Parteivortrag hinausgehende Internetrecherchen für unbedenklich hält – und sich selbst als richterlicher „Fan“ von „Nachforschungen“ in einem Internetarchiv zu erkennen gibt.26 Einen gewissen Gegenpol bildet Greger, der Dötschs Praxis als „Fischzüge“ kritisiert und die richterliche Internetnutzung zumindest 21 So z. B. im Fall des AG Köln, Urt. v. 20. 4. 2011 – 201 C 546/10, NJW 2011, 2979 (2979), in dem es dieses für „gerichtsbekannt“ erklärte, dass „[…] Epoxidharz Komponenten enthält, die gesundheitsschädlich sind. Dabei bezieht sich das Gericht auf den Artikel der freien Enzyklopädie Wikipedia zum Thema Epoxidharz.“ Siehe hierzu noch ausführlich § 2 V. 3.b)aa). 22 Kritische Äußerungen gelten meist der im Einzelfall zu prüfenden „Zuverlässigkeit“ der Quelle, beziehen sich aber in der Regel auf Fälle, in denen das eigentliche Problem in der soeben angesprochenen, im Internet angelesenen (vermeintlichen) Sachkunde und somit außerhalb des § 291 ZPO liegt, siehe z. B. Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3; Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4. Auch hierzu ausführlich § 2 V. 3. 23 Siehe Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4, 18; Wieczorek/Schütze/ Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 8; BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 5; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4a; HkZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 2. Unerwähnt bleibt das Internet z. B. in der Kommentierung der Allgemeinkundigkeit von MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 5 ff., insb. in der Aufzählung „typische[r] Informationsquellen“ in Rn. 6. Soweit in Rn. 8 zu „großer Zurückhaltung“ gemahnt wird, zielt dies dem Kontext nach nicht auf Internetrecherchen, sondern auf richterliche Mutmaßungen zu allenfalls wahrscheinlichen Begebenheiten, also (vermeintlich) vorhandenes Wissen des Richters; dasselbe gilt für die ähnlichen Mahnungen von Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 5; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2 und Pantle, MDR 1993, 1166 (1168). 24 Zu nennen sind hier neben den einzigen im weiteren Schrifttum wahrgenommenen und vielfach zitierten Beiträgen von Dötsch, MDR 2011, 1017 f. und Greger, in: FS Stürner, 289 ff. die im wesentlichen Dötsch folgende Urteilsanmerkung von Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4 sowie der anwaltliche Beitrag von Howe in dem praxisorientierten Online-Magazin DisputeResolution 2/2015, 19 ff.; darüber hinaus schreiben insb. Zosel, in: FS Käfer, 491 ff., Bachmeier, DAR 2012, 557 ff., Kühn, ZMR 2012, 27 f. und Laubinger, ZMR 2012, 25 f. über richterliche Internetrecherchen, setzen sich mit deren Rechtsgrundlage und Zulässigkeit aber nicht (vertieft) auseinander. Auf all diese Beiträge wird an geeigneten Stellen der Arbeit eingegangen. 25 Zum prominenten Kriterium der „Zuverlässigkeit“ ausführlich § 4 IV. 1.b) und § 5 III.2.b). 26 Dötsch, MDR 2011, 1017 f.
II. Gegenstand der Untersuchung und Gang der Darstellung
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hinsichtlich nicht vorgetragener Tatsachen auf eine „Nachschau“ von allgemein Bekanntem im engeren Sinn beschränken will.27 Das Allgemeinkundigkeitsverständnis als solches und die sich daraus ergebende grundsätzliche Zulässigkeit richterlicher Internetrecherchen stellt aber auch Greger nicht in Frage.
II. Gegenstand der Untersuchung und Gang der Darstellung Die vorliegende Arbeit nimmt die dargestellte Praxis richterlicher Internetrecherchen zum Anlass, den Regelungsgehalt von § 291 ZPO genauer zu untersuchen und das gängige Verständnis der Allgemeinkundigkeit kritisch zu hinterfragen. In § 2 wird hierfür zunächst der beweisrechtliche Rahmen skizziert, in dem § 291 ZPO einerseits und Internetinformationen andererseits stehen: Das Spannungsfeld des § 291 ZPO wird durch den Beibringungsgrundsatz, das Recht auf Beweis und den Grundsatz der Parteiöffentlichkeit sowie das Gebot der richterlichen Neutralität und Distanz zum Sachverhalt geprägt, deren Bedeutung im Zivilprozess und im Verhältnis zu § 291 ZPO einleitend erläutert werden.28 Im Anschluss daran erfolgt eine Einordnung des „Internetbeweises“ in das Beweissystem der ZPO. Gegenstand des Beweisrechts im Allgemeinen, des § 291 ZPO im Besonderen und insofern auch dieser Arbeit sind (primär) Tatsachen: Diese bedürfen einer Abgrenzung von den Erfahrungssätzen, die seit jeher – und heute gerade auch im Internetkontext – mit den allgemeinkundigen Tatsachen verwechselt werden und „dort Unheil und Verwirrung stiften“29. Die Maßstäbe für den Umgang mit Erfahrungssätzen werden hier erläutert, um sie sodann aus dem Fokus der Untersuchung herauszunehmen. Auf dieser Grundlage beschäftigt sich § 3 mit den Fragen, welche Funktion § 291 ZPO zukam, als er bzw. seine Vorgängervorschrift wortgleich in die Civilprozeßordnung des Deutschen Reichs 1877 aufgenommen wurde und wie die Allgemeinkundigkeit ursprünglich bestimmt wurde. § 4 widmet sich der Entstehung des heutigen Verständnisses der Allgemeinkundigkeit und seiner Bedeutung für richterliche Internetrecherchen. Die Ent27 Greger, in: FS Stürner, 289 (294); Zöller/ders., ZPO, 32. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1b, 2a; diesem folgend Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 39. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1. Ausführlich zu Dötsch und Greger insb. § 4 IV. 2. 28 Dabei wird nicht verkannt, dass es sich weder bei dem Beibringungsgrundsatz noch bei der richterlichen Neutralität um spezifisch „beweisrechtliche“ Grundsätze handelt. Da sie in der vorliegenden Arbeit aber der Auslegung einer beweisrechtlichen Vorschrift und insb. der Bewertung eines von der herrschenden Meinung angenommenen „vereinfachten Beweisverfahrens“ (so insb. Greger, in: FS Stürner, 289 (295)) dienen, bilden sie hier, zusammen mit den auch im engeren Sinne beweisrechtlichen Grundlagen, den (deshalb so bezeichneten) „beweisrechtlichen Rahmen“ der Arbeit. 29 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 13.
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§ 1 Einleitung
wicklung wird hier bewusst detailliert dar- und dem historischen Verständnis gegenübergestellt, um auf bislang (soweit ersichtlich) nicht herausgearbeitete Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufmerksam zu machen, die das heutige Verständnis keineswegs selbstverständlich erscheinen lassen. Auch die im Zusammenhang mit richterlichen Internetrecherchen schwerpunktmäßig diskutierten Problemfelder der „allgemeinen Zugänglichkeit“ und „Zuverlässigkeit“ von Internetquellen sowie der (Recherche und) Verwertung allgemeinkundiger Tatsachen ohne Parteivortrag werden hier erörtert. In § 5 wird das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit einer kritischen Prüfung unterzogen, bei der die Legitimationsbasis allgemeinkundiger Tatsachen früher und heute im Mittelpunkt steht. Hierbei wird insbesondere auf internetspezifische Besonderheiten eingegangen. § 6 beginnt mit einer Kritik der im heutigen Verständnis des Allgemeinkundigen als dem von jedermann und somit auch vom Gericht „Ermittelbaren“ angelegten Vermengung von Definition und prozessualer Behandlung allgemeinkundiger Tatsachen. Sodann erfolgt eine grammatikalische, systematische und teleologische Analyse des § 291 ZPO, mit deren Hilfe die Frage nach der Zulässigkeit richterlicher Internetrecherchen unabhängig vom Begriff der Allgemeinkundigkeit beantwortet werden soll. § 7 widmet sich dem zentralen und bislang übersehenen Risiko richterlicher Internetrecherchen, das nicht in der Art der erlangten Kenntnis, sondern der Art der Kenntniserlangung zu sehen ist. Zunächst wird der Ablauf einer typischen Internetrecherche nachgezeichnet und untersucht. Ausgehend hiervon werden die spezifischen Risiken für den Beibringungsgrundsatz, das Recht auf (Streng-) Beweis und die richterliche Neutralität und Distanz zum Sachverhalt analysiert. Die Ergebnisse werden von einigen übergreifenden Überlegungen zur Art der Kenntniserlangung auch außerhalb des Internets sowie einem Ausblick auf Konsequenzen der Ergebnisse für den Umgang mit Erfahrungssätzen ergänzt. § 8 beantwortet die Titelfrage der Arbeit und präsentiert einen eigenen Vorschlag zur Definition der Allgemeinkundigkeit, bevor eine Zusammenfassung in Thesen erfolgt. Durchweg wird versucht, die Schwierigkeiten der Vorschrift auch anhand realer Rechtsprechungsbeispiele zu erörtern. Zu diesem Zweck wurden insbesondere Urteile aller zivilprozessualen Instanzen, die über die elektronischen Datenbanken beck-online und/oder juris verfügbar sind, systematisch ausgewertet und anhand ihrer Eignung zur Darstellung einzelner Probleme ausgewählt. Auf diese Weise soll neben dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn eine praktische Nachvollziehbarkeit erreicht werden, die es der Richterschaft ermöglicht, ihre eigene Praxis anhand der vorgestellten Ergebnisse zu überprüfen.
§ 2 Beweisrechtlicher Rahmen der Untersuchung I. Beibringungsgrundsatz 1. Geltung und Inhalt Die Sammlung der entscheidungserheblichen Tatsachen einschließlich der Beweisführung wird in den unterschiedlichen Prozessordnungen von verschiedenen Verfahrensgrundsätzen bestimmt. Im Zivilprozess gilt der Beibringungsgrundsatz, der auch Verhandlungsmaxime genannt wird.1 Im Gegensatz zur Untersuchungsmaxime in von öffentlichem Interesse geprägten Verfahren, kennzeichnet der Beibringungsgrundsatz die Verantwortung der Parteien für die Beschaffung und den Beweis des relevanten Tatsachenstoffs bei der Durchsetzung privater Rechte und setzt damit ihre in Art. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verankerte Privatautonomie fort.2 Daraus ergibt sich, dass das Gericht seiner Entscheidung grundsätzlich nur Tatsachen zugrunde legen darf, die von den Parteien vorgetragen sind.3 Im Gesetzestext ist dies vor allem im Wortlaut des § 313 Abs. 2 ZPO angedeutet, der es dem Gericht vorgibt, den Tatbestand anhand der „dazu vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmittel“ darzustellen.4 Seine Aufgabe ist nicht, wie etwa im Strafprozess, die amtswegige Ermittlung aller (möglicherweise) relevanten Tatsachen, sondern die Prüfung der Richtigkeit der von den Parteien vorgetragenen.5 Die Hauptfunktion des Beibringungsgrundsatzes liegt somit in der namentlich von Brüggemann be1 Stürner, in: FS Kollhosser, 727 (727) weist darauf hin, dass dieser Grundsatz allen europäischen Zivilprozessordnungen gemein sei, wohingegen sich die im deutschsprachigen Rechtskreis verwendeten Begriffe nicht europaweit durchgesetzt hätten. 2 BVerfG, Beschl. v. 25. 7. 1979 – 2 BvR 878/74, BVerfGE 52, 131 = NJW 1979, 1925 (1927); Prütting/Gehrlein/Prütting, ZPO, 9. Aufl. 2017, Einl. Rn. 27; Koch, Mitwirkungsverantwortung im Zivilprozess, S. 99; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 311; Scherpe, ZZP 2016, 153 (170). 3 BVerfG, Beschl. v. 11. 10. 1994 – 1 BvR 1398/93, BVerfGE 91, 176 = NJW 1995, 40 (40); BGH, Urt. v. 13. 3. 1997 – I ZR 215/94, NJW 1998, 156 (159); Wieczorek/Schütze/ Prütting, ZPO, 4. Aufl. 2015, Einl. Rn. 90; Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl. 2017, Einl. Rn. 37; Prütting/Gehrlein/Prütting, ZPO, 9. Aufl. 2017, Einl. Rn. 28; Koch, Mitwirkungsverantwortung im Zivilprozess, S. 98. 4 Brüggemann, Judex statutor und judex investigator, S. 116 ff.; nach Jauernig/Hess, Zivilprozessrecht, § 25 Rn. 13 lässt sich die Verhandlungsmaxime hingegen primär aus § 138 ZPO herauslesen. 5 Bernhardt, in: FS Rosenberg, 9 (25); Jauernig/Hess, Zivilprozessrecht, § 25 Rn. 14.
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§ 2 Beweisrechtlicher Rahmen der Untersuchung
tonten „Sperrwirkung“ gegenüber dem Gericht: Der Beibringungsgrundsatz erlaubt den Parteien, als irrelevant erachtete Tatsachen nicht vorzubringen und Beweismittel nicht anzugeben – mit der Wirkung, dass das Gericht den Nichtvortrag nicht durch eigenes Wissen oder eigene Ermittlungen substituieren darf.6 Der Beibringungsgrundsatz dient somit zunächst der Ermittlung der „formellen“7 Wahrheit auf Grundlage des von den Parteien gezeichneten Bildes. Bei „Waffengleichheit“ und unter Voraussetzung der Einhaltung der prozessualen Wahrheitspflicht gemäß § 138 Abs. 1 ZPO wird die Förderung der jeweils eigenen, gegensätzlichen Interessen gemeinhin als mindestens ebenso gut geeignet wie der Untersuchungsgrundsatz angesehen, auch die „materielle“ Wahrheit ans Licht zu bringen und damit die „richtige“ Entscheidungsgrundlage zu schaffen.8 Geltungsgrund und Reichweite des Beibringungsgrundsatzes sind – trotz seiner Anerkennung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung9 – in der Literatur immer wieder Gegenstand intensiver Kontroversen gewesen.10 Auf deren Höhepunkt in den 1960er bis 1980er Jahren wurde vertreten, dass „dieser doktrinäre Schulbegriff im geltenden Recht keine Stütze findet.“11 Heute werden 6 Brüggemann, Judex statutor und judex investigator, S. 119 f.; die positive Entscheidung darüber, welche Tatsachen die Parteien vortragen, verortet Brüggemann demgegenüber – anders als die dargestellte herrschende Meinung, die auch diese zum Beibringungsgrundsatz rechnet – beim Dispositionsgrundsatz im Rahmen der Bestimmung des Streitgegenstands. Auch Schellhammer, Zivilprozess, Rn. 341 betont die negative Funktion des Beibringungsgrundsatzes. 7 Dabei bezeichnet „formell“ keine andere „Art“ von Wahrheit, sondern betont das Verfahren zu ihrer Gewinnung, siehe dazu Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 40 m. w. N. 8 BVerfG, Beschl. v. 25. 7. 1979 – 2 BvR 878/74, BVerfGE 52, 131 = NJW 1979, 1925 (1927); Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl. 2017, Einl. Rn. 38; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 77 Rn. 6; Adolphsen, Zivilprozessrecht, § 4 Rn. 15; R. Schmidt, Die außergerichtlichen Wahrnehmungen des Prozeßrichters, S. 11; Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 51; Weichbrodt, Der verbotene Beweis im Straf- und Zivilprozess, S. 29; Koch, Mitwirkungsverantwortung im Zivilprozess, S. 100; Scherpe, ZZP 2016, 153 (170 f.). E. Schmidt, in: FS Brüggemeier, 629 (630) lehnt demgegenüber eine Parteiherrschaft über Tatsachen gerade deshalb ab, weil es für den lauteren Sachvortrag der Parteien keine Garantie gebe; zugunsten einer materiellen Wahrheitsfindung durch (eingeschränkte) Verhandlungsmaxime aber noch ders., Der Zweck des Zivilprozesses und seine Ökonomie, S. 37. 9 Siehe Fn. 2, 3 und 8. 10 Siehe bereits Stein, Das private Wissen des Richters, S. 94 und R. Schmidt, Die außergerichtlichen Wahrnehmungen des Prozeßrichters, S. 6 ff.; aus der „Hochzeit“ der Debatten siehe insb. Brüggemann, Judex statutor und judex investigator, S. 107 ff.; Bomsdorf, Prozessmaximen und Rechtswirklichkeit, passim; Bathe, Verhandlungsmaxime und Verfahrensbeschleunigung bei der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung, S. 115 ff.; Brehm, Bindung des Richters an den Parteivortrag und Grenzen freier Verhandlungswürdigung, S. 9 ff. sowie Zettel, Der Beibringungsgrundsatz, passim, der einen „Hang zu Übertreibungen“ auf beiden Seiten konstatiert (S. 191); zur Ideologie der Kritiken auch Leipold, JZ 1982, 441 ff.; aus heutiger Perspektive zusammenfassend Koch, Mitwirkungsverantwortung im Zivilprozess, S. 97 ff. 11 Bomsdorf, Prozessmaximen und Rechtswirklichkeit, S. 277.
I. Beibringungsgrundsatz
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die Auseinandersetzungen im Wesentlichen für überwunden gehalten.12 Roth spricht sogar von einer internationalen „Wiederentdeckung der Prozessmaximen“,13 und auch Bruns sieht mit Blick auf das europäische Zivilprozessrecht im Beibringungsgrundsatz und den anderen Prozessmaximen eine „echte Zukunftschance“.14 Jedenfalls wird die grundsätzliche Geltung und Berechtigung des Beibringungsgrundsatzes ganz überwiegend15 anerkannt – wenngleich nicht in (ohnehin nie dagewesener) Reinform, sondern flankiert von einer Mitwirkungspflicht und aktiveren Rolle des Gerichts, die insbesondere in der gesetzgeberisch gestärkten16 materiellen Prozessleitung und Beweiserhebung von Amts wegen zum Ausdruck kommt.17 Der hierfür gelegentlich verwendete Begriff der „Kooperationsmaxime“18 sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Parteien in aller Regel gegensätzliche Interessen verfolgen und daher nicht miteinander kooperieren wollen, was wiederum eine „Kooperation“ des zur Neutralität19 verpflichteten Gerichts mit nur einer Partei ausschließt und den Gedanken auf eine gleichmäßige „Kooperation“ mit beiden Parteien beschränkt.20 Die Bedeutung des Beibringungsgrundsatzes besteht in diesem Zusammenhang vor allem darin, dass die primäre Verantwortlichkeit für den Tatsachenstoff weiterhin bei den Parteien liegt und eine Ermittlung nicht vorgetragener Tatsachen im Grundsatz auch dort unzulässig bleibt, wo eine Beweisaufnahme von Amts wegen erfolgen darf: Die von Amts wegen erhobenen Beweise haben sich grundsätzlich im Rahmen des bestrittenen erheblichen Parteivorbringens zu bewegen und dürfen dieses nicht erweitern.21 Der 12 Wieczorek/Schütze/Prütting, ZPO, 4. Aufl. 2015, Einl. Rn. 80; Stürner, in: FS Kollhosser, 727 (731) betont, dass die Disposition der Parteien über Tatsachen und Beweismittel einer langen historischen Entwicklung entspreche und in der westlichen Zivilisation „immer nur vorübergehend angefochten“ gewesen sei. 13 Roth, ZZP 2016, 3 (10). 14 Bruns, in: Symposion Stürner, 53 (67). 15 Siehe die vorstehenden und nachfolgenden Fn.; ferner Gomille, Informationsproblem und Wahrheitspflicht, S. 148 f.; heftige Kritik an der herrschenden Meinung übt hingegen nach wie vor E. Schmidt, in: FS Brüggemeier, 629 (629 ff.). 16 Zu den verschiedenen ZPO‑Novellen und ihrem Einfluss auf den Beibringungsgrundsatz Benedicter, Die Sachverhaltsermittlung im Zivilprozess, S. 77 ff., 84 ff.; vgl. auch die folgenden Fn. 17 Koch, Mitwirkungsverantwortung im Zivilprozess, S. 109; Musielak, in: FS Vollkommer, 237 ff.; Gaier, NJW 2013, 2871 (2872). 18 Siehe z. B. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 77 Rn. 5 sowie die gleichnamige Monographie von Hahn („Kooperationsmaxime im Zivilprozess?“); gegen Begriff und Bestehen einer „Kooperationsmaxime“ (u. a. aus dem genannten Grund) Jauernig/Hess, Zivilprozessrecht, § 25 Rn. 59 ff.; Reischl, ZZP 2003, 81 (85). 19 Siehe dazu noch § 2 III. 20 Darauf haben im Kern bereits Leipold, JZ 1982, 441 (447) und in jüngerer Zeit insb. Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 110 f. hingewiesen. 21 Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 105 ff., 119 hat in seiner Dissertation zur Beweiserhebung von Amts wegen den Beibringungsgrund-
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§ 2 Beweisrechtlicher Rahmen der Untersuchung
Gesetzgeber wollte auch im Zuge der ZPO‑Reform 2001 mit der Ausweitung der Beweiserhebung von Amts wegen das Gericht nicht zur Beweiserhebung „unabhängig von einem schlüssigen Vortrag zum Zwecke der Informationsgewinnung“ ermächtigen.22 Auch im Rahmen der materiellen Prozessleitung gemäß § 139 ZPO darf das Gericht weiteres tatsächliches Vorbringen nur insoweit anregen, wie es bereits im Parteivortrag angelegt ist. Eine eigenständige Ergänzung des Sachverhalts durch das Gericht ist auch im Wege eines Hinweises unzulässig.23 Ob und inwieweit § 291 ZPO für „offenkundige“ Tatsachen eine Ausnahme vom Beibringungsgrundsatz macht und nicht nur auf ihren Beweis, sondern auch auf ihre Behauptung verzichtet, war schon zur Zeit der Entstehung der Civilprozeßordnung für das Deutsche Reich Ende des 19. Jahrhunderts heftig umstritten und wird nach wie vor als das „schwierigste und bis heute nicht abschließend geklärte Problem“24 der Vorschrift wahrgenommen. Der historische Streit und seine Bedeutung für die Zulässigkeit richterlicher Internetrecherchen werden im Laufe der Untersuchung an verschiedenen Stellen erörtert.25
2. Darlegungs- und Beweislast Welche Partei für den jeweiligen Tatsachenvortrag und -beweis verantwortlich ist, richtet sich nach der Verteilung der Darlegungs- und Beweisführungslast („subjektive Beweislast“), die insoweit „Komponenten des Beibringungsgrundsatzes“26 darstellen. Die subjektive Beweislast wiederum folgt im Normalfall satz als deren „erste und wichtigste Einschränkung“ herausgearbeitet; siehe auch Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 77 Rn. 5; Koch, Mitwirkungsverantwortung im Zivilprozess, S. 105; Musielak, in: FS Vollkommer, 237 (240, 245); Scherpe, ZZP 2016, 153 (172 f., 173 ff.). Für den amtswegigen Sachverständigenbeweis werden teilweise Ausnahmen gemacht, die hier nicht weiter von Bedeutung sind, siehe insb. BGH, Urt. v. 7. 12. 1994 – VIII ZR 153/93, NJW 1995, 665 (667); Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 68; zu alledem ausführlich Stackmann, NJW 2007, 3521 ff. 22 So ausdrücklich die Stellungnahme des Rechtsausschusses des Bundestags, BT‑Drs. 14/6036, S. 121 (zur Anordnung der Urkundenvorlage); ebenso BGH, Beschl. v. 15. 6. 2010, XI ZR 318/09, WM 2010, 1448 (1451). Zur Orientierung auch der erweiterten Vorlageanordnungsmöglichkeiten am Parteivortrag siehe Benedicter, Die Sachverhaltsermittlung im Zivilprozess, S. 107 ff., 116 f. sowie Beckhaus, Die Bewältigung von Informationsdefiziten bei der Sachverhaltsaufklärung, S. 99 ff., 124 f., jeweils m. w. N. 23 BGH, Beschl. v. 20. 10. 2008 – II ZR 207/07, NZG 2009, 21 (21); MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 284 Rn. 16; Wieczorek/Schütze/Prütting, ZPO, 4. Aufl. 2015, Einl. Rn. 92; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 77 Rn. 5; Schilken, Zivilprozessrecht, Rn. 355; Gomille, Informationsproblem und Wahrheitspflicht, S. 412; Musielak, in: FS Vollkommer, 237 (239); Reischl, ZZP 2003, 81 (110); Scherpe, ZZP 2016, 153 (172). 24 MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 13. 25 Siehe § 3 III., § 4 IV. 2., § 6 I. 2. und § 7 IV. 1.c). 26 Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 17 (zur Behauptungs- und Darlegungslast), 868 (zur Beweisführungslast); siehe auch Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 9 Rn. 32 ff., 57 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 115 Rn. 4; Diakonis,
II. Recht auf Beweis
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der objektiven Beweislast, die darüber entscheidet, zu wessen Ungunsten sich die Nichtbeweisbarkeit einer Tatsache auswirkt.27 Auf diese Weise werden die Parteien motiviert, aktiv zu werden, um einen Prozessverlust durch ein non liquet zu verhindern.28 Je nachdem, für welche Partei ein vom Gericht entgegen dem Beibringungsgrundsatz „ersetzter“ Parteivortrag günstig ist, betrifft ein solcher Verstoß damit immer zugleich das Interesse der Partei an der (gelingenden) eigenen oder (misslingenden) gegnerischen Darlegung und Beweisführung.
II. Recht auf Beweis 1. Beweisaufnahme als zentrales Element des Zivilprozesses Grundlage jeder gerichtlichen Entscheidung ist die Überzeugung des Gerichts von den tatsächlichen Begebenheiten, die es dieser Entscheidung zugrunde zu legen hat (§ 286 Abs. 1 S. 1 ZPO). Der Bildung dieser Überzeugung dient die Beweisaufnahme: „Beweis“ wird definiert als „Tätigkeit, die in dem Richter (iudici fit probatio) die Überzeugung von der Wahrheit oder Unwahrheit einer Behauptung begründen soll.“29 „Wahrheit“ kann auch insoweit nur die „prozessordnungsgemäß gewonnene Wahrheit“30 sein, die mit der „materiellen“ Wahrheit im Idealfall, aber nicht zwingend identisch ist.31 Die Beweisaufnahme ist somit für den Ausgang des Verfahrens von erheblicher Bedeutung und „in der Praxis das Kernstück des Prozeßverfahrens“.32 Die Qualität der gerichtlichen Entscheidung wird nicht unwesentlich von der Qualität des Beweisrechts und seiner Handhabung im Verfahren bestimmt.33 Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 125; Stürner, in: FS Kollhosser, 727 (727). 27 Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 9 Rn. 10 ff., 32 ff. (siehe dort auch zur Uneinheitlichkeit der Terminologie Rn. 5 ff.); Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 115 Rn. 3 f.; Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 874. 28 Vgl. die vorstehenden sowie Musielak/Voit, Grundkurs ZPO, Rn. 731 f.; Stürner, in: FS Kollhosser, 727 (727). 29 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 110 Rn. 1; Grunsky/Jacoby, Zivilprozessrecht, Rn. 517; Gomille, NZFam 2014, 100 (103). 30 MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 284 Rn. 8; Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 3 Rn. 1. 31 Stürner, in: FS Vollkommer, 201 (204) hat insoweit darauf hingewiesen, dass das „laienhafte Rechtsgefühl eher dazu [neige], Recht mit materieller Wahrheit zu verbinden“, während der „gelehrte Jurist“ die notwendigen Grenzen der Wahrheitsfindung im Zivilprozess „deutlicher zu erkennen und zu akzeptieren“ vermöge. Zur Rolle der Wahrheitsfindung im Zivilprozess siehe noch § 6 III.2.b) sowie § 7 IV. 2.d) und e). 32 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 50; siehe auch Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kap. 5 Rz. 4; Schilken, in: FS Kollhosser, 649 (649); Zuck, NJW 2010, 3350 (3350 f.). 33 Walker, in: FS Schneider, 147 (147) m. w. N. zählt „die gesetzliche Regelung und die
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Für die Parteien ist es daher von größter Wichtigkeit, bei der Erarbeitung der tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung mitzuwirken. Hierfür hat sich der Begriff eines „Rechts auf Beweis“ als Ausprägung des Rechts auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG und/oder des Justizgewährungsanspruchs etabliert:34 Effektiver Rechtsschutz setzt voraus, dass die Parteien die Möglichkeit haben, die aus ihrer Sicht maßgeblichen tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung vorzutragen und zu beweisen.35 Das Recht auf Beweis gewährleistet, dass angebotene erhebliche Beweise erhoben werden, sofern das Prozessrecht nicht ausnahmsweise das Übergehen eines Beweisantrags stützt.36 § 291 ZPO stellt eine dieser Ausnahmen dar.
2. „Recht auf Strengbeweis“: Parteiöffentlichkeit der Beweisaufnahme Die von § 286 ZPO vorausgesetzte richterliche Überzeugung ist notwendigerweise subjektiv.37 Umso wichtiger ist eine Objektivierung durch Verfahrensregeln, die ihre Gewinnung kontrollierbar machen.38 Walter hat in diesem Zusammenhang betont, dass der Bereich der Beweiserhebung einerseits und der anschließenden Beweiswürdigung durch das Gericht andererseits scharf zu trennen sind. Es werde häufig verkannt, dass das Prinzip der freien Beweiswürdigung „dort nichts zu suchen hat, wo es um die Beschaffung und Aufklärung der Tatsachenbasis geht“.39 Das Gericht kann also keinesfalls unter Berufung auf die freie Beweiswürdigung darüber entscheiden, welche Tatsachen es würdigt. richterliche Handhabung des Beweisrechts zu den wichtigsten Bestandteilen jeder Rechtsordnung“; vgl. auch Völzmann-Stickelbrock, ZZP 2005, 359 (383 f.). 34 Grundlegend Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 297 ff. sowie Habscheid, ZZP 1983, 306 (307); zu den unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Verankerungen siehe auch Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 284 Rn. 41; Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kap. 1 Rz. 84 f.; Scherpe, ZZP 2016, 153 (168, 165); vertiefend Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 63 ff., 68 ff.; zum Justizgewährungsanspruch insgesamt ausführlich Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 31 ff. sowie Bruns, in: FS Stürner, 257 ff., der überzeugend die „verbindliche […] Entscheidung über den Streitgegenstand nach rechtsstaatlichem Verfahren“ als „eigentliche Essenz“ der Justizgewährung und nicht lediglich „verfahrenstechnisches Vehikel“ zur Durchsetzung materieller Rechte hervorhebt (S. 260 f.). 35 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 301; Habscheid, ZZP 1983, 306 (308). 36 BVerfG, Beschl. v. 29. 8. 1995 – 2 BvR 175/95, NJW‑RR 1996, 183 (184); Beschl. v. 22. 1. 2001 – 1 BvR 2075/98, NJW‑RR 2001, 1006 (1007); Beschl. v. 25. 10. 2002 – 1 BvR 2116/01, NJW 2003, 1655 (1656); Beschl. v. 10. 2. 2009 – 1 BvR 1232/07, NJW 2009, 1585 (1586); Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 284 Rn. 41; Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kap. 1 Rz. 85; Scherpe, ZZP 2016, 153 (168). 37 MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 284 Rn. 8; Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 3 Rn. 1; Weichbrodt, Der verbotene Beweis im Straf- und Zivilprozess, S. 40. 38 Ebenso Weichbrodt, Der verbotene Beweis im Straf- und Zivilprozess, S. 40. 39 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 286 ff., 324.
II. Recht auf Beweis
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Um die Mitwirkungsrechte der Parteien bei der Sachverhaltsaufklärung und eine Kontrolle der richterlichen Überzeugungsbildung zu gewährleisten, ist das Recht auf Beweis im Zivilprozess in der Regel40 ein (hier so genanntes) „Recht auf Strengbeweis“: Gemäß § 284 S. 1 ZPO werden Beweise grundsätzlich im sogenannten Strengbeweisverfahren erhoben. Für dieses gelten die Vorschriften des fünften bis elften Titels des Zweiten Buchs der ZPO, von denen vorliegend insbesondere der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit von Bedeutung ist. Gemäß § 357 Abs. 1 ZPO ist es den Parteien gestattet, der Beweisaufnahme beizuwohnen. Wie das Recht auf Beweis insgesamt dient auch die Parteiöffentlichkeit der Gewährung rechtlichen Gehörs i. S. d. Art. 103 Abs. 1 GG: Die Teilnahme der Parteien an der Beweisaufnahme in derselben „Nähe“41 zum Beweismittel wie das Gericht ist zwingende Voraussetzung dafür, dass sie das Verfahren zur Überzeugungsbildung des Gerichts kontrollieren und mit Fragen (v. a. beim Zeugenbeweis, vgl. §§ 397, 402, 451 ZPO) und Hinweisen (v. a. beim Augenscheins- und Urkundenbeweis) auf seinen Verlauf und sein Ergebnis Einfluss nehmen können.42 Zugleich sichert sie die Qualität der Ergebnisse, da die Parteien den Sachverhalt besser kennen als das Gericht und auf Zusammenhänge, Missverständnisse etc. hinweisen können.43 Nicht zuletzt gewährleistet die Anwesenheit der Parteien ein fundiertes Verhandeln zum Ergebnis der Beweisaufnahme i. S. d. § 285 Abs. 1 ZPO.44 Als „Grundfeste des rechtsstaatlichen Prozesses“45 gilt der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit für jede (Streng-)Beweisaufnahme und insbesondere unabhängig davon, ob diese auf Antrag oder von Amts wegen – z. B. auch auf40 Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 365; Schilken, in: FS Kollhosser, 649 (649, 657 ff.); Habscheid, ZZP 1983, 306 (323). Wieczorek/Schütze/Ahrens, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 284 Rn. 39 und Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 2 Rn. 24 weisen darauf hin, dass dieser Regelfall jedenfalls in Erkenntnisverfahren mit obligatorischer Verhandlung gilt. 41 Stein/Jonas/Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 357 Rn. 1; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 2005, 359 (369); vgl. auch Smid, Rechtsprechung, S. 574. 42 Stein/Jonas/Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 357 Rn. 1; MüKo-ZPO/Heinrich, 5. Aufl. 2016, § 357 Rn. 1; Prütting/Gehrlein/Lindner, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 357 Rn. 1; Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kap. 5 Rz. 3, 5; Brehm, Bindung des Richters an den Parteivortrag und Grenzen freier Verhandlungswürdigung, S. 134; Schneider, MDR 1991, 828 (828); Schilken, in: FS Kollhosser, 649 (656); Gomille, NZFam 2014, 100 (103). 43 Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 357 Rn. 1; Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kap. 5 Rz. 5; Habscheid, ZZP 1983, 306 (324); Peters, ZZP 1963, 145 (158); Völzmann-Stickelbrock, ZZP 2005, 359 (369). 44 Stein/Jonas/Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 357 Rn. 1. Walker, in: FS Schneider, 147 (166 f.) betont (im Hinblick auf beweisrechtliche Geheimverfahren), dass § 285 ZPO seinen Sinn nur dann erfüllen kann, wenn die Ausgestaltung des Verfahrens den Parteien eine hinreichende Grundlage für eine substantiierte Stellungnahme bietet. 45 Stürner, in: FS Vollkommer, 201 (214). Auch Schilken, in: FS Kollhosser, 649 (656) weist darauf hin, dass der Parteiöffentlichkeit ein besonders hoher Wert zukommt, was insb. in der Regelung zur ergänzenden Beweisaufnahme bei schuldloser Verhinderung einer Partei in § 367 Abs. 2 ZPO zum Ausdruck komme.
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grund einer vorbereitenden Anordnung gemäß § 273 Abs. 2 Nr. 5, 142, 144 ZPO oder im Wege der vorterminlichen Beweisaufnahme gemäß § 358a S. 2 ZPO – erfolgt.46 Soweit möglich und zumutbar, ist das Anwesenheitsrecht der Parteien nach heute praktisch einhelliger Ansicht auch auf Tatsachenermittlungen durch Sachverständige zu erstrecken.47 Die Ergebnisse einer die Parteiöffentlichkeit verletzenden Beweisaufnahme sind nach allgemeiner Ansicht grundsätzlich unverwertbar.48 Umstritten ist die Geltung der Parteiöffentlichkeit lediglich auf dem Gebiet des sogenannten informatorischen Augenscheins. Dieser wird vom „echten“ Augenscheinsbeweis unterschieden und soll nicht dem Beweis streitiger, sondern dem besseren Verständnis unstreitiger Tatsachenbehauptungen bzw. des Gesamtkontexts dienen.49 Wie der „echte“ Augenschein wird auch – nach früherer Ansicht sogar nur50 – der informatorische Augenschein unter § 144 Abs. 3 ZPO gefasst, der für amtswegige Inaugenscheinnahmen ausdrücklich auf die 46 Für den amtswegigen Augenscheins- oder Sachverständigenbeweis ist dies in § 144 Abs. 3 ZPO ausdrücklich normiert; siehe auch Stein/Jonas/Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 357 Rn. 7; Prütting/Gehrlein/Lindner, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 357 Rn. 2 sowie Prütting/Gehrlein/Prütting, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 144 Rn. 2; Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kap. 5 Rz. 7; Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 225. 47 BeckOK‑ZPO/Scheuch, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 404a Rn. 16 und Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 590 scheinen insoweit auch die Tatsachenermittlung durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen als Beweisaufnahme „vor dem Prozessgericht“ im Sinne der §§ 355 ff. ZPO anzusehen, so dass § 357 ZPO unmittelbar zur Anwendung kommt; dagegen Späth, Die Parteiöffentlichkeit des Zivilprozesses, S. 146 f. m. w. N.; unabhängig davon ist ein Anwesenheitsrecht der Parteien nach Möglichkeit und Zumutbarkeit mittlerweile weitestgehend anerkannt, siehe MüKo-ZPO/Heinrich, 5. Aufl. 2016, § 357 Rn. 8; Musielak/ Voit/Stadler, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 357 Rn. 2; Prütting/Gehrlein/Lindner, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 357 Rn. 4; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 121 Rn. 9 und 35; Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 302; zur ablehnenden älteren Rechtsprechung, dem „Wendepunkt“ und der Entwicklung zur heutigen allgemeinen Ansicht Späth, Die Parteiöffentlichkeit des Zivilprozesses, S. 140 ff.; zur Ablehnung des Sachverständigen bei Einbeziehung nur einer Partei BGH, Beschl. v. 15. 4. 1975 – X ZR 52/75, NJW 1975, 1363 (1363); vgl. auch BGH, Urt. v. 12. 11. 1991 – KZR 18/90, BGHZ 116, 47 = NJW 1992, 1817 (1819). 48 So bereits RG, Urt. v. 24. 5. 1932 - VII 450/31, RGZ 136, 299 (301); BGH, Urt. v. 12. 7. 1984 - IX ZR 127/83, VersR 1984, 946 (947); Stein/Jonas/Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 357 Rn. 21; MüKo-ZPO/Heinrich, 5. Aufl. 2016, § 357 Rn. 12; Prütting/Gehrlein/Lindner, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 357 Rn. 9; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 116 Rn. 42; Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kap. 5 Rz. 40; Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 308; Weichbrodt, Der verbotene Beweis im Straf- und Zivilprozess, S. 133 f. 49 Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 144 Rn. 1; MüKo-ZPO/Fritsche, 5. Aufl. 2016, § 144 Rn. 1, BeckOK‑ZPO/von Selle, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 144 Rn. 1; Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kap. 22 Rz. 17. 50 Zur historischen Entwicklung siehe Peters, Richterliche Hinweispflichten und Beweisinitiativen im Zivilprozess, S. 15, 37 f., 51 f., 145; Bathe, Verhandlungsmaxime und Verfahrensbeschleunigung bei der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung, S. 195 ff.; zum heutigen Verständnis Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 85 ff.; Gomille, Informationsproblem und Wahrheitspflicht, S. 426, 443 will nur streitiges Vorbringen unter §§ 141 ff. ZPO fassen.
II. Recht auf Beweis
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Vorschriften des Strengbeweises verweist. Entsprechend wird teilweise davon ausgegangen, dass auch informatorische Inaugenscheinnahmen nur in Anwesenheit der Parteien durchgeführt werden dürfen.51 Andere wollen die Beweisvorschriften nicht anwenden, da es sich gerade nicht um eine Beweisaufnahme handle.52 Als vermittelnde Ansicht kann diejenige Brüggemanns angesehen werden: Nach Brüggemann ist der ursprünglich nicht an das Beweisverfahren gebundene informatorische Augenschein nachträglich als Beweisaufnahme einzustufen, wenn über das „informatorische Ergebnis“ gestritten werde, weshalb es von vornherein geboten sei, die Parteien zu der Inaugenscheinnahme hinzuzuziehen.53 Überzeugend sind in diesem Zusammenhang die „schwerwiegende[n] Bedenken“ Bergers: Er betont, dass die bei Notwendigkeit einer informatorischen Besichtigung offenbar bestehende Unklarheit „immer den Keim zu einem Parteistreit über die Tatsachenlage in sich“ trage. Die Parteien müssten daher zwingend bereits bei der Besichtigung anwesend sein dürfen und Hinweise geben können, statt in der späteren Verhandlung auf eine bereits bestehende Meinung des Gerichts von den informatorisch festgestellten Tatsachen zu treffen.54 Beachtung verdient auch das von Lipp vorgebrachte Argument, dass informatorische Ermittlungen des Gerichts ohne die Parteien dessen (im nächsten Abschnitt zu vertiefende) Distanz gegenüber den Tatsachendarstellungen im Prozess und dessen Ergebnisoffenheit zerstören, da die Vorstellungen des Richters automatisch geprägt von dem Gesehenen seien, welches von den Parteien nur noch bestätigt oder kritisiert, nicht aber beseitigt werden könne.55 Der Streit über den informatorischen Augenschein überschneidet sich teilweise mit der Frage der Ermittlung allgemeinkundiger Tatsachen, da die informatorischen Besichtigungen nicht selten allgemeinkundige Tatsachen betreffen. Teilweise wird die (generelle) Zulässigkeit des informatorischen Augenscheins gerade mit der Allgemeinkundigkeit des Wahrgenommenen begründet56 oder 51 Stein/Jonas/Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 371 Rn. 3; Zimmermann, ZPO, 10. Aufl. 2015, § 371 Rn. 3; Braun, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, S. 327; Lipp, Das private Wissen des Richters, S. 78 f.; im Ergebnis auch Bathe, Verhandlungsmaxime und Verfahrensbeschleunigung bei der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung, S. 196 f. 52 LG Berlin, Beschl. v. 21. 4. 1952 – 1a Gen. 31/52, MDR 1952, 558 (558); Stein/Jonas/ Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 371 Rn. 3; BeckOK‑ZPO/Bach, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 371 Rn. 5.1; Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kap. 22 Rz. 18; unklar bleibt die Einbindung der Parteien bei BGH, Urt. v. 8. 5. 1992 – V ZR 89/91, NJW 1992, 2019 (2019). 53 Brüggemann, Judex statutor und judex investigator, S. 354; dem folgend Bathe, Verhandlungsmaxime und Verfahrensbeschleunigung bei der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung, S. 199; ähnlich auch Balzer, Beweisaufnahme und Beweiswürdigung im Zivilprozess, Rn. 101 f. 54 Stein/Jonas/Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 371 Rn. 3. 55 Lipp, Das private Wissen des Richters, S. 78 f. 56 So wird insb. die in § 4 II.2. behandelte Entscheidung des BGH zur Ermittlung allgemeinkundiger Tatsachen, Urt. v. 10. 5. 2007 – III ZR 115/06, NJW 2007, 3211 (3211) auch
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§ 2 Beweisrechtlicher Rahmen der Untersuchung
von der (grundsätzlichen) Unzulässigkeit in den Fällen der Allgemeinkundigkeit eine Ausnahme gemacht.57 Insoweit werden „informatorische“ Ermittlungen in dieser Arbeit mitbehandelt.58 Ihr primäres Interesse gilt aber (weiterhin) § 291 ZPO als Grundlage richterlicher Internetrecherchen und innerhalb dessen zunächst den streitigen sowie den nicht vorgetragenen und nur nachrangig den unstreitigen Tatsachen.
III. Richterliche Neutralität und Distanz zum Sachverhalt 1. Der gesetzliche Richter als unbeteiligter Dritter Von maßgeblicher Bedeutung für das Beweisrecht ist die Unvoreingenommenheit des Richters gegenüber den von den Parteien vorgebrachten Tatsachen.59 Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gewährt jedermann Zugang zu seinem „gesetzlichen Richter“. Darunter wird weit mehr verstanden als die bloße Garantie gesetzlicher Zuständigkeitsregelungen: Das Bild des gesetzlichen Richters ist nicht zuletzt gekennzeichnet durch Neutralität und Distanz des Richters gegenüber den Verfahrensbeteiligten und dem zu entscheidenden Sachverhalt.60 Auch das Rechtsstaatsprinzip und der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG erfordern Objektivität des Richters sowohl hinsichtlich der Beteiligten als auch bezüglich des Verfahrensgegenstands.61 Das „formalisierende Element der Distanz, die den Richter vor blindmachendem Gerechtigkeitseifer schützen soll“, ist notwendige Bedingung eines materiell „gerechten“ Prozesses.62 Das Grundgesetz gewährleistet deshalb im Zivilprozess eine Waffengleichheit im Sinne einer „Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter“ und eine entsprechend „[…] objektive, faire Verhandlung[,] unvoreingenommene Bereitschaft zur Verwertung und Bewertung des gegenseitigen Vorbringens, […] unparteiische Rechtsanwendung zur Rechtfertigung des informatorischen Augenscheins herangezogen, siehe nur BeckOK‑ ZPO/Bach, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 371 Rn. 5.1. 57 So insb. Lipp, Das private Wissen des Richters, S. 78 f. 58 Insb. gilt auch für „informatorische“ Internetrecherchen § 7 dieser Arbeit. 59 Smid, Rechtsprechung, S. 253 sieht das distanzierte Verhältnis zu den Tatsachen des Urteils als Wesensmerkmal jeglicher Rechtsprechung an, wohingegen die Verwaltung stets „interessiert“ entscheide und handle und damit „Zeuge in eigener Sache“ sei. 60 BVerfG, Beschl. v. 8. 2. 1967 – 2 BvR 235/64, BVerfGE 21, 139 = NJW 1967, 1123 (1123); Maunz/Dürig/Maunz, GG, 81. EL Sept. 2017, Art. 101 Rn. 37; Prütting/Gehrlein/ Graßnack, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 41 Rn. 4; Stadler, ZZP 2015, 165 (168 f.). 61 Riedel, Das Postulat der Unparteilichkeit des Richters, S. 5; Krekeler, NJW 1981, 1633 (1633); Stadler, ZZP 2015, 165 (169); vgl. auch Prütting/Gehrlein/Graßnack, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 41 Rn. 1. 62 Stürner, Die richterliche Aufklärung im Zivilprozess, S. 25 Rn. 22; vgl. auch Sticken, Die „neue“ materielle Prozeßleitung (§ 139 ZPO) und die Unparteilichkeit des Richters, S. 51 f.
III. Richterliche Neutralität und Distanz zum Sachverhalt
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und […] korrekte Erfüllung [der] sonstigen prozessualen Obliegenheiten [des Gerichts] gegenüber den Prozeßbeteiligten.“63
Unterschieden werden kann zwischen der subjektiven Komponente der inneren Einstellung des Richters zu den Parteien und dem zu entscheidenden Fall einerseits und der objektiven Komponente, bei der die verfahrensmäßigen Garantien zur Vermeidung von und Reaktion auf mögliche Befangenheitsmomente im Mittelpunkt stehen, andererseits.64 Für die subjektive Unparteilichkeit des Richters streitet nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine Vermutung.65 Da die innere Haltung nicht feststellbar ist, setzen objektive Schutzmechanismen bei den äußeren Umständen an, die ein Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters rechtfertigen können:66 Das Prozessrecht versucht insoweit eine „Neutralisierung“ des Richters zu erreichen, indem es diesen nur über Sachverhalte entscheiden lässt, mit denen er „[…] nichts zu tun hatte und [die] allein in seiner amtlichen Funktion als unbeteiligter Dritter an ihn von den Parteien des Rechtsstreits herangetragen [werden].“67
Die Instrumentarien dieser „Neutralisierung“ sind im Zivilprozess insbesondere der Ausschluss von der Ausübung des Richteramts in den „typischerweise zu einer Beeinflussung des Richters führen[den]“68 und deshalb objektivierten Fällen des § 41 ZPO sowie die Ablehnungsnorm des § 42 Abs. 1, 2 ZPO bei Besorgnis der Befangenheit als „Generalklausel“ für Indizien des Distanzverlusts. Solche sind in der Regel in groben Verstößen gegen Verfahrensgrundsätze zu sehen,69 können aber gerade auch unabhängig davon gegeben sein: Hier sind neben offensichtlichen Undistanziertheiten wie unsachlichen, unangemessenen Äußerungen z. B. Anzeichen für eine vorzeitige Festlegung in der Sache zu nennen.70 Der objektive Schutz ist allerdings wegen der Nichtfeststellbarkeit der 63 BVerfG, Beschl. v. 25. 7. 1979 – 2 BvR 878/74, BVerfGE 52, 131 = NJW 1979, 1925 (1927) (Hervorhebung im Original). 64 So insb. die Unterscheidung des EGMR; siehe hierzu ausführlich Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 EMRK, S. 98 ff. 65 BGH, Urt. v. 18. 12. 1968 – 2 StR 322/68, BGHSt 22, 289 = NJW 1969, 703 (704); etabliert ist eine solche Vermutung mit Beweislastumkehr wiederum vor allem in der Rechtsprechung des EGMR, siehe dazu Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 EMRK, S. 116 ff. 66 Wieczorek/Schütze/Gerken, ZPO, 4. Aufl. 2015, § 42 Rn. 4; Musielak/Voit/Heinrich, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 42 Rn. 5 f.; Prütting/Gehrlein/Graßnack, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 42 Rn. 5. 67 Smid, Rechtsprechung, S. 261 f. (einschließlich des Begriffs des „Neutralisierung“). 68 Stein/Jonas/Bork, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 41 Rn. 6. 69 Stein/Jonas/Bork, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rn. 14; Musielak/Voit/Heinrich, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 42 Rn. 11; Prütting/Gehrlein/Graßnack, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 42 Rn. 37; Zöller/Vollkommer, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 42 Rn. 24. Wieczorek/Schütze/Gerken, ZPO, 4. Aufl. 2015, § 42 Rn. 17 weist darauf hin, dass dies nicht für „einfache Verfahrensfehler [gilt], die jedem Richter unbeabsichtigt unterlaufen können.“ 70 Riedel, Das Postulat der Unparteilichkeit des Richters, S. 121 f.; dazu und zu den zahl-
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inneren Haltung notwendigerweise begrenzt: Das Fehlen von Ausschluss- oder Ablehnungsgründen ist keine Gewähr für das Vorhandensein der erforderlichen Distanz zur Sache.71
2. Verbot der Verwertung privaten Wissens Die richterliche Neutralität und Distanz zum Sachverhalt wird – neben dem Beibringungsgrundsatz72 – als der zentrale Grund für das seit Jahrhunderten allgemein anerkannte Verbot der Verwertung „privaten Wissens“ des Richters, also seiner individuellen Kenntnisse vom Sachverhalt, angesehen.73 Ein Richter verliert seine Neutralität, wenn er zugunsten einer Partei sein privates „Beweismaterial“ einbringt,74 da er seine eigenen Wahrnehmungen nicht in derselben Weise wie ein unbeteiligter Dritter objektiv würdigen kann.75 Während die grundsätzliche Geltung des Verbots der Verwertung privaten Wissens bis heute unbestritten ist,76 wurde ein entsprechender objektiver Schutz nur für den Fall kodifiziert, dass der Richter über dieses Wissen auch formell als Zeuge vernommen worden ist (§ 41 Nr. 5 ZPO).77 Das erklärt sich dadurch, dass vor der Vernehmung als Zeuge schlicht kein formaler Anknüpfungspunkt besteht, bedeutet aber nicht, dass erst dann die richterliche Neutralität gefährdet wäre: Vielmehr wird ein Distanzverlust und möglicher Befangenheitsgrund nach § 42 Abs. 1, 2 ZPO regelmäßig bereits dann angenommen, wenn der Richter „materieller Zeuge“ ist, also als Zeuge vernommen werden reichen weiteren Fallgruppen statt vieler Stein/Jonas/Bork, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rn. 5 ff. (insb. 14 ff.); Zöller/Vollkommer, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 42 Rn. 8 ff., 25. 71 Eckertz-Höfer, DÖV 2009, 729 (737). Nicht zuletzt deshalb ist Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 350 in seinem Appell an die Gerichte zuzustimmen, bei Ablehnungen wegen „Besorgnis der Befangenheit“ nicht „engherzig“ zu verfahren. 72 Darauf abstellend z. B. Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl. 2017, Einl. Rn. 37; Brüggemann, Judex statutor und judex investigator, S. 116 ff. 73 Der BGH hat zur Begründung dieses Verbots die Unvereinbarkeit von Zeugen- und Richterstellung betont, Urt. v. 10. 12. 1986 – I ZR 136/84, NJW 1987, 1021 (1021); grundlegend R. Schmidt, Die außergerichtlichen Wahrnehmungen des Prozeßrichters, S. 34 ff., Stein, Das private Wissen des Richters, S. 2 f. sowie Lipp, Das private Wissen des Richters, S. 5 ff., 32 ff.; ferner Sticken, Die „neue“ materielle Prozeßleitung (§ 139 ZPO) und die Unparteilichkeit des Richters, S. 52 f.; Koutsouradis, KTS 1984, 573 (575); Coester-Waltjen, in: FS Areios Pagos, 28 (28). Siehe dazu auch noch § 3 I. 74 Koutsouradis, KTS 1984, 573 (577). 75 Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 8; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 4; R. Schmidt, Die außergerichtlichen Wahrnehmungen des Prozeßrichters, S. 8 f., 35 ff.; Stein, Das private Wissen des Richters, S. 2 f. 76 Siehe z. B. MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 9 f.; BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 6; Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2; Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 4; Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 4 Rn. 9 sowie die vorstehenden und nachfolgenden Fn. 77 Vgl. Prütting/Gehrlein/Graßnack, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 41 Rn. 30.
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könnte.78 Entsprechend werden grundsätzlich auch „private“ Ermittlungen des Gerichts außerhalb des Beweisverfahrens als unzulässig angesehen.79 Die Ausnahmen, die vom Verbot der Verwertung privaten Wissens und privater Ermittlungen auf der Grundlage des § 291 ZPO für „allgemeinkundige“ Tatsachen gemacht werden, sind Gegenstand dieser Arbeit. Hier zeigt sich somit ein weiteres Spannungsfeld, in dem richterliche Internetrecherchen aufgrund § 291 ZPO stattfinden.
IV. Internetseiten als Beweismittel 1. Internetseiten als elektronische Dokumente Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr80 unterstellt § 371 Abs. 1 S. 2 ZPO „elektronische Dokumente“ dem Augenscheinsbeweis. Damit hat der Gesetzgeber einen ausgedehnten Streit darüber beendet, ob elektronische Dokumente dem Augenscheins- oder aber dem Urkundenbeweis unterfallen.81 Nach der Begründung des Gesetzesentwurfs beruht die Entscheidung für den Augenschein insbesondere darauf, dass dem elektronischen Dokument das „Wesensmerkmal der Verkörperung auf einem unmittelbar lesbaren Schriftträger“ fehlt,82 es also nicht ohne technische Hilfsmittel lesbar ist.83 Bei einem Ausdruck sind Manipulationen am „Original“ anders als bei originär schriftlichen Urkunden nicht erkennbar.84 Wenngleich der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 371 Abs. 1 S. 2 ZPO primär elektronisch übermittelte Willenserklärungen (namentlich E‑Mails) im Blick hatte85 und entsprechend davon ausging, dass sich das jeweilige elektro78 Stein/Jonas/Bork, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rn. 13; Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2; Braun, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, S. 327; Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 3 Rn. 21; Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 155; Foerste, in: FS Schilken, 261 (271). 79 BGH, Urt. v. 29. 3. 1960 – I ZR 89/58, GRUR 1961, 33 (34); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 10. 7. 1956 – 12 W 15/56, MDR 1956, 557 (557); LG Göttingen, Beschl. v. 7. 12. 1999 – 10 AR 45/99; NJW‑RR 2001, 64 (64); MüKo-ZPO/Stackmann, 5. Aufl. 2016, § 42 Rn. 40 f.; Zöller/Vollkommer, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 42 Rn. 25; Sticken, Die „neue“ materielle Prozeßleitung (§ 139 ZPO) und die Unparteilichkeit des Richters, S. 52; Musielak, in: FS Vollkommer, 237 (239). 80 BGBl. I 2001, S. 1542. 81 Siehe hierzu ausführlich Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kap. 22 Rz. 34 ff. sowie Berger, NJW 2005, 1016 (1016 f.), jeweils m. w. N. 82 BT‑Drs. 14/4987, S. 13. 83 Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 371 Rn. 12; MüKo-BGB/Einsele, 7. Aufl. 2015, § 126a Rn. 3. 84 Stadler, ZZP 2002, 413 (430 f.). 85 Vgl. BT‑Drs. 14/4987, S. 10 ff.
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nische Dokument „im Besitz“ des Beweisführers, -gegners oder eines Dritten befinde,86 erfasst § 371 Abs. 1 S. 2 ZPO auch jegliche andere Art von nur mit technischen Hilfsmitteln „lesbaren“ Dokumenten, wobei der Begriff des elektronischen Dokuments nach überzeugender Ansicht weit zu verstehen und nicht auf Textdateien beschränkt ist.87 Für andere als Textdateien (also insbesondere Bild-, Audio- oder Videodateien) dürfte ihre Qualität als Augenscheinsobjekt allerdings ohnehin nicht in Frage stehen. Auch Internetseiten fehlt das in der Gesetzesbegründung in Bezug genommene „Wesensmerkmal der Verkörperung auf einem unmittelbar lesbaren Schriftträger“. Insofern ist es folgerichtig, dass auch Internetseiten als elektronische Dokumente i. S. d. § 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO verstanden werden.88 Insbesondere setzt der Begriff des elektronischen Dokuments – anders als die für den Beweisantritt relevante „Datei“, in der elektronische Dokumente üblicherweise gespeichert werden – keine Fixierung voraus, sondern erfasst auch Informationen, die nur im temporären Speicher des Rechners vorhanden sind.89 Teilweise werden Internetseiten auch ohne explizite Qualifizierung als elektronische Dokumente jedenfalls „mangels verkehrsfähigem Medium“ als „Schulbeispiele für Augenscheinsobjekte“ angesehen.90
2. Internetrecherche als Augenscheinsbeweis Vor diesem Hintergrund sind Internetrecherchen im Zivilprozess als Inaugenscheinnahmen anzusehen. Der Regelfall der „strengbeweislichen“ Internetrecherche richtet sich folglich nach den Vorschriften der §§ 355 ff., 371 ff. ZPO. 86
BT‑Drs. 14/4987, S. 25. Bergfelder, Der Beweis im elektronischen Rechtsverkehr, S. 73, 79; Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kap. 22 Rz. 45; Berger, NJW 2005, 1016 (1017); in diesem Sinne auch Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 371 Rn. 12; a. A. (nur Textdateien) MüKo-BGB/Einsele, 7. Aufl. 2015, § 126a Rn. 3; wieder anders Balzer, Beweisaufnahme und Beweiswürdigung im Zivilprozess, Rn. 101, der alle optisch wahrnehmbaren Dokumente als erfasst ansieht, nicht hingegen Audiodateien und Software. Dass auch andere als optische Sinneswahrnehmungen nichtsdestotrotz dem Augenscheinsbeweis unterfallen, zweifelt freilich auch Balzer nicht an (a. a. O., Rn. 104). 88 Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 371 Rn. 12; Greger, in: FS Stürner, 289 (297 f.); Howe, DisputeResolution 2/2015, 19 (21); Staudinger/Hertel, BGB, Neubearb. 2017, § 126b Rn. 27; missverständlich insoweit OLG Koblenz, Urt. v. 2. 10. 2014 – 6 U 1127/13, Rn. 21, juris und, diesem folgend, Prütting/Gehrlein/Trautwein, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 371 Rn. 11, die als elektronisches Dokument nicht die Internetseite selbst, sondern deren (ausgedruckten) Screenshot bezeichnen. Insgesamt ist trotz der stetig wachsenden Bedeutung des Internets eine große Zurückhaltung bei der beweisrechtlichen Bewertung von Internetseiten festzustellen. 89 Bergfelder, Der Beweis im elektronischen Rechtsverkehr, S. 73. Zur Datei noch sogleich unter 4. 90 BeckOK‑ZPO/Bach, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 371 Rn. 3; ebenso Stein/Jonas/Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 371 Rn. 4. 87
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Insbesondere haben die Parteien gemäß § 357 Abs. 1 ZPO das Recht, an einer Beweisaufnahme durch Internetrecherche teilzunehmen.91 Das gilt nach dem zur Geltung der Parteiöffentlichkeit Gesagten92 wiederum auch für von Amts wegen und/oder vorbereitend angeordnete Internetrecherchen nach §§ 273 Abs. 2 Nr. 5, 144 ZPO.93 Die Frage, ob zu den vorbereitenden Maßnahmen des § 273 Abs. 2 ZPO daneben auch informelle Internetrecherchen ohne Beteiligung der Parteien gehören können, ist der Vorschrift nicht zu entnehmen und führt zurück zu § 291 ZPO94 und dem Thema dieser Untersuchung. In technischer Hinsicht sind die Voraussetzungen für einen förmlichen Internetbeweis gering: Internetzugang, Computer und Beamer sind seit langem Standard in deutschen Unternehmen und sollten es ebenso in jedem Gerichtssaal sein.95 Gegenüber Ortsterminen kann ein gemeinsames Aufrufen von Google Maps96 oder ähnlichen Diensten sicherlich die prozessökonomischere Variante sein und sollte in geeigneten Fällen durchaus verstärkt genutzt werden. Voraussetzung ist allerdings, dass alle erheblichen Tatsachen auch abgebildet werden – was insbesondere in Bezug auf die Aktualität des wiedergegebenen Zustands97 nur die Parteien sicher beurteilen können. Macht der Beweisführer geltend, dass es auf im Internet nicht (oder nicht hinreichend) abgebildete Umstände ankommt, ist deshalb eine Ortsbesichtigung durchzuführen.98 Das folgt bereits daraus, dass das in § 2 II. erörterte Recht auf Beweis eine Erstreckung der Beweisaufnahme auf alle erheblichen Tatsachen gewährleistet. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz aus § 355 ZPO steht dem Internetbeweis hingegen nicht per se entgegen, da dieser nach ganz überwiegender Ansicht nur die „formelle“ Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht, nicht aber eine „materielle“ Unmittelbarkeit im Sinne des „sachnähesten“ Beweismittels verlangt.99 91 Ebenso Greger, 92 Siehe § 2 II.2. 93
in: FS Stürner, 289 (296); Howe, DisputeResolution 2/2015, 19 (21).
In diesem Sinne wohl auch Howe, DisputeResolution 2/2015, 19 (21).
94 Ebenso Greger, in: FS Stürner, 289 (292). 95 Darauf, dass die gerichtliche Infrastruktur
der Technik an manchen Orten noch hinterherhinkt, wird in § 6 III.3.e) eingegangen. 96 So wohl z. B. durchgeführt vom OLG Brandenburg, Urt. v. 18. 10. 2011 – 2 U 35/09, Rn. 36, juris. Auch der Verf. persönlich bekannte Richter greifen gerne gemeinsam mit den Parteien auf Google Maps zurück, um ein besseres Bild z. B. von einem Unfallort zu bekommen. Soweit es dabei um an sich unstreitigen Parteivortrag geht, handelt es sich um einen Fall des in § 2 II.2. erläuterten „informatorischen“ Augenscheins. 97 Auf das Problem der Aktualität weist auch Bachmeier, DAR 2012, 557 (558) hin. 98 Das entspricht der Rechtsprechung des BGH zu Fotografien, vgl. Urt. v. 23. 6. 1987 – VI ZR 296/86, NJW‑RR 1987, 1237 (1238); ebenso Greger, in: FS Stürner, 289 (297 f.); Zöller/ ders., ZPO, 32. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2. 99 Siehe dazu Prütting/Gehrlein/Lindner, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 355 Rn. 1 (inkl. Nachweise für die a. A.); Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 345 f., Walker, in: FS Schneider, 147 (157 f.); Schilken, in: FS Kollhosser, 649 (655); Bruns, in: Symposion Stürner, 53 (64).
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3. Internetrecherche im Freibeweisverfahren Mit dem 2004 in Kraft getretenen Ersten Gesetz zur Modernisierung der Justiz100 hat der Gesetzgeber § 284 ZPO dahingehend ergänzt, dass das Gericht mit Einverständnis der Parteien Beweise auch „in der ihm geeignet erscheinenden Art“, mithin ohne Bindung an die Beweismittel und Verfahrensvorschriften des Strengbeweises, aufnehmen darf. Ausweislich der Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung soll durch diese Ergänzung dem Gericht die Möglichkeit eröffnet werden, „[…] im Einvernehmen beider Parteien bei der Aufnahme der Beweise von den Strengbeweisregeln abzusehen, um Verfahrensabläufe zu vereinfachen und den Prozess zu beschleunigen.“101
Indem der Freibeweis „den Verfahrensbeteiligten als gleichwertige Option zum Strengbeweis angeboten“ wird, sollten die „prozessualen Gestaltungsrechte der Parteien gestärkt“ und der „Zivilprozess […] noch stärker der Parteiherrschaft unterworfen“ werden.102 Die Änderung erfolgte somit primär im Parteiinteresse und schließt eine vereinfachte Beweisaufnahme nach dem Ermessen des Gerichts aus.103 Als Beispiele nennt der Entwurf die ergänzende Befragung eines Zeugen oder Sachverständigen per Telefon oder E‑Mail. Dass eine Internetrecherche des Gerichts nicht erwähnt wird, kann sowohl auf ein fehlendes Bewusstsein des Gesetzgebers für die Relevanz des Internets als auch auf die soeben vorgenommene Einordnung von Internetseiten als Augenscheinsobjekte zurückzuführen sein: Während Telefonate und E‑Mails mit Zeugen ein Abweichen vom Grundsatz der Unmittelbarkeit einer Zeugenvernehmung im Sinne eines persönlichen Erscheinens vor dem Prozessgericht darstellen (§ 355 Abs. 1 S. 1 ZPO), bleibt das Beweismittel der Internetrecherche im Freibeweisverfahren an sich dasselbe wie im Strengbeweisverfahren. Verzichtet wird letztlich „nur“ auf die Parteiöffentlichkeit (§ 357 Abs. 1 ZPO). Insoweit kann die Internetrecherche aber ohne Weiteres Gegenstand eines Einverständnisses zum Freibeweisverfahren sein.104 100 101
BGBl. I 2004, 2198. BT‑Drs. 15/1508, S. 18. 102 BT‑Drs. 15/1508, S. 18. 103 Völzmann-Stickelbrock, ZZP 2005, 359 (361). Weiterhin für zulässig gehalten wird das amtswegige Freibeweisverfahren in der Rechtsprechung (unabhängig von § 284 ZPO) zur Feststellung von – im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter interessierenden – Tatsachen, die allein verfahrensrechtliche Bedeutung haben. Diese ohne gesetzliche Grundlage erfolgte Einschränkung wird in der Literatur immer wieder kritisiert, da sie die Rechte der Parteien und ihre Einflussnahmemöglichkeit aushebelt, siehe zu Rechtsprechung und Kritik Prütting/ Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 284 Rn. 20 f.; Peters, Der sogenannte Freibeweis im Zivilprozess, passim; ders., ZZP 1988, 296 (297); Schilken, in: FS Kollhosser, 649 ff.; Reißmann, JR 2013, 182 ff., jeweils m. w. N. 104 Für die Anwendung des § 284 S. 2–4 ZPO auch Greger, in: FS Stürner, 289 (298).
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In der Praxis dürfte ein solches Einverständnis beider Parteien, mit dem sie insbesondere auf ihr Anwesenheitsrecht bei der Internetrecherche verzichten, wegen der grundsätzlich gegenläufigen Interessen der Parteien allerdings eher selten sein.105 § 284 S. 2 ZPO hat aus diesem Grund insgesamt bislang kaum praktische Bedeutung erlangt.106
4. Beweisantritt Gemäß § 371 Abs. 1 S. 2 ZPO ist der Beweis mittels elektronischer Dokumente „durch Vorlegung oder Übermittlung der Datei“ anzutreten. Streng genommen müsste der Beweis daher durch Vorlage eines Datenträgers (USB‑Stick, CD‑ ROM, DVD o.ä.), auf dem die relevanten Internetseiten gespeichert sind, angetreten werden.107 Wegen der vom Gesetzgeber nicht berücksichtigten Besonderheiten des Internets dürfte es bei Internetseiten allerdings auch ausreichen, die URL anzugeben, die bei der Beweisaufnahme im Gerichtssaal gemeinsam aufgerufen werden soll.108 Kommt es für den Beweis hingegen auf einen früheren Internetinhalt an (wie regelmäßig bei im Internet stattfindenden Rechtsverletzungen), wird es gerade auf seine Speicherung ankommen. Das in der Praxis übliche Beifügen eines Ausdrucks der relevanten Internetseiten dient insoweit zunächst – ähnlich der Vorlage einer Urkundenkopie109 – der Substantiierung des Parteivortrags. Ein Aufruf jeder im Schriftsatz erwähnten Internetseite erübrigt sich von vornherein, wenn das damit substantiierte Parteivorbringen nicht bestritten wird. So haben sich Gerichte z. B. auf ausgedruckte Wikipedia-Seiten110 oder Facebook-Profile111 bezogen, die dem Schriftsatz der Kläger beigefügt und deren Inhalte von den Beklagten nicht bestritten worden waren. Auch im Bereich von (wohl) an sich unstreitigem Parteivorbringen, aus dem von den Parteien aber unterschiedliche Schlüsse gezogen werden – so z. B. 105 So allgemein zu § 284 S. 2 ZPO auch Völzmann-Stickelbrock, ZZP 2005, 359 (383). Auch Musielak, in: FS Vollkommer, 237 (248) sieht in der Voraussetzung des Einverständnisses der Parteien eine „nicht zu unterschätzende Hürde“. 106 Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 284 Rn. 53; Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 369. 107 MüKo-ZPO/Zimmermann, 5. Aufl. 2016, § 371 Rn. 10. 108 So auch BeckOK‑ZPO/Bach, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 371 Rn. 7a; in diesem Sinne wohl auch Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 371 Rn. 12 („Aufruf der Internetseite in der mündlichen Verhandlung“). 109 Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 631 weist zutreffend darauf hin, dass es sich dabei „an sich“ nicht um einen Beweisantritt handelt; in diesem Sinne bzgl. Internetausdrucken auch Greger, in: FS Stürner, 289 (298) und Howe, DisputeResolution 2/2015, 19 (21); zum praktischen Regelfall, dass mittels Urkundenkopien Substantiiertes unstreitig wird und eine Beweiserhebung überflüssig macht, siehe Balzer, Beweisaufnahme und Beweiswürdigung im Zivilprozess, Rn. 245 sowie Schellhammer, Zivilprozess, Rn. 581. 110 Siehe z. B. OLG Hamburg, Urt. v. 17. 8. 2011 – 5 U 48/05, GRUR‑RR 2011, 396 (398). 111 Siehe z. B. ArbG Mannheim, Urt. v. 19. 5. 2015 – 7 Ca 254/14, Rn. 45 ff., juris.
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zum Gesamteindruck eines Internetauftritts112 – hat sich die Verwertung von Ausdrucken bis hin zum Bundesgerichtshof etabliert.113 Dem liegt offenbar der für Urkunden anerkannte Gedanke zugrunde, dass das Gericht von der Übereinstimmung mit dem Original ausgehen darf, wenn diese nicht bestritten wird.114 Im Unterschied zum Verhältnis von vorgelegten Urkundenkopien zu ihrem Original können sich allerdings zwischen Internetausdruck und Internetinhalt im Zeitpunkt eines Augenscheins durchaus erhebliche Änderungen ergeben, da Internetseiten jederzeit ohne großen Aufwand geändert werden können und teilweise mehrmals täglich – manuell oder automatisch – aktualisiert werden.115 Die Schnelllebigkeit des Internets könnte insoweit häufiger als bei Urkunden zu einem Überprüfen und etwaigen Bestreiten der Übereinstimmung Anlass geben. Auch hier ist entscheidend, auf welchen Stand der Internetseiten es ankommt.
V. Gegenstand des Beweises: Tatsachen versus Erfahrungssätze 1. Tatsachen Gegenstand des Beweises – und dieser Untersuchung – sind in erster Linie Tatsachen. Diese werden definiert als „konkrete, nach Zeit und Raum bestimmte, der Vergangenheit oder Gegenwart angehörige Geschehnisse oder Zustände der Außenwelt und des menschlichen Seelenlebens“.116 Der Fokus dieser Arbeit liegt auf den „äußeren Tatsachen“, die mit den Augen oder mit anderen Sinnen wahrgenommen werden können: etwa, dass ein (konkretes) Ereignis stattgefunden hat oder stattfindet, ein (konkreter) Gegenstand oder Ort (zu einem konkreten Zeitpunkt) eine bestimmte Eigenschaft besitzt oder sich in einem bestimmten Zustand befindet. Genau genommen spielen alle diese Tatsachen im Prozess immer nur als Tatsachenbehauptungen oder Tatsachenurteile von Parteien, Zeugen oder dem Gericht eine Rolle. Denn in aller Regel wird nur mittel112 113
BGH, Urt. v. 16. 12. 2004 – I ZR 222/02, GRUR 2005, 438 (441). Siehe z. B. BGH, Urt. v. 16. 12. 2004 – I ZR 222/02, GRUR 2005, 438 (441); Urt. v. 22. 1. 2009 – I ZR 30/07, GRUR 2009, 500 (502); OLG München, Urt. v. 15. 3. 2007 – 1 U 5030/06, Rn. 11, juris; OLG Hamm, Urt. v. 17. 10. 2011 – I-5 U 84/11, 5 U 84/11, Rn. 39, juris; OLG Hamm, Urt. v. 23. 7. 2014 – 11 U 107/13, NVwZ‑RR 2014, 951 (952). Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kap. 23 Rz. 76 will die Berücksichtigung der Ausdrucke als (nicht normiertes) Beweismittel im Wege der freien Beweiswürdigung erlauben. 114 BGH, Urt. v. 8. 3. 2006 – IV ZR 145/05, NJW‑RR 2006, 847 (849); Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 631. 115 Zum Problem der Dynamik von Internetseiten siehe noch § 5 III.2.a)bb)(1) und § 7 III.5.c). 116 BGH, Urt. v. 25. 11. 1997 – VI ZR 306–96, NJW 1998, 1223 (1224); Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 284 Rn. 7; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 39. Aufl. 2018, vor § 284 Rn. 13; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 111 Rn. 3; Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kap. 2 Rn. 2.
V. Gegenstand des Beweises: Tatsachen versus Erfahrungssätze
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bar reproduziert, was Gegenstand der unmittelbaren Wahrnehmung war. Selbst wenn im Falle des Augenscheins der Gegenstand des Beweises die Tatsache selbst ist, ist das Ergebnis dieses Augenscheins wiederum nur ein Tatsachenurteil.117 Zugunsten der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden einheitlich von Tatsachen gesprochen, sofern es nicht gerade auf die prozessuale Bedeutung als Tatsachenbehauptung oder Tatsachenurteil ankommt. Der sinnlichen Wahrnehmbarkeit von Tatsachen entsprechend, dienen dem Beweis von Tatsachen in der Regel der Augenschein oder der Zeuge.118 Aber auch Urkunden können mittelbar Tatsachen (wie z. B. das Bestehen einer Prüfung) wiedergeben. Beweis zu erheben ist grundsätzlich über alle bestrittenen Tatsachen, die erheblich sind, sich also auf die Entscheidung des Gerichts in der Weise auswirken können, dass diese unter Berücksichtigung der Tatsache anders ausfällt als ohne ihre Berücksichtigung. Das schließt neben den unmittelbar tatbestandsbegründenden Tatsachen auch solche ein, aus denen sich nicht direkt ein Tatbestandsmerkmal der anzuwendenden Rechtsnorm ergibt, sondern deren Feststellung im Rechtsstreit nur mittelbar von Bedeutung ist, also insbesondere sogenannte Hilfs- und Indiztatsachen.119 Dieser Beweis ist unter den Voraussetzungen des § 291 ZPO entbehrlich. Der Anwendungsbereich des § 291 ZPO ist nach seinem ausdrücklichen Wortlaut auf Tatsachen beschränkt. Das unterscheidet die Norm insbesondere von derjenigen des § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 1 StPO, die nur davon spricht, dass eine Beweiserhebung „wegen Offenkundigkeit überflüssig“ sein kann. Das kann nach herrschender (wenngleich nicht überzeugender) Ansicht nicht nur Tatsachen, sondern insbesondere auch Erfahrungssätze betreffen.120 Im Bereich des § 291 ZPO ist die Beschränkung auf Tatsachen hingegen weithin anerkannt und der – abstrakte – Hinweis auf eine erforderliche Aussortierung der Erfahrungssätze in der einschlägigen Literatur Standard.121 Auch der Bundesgerichtshof hat – 117 Siehe dazu Stein, Das private Wissen des Richters, S. 8; Hellwig, System des deutschen Zivilprozeßrechts, S. 673; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 111 Rn. 6. 118 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 54; Apfelbaum, Die bei Gericht offenkundigen Tatsachen (§ 291 ZPO), S. 18 f. 119 Musielak/Voit/Foerste, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 284 Rn. 2; Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, vor § 284 Rn. 16; Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 284 Rn. 6 ff.; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 39. Aufl. 2018, vor § 284 Rn. 11, 13; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 111 Rn. 7 ff.; Schilken, Zivilprozessrecht, Rn. 483. Ausführlich zum Indizienbeweis Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 18, insb. Rn. 31 f. 120 Siehe dazu statt vieler KK‑StPO/Krehl, 7. Aufl. 2013, § 244 Rn. 131. Korte, Gerichtskundigkeit im Strafprozess, S. 67 f. plädiert mit überzeugenden Argumenten dafür, auch im Strafprozess nur Tatsachen dem Offenkundigkeitsregime zu unterstellen und die Beweisbedürftigkeit von Erfahrungssätzen ausschließlich anhand der eigenen Sachkunde gemäß § 244 Abs. 4 S. 1 StPO zu beurteilen. Auch Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 167 ff. spricht sich für eine dem § 291 ZPO entsprechende Begrenzung des Anwendungsbereichs aus. 121 Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2; MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl.
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nachdem er früher auch Erfahrungssätze als von § 291 ZPO erfasst angesehen hatte122 – die Geltung des § 291 ZPO nur für Tatsachen mittlerweile mehrfach betont und erläutert.123 Allerdings hat die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführte Rechtsprechungs- und Literaturauswertung ergeben, dass – ungeachtet der theoretischen Einigkeit – die von Stein bereits 1893 als „Fehler aller bisherigen Arbeiten auf diesem Gebiete“124 erkannte Vermischung von Tatsachen und Erfahrungssätzen auch weiterhin der wohl meistverbreitete Irrtum bei der Anwendung des § 291 ZPO ist. Der Einschätzung Schmidt-Hiebers aus dem Jahr 1974, dass eine Vermischung nur noch „vereinzelt“ zu erkennen sei, ist daher jedenfalls für die heutige Zeit nicht zuzustimmen.125 Im Internetkontext äußert sich dies vor allem dadurch, dass online recherchierte Erfahrungssätze als vermeintlich „offenkundige Tatsachen“ Eingang in Urteile finden. Diese Vermischung ist auch in der Literatur bisher nicht in der notwendigen Klarheit aufgelöst worden. Insbesondere behandelt keiner der Beiträge, die sich in jüngerer Zeit mit der hier im Mittelpunkt stehenden Frage nach der Bedeutung der Allgemeinkundigkeit i. S. d. § 291 ZPO für richterliche Internetrecherchen befasst haben,126 die Unterscheidung zwischen Tatsachen und Erfahrungssätzen. Das überrascht, da für den Umgang mit Erfahrungssätzen im Zivilprozess von vornherein andere Maßstäbe angenommen werden als für Tatsachen.127 Diese Maßstäbe werden 2016, § 291 Rn. 3; Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 7; Prütting/ Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 1; Zimmermann, ZPO, 10. Aufl. 2015, § 291 Rn. 1; Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 2; Schwab, Zivilprozessrecht, Rn. 250; Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kap. 2 Rz. 26; Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 3 Rn. 18; Pantle, MDR 1993, 1166 (1167); in diesem Sinne wohl auch Zöller/ Greger, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1a. Allein Foerste, in: FS Schilken, 261 (270 f. inkl. Fn. 67) hält es für „keineswegs geklärt“, dass es sich bei Erfahrungssätzen nicht um allgemeinkundige Tatsachen handelt. Durcheinander geraten Tatsachen und Erfahrungsätze ebenso wie Allgemeinkundigkeit und Gerichtskundigkeit z. B. bei Koutsouradis, KTS 1984, 573 (577 f.). Für eine jedenfalls analoge Anwendung des § 291 ZPO auch auf Erfahrungssätze aus prozessökonomischen Gründen Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 283 sowie in jüngerer Zeit Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 157 ff. 122 Siehe z. B. BGH, Beschl. v. 29. 1. 1975 – KRB 4/74, GRUR 1976, 37 (38). 123 Siehe nur BGH, Urt. v. 2. 10. 2003 – I ZR 150/01, BGHZ 156, 250 = NJW 2004, 1163 (1164); BGH, Urt. v. 17. 8. 2011 – I ZR 108/09, GRUR 2011, 1043 (1046). 124 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 138. 125 Schmidt-Hieber, Richtermacht und Parteiherrschaft über offenkundige Tatsachen, S. 10 f.; auf Beispiele aus der zivilprozessualen Rechtsprechung und Literatur wird unter 2. und 3. eingegangen. Korte, Gerichtskundigkeit im Strafprozess, S. 37 f. stellt dieselbe Vermischung auch im Strafverfahrensrecht fest. 126 Das sind Dötsch, MDR 2011, 1017 ff.; Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4; Bachmeier, DAR 2012, 557 ff.; Greger, in: FS Stürner, 289 ff.; Howe, DisputeResolution 2/2015, 19 ff.; ebenso zu einer vermeintlichen „Gerichtsbekanntheit“, aber ausschließlich auf Erfahrungssätze bezogen Laubinger, ZMR 2012, 25 ff. (wobei sich hier lediglich der Irrtum des kommentierten Urteils fortsetzt, siehe dazu noch sogleich unter 3.b)aa)). 127 Auf die Wichtigkeit der Unterscheidung weist auch Jauernig/Hess, Zivilprozessrecht, § 49 Rn. 29 hin.
V. Gegenstand des Beweises: Tatsachen versus Erfahrungssätze
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im Folgenden – nach einer Erläuterung der Natur von Erfahrungssätzen und ihrem Verhältnis zu Tatsachen – anhand der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nachgezeichnet, um die Erfahrungssätze sodann aus dem Anwendungsbereich des § 291 ZPO und der weiteren Untersuchung auszusortieren.
2. Erfahrungssätze a) Unterschied und Verhältnis zu Tatsachen Die Unterscheidung zwischen Tatsachen und Erfahrungssätzen ist mindestens so alt wie die ZPO und betrifft nicht nur § 291 ZPO, sondern das gesamte Beweisrecht.128 Anders als Tatsachen sind Erfahrungssätze abstrakte Aussagen: Während Tatsachen stets konkret wahrgenommen werden können, werden Erfahrungssätze aus mehreren gleichartigen Einzeltatsachen induziert, ohne dass man sie selbst sinnlich wahrnehmen könnte.129 In diesem Sinne handelt es sich um „generalisierende Schlussfolgerungen“130 aus Tatsachen: Ist eine immer gleich wahrgenommene Tatsache („Heute Nacht war es dunkel“) hinreichend oft beobachtet worden, wird daraus eine Regel („Nachts ist es dunkel“) aufgestellt. So entstehen Erfahrungssätze, die je nach Sachgebiet der „allgemeinen Lebenserfahrung“ oder einer bestimmten Wissenschaft, Kunst o.ä. zuzuordnen sind.131 Über das Bestehen eines solchen Erfahrungssatzes gibt bei Bedarf (insbesondere im Gerichtsverfahren) ein Sachverständiger Auskunft132 – und nicht, wie bei den Tatsachen, ein Zeuge, da es gerade nicht (mehr) um die sinnliche Wahrnehmung der zugrunde liegenden Einzeltatsachen, sondern die daraus abstrahierte Aussage über die Regel geht. Diese hat der Sachverständige typischerweise durch Studium und Praxis vermittelt bekommen und nur selten durch eigene Induktion gewonnen.133 Die Einzeltatsachen, die dem Erfahrungs128 Siehe grundlegend bereits Stein, Das private Wissen des Richters, S. 18 ff.; Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 76; Bernhardt, in: FS Rosenberg, 9 (22); zur heutigen allgemeinen Unterscheidung statt vieler MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 284 Rn. 44 ff.; Musielak/Voit/Foerste, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 284 Rn. 4. 129 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 18 ff.; Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 76; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 110 Rn. 11; Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze im Marken- und Lauterkeitsrecht, S. 44. 130 Schilken, Zivilprozessrecht, Rn. 477; vgl. auch Jauernig/Hess, Zivilprozessrecht, § 49 Rn. 29; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 6. 131 MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 284 Rn. 44; Musielak/Voit/Foerste, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 284 Rn. 4. 132 Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2; MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 284 Rn. 44; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 284 Rn. 11; Thomas/ Putzo/Reichold, ZPO, 39. Aufl. 2018, vor § 284 Rn. 15; Apfelbaum, Die bei Gericht offenkundigen Tatsachen (§ 291 ZPO), S. 18 f.; Stein, Das private Wissen des Richters, S. 54. 133 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 54.
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satz zugrunde liegen, verlieren in dem Moment, in dem sie ihn begründen, ihre Bedeutung.134 Ist ein Erfahrungssatz einmal aufgestellt (im Beispiel „Nachts ist es dunkel“), ermöglicht er es wiederum, auch für weitere, nicht beobachtete Fälle auf entsprechende Tatsachen zu schließen („Auch gestern Nacht war es dunkel“/ „Auch morgen Nacht wird es dunkel sein“). Je nachdem, wie gesichert der jeweilige Erfahrungssatz ist, sind dabei – mit entsprechenden Konsequenzen für ihren Beweiswert im Prozess – „zwingende“ und „einfache“ Erfahrungssätze zu unterscheiden.135 Der insoweit eher irreführende Begriff des „Erfahrungssatzes“ schließt also neben empirischen Regelmäßigkeiten und darauf beruhenden Wahrscheinlichkeitsannahmen auch wissenschaftlich „eindeutig“ erwiesene Erkenntnisse ein. Der Unterschied zwischen Tatsachen und Erfahrungssätzen ist nicht der Grad ihrer Gewissheit, sondern allein die Konkretheit oder Abstraktheit der getroffenen Aussage.136 So hat der Bundesgerichtshof z. B. im Rahmen einer Vaterschaftsfeststellung den erfahrungsgemäßen Vererbungsgang der Blutgruppeneigenschaften A und B als „absolut gesichert“ angesehen, da er sich „in Hunderttausenden von Fällen als richtig erwiesen“ habe. Eine „Erwägung darüber, ob er im Einzelfall Geltung beanspruchen könne“, komme deshalb nicht in Betracht.137 Je weniger gesichert ein Erfahrungssatz hingegen ist, desto weniger kann er den Beweis einer einzelnen Tatsache ersetzen.138 Insoweit spielen Erfahrungssätze insbesondere im Rahmen des Anscheins- und Indizienbeweises eine große Rolle.139
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Stein, Das private Wissen des Richters, S. 21. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 113 Rn. 19, 29; ausführlich Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze im Marken- und Lauterkeitsrecht, S. 53, 145 ff. (die zwischen „deterministischen“ und „statistischen“ Erfahrungssätzen differenziert); ähnlich (Begriffspaar „zwingend“/„relativ“) Korte, Gerichtskundigkeit im Strafprozess, S. 40 ff.; teilweise wird noch weiter differenziert und zwischen den „zwingenden“ und den „einfachen“ Erfahrungssätzen auf „Erfahrungsgrundsätze“ rekurriert, die wegen ihres „hohen Bestätigungsgrades“ zur Führung eines Anscheinsbeweises geeignet seien, während einfache Erfahrungssätze die richterliche Überzeugung in der Regel nicht allein begründen, sondern nur „Teil einer umfassenden Beweiswürdigung im Rahmen des Indizienbeweises“ sein könnten, MüKo-ZPO/Prütting, § 5. Aufl. 2016, 286 Rn. 56 ff.; dem folgend Baumgärtel/ Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 17 Rn. 21 ff.; Foerste, in: FS Schilken, 261 (262); Musielak/Voit/ders., ZPO, 15. Aufl. 2018, § 284 Rn. 4. 136 So ausdrücklich auch Korte, Gerichtskundigkeit im Strafprozess, S. 38. 137 BGH, Urt. v. 12. 4. 1951 – IV ZR 151/50, BGHZ 2, 6 = NJW 1951, 558 (558). 138 BGH, Beschl. v. 7. 6. 1982 – 4 StR 60/82, BGHSt 31, 86 = NJW 1982, 2455 (2456). 139 Siehe dazu bereits Fn. 135. Die zahlreichen Probleme im Zusammenhang mit dem Schließen von Erfahrungssätzen auf Tatsachen können im Rahmen dieser Arbeit nicht erörtert werden. 135 Vgl.
V. Gegenstand des Beweises: Tatsachen versus Erfahrungssätze
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b) Ermittlung von Erfahrungssätzen im Zivilprozess aa) Kein Beweiserfordernis bei allgemeinen Erfahrungssätzen Ihrem dargestellten Regelcharakter und Verhältnis zu Tatsachen entsprechend, lassen sich Erfahrungssätze im Wenn-/Dann-Schema darstellen („Wenn es Nacht ist, dann ist es dunkel“).140 In dieser Struktur von Voraussetzung („Nacht“) und Folge („dunkel“) ähneln sie den Rechtssätzen: Wie diese fungieren sie immer als Obersatz, während Tatsachen nur im Untersatz vorkommen.141 Anders als die Rechtssätze sind die Erfahrungssätze aber nicht rechtlicher, sondern tatsächlicher Natur. Stein nannte sie aus diesem Grund auch die „thatsächlichen Obersätze“.142 Aufgrund dieser Ähnlichkeit zu den Rechtssätzen, die das Gericht von Amts wegen zu kennen hat (iura novit curia),143 ist nach herrschender Ansicht auch für allgemeine Erfahrungssätze eine Beweiserhebung (und auch eine Behaup tung durch die Parteien) nicht zwingend. Vielmehr darf das Gericht seine vorhandenen Kenntnisse von Erfahrungssätzen ohne Beweiserhebung – und, sofern eine Kenntnis aufgrund allgemeiner Lebenserfahrung auch bei den Par teien vorausgesetzt werden kann, sogar ohne vorherigen Hinweis144 – verwer ten und sich die erforderlichen Kenntnisse von Existenz und Inhalt eines ihm unbekannten Erfahrungssatzes – in Analogie zu der für ausländisches Recht geltenden Regelung des § 293 ZPO – von Amts wegen und „auf jede mögliche andere Weise“ aneignen.145 Als „allgemeine Grundlagen menschlicher Erkenntnis“ kann und muss das Gericht Erfahrungssätze berücksichtigen, um „die Wertentscheidungen des Gesetzgebers in einer Wirklichkeit zu realisieren, wie sie uns in der Summe unseres Erfahrungswissens gegeben ist.“146 Nicht 140 Schmidt-Hieber, Richtermacht und Parteiherrschaft über offenkundige Tatsachen, S. 10; Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze im Marken- und Lauterkeitsrecht, S. 50 f. 141 MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 284 Rn. 44; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 284 Rn. 11; Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 284 Rn. 14; Stein, Das private Wissen des Richters, S. 59; Apfelbaum, Die bei Gericht offenkundigen Tatsachen (§ 291 ZPO), S. 17. 142 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 14. 143 Statt aller MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 284 Rn. 43 sowie § 293 Rn. 2; Hk-ZPO/ Saenger, 7. Aufl. 2017, § 284 Rn. 13; Schilken, Zivilprozessrecht, Rn. 475. 144 BGH, Urt. v. 22. 3. 1967 - IV ZR 10/66, JZ 1968, 670 (671); Urt. v. 16. 5. 1991 – III ZR 125/9, NJW 1991, 2824 (2825). 145 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 111 Rn. 12; MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 284 Rn. 44; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 284 Rn. 11; HkZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 284 Rn. 14; Jauernig/Hess, Zivilprozessrecht, § 49 Rn. 31; Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze im Marken- und Lauterkeitsrecht, S. 176; siehe auch bereits Stein, Das private Wissen des Richters, S. 95 sowie Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 76 f.; für Schilken, in: FS Kollhosser, 649 (658) handelt es sich bei derartigen Ermittlungen von vornherein nicht um Beweiserhebung, sondern davon zu unterscheidende „Stoffsammlung“. 146 Kuchinke, in: Freiheit und Bindung des Zivilrichters in der Sachaufklärung, 15 (28).
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von der Hand zu weisen ist allerdings die an der Gleichstellung der Erfahrungssätze mit den Rechtssätzen geübte Kritik, dass Erfahrungssätze gerade nicht normativ entstehen.147 Darauf, dass sich jedenfalls die zentralen Risiken bei der (Internet-)Recherche nach Erfahrungssätzen kaum von denjenigen bei der Tatsachenrecherche unterscheiden, wird am Ende dieser Untersuchung noch eingegangen.148 Das Regel-Ausnahme-Verhältnis für die Notwendigkeit einer Beweiserhebung über Erfahrungssätze ist folglich im Vergleich zu Tatsachen gerade umgekehrt: Während eine Beweiserhebung über Tatsachen nur ausnahmsweise entfallen kann, ist sie zur Feststellung von Erfahrungssätzen grundsätzlich nicht geboten. So konnten Gerichte z. B. ohne Beweiserhebung – und ohne den irrtümlichen Rückgriff auf § 291 ZPO – annehmen, dass von einem mit bis zu 160 km/h in die Zuschauerränge geschleuderten Eishockey-Puck eine Verletzungsgefahr ausgeht149 oder dass parapsychologische Kräfte nicht existieren.150 Die Nichtexistenz parapsychologischer Kräfte wird allerdings auch in der Literatur als Standardbeispiel allgemeinkundiger Tatsachen angeführt.151 Dem ist zu entgegnen, dass es sich bei der – generellen – Nichtexistenz solcher Kräfte um eine abstrakte Aussage, mithin einen Erfahrungssatz handelt. Die aufgrund dieser Erfahrung vorzunehmende Feststellung der Unmöglichkeit einer Tatsache im konkreten Fall (wie der im zitierten Fall des Landgerichts Kassel versprochenen parapsychologischen Beeinflussung eines Mannes zur Rückkehr zur Klägerin) hat Stein als „selbständige Function der Erfahrungssätze“ erkannt.152 147 Siehe insb. Foerste, in: FS Schilken, 261 (270 f.) sowie Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 145 ff. 148 Siehe § 7 VI. 149 OLG Nürnberg, Beschl. v. 6. 7. 2015 – 4 U 804/15, NJW‑RR 2016, 33 (35); auch BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 12. 2018, § 291 Rn. 2.1 weist darauf hin, dass es sich hier um einen nicht § 291 ZPO unterfallenden Erfahrungssatz handelt. Entsprechendes gilt für Erfahrungswissen hinsichtlich der (Un-)Gefährlichkeit von Wunderkerzen, unzutreffend und unnötig deshalb die Anwendung des § 291 ZPO durch OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 18. 5. 2006 – 3 U 104/05, OLGR 2006, 814 (815 f.); wie hier auch Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2; dem Urteil zustimmend hingegen Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 17 sowie Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 3 Rn. 18, die dieses zum Beleg dafür heranziehen, dass die „Offenkundigkeit“ nicht Gegenstand eines Beweisantritts sein kann. Dazu, dass über die Allgemeinkundigkeit einer Tatsache durchaus Beweis angetreten werden kann, noch § 3 IV. 2. sowie § 8 I. 4.b). Zur Irrelevanz der „Offenkundigkeit“ (und somit auch ihres Beweises) von Erfahrungssätzen noch sogleich unter 3. 150 LG Kassel, Urt. v. 14. 3. 1985 – 1 S 491/84, NJW 1985, 1642 (1642); LG Aachen, Urt. v. 12. 2. 1988 – 5 S 414/87, MDR 1989, 63; richtig hingegen die Einordnung des BGH, Beschl. v. 21. 2. 1978 – 1 StR 624/77, NJW 1978, 1207. 151 Siehe z. B. Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3; Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 3 Rn. 19 sowie Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4 Fn. 9 (letzterer trotz der zutreffenden Unterscheidung zwischen offenkundigen und erfahrungsgemäß unmöglichen Tatsachen in Rn. 6 Fn. 16). 152 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 38 ff.; vgl. auch Stein/Jonas/Thole, ZPO,
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Auch Definitionen sind als abstrakte Beschreibung dessen, was nach der allgemeinen Lebenserfahrung unter einem bestimmten Begriff verstanden wird, klassische Beispiele allgemeiner Erfahrungssätze.153 Wenn sich Gerichte im Internet über allgemeine Definitionen unterrichten, stellt dies folglich keine nach § 291 ZPO zu beurteilende Ermittlung allgemeinkundiger Tatsachen dar,154 sondern eine von vornherein nicht dem förmlichen Beweisverfahren unterliegende Heranziehung allgemeiner Erfahrungssätze. Der Bundesgerichtshof hat sich insofern zu Recht nicht auf § 291 ZPO gestützt, als er mit Hilfe der Internetseiten des Duden und der Wikipedia das Verständnis eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers von den Begriffen „Prospekt“ und „Effekten“ herausarbeitete.155
bb) Sachverständigenbeweis bei fachspezifischen Erfahrungssätzen Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis kehrt sich allerdings erneut um, wenn es nicht um allgemeine, sondern um fachspezifische Erfahrungssätze geht.156 Sofern die Beurteilung einer Frage nicht bereits durch die Kenntnis allgemeiner Erfahrungssätze möglich ist, sondern eine „besondere Sachkunde“, mithin Fachwissen medizinischer157, computertechnischer158 oder sonstiger Art voraussetzt, ist das Gericht auch auf dem Gebiet der Erfahrungssätze zur Beweiserhebung verpflichtet: In diesen Fällen ist für die Ermittlung der relevanten Erfahrungssätze und ihrer Bedeutung für den konkreten Fall ein Sachverständiger heranzuziehen.159 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4 Fn. 10; in Steins Sinne, aber ohne eindeutige Differenzierung auch MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 8. 153 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 18 f. bezeichnete die Definitionen – neben den erwartungsbegründenden hypothetischen Sätzen – als eine der zwei „Grundformen“ der Erfahrungssätze. 154 So aber z. B. LG Dortmund, Urt. v. 10. 09. 2010 – 3 O 140/10, juris, Rn. 20 ff.; Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1. 155 BGH, Urt. v. 8. 5. 2013 – IV ZR 84/12, NJW 2013, 2739 (2740 f.); ähnlich auch OLG Hamburg, Urt. v. 26. 11. 2010 – 1 U 163/09, NJW 2011, 2663 (2665) (Bedeutung der Begriffe „Haustechnik“ und „technische Gebäudeausrüstung“) und LG Köln, Urt. v. 08. 05. 2009 – 81 O 220/08, GRUR‑RR 2009, 260 (261) (Bedeutung des Begriffs „Welle“). Zur ggf. erforderlichen Sachkunde noch sogleich. 156 So auch die Einschätzung von Meller-Hannich, ZZP 2016, 263 (266). Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 151 versteht das RegelAusnahme-Verhältnis deshalb auch bzgl. Erfahrungssätzen insgesamt wie bei den Tatsachen: Es sei „nicht umstritten“, dass zu ihrer Feststellung grundsätzlich der Beweis erforderlich sei. Das gilt jedoch nur für fachspezifische Erfahrungssätze. Für allgemeine Erfahrungssätze erscheint eher das Gegenteil kaum umstritten, siehe dazu die Belege unter Fn. 145. Etwaige Meinungsunterschiede lassen sich möglicherweise auch auf eine fehlende Differenzierung zwischen allgemeinen und fachspezifischen Erfahrungssätzen zurückführen. 157 Vgl. z. B. BGH, Urt. v. 10. 5. 1994 – VI ZR 192/93, NJW 1994, 2419 (2421). 158 Vgl. z. B. BGH, Urt. v. 23. 11. 2006 – III ZR 65/06, NJW‑RR 2007, 357 (358). 159 Siehe sämtliche Nachweise der nächsten Fn.
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Die Grenzen zwischen „allgemeinen“ und „fachspezifischen“ Erfahrungssätzen sind fließend: So haben z. B. die vom Bundesgerichtshof behandelten Begriffe „Prospekt“ und „Effekten“ durchaus auch fachspezifische Bedeutungen. Insoweit wird man jedoch annehmen können, dass der Bundesgerichtshof über die im Folgenden zu erörternde eigene Sachkunde zum Umgang mit den Begriffen verfügt.
cc) Eigene Sachkunde des Gerichts Auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu fachspezifischen Erfahrungssätzen darf das Gericht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur dann verzichten, wenn es entsprechende eigene „besondere Sachkunde“ auszuweisen vermag, die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung zu machen und im Urteil darzulegen ist.160 Anders als im Strafverfahren, in dem § 244 Abs. 4 S. 1 StPO ausdrücklich die Ablehnung von Beweisanträgen aufgrund eigener Sachkunde für zulässig erklärt, ist die Verwertung eigener Sachkunde des Gerichts in der ZPO nicht ausdrücklich geregelt. Die Grundsätze wurden von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aber weitestgehend übernommen. In Betracht kommt hier insbesondere fachliches Erfahrungswissen, welches das Gericht durch jahrelange Bearbeitung ähnlicher Sachverhalte erworben hat.161 Als Beispiel kann das aufgrund häufiger gerichtlicher Befassung mit ernährungswissenschaftlichen Fragen gewonnene Wissen genannt werden, dass die normale Nahrung den Bedarf des Menschen an Vitamin H grundsätzlich deckt.162
dd) Keine Sachkunde durch Lektüre von Fachliteratur Die bloße Lektüre von Fachliteratur kann einen Sachverständigenbeweis hingegen in aller Regel nicht entbehrlich machen, da auch deren Verständnis und
160 BGH, Urt. v. 15. 3. 1988 – VI ZR 81/87, NJW 1988, 3016 (3017); Urt. v. 14. 2. 1995 – VI ZR 106/94, NJW 1995, 1619 (1619); Urt. v. 17. 10. 2001 – IV ZR 205/00, NJW‑RR 2002, 166 (167); Urt. v. 2. 10. 2003 – I ZR 150/01, BGHZ 156, 250 = NJW 2004, 1163 (1164); Urt. v. 8. 6. 2004 – VI ZR 230/03, BGHZ 159, 254 = NJW 2004, 2828 (2830); Urt. v. 23. 11. 2006 – III ZR 65/06, NJW‑RR 2007, 357 (358); Urt. v. 12. 7. 2012 – I ZR 18/11, BGHZ 194, 339 = GRUR 2013, 370 (373); Beschl. v. 13. 1. 2015 – VI ZR 204/14, NJW 2015, 1311 (1311); Stein/ Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 284 Rn. 11; Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kap. 2 Rz. 17; Pantle, MDR 1993, 1166 (1167); Meller-Hannich, ZZP 2016, 263 (266). 161 Vgl. Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 4. 162 Der BGH, Urt. v. 2. 4. 1998 – I ZR 1- 96, NJW 1998, 3498 (3499) ist insoweit früher noch von Gerichtskundigkeit i. S. d. § 291 ZPO ausgegangen, siehe zur späteren Klarstellung der Unterscheidung aber noch sogleich 3.a). Wie hier auch die Einordnung von Stein/Jonas/ Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2.
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Auswertung entsprechende Sachkunde voraussetzen.163 Der Bundesgerichtshof hat insoweit eine Unterrichtung des Richters anhand der Fachliteratur zwar für zulässig (und im Einzelfall sogar geboten) gehalten, um ein Sachverständigengutachten kritisch zu prüfen und Fragen zu stellen. Will er jedoch sein Urteil in einer fachlichen – in den entschiedenen Fällen meist medizinischen – Frage allein auf die so erworbenen Kenntnisse stützen, so müsse er darlegen, dass er die für die Auswertung der Fachliteratur erforderliche Sachkunde besitze. Der bloße Hinweis auf Fachliteratur sei dafür grundsätzlich nicht geeignet, „[…] da das Studium derartiger Literatur infolge der notwendigerweise generalisierenden Betrachtungsweise dem medizinischen Laien nur bruchstückhafte Kenntnisse vermitteln kann.“164
Zuzustimmen ist auch der Bemerkung Meller-Hannichs, der Richter bleibe „auch bei noch so intensiver Fortbildung und Erfahrung immer ein Hobbyist“. „Pseudoexpertentum und Halbbildung“ seien noch schädlicher als ein übertriebenes Vertrauen in die Weisheit des Sachverständigen.165
ee) Übertragung auf Internetrecherchen Die seit langem gefestigte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist in ihrem Kern auch auf Internetrecherchen übertragbar.166 Entsprechend hat z. B. das Oberlandesgericht Naumburg unter Verweis auf die dargestellte Rechtsprechung des Bundesgerichthofs ausgeführt, dass eine „intensive Literaturrecherche, insbesondere unter Nutzung der erweiterten Informationsmöglichkeiten des Internets“, zwar ein geeignetes Instrument zur Vorbereitung einer Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens sein könne,167 aber im Regelfall keine hinreichende eigene Sachkunde des Gerichts begründe: „Die Darstellungen in medizinischen Lehr- oder gar Wörterbüchern, auf Homepages von Hochschulen und Universitäten oder in allgemeinen Patienteninformationen sind notwendiger Weise generalisierend, unter Umständen in der zur Beurteilung des konkreten Prozess-Stoffs relevanten Frage unvollständig und jedenfalls nicht auf den zur Entscheidung stehenden Fall bezogen. Regelmäßig, so auch hier, ist weitere Sachkunde erforderlich, um die aufgefundene Fachliteratur auszuwerten und ein eigenes Urteil über
163 BGH, Urt. v. 17. 10. 2001 – IV ZR 205/00, NJW‑RR 2002, 166 (167); Coester-Waltjen, in: FS Areios Pagos, 28 (37). 164 BGH, Urt. v. 10. 5. 1994 – VI ZR 192/93, NJW 1994, 2419 (2421); ebenso bereits Urt. v. 2. 3. 1993 – VI ZR 104/92, NJW 1993, 2378 (2378 f.); ähnlich auch schon Urt. v. 10. 1. 1984 – VI ZR 122/82, NJW 1984, 1408 (1408). 165 Meller-Hannich, ZZP 2016, 263 (266); ähnlich auch Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 156, der die Richtigkeit der Entscheidung durch „halbgebildete“ Richter gefährdet sieht. 166 So auch Greger, in: FS Stürner, 289 (296). 167 Dazu allerdings noch § 7 VI.2.c).
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§ 2 Beweisrechtlicher Rahmen der Untersuchung
Sachfragen unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls zu gewinnen.“168
Schon aus diesem Grund sind richterliche Internetrecherchen zur Aneignung vermeintlicher Sachkunde wie die des Oberlandesgerichts Jena zur medizinischen Bewertung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)169 als äußerst problematisch anzusehen.170
3. Konfusion beweisrechtlicher Maßstäbe durch Vermischung von Tatsachen und Erfahrungssätzen a) Irrelevanz der „Offenkundigkeit“ von Erfahrungssätzen Es zeigt sich also, dass sich die Voraussetzungen für die Notwendigkeit bzw. den Entfall einer Beweiserhebung bei Tatsachen und Erfahrungssätzen unterscheiden: Während § 291 ZPO die Offenkundigkeit (und im Fokus dieser Arbeit insbesondere die Allgemeinkundigkeit) als Voraussetzung des Beweisentfalls über Tatsachen nennt, sind allgemeine Erfahrungssätze von vornherein nicht beweisbedürftig; die Erforderlichkeit eines Beweises über fachspezifische Erfahrungssätze hängt hingegen allein von der Sachkunde des Gerichts ab. Auf die Allgemeinkundigkeit eines Erfahrungssatzes kommt es – auch wenn es zahlreiche ihrer Art nach „allgemeinkundige“ Erfahrungssätze gibt – prozessual nicht an.171 Der Bundesgerichtshof hat dies hinsichtlich der von ihm (jedenfalls in jüngerer Zeit) als Erfahrungssatz eingestuften Verkehrsauffassung im Markenrecht wie folgt formuliert: „Ermittelt der Richter das Verständnis des Verkehrs ohne sachverständige Hilfe, dann tut er dies nicht, weil die Verkehrsauffassung offenkundig wäre und deswegen keines Beweises bedürfte, sondern weil er davon ausgeht, auf Grund eigenen Erfahrungswissens selbst über die erforderliche Sachkunde zu verfügen. Ob diese Beurteilung zutrifft, bestimmt sich grundsätzlich nach den Regeln, die auch sonst bei Beantwortung der Frage gelten, ob ein Gericht auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens verzichten und stattdessen auf Grund eigener Sachkunde entscheiden kann.“172
168 OLG Naumburg, Urt. v. 28. 6. 2001 – 1 U 13/01, NJW 2001, 3420 (3421); ebenso Beschl. v. 18. 12. 2003 – 1 W 7/03, NJW‑RR 2004, 964 (965). 169 OLG Jena, Urt. v. 18. 10. 2011 – 4 U 501/10, NJW‑RR 2012, 1308 (1309). 170 Zu weiteren Gründen noch § 7 VI.2. 171 MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 3; Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 111 Rn. 11; Schwab, Zivilprozessrecht, Rn. 250. 172 BGH, Urt. v. 2. 10. 2003 – I ZR 150/01, NJW 2004, 1163 (1164); zustimmend Stein/ Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2; Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 291 Rn. 3. Zu den hier nicht zu vertiefenden besonderen Schwierigkeiten der rechtlichen Einordnung und Behandlung der vor allem im Markenrecht relevanten „Verkehrsauffassung“ siehe Sosnitza, WRP 2014, 1136 ff.; allgemein zur Bedeutung von Erfahrungssätzen im
V. Gegenstand des Beweises: Tatsachen versus Erfahrungssätze
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Aus diesem Grund sollte im Zusammenhang mit Erfahrungssätzen auf die Begriffe der Offen-, Allgemein- und Gerichtskundigkeit verzichtet werden. Auch Tatsachen, auf deren Vorliegen mit Hilfe von – wenn auch „allgemeinkundigen“ – Erfahrungssätzen geschlossen wurde, sind dadurch nicht allgemeinkundig i. S. d. § 291 ZPO.173 Das gilt neben den bereits angesprochenen erfahrungsgemäß unmöglichen Tatsachen174 auch für alle anderen Schlussfolgerungen aus Erfahrungssätzen: Wenn etwa das Oberlandesgericht Dresden aufgrund allgemeiner Erfahrungen mit winterlichen Heizungsausfällen auf die auch im konkreten Fall anzunehmenden Folgen schließt, handelt es sich nicht um „offenkundige“ i. S. v. „allgemeinkundige“ Tatsachen175 – denn die konkreten Tatsachen dürften kaum einmal allgemein bekannt (oder aus allgemein zugänglichen Quellen ermittelbar) sein. Sie sind allein das Ergebnis einer Schlussfolgerung, für deren Zulässigkeit insbesondere die Art des Erfahrungssatzes („zwingend“ oder „einfach“) und ggf. die Grundsätze des Anscheinsoder Indizienbeweises maßgeblich sind.176 Das Oberlandesgericht Schleswig hat z. B. den Schluss von der generellen (d. h. erfahrungsgemäßen) Impulsartigkeit von Tennislärm auf eine Lärmbelastung im konkreten Einzelfall anstelle eines Ortstermins für unzulässig gehalten.177 Dem ist im Ergebnis durchaus zuzustimmen. Der eher Verwirrung stiftenden Unterscheidung zwischen „allgemeinkundigen“ allgemeinen Umständen und deren nicht allgemeinkundigen „einzelfallbezogenen Wirkungen“ bedarf es jedoch nicht,178 wenn im Zusammenhang mit Erfahrungssätzen auf den Begriff der Allgemeinkundigkeit von vornherein verzichtet und ein Zusammenhang mit § 291 ZPO gar nicht erst impliziert wird.
Marken- und Lauterkeitsrecht Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze im Marken- und Lauterkeitsrecht. 173 Ebenso Korte, Gerichtskundigkeit im Strafprozess, S. 41 f.; Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze im Marken- und Lauterkeitsrecht, S. 189 f.; sinngemäß lässt sich dies auch dem von Beutel in Bezug genommenen Urteil BGH, Urt. v. 2. 10. 2003 – I ZR 150/01, NJW 2004, 1163 (1164) entnehmen. Abzulehnen ist daher die Ansicht von Brehm, Bindung des Richters an den Parteivortrag und Grenzen freier Verhandlungswürdigung, S. 202, der die Offenkundigkeit sogar darüber definieren will, dass „[…] Erfahrungssätze den sicheren Schluß zulassen, daß eine Behauptung zutrifft“. Diese Ansicht wird, soweit ersichtlich, sonst nirgends in der Literatur ausdrücklich vertreten. Zur Verwechslung von Offenkundigkeit und (umgangssprachlich oft synonym verwendeter) „Offensichtlichkeit“ siehe noch § 6 II.2. 174 Zu diesen siehe Abschnitt 2.b)aa). 175 OLG Dresden, Urt. v. 18. 6. 2002 – 5 U 260/02, NJW‑RR 2002, 1163 (1163). 176 Siehe dazu bereits Abschnitt 2.a). 177 OLG Schleswig, Urt. v. 20. 12. 1990 – 5 U 89/89, NJW‑RR 1991, 715 (715); vgl. auch die Konstellation bei OLG München, Urt. v. 14. 1. 2004 – 7 U 4293/03, NJOZ 2004, 932 (934) zu Lärmbelästigungen durch eine Ganztagsschule; Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4 Fn. 9 sieht darin zutreffend („eher“) eine Anwendung von Erfahrungssätzen. 178 So aber Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 3 Rn. 19.
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b) Praxisbeispiele der Maßstabskonfusion bei Internetrecherchen In der Praxis geraten aber gerade im Zusammenhang mit Internetrecherchen nicht nur die Begriffe, sondern auch die an sich klaren Maßstäbe zur Ermittlung und Verwertung von Erfahrungssätzen oftmals durcheinander, indem Gerichte irrtümlich unter § 291 ZPO subsumieren. Bedenklich ist dies vor allem dann, wenn sie zweifelhaftes Fachwissen aus dem Internet als allgemein- oder gerichtskundig in den Prozess einführen, statt sich die kritische Frage hinreichender eigener Sachkunde zu stellen.
aa) Das „Epoxidharz“-Urteil des Amtsgerichts Köln Exemplarisch für diese Maßstabskonfusion ist ein Urteil des Amtsgerichts Köln zur Gesundheitsschädlichkeit des Baustoffs Epoxidharz,179 das auch in der Literatur vielfach und teils heftig kritisiert worden ist180 – allerdings ohne Benennung des Grundfehlers der fehlenden Differenzierung zwischen Tatsachen und Erfahrungssätzen. Das Gericht begründete in einem Streit um Mietnachzahlungen eine Mietminderung um 20 % ohne Beweiserhebung wie folgt: „[…] Es ist dabei gerichtsbekannt, dass Epoxidharz Komponenten enthält, die gesundheitsschädlich sind. Dabei bezieht sich das Gericht auf den Artikel der freien Enzyklopädie Wikipedia zum Thema Epoxidharz. Danach besteht die Harzkomponente aus den Stoffen Bisphenol A und Epichlorhydrin. Bisfinol A [sic] wird als endokriner Disruptor verdächtigt, was bedeutet, dass dieser Stoff wie ein Hormon wirken und so das empfindliche Gleichgewicht des Hormonsystems des Menschen stören kann. Gerichtsbekannt ist ferner, dass solche endokrinen Disruptoren schon in geringsten Mengen zu Störungen im endokrinen System führen können. Der Stoff Epichlorhydrin ist laut Wikipedia weiterhin bekannt als giftig und im Tierversuch krebserzeugend. Daher steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass das Wasser in der Wohnung des Bekl. im streitgegenständlichen Zeitraum als Trinkwasser nicht geeignet und zur Körperhygiene nur bedingt geeignet war. Dies rechtfertigt eine Mietminderung von 20 % monatlich.“181
Die Bezeichnung als „gerichtsbekannt“ lässt erkennen, dass das Gericht eine Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit i. S. d. § 291 ZPO für entbehrlich hielt. Der Verweis auf eine vermeintliche Gerichtsbekanntheit ist hier jedoch aus zwei Gründen unzutreffend: Zunächst ist an dem Urteil zu Recht kritisiert worden, dass die herangezogenen Eigenschaften des Baustoffs keinesfalls „gerichtsbekannt“, sondern allenfalls „allgemeinkundig“ sein konnten, da sich 179 180
AG Köln, Urt. v. 20. 4. 2011 – 201 C 546/10, NJW 2011, 2979 (2979). Kühn, ZMR 2012, 27 bezeichnet das Urteil als „krasse Fehlentscheidung“; siehe ferner auch Laubinger, ZMR 2012, 25; Hufer, IMR 2012, 1009; Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4; Greger, in: FS Stürner, 289 (296); Zöller/ders., 32. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 2; Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3; Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2 Fn. 11; MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 9. 181 AG Köln, Urt. v. 20. 4. 2011 – 201 C 546/10, NJW 2011, 2979 (2979).
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das Gericht nicht auf amtlich erlangte Kenntnisse bezog, sondern auf eine allgemein zugängliche Quelle im Internet.182 Der Grundfehler des Urteils liegt jedoch darin, die Beweisbedürftigkeit des behaupteten Mietmangels überhaupt nach § 291 ZPO zu beurteilen. Denn die mögliche Gesundheitsschädlichkeit von Epoxidharz und/oder seiner Komponenten ist keine singulär wahrnehmbare Tatsache i. S. d. § 291 ZPO. Es handelt sich vielmehr um einen Erfahrungssatz, der erst durch Beobachtung vieler einzelner Fälle aufgestellt werden kann, in denen die Stoffe zur Erkrankung geführt haben (oder eben nicht). Auf eine Beweiserhebung durfte das Gericht daher – sofern der Fall überhaupt allein mit Hilfe von Erfahrungssätzen zu lösen und nicht ohnehin eine Untersuchung der Wasserbelastung im konkreten Fall geboten war183 – nicht wegen einer vermeintlichen Offenkundigkeit (gleich welcher Art) verzichten, sondern ausschließlich bei Vorhandensein eigener Sachkunde. Eine solche Sachkunde hat das Gericht in dem Urteil nicht dargelegt, sondern sich allein auf Wikipedia gestützt.184 Versucht man, die Quellen trotz der mangelhaften Zitierung durch das Gericht185 nachzuvollziehen, fällt schnell auf, dass die Ausführungen nahezu wörtlich aus zwei Wikipedia-Artikeln übernommen worden sind.186 Die in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen im Urteil unterschiedliche Schreibweise des Stoffs „Bisphenol A“ / „Bisfinol A“ mag ein Diktierfehler sein, kann aber ebenso auf mangelnde Geläufigkeit des Begriffs und damit geringe Sachkunde hindeuten. Insoweit sind die Ausführungen des Bundesgerichtshofs zu einem Fall ohne Internetbezug fast 1:1 übertragbar: „Eigene medizinische Sachkunde hat das BerGer. nicht dargetan. Es stützt sich […] lediglich auf eine Veröffentlichung in der Literatur, ohne zu begründen, inwieweit dadurch medizinisches Fachwissen vermittelt wird […] oder auch nur zu verdeutlichen, die für die Auswertung medizinischer Literatur erforderliche Sachkunde zu besitzen […]. Seine Ausführungen […] setzen eine solche, vom BerGer. nicht ausgewiesene Sachkunde voraus. Sie beruhen zudem auf einer generalisierenden Betrachtungsweise, die den gebotenen Bezug zum Einzelfall vermissen lässt.“187 182 So auch die Kritik von Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4; vgl. auch Musielak/Voit/ Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2 Fn. 11; MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 9. Im Kern wird diese Kritik auch von Kühn, ZMR 2012, 27 geteilt – allerdings verursacht dieser bei seinem Vorwurf, das Gericht verkenne „die Begriffe gerichtsbekannt und offenkundig“ weitere Verwirrung, indem er den Oberbegriff „offenkundig“ anstelle des hier angezeigten Unterbegriffs „allgemeinkundig“ verwendet. 183 So vor allem Kühn, ZMR 2012, 27 (28). 184 Dass man mit entsprechender Sachkunde wohl eher zum gegenteiligen Ergebnis gekommen wäre, legen Laubinger, ZMR 2012, 25 f. und Kühn, ZMR 2012, 27 f. anschaulich dar. 185 Siehe dazu noch § 5 II.2.a)bb)(2). 186 Namentlich „Epoxidharz“ in der letzten Version vor der Urteilsveröffentlichung vom 16. 4. 2011, 15:36 Uhr, permanent verfügbar unter: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title= Epoxidharz&oldid=87776657, sowie „Endokrine Disruptoren“ in der Version vom 26. 3. 2011, 15:57 Uhr, permanent verfügbar unter http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Endokrine_ Disrup toren&oldid=8693 6889, beide zuletzt aufgerufen am 5. 4. 2018. 187 BGH, Urt. v. 17. 10. 2001 – IV ZR 205/00, NJW‑RR 2002, 166 (167); den fehlenden
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Mit § 291 ZPO hat dies nichts zu tun. Der Maßstab der eigenen Sachkunde gerät aus dem Blickfeld, wenn stattdessen (oder zusätzlich) anhand der Maßstäbe des § 291 kritisiert wird, das Amtsgericht hätte „[…] bei kritischer Prüfung des Wikipedia-Artikels feststellen müssen, dass dieser hinsichtlich der behaupteten Gesundheitsschädlichkeit der Inhaltsstoffe von Epoxidharz keine ausreichende Informationsdichte und keine ausreichenden Belege aufweist.“188
Denn diese Bewertung impliziert, dass ein Entfall der Beweisbedürftigkeit nach § 291 ZPO denkbar gewesen wäre, wenn nur der Wikipedia-Artikel mehr Fußnoten gehabt und damit die Allgemeinkundigkeitsanforderung der „Zuverlässigkeit“ der Quelle erfüllt hätte.189 Selbst dies hätte aber die erforderliche Sachkunde des Gerichts weder bewirken noch ersetzen können. Im Gegenteil setzt auch die Prüfung der Zuverlässigkeit von Informationen über fachspezifische Erfahrungssätze entsprechende Sachkunde voraus. Eine sachkundige Auswertung von Fachliteratur wird also immer auch eine derartige „Zuverlässigkeitsprüfung“ enthalten. Eine eigenständige Funktion kommt der Zuverlässigkeit nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aber ebenso wenig zu wie der allgemeinen Zugänglichkeit der Quelle. So sehr das unter den genannten Kritikern einhellige Ergebnis Zustimmung verdient, dass die Wikipedia-Recherche einen Sachverständigenbeweis nicht entbehrlich machen konnte, so deutlich ist ihnen daher bei der Begründung dieses Ergebnisses zu widersprechen. Denn ob die „Stoffbeschreibung in Wikipedia“ den „Anforderungen an Offenkundigkeit“ genügt,190 ist nach der insoweit überzeugenden Rechtsprechung irrelevant. Entscheidend ist allein (und nicht lediglich ergänzend oder als Teil der Offenkundigkeitsprüfung) die Sachkunde des Gerichts. Entsprechend gilt das Ergebnis, dass auf einen Sachverständigenbeweis nicht verzichtet werden durfte, unabhängig von der Qualität einzelner Quellen und der „Allgemeinkundigkeit“ der dort gefundenen Informationen. Diese kann gerade nicht bewirken, „dass das Gericht von der Einholung eines Sachverständigengutachtens absehen kann“.191 Bezug zum Einzelfall kritisieren auch am Urteil des AG Köln insb. Kühn, ZMR 2012, 27 und Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4. 188 Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4. 189 Auch Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3 hält das Urteil gerade wegen der mangelnden Zuverlässigkeit der Wikipedia für „bedenklich“. Zur Zuverlässigkeit als Kriterium allgemeinkundiger Tatsachen siehe noch § 4 IV. 1.b) und § 5 III.2.b). 190 So Greger, in: FS Stürner, 289 (293), der diese Frage (als „Grenzfall“) bejaht, an anderer Stelle aber dennoch (wie hier) annimmt, der Amtsrichter habe versucht, sich eine fehlende eigene Sachkunde anzulesen und damit den Sachverständigenbeweis umgangen (a. a. O., 296). 191 So aber unter irrtümlicher Bezugnahme auf „Tatsachen“ Kühn, ZMR 2012, 27 und (unabhängig von einem konkreten Urteil) Bachmeier, DAR 2012, 557 (559); für den vorliegenden Fall kommt jedoch auch Kühn zu dem Ergebnis, dass hier auf einen Sachverständigen nicht verzichtet werden durfte.
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bb) Das „Hyperthermie“-Urteil des Landgerichts Magdeburg In ähnlicher Weise verzichtete das Landgericht Magdeburg unter Berufung auf vermeintlich allgemeinkundige Tatsachen gemäß § 291 ZPO in einem Rechtsstreit über die Erstattungsfähigkeit sogenannter Hyperthermie-Behandlungen auf eine Beweisaufnahme über deren Wirkung und Wirksamkeit gegen Krebs.192 Mit Hilfe eines online abrufbaren Berichts des Gemeinsamen Bundesausschusses aus dem Jahr 2005 widerlegte das Gericht – wohlgemerkt im Jahr 2013 – insbesondere den Einwand der Beklagten, es gebe keinen medizinischen Ansatz, der die Wirkungsweise der Hyperthermie erklären könne. Zum Beleg des Gegenteils zitiert das Landgericht nahezu wörtlich aus zwei Seiten des über 800 Seiten umfassenden Berichts, die mit „Mögliche Wirkmechanismen der Hyperthermie“ überschrieben sind.193 Die daraus gewonnenen Erkenntnisse wie „dass bei Temperaturen von 42,5–43° ein Zeitraum von etwa 40–60 Minuten zu einer Abtötung maligner Zellen führt“ oder „dass der menschliche Körper jedenfalls über kurze Zeiträume höhere Temperaturen vertragen kann“, hielt das Landgericht für offenkundige „Anknüpfungstatsachen“.194 Tatsächlich handelt es sich auch hierbei um abstrakte Erfahrungssätze, deren Validität (und Bedeutung für den konkreten Fall) nur von Sachkundigen beurteilt werden können. Anstelle seiner (augenscheinlich nicht vorhandenen) eigenen Sachkunde gab sich das Gericht mit diesen „offenkundigen Tatsachen“ und der Feststellung zufrieden: „Jüngere Erkenntnisse sind der Kammer bislang jedenfalls nicht bekannt.“195 Das Oberlandesgericht Naumburg bemängelte in zweiter Instanz die fehlende Sachkunde des Landgerichts und die nicht tragfähige Begründung des Urteils196 – verzichtete aber mit anderer Begründung ebenfalls auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens, was wiederum in der Fachliteratur nicht ohne Kritik geblieben ist.197
c) Relevanz von Sachkunde bei der Ermittlung von Tatsachen In den dargestellten Beispielsfällen waren Gegenstand der richterlichen Recherchen bestehende (wenngleich wohl zweifelhafte) Erfahrungssätze. Darüber hinaus stellt sich die Frage eigener Sachkunde bisweilen auch dann, wenn Gerichte (echte und vermeintlich „allgemeinkundige“) Tatsachen recherchieren, aus denen sie sodann eigene Erfahrungssätze aufstellen oder anderweitig Schlüsse ziehen, die den Sachverständigen überflüssig machen sollen. Ein Bei192
LG Magdeburg, Urt. v. 8. 8. 2013 – 11 O 379/13, NJOZ 2015, 254 (256). https://www.g-ba.de/downloads/40-268-236/2005-06-15-BUB‑Hyperthermie.pdf, S. 28 f., zuletzt abgerufen am 5. 4. 2018. 194 LG Magdeburg, Urt. v. 8. 8. 2013 – 11 O 379/13, NJOZ 2015, 254 (256). 195 LG Magdeburg, Urt. v. 8. 8. 2013 – 11 O 379/13, NJOZ 2015, 254 (255). 196 OLG Naumburg, Urt. v. 26. 6. 2014 – 4 U 56/13, Rn. 26, 60, juris. 197 Laux, jurisPR‑VersR 12/2014 Anm. 5. 193
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spiel hierfür liefert das Landgericht Wiesbaden, das eine Internetrecherche zu aktuellen Mietwagenangeboten auf dem Vergleichsportal billiger-mietwagen.de an die Stelle eines „unbrauchbaren“ Sachverständigengutachtens oder der in den Marktpreisspiegeln „Schwacke“ oder „Fraunhofer“ niedergelegten Erfahrungssätze198 setzte.199 In ähnlicher Weise beurteilte das Landgericht Bonn Fragen der Passwortsicherheit bei dem E‑Mail-Provider GMX nicht mit Hilfe eines Sachverständigen, sondern anhand der AGB und weiterer Aussagen von GMX auf dessen Website200. Derartige Tatsachenrecherchen sind Gegenstand dieser Arbeit. Eine möglicherweise fehlende Sachkunde des Gerichts stellt sich dabei aber stets nur als zusätzliches Problem dar. Die zentrale Frage bleibt, ob und inwieweit § 291 ZPO (wegen der angenommenen „Allgemeinkundigkeit“ der gefundenen Tatsachen) überhaupt Grundlage solcher Recherchen sein kann, obwohl die ZPO Tatsachen grundsätzlich dem förmlichen Beweisverfahren unterstellt.
VI. Zwischenergebnis Der beweisrechtliche Rahmen der Untersuchung lässt sich somit wie folgt zusammenfassen: Der Zivilprozess wird auch heute noch maßgeblich vom Beibringungsgrundsatz geprägt. Unter dessen Geltung liegt es grundsätzlich in der Verantwortung der Parteien, die relevanten Tatsachen vorzutragen und ggf. zu beweisen. Welche Partei für den jeweiligen Tatsachenvortrag verantwortlich ist, richtet sich nach den Grundsätzen der Darlegungs- und Beweislast. Die Parteien haben ein erhebliches Interesse daran, an der Sachverhaltsermittlung mitzuwirken. Ihr verfassungsrechtlich fundiertes Recht auf Beweis gewährleistet im Regelfall eine Teilnahme an der Beweisaufnahme und ist in diesem Sinne ein „Recht auf Strengbeweis“. 198 Zur Einordnung von Listen und Tabellen zu durchschnittlichen Gebrauchtwagenpreisen etc. als Erfahrungssätze siehe auch Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 146. Bei Benutzung der „Schwacke“ oder „Fraunhofer“ Liste wird also auf Erfahrungssätze abgestellt, die von der konkreten Unfallsituation unabhängig sind. Der BGH akzeptiert trotz erheblicher Abweichungen sowohl die eine als auch die andere Liste – als auch den Verzicht auf beide, Urt. v. 18. 12. 2012 – VI ZR 316/11, SVR 2013, 141 (142); Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 818 m. w. N.; zum zwischen den Gerichten seit langem andauernden Streit über die Vorzugswürdigkeit der einen oder der anderen Liste Buller/Figgener, NJW 2015, 2913 (2918) m. w. N.; auf die zahlreichen ungelösten Probleme bei der Bestimmung der ersatzfähigen Mietwagenkosten als „Dauerbrenner des Verkehrshaftpflichtrechts“ (Walter, SVR 2013, 142 (142)) im Allgemeinen und der Heranziehung der Listen im Speziellen kann hier nicht weiter eingegangen werden; vertiefend aus jüngerer Zeit neben den Genannten insb. Franzen, NZV 2015, 57 ff. 199 LG Wiesbaden, Urt. v. 30. 7. 2015 – 3 S 117/14, Rn. 22, juris. Siehe dazu noch insb. § 7 III.5.b). 200 LG Bonn, Urt. v. 7. 8. 2001 – 2 O 450/00, MMR 2002, 255 (257). Siehe dazu noch ausführlich § 7 IV. 3.c).
VI. Zwischenergebnis
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Der Richter hat als neutraler Dritter stets die Distanz zum Sachverhalt zu wahren. Als klassische Risiken für die richterliche Neutralität werden seit jeher das private Wissen des Richters sowie private Ermittlungen angesehen. § 291 ZPO bildet zu den dargestellten Grundsätzen jeweils (teilweise umstrittene) Ausnahmen, bei deren fehlerhafter Anwendung eine entsprechende Verletzung der Grundsätze droht. Internetseiten sind beweisrechtlich Augenscheinsobjekte. Daraus folgt, dass richterliche Internetrecherchen grundsätzlich gemäß §§ 355 ff., 371 ff. ZPO durchzuführen sind. § 357 Abs. 1 ZPO gewährleistet insoweit das Recht der Parteien, bei einer Beweisaufnahme (auch) durch Internetrecherche anwesend zu sein. Gegenstand des Beweises sind primär Tatsachen. Diese sind als konkret wahrnehmbare und im Regelfall durch Zeugen, Augenschein oder Urkunden zu beweisende Einzelgeschehnisse oder Zustände zu unterscheiden von abstrakten Erfahrungssätzen, die durch Induktion aus der Beobachtung zahlreicher gleichartiger Tatsachen gewonnen und erforderlichenfalls durch Sachverständige bewiesen werden. Während eine Beweiserhebung über Tatsachen nur in Ausnahmefällen – und insbesondere in den Fällen des § 291 ZPO – unterbleiben darf, darf das Gericht sich nach herrschender Ansicht über Erfahrungssätze grundsätzlich auch außerhalb eines förmlichen Beweisverfahrens informieren und ist zur Beweiserhebung von vornherein nur dann verpflichtet, wenn es sich um fachspezifische Erfahrungssätze handelt. In diesen Fällen darf es auf einen Sachverständigenbeweis nur verzichten, wenn es über eigene Sachkunde verfügt und diese in der mündlichen Verhandlung und im Urteil darlegt. Eine Internetrecherche kann eine solche Sachkunde ebenso wenig begründen wie die Lektüre von (physischer) Fachliteratur, da auch deren Verständnis und Einordnung nicht ohne entsprechende Sachkunde erfolgen kann. Diese Maßstäbe sind durch die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die insoweit auf Internetrecherchen übertragbar ist, im Grundsatz geklärt. In der Praxis erfolgt eine Verwertung von Erfahrungssätzen allerdings häufig irrtümlich über eine vermeintliche Gerichts- oder Allgemeinkundigkeit i. S. d. § 291 ZPO. Insoweit ist festzuhalten, dass § 291 ZPO nur für Tatsachen gilt und die (wie auch immer begründete) Offenkundigkeit eines Erfahrungssatzes für den Entfall eines Sachverständigenbeweises keine Relevanz hat. Für diesen ist ausschließlich die eigene Sachkunde des Gerichts ausschlaggebend, die mit § 291 ZPO – und insoweit auch mit dem eigentlichen Gegenstand der weiteren Untersuchung – nichts zu tun hat.201
201 Dazu, dass wesentliche Erkenntnisse der Untersuchung auf die (Internet-)Recherche von Erfahrungssätzen übertragbar sein dürften, siehe noch § 7 VI.
§ 3 Funktion und Verständnis des heutigen § 291 ZPO zur Zeit seiner Entstehung in der Civilprozeßordnung für das Deutsche Reich In den dargestellten beweisrechtlichen Rahmen fügt sich § 291 ZPO als Ausnahmevorschrift, indem er bestimmt: „Tatsachen, die bei dem Gericht offenkundig sind, bedürfen keines Beweises.“ Diese Regelung war wortgleich bereits als § 264 in der Ursprungsfassung der Civilprozeßordnung für das Deutsche Reich vom 30. Januar 1877 (im Folgenden „CPO“) enthalten. Ihre Auslegung war schon zur Zeit der Entstehung der CPO Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Die wesentlichen Erkenntnisse der historischen Debatte werden im Folgenden zusammengefasst, soweit sie für die Befassung mit dem heutigen Verständnis von Bedeutung sind.1 Dabei soll noch vor der Frage, wie „offenkundige Tatsachen“ zur Zeit der Entstehung der CPO definiert wurden, zunächst der historische Kontext Aufschluss über die der Vorschrift zugedachte beweisrechtliche Funktion verschaffen.
I. Historischer Kontext: Das private Wissen des Richters Die originäre praktische Bedeutung des § 264 CPO lag in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts vor allem im Umgang mit dem vorhandenen Wissen des Richters. R. Schmidt hat in seiner Abhandlung zu den „außergerichtlichen Wahrnehmungen des Prozeßrichters“ 1892 anschaulich beschrieben, dass insbesondere „[…] in den engen Verhältnissen des Provinzialstädtchens, […] der Richter unwillkürlich in das Kleinleben des täglichen Verkehrs hineingezogen [wird], und vor allem dann, wenn in seinem Sprengel nur wenige oder gar keine Rechtsanwälte ansässig sind, und wenn ihm deshalb naturgemäß die Stellung eines Berathers und Rechtsbeistandes der Gegend zufällt, erschließt sich ihm der Einblick in mannigfache Rechtsverhältnisse, die zum Gegenstand des Streits werden können. Ohne inhuman zu sein, kann er dem Bauern nicht die Thür weisen, der von ihm Maßregeln gegen seinen Grundnachbarn zu wissen verlangt, weil dieser über seine Wiese fährt […]. Wie leicht können ihm bei solcher Gele-
1 Das Erkenntnisinteresse ist insoweit entstehungsgeschichtlicher, nicht rechtshistorischer Art.
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§ 3 Funktion und Verständnis des heutigen § 291 ZPO zur Zeit seiner Entstehung
genheit Geständnisse abgelegt, Beweisstücke, Korrespondenzen vorgelegt worden sein, die in dem später sich entwickelnden Prozesse unterdrückt oder übergangen werden.“2
Damit stellte sich unweigerlich die Frage, wie der Richter mit dem so erworbenen Wissen umzugehen habe. Die Verwertung privater Kenntnisse des Richters wurde bereits seit dem römischen Zivilprozess diskutiert und über Jahrhunderte hinweg ganz überwiegend abgelehnt.3 Die Begründung dieses Verbots hat im Lauf der Zeit unterschiedliche Schwerpunkte erfahren.4 Neben der Betonung des Beibringungsgrundsatzes stand insbesondere der Gedanke im Vordergrund, dass es dem Richter unmöglich sei, seine eigenen Wahrnehmungen so objektiv und kritisch wie ein Dritter zu würdigen.5 R. Schmidt hat deshalb herausgearbeitet, dass aus demselben Grund wie bei einer förmlichen Zeugenaussage, nach der bis heute § 41 Nr. 5 ZPO eine Rückkehr in die Funktion des Richters verbietet, auch dann der „Richter hinter dem Zeugen, der Zeuge hinter dem Richter zurückzutreten“ habe, wenn er nicht als Zeuge benannt werde, aber über dasselbe Wissen verfüge – zu entscheiden bleibe lediglich, ob er das private Wissen unterdrücken oder sich besser gleich selbst ablehnen solle.6 Eine Ausnahme von dem Verbot der Verwertung privaten Wissens bildeten seit jeher und insbesondere zur Zeit der Entstehung der CPO die früher „notorisch“ und heute „offenkundig“ genannten Tatsachen.7 Hier knüpfte § 264 CPO an: Die Vorschrift erlaubte dem Gericht, anstelle einer Beweiserhebung auf vorhandene K enntnisse zurückzugreifen, sofern diese „bei dem Gerichte offenkundig“ waren. Die Funktion der Offenkundigkeit war es also, das grundsätzlich unverwertbare private Wissen des Richters von dem verwertbaren „offenkundigen“ Wissen abzugrenzen.8 Als Untergruppen des Offenkundigen wurden bereits früh die bis heute beibehaltenen Kategorien des „Allgemeinkundigen“ einerseits und des „Ge-
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R. Schmidt, Die außergerichtlichen Wahrnehmungen des Prozeßrichters, S. 3. Lipp, Das private Wissen des Richters, S. 3; vertiefend zum gemeinen Prozess, der hier nicht umfassend behandelt werden kann, Bomsdorf, Prozessmaximen und Rechtswirklichkeit, S. 23 ff., insb. S. 35 ff., 53 f.; die Ablehnung setzt sich zu Recht bis heute fort, siehe dazu bereits § 2 III.2. 4 Vgl. zu diesen ausführlich Lipp, Das private Wissen des Richters, S. 5 ff., 32 ff. 5 R. Schmidt, Die außergerichtlichen Wahrnehmungen des Prozeßrichters, S. 8 f., 35 ff.; Stein, Das private Wissen des Richters, S. 2 f. 6 R. Schmidt, Die außergerichtlichen Wahrnehmungen des Prozeßrichters, S. 37 f. 7 Endemann, Die Beweislehre des Zivilprozesses; S. 73; Bomsdorf, Prozessmaximen und Rechtswirklichkeit, S. 53 f. 8 Nach Schmoeckel, ZRG Kan. Abt. 2016, 200 (229) ging es bei einer Berufung auf die Lehre des notorium facti in den deutschen Landen teilweise bereits im 17. Jahrhundert – anders als insb. im kanonischen Recht – „weniger um Beweisfragen, sondern um die Unabhängigkeit des Richters von den Parteien“ durch die Einbringung seines eigenen „Faktenwissen[s]“ ohne Mitwirkung und Widerspruchsmöglichkeit der Parteien. Zur ursprünglichen Lehre von der Notorietät siehe noch Fn. 13.
II. Die Bestimmung der Allgemeinkundigkeit im Rahmen des § 264 CPO
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richtskundigen“ andererseits unterschieden.9 Ausgehend von dem Verbot der Verwertung privaten Wissens erklären sich diese wie folgt: War eine Tatsache dem Gericht bekannt, galt es zu differenzieren, ob es sich bei diesem Wissen um privates Wissen oder amtlich erworbenes Wissen handelt. Amtlich erworbenes Wissen war (und ist) per se nicht „privat“ und daher stets als gerichtskundig verwertbar.10 Aber auch die Eigenschaft der Tatsache als allgemeinkundig erlaubte eine Abweichung vom Verbot der Verwertung privaten Wissens, weil die „Gefahren der Täuschung und der unvermeidlichen – wenn auch unbewussten – Parteilichkeit“ hier ausgeschlossen wurden.11 Vor diesem Hintergrund kann nun die damalige Bestimmung der Offenkundigkeit und insbesondere der Allgemeinkundigkeit näher betrachtet werden.
II. Die Bestimmung der Allgemeinkundigkeit im Rahmen des § 264 CPO 1. Gesetzesbegründung und erste Definitionsansätze Der Begründung zum Entwurf der CPO lässt sich zunächst nur entnehmen, dass mit Offenkundigkeit die „Notorietät“ gemeint sei12 – ein Begriff, der bereits zu jener Zeit eine lange Geschichte mit durchaus wechselnden Bedeutungen hatte und auch im 19. Jahrhundert nicht präzise bestimmt war.13 Es findet sich z. B. 9 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 151 ff., 157 ff. sowie die im folgenden Abschnitt zitierten Autoren. 10 Das ist bis heute allgemeine Ansicht, siehe statt aller Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 11; Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3 f. 11 Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 83. Begrifflich wird dabei teilweise das allgemeinkundige Wissen als Gegenbegriff, teilweise als Unterfall des privaten Wissens behandelt. Vorliegend wird mit dem letzteren Verständnis davon ausgegangen, dass es sich auch bei allgemeinkundigem Wissen im Ausgangspunkt um „privates“, da privat erworbenes Wissen handelt. 12 Hahn/Mugdan/Stegemann, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, S. 279 (S. 212 der Begründung des Entwurfs der Civilprozeßordnung). 13 Der Begriff der „notoria“ ist bereits im Römischen Recht nachgewiesen worden, bezeichnete dort aber wohl lediglich – gleichbedeutend mit den „notaria“ – die schriftliche Anzeige eines Verbrechens, während im kanonischen Recht („bewusst oder unbewusst falsch“) auf den Begriff zurückgegriffen wurde, um daraus eine wesentlich weiter gehende Lehre zu entwickeln: So konnten „notorische“ im Sinne von „allgemein bekannte“ Straftaten sogar ohne Anklage, Beweis- und Gerichtsverfahren rein „deklaratorisch“ abgeurteilt werden; siehe zu dieser Entwicklung ausführlich Schmoeckel, in: FS Bellomo, 133 ff. (hier insb. 133, 135, 156, 162). Diese „ursprüngliche Lehre von der Notorietät“ war bereits lange vor Inkrafttreten der CPO „ungebräuchlich“ geworden; siehe dazu Schmoeckel, ZRG Kan. Abt. 2016, 200 ff. (hier insb. 205 f.); zur Bedeutung der Notorietät im kanonischen Recht ferner RG, Urt. v. 15. 11. 1887 – 2410/87, RGSt 16, 327 (329) sowie Spiegelberg, Über das gegenseitige Ver-
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die Wendung, dass notorisch sei, was nicht ohne Schikane geleugnet werden könne.14 Diese und ähnliche Formeln wurden auch unter der Geltung der CPO noch verwendet: So berief sich das Reichsgericht auf die Formulierung aus Teil 1 Titel 10 § 56 der Allgemeinen Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten, nach der die betreffenden Tatsachen so „allgemein bekannt“ sein mussten, „daß kein vernünftiger Grund, dieselben in Zweifel zu ziehen, vorhanden ist.“15 Auch auf die verbreitete tautologische Formulierung, offenkundig sei, was so bekannt sei, dass es keines Beweises bedürfe, griff das Reichsgericht zurück.16 In der Begründung zum Entwurf der Civilprozeßordnung findet sich jedoch noch ein weiterer Satz: „In Betreff der Definition der Notorietät schließt sich der Entwurf im § 254 [später 264] dem Vorgange des nordd. Entw. § 463 (vgl. auch Wetzell, Ed. III S. 185, 186) an; für notorisch erklärt er diejenigen Thatsachen, welche gerichtskundig sind.“17
Diese Formulierung sorgt prima facie für Verwirrung, da die Begründung als „notorisch“ mit Wetzell ausschließlich das „Gerichtskundige“ und nicht etwa das „Allgemeinkundige“ nennt, obwohl unter den notorischen Tatsachen historisch zunächst sogar nur die allgemeinkundigen verstanden wurden18 und sich die gemeinrechtliche Theorie in der Zeit der Entstehung der CPO zunehmend um eine positive Definition des Notorischen im Sinne eines allgemeinen Wissens bemühte.19 Gemeint war damit bei Wetzell aber nicht allein die heutige Gerichtskundigkeit im Sinne eines amtlich erworbenen Wissens. Der Begriff der Gerichtskundigkeit bringt bei Wetzell, der wiederum bei der Notorietät als nicht ohne Schikane zu leugnendem Wissen ansetzte, vielmehr zum Ausdruck, dass nur das Leugnen von Tatsachen als schikanös angesehen werden könne, die dem Gericht „als solchem bekannt“ sind bzw. „deren Kenntnis aus allgemeinen Gründen mit Sicherheit beim Gericht unterstellt werden kann“.20 Die insoweit vorausgesetzte Kenntnis des Gerichts kann sich sodann jedoch auch auf „allhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 70 f.; Stein, Das private Wissen des Richters, S. 143. 14 Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 70 f. 15 RG, Urt. v. 15. 11. 1887 – 2410/87, RGSt 16, 327 (331). 16 RG, Urt. v. 15. 11. 1887 – 2410/87, RGSt 16, 327 (329). 17 Hahn/Mugdan/Stegemann, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, S. 279 (S. 212 der Begründung des Entwurfs der Civilprozeßordnung). 18 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 151 f.; auch Schmoeckel, ZRG Kan. Abt. 2016, 200 (203 f. inkl. Fn. 19) hebt hervor, dass die Notorietät seit ihren Ursprüngen eine Bekanntheit bei „allen“ voraussetzte und es daher z. B. nicht richtig sei, von „gerichtsnotorisch“ zu sprechen. 19 Vgl. Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 70 f.; zu frühen Definitionsansätzen der gemeinrechtlichen Literatur Bomsdorf, Prozessmaximen und Rechtswirklichkeit, S. 53; zu einzelnen Ansätzen aus der Zeit der Entstehung der CPO noch sogleich. 20 Wetzell, System des ordentlichen Zivilprozesses, S. 179 ff., insb. S. 185.
II. Die Bestimmung der Allgemeinkundigkeit im Rahmen des § 264 CPO
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gemeinkundige“ Tatsachen erstrecken: So nennt Wetzell neben den im engeren Sinne gerichtskundigen Tatsachen unter anderem „[…] gewisse Vorgänge des weltgeschichtlichen und Naturlebens, deren Kenntnis ein Gemeingut aller verständigen Menschen ist, und deshalb auch dem Richter nicht erst durch Beweis gegeben zu werden braucht.“21
Diese Definition übernahm auch das Reichsgericht mit der leichten Modifizierung zu „[…] allgemein anerkannte wissenschaftliche Wahrheiten und Vorgänge des weltgeschichtlichen und Naturlebens, deren Kenntnis ein Gemeingut aller verständigen Menschen ist.“22
Daneben wollte Wetzell allerdings auch „thatsächliche Zustände, welche der Richter unmittelbar mit seinen Sinnen (Augenschein) wahrzunehmen im Stande ist, namentlich auch Willensakte, die sich in schriftlicher Form verkörpert haben“ und „solche Thatsachen, von denen dem Richter offizielle Kunde durch die Staatsbehörden gegeben wird, wie die Verhältnisse der Landesorganisation, der Landesverwaltung, des Staatsdienerpersonals u. s. w.“ als „gerichtskundig“ ansehen. Hinsichtlich ersterer hat schon damals insbesondere Spiegelberg darauf hingewiesen, dass die CPO die Inaugenscheinnahme oder Urkundeneinsicht des Richters im Prozess eindeutig als Beweisaufnahme behandelt.23 Die andere Fallgruppe dürfte heutzutage ohne Weiteres über die amtliche Auskunft nach § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zu lösen sein. Beide Fallgruppen haben trotz der Verweisung in den Motiven der CPO bereits damals keine Unterstützung gefunden und spielen heute keine Rolle mehr. Langenbeck hat insoweit bereits 1882 festgestellt: „Zum Glück sind auch die Motive kein Gesetz und machen selbst auf Richtigkeit ihrer Argumentationen keinen unbedingten Anspruch. Der Redakteur der Motive hat entweder über Notorietät nur gelesen, was Wetzell sagt, oder vergessen, was Andere darüber ausgeführt haben, jedenfalls war seine Betrachtung des ersteren eine flüchtige.“24
Nicht ausdrücklich erfasst ist in der vom Reichsgericht übernommenen Formulierung Wetzells zum „Gemeingut aller verständigen Menschen“ die eigentlich schon damals (und bis heute) völlig unumstrittene „beschränkte“ Allgemeinkundigkeit.25 Es bestand aber Einigkeit, dass die „Allgemeinheit“ auch eine örtlich oder anderweitig beschränkte Allgemeinheit sein kann. Je nachdem, wie vielen Menschen die Tatsache bekannt war, wurde nach „Menschenkundig21
Wetzell, System des ordentlichen Zivilprozesses, S. 186. RG, Urt. v. 10. 3. 1887 – IV 318/86, RGZ 17, 269 (271). Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 72. 24 Langenbeck, ZZP 1882, 470 (478 inkl. Fn. 3). 25 So die Lesart und Kritik der Wetzell’schen Definition von Langenbeck, ZZP 1882, 470 (477 f.). 22 23
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keit“, „Volkskundigkeit“ und „Ortskundigkeit“ unterschieden.26 Auch das Reichsgericht hielt in diesem Sinne für allgemeinkundig, dass ein bestimmtes streitgegenständliches Haus „in einer der besten Stadtgegenden“ liege.27 Ebenso selbstverständlich wie die Unterteilung nach örtlichen Kreisen war in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts die Unterteilung in Schichten, so dass auch als allgemeinkundig galt, was nur unter „den Gebildeten“ oder in den „untersten Schichten“ bekannt war.28 Den nach alledem mehr oder weniger unumstrittenen Kern des Begriffs fasste Spiegelberg 1896 dahingehend zusammen, dass solche Tatsachen als allgemeinkundig galten, die „[…] jedermann oder einem mehr oder weniger umfassenden Kreise von Menschen resp. Volksgenossen bekannt seien, oder doch bekannt sein müssten, und als ausgemachte Wahrheit gälten.“29
2. Allgemeine Verbreitung als Hauptkriterium bei Stein und Spiegelberg Richtungsweisend für die weitere Bestimmung der Allgemeinkundigkeit war die bis heute standardmäßig zitierte Abhandlung von Stein. Er erkannte, dass die Frage, was allgemeinkundig sei, nur durch Beantwortung der Frage gelöst werden könne, wodurch eine Tatsache allgemeinkundig werde. Dies könne zum einen, wie bei örtlichen Feierlichkeiten etc., durch allgemeine Wahrnehmung geschehen. Den Einzelnen beschrieb Stein dabei als „ fungible Person“, auf dessen individuelle Wahrnehmung es nicht ankomme, da die „Masse der Wahrnehmenden“ das Risiko von Wahrnehmungsfehlern minimiere.30 Zum anderen – und das sei der bedeutend größere Teil – könne eine Tatsache durch die allgemeine Verbreitung dessen, was nur wenige selbst wahrgenommen hätten, allgemeinkundig werden. In diesem Fall werde die Allgemeinkundigkeit folglich durch Überlieferung erzeugt. Die allgemeine Verbreitung von Tatsachen, die zu ihrer Allgemeinkundigkeit führt, erfolgte nach Stein in der Regel durch das persönliche Gespräch oder durch eine von drei Quellen: An erster Stelle stehe dabei die amtliche Bekanntmachung. In diesem Zusammenhang betonte Stein allerdings, dass eine Allgemeinkundigkeit hierdurch erzeugt 26 Wach, Vorträge über die Reichs-Civilprocessordnung, S. 208; Hellwig, System des deutschen Zivilprozeßrechts, S. 676. 27 RG, Urt. v. 16. 5. 1892 – VI 54/92, Gruchot 36, 1131 (1133). Streng genommen sind allgemeinkundig in diesem Fall nur die dem Werturteil als „beste“ Gegend zugrunde liegenden Tatsachen. 28 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 142. 29 Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 71. 30 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 148 (Hervorhebung im Original); ähnlich auch Wach, Vorträge über die Reichs-Civilprocessordnung, S. 208: „Nicht die Wahrnehmung, die Kenntnis des Einzelnen, sondern die Gemeinkenntnis macht die Notorität.“
II. Die Bestimmung der Allgemeinkundigkeit im Rahmen des § 264 CPO
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werden könne, aber keinesfalls werden müsse. Voraussetzung war für ihn, dass die Bekanntmachung auch tatsächlich zur Kenntnis genommen wird. Das sah er zu seiner Zeit ohne Weiteres gegeben, wenn etwas „an allen Ecken angeschlagen“ wurde – so etwa die Bekanntgabe einer erfolgten Hinrichtung, die dadurch „für eine kurze Zeit“ allgemeinkundig werde. Bekanntmachungen in dem „vielverbreiteten, aber wenig gelesenen Reichsanzeiger“ wie insbesondere Handelsregistereintragungen betrachtete Stein hingegen nicht als allgemeinkundig, da diese „regelmässig am grossen Publikum spurlos vorüber“ gingen.31 Die zweite Quelle bildete bei Stein die „Geschichtswissenschaft im weitesten Sinne“, soweit sie sich mit Tatsachen beschäftige.32 Gemeint war damit lexikalisches Wissen wie die Entdeckung Amerikas oder andere bedeutende historische Ereignisse. Die Einschränkung auf Tatsachen erinnert an dieser Stelle daran, dass sich in Lexika und anderen Nachschlagewerken keineswegs nur Tatsachen, sondern auch unzählige Erfahrungssätze finden.33 Die Hauptgruppe des Allgemeinkundigen sah Stein aber nicht in den Ereignissen, die in die Geschichte eingehen, sondern in den ganz alltäglichen Dingen des Lebens. Diese Tatsachen würden im Wege des privaten Gesprächs oder – und dies ist die dritte von Stein benannte Quelle – durch die Zeitungen verbreitet. Die Zeitung war für Stein die „allerwichtigste Quelle der Offenkundigkeit“.34 Er war der Auffassung, dass nahezu alles Notorische in der Zeitung stehe oder gestanden habe. Umgekehrt, betonte er, sei jedoch keineswegs alles allgemeinkundig, was man der Zeitung entnehmen könne. Um sicherzustellen, dass Zeitungsinformationen wie „die Seeschlange und die alte Frau von 120 Jahren, die jeden Hochsommer einmal in Galizien stirbt“ aus der Definition ausgeschlossen werden, müsse eine „ohne ernstlichen Widerspruch“ bleibende allgemeine Verbreitung erfolgen. Zugleich erkannte Stein, dass einerseits nicht gegen jede Unwahrheit immer zuverlässig Widerspruch erhoben wird und andererseits manche Tatsachen insbesondere „unter parteipolitischen und ähnlichen Gesichtspunkten“ bestritten werden, obwohl sie wahr sind. Aus diesem Grund stellte Stein analog zu den Anforderungen an das Beweismaß im Prozess das zusätzliche Kriterium auf, dass „[…] verständige Leute sich für überzeugt erklären, wozu zwar das Verstummen, aber nicht der Ausschluss des Zweifels nöthig ist.“35 Aus diesen Erkenntnissen entwickelte Stein die folgende Definition: Allgemeinkundig seien Tatsachen, die „[…] so allgemein wahrgenommen sind oder so allgemein ohne ernstlichen Widerspruch verbreitet werden, dass ein verständiger und lebenserfahrener Mann sich ebenso 31
Stein, Das private Wissen des Richters, S. 143 ff. Stein, Das private Wissen des Richters, S. 144. 33 Zur Abgrenzung siehe § 2 V. 34 So jedenfalls das eigene Urteil von Stein, Das private Wissen des Richters, S. 145. 35 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 147. 32
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davon überzeugt erklären kann, wie der Richter im Prozesse auf Grund der Beweisaufnahme.“36
Wie viele Menschen die Tatsache wahrgenommen oder durch Überlieferung erfahren haben müssen, ließ Stein (notwendigerweise) offen; der Kreis der Kundigen müsse jedenfalls „unbestimmt wen und unbestimmt wie viele“ umfassen.37 Da eine genaue Grenze ebenso wenig bestimmt werden könne wie diejenige zwischen dem „Haufen Getreide“ und den „hundert Körnern Getreide“, müsse dies dem „praktische[n] Takt des Richters“ überlassen bleiben.38 Die allgemeine Verbreitung als maßgebliches Kriterium betonte auch Spiegelberg: „Und diese Art der Verbreitung der Kenntnis ist stets die massgebende; wie gross dann die Zahl derjenigen ist, die die Thatsache selbst wahrgenommen haben, ist demgegenüber unerheblich, wenn sie nur in jener Weise allgemein bekannt geworden ist. Die allgemeine Verbreitung der Kenntnis bewirkt erst nach Zuhilfenahme des Erfahrungssatzes, dass allgemein verbreitete Thatsachen wahr zu sein pflegen, die Offenkundigkeit, die besonderen Beweis überflüssig erscheinen lässt.“39
Eine ohne Widerspruch stattfindende allgemeine Verbreitung galt folglich in der Regel als Indiz für die Wahrheit der Tatsache und legitimierte damit den Entfall der Beweisaufnahme. Zugleich ließ sie an der Neutralität des Richters keine Zweifel aufkommen, da er anders als bei seinem privaten Wissen nur wusste, was „alle“ wussten.
3. Beschränkung auf die allgemeinen Umrisse eines Geschehens Stein und Spiegelberg betonten darüber hinaus, dass nur solche Tatsachen allgemeinkundig sein können, deren Abstrahierungsgrad hoch genug ist, um von einer beliebigen Anzahl Menschen erinnert zu werden. Das bedeute, „dass nur die grossen Umrisse der Dinge, nie ihre Einzelheiten allgemeinkundig sein können.“40 Als Beispiele nannte Stein die damalige Allgemeinkundigkeit davon, dass beim Begräbnis Kaiser Wilhelms Tribünen vor dem Blücherschen Palais in Berlin standen, nicht aber, wie hoch diese Tribünen waren oder wie viele Plätze sich darauf befanden. Ebenso sah er in der damaligen Zeit als allgemeinkundig an, dass Bismarck sinngemäß gesagt habe: „Wir Deutschen fürchten Gott, sonst Nichts in dieser Welt“, nicht aber, ob das wirklich der exakte Wortlaut gewesen 36 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 147. Dass nur Männern eine entsprechende Verständigkeit beigemessen wurde, entspricht dem damaligen Zeitgeist und soll hier nicht weiter kommentiert werden. 37 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 147. 38 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 148. 39 Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 79. 40 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 148.
IV. „Recherchen“ des Gerichts?
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sei. Zur Feststellung solcher Einzelheiten bedürfe es stets der Mitteilung individueller Wahrnehmungen.41 In demselben Sinn hat Spiegelberg darauf hingewiesen, dass allgemeinkundig immer nur die „hervortretendsten Merkmale, die allgemeinen Umrisse der Ereignisse“ sein können. Denn bei Tatsachen, die den Einzelnen nicht unmittelbar persönlich angingen, seien weder das Interesse noch die Gedächtniskraft stark genug, um sich auch Einzelheiten zuverlässig einzuprägen.42
III. Verwertungsstreit Der größte Streitpunkt in den jungen Jahren der CPO war in diesem Kontext – wie bereits im gemeinen Recht einerseits43 und bis heute andererseits –, ob das Gericht seine Kenntnis allgemeinkundiger Tatsachen auch dann berücksichtigen durfte, wenn ein entsprechender Parteivortrag fehlte. Unter Verweis auf die Verhandlungsmaxime wurde grundsätzlich von einem Behauptungserfordernis ausgegangen, von dem jedoch unterschiedliche Ausnahmen gemacht wurden.44 Die wesentlichen Argumente haben sich bis heute fortgesetzt, so dass hier auf eine isolierte Darstellung verzichtet und auf eine zusammenhängende Erörterung im heutigen Kontext verwiesen wird.45
IV. „Recherchen“ des Gerichts? 1. Offenkundigkeit „bei dem Gericht“ als Wesensmerkmal Wie dargestellt, entfaltete § 264 CPO seine Bedeutung allem voran bei der Frage der Verwertung vorhandenen richterlichen Wissens. Auch dogmatisch bestand Einigkeit, dass § 264 CPO ausschließlich den Umgang mit vorhandenem Wissen regele: Dies ergab sich für die frühe Rechtsprechung und Literatur zu § 264 CPO unzweifelhaft aus dem – heute eher in Vergessenheit geratenen46 – Wortlaut „Thatsachen, welche bei dem Gerichte offenkundig sind“. So betonte 41
Stein, Das private Wissen des Richters, S. 149. Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 119. 43 Bomsdorf, Prozessmaximen und Rechtswirklichkeit, S. 53 f. 44 Siehe insb. Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 85 ff. m. w. N.; Stein, Das private Wissen des Richters, S. 164; Langenbeck, ZZP 1882, 470 (492 f.); Apfelbaum, Die bei Gericht offenkundigen Tatsachen (§ 291 ZPO), S. 50 f.; Wetzell, System des ordentlichen Zivilprozesses, S. 186 f. 45 Siehe § 4 IV. 2.a). 46 Siehe dazu noch § 6 II.1. 42
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§ 3 Funktion und Verständnis des heutigen § 291 ZPO zur Zeit seiner Entstehung
das Reichsgericht, dass allgemeinkundige Tatsachen nur dann unter die Vorschrift fielen, „sofern sie auch das Prozeßgericht kennt.“47 Voraussetzung sei „eine wirkliche und zwar vollständige Kenntnis“ des Gerichts.48 Im zugrunde liegenden Fall war dem Berufungsrichter ein Handelsregisterauszug vorgelegt worden, woraufhin dieser die Eintragung einer Prokura für offenkundig erachtete. Anders als die Vorinstanz sah das Reichsgericht eine Offenkundigkeit als nicht gegeben an und führte aus, dass die Publizität des Handelsregisters nicht identisch sei mit der Frage der prozessualen Offenkundigkeit. Die sich aus der Eintragung ins Handelsregister ergebende „vermutbare Kenntnis“49 sei etwas wesentlich anderes als die prozessuale Offenkundigkeit. Da von demjenigen, der mit einem Kaufmann kontrahiere, erwartet werden könne, dass er sich mit einschlägigen Handelsregistereintragungen vertraut mache, sei es gerecht, seine Kenntnis zu vermuten. Keinesfalls erzeuge das Handelsregister aber eine solche Vermutung auch gegen das Gericht: Wenn dem Gericht erst eine Urkunde vorgelegt werden müsse, um eine vermeintliche Offenkundigkeit zu beweisen, handle es sich gerade nicht um eine Offenkundigkeit i. S. d. § 264 CPO.50 Allgemeinkundige Tatsachen seien nur solche, die „[…] als jedem und deshalb auch bei Gericht offenkundig bezeichnet werden können“51. Auch in der Literatur wurde betont, dass der Wortlaut des § 264 CPO eine bei dem Gericht vorprozessual bestehende Offenkundigkeit voraussetze. Entscheidend für die gerichtliche Offenkundigkeit einer Tatsache als „Besonderheit des gerichtlichen Wissens von dieser“ sei „immer die subjektive Kenntniss des Gerichts in dem Augenblick […], wo die Frage nach dem Beweise auftaucht.“52 „Diese Offenkundigkeit kann nun an sich zweierlei bedeuten: entweder dass eine ausserhalb des Gerichtes im Leben offenkundige Thatsache auch beim Gericht offenkundig ist, oder dass eine Thatsache, die im Leben nicht offenkundig ist, nur beim Gericht offenkundig ist […].“53
Nicht als erfasst angesehen wurden also Tatsachen, die nur „im Leben“ und nicht auch bei dem Gericht offenkundig sind. Langenbeck war der Ansicht, 47 RG, Urt. v. 2. 2. 1934 – II 83/33, RGZ 143, 175 (183); das betont auch Schmoeckel, ZRG Kan. Abt. 2016, 200 (236 f.), der sogar davon ausgeht, dass es auf ein „allgemeines“ Wissen in der Gesellschaft (anders als vor allem im kanonischen Recht) überhaupt nicht mehr ankam: Der Richter „konnte und durfte weniger, aber auch mehr wissen.“ Entsprechend geht Schmoeckel davon aus, dass § 291 ZPO bis heute „allgemeinkundige“ Tatsachen nur dann erfasst, wenn sie auch dem Gericht bekannt sind (ebd., Fn. 228); siehe zu dieser Frage noch ausführlich § 6 II. und III. 48 RG, Urt. v. 31. 3. 1885 – II 530/84, RGZ 13, 369 (371). 49 RG, Urt. v. 31. 3. 1885 – II 530/84, RGZ 13, 369 (371). 50 RG, Urt. v. 31. 3. 1885 – II 530/84, RGZ 13, 369 (371 f.). 51 RG, Urt. v. 15. 11. 1887 – 2410/87, RGSt 16, 327 (330). 52 Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 96, 73 ff. m. w. N. 53 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 151 (Hervorhebung im Original).
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dass sich dies nicht nur aus der Formulierung „bei dem Gericht“, sondern auch aus dem Begriff der Offenkundigkeit selbst ergebe: Das „Offen“ diene einerseits zur Verstärkung des „Kundig“, andererseits deute es an, dass keine auf Herbeiführung der Kenntnis gerichtete Tätigkeit mehr erforderlich sei:54 „Offenkundig ist nur, was der Feststellung, Aufklärung, Enthüllung etc. nicht erst noch bedarf. Wo es anders ist, kann man doch nicht sagen, es liege etwas bereits offen vor […].“55
Der Entfall der Beweisaufnahme rechtfertigte sich nach alledem gerade dadurch, dass der Richter an der „allgemeinen Kunde selbst Theil nimmt“56 und daher „unzweifelhaft und unbestreitbar im Voraus weiß, dass jeder Kundige das Gleiche aussagen würde.“57 Die vorprozessuale Überzeugung sei „von vornherein objektiv so unanfechtbar […], wie sie es auf Grund einer Beweisaufnahme jemals werden könnte.“58 Stein sah aus diesem Grund sogar das „Wesen der Offenkundigkeit“ in der „vorprozessuale[n] Überzeugung der erkennenden Richter“, die ebenso stark sein müsse wie diejenige, die aus einer förmlichen Beweiserhebung gewonnen werde.59
2. Grundsatz der Beweisaufnahme bei fehlender Kenntnis des Gerichts Aus der Notwendigkeit einer Offenkundigkeit „bei dem Gericht“ folgte, dass in Fällen, in denen das Gericht keine Kenntnis von der Tatsache hatte, grundsätzlich eine Beweisaufnahme stattzufinden hatte. Anstelle der Tatsache selbst konnte dem Gericht auch die Allgemeinkundigkeit bewiesen werden.60 Langenbeck dachte diese Konsequenz strikt zu Ende und forderte, der Richter dürfe keinesfalls „ex officio“ Offenkundigkeit bei dem Gericht herstellen. Er betonte, dass „[…] derselbe nicht erst Schritte thun darf, welche auf Beseitigung eines zur Zeit noch bestehenden Nichtoffenseins abzielen. Denn in Wirklichkeit läge für den Richter keine
54 Langenbeck, ZZP 1882, 470 (480); ähnlich auch Apfelbaum, Die bei Gericht offenkundigen Tatsachen (§ 291 ZPO), S. 22 ff., der auf einen besonders hohen „Grad der Bekanntschaft“ abstellte, der dem Gericht bei entsprechender Überzeugung seiner Ansicht nach sogar die Verwertung jeglichen privaten Wissens erlaubte. 55 Langenbeck, ZZP 1882, 470 (484). 56 Endemann, Die Beweislehre des Zivilprozesses, S. 73. 57 Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 80. 58 Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 83. 59 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 163. 60 Endemann, Die Beweislehre des Zivilprozesses, S. 81; Stein, Das private Wissen des Richters, S. 169 f.; Wach, Vorträge über die Reichs-Civilprocessordnung, S. 209 f.; Langenbeck, ZZP 1882, 470 (493).
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§ 3 Funktion und Verständnis des heutigen § 291 ZPO zur Zeit seiner Entstehung
Offenkundigkeit vor, und aus § 264 folgt per arg. a contr., dass es jetzt des Beweises bedarf.“61
Dieser Ansicht schloss sich auch Spiegelberg an. Angesichts der Formulierung „bei dem Gericht“ liege keine Offenkundigkeit vor, sobald das Gericht sich die Kenntnis der Tatsache erst noch verschaffen müsse.62 Nur, wenn der in concreto erkennende Richter Kenntnis von der Tatsache und ihrer Allgemeinkundigkeit habe, könne eine Offenkundigkeit bei dem Gericht vorliegen. Wenn sich der Richter die Kenntnis erst privatim verschaffe, würde der prozessuale Beweis umgangen, obwohl nur von anderen Personen die Tatsache als offenkundig angesehen werde.63 Auch für Apfelbaum war selbstverständlich, dass der Richter „weder das Recht noch die Pflicht“ habe, eigene Ermittlungen anzustellen, da das Prozessrecht diese Verantwortlichkeit den Parteien aufbürde.64
3. Umstrittene Alternative: Selbstinformation des Gerichts Teilweise wurde hingegen, obwohl die vorprozessuale Kenntnis des Richters als Voraussetzung des § 264 CPO und die Beweiserhebung als Regelfall bei fehlender Kenntnis begriffen wurde, als zulässige Alternative angesehen, dass sich das Gericht formlos über allgemeinkundige Tatsachen informiere. So stellte das Reichsgericht – ungeachtet der eigenen Rechtsprechung zur notwendigen Kenntnis des Gerichts – fest, dass der Richter zur Beantwortung der Frage, zu welcher Zeit und in welchem Umfang die friderizianische Kolonisation in einem bestimmten Gebiet stattgefunden hatte, „selbständig zur Bildung seines Urteils alle vorhandenen wissenschaftlichen Hilfsmittel zu Rate ziehen“ dürfe.65 In der Literatur standen den zuvor zitierten Autoren, die eine informelle Ermittlung für eine Umgehung des Beweises hielten, solche gegenüber, für die eine formlose Selbstinformation – wie bereits im gemeinen Recht66 und trotz der zwischenzeitlichen Kodifizierung einer „bei dem Gericht“ bestehenden Offenkundigkeit67 – ganz selbstverständlich war: So schrieb Wetzell, auf den sich die Motive zur CPO später stützten: „Das Gericht hat oder verschafft sich
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Langenbeck, ZZP 1882, 470 (484). Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 72. 63 Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 80 f. 64 Apfelbaum, Die bei Gericht offenkundigen Tatsachen, S. 50 f. 65 RG, Urt. v. 6. 2. 1908, IV 278/07, WarnRsp 1 (1908) Nr. 408. 66 Zu notorischen Tatsachen im gemeinen Recht Bomsdorf, Prozessmaximen und Rechtswirklichkeit, S. 53: „Der Richter verschaffte sich ihre Kenntnis, sofern er sie nicht hatte, von Amts wegen.“ 67 So auch die Kritik von Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 72. 62
V. Zwischenergebnis
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ihre Kenntnis wie die des Rechts von Amts wegen.“68 Diese Gleichsetzung von „Kenntnis haben“ und „Kenntnis verschaffen“ beruhte auf der Grundannahme, dass allgemeinkundig von vornherein nur Tatsachen sein können, „deren Kenntnis aus allgemeinen Gründen mit Sicherheit beim Gericht unterstellt werden kann.“69 Gemeint waren also nur Tatsachen, deren Verbreitung so weit und deren Allgemeinkundigkeit dadurch so evident war, dass auch das Gericht sie eigentlich kennen sollte. Wach ging aus diesem Grund sogar davon aus, dass das Gericht verpflichtet sei, sich eine Kenntnis zu verschaffen, wenn sie ausnahmsweise einmal nicht vorlag: Ein Richter könne nicht ignorieren, was er „jedem Konversationslexikon entnehmen kann.“70 Auch Stein betonte zwar besonders deutlich, dass Tatsachen, die das Gericht – trotz ihrer möglicherweise generell bestehenden Allgemeinkundigkeit – nicht kennt, nicht vom Beweis befreit seien. Aus praktischen Gründen und in Ablehnung eines Formalismus wollte er es dem Gericht aber trotzdem gestatten, sich auch außerhalb einer formalen Beweisaufnahme über die Allgemeinkundigkeit einer als allgemeinkundig behaupteten Tatsache zu informieren.71 Liege eine entsprechende Parteibehauptung vor – dies war für Stein stets Voraussetzung72 –, sei es dem Richter gestattet, seinen Kalender zu zücken, einen Ortskundigen zu einer vor Ort allgemeinkundigen Tatsache zu befragen oder auch sich die Lage des Hauses einer Partei anzusehen. Dem zweiten und dritten Beispiel ist zur Vermeidung von Missverständnissen hinzuzufügen, dass dies – auch und gerade nach Steins eigener Definition der Allgemeinkundigkeit – nur in Bezug auf die „grossen Umrisse“, nicht aber die Einzelheiten gelten kann.73
V. Zwischenergebnis Damit lassen sich für die weitere Untersuchung die folgenden Ergebnisse festhalten: Es wurde gezeigt, dass der heutige § 291 ZPO ursprünglich vor allem dazu diente, eine Ausnahme vom historischen Verbot der Verwertung privaten Wissens zu begründen. Dem Richter wurde die Verwertung seines vorhandenen Wissens erlaubt, wenn dieses „bei dem Gericht offenkundig“, d. h. entweder amtlich erworben und damit gerichtskundig oder zwar privat erworben, aber allgemeinkundig war. Die Allgemeinkundigkeit wurde aus dieser Funktion 68 Wetzell, System des ordentlichen Zivilprozesses, S. 186; ähnlich Hellwig, System des deutschen Zivilprozeßrechts, S. 676. 69 Wetzell, System des ordentlichen Zivilprozesses, S. 185. 70 Wach, Vorträge über die Reichs-Civilprocessordnung, S. 209. 71 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 169 f. 72 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 164. 73 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 148. Zu den damit verbundenen Schwierigkeiten siehe noch § 7 V. 1.
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§ 3 Funktion und Verständnis des heutigen § 291 ZPO zur Zeit seiner Entstehung
heraus im Sinne eines Wissens um „[…] allgemein anerkannte wissenschaftliche Wahrheiten und Vorgänge des weltgeschichtlichen und Naturlebens, deren Kenntnis ein Gemeingut aller verständigen Menschen ist“, bestimmt.74 Vor allem Stein hat dies weiter präzisiert und als Hauptmerkmale der Allgemeinkundigkeit das individuelle Wahrnehmungsfehler ausschließende allgemeine Wahrgenommensein einer Tatsache oder – als Hauptanwendungsfall – ihre ohne ernstlichen Widerspruch erfolgende allgemeine Verbreitung herausgearbeitet. Dabei könne es sich immer nur um die erinnerungsfähigen allgemeinen Umrisse eines Geschehens und niemals um Details handeln, die der Mitteilung individueller Wahrnehmungen bedürften. Die auf diese Weise mit der Allgemeinheit geteilte, vorprozessual vorhandene Überzeugung des Gerichts stellt sich so als „Wesen der Offenkundigkeit“75 und Legitimation des Beweisentfalls dar. Sofern die allgemein verbreitete Tatsache ausnahmsweise nicht auch „bei dem Gericht“ offenkundig war, wurde grundsätzlich eine Beweisaufnahme für erforderlich gehalten, deren Gegenstand anstelle der Tatsache selbst auch ihre Allgemeinkundigkeit sein konnte. Teilweise wurde daneben auch eine formlose Selbstinformation des Gerichts als zulässig angesehen. Dies wurde vor allem damit begründet, dass es formalistisch wäre, das Nachschlagen einer Tatsache abzulehnen, deren Kenntnis man aufgrund ihrer allgemeinen Verbreitung von dem Richter eigentlich ohnehin erwarten könnte.
74 75
RG, Urt. v. 10. 3. 1887 – IV 318/86, RGZ 17, 269 (271). Stein, Das private Wissen des Richters, S. 163.
§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit und seine Bedeutung für richterliche Internetrecherchen Vor dem Hintergrund der Ursprünge des § 291 ZPO kann nun das Verständnis der Allgemeinkundigkeit seit den 1950er Jahren untersucht werden, das heute die Grundlage informeller richterlicher Internetrecherchen bildet.
I. Ausgangspunkt: Definition der Allgemeinkundigkeit durch Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht Das gegenwärtige Verständnis des § 291 ZPO geht im Wesentlichen auf drei Urteile des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts aus den 1950er Jahren zurück, die bis heute – eher alternativ als kumulativ, aber ohne Widerspruch zu den jeweils anderen beiden – standardmäßig zitiert werden.1 Ausgangspunkt ist eine Definition des Bundesgerichtshofs zur Allgemeinkundigkeit im Strafprozess: „Darunter sind solche Vorgänge zu verstehen, von denen verständige Menschen regelmäßig Kenntnis haben oder über die sie sich aus zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkunde sicher unterrichten können. Diese Allgemeinkundigkeit braucht nicht in allen Landesteilen vorhanden zu sein; sie kann sich auch auf einen begrenzten Kreis von Personen oder eine bestimmte Ortschaft beschränken, wie z. B. hinsichtlich der besonderen Verkehrsverhältnisse in einer Gemeinde.“2 1 2
Siehe die bei dem jeweiligen Urteil folgenden Literaturnachweise. BGH, Urt. v. 14. 7. 1954 – 6 StR 180/54, BGHSt 6, 292 = NJW 1954, 1656 (1656); daran anknüpfend aus der zivilprozessualen Literatur z. B. MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 5. Auch im Strafprozessrecht ist das auf den Definitionen des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts aufbauende Verständnis der Allgemeinkundigkeit im Wesentlichen beibehalten worden, siehe dazu statt vieler KK‑StPO/Krehl, 7. Aufl. 2013, § 244 Rn. 132. Da jedoch nicht nur der Anwendungsbereich des § 244 Abs. 3 S. 2 StPO anders bestimmt wird als derjenige des § 291 ZPO (dazu bereits § 2 V. 1.), sondern die Norm im Strafprozess vor dem Hintergrund sich erheblich unterscheidender Verfahrensgrundsätze angewendet wird, beschränkt sich diese Untersuchung auf die Bedeutung der Allgemeinkundigkeit im Zivilprozess. Insb. zur Definition der Allgemeinkundigkeit werden dabei jedoch auch (im Gegensatz zum Zivilprozessrecht zahlreich erschienene) strafprozessuale Monographien berücksichtigt, soweit ihre Argumentation nicht spezifisch strafprozessualen Besonderheiten folgt und auf das Zivilprozessrecht übertragbar ist. Soweit § 291 ZPO auch in anderen Verfahren und/oder Rechtswegen Anwendung findet, werden diese nur dann ergänzend berücksichtigt, wenn das
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§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
Die fehlenden Referenzen im Urteil deuten darauf hin, dass es sich bei dieser – eher nebenbei in einem Fall zur Gerichtskundigkeit formulierte – Definition um eine Eigenkreation handelte.3 Wenig später nahm der 1. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs die Definition des Strafsenats in Bezug, modifizierte sie jedoch (ohne Begründung der Abweichung4) wie folgt: „Unter allgemeinkundigen Tatsachen […] sind solche zu verstehen, die in einem größeren oder kleineren Bezirk einer beliebigen Menge bekannt oder wahrnehmbar sind und über die man sich aus zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkunde sicher unterrichten kann.“5
Die Definition ist mit im Wesentlichen sprachlichen und hier nicht zu vertiefenden kleineren Anpassungen in der zivilprozessualen Literatur bis heute Standard.6 Fast zeitgleich mit dem Bundesgerichtshof hat sich 1959 auch das Bundesverfassungsgericht erstmals mit dem Begriff der Allgemeinkundigkeit befasst und die ebenfalls bis heute verbreitete Formulierung geprägt, allgemeinkundig seien Tatsachen, „[…] von denen verständige und erfahrene Menschen regelmäßig ohne weiteres Kenntnis haben oder von denen sie sich durch Benützung allgemein zugänglicher, zuverlässiger Quellen unschwer überzeugen können.“7
Durchgesetzt hat sich insbesondere das explizite Erfordernis der allgemeinen Zugänglichkeit der zuverlässigen Quellen. Abgesehen davon unterscheidet sich Verfahren in den wesentlichen Grundsätzen (insb. Geltung des Beibringungsgrundsatzes) dem des Zivilprozesses entspricht (so insb. im arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren), nicht hingegen, wenn das Verfahren vom Amtsermittlungsgrundsatz geprägt ist (insb. im Verwaltungsgerichtsverfahren, den marken- und patentrechtlichen Verfahren vor dem DPMA, dem BPatG und dem BGH in Rechtsbeschwerdeverfahren oder dem Großteil der freiwilligen Gerichtsbarkeit). 3 Inwieweit sich diese und die folgenden Definitionen vom historischen Verständnis unterscheiden, wird nachfolgend und in § 5 III. untersucht. 4 Die im hiesigen Kontext interessanteste Modifizierung gegenüber der Definition des Strafsenats ist die auf den ersten Blick unauffällige Ersetzung des Wortes „oder“ durch „und“. Darauf wird sogleich unter II.1.a) näher eingegangen. 5 BGH, Urt. v. 13. 10. 1959 – I ZR 58/58, GRUR 1960, 126 (128). 6 Vgl. die Definitionen bei Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 2; Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 39. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 112 Rn. 26; Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 3 Rn. 19; Howe, DisputeResolution 2/2015, 19 (20), von letzteren beiden irrtümlich zitiert als Definition des BVerfG. 7 BVerfG, Beschl. v. 3. 11. 1959 – 1 BvR 13/59, BVerfGE 10, 177 = NJW 1960, 31 (31); aus der „Benützung“ wurde später die „Benutzung“, siehe z. B. Kammerbeschl. v. 16. 5. 1989 – 1 BvR 705/88, Rn. 9, juris; an diese Definition anknüpfend z. B. Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 8; Greger, in: FS Stürner, 289 (292); Dötsch, MDR 2011, 1017 (1017); Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4.
II. Kategorien des Bekannten und des Ermittelbaren
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die Definition inhaltlich kaum von der ersten Formulierung des Bundesgerichtshofs.
II. Kategorien des Bekannten und des Ermittelbaren Auf der Grundlage der dargestellten Urteile lässt sich das Allgemeinkundige heute in zwei Kategorien einteilen: das, wovon in der Regel jedermann Kenntnis hat, einerseits, und das, worüber sich jedermann mit Hilfe bestimmter Quellen informieren kann, andererseits. Zugunsten der leichteren Lesbarkeit werden diese Kategorien im Folgenden als das „Bekannte“ und das „Ermittelbare“ bezeichnet. Soweit hinsichtlich der Ermittelbarkeit Voraussetzungen an die Quellen wie allgemeine Zugänglichkeit und Zuverlässigkeit gestellt werden, werden diese Quellen hier „qualifizierte Quellen“ und die Definition „quellenbestimmte Definition“ genannt. Nicht eindeutig lässt sich den bundesgerichtlichen Definitionen entnehmen, ob beide Kategorien kumulativ das Allgemeinkundige einheitlich beschreiben sollten, wofür die „und“-Formulierung des Zivilsenats einen Anhaltspunkt bietet (im Folgenden: „einheitliches Verständnis“), oder ob mit ihnen von vornherein zwei alternative und voneinander unabhängige Kategorien begründet werden sollten – wofür die „oder“-Formulierungen in der Definition des Strafsenats und des Bundesverfassungsgerichts sprechen könnten (im Folgenden: „isoliertes Verständnis“).8 Da sich in Rechtsprechung und Literatur (wiederum nicht immer eindeutige) Hinweise sowohl für die eine als auch für die andere Lesart finden, werden im Folgenden beide Varianten vor- und dem historischen Verständnis gegenübergestellt.
1. Einheitliches Verständnis: Bekanntheit und Ermittelbarkeit als kumulative Beschreibung des Allgemeinkundigen a) Formulierungen des Zivilsenats Im einheitlichen Verständnis kommt dem „und“ in der Definition des Zivilsenats entscheidende Bedeutung zu: „Unter allgemeinkundigen Tatsachen in diesem Sinne sind solche zu verstehen, die in einem größeren oder kleineren Bezirk einer beliebigen Menge bekannt oder wahrnehmbar sind und über die man sich aus zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkunde sicher unterrichten kann.“9 8 Zum davon zu unterscheidenden zusätzlichen „oder“ in der Formulierung des Zivilsenats siehe sogleich. 9 BGH, Urt. v. 13. 10. 1959 – I ZR 58/58, GRUR 1960, 126 (128) (Hervorhebung durch Verf.).
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§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
Bei Betonung des „und“ erscheint die Allgemeinkundigkeit einheitlich als das, was „mehr oder weniger jeder“10 weiß und, um dem Einwand vorzubeugen, nichts sei „jedem“ bekannt, worüber man sich, wenn man es nicht ohnehin schon weiß oder wieder vergessen hat, typischerweise aus allgemein zugänglichen, zuverlässigen Quellen – insbesondere klassischen Nachschlagewerken wie Lexika und anderen Büchern, Zeitungen oder Zeitschriften, Rundfunk, Fernsehen11 oder heute eben auch diversen Online-Angeboten – unterrichtet.12 Das Ermittelbare dient bei diesem Verständnis allein der näheren Beschreibung des regelmäßig Bekannten und der Betonung des Umstands, dass selbst noch so eindeutiges „Allgemeinwissen“ niemals jedem Einzelnen bekannt im Sinne eines präsenten Wissens sein wird. Für diese Auslegung spricht vor allem die Subsumtion des Bundesgerichtshofs in dem die Definition begründenden Fall, in dem er feststellte, dass „diese Voraussetzungen“ – also kumulativ – für den seit Jahren auf dem Markt erscheinenden und jedermann gegenübertretenden asymmetrischen Stern als Warenzeichen der Illustrierten „Stern“ zuträfen.13 Das vom Zivilsenat als Alternative zum Bekannten genannte „Wahrnehmbare“ kann, wenn man dem darauf folgenden zweiten Teil der Definition nicht jegliche Bedeutung nehmen will, nur die unmittelbare sinnliche Wahrnehmbarkeit im „echten Leben“ bezeichnen14 – so z. B. die in einer örtlichen Gemeinschaft bekannte oder jedenfalls unmittelbar wahrnehmbare Existenz eines historischen Gebäudes oder den vom Kammergericht im Jahr 1969 für allgemeinkundig gehaltenen Fortschritt der Bauarbeiten für die entstehende Berliner Stadtautobahn.15 Das Wahrnehmbare stellt sich somit als Unterfall des Bekannten und nicht als das aus (mittelbaren) Quellen Ermittelbare dar (welches 10
Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 418; AK‑ZPO/Rüßmann, § 291 Rn. 2. den „klassischen“ Quellen statt vieler MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291
11 Zu
Rn. 6. 12 So wohl das Verständnis z. B. bei Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 112 Rn. 25 ff. und Howe, DisputeResolution 2/2015, 19 (20). 13 BGH, Urt. v. 13. 10. 1959 – I ZR 58/58, GRUR 1960, 126 (128). 14 In diesem Sinne auch bereits Stein, Das private Wissen des Richters (dazu noch sogleich unter c)); ferner Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess; Pantle, MDR 1993, 1166 ff.; wohl auch Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4; auch die angepasste Formulierung „wahrnehmbar waren“ bei Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1 und Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 2 (Hervorhebung durch Verf.) deutet auf ein solches Verständnis des Wahrnehmbaren hin. 15 KG, Urt. v. 10. 4. 1969 – 8 U 2406/68, JR 1970, 24 (28). Dass der (allgemeine, nicht hingegen in jedem Detail erzielte) Fortschritt der Bauarbeiten damals tatsächlich „einer beliebigen Menge bekannt oder wahrnehmbar“ war, kann heute nur noch vermutet werden, ist aber bei einem derartigen Großprojekt durchaus anzunehmen; ablehnend hingegen MüKoZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 8; ähnlich in jüngerer Zeit LG Nürnberg-Fürth, Urt. v. 30. 3. 2017 – 2 S 2191/16, NJW‑RR 2017, 730 (731), das als allgemeinkundig ansah, dass „Bauarbeiten im fraglichen Bereich neben den noch zum Verkehr freigegebenen Spuren durchgeführt“ wurden; kritisch insoweit BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 4.
II. Kategorien des Bekannten und des Ermittelbaren
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anderenfalls redundant wäre). Auch über das Wahrnehmbare kann sich mithin jeder, der es nicht kennt und es auch nicht selbst unmittelbar wahrnehmen kann, aus qualifizierten Quellen informieren. Insofern ändert die Variante des Wahrnehmbaren nichts an dem einheitlichen Verständnis, nach dem das Ermittelbare lediglich der Beschreibung dessen dient, was allgemein bekannt ist. Bisweilen wird das Wahrnehmbare in Rechtsprechung und Literatur hingegen als Synonym für das Ermittelbare gebraucht im Sinne von Tatsachen, die „[…] ohne Weiteres (zB aus allg zugänglichen Nachschlagewerken, Zeitschriften etc) zuverlässig wahrnehmbar sind“.16 Wieder anders ist Bachers Verständnis der Wahrnehmbarkeit als Oberbegriff: Entscheidend für die Allgemeinkundigkeit ist für ihn – unter Verzicht auf die Variante der Bekanntheit – allein, dass die Tatsachen „[…] von einer beliebigen Zahl von Personen ohne besondere Sachkunde jederzeit wahrgenommen werden können, sei es unmittelbar, sei es durch Zugriff auf allgemein zugängliche, zuverlässige Quellen“.17 Anders als in der Formulierung des Zivilsenats deutet die Kategorie des Wahrnehmbaren in diesen Fällen auf das unter 3. behandelte isolierte Verständnis hin.
b) Formulierungen des Strafsenats Auch die Ausführungen des Strafsenats legen trotz der „oder“-Formulierung in der Definition18 ein einheitliches Verständnis nahe: So folgt auf die Varianten des Bekannten „oder“ des Ermittelbaren unmittelbar der Hinweis, dass „diese Allgemeinkundigkeit“ nicht in allen Landesteilen bestehen müsse – was nur bei einem einheitlichen Verständnis einen Sinn ergibt. Gefolgt wird die Definition von der folgenden, an die historischen Grundlagen erinnernden Begründung: „Ein Wissen, das der Richter in genügend sicherem Maße besitzt, weil er es mit der Allgemeinheit teilt […], braucht ihm nicht mehr […] vermittelt zu werden. Eine Beweisaufnahme hierüber wäre eine sachlich nicht gebotene Äußerlichkeit und ist daher überflüssig.“19
Dieses alleinige Abstellen auf die mit der Allgemeinheit geteilte Kenntnis – und nicht etwa alternativ auf eine durch jedermann mögliche Ermittlung – deutet 16 Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3; in diesem Sinne auch LG Bonn, Beschl. v. 7. 11. 2014 – 6 T 308/14, RNotZ 2015, 368 (371); MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 5; Thomas/ Putzo/Reichold, ZPO, 39. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1; Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4. 17 BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 3. 18 BGH, Urt. v. 14. 7. 1954 – 6 StR 180/54, BGHSt 6, 292 = NJW 1954, 1656 (1656): „Darunter sind solche Vorgänge zu verstehen, von denen verständige Menschen regelmäßig Kenntnis haben oder über die sie sich aus zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkunde sicher unterrichten können. Diese Allgemeinkundigkeit braucht nicht in allen Landesteilen vorhanden zu sein […]“ (Hervorhebung durch Verf.). 19 BGH, Urt. v. 14. 7. 1954 – 6 StR 180/54, BGHSt 6, 292 = NJW 1954, 1656 (1656) (Hervorhebung durch Verf.).
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§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
an, dass auch der Definitionsteil des Ermittelbaren sich auf Kenntnisse bezog, über die eine repräsentative „Allgemeinheit“ bereits verfügt. Auch, dass die Quellen in allen drei Definitionen im Plural genannt werden und sich keiner der Senate weiter mit der Frage beschäftigte, unter welchen Voraussetzungen eine Quelle allgemein zugänglich und zuverlässig ist, könnte darauf hindeuten, dass diese Kriterien nicht als Tatbestandsmerkmale einer eigenständigen Allgemeinkundigkeit, sondern lediglich deskriptiv für das regelmäßig Bekannte gemeint waren.
c) Weitgehende Übereinstimmung mit historischer Definition Bei dieser Lesart würden die bundesgerichtlichen Definitionen in etwa mit dem (von ihnen gleichwohl nicht referenzierten) historischen Verständnis der Allgemeinkundigkeit übereinstimmen: Allgemeinkundig ist, was mehr oder weniger allgemein bekannt ist, weil es – z. B. durch die vom Bundesgerichtshof in Bezug genommenen qualifizierten Quellen – allgemein verbreitet wird und wiederum deshalb auch im Einzelfall aus diesen Quellen ermittelt werden kann.20 Das bei Stein als seltenere Alternative des Verbreiteten erwähnte allgemein Wahrgenommene taucht in der Definition des Zivilsenats als „Wahrnehmbares“ wieder auf und bezieht sich in diesem Kontext wie bereits bei Stein allein auf unmittelbare sinnliche Wahrnehmungen.21 Graul hat mit überzeugenden Argumenten darauf hingewiesen, dass weiterhin nicht die bloße allgemeine Wahrnehmbarkeit der Tatsache, sondern das tatsächliche Wahrgenommensein entscheidend sei.22 Allerdings dürfte auch die vom Bundesgerichtshof bezeichnete Wahrnehmbarkeit für eine „beliebige Menge“ eine hinreichende tatsächliche Wahrnehmung regelmäßig gewährleisten und insoweit in demselben Sinne zu verstehen sein. Als Beispiel kann wiederum die allgemein wahrnehmbare und deshalb allgemein wahrgenommene (und deshalb allgemein bekannte) Existenz eines historischen Gebäudes dienen.
d) Weitgehende Übereinstimmung mit alternativen modernen Definitionen Auf ein einheitliches Verständnis des Allgemeinkundigen als „regelmäßig Bekanntes und bei Bedarf Ermittelbares“ weist schließlich hin, dass auch 20 Siehe dazu § 3 II.; Stein, Das private Wissen des Richters, S. 147, definierte allgemeinkundige Tatsachen als solche, die „[…] so allgemein wahrgenommen sind oder so allgemein ohne ernstlichen Widerspruch verbreitet werden, dass ein verständiger und lebenserfahrener Mann sich ebenso davon überzeugt erklären kann, wie der Richter im Prozesse auf Grund der Beweisaufnahme.“ Ein detaillierter Vergleich erfolgt im Rahmen des isolierten Verständnisses unter 3. 21 Siehe dazu bereits unter a). 22 Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 19 f., 107.
II. Kategorien des Bekannten und des Ermittelbaren
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unter der Geltung der bundesgerichtlichen Definitionen Alternativen vertreten werden, die ihren Ursprung eindeutig bei Stein haben, ohne als Widerspruch zu den Definitionen der Bundesgerichte gekennzeichnet zu werden: So definiert z. B. Pantle als allgemeinkundig „[…] Ereignisse oder Zustände, die von so vielen wahrgenommen sind oder jederzeit wahrgenommen werden können, daß die individuelle Wahrnehmung des einzelnen und ihre Unsicherheit außer Betracht bleibt, und ferner diejenigen Tatsachen, die so allgemein und so ohne ernstlichen Widerspruch anerkannt und verbreitet werden, daß auch ein besonnener Mensch von ihrer Wahrheit überzeugt sein kann.“23
Auch die Beschreibung Grunskys als „Tatsachen, die mehr oder weniger jeder kennt, und deren Kenntnis man sich erforderlichenfalls leicht beschaffen kann“ lässt sich in diesem einheitlichen Sinne verstehen.24 Allerdings hielt Grunsky – lange vor Existenz des Internets – „nicht die positive Kenntnis des überwiegenden Teils der Bevölkerung, sondern allein die allgemeine Zugänglichkeit der Erkenntnisquellen“ für maßgeblich, weshalb er zugleich als Vertreter der isolierten Lesart angeführt werden kann (und wird).25 Er schien jedoch davon auszugehen, dass die Kategorien deckungsgleich sind. Dass aus allgemein zugänglichen Quellen (nicht erst, aber insbesondere durch das Internet) sehr viel mehr entnommen werden kann als „Tatsachen, die mehr oder weniger jeder kennt“, wurde von ihm nicht thematisiert. Und letztlich entsprechen die meisten „klassischen“ Beispiele allgemeinkundiger Tatsachen, die in der Literatur genannt werden, dem einheitlichen Verständnis: etwa historische Ereignisse, allgemeine Vorgänge des politischen, Wirtschafts- oder Naturlebens, Unglücksfälle, Ortsentfernungen oder örtliche Begebenheiten.26
23 Pantle, MDR 1993, 1166 (1167) unter Übernahme und Kombination von Formulierungen bei Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 20. Aufl. 1984, § 291 Rn. 2 und Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, ZPO, 51. Aufl. 1993, § 291 Anm. 1A (beide zitiert nach Pantle, ebd.); bei beiden sind die Formulierungen bis heute erkennbar; Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4 stellt jedoch anstelle der allgemeinen Verbreitung explizit auf die Ermittelbarkeit aus qualifizierten Quellen ab; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4 f. verweist auf diese jedenfalls in den Beispielen; vgl. auch die an Stein erinnernden Definitionen bei Jauernig/Hess, Zivilprozessrecht, § 49 Rn. 34 f. sowie Schmidt-Hieber, Richtermacht und Parteiherrschaft über offenkundige Tatsachen, S. 11 f. 24 Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 418 (Hervorhebung durch Verf.); wie dieser auch AK‑ZPO/Rüßmann, § 291 Rn. 2. 25 Siehe dazu noch 3.a). 26 Vgl. z. B. Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 8; MüKo-ZPO/ Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 7; Zöller/Greger, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1; Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 404; Jauernig/Hess, Zivilprozessrecht, § 49 Rn. 35.
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§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
2. Rolle richterlicher Ermittlungen bei einheitlichem Verständnis a) Das Urteil des Bundesgerichtshofs zur „Ermittlung“ allgemeinkundiger Lichtverhältnisse Das dargestellte einheitliche Verständnis der Allgemeinkundigkeit dürfte auch einem vielzitierten Urteil des Bundesgerichtshofs zugrunde liegen, in dem dieser billigte, dass sich das Gericht der Vorinstanz „durch private Beobachtung Kenntnis von den ‚in diesen Breiten‘ am 14. Januar allgemein herrschenden Lichtverhältnissen verschafft“ hatte, da es sich dabei um allgemeinkundige Tatsachen i. S. d. § 291 ZPO handle. „In dieser Beziehung“ dürfe das Gericht auch „privates Wissen verwerten oder die notwendigen Tatsachengrundlagen gegebenenfalls selbst ermitteln.“27 Die Formulierung ist allerdings in mehrfacher Hinsicht eher unglücklich: Zunächst bleibt unklar, was man sich – selbst bei einer Begrenzung auf „diese Breiten“ – unter den an einem bestimmten Datum „allgemein“ herrschenden Lichtverhältnissen vorzustellen hat. Darauf kam es in dem zu entscheidenden Fall aber auch gar nicht an. Das wird bei der Lektüre des (unveröffentlichten) vorinstanzlichen Urteils klarer: Der Kläger hatte geltend gemacht, am 14. Januar 2003 gegen 7:30 Uhr auf einem Gehweg in Folge herausgerissener Pflastersteine gestürzt zu sein. Die Klage wurde zunächst in zwei Instanzen abgewiesen.28 Nach Aufhebung des ersten Berufungsurteils wies das Oberlandesgericht Oldenburg die Berufung des Klägers im April 2006 erneut zurück – und zwar mit folgender Begründung: „Zur angegebenen Tageszeit am frühen Morgen waren am 14. Januar in diesem Jahr nach der Beobachtung der Senatsmitglieder die Sichtverhältnisse in diesen Breiten trotz der herrschenden Dämmerung außerordentlich gut. Auch in erheblicher Entfernung konnten einzelne Pflastersteine ohne jede Mühe genau wahrgenommen werden. Selbst wenn das Wetter am 14. Januar 2003 trüber gewesen sein sollte, muss der unmittelbare Nahbereich bei Dämmerung ohne Weiteres gut sichtbar gewesen sein.“29
Diese Begründung hielt der Überprüfung durch den Bundesgerichtshof nicht stand. Er stellte fest, dass es der Schlussfolgerung, der unmittelbare Nahbereich müsse bei Dämmerung gut sichtbar gewesen sein, „[…] ohne hinreichende Kenntnis der am Unfalltag herrschenden Wetterbedingungen“ an einer tragfähigen Grundlage [fehle], da sie „lediglich auf nachträglichen Beobachtungen an anderen Orten“ beruhe.30 Lediglich als obiter dictum schob der Bundes-
27
BGH, Urt. v. 10. 5. 2007 – III ZR 115/06, NJW 2007, 3211 (3211). OLG Oldenburg, Urt. v. 23. 7. 2004 – 6 U 36/04 (unveröffentlicht). 29 OLG Oldenburg, Urt. v. 21. 4. 2006 – 6 U 36/04 (unveröffentlicht, Hervorhebung durch Verf.). 30 BGH, Urt. v. 10. 5. 2007 – III ZR 115/06, NJW 2007, 3211 (3211). 28
II. Kategorien des Bekannten und des Ermittelbaren
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gerichtshof die gelegentlich überbewertete31 Bemerkung voraus, dass die (für den konkreten Fall völlig irrelevante) Beobachtung der „allgemeinen“ Lichtverhältnisse am 14. Januar des Jahres, in dem der Prozess stattfand, durch die Richter an sich unbedenklich war, da es sich hierbei um eine allgemeinkundige Tatsache handle und das Gericht „in dieser Beziehung“ auch „privates Wissen verwerten oder die notwendigen Tatsachengrundlagen gegebenenfalls selbst ermitteln“ dürfe.32 Damit wird zugleich die zweite unglückliche Formulierung deutlich: Die richterliche „Ermittlung“ beschränkte sich im vorliegenden Fall auf die Wahrnehmung von Sinneseindrücken im „echten Leben“, vor denen die Richter ohnehin nicht die Augen hätten verschließen können. Die „allgemeinen“ Lichtverhältnisse an einem bestimmten Tag (sofern man von solchen überhaupt sprechen kann) sind für jedermann unmittelbar wahrnehmbar und damit jedem, der an dem jeweiligen Tag in den relevanten Breiten das Haus verlässt, zwangsläufig bekannt. Eine „Ermittlung“ im engeren Sinn dürfte insoweit kaum erforderlich gewesen sein.
b) Keine Generalermächtigung In Rechtsprechung und Literatur wird das Urteil stets nur mit dem obiter dictum zitiert, dass sich das Gericht die Kenntnis allgemeinkundiger Tatsachen durch „private Beobachtung“ ohne Beteiligung der Parteien verschaffen dürfe.33 Über gezielte Ermittlungen wie den vom Oberlandesgericht Hamm unter Bezugnahme auf das Urteil gebilligten alleinigen „Rundgang“ eines Richters in einem Parkhaus nach Abschluss einer förmlichen Inaugenscheinnahme, um die am Unfallort herrschenden Lichtverhältnisse zu ermitteln, ist mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs allerdings keine Aussage getroffen. Die Annahme des Oberlandesgerichts, es sei auch in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs „nicht um eine von einem bestimmten Ort losgelöste Beobachtung, sondern um eine Beobachtung an der konkreten Unfallstelle“ gegangen,34 31 z. B. von OLG Hamm, Urt. v. 6. 8. 2013 – I-9 U 45/13, MDR 2013, 1458 (1458); dazu noch sogleich. 32 BGH, Urt. v. 10. 5. 2007 – III ZR 115/06, NJW 2007, 3211 (3211). Die Betonung der „allgemeinen“ Lichtverhältnisse könnte auch im Sinne eines (anhand der Beobachtung am 14. Januar 2006 aufgestellten) Erfahrungssatzes zu verstehen sein, dass am 14. Januar jedes Jahres in bestimmten Breiten „im Allgemeinen“ bestimmte Lichtverhältnisse herrschen; so z. B. die Interpretation des LG Dessau-Roßlau, Urt. v. 7. 6. 2012 – 1 S 32/12, Rn. 4, juris. Das ändert aber nichts an den beiden Kernaussagen, dass zwar die allgemein wahrnehmbaren Lichtverhältnisse an einem konkreten Datum als allgemeinkundige Tatsache „privat“ wahrgenommen (und ggf. zur Aufstellung eines Erfahrungssatzes herangezogen) werden dürfen, daraus aber (gleich ob direkt oder über den gewonnenen Erfahrungssatz) keine Schlüsse für den 14. Januar 2003 gezogen werden können und dürfen. 33 Zimmermann, ZPO, 10. Aufl. 2015, § 291 Rn. 1; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 39. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1; BeckOK‑ZPO/Bach, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 371 Rn. 5.1. 34 OLG Hamm, Urt. v. 6. 8. 2013 – I-9 U 45/13, MDR 2013, 1458 (1458).
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§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
ist, wie aus den Urteilen des Oberlandesgerichts Oldenburg und des Bundesgerichtshofs hervorgeht, gerade falsch: Die dortigen Richter hatten lediglich die „allgemeinen“ Lichtverhältnisse an „anderen Orten“ in „diesen Breiten“ zur Kenntnis genommen und keine Ermittlungen am Unfallort angestellt. Mit der Begründung des Oberlandesgerichts Hamm könnte letztlich jeder Ortstermin vom Gericht alleine durchgeführt werden. Auch die Gaststätteneinrichtung, deren Mangelhaftigkeit Gegenstand eines Rechtsstreits ist, könnte aufgrund der allgemeinen Zugänglichkeit der Gaststätte als allgemeinkundig vom Richter allein in Augenschein genommen werden. Dieses Vorgehen hat das Oberlandesgericht Düsseldorf (ohne eine Ermittlung allgemeinkundiger Tatsachen auch nur in Betracht zu ziehen) zu Recht für unzulässig gehalten, da es den Grundsätzen der Beweisaufnahme widerspreche und zu befürchten sei, dass sich der Richter außerhalb der Beweisaufnahme bereits ein Urteil gebildet habe.35 Auch in der Literatur wird die private Besichtigung der Örtlichkeiten des Prozessgegenstands als klassisches Beispiel unzulässiger privater Ermittlungen angesehen.36 Zweifelhaft erscheint insoweit das Argument Hiegerts, es könne ohnehin niemand verhindern, dass das Gericht einen privaten Augenschein von einer allgemein zugänglichen Örtlichkeit einnehme.37 Unzulässige Ermittlungen sollten nicht „verhindert“ werden müssen, sondern bereits aufgrund der Bindung der rechtsprechenden Gewalt an Gesetz und Recht aus Art. 20 Abs. 3 GG von vornherein tabu sein. Erst recht nicht kann ihre Zulässigkeit mit einer fehlenden Verhinderungsmöglichkeit begründet werden. Vor diesem Hintergrund können aus dem Urteil des Bundesgerichtshofs nur mit Vorsicht allgemeine Grundsätze zur Zulässigkeit informeller Ermittlungen hergeleitet werden. Es bleibt festzuhalten, dass in der dem Urteil des Bundesgerichtshofs zugrunde liegenden Konstellation schon kaum von einer „Ermittlung“ gesprochen werden kann.
c) Allgemeine Bekanntheit Voraussetzung der „Ermittlung“ Von Bedeutung ist aber im Hinblick auf das sogleich darzustellende isolierte Verständnis vor allem eine weitere Feststellung: Die Zulässigkeit der „Ermittlung“ wurde hier gerade darauf gestützt, dass es sich um allgemeinkundige Tatsachen im Sinne der Kategorie des Bekannten bzw. unmittelbar Wahrnehmbaren handelte. Dass allgemeine Wetter- und Lichtverhältnisse auch aus qualifizierten Quellen ermittelbar sind, beschreibt ihre Allgemeinkundigkeit lediglich zusätzlich im Sinne des dargestellten einheitlichen Verständnisses und hatte weder für die Definition des Allgemeinkundigen noch für die Begründung der 35 36
OLG Düsseldorf, Beschl. v. 10. 7. 1956 – 12 W 15/56, MDR 1956, 557 (557). Sticken, Die „neue“ materielle Prozeßleitung (§ 139 ZPO) und die Unparteilichkeit des Richters, S. 52. 37 Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 150.
II. Kategorien des Bekannten und des Ermittelbaren
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Zulässigkeit informeller Ermittlungen eine eigenständige Bedeutung. Insoweit ist die einheitlich verstandene Allgemeinkundigkeit der Tatsache Voraussetzung ihrer Ermittlung durch das Gericht. Ist eine Tatsache nicht allgemein bekannt, kommt folglich im einheitlichen Verständnis eine Ermittlung von vornherein nicht in Betracht. So hat es der Bundesgerichtshof für ausgeschlossen gehalten, dass Werbemaßnahmen für eine bestimmte Marke „in allen Teilen des Reichsgebiets“ und „zwei Generationen“ allgemeinkundig sein könnten. Entsprechende Kenntnisse könne das Gericht nur „durch private Beobachtungen eines einzelnen Richters, deren Verwertung gemäß § 291 ZPO prozessual unzulässig ist, erlangt haben“.38 Hier wird man hinzufügen können, dass die im Urteil gegenständliche Plakatwerbung durchaus ein klassisches Beispiel allgemeinkundiger Tatsachen darstellt, da diese in der Regel allgemein wahrgenommen wird. Maßgeblich war im zu entscheidenden Fall aber, dass die Allgemeinkundigkeit zeit- und ortsbezogen ist und das entscheidende Gericht nur Teil einer auf den eigenen Ort und die eigene Generation beschränkten Allgemeinkundigkeit sein konnte. Die Ermittlung einer an anderen Orten und zu anderer Zeit möglicherweise bestehenden Allgemeinkundigkeit hielt der Bundesgerichtshof für unzulässig.
3. Isoliertes Verständnis: Ermittelbarkeit als eigenständige Alternative zur Bekanntheit Vereinzelt wird auch die Zulässigkeit richterlicher Internetrecherchen mit knappem Verweis auf die Argumentation des Bundesgerichthofs zu den „allgemeinen Lichtverhältnissen“ begründet.39 In der Praxis kommt es darauf hingegen kaum an, da den Recherchen in aller Regel40 – ebenso wie den wenigen vertieften Auseinandersetzungen mit ihnen in der Literatur41 – das nunmehr darzustellende isolierte Verständnis zugrunde liegt.
a) Formulierung „oder“ und Betonung der Eigenständigkeit in der Literatur Im isolierten Verständnis stellen die Kategorien des Bekannten und des Ermittelbaren – ganz entsprechend dem „oder“ in zwei der drei dargestellten Definitionen42 – zwei vollkommen eigenständige Kategorien dar. Insoweit wird 38
BGH, Urt. v. 29. 3. 1960 – I ZR 89/58, GRUR 1961, 33 (34). Vgl. etwa Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 18; in diesem Sinne wohl auch Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 39. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1. Zur Zirkelschlüssigkeit dieser Argumentation bei isoliertem Verständnis der Allgemeinkundigkeit siehe noch § 5 III.4. 40 Das wird sich insb. in § 4 III.2. zeigen. 41 Dazu noch § 4 III.4 und IV. 42 BGH, Urt. v. 14. 7. 1954 – 6 StR 180/54, BGHSt 6, 292 = NJW 1954, 1656 (1656): „Darunter sind solche Vorgänge zu verstehen, von denen verständige Menschen regelmäßig Kenntnis haben oder über die sie sich aus zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkunde 39
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§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
betont, dass es für die Annahme von Allgemeinkundigkeit ganz unabhängig von einer allgemeinen Bekanntheit genüge, wenn jeder Einzelne sich „aus einer allgemein zugänglichen und zuverlässigen Quelle ohne besondere Fachkenntnis über die Tatsache sicher unterrichten kann.“43 Maßgeblich soll „nicht die positive Kenntnis des überwiegenden Teils der Bevölkerung, sondern allein die allgemeine Zugänglichkeit der Erkenntnisquellen“ sein.44 Greger hebt hervor, dass „[…] der zweiten Fallgruppe ein wesentlich erweiterter Begriff von Offenkundigkeit zugrundeliegt“, in dem es gerade nicht um das typische „Allgemeinwissen“, sondern allein um die leichte und zuverlässige Ermittelbarkeit gehe.45
b) „Differenzierende Betrachtung“ in Monographien zur Offenkundigkeit Veranschaulicht wird das isolierte Verständnis auch in den zur Offenkundigkeit im Strafprozess in den 1980er und 1990er Jahren erschienenen Monographien von Hiegert46, Graul47 und Buschhorn48, die jeweils von der Prämisse ausgehen, dass dem, was jeder weiß, das gleichstehen müsse, was für jeden aus qualifizierten Quellen ermittelbar sei,49 und die Kategorien sodann einer „differenzierenden Betrachtung“50 im Hinblick auf die Begründung der Allgemeinkundigkeit und der Konsequenzen für die Verwertbarkeit im Strafverfahren unterziehen.51 Insbesondere Graul betont in ihrer allein der Offenkundigkeit gewidmeten Habilitationsschrift, dass es sowohl allgemeinkundige Tatsachen gebe, die zwar allgemein bekannt, aber nicht aus qualifizierten sicher unterrichten können“ einerseits sowie BVerfG, Beschl. v. 3. 11. 1959 – 1 BvR 13/59, BVerfGE 10, 177 = NJW 1960, 31 (31): „[…] von denen verständige und erfahrene Menschen regelmäßig ohne weiteres Kenntnis haben oder von denen sie sich durch Benützung allgemein zugänglicher, zuverlässiger Quellen unschwer überzeugen können“ andererseits (Hervorhebungen durch Verf.). 43 MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 5. 44 Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 418; diesem folgend AK‑ZPO/Rüßmann, § 291 Rn. 2. Dazu, dass Grunsky bei dieser Formulierung 1974 davon auszugehen schien, dass sich auch das Ermittelbare stets auf „Tatsachen, die mehr oder weniger jeder kennt“ (ebd.) bezieht, siehe bereits oben unter 1.d). 45 Greger, in: FS Stürner, 289 (292); in diesem Sinne auch Schellhammer, Zivilprozess, Rn. 528: „Jeder kann diese Daten zuverlässig aus Presse, Internet […] ermitteln.“ 46 Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung. 47 Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess. 48 Buschhorn, Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren. 49 Buschhorn, Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren, S. 50. 50 Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. VII; ähnlich Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 122 ff. 51 Auf einzelne Aspekte dieser Arbeiten wird im weiteren Verlauf der Untersuchung eingegangen, soweit sie für den Zivilprozess und die Frage richterlicher Internetrecherchen von Bedeutung sind. Zivilprozessuale Monographien zur Allgemeinkundigkeit, die sich mit den bundesgerichtlichen Definitionen vertieft auseinandersetzen, sind, soweit ersichtlich, bislang nicht erschienen.
II. Kategorien des Bekannten und des Ermittelbaren
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Quellen ermittelbar seien,52 als auch solche, die lediglich ermittelbar seien, während von ihnen bislang „[…] noch niemand im Gerichtssaal – namentlich auch das Gericht – etwas […] gehört hat.“53
c) Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Als Beispiel auch für den Zivilprozess kann der vom Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung (jedenfalls) seit 1990 als allgemeinkundige Tatsache angesehene, regelmäßig vom Statistischen Bundesamt ermittelte und veröffentlichte Preisindex für die Lebenshaltungskosten genannt werden,54 an dessen Stelle mittlerweile der Verbraucherpreisindex getreten ist.55 Obwohl die meisten Menschen vermutlich noch nicht einmal wissen, dass es einen derartigen Index gibt und was er aussagt, begründen hier allein die allgemeine Zugänglichkeit und Zuverlässigkeit der Quelle – das ist insbesondere die jeweilige amtliche Veröffentlichung des Statistischen Bundesamts, aber auch darauf gestützte Publikationen in der Fachpresse56 – die Allgemeinkundigkeit. Entsprechendes gilt für die vom Bundesgerichtshof als allgemeinkundig angesehenen Zahlenangaben in statistischen Jahrbüchern.57 Auch die Bestellung eines Insolvenzverwalters hat der Bundesgerichtshof unabhängig von einer Kenntnis der Allgemeinheit allein aufgrund der Veröffentlichung im Bundesanzeiger für allgemeinkundig gehalten.58 Damit hat er sich von dem Gedanken Steins – und wohl auch des Reichsgerichts59 – gelöst, nach dem selbst amtliche Bekanntmachungen nur dann allgemeinkundig sein sollten, wenn sie tatsächlich allgemein zur Kenntnis genommen werden; dies sei insbesondere bei Veröffentlichungen im Reichsanzeiger in der Regel nicht der Fall.60 Eine klare Linie des Bundesgerichtshofs ist jedoch bislang nicht zu erkennen: So hat er z. B. ausdrücklich offen gelassen, ob Eintragungen in öffentlichen Registern 52 53
Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 104. Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 93. 54 BGH, Urt. v. 4. 5. 1990 – V ZR 21/89, BGHZ 111, 214 = NJW 1990, 2620 (2622); Urt. v. 24. 4. 1992 – V ZR 52/91, NJW 1992, 2088 (2088); Urt. v. 10. 12. 2003 – XII ZR 155/01, NJW‑RR 2004, 649 (649); Beschl. v. 10. 12. 2004 – IXa ZB 73/04, NJW‑RR 2005, 366 (366); aus der Literatur statt vieler Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4a; Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 3 Rn. 19. Zum Umgang mit Preisindizes und anderen amtlichen Informationen siehe noch § 5 III.5.dd). 55 Zum Übergang auf den Verbraucherpreisindex siehe BGH, Urt. v. 4. 3. 2009 – XII ZR 141/07, NJW‑RR 2009, 880 (881); Urt. v. 2. 3. 2012 – V ZR 159/11, WM 2013, 232 (233); Urt. v. 7. 11. 2012 – XII ZR 41/11, NZM 2013, 148 (149). 56 Besonders deutlich wird dies in BGH, Urt. v. 24. 4. 1992 – V ZR 52/91, NJW 1992, 2088 (2088). 57 BGH, Urt. v. 6. 5. 1993 – I ZR 84/91, NJW‑RR 1993, 1122 (1123). 58 BGH, Beschl. v. 5. 7. 2005 – VII ZB 16/05, NJW‑RR 2005, 1716 (171). 59 RG, Urt. v. 31. 3. 1885, II 530/84, RGZ 13, 369 (371 f.), wobei das Reichsgericht hier insb. die „bei dem Gericht“ fehlende Offenkundigkeit verneinte. 60 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 144.
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§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
„per se“ allgemeinkundig sind.61 Diese Frage wird vor allem im Rahmen des § 727 ZPO, der wie § 291 ZPO auf offenkundige Tatsachen Bezug nimmt, kontrovers diskutiert (und bislang von der Instanzenrechtsprechung wohl noch überwiegend verneint).62 Der Offenkundigkeitsbegriff des § 727 ZPO ist allerdings aufgrund seiner spezifischen Funktion im Klauselverfahren als Ersatz bestimmter öffentlicher oder öffentlich beglaubigter Urkunden nicht zwingend identisch mit demjenigen des § 291 ZPO63 und kann im Rahmen dieser Arbeit nicht vertieft untersucht werden.
4. Vergleich mit historischer Definition a) Identität des historischen Verständnisses mit der heutigen Kategorie des Bekannten? Die eigenständige Kategorie des Ermittelbaren wird für eine zeitgemäße Ergänzung des Allgemeinkundigen gehalten, während man früher „nur das in den Köpfen der Menschen vorhandene Wissen“ im Sinne der ersten Kategorie der heutigen Definition als allgemeinkundig angesehen habe.64 Dabei sei insbesondere Stein von der falschen Grundannahme einer „überschaubaren und für jedermann identischen Lebenswirklichkeit“ ausgegangen, die es schon im 19. Jahrhundert und erst recht Ende des 20. Jahrhunderts nicht gegeben habe.65 61
BGH, Beschl. v. 8. 11. 2012 – V ZB 124/12, BGHZ 195, 292 = NZG 2013, 33 (34). nur die zahlreichen Nachweise bei BGH, Beschl. v. 8. 11. 2012 – V ZB 124/12, BGHZ 195, 292 = NZG 2013, 33 (34). Vor allem das LG Bonn hat insoweit sehr gute Argumente sowohl gegen (Beschl. v. 9. 11. 2009 – 6 T 63/09, juris; siehe auch OLG Naumburg, Beschl. v. 14. 12. 2011 – 10 W 74/11, NJW‑RR 2012, 638 (638)) als auch für (Beschl. v. 7. 11. 2014 – 6 T 308/14, RNotZ 2015, 368) eine Offenkundigkeit vorgebracht. Für eine gesetzliche Klarstellung der Offenkundigkeit von Informationen aus öffentlichen Registern jüngst Salten, MDR 2018, 4 (7 f.). 63 Vgl. LG Bonn, Beschl. v. 7. 11. 2014 – 6 T 308/14, RNotZ 2015, 368 (371); BeckOK‑ ZPO/Ulrici, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 726 Rn. 16.1, § 727 Rn. 24; MüKo-ZPO/Wolfsteiner, 5. Aufl. 2016, § 726 Rn. 59, § 727 Rn. 51. Nach Ansicht Wolfsteiners muss die Offenkundigkeit im Sinne einer allgemeinen Zugänglichkeit aus Schuldnerschutzgründen gerade für den Schuldner vorliegen, wohingegen eine Offenkundigkeit „bei dem Gericht“ weniger relevant sei. Dabei wird jedoch nicht hinreichend berücksichtigt, dass nicht nur der Schuldner davor zu schützen ist, ohne angemessenen Nachweis der Vollstreckung des neuen Gläubigers ausgesetzt zu sein, sondern auch das Interesse des ursprünglichen Gläubigers zu wahren ist, seinen Vollstreckungstitel nicht auf unzureichender Tatsachenbasis entzogen zu bekommen, vgl. Brox/ Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, Rn. 116. Walker (ebd.) nimmt einen Gleichlauf der Offenkundigkeit mit § 291 ZPO an, ebenso Schuschke/Walker/Schuschke, ZPO, § 726 Rn. 10, § 727 Rn. 32. Wieder andere verstehen unter Offenkundigkeit i. S. d. § 727 ZPO ausdrücklich nur die Gerichtskundigkeit und gerade nicht die Allgemeinkundigkeit, siehe z. B. MüKo-ZPO/ Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 11; Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 10; Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 1; wohl auch Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 4. 64 Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 68. 65 Buschhorn, Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren, S. 42. 62 Siehe
II. Kategorien des Bekannten und des Ermittelbaren
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Die Gleichsetzung des historischen Verständnisses mit der heutigen Kategorie des Bekannten im Sinne eines jedermann präsenten Wissens wird jedoch der durchaus differenzierten Betrachtungsweise der damaligen Zeit, die insbesondere bei Stein und Spiegelberg zum Ausdruck kommt, nicht gerecht. Zum einen ist eine auf bestimmte Gemeinschaften (mit durchaus unterschiedlichen „Lebenswirklichkeiten“) beschränkte Allgemeinkundigkeit seit jeher anerkannt.66 Zum anderen setzte die Bestimmung anhand des allgemein Verbreiteten entgegen der Annahme Grauls nur begrenzt voraus, dass ein Wissen tatsächlich „in den Köpfen der Menschen vorhanden“ ist. Aus gutem Grund sprachen Stein und Spiegelberg nicht primär von „Bekanntheit“, sondern vorrangig von „Verbreitung“. Auch das Reichsgericht nannte die Verbreitung der Tatsache durch die Presse als typisches Beispiel der Allgemeinkundigkeit.67 Den Begriff der Verbreitung verwendete das Reichsgericht dabei zwar gleichbedeutend damit, dass die Tatsachen „zur allgemeinen Kenntnis gekommen“ seien.68 Das erinnert zunächst durchaus an die bestehende „verbreitete Kenntnis“, mit der zum Beispiel Greger die heutige Kategorie des Bekannten beschreibt.69 Denn natürlich ist Voraussetzung dafür, dass eine (weitere) Verbreitung stattfinden kann, dass jedenfalls eine gewisse Anzahl an Menschen die Tatsache bereits kennt und weitere Menschen die Tatsache aufgrund ihrer Verbreitung zur Kenntnis nehmen. Da eine Bezifferung dieser Anzahl (und erst recht der Blick in die „Köpfe der Menschen“) aber schon damals nicht möglich war, stand vor allem bei Stein und Spiegelberg weniger der Zustand der verbreiteten Kenntnis im Vordergrund als das fortwährende Verbreitetwerden selbst: Entscheidend war, dass die Tatsache durch Überlieferung – mittels verschiedener Quellen oder persönlicher Gespräche – verbreitet wird.70 Demnach kommt es nicht darauf an, in wie vielen Köpfen die Tatsache tatsächlich als präsentes Wissen gespeichert bleibt: Wer das, was allgemein verbreitet wird, nicht mitbekommen hat oder sich nicht mehr erinnert, kann ohne Weiteres in den Quellen der Verbreitung nachschlagen.71 Bei genauer Betrachtung ähnelt die Kategorie der Verbreitung damit nicht allein der heutigen Kategorie des Bekannten, sondern auch derjenigen des Ermittelbaren – mit einem bedeutenden Unterschied in der Rolle der Wissensquellen, der im Folgenden erläutert wird.
66 67
Siehe § 3 II.1. RG, Urt. v. 31. 5. 1921 – VI 72/21, RGZ 102, 339 (344). 68 RG, Urt. v. 31. 5. 1921 – VI 72/21, RGZ 102, 339 (343). 69 Greger, in: FS Stürner, 289 (292). 70 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 143 ff.; Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 79. 71 Die umstrittene Frage war nur, ob das auch für den Richter gilt, siehe dazu § 3 IV.
72
§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
b) Quellen als Medium der Verbreitung in der historischen Definition Die Quellen der Allgemeinkundigkeit haben auch früher Erwähnung gefunden. Schon das Reichsgericht bezog sich auf die Verbreitung durch die Presse,72 die auch für Stein die „allerwichtigste Quelle“ vor amtlichen Bekanntmachungen und der Geschichtswissenschaft darstellte.73 Dabei dienten die Quellen in ihrer Gesamtheit aber allein der allgemeinen Verbreitung. Jede einzelne Quelle war hingegen ausdrücklich „unerheblich“: „Der Einzelne, der die Thatsache […] in Folge ihrer allgemeinen Verbreitung weiss, wird fungible Person: […] die allgemeine Verbreitung, die es uns regelmäßig unmöglich macht uns zu erinnern, wo wir etwa die Thatsache zuerst gehört oder gelesen haben, lässt die Wissensquelle im Gegensatz zu den nicht-allgemeinbekannten Thatsachen als unerheblich erscheinen.“74
Es ist somit charakteristisch für allgemeinkundige Tatsachen im historischen Sinn, dass sie so weit verbreitet werden, dass sich die Personen, die sie kennen, regelmäßig nicht daran erinnern, in welcher Quelle sie zuerst davon gelesen oder gehört haben.75 Wer kann sich schon daran erinnern, wo er zum ersten Mal gelesen oder gehört hat, dass Deutschland an Österreich grenzt? Es spielt auch keine Rolle, da das Risiko, einer unzuverlässigen Quelle aufgesessen zu sein, durch die allgemeine und unwidersprochene Verbreitung und die dadurch indizierte Gewissheit vieler ausgeglichen wird.76 Die Qualität der einzelnen Quelle hatte also keinerlei eigene Relevanz für die Bestimmung der Allgemeinkundigkeit. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Stein nicht etwa bestimmte Nachschlagewerke, deren Zugänglichkeit und Zuverlässigkeit nachprüfbar wären, sondern ganz abstrakt „die Geschichtswissenschaft“ als Quelle nennt.77 Es kam schlicht nicht darauf an, ob die einzelne Quelle allgemein zugänglich und zuverlässig war, wenn die Tatsache nur ohne ernstlichen Widerspruch allgemein, also in der Regel durch unbestimmt viele Quellen verbreitet wurde. Unter diesen war die eine oder andere „unzuverlässige“ unschädlich.
c) (Qualität der) Quelle als Tatbestandsmerkmal in der heutigen Definition Im Gegensatz zu Steins Frage, mittels welcher Quellen eine Tatsache typischerweise verbreitet wird, wird heute gefragt, wie eine Quelle beschaffen sein muss, damit die in ihr enthaltene Tatsache als allgemeinkundig angesehen werden 72 73
RG, Urt. v. 31. 5. 1921 – VI 72/21, RGZ 102, 339 (344). Stein, Das private Wissen des Richters, S. 144 f. 74 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 148 (Hervorhebungen im Original). 75 Diesen Aspekt betont auch für die Kategorie des Bekannten in der modernen Definition Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 124. 76 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 148; Schmidt-Hieber, Richtermacht und Parteiherrschaft über offenkundige Tatsachen, S. 15. 77 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 144.
II. Kategorien des Bekannten und des Ermittelbaren
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kann. Diese Frage ist eine andere: Der Unterschied liegt darin, dass die Allgemeinkundigkeit – in der Variante der Ermittelbarkeit – nach dem heutigen (isolierten) Verständnis aus der Quelle selbst entstehen soll, wenn diese bestimmte Eigenschaften erfüllt: „Voraussetzung ist insb[esondere] eine im Einzelfall zu beurteilende Zuverlässigkeit der Quelle […].“78 In der quellenbestimmten Definition wird die Qualität der Quelle somit zum Tatbestandsmerkmal der Allgemeinkundigkeit. Wenngleich die Quellen auch in den bundesgerichtlichen Definitionen im Plural genannt werden, erfolgt die Subsumtion naturgemäß nur für die jeweils konkret genutzte Quelle. Wenn diese allgemein zugänglich und zuverlässig ist, wird die Allgemeinkundigkeit der Tatsache bejaht.79 So hat das Arbeitsgericht Siegen die Offenkundigkeit „auch“ als Rechtsfrage bezeichnet, da zu ihrer Prüfung gehöre, ob die als allgemeinkundig verwertete Tatsache „tatsächlich aus einer allgemein zugänglichen, zuverlässigen Quelle gewonnen wurde.“80 Entsprechend stehe es den Parteien frei, die Allgemeinkundigkeit und den Beweisentfall „unter Hinweis auf die Unzuverlässigkeit oder mangelnde Zugänglichkeit der verwendeten Quelle“ in Frage zu stellen.81 Auch Greger und Bacher betonen die Möglichkeit der Parteien, die Zuverlässigkeit der Quelle zu erschüttern bzw. zu widerlegen, aus der das Gericht seine Kenntnisse bezogen habe.82 Und Graul hat sogar den Großteil ihrer Habilitationsschrift umfassenden Erhebungen bei verschiedenen Verlagen und Bibliotheken
78 Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3 (Hervorhebung durch Verf.). 79 Zur Bestimmung der Kriterien der „allgemeinen Zugänglichkeit“ und „Zuverlässigkeit“
(insb. bei Internetquellen) siehe noch § 4 IV. 1. 80 ArbG Siegen, Beschl. v. 3. 3. 2006 – 3 Ca 1722/05, MMR 2006, 836 (837). Ob eine Tatsache i. S. d. § 291 offenkundig ist, ist an sich nicht Rechts-, sondern Tatfrage. Die richtige Anwendung des Begriffs der Offenkundigkeit und des § 291 im Ganzen sind aber (revisible) Rechtsfragen, siehe dazu Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 5, 22; Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 7; Thomas/Putzo/ Reichold, ZPO, 39. Aufl. 2018, § 291 Rn. 5; implizit auch BGH, Urt. v. 29. 3. 1990 – I ZR 74/88, NJW‑RR 1990, 1376 (1376). 81 ArbG Siegen, Beschl. v. 3. 3. 2006 – 3 Ca 1722/05, MMR 2006, 836 (837). 82 Greger, in: FS Stürner, 289 (295): Erschütterung der Offenkundigkeit durch Bestreiten der Zuverlässigkeit der Quelle; BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 8: „Beweis von Umständen […], die die Quelle, aus der das Gericht seine Kenntnisse bezogen hat, als unzuverlässig erscheinen lassen.“ Daneben hält die (überzeugende) h. M. auch den Gegenbeweis hinsichtlich der Tatsache selbst für zulässig, BGH, Urt. v. 29. 3. 1990 – I ZR 74/88, NJW‑RR 1990, 1376 (1376); Urt. v. 2. 10. 2003 – I ZR 150/01, BGHZ 156, 250 = NJW 2004, 1163 (1164); Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 17; MüKoZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 19; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 5; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 7; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 39. Aufl. 2018, § 291 Rn. 3; Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 415. Greger, in: FS Stürner, 289 (295) will hingegen nur eine Erschütterung der Offenkundigkeit erlauben, da § 291 ZPO offenkundige Tatsachen vollständig dem Beweisverfahren entziehen wolle; gegen die Zulässigkeit eines Gegenbeweises auch Pantle, MDR 1993, 1166 (1168).
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§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
gewidmet, um die allgemeine Zugänglichkeit archivierter Zeitungen etc. zu erfragen und auszuwerten.83 Vereinzelt ist verlangt worden, auch die Quellen von bereits vorhandenem Wissen im Sinne des Bekannten müssten als zuverlässig nachprüfbar sein.84 Hiegert hat hingegen herausgearbeitet, dass auch in der heute herrschenden Definition die Zuverlässigkeit einer Quelle nur für das Ermittelbare, jedoch nicht für das Bekannte von Bedeutung sein kann.85 Graul will dies wiederum wegen der „Natur der Sache“ dahingehend einschränken, dass bei Tatsachen der ersten Kategorie, „die der Allgemeinheit bekannt sind, weil über sie in Zeitungen und Zeitschriften berichtet wurde“, die Zuverlässigkeit der letzteren doch wieder entscheidend sein soll.86 Dies wirft die Frage auf, wo die Grenze zwischen dem Bekannten und dem Ermittelbaren verläuft.87 Und wie stellt man fest, warum eine Tatsache „der Allgemeinheit“ bekannt ist, wenn sich in der Regel schon jeder Einzelne nicht daran erinnern kann, woher er sie kennt? Es zeigt sich also, dass die einzelne Quelle, die historisch kaum Bedeutung hatte, eine erhebliche Aufwertung erfahren hat.
5. Auswirkung des isolierten Verständnisses auf die Rolle richterlicher Ermittlungen Die Aufwertung der Quellen zu Tatbestandsmerkmalen hat eher unauffällig zu einer mindestens ebenso bedeutenden Veränderung der Rolle richterlicher Ermittlungen geführt, die im Folgenden erläutert wird.
a) Allgemeinkundigkeit als Voraussetzung richterlicher Selbstinformation Unter der historischen Bestimmung der Allgemeinkundigkeit anhand der allgemeinen Verbreitung kam eine informelle Selbstinformation des Gerichts von vornherein nur für Tatsachen in Betracht, die ein durchschnittlich interessierter Mensch in der Regel ohnehin, z. B. durch Gespräche mit anderen Menschen oder Zeitungslektüre, mitbekam und allenfalls „verpasst“ oder wieder vergessen haben konnte. Formulierungen wie die des Reichsgerichts, allgemeinkundige Tatsachen seien nur solche, die „[…] als jedem und deshalb auch bei Gericht offenkundig bezeichnet werden können“88, veranschaulichen, dass davon ausgegangen wurde, dass im Regelfall der interessierte und gebildete Richter die „allgemeine“ Kenntnis ohnehin teilte. Hatte er im Einzelfall nicht präsent, 83 84
Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess. Buschhorn, Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren,
S. 52 f. 85 Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 124. 86 Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 52. 87 Siehe zu diesem Abgrenzungsproblem auch noch § 7 IV. 1.e). 88 RG, Urt. v. 15. 11. 1887 – 2410/87, RGSt 16, 327 (330).
II. Kategorien des Bekannten und des Ermittelbaren
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wann z. B. ein historisches Geschehen wie die Kolonisierung eines bestimmten Gebiets stattgefunden hatte, das in jedem Geschichtslexikon verbreitet wurde, durfte er sich – nach dennoch nicht unumstrittener Ansicht – darüber formlos informieren.89 Soweit diese Selbstinformation für unbedenklich gehalten wurde, lag dies daran, dass sie sich stets auf Tatsachen bezog, deren – mit der Allgemeinheit geteilte – Kenntnis der Richter ebenso gut aus seinem Privatleben mitbringen und deshalb als Ausnahme vom Verbot des privaten Wissens verwerten könnte. Was er wissen durfte, sollte er auch nachschlagen dürfen – oder gar müssen, da es ganz „undenkbar“ sei, dass der Richter einen Beweis über die „jedem Kind bekannten Ortsverhältnisse“ verlange, nur weil er etwa neu zugezogen sei. Die „zufällige“ Unkenntnis des Richters sollte an der Rechtsfolge nichts ändern.90 Auf diesem Gedanken der allgemeinen Verbreitung oder Bekanntheit als Voraussetzung richterlicher Ermittlungen fußt auch das dargestellte Urteil des Bundesgerichtshofs, in dem er die private Beobachtung der „in diesen Breiten“ an einem bestimmten Datum „allgemein“ herrschenden Lichtverhältnisse durch die Richter der Vorinstanz billigte.91
b) Allgemeinkundigkeit als Ergebnis richterlicher Recherche Durch die Kategorie des Ermittelbaren als Teil der Definition der Allgemeinkundigkeit werden Voraussetzung und Ergebnis hingegen umgekehrt: Denn aus der Definition der Allgemeinkundigkeit anhand der Ermittelbarkeit aus qualifizierten Quellen folgt scheinbar ganz „logisch“, dass die allgemeinkundige Tatsache von vornherein auch dem Gericht nicht mehr vorprozessual bekannt sein muss, sondern sich die Allgemeinkundigkeit in vielen Fällen erst aus dessen Ermittlungen in qualifizierten Quellen ergibt. So wird formuliert, allgemeinkundig seien Tatsachen, „die das Gericht aus Nachschlagewerken, allgemein zugänglicher Fachliteratur oder Archiven erst ermittelt.“92 Für den Index der Lebenshaltungskosten als Standardbeispiel allgemeinkundiger Tatsachen ist die – für den Bundesgerichtshof insoweit selbstverständliche93 – Feststellung durch das Gericht aus qualifizierten Quellen für die Annahme der Allgemeinkundigkeit geradezu zwingend, da es diesen kaum einmal vorprozessual kennen wird. Besonders prägnant hat die Ermittelbarkeit durch das Gericht das Landgericht Bonn zum Ausdruck gebracht: Für die Allgemeinkundigkeit einer Tatsache sei ausreichend, dass man sich aus einer allgemein zugänglichen und 89 90
RG, Urt. v. 6. 2. 1908, IV 278/07, WarnRsp 1 (1908) Nr. 408. Wach, Vorträge über die Reichs-Civilprocessordnung, S. 209. 91 BGH, Urt. v. 10. 5. 2007 – III ZR 115/06, NJW 2007, 3211 (3211); siehe dazu bereits ausführlich § 4 II.2. 92 Oberheim, JuS 1996, 636 (638). 93 BGH, Urt. v. 24. 4. 1992 – V ZR 52/91, NJW 1992, 2088 (2088 f.).
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zuverlässigen Quelle ohne besondere Fachkenntnis über die Tatsache sicher unterrichten könne. „Das gilt auch für das Gericht.“94 Während also früher die Allgemeinkundigkeit Voraussetzung einer etwaigen Selbstinformation des Gerichts war, führt die heutige quellenbestimmte Definition dazu, dass die Allgemeinkundigkeit in vielen Fällen erst das Ergebnis einer gerichtlichen Recherche ist. Eine Tatsache ist überhaupt erst allgemeinkundig, weil jedermann und deshalb auch das Gericht sie aus qualifizierten Quellen ermitteln kann.
6. Wesens- und Funktionsveränderung: Vereinfachtes Beweisverfahren Im Vergleich zu früher bedeutet das nicht weniger als eine Veränderung des „Wesen[s] der Offenkundigkeit“, das, wie in § 3 der Arbeit dargestellt, gerade in der vorprozessualen Überzeugung des Gerichts gesehen wurde.95 Auf diese kommt es in der quellenbestimmten Definition nicht nur in umstrittenen Ausnahmen, sondern bereits per definitionem nicht mehr an: Aus der im Wortlaut des § 291 ZPO beschriebenen Offenkundigkeit „bei dem Gericht“ wird die Ermittelbarkeit durch das Gericht. Greger betont insoweit im Anschluss an Walter96, dass es sich bei der quellenbestimmten Definition letztlich um ein „vereinfachtes Beweisverfahren“ handle: Wenn das Gericht mit Hilfe einer allgemein leicht zugänglichen, zuverlässigen Informationsquelle die Richtigkeit einer Behauptung feststellen könne, dürfe es aus Gründen der Prozessökonomie von einer förmlichen Beweisaufnahme absehen und habe die Parteien lediglich darauf hinzuweisen.97 Nach Grunsky lässt die allgemeine Zugänglichkeit der Erkenntnisquelle es überflüssig erscheinen, „das umständliche Beweisverfahren zur Ermittlung dieser Tatsachen zu benutzen.“98 Und nach Graul soll das „vereinfachte“ Beweisverfahren jedenfalls im Strafverfahren selbst dann gelten, wenn die richterlichen Ermittlungen ebenfalls äußerst umständlich sind: Ein Gericht, das „sich der Mühe des […] Rechercheaufwands unterziehen will“, bei Verlagen anzufragen, ob diese „in der Lage und bereit sind, für jedermann den gewünschten Artikel […] herauszusuchen“, und diesen Artikel dann mit mindestens zwei weiteren 94 LG Bonn, Beschl. v. 7. 11. 2014 – 6 T 308/14, RNotZ 2015, 368 (371); ebenso MüKoZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 5. 95 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 163. 96 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 274. 97 Greger, in: FS Stürner, 289 (295); ähnlich Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 133, für § 244 Abs. 3 S. 2 StPO: keine „Beweisaufnahme im eigentlichen Sinn“. 98 Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 418; diesem folgend AK‑ZPO/Rüßmann, § 291 Rn. 2; dazu, dass Grunsky – lange vor Existenz des Internets – davon ausging, dass es sich um Tatsachen handelt, „die mehr oder weniger jeder kennt“, siehe bereits oben 1.d).
III. Gängige Praxis richterlicher Internetrecherchen
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auf eben solche Weise erlangten Artikeln abzugleichen, dürfe dies auch tun und die gefundenen Ergebnisse als allgemeinkundig verwerten.99 Damit ist zugleich nicht nur eine Wesens-, sondern auch eine Funktionsänderung beschrieben: Die beweisrechtliche Funktion des § 291 ZPO liegt in der quellenbestimmten Definition nicht mehr primär in der Legitimierung der Verwertung vorhandenen Wissens des Richters, sondern der Ermittlung neuen Wissens im Wege eines „vereinfachten“ Beweisverfahrens. Diese Unterschiede mögen sich in den Jahrzehnten nach der Entstehung der quellenbestimmten Definition praktisch nur selten ausgewirkt haben. Als eines der wenigen Beispiele, in denen sich ein Gericht (außerhalb des Bereichs der genannten Indizes etc.) die Mühe der Ermittlung aus physischen qualifizierten Quellen gemacht hat, kann ein Urteil des Oberlandesgerichts München genannt werden, das im Jahr 1985 aufgrund von Zeitungsausschnitten sowie Einträgen in den renommierten Enzyklopädien Brockhaus und Meyer für allgemeinkundig hielt, dass Leni Riefenstahl den Film „Olympiade 1936 in Berlin“ maßgeblich künstlerisch gestaltet hat100 – eine Tatsache, die zu jener Zeit durchaus noch vielen Menschen bekannt gewesen sein dürfte und die nicht nur singulär, sondern allgemein verbreitet wurde, so dass es auf die Qualität der einzelnen Quelle kaum ankam.101 Seit dem Einzug des Internets in deutsche Richterzimmer kommen die Konsequenzen einer Entkopplung des Ermittelbaren vom Bekannten hingegen immer häufiger und deutlicher zum Vorschein. Dies wird im Folgenden veranschaulicht.
III. Gängige Praxis richterlicher Internetrecherchen 1. Zurückhaltung des Bundesgerichtshofs Mit der Rolle des Internets haben sich die Bundesgerichte bei Schaffung der heutigen Allgemeinkundigkeitsdefinitionen in den 1950er Jahren naturgemäß nicht befasst. Aber auch in jüngerer Zeit wird dem Bundesgerichtshof auf diesem Gebiet zu Recht „vornehme Zurückhaltung“102 bescheinigt. Dass er zumindest bestimmte (namentlich amtliche103) Internetseiten als allgemein zugängliche und zuverlässige Quellen im Sinne seiner Definition 99
Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 78 ff.
100 OLG München, Urt. v. 27. 6. 1985 – 29 U 1552/85, ZUM 1985, 514 (515). 101 Anders schon eher in einem Strafverfahren, in dem der BGH die Schusszahl
eines bestimmten Revolvertyps aus einem „allgemein zugänglichen“ Waffenherstellerprospekt feststellte, Urt. v. 20. 09. 1989 – 2 StR 251/89, NStZ 1990, 77 (78). 102 Bachmeier, DAR 2012, 557 (557). 103 Siehe dazu noch § 5 III.5.
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§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
ansieht, zeigt sich jedoch daran, dass er im Hinblick auf den regelmäßig als allgemeinkundig angenommenen Preisindex für Lebenshaltungskosten neben den klassischen „physischen“ Quellen in jüngerer Zeit auch auf die Homepage des Statistischen Bundesamts verwiesen hat.104 Darüber hinaus hat er die Allgemeinkundigkeit der Tatsache, dass ein bestimmter Insolvenzverwalter sein Amt weiterhin ausübe, insbesondere mit der Begründung verneint, dass sich dies – im Gegensatz zu seiner Bestellung – nicht aus den im Insolvenzverfahren vorzunehmenden öffentlichen Bekanntmachungen auf der Website www. insolvenzbekanntmachungen.de ergebe.105 Eine gute Gelegenheit zur Äußerung hätte sich dem Bundesgerichtshof bei der Befassung mit dem „Thor Steinar“-Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg geboten, in dem dieses aus „öffentlich zugänglichen Quellen“, insbesondere einem Wikipedia-Artikel, als allgemeinkundig unterstellte, „dass bereits vor dem 1. 6. 2007 Presseberichterstattung existierte, die die Marke X mit Rechtsextremismus in Verbindung brachte.“106 Der Bundesgerichtshof äußerte sich nicht zu dieser Einschätzung, sondern löste die Konstellation mit einem knappen Hinweis darauf, dass die „Waren der Marke ‚Thor Steinar‘ […] unstreitig in der öffentlichen Meinung ausschließlich der rechtsradikalen Szene zugeordnet werden.“107 Auf eine Allgemeinkundigkeit kam es angesichts der Unstreitigkeit nicht mehr an.108
2. „Allgemeinkundige“ Ergebnisse der Internetrecherchen anderer Gerichte In der übrigen gesichteten Rechtsprechung hat das Internet die Tragweite der quellenbestimmten Definition und ihres Verständnisses als vereinfachtes Beweisverfahren hingegen umso deutlicher zum Vorschein gebracht. Als allgemeinkundig wird das verstanden, was das Gericht aus allgemein zugänglichen und zuverlässigen Internetquellen ermitteln kann: So hat es das Bundesarbeitsgericht für allgemeinkundig gehalten, dass ein Unternehmen in einem bestimmten Zeitraum mehreren Arbeitnehmern gleichartige Prämien zugesagt habe, da die „[…] einschlägigen Entscheidungen, insbesondere des LAG München, […] über eine Recherche mit Hilfe allgemein gebräuchlicher Suchmaschinen oder direkt auf der Homepage des LAG München ohne Weiteres ermittelt werden“ können.109 104
BGH, Beschl. v. 10. 12. 2004 – IXa ZB 73/04, NJW‑RR 2005, 366 (366). BGH, Beschl. v. 5. 7. 2005 – VII ZB 16/05, NJW‑RR 2005, 1716 (171). OLG Naumburg, Urt. v. 28. 10. 2008 – 9 U 39/08, NZM 2009, 128. 107 BGH, Urt. v. 11. 8. 2010 – XII ZR 192/08, NJW 2010, 3362 (3362). 108 Zum Verhältnis von Allgemeinkundigkeit und Unstreitigkeit siehe noch § 7 IV. 1.f). 109 BAG, Urt. v. 12. 9. 2013 – 6 AZR 953/11, NZA‑RR 2014, 29 (30); Allgemeinkundigkeit durch Veröffentlichung einer gerichtlichen Entscheidung hat auch das AG Hamburg-Altona, 105 106
III. Gängige Praxis richterlicher Internetrecherchen
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Das Landgericht Nürnberg-Fürth stellte aufgrund einer Internetrecherche als allgemeinkundig fest, dass die Beklagte des Verfahrens „bundesweit über 820 Tankstellen […] mit alleine drei Waschanlagen im Raum Nürnberg […] betreibt“.110 Verschiedene online abrufbare Allgemeine Beförderungs- oder Geschäftsbedingungen haben das Oberlandesgericht Karlsruhe und das Landgericht Bonn ihren Entscheidungen als allgemeinkundig zugrunde gelegt.111 Das Landgericht Bonn erstreckte dies auch auf die während der Registrierung bei einem E‑Mail-Provider angezeigten Hinweise.112 In einem Verfahren vor dem Oberlandesgericht Frankfurt hatte eine Partei zur Widerlegung eines Sachverständigengutachtens einen bestimmten Bauplattentyp bezeichnet. Das Oberlandesgericht hielt die Tatsache, dass es sich bei der benannten Bauplatte „nicht um eine Holzwerkstoffplatte, sondern um eine Brandschutzplatte aus dem Mineralstoff Vermiculit“ handle, für allgemeinkundig, da dies „der Internet-Seite der Herstellerin A zu entnehmen“ sei.113 In ähnlicher Weise stellte das Oberlandesgericht München die (exakte) Fahrzeuglänge eines Peugeot 307 als allgemeinkundig fest – anders als das Oberlandesgericht Frankfurt hatte es die Angaben allerdings nicht auf der Herstellerseite, sondern bei Wikipedia recherchiert.114 Das Oberlandesgericht Köln führte in einer Kennzeichenstreitsache, in der es um die Bekanntheit des Buchtitels „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling ging, informelle Internetrecherchen durch und hielt aufgrund der auf Wikipedia und Amazon gefundenen Ergebnisse für allgemeinkundig, dass es sich um „das erfolgreichste deutsche Sachbuch seit C. W. Cerams ‚Götter, Gräber und Gelehrte‘“ und zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung um den „Bestseller Nr. 1 Reiseberichte Europäische Länder“ der Amazon-Bestsellerliste handle.115 Ebenfalls das Oberlandesgericht Köln legte einer Schadensschätzung wegen des Verlusts verschiedener Gegenstände Online-Verkaufsangebote zu „vergleichbaren“ Gegenständen als allgemeinkundige Tatsachen i. S. d. § 291 ZPO zugrunde, „[…] die als Ergebnis einer Internetrecherche des Gerichts ermittelt Beschl. v. 29. 7. 2016 – 321 M 312/16, Rn. 10, juris, angenommen. Auch BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 6.1. geht davon aus, dass „Urteile, die in Fachzeitschriften, Datenbanken oder sonstigen Internetseiten veröffentlicht sind“, allgemeinkundig sind. 110 LG Nürnberg-Fürth, Urt. v. 18. 5. 2017 – 2 O 8988/16, Rn. 28, juris. 111 OLG Karlsruhe, Urt. v. 25. 5. 2009 – 1 U 261/08, NZV 2011, 141 (142); LG Bonn, Urt. v. 7. 8. 2001 – 2 O 450/00, MMR 2002, 255 (256 f.). 112 Siehe dazu noch ausführlich § 7 IV. 3.c). 113 OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 11. 3. 2008 – 10 U 118/07, NJW‑RR 2008, 1194 (1195). 114 OLG München, Urt. v. 10. 7. 2009 – 10 U 5609/08, Rn. 8, juris. 115 OLG Köln, Urt. v. 5. 12. 2014 – 6 U 100/14, GRUR‑RR 2015, 292 (295). Der „Erfolg“ des Buchs kann zwar schwerlich als singulär wahrnehmbare Tatsache angesehen werden (vgl. dazu noch die Ausführungen des BGH zur „Bekanntheit“ einer Marke unter 3.c)); dem Kontext nach waren hier aber wohl die den Erfolg begründenden Verkaufszahlen gemeint.
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§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
wurden.“116 Das Oberlandesgericht Düsseldorf nutzte das Internet, um die „offenkundige“ Preisspanne „von mehr als 3300 Euro bis ca. 4500 Euro“ von Generatoren zu ermitteln.117 Das Oberlandesgericht München hat hinsichtlich eines ähnlichen Vorgehens der Vorinstanz im Hinblick auf Scanner-Preise dahinstehen lassen, ob diese Recherche zulässig war.118 Das Landgericht Wiesbaden verwarf ein zur Höhe erstattungsfähiger Mietwagenkosten nach einem Verkehrsunfall in erster Instanz erstattetes Sachverständigengutachten als „unbrauchbar“ und setzte an seine Stelle eine eigene Internetrecherche auf dem Vergleichsportal billiger-mietwagen.de. Die so ermittelten aktuellen Angebote für ein sofort verfügbares „streitgegenständliches Mittelklassefahrzeug […] mit Vollkaskoversicherung mit niedriger Selbstbeteiligung und Hol- und Bringservice“ zwischen EUR 962,96 und EUR 3.081,83 legte es seinem Urteil als allgemeinkundig zugrunde.119 In einem Kündigungsschutzverfahren vor dem Arbeitsgericht Siegen stritten Arbeitgeber und Arbeitnehmer darüber, ob der Arbeitnehmer sich trotz Ablehnung seines Urlaubsantrags in Polen aufgehalten hatte oder, wie er selbst behauptete, krank zuhause in Deutschland. Dass bei einem Anruf beim Arbeitgeber eine (wohl unstreitig) polnische Nummer angezeigt wurde, sei – so der Arbeitnehmer – dadurch zustande gekommen, dass er eine polnische SIM‑Karte im Handy benutze. Der mit der Sache befasste Richter recherchierte daraufhin im Internet und teilte den Parteien mit, dass es sich nach seiner Recherche bei der angezeigten polnischen Telefonnummer um eine Festnetznummer handle.120 Einen daraufhin gestellten Befangenheitsantrag lehnte das Arbeitsgericht ab, da 116 OLG Köln, Beschl. v. 25. 5. 2016 – 1 W 6/16, NJOZ 2016, 1410 (1412). Da sich das OLG zur Rechtfertigung seiner Internetrecherchen ausdrücklich auf § 291 ZPO beruft und damit das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit besonders deutlich zum Ausdruck bringt, wird die Entscheidung hier zur Veranschaulichung der Reichweite der quellenbestimmten Definition unabhängig davon behandelt, dass es sich im konkreten Fall um ein Prozesskostenhilfeverfahren handelte, in dem teilweise auch Internetrecherchen für zulässige gerichtliche „Erhebungen“ i. S. d. § 118 Abs. 2 S. 2 ZPO gehalten werden, siehe z. B. MüKo-ZPO/Wache, 5. Aufl. 2016, § 118 Rn. 17. Andererseits wird darauf hingewiesen, dass auch die Erhebungsmöglichkeit des Gerichts nicht zur Amtsermittlung berechtige, siehe z. B. Musielak/Voit/ Fischer, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 118 Rn. 9. Zur Recherche des Gerichts noch ausführlich § 7 IV. 1.b). 117 OLG Düsseldorf, Urt. v. 19. 5. 2016 – I-16 U 72/15, NJW‑RR 2016, 1073 (1076). 118 OLG München, Beschl. v. 10. 12. 2014 – 19 U 3492/14, WM 2015, 676 (678). 119 LG Wiesbaden, Urt. v. 30. 7. 2015 – 3 S 117/14, Rn. 11, juris; ähnlich auch bereits die Vorgehensweise des AG Wolfenbüttel, Urt. v. 30. 3. 2007 – 16 C 188/05, Rn. 6, juris (ohne ausdrückliche Berufung auf § 291 ZPO) sowie zur Ermittlung der Preise für Fernwärme AG Hamburg-Altona, Urt. v. 24. 02. 2015 – 316 C 248/14, WuM 2017, 403 (404); dagegen (ohne Begründung) Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4a. Siehe zu derartigen Preisermittlungen noch § 7 III.5.b). 120 ArbG Siegen, Beschl. v. 3. 3. 2006 – 3 Ca 1722/05, MMR 2006, 836 (837). Die Anwendbarkeit von § 291 ZPO ergibt sich aus § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, da es sich bei dem
III. Gängige Praxis richterlicher Internetrecherchen
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„[…] die für die Feststellung offenkundiger Tatsachen erforderlichen Recherchen in allgemein zugänglichen, zuverlässigen Quellen […] keine Ermittlungen des Sachverhalts auf eigene Faust außerhalb einer mündlichen Verhandlung unter Ausschluss der Prozessbeteiligten“
seien. Bei der Feststellung von offenkundigen Tatsachen handle es sich wegen ihrer „Natur“ nicht um private Ermittlungsmaßnahmen. „Als eine offenkundige Tatsache aus einer allgemein zugänglichen zuverlässigen Quelle ist die aus einem Telefonbuch ermittelbare Telefonnummer anzusehen. Dies gilt ebenfalls dann, wenn sie im Internet über entsprechende Datenbanken – sei es über den Namen, sei es im Wege der Inverssuche – ermittelt werden können.“121
Das Oberlandesgericht Zweibrücken bediente sich der Internetrecherche sogar, um einen wegen richterlicher Ermittlungen außerhalb des Internets gestellten Befangenheitsantrags abzulehnen. Insoweit erklärte es für allgemeinkundig, dass „[…] sich in der Betriebsanleitung zu Fahrzeugen des Typs Mercedes Benz, Modell A‑ Klasse, ein Warnhinweis befindet, wonach bei Berührung von brennbaren Materialien wie zum Beispiel Laub, Gras oder Zweigen mit heißen Teilen der Abgasanlage Brandgefahr besteht und das Fahrzeug deshalb insbesondere nicht auf trockenen Wiesen oder abgeernteten Getreidefeldern geparkt werden solle.“
Die Allgemeinkundigkeit ergebe sich daraus, dass sich diese Information „[…] mit nur geringem Aufwand durch eine einfache Internetrecherche – mit einer gängigen ‚Suchmaschine‘ – über die Webseite von Mercedes-Benz Deutschland […] finden und abrufen“ lasse.122
Gegenbeispiele finden sich kaum.123 Nennenswert ist ein Urteil des Oberlandesgerichts Köln aus dem Jahr 2004, in dem derselbe Senat, der zehn Jahre später zur Feststellung der Bekanntheit eines Buchtitels Bestsellerplatzierungen und andere Tatsachen im Internet recherchierte und als allgemeinkundig einstufte, eine Allgemeinkundigkeit aus Internetquellen ablehnte, als es um die Staatsangehörigkeit der Mitglieder der Rockband Queen ging. Dabei subsumierte das Gericht zunächst unter die Kategorie des Bekannten und stellte fest, dass ungeachtet der außerordentlichen Berühmtheit der Band als solcher nicht angenommen werden könne, Kündigungsschutzverfahren, in dem die Recherche stattfand, um ein Urteilsverfahren gem. § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG handelte. Zur Recherche des Gerichts noch ausführlich § 7 IV. 2.b). 121 ArbG Siegen, Beschl. v. 3. 3. 2006 – 3 Ca 1722/05, MMR 2006, 836 (837). Zur Zirkelschlüssigkeit des Abstellens auf die „Natur“ allgemeinkundiger Tatsachen siehe § 5 III.4. 122 OLG Zweibrücken, Beschl. v. 13. 12. 2013 – 3 W 147/13, Rn. 6, juris. Siehe dazu noch § 4 IV. 1.a)bb) sowie § 5 III.4.c). 123 Die berechtigten Bedenken des BPatG in seinem völlig konträren, aber nicht im Erkenntnisverfahren der ZPO ergangenen und dort (soweit ersichtlich) auch nicht beachteten Beschl. v. 16. 10. 2002 – 26 W (pat) 64/00, juris werden in § 7 erörtert (siehe zum Beschl. des PatG insb. § 7 Fn. 5).
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§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
„[…] dass eine so überaus spezielle Statusfrage wie die der Staatsangehörigkeit der Bandmitglieder in Deutschland von allgemeinem Interesse und deshalb auch allgemein bekannt wäre. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass auch die Senatsmitglieder über keine entsprechenden Erkenntnisse verfügen.“
Eine – von den Klägern wohl ohne Nennung konkreter Quellen angeregte – Internetrecherche lehnte das Gericht sodann ausdrücklich ab, da es sich dabei um Amtsermittlung handeln würde.124 Damit brachte das Gericht zum Ausdruck, dass es sich zur Recherche nicht berechtigt, jedenfalls aber nicht verpflichtet sah.125 Zu diesem Fall ist allerdings hervorzuheben, dass es sich bei den Klägern um die Bandmitglieder selbst handelte. Diesen sollte ein förmlicher Nachweis ihrer Staatsangehörigkeit ohne Weiteres möglich sein. Ein Verweis auf die Allgemeinkundigkeit der eigenen Staatsangehörigkeit erscheint in der Tat ebenso fragwürdig wie das zum Beweis anstelle eines Urkundenbeweises angebotene „Sachverständigengutachten“. Ein weiterer Ausnahmefall aus jüngerer Zeit ist ein – unter anderem auf das vorgenannte Urteil des Oberlandesgerichts Köln gestütztes – Urteil des Landgerichts Berlin: Dieses sah eine Internetrecherche der Vorinstanz nach einem Arbeitsblatt des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfachs als unzulässige richterliche „Eigenrecherche“ an, da das Arbeitsblatt anders als z. B. Ereignisse der Zeitgeschichte gerade nicht allgemeinkundig sei.126 Die Begründung ist ein Paradebeispiel für das in der Praxis nur noch selten vorzufindende „einheitliche Verständnis“ im Sinne von § 4 II.1. und 2., in dem die Allgemeinkundigkeit Voraussetzung und nicht Ergebnis der Recherche ist. Zentraler Aufhebungsgrund war hier allerdings die unterbliebene Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Gesundheitsgefahr durch Legionellenkontamination des Trinkwassers.127 Wie in § 2 V. 2. und 3. dargestellt, durfte auf ein solches auch hier nicht verzichtet werden – ohne dass es auf eine Allgemeinkundigkeit des Arbeitsblattes ankäme.
3. Internetbedingter (weiterer) Wandel der Allgemeinkundigkeit a) Erhebliche Erweiterung des Allgemeinkundigen Die dargestellten Beispiele zeigen, dass der Einfluss des Internets auf der Grundlage der quellenbestimmten Definition zu einer deutlichen Erweiterung des Allgemeinkundigen geführt hat. Von keiner der in den Urteilen als allgemeinkundig eingestuften Tatsachen wird man ohne Schwierigkeiten sagen können, 124 125
III.7.
OLG Köln, Urt. v. 22. 9. 2004 – 6 U 50/04, NJW‑RR 2005, 353 (353 f.). Zur Frage einer möglichen Verpflichtung zur Recherche siehe noch unter 4. sowie § 7
126 LG Berlin, Urt. v. 4. 5. 2017 – 67 S 59/17, WuM 2017, 396 (397); (überraschenderweise) zustimmend Dötsch, IMR 2017, 302; siehe dazu noch § 4 IV. 1.b)dd). 127 Siehe dazu die Urteilsanmerkung von Selk, WuM 2017, S. 397 f.
III. Gängige Praxis richterlicher Internetrecherchen
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sie seien allgemein bekannt im Sinne der heutigen Bekanntheitskategorie oder würden allgemein verbreitet im Sinne der historischen Definition. Aus qualifizierten Quellen ermittelbar ist (nicht erst, aber besonders sichtbar) in Zeiten des Internets wesentlich mehr als das allgemein Bekannte oder Verbreitete. Das betrifft insbesondere die von Stein und Spiegelberg herausgearbeitete regelmäßige Beschränkung des historisch Allgemeinkundigen auf allgemeinere Dinge, an die sich typischerweise viele Menschen erinnern können:128 Aus qualifizierten Quellen ermittelbar sind im Gegensatz dazu, wie die Beispiele zeigen, gerade auch sehr spezifische Tatsachen wie das Material eines ganz bestimmten Bauplattentyps aus dem Angebot eines bestimmten Herstellers, die exakte Länge eines Fahrzeugs oder der genaue Preis eines mit Hilfe verschiedener Filter online konfigurierten Mietwagens.
b) Aktive Mediennutzung statt passives „Mitbekommen“ Mit der beschriebenen Erstreckung des Allgemeinkundigen über das typischerweise Erinnerungsfähige hinaus korrespondiert eine Veränderung hinsichtlich der typischen Art der Kenntniserlangung: Die quellenbestimmte Definition erweitert gerade im Zusammenspiel mit dem Internet den Fokus von dem, was „[…] ‚man‘ eben mitbekommt, wenn man sich nicht blind und taub stellt“129 (und was man bei Verpassen oder Vergessen nachschlagen kann) auf das, was man durch eine aktive Mediennutzung herausfinden kann. Die Materialeigen schaft der besagten Bauplatte, aktuelle Online-Angebote oder den genauen Inhalt einer Betriebsanleitung nimmt man in aller Regel nicht nebenbei zur Kenntnis wie den überraschenden Wahlsieg des republikanischen Präsidentschaftskandidaten in den USA, sondern ermittelt sie dann, wenn man sich gezielt dafür interessiert. Dass auch die gezielte Unterrichtung eines Einzelnen über allgemeinkundige Tatsachen aus verschiedensten Quellen stattfinden kann, war zwar auch unter der Geltung der historischen Definition selbstverständlich. Der Gedanke, dass eine Tatsache allein durch diese für jeden Einzelnen bestehende Unterrichtungsmöglichkeit allgemeinkundig werden könnte, findet sich dort jedoch nicht. Vielmehr belegt die Betonung der allgemeinen Verbreitung in Verbindung mit der Begrenzung der Allgemeinkundigkeit auf die „allgemeinen Umrisse“ eines Geschehens, dass als allgemeinkundig nur verstanden wurde, was die Menschen typischerweise mitbekommen und woran sie sich typischerweise erinnern können (ohne sich zugleich zu erinnern, aus welcher Quelle sie davon erfahren haben). Wenn diese Erinnerung im Einzelfall verblasst, kann sie aus verschiedensten Quellen aufgefrischt werden. Die ursprüngliche Kenntniserlangung des Einzelnen von allgemeinkundigen Tatsachen geschah 128 129
Siehe dazu § 3 II.3. Braun, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, S. 326.
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§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
nach dem historischen Verständnis jedoch nicht durch die aktive Suche nach Informationen aus bestimmten Quellen, sondern mehr oder weniger zufällig im Wege der allgemeinen Verbreitung. Eine solche wurde von Stein ausdrücklich nur dann bejaht, wenn sie auf eine Art und Weise geschieht, dass man es auch mitbekommt.130 Auch in dieser Entwicklung kommt die bereits angesprochene Umkehrung von Voraussetzung und Ergebnis131 zum Ausdruck: Während man früher eine Tatsache ermitteln konnte, weil sie allgemeinkundig war, ist sie heute allgemeinkundig, weil man sie ermitteln kann.
c) Bedeutungszuwachs des vereinfachten Beweisverfahrens Festzustellen ist darüber hinaus, dass die Möglichkeit der Internetrecherche vom richterlichen Arbeitsplatz aus die Bedeutung des § 291 ZPO als Grundlage eines vereinfachten Beweisverfahrens erheblich gesteigert hat. Ohne die Bequemlichkeit der Internetrecherche wäre eine Ermittlung der Prämienzahlungs gewohnheiten eines Unternehmens, der Platzierung eines Buchs auf Bestsellerlisten, der aktuellen Angebote von Händlern oder Mietwagenunternehmen oder die Beschaffenheit einer Bauplatte ungleich aufwendiger und dadurch auch nicht besonders naheliegend gewesen.132 Im Fall der Telefonnummernrecherche wird eine (nicht wie im klassischen Telefonbuch von einem Namen, sondern umgekehrt von einer Telefonnummer ausgehende) Inverssuche überhaupt erst durch das Internet ermöglicht. Die ursprüngliche Hauptfunktion des § 291 ZPO, dem Gericht die Verwertung vorhandener Kenntnisse zu erlauben, findet im Vergleich dazu immer weniger Beachtung – wenngleich sie in der Praxis durchaus noch ihre Berechtigung hat. Eine wichtige Rolle spielen vorhandene Kenntnisse der urteilenden Richter regelmäßig bei der Beurteilung der Bekanntheit einer Marke: So ist z. B. das Oberlandesgericht München mit gutem Grund von der allgemeinen und vom Gericht geteilten Bekanntheit der drei Streifen der Marke adidas ausgegangen.133 Der Bundesgerichtshof hat in diesem Zusammenhang klargestellt, dass zwar die Bekanntheit einer Marke selbst keine (potentiell allgemeinkundige) Tatsache, sondern ein Erfahrungssatz sei, da sich ihre Feststellung auf Erfahrungswissen stütze, das nicht durch Zeugenbeweis, sondern gegebenenfalls mit Hilfe eines Sachverständigen zu ermitteln sei. Das schließe jedoch nicht aus, zur Beurteilung der Bekanntheit allgemeinkundige Tatsachen zu verwerten; insbesondere könne es – wie im Fall der drei Streifen von adidas – „allgemein geläufig“ und damit allgemeinkundig sein, dass die 130 131
Siehe dazu § 3 II.2. Siehe § 4 II.5. 132 Siehe dazu bereits § 4 II.6. 133 OLG München, Urt. v. 26. 7. 2001 – 29 U 2361/97, GRUR‑RR 2001, 303 (304).
III. Gängige Praxis richterlicher Internetrecherchen
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Marke „während eines längeren Zeitraums in weitem Umfang auf dem Markt erscheint und jedermann gegenübertritt“.134 Außerhalb des Markenrechts ist aus jüngerer Zeit das Beispiel des Oberlandesgerichts Köln zu nennen, das sich auf die Allgemeinkundigkeit der im Herbst 2015 zugespitzten Flüchtlingskrise sowie der sich hieraus ergebenen politischen Auseinandersetzungen stützte.135 Das Oberlandesgericht Koblenz verwies auf eine mit der örtlichen Allgemeinheit geteilte Kenntnis von der Zerklüftung eines bestimmten Wandergebiets;136 dieser Fall ist ein gutes Beispiel für die seit jeher anerkannte örtlich beschränkte Allgemeinkundigkeit.137 Und auch die Kenntnis der erkennenden Richter von den außergewöhnlichen Wetterbedingungen im sogenannten Jahrhundertsommer des Jahres 2003 hat das Oberlandesgericht München zu Recht verwertet, ohne – wie von den Beklagten in erster Instanz beantragt – eine amtliche Auskunft des Deutschen Wetterdienstes einzuholen.138 Dass dem Gericht die Dürre des Sommers 2003, wie es selbst ausführte, „gerichtsbekannt“ war, ist indes eher unwahrscheinlich, da es die Kenntnis nicht in amtlicher Eigenschaft erlangt haben dürfte. Gemeint war wohl vielmehr eine private Erinnerung der Senatsmitglieder an die besondere Wettersituation. Da sie diese Erinnerung mit der Allgemeinheit teilten, war ihre Verwertung als allgemeinkundig zulässig.
4. Grundsätzliche Zustimmung in der Literatur In der Literatur ist die dargestellte Rechtsprechung im Grundsatz überwiegend zustimmend aufgenommen worden. Als allgemeinkundig werden auf ihrer Grundlage auch in den Kommentierungen insbesondere die „Ergebnisse einer Internetrecherche des Gerichts“139 eingestuft. 134 BGH, Urt. v. 17. 8. 2011 – I ZR 108/09, GRUR 2011, 1043 (1046); Urt. v. 31. 10. 2013 – I ZR 49/12, GRUR 2014, 378 (380). Zur Abgrenzung von Tatsachen und Erfahrungssätzen siehe § 2 V.; zur besonderen Bedeutung von offenkundigen Tatsachen einerseits, Erfahrungssätzen andererseits und ihrem Verhältnis zueinander im Marken- und Lauterkeitsrecht ausführlich Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze im Marken- und Lauterkeitsrecht. 135 OLG Köln, Beschl. v. 17. 11. 2017 – 1 W 17/17, Rn. 18, juris. 136 OLG Koblenz, Beschl. v. 19. 2. 2013 – 5 U 34/13, NJW‑RR 2013, 1108 (1109). 137 Siehe zu dieser § 3 II.1. 138 OLG München, Urt. v. 26. 6. 2012 – 13 U 4950/11, Rn. 46, juris. 139 Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3; ähnlich Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4a: „dasjenige […], was der Richter erst durch […] ein Nachschlagen in einem allgemein zugänglichen zuverlässigen Buch feststellt, zB […] in einer Datenbank“, wobei unklar bleibt, wie sich dies zu den in Rn. 5 im Rahmen der Gerichtskundigkeit abgelehnten „Privatrecherchen“ verhält; vgl. auch Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 8; BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 5; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 2; Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1; Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 3 Rn. 19; Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 405. Unerwähnt bleibt das Internet hingegen z. B. in
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§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
Auch Dötsch und Greger, deren Beiträge zu „Internet und Offenkundigkeit“ einerseits und zum „surfende[n] Richter“ andererseits bislang die einzigen standardmäßig zitierten Publikationen zum Thema sind und damit erheblichen Einfluss auf die Meinungsbildung haben dürften, halten unter der Voraussetzung ihrer allgemeinen Zugänglichkeit und Zuverlässigkeit jegliche „Internetinhalte“ für allgemeinkundig.140 Aus der quellenbestimmten Definition ergibt sich zugleich für beide auch ohne Weiteres die grundsätzliche Zulässigkeit richterlicher Internetrecherchen. So kommt Dötsch zu dem Ergebnis, dass die „Verwertung von Internetinhalten über § 291 ZPO […] bei ‚zuverlässigen‘ Quellen erlaubt“ sei und „Internetrecherchen des Gerichts im Zivilprozess im Grundsatz nichts entgegen“ stehe.141 Als Beispiel nennt der selbst praktizierende Richter unter anderem die Verwendung „automatisch erstellte[r] und für die Öffentlichkeit gedachte[r] Informationen“ wie „[…] Benutzerprofile bei Onlineauktionshäusern, um daraus etwa Erkenntnisse zum Umfang des Geschäftsbetriebes zu sammeln oder aber Angaben aus abgelaufenen Auktionen.“142
Für Greger, der den Charakter der quellenbestimmten Definition als „vereinfachtes Beweisverfahren“ betont, folgt aus § 291 ZPO zumindest, dass das Gericht mit Hilfe einer allgemein zugänglichen, zuverlässigen Internetquelle die Richtigkeit einer bestrittenen Behauptung feststellen dürfe. Lediglich in Bezug auf nicht vorgetragene Tatsachen sieht er (unter Berufung auf den Beibringungsgrundsatz) Modifizierungsbedarf.143 Allein Bachmeier vertritt – ohne weitere Begründung, aber wohl im Wege einer Wortlautargumentation, die das Verständnis der Allgemeinkundigkeit auf das allgemein Bekannte begrenzt – die gegenteilige Auffassung, dass „[…] der Inhalt des Internet, insbes. wenn es nach Ansicht des Gerichts erforderlich ist, eine Internetrecherche zu einem Problem durchzuführen, nicht allgemein bekannt sein kann.“144 der Kommentierung der Allgemeinkundigkeit von MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 5 ff., insb. in der Aufzählung „typische[r] Informationsquellen“ in Rn. 6. 140 Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018); diesem wohl folgend Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4a; Greger, in: FS Stürner, 289 (293). Zur Beschränkung (auch) der im Rahmen des § 291 ZPO relevanten „Internetinhalte“ auf Tatsachen siehe bereits § 2 V. 141 Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018); ebenso Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4. Die von Klinger sodann dennoch angemahnte „Zurückhaltung“ gilt dem Kontext der Urteilsanmerkung nach eher einem Anlesen vermeintlicher Sachkunde auf dem Gebiet der Erfahrungssätze; insoweit kann auf § 2 V. 3. verwiesen werden. 142 Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018); zustimmend Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 3 Rn. 19. 143 Greger, in: FS Stürner, 289 (292 ff.); diesem folgend Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 39. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1. Zu Gregers Differenzierung bei nicht vorgetragenen Tatsachen siehe noch § 4 IV. 2.b)bb) sowie § 7 IV. 1.c) und d). 144 Bachmeier, DAR 2012, 557 (559).
IV. Im Zusammenhang mit Internetrecherchen diskutierte Problemfelder
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Allerdings scheint Bachmeier unabhängig von § 291 ZPO umfassende Internetrecherchen des Gerichts zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung für selbstverständlich zu halten. In diesem Zusammenhang deutet er sogar eine entsprechende Verpflichtung des Gerichts an; jedenfalls seien vorbereitende Recherchen „sehr zu empfehlen“.145 Die rechtliche Begründung bleibt indes unklar: Dass § 273 ZPO allein für die Zulässigkeit informeller Internetrecherchen nichts hergibt,146 wurde bereits in § 2 IV. 2. angesprochen. Da das Gericht kaum zu unzulässigen Vorbereitungsmaßnahmen verpflichtet sein kann, lässt sich auch die Frage einer etwaigen Pflicht zur Recherche nicht ohne Rückgriff auf § 291 ZPO beantworten. Entsprechend wird die Frage einer gerichtlichen Verpflichtung andernorts nur im Zusammenhang mit § 291 ZPO gestellt – und trotz Bejahung der Zulässigkeit von Recherchen ohne weitere Begründung verneint.147 Darauf wird in § 7 III.7. noch eingegangen.
IV. Im Zusammenhang mit Internetrecherchen diskutierte Problemfelder Während über die grundsätzliche Zulässigkeit richterlicher Internetrecherchen auf der Grundlage von § 291 ZPO somit weitestgehend Einigkeit besteht, stellen sich die allgemeine Zugänglichkeit und vor allem Zuverlässigkeit von Internetquellen als zentrale Problemfelder dar. Darüber hinaus gewinnt im Zusammenhang mit Internetinformationen der alte Streit über die Verwertung allgemeinkundigen Wissens ohne Parteivortrag neue Bedeutung.
1. Allgemeine Zugänglichkeit und Zuverlässigkeit von Internetquellen a) Allgemeine Zugänglichkeit aa) Stetig wachsende Online-Verfügbarkeit von Informationen Die allgemeine Zugänglichkeit von Internetquellen ist – anders als die noch zu erörternde Zuverlässigkeit – kein prinzipielles Problem. Im Gegenteil werden das Internet als „die am einfachsten zugängliche Quelle“148 überhaupt und auch
145 Bachmeier, DAR 2012, 557 (560). 146 Ebenso Greger, in: FS Stürner, 289
(292). 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 5; Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3; in dem von Saenger in Bezug genommenen Beschluss des OLG Naumburg, Beschl. v. 14. 12. 2011 – 10 W 74/11, NJW‑RR 2012, 638 (638) wird hingegen nicht per se eine Verpflichtung des Gerichts, sondern allein die allgemeine Zugänglichkeit und damit die Allgemeinkundigkeit im konkreten Fall abgelehnt (siehe dazu noch § 4 IV. 1.a)cc)). 148 Dötsch, MDR 2011, 1017 (1017). 147 BeckOK‑ZPO/Bacher,
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§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
seine einzelnen Inhalte grundsätzlich als „[…] einer unübersehbar großen Zahl von Menschen leicht zugänglich“149 angesehen. Tatsächlich hat das Internet völlig neue Möglichkeiten der Information geschaffen. Unzählige und täglich wachsende Informationen sind online verfügbar und können – vor allem über den bequemen Weg der Nutzung von Suchmaschinen150 – von jedermann abgerufen werden. Googles erklärtes Ziel ist es, „die Informationen der Welt zu organisieren und für alle zu jeder Zeit zugänglich und nutzbar zu machen.“151 In den Worten des § 291 ZPO heißt das nicht weniger als die „Informationen der Welt“ zumindest potentiell allgemeinkundig zu machen. Dementsprechend zeigen die in § 4 III.2. dargestellten Rechtsprechungsbeispiele, dass der extrem erleichterte Zugang zu den „Informationen der Welt“ auch das Repertoire genutzter Quellen über die klassischen Quellen der Allgemeinkundigkeit wie Lexika etc. hinaus auf andere allgemein zugängliche Seiten wie Unternehmens-Websites, Vergleichsportale und andere erweitert hat. Zugangsschwierigkeiten früherer Zeiten wie die des Bundesarbeitsgerichts, das „allgemeinkundige“ Arbeits- und Sozialstatistiken „nach Wißmann, DB 1989, 1922“ zitiert und damit implizit eingestanden hat, dass die Erhebung augenscheinlich selbst für das Gericht nicht ohne Weiteres zugänglich war,152 dürften demgegenüber deutlich abnehmen.
bb) Ermittlungen aus nicht allgemein zugänglichen Quellen Zugleich soll die allgemeine Zugänglichkeit des Internets auch die Ermittlungsmöglichkeiten des Gerichts außerhalb des Internets erweitern: Graul ist bereits unabhängig vom Internet davon ausgegangen, dass das Gericht sich auch aus nicht allgemein zugänglichen Quellen informieren dürfe, wenn die jeweilige Tatsache jedenfalls auch in anderen, allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sei.153 In ähnlicher Weise hat das Oberlandesgericht Zweibrücken die private Inaugenscheinnahme einer Betriebsanleitung, die der Richter im Auto einer Kollegin gefunden hatte, für zulässig gehalten, da diese auch im Internet gefunden werden könne.154 149
Greger, in: FS Stürner, 289 (293); inhaltlich ebenso Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018).
150 Zu den damit verbundenen Problemen ausführlich § 7. 151 https://www.thinkwithgoogle.com/intl/de-de/article/die-acht-saulen-der-innovation/,
zuletzt aufgerufen am 5. 4. 2018. 152 BAG, Urt. v. 26. 2. 1992 – 5 AZR 225/91, Rn. 21, juris; ebenso Urt. v. 7. 7. 1993 – 5 AZR 609/92, Rn. 16, juris. 153 Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 72. Ähnlich hält Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 134 es für ausreichend, wenn jeder die Möglichkeit hat, andere zuverlässige Personen als die vom Gericht zu der allgemeinkundigen Tatsache angehörte zu befragen. 154 OLG Zweibrücken, Beschl. v. 13. 12. 2013 – 3 W 147/13, Rn. 6, juris; siehe dazu noch ausführlich § 5 III.4.c).
IV. Im Zusammenhang mit Internetrecherchen diskutierte Problemfelder
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cc) Registrierungs- und Kostenpflicht Dötsch und Klinger haben die Frage aufgeworfen, ob Websites, die eine – jedermann mögliche – Registrierung als Mitglied, Kunde o.ä. voraussetzen, als allgemein zugänglich angesehen werden können.155 In der Praxis kommt diesen Kriterien vor allem in Verbindung mit einer Kostenpflicht im Bereich öffentlicher Register Bedeutung zu. So hat z. B. das Landgericht Bonn die Gebühren von EUR 4,50 für den Abruf eines Handelsregisterauszugs als zumutbar angesehen, da „das Internet […] quasi ‚die Tageszeitung der heutigen Zeit‘“ sei und die Kosten in etwa dem Kauf einer solchen entsprächen.156 Die Kosten für Tageszeitungen hat Graul in ihrer umfangreichen Untersuchung zur allgemeinen Zugänglichkeit physischer Allgemeinkundigkeitsquellen für unproblematisch gehalten, da diese für die Befriedigung des Informationsbedürfnisses erforderlich seien und von der Sozialgesetzgebung abgedeckt würden.157 „Das Internet“ als Ganzes einschließlich kostenpflichtiger Angebote wie elektronische Register mit einer Tageszeitung zu vergleichen, erscheint allerdings undifferenziert: Das allgemeine Informationsbedürfnis kann ohne Weiteres durch kostenfreie Nachrichtenseiten etc. befriedigt werden. Als von der Sozialhilfe und korrespondierender Unpfändbarkeit erfasst angesehen werden deshalb nur die allgemeinen Voraussetzungen für einen Internetzugang (inklusive Computer).158 Als kostenpflichtiges Pendant zur Tageszeitung wäre in erster Linie ein Online-Abonnement der entsprechenden Zeitung zu nennen. Das Handelsregister dient hingegen spezifischen Informationszwecken im Rechtsverkehr und hat mit einer Zeitung wenig gemein. Das Oberlandesgericht Naumburg hat eine allgemeine Zugänglichkeit und damit Allgemeinkundigkeit von Handelsregisterinformationen ferner deshalb verneint, weil ihr Abruf „nur mit besonderer Fachkunde (Bedeutung der Abkürzung ‚HRB‘, Kenntnis von der Zuständigkeit des AG München und Funktionsweise des genannten Internetportals im Übrigen)“ möglich sei.159 Da es sich somit nicht um eine allgemein zugängliche Quelle handle, müsse auch ein (an sich ohne Weiteres möglicher) Abruf durch das Gericht unterbleiben.
155 Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018); Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4 (beide ohne Antwort). 156 LG Bonn, Beschl. v. 7. 11. 2014 – 6 T 308/14, RNotZ 2015, 368 (371). Wie in § 4 II.3.c) dargestellt, hat der BGH die Frage, ob Eintragungen in öffentlichen Registern generell allgemeinkundig sind, ausdrücklich offen gelassen, Beschl. v. 8. 11. 2012 – V ZB 124/12, BGHZ 195, 292 = NZG 2013, 33 (34) m. w. N. 157 Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 71 f. 158 Vgl. z. B. Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl. 2014, § 27a Rn. 20; MüKo-ZPO/Gruber, 5. Aufl. 2016, § 811 Rn. 7; in diese Richtung auch bereits Kissel, NJW 2006, 801 (802). 159 OLG Naumburg, Beschl. v. 14. 12. 2011 – 10 W 74/11, NJW‑RR 2012, 638 (638).
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§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
Nach der hier vertretenen Auffassung kommt es allerdings – sowohl für die Frage der Allgemeinkundigkeit160 als auch für den davon zu unterscheidenden Umgang mit amtlichen Informationen161 – auf eine allgemeine Zugänglichkeit nicht an, so dass diese Fragen hier offen bleiben können. Etwaige Besonderheiten der Offenkundigkeit im Rahmen des Klauselverfahrens nach § 727 ZPO können in dieser Untersuchung ohnehin nicht behandelt werden.162
b) Zuverlässigkeit aa) Zentrales Problem des Internets Während also die allgemeine Zugänglichkeit kein regelmäßiges Problem von Internetseiten ist, verhält es sich bei der Zuverlässigkeit eher umgekehrt: Diese wird (neben der Frage der Verwertung ohne Parteivortrag) als Hauptproblem richterlicher Internetrecherchen wahrgenommen.163 Das Landgericht Wiesbaden hat es in jüngerer Zeit – ganz ohne Ironie – für „allgemein bekannt“ gehalten, dass das Internet insgesamt „besonders unzuverlässig und teilweise unseriös“ ist.164 Ungeachtet dessen hat es das Internet, namentlich die Seite billiger-mietwagen.de (im selben Verfahren) zur Recherche genutzt und die Ergebnisse als allgemeinkundige Tatsachen in das Verfahren eingeführt, ohne die Zuverlässigkeit der Website im Urteil zu thematisieren.165 Der Bundesgerichtshof hat im Zusammenhang mit der Beurteilung der Erfolgsaussichten eines Wiedereinsetzungsantrags die Auffassung vertreten, dass Google Maps keine zuverlässige Quelle für die Ermittlung der Faxnummer eines Gerichts sei.166 Im Rahmen des § 291 ZPO hat er sich zu der Quellenfrage hingegen, wie in § 4 III.1. dargestellt, nicht explizit geäußert. Als per se zuverlässig werden – sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur – lediglich amtliche (Internet-)Quellen angesehen.167 Diese bleiben in der weiteren Betrachtung der Zuverlässigkeitsprobleme daher zunächst unberücksichtigt.168 160 Siehe dazu insb. § 5 III.2.a). Dazu, dass die Frage nach der allgemeinen Zugänglichkeit von Internetquellen den Blick auf die eigentlichen Risiken der Internetrecherche verstellt, siehe § 7 II. ff. 161 Siehe dazu § 5 III.5. 162 Siehe dazu bereits § 4 II.3.c). 163 Vgl. insb. Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018) sowie die weiteren Nachweise in den Fußnoten dieses Abschnitts. 164 LG Wiesbaden, Urt. v. 30. 7. 2015 – 3 S 117/14, Rn. 26, juris. 165 LG Wiesbaden, Urt. v. 30. 7. 2015 – 3 S 117/14, Rn. 16, juris; siehe zu der vom Gericht durchgeführten Recherche auch noch § 7 III.4.d). 166 BGH, Beschl. v. 4. 2. 2010 – I ZB 3/09, VersR 2011, 1543 (1544). 167 Siehe zur Rechtsprechung des BGH bereits § 4 III.1.; instruktiv auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11. 4. 2017 – I-4 U 31/17, VersR 2018, 87 (88); aus der Literatur Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4; BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 5; Greger, in: FS Stürner, 289 (293); Howe, DisputeResolution 2/2015, 19 (20 f.). 168 Zum Umgang mit amtlichen Quellen siehe noch § 5 III.5.
IV. Im Zusammenhang mit Internetrecherchen diskutierte Problemfelder
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bb) „Bekannt und bewährt“? Einen Versuch, die Zuverlässigkeit von Informationsquellen abstrakt weiter zu bestimmen, hat in den 1990er Jahren (damals noch ohne Berücksichtigung des Internets) Graul unternommen, die eine Quelle dann als zuverlässig anerkennen will, wenn und soweit diese „in der Öffentlichkeit als verläßlich bekannt und anerkannt“ ist.169 Das gelte primär für die von ihr so benannten „Markenartikel[…] der Informationsverbreitung“170 wie den Brockhaus. Auch solche verlässlichen Standardwerke können freilich einmal irren: So berichtet Pantle, der große Brockhaus von 1953 habe fälschlich vermittelt, dass das Land Bremen kein Oberlandesgericht habe.171 Es spricht für sich, dass Pantle für ein Beispiel noch 1993 auf das Jahr 1953 zurückgreifen musste. Bei einer (von Pantle übernommenen) Bestimmung der Allgemeinkundigkeit anhand der allgemeinen Verbreitung oder allgemeinen Bekanntheit führt dieser Fehler allerdings unabhängig von der Zuverlässigkeit der Quelle nicht zur Allgemeinkundigkeit, da gerade das Gegenteil allgemein bekannt war und – mit Ausnahme des irrenden Brockhaus – wohl auch allgemein verbreitet wurde. Eine an sich durchaus mögliche Allgemeinkundigkeit „unwahrer Tatsachen“ kam traditionell nur bei einem allgemeinen Irrtum in Betracht.172 Auf der Grundlage eines isolierten Verständnisses müsste man hingegen auch die irrtümliche Angabe im per se zuverlässigen Brockhaus zunächst für allgemeinkundig halten und die Parteien auf die Erschütterung der Zuverlässigkeit oder die Führung des Gegenbeweises verweisen.173 Ähnlich wie Graul hält Ahrens in Anlehnung an das Kassationsgericht Zürich für maßgeblich, dass die Quelle zum einen „über Jahre hinweg bewährt“ sei und zum anderen „soziale Anerkennung“ genieße – „der öffentliche Diskurs härtet die Zuverlässigkeit der Informationsquelle.“ Bei Internetquellen könne allerdings gerade dies fragwürdig sein.174 In der Tat erscheint eine Einstufung von bestimmten Online-Angeboten als per se zuverlässig oder unzuverlässig schwierig und jedenfalls nach den Kriterien „bekannt und bewährt“ anachronistisch in einer Zeit, in der jeden Tag neue Internetseiten entstehen, deren Inhalte im ständigen Fluss sind. Eine wichtige Rolle spielt vor allem der früher allen169 Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 65; ähnlich auch Buschhorn, Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren, S. 53. 170 Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 61. 171 Pantle, MDR 1993, 1166 (1168). 172 Zur Allgemeinkundigkeit „unwahrer Tatsachen“ siehe insb. Lipp, Das private Wissen des Richters, S. 62; Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 6; Buschhorn, Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren, S. 43. 173 Siehe dazu bereits § 4 II.4.c). 174 Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kap. 2 Rz. 24; vgl. auch Howe, DisputeResolution 2/2015, 19 (20).
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falls für Zeitungen erwähnte175, aber in der virtuellen Welt noch weitaus höhere Aktualitäts- und Exklusivitätsdruck: Nachrichten-Apps liefern den Nutzern Updates zu allen möglichen Themen nahezu in Echtzeit auf das Smartphone. Auch typisches lexikalisches Wissen schlägt man heute immer weniger in statischen Werken nach, sondern bedient sich dynamischer Quellen, die jederzeit und ggf. auch von jedermann überarbeitet werden können (dazu noch sogleich). Je häufiger Informationsquellen aktualisiert werden, desto besser können sie den Ansprüchen der Internetnutzer gerecht werden. Das bedeutet aber zugleich, dass das Risiko von Fehlinformationen steigt.176 Darüber hinaus hat sich zu den seit jeher vorkommenden Irrtümern die „Mode“ gesellt, ganz gezielt und unter Bezugnahme auf als zuverlässig empfundene Quellen sogenannte Fake News wie angebliche Aussagen von Politikern in die Welt zu setzen, um damit die öffentliche Meinungsbildung zu beeinflussen – oder auch einfach nur „zum Spaß“. Besondere Aufmerksamkeit erhalten hat in jüngerer Zeit z. B. die auf Facebook unter falschem Verweis auf die (allgemein als verlässlich wahrgenommene) Süddeutsche Zeitung verbreitete Nachricht, die Grünen-Politikerin Renate Künast habe nach dem Mord an einer Studentin gesagt: „Der traumatisierte junge Flüchtling hat zwar getötet, man muss ihm aber jetzt trotzdem helfen.“177 Auch die allgegenwärtige Gefahr von Hacker-Angriffen lässt eine generelle Einordnung bestimmter Internetseiten als zuverlässig problematisch erscheinen.
cc) Beispiel der Uneinigkeit: Wikipedia Wie uneinheitlich die Ergebnisse der „grundsätzlichen“ Prüfung eines Internetangebots ausfallen können, zeigt sich besonders anschaulich bei den Bewertungen der viel genutzten Internet-Enzyklopädie Wikipedia, an deren Weiterentwicklung sich jeder Internetnutzer beteiligen kann. Hier finden sich einerseits Einstufungen als „zuverlässige“178 oder „zumindest im Bereich von Grundinformationen […] vertrauenswürdige“179 Quelle mit „in aller Regel […] hieb- und stichfest[en]“ Informationen, deren Nutzung durch Richter – jedenfalls bei verbesserter Zitierweise – „völlig legitim“ sei180. Das Arbeitsgericht 175 176
Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 62. Vgl. bzgl. Wikipedia auch Bachmeier, DAR 2012, 557 (558). 177 Mittlerweile sind, soweit ersichtlich, sämtliche Quellen von diesen Fake News bereinigt worden. 178 Zosel, FS Käfer, S. 491 (502); wohl auch Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1. 179 Greger, in: FS Stürner, 289; dem folgend, außerhalb „einfacher Tatsachen“ aber ablehnend Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4. 180 Zosel, FS Käfer, S. 491 (491, 502). Zosels Beitrag widmet sich der quantitativen und qualitativen Analyse des stetig wachsenden Einsatzes von Wikipedia durch Gerichte. Die Zulässigkeit richterlicher Internetrecherchen setzt er dabei ohne Weiteres (insb. ohne Nennung von § 291 ZPO oder einer anderen Rechtsgrundlage) voraus und widmet sich allein der Art und Weise des Zitierens. Dabei bezieht er sich allerdings primär auf hier nicht gegenständliche Ver-
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Siegen hat die Frage nach Wikipedias Zuverlässigkeit bei der Ablehnung des in § 4 III.2. dargestellten Befangenheitsantrags offen gelassen, die Einstufung als zuverlässig aber jedenfalls für „vertretbar“ gehalten.181 Andererseits sind auch erhebliche Zweifel an der Zuverlässigkeit von Wikipedia laut geworden.182 Insbesondere werden handlungsleitende wirtschaftliche Interessen von Autoren identifiziert183 und Erfahrungen mit Saboteuren geschildert, die vorsätzlich falsche Einträge erstellen und darum wetteifern, welche Fehlinformation in der freien Enzyklopädie am längsten überlebt.184 Mit gutem Grund als „medientheoretisches Lehrstück“185 bezeichnet wird der Scherz eines Berliner Journalisten, der als anonymer Wikipedia-Autor 2009 das Gerücht in die Welt setzte, die Berliner Karl-Marx-Allee sei zu DDR‑Zeiten „wegen der charakteristischen Keramikfliesen“ als „Stalins Badezimmer“ bezeichnet worden. Diese Information wurde von so vielen Reiseführern und anderen Werken, die sich ohne Weiteres auf die Zuverlässigkeit der Wikipedia verließen, übernommen, dass ihrem Erfinder zwei Jahre später zunächst verwehrt wurde, die „allgemeinkundige“ Tatsache wieder aus dem Beitrag zu entfernen.186 Heute kennt auch der Wikipedia-Artikel zur Karl-Marx-Allee „Stalins Badezimmer“ nur noch unter der Rubrik „Kurioses“.187 Während (und weil) über die grundsätzliche Zuverlässigkeit von Wikipedia also keine Einigkeit besteht, wird dringend geraten, die Enzyklopädie jedenfalls nicht unkritisch zu nutzen, sondern in jedem Einzelfall Datum und Gegenstand der letzten Änderung, Referenzen sowie Hinweise auf Vandalismus in der Versionshistorie zu prüfen.188 Das deckt sich mit den Empfehlungen der OnlineEnzyklopädie selbst, die in ihren FAQ zum Thema „Zuverlässigkeit“ schreibt: „Ein Zeichen für die Qualität eines Artikels kann es sein, dass sehr viele Autoren an ihm mitgeschrieben haben und viele Belege verwendet wurden. Es lohnt sich, einen Blick in die Versionsgeschichte und auf die Diskussionsseite des Artikels zu werfen.“189 fahren vor Verwaltungsgerichten und andere Amtsermittlungsverfahren und dort vor allem auf die Ermittlung von Erfahrungssätzen. Zur Behandlung von Erfahrungssätzen im Zivilprozess siehe bereits § 2 V. 2. und 3. sowie noch § 7 VI. 181 ArbG Siegen, Beschl. v. 3. 3. 2006 – 3 Ca 1722/05, MMR 2006, 836 (837). 182 Siehe z. B. Bachmeier, DAR 2012, 557 (558); Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3; Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4 sowie die in den nachfolgenden Fußnoten genannten Autoren. 183 Laubinger, ZMR 2012, 25 (27); Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4. 184 Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018); Howe, DisputeResolution 2/2015, 19 (20). 185 Koreng, in: Googleisierung der Informationssuche, 245 (249, dort Fn. 16). 186 Die „Beichte“ des Journalisten findet sich unter http://www.berliner-zeitung.de/wiki pedia-selbstversuch-wie-ich-stalins-badezimmer-erschuf-3895224, zuletzt aufgerufen am 5. 4. 2018. 187 Version vom 22. 2. 2018, 14:40 Uhr, permanent verfügbar unter https://de.wikipedia. org/w/index.php?title=Karl-Marx-Allee&oldid=174280507, zuletzt aufgerufen am 5. 4. 2018. 188 Zosel, in: FS Käfer, 491 (501); Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4. 189 Version vom 5. 2. 2018, 23:56 Uhr, permanent verfügbar unter https://de.wikipedia.
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§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
Selbst in der Informationswissenschaft gilt die Qualitätssicherung der „mehreren hunderttausend Artikel“ und „bis zu mehreren Millionen Einträgen“ von Wikipedia als „ungelöst“. Wenngleich die von Wikipedia selbst benannten Kriterien auch hier als messbare Anhaltspunkte gelten, werden „beachtliche Qualitätsunterschiede“ und eine nur reduzierte „intellektuelle Faktenüberprüfung“ als inhärente Grenzen des Wikipedia-Modells benannt.190
dd) Unterscheidung zwischen „eigenen“ und „übernommenen“ Inhalten? Auch Dötsch betont, dass nur „seriöses (!) Internetwissen“ als allgemeinkundig verwertbar sei.191 Als Zuverlässigkeitskriterium nennt er, dass die Inhalte einer Website nicht „nur übernommen“, sondern „selbst gemacht und/oder geprüft“ sind.192 Unter diesem Aspekt sei insbesondere die Nutzung von Unternehmensoder Verbands-Websites unbedenklich, wenn es um Unternehmens- oder (technische) Produktinformationen gehe.193 Als Rechtsprechungsbeispiel kann hier der bereits erwähnte Fall des Oberlandesgerichts Frankfurt dienen, in dem das Gericht der Internetseite einer Bauplatten-Herstellerin entnahm, dass es sich bei einem bestimmten Bauplattentyp „nicht um eine Holzwerkstoffplatte, sondern um eine Brandschutzplatte aus dem Mineralstoff Vermiculit“ handle.194 Allerdings wird man bei Selbstdarstellungen von Unternehmen und gerade auch bei deren technischen Produktinformationen immer auch die in der Literatur hervorgehobenen wirtschaftlichen Interessen195 und das Risiko im Unternehmensinteresse gefilterter „selektive[r] Wahrheiten“196 zu berücksichtigen haben. Verallgemeinerbar erscheint die Unterscheidung nach „selbst gemacht“ und „übernommen“ ohnehin nicht: Denn während einerseits klassische allgemeinkundige Tatsachen (wie z. B. das Datum des Mauerfalls) bisweilen auch ohne erneute eigene Prüfung aus anderen Quellen „übernommen“ und weiter verbreitet werden, enthalten andererseits gerade „selbst gemachte“ Inhalte wie die von Greger benannten „Verlautbarungen eines Bloggers“ häufig keine Zuverlässigkeitsgewähr.197 Dötsch selbst scheint z. B. die vom Deutschen Verein des Gas- und Wasserfachs ermittelten (und insoweit „selbst gemachten“) Grenzwerte gesundheits(un)schädlicher Legionellenkontamination als nicht seriös org/w/index.php?title=Hilfe:Allgemeine_FAQ&oldid=173704941, zuletzt aufgerufen am 5. 4. 2018. 190 Spree, in: Grundlagen der praktischen Information, 550 (556 f.). 191 Dötsch, IMR 2017, 302. 192 Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018). 193 Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018). 194 OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 11. 3. 2008 – 10 U 118/07, NJW‑RR 2008, 1194 (1195). 195 Laubinger, ZMR 2012, 25 (27). 196 So Bredemeier, in: FS Käfer, 57 (66) im Hinblick auf Informationen, die Unternehmen an Fachzeitschriften weitergeben. Das Problem dürfte bzgl. Unternehmenswebsites ebenso bestehen. 197 Greger, in: FS Stürner, 289 (293).
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und damit nicht allgemeinkundig einzustufen.198 Und Graul schien schon ohne Berücksichtigung des Internets gerade hinsichtlich der Zuverlässigkeit „eigener Angaben“ von Einzelpersonen Bedenken zu haben: So nennt sie als grundsätzlich zuverlässiges Werk unter anderem den – heutzutage auch als App erwerblichen – Klassiker „Wer ist wer? Das deutsche Who is who“, weist aber zugleich darauf hin, dass man die Zuverlässigkeit dieses Nachschlagewerks „nur auf die elementaren Angaben wie Geburtstag, -jahr und -ort, Adresse/Universität und dergl.“ beziehen könne, nicht jedoch auf Angaben wie „die – vom Betroffenen stammende – Angabe der Anzahl der Veröffentlichungen.“199 Fraglich erscheint insofern, nach welchen Kriterien eine Abgrenzung von „elementaren“ und nicht-elementaren Angaben erfolgen soll und weshalb Angaben der betroffenen Person selbst weniger zuverlässig sein sollen als andere – stammen nicht ohnehin auch die „elementaren“ Angaben in aller Regel vom Betroffenen selbst?
ee) Konsequenz: Einzelfallprüfung Insgesamt wird man der Einschätzung Buschhorns aus den 1990er Jahren, die „allgemein zugänglichen Informationsquellen der heutigen Zeit“ seien „größtenteils seriös“ und „Fehler in der Informationsübermittlung oder bzgl. der Wahrheit der Aussage […] eher die Ausnahme“200 im Internetzeitalter nicht mehr ohne Weiteres zustimmen können. Anstelle einer grundsätzlichen Beurteilung bestimmter Quellen als zuverlässig wird daher vielfach betont, dass die Zuverlässigkeit von Internetquellen im Einzelfall kritisch zu prüfen sei.201 Dabei wird das Kriterium der Zuverlässigkeit der Quelle zunehmend durch die „Zuverlässigkeit“ der Tatsache selbst ersetzt: So wird formuliert, Internetinformationen erforderten stets eine „kritische Prüfung […], ob die Angaben als zuverlässig angesehen werden können“202. Auch für Greger ist Voraussetzung einer Allgemeinkundigkeit nicht die Zuverlässigkeit der Quelle, sondern die Verlässlichkeit der jeweils konkret gefundenen Information: Allgemein zugängliche Internetinformationen sind als allgemeinkundig anzusehen, „wenn auf ihre Richtigkeit Verlass besteht“. Entscheidend sei (im Anschluss an Leipold), dass „auch ein besonnener Mensch von ihrer Wahrheit überzeugt sein kann.“203 198 Dötsch, IMR 2017, 302. Bei den Grenzwerten dürfte es sich allerdings ohnehin um Erfahrungssätze und nicht um Tatsachen handeln, siehe dazu § 2 V. 199 Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 62. 200 Buschhorn, Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren, S. 53. 201 BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 5; Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3; Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 405; Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4. 202 BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 5 (Hervorhebung durch Verf.); ähnlich auch bereits für Offline-Quellen Korte, Gerichtskundigkeit im Strafprozess, S. 115. 203 Greger, in: FS Stürner, 289 (293) im Anschluss an Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl.
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§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
Was all dies für die Legitimation allgemeinkundiger Tatsachen bedeutet, wird in § 5 III. vertieft analysiert.
2. Internetrecherche und Verwertung ohne Parteivortrag Als das „schwierigste und bis heute nicht abschließend geklärte Problem“ des § 291 ZPO wird der historische Streit über die Einführung und Verwertung offenkundiger Tatsachen ohne Parteivortrag beschrieben,204 der im Hinblick auf richterliche Internetrecherchen neue Aspekte gewinnt.
a) Zusammenfassung des Verwertungsstreits § 291 erklärt seinem Wortlaut nach nur die Beweiserhebung, nicht aber die Darlegung der betreffenden Tatsachen für entbehrlich. Der Wortlaut legt somit nahe, dass die darlegungs- und beweisbelastete Partei zu den offenkundigen Tatsachen zumindest vortragen muss, bevor das Gericht diese verwerten darf.205 Bis in die 1970er/1980er Jahre war diese Ansicht weit verbreitet,206 wobei vielfach eine Ausnahme für Hilfs- und Indiztatsachen angenommen wurde.207 Als einer der extremsten Verfechter des Behauptungserfordernisses sah Schmidt-Hieber das Gericht grundsätzlich sogar an offenkundig unwahre Geständnisse gebunden.208 Ausnahmen wollte er nur dort zulassen, wo die 2018, § 291 Rn. 4, der verlangt, dass die Richtigkeit „allgemein anerkannt“ ist – ohne zugleich am Stein’schen Kriterium der widerspruchslosen allgemeinen Verbreitung festzuhalten, das als objektiviertes Indiz der nicht objektiv feststellbaren allgemeinen Anerkennung angesehen werden kann (siehe dazu bereits § 3 II.2. einerseits und noch § 5 III.2.b)cc) andererseits). 204 MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 13. Zu dem Streit, in dem alle denkbaren Ansichten, unter denen Hahn, Kooperationsmaxime im Zivilprozess?, S. 235, auch jede Menge „weltanschaulichen Müll“ identifiziert hat, seit mehr als einem Jahrhundert mehrfach geäußert wurden, dürfte kaum noch Neues beizutragen sein. Die folgende Darstellung verzichtet daher bewusst auf eine erneute Erörterung sämtlicher Streitpunkte und beschränkt sich auf die zusammenfassende Erörterung derjenigen Aspekte, die für das Thema richterlicher Internetrecherchen gewinnbringend sind. Zum Ganzen siehe insb. die Dissertation von SchmidtHieber, Richtermacht und Parteiherrschaft über offenkundige Tatsachen. 205 Vgl. MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 13, der im Ergebnis dennoch den gegenteiligen „Analogieschluss“ für überzeugender hält als den hier vorgestellten „Umkehrschluss“. 206 Siehe z. B. Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 418 sowie die nachfolgende Fn.; aus jüngerer Zeit Coester-Waltjen, in: FS Areios Pagos, 28 (31); zum damaligen Streitstand Brüggemann, Judex statutor und judex investigator, S. 337 ff. m. w. N. 207 Siehe bereits Stein, Das private Wissen des Richters, S. 164 f.; Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 93 f.; Apfelbaum, Die bei Gericht offenkundigen Tatsachen, S. 49 ff.; Brüggemann, Judex statutor und judex investigator, S. 340; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 280. 208 Schmidt-Hieber, Richtermacht und Parteiherrschaft über offenkundige Tatsachen, S. 128.
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offenkundige Tatsache „selbstverständlich“ sei oder der sonstige Parteivortrag darauf schließen lasse, dass die Tatsache als vorgebracht gelten solle.209 Bis heute hat sich die anfangs maßgeblich von Rosenberg und Bernhardt210 verfochtene und im Kern überzeugende211 Gegenansicht weitgehend durchgesetzt, nach der offenkundige Tatsachen von Amts wegen berücksichtigt werden dürfen.212 Beweis- und Behauptungslast seien so eng miteinander verbunden, dass mit der einen auch die andere entfalle.213 Den Parteien könne nicht die Befugnis eingeräumt werden, dem Gericht durch das Unterlassen entsprechender Behauptungen offenkundige Tatsachen als Entscheidungsgrundlage zu entziehen.214 Das sei besonders augenfällig im Falle eines offenkundigen Tatsachen widersprechenden Geständnisses, müsse aber aus Einheitlichkeitsgründen auch in anderen Fällen gelten.215 Teilweise wird zwar am Grundsatz der parteiseitigen Einführung festgehalten, eine amtswegige Verwertung aber im Falle offenkundig unwahrer Tatsachenbehauptungen (auch unterhalb des Rangs eines förmlichen Geständnisses) und hinsichtlich Indiz- oder Hilfstatsachen für zulässig gehalten.216 Der Bundesgerichtshof hat eine amtswegige Einführung ausdrücklich für den Fall bejaht, in dem allgemeinkundige Tatsachen ein Geständnis widerlegen.217 209 Schmidt-Hieber, Richtermacht und Parteiherrschaft über offenkundige Tatsachen, S. 117 f. 210 Bernhardt, in: FS Rosenberg, 9 (22 ff.) mit Verweis auf die damalige Auflage des Lehrbuchs von Rosenberg; dort wird die Ansicht bis heute beibehalten, siehe Rosenberg/Schwab/ Gottwald, Zivilprozessrecht, § 112 Rn. 13. 211 Dazu, dass dieser Kern nur das vorhandene offenkundige Wissen des Richters abdeckt, siehe § 6 I. 2 und § 7 IV. 1.c). 212 MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 13; Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 18; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 6; Schellhammer, Zivilprozess, Rn. 528; Zettel, Der Beibringungsgrundsatz, S. 111; Koch, Mitwirkungsverantwortung im Zivilprozess, S. 30 f.; Pantle, MDR 1993, 1166 (1167); mit neuem Begründungsansatz (Offenkundigkeit als gegenüber dem Parteivorbringen stärkeres „Realkennzeichen“) jüngst auch Gomille, Informationsproblem und Wahrheitspflicht, S. 345. Für die Gegenansicht mit verschiedenen Modifizierungen Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 7; Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 411. 213 MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 13; Koch, Mitwirkungsverantwortung im Zivilprozess, S. 30 ff.; Dötsch, MDR 2011, 1017 (1017); Schilken, ZZP 2013, 403 (411). 214 Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 18; Prütting/Gehrlein/ Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 6; Zettel, Der Beibringungsgrundsatz, S. 111. 215 MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 13; BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 9; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 112 Rn. 13; Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 9 Rn. 69. 216 Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 11 f. 217 BGH, Urt. v. 29. 6. 1979 – III ZR 156/77, NJW 1979, 2089 (2089). In diesen Fällen wird auch in der Literatur ganz weitgehend die Wirkungslosigkeit des Geständnisses angenommen, siehe z. B. MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 288 Rn. 36; Musielak/Voit/ Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 288 Rn. 10; Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 288 Rn. 21; Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 3 Rn. 17; Orfanides, NJW 1990, 3174 (3178) m. w. N. (auch zu Gegenstimmen aus der älteren Literatur).
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Auch darüber hinaus hat er sich die bejahende Ansicht zumindest implizit zu eigen gemacht, indem er die Frage der amtswegigen Einführung lediglich als eine Frage des rechtlichen Gehörs behandelt und entschieden hat, dass das Gericht die Parteien darauf hinweisen und anhören müsse, bevor es allgemeinkundige Tatsachen verwerte, auf die sich die Parteien nicht berufen haben.218 Selbst ein gerichtlicher Hinweis soll ausnahmsweise entbehrlich sein, wenn die Tatsachen „[…] allen Beteiligten mit Sicherheit gegenwärtig sind und von denen sie auch wissen, daß sie für die Entscheidung erheblich sein können.“219 Daran ist zu Recht kritisiert worden, dass ein Gericht nur sicher sein kann, dass die betreffenden allgemeinkundigen Tatsachen den Parteien gegenwärtig sind, wenn es sich danach erkundigt hat. Wenn diese in der Entscheidung hingegen lange Ausführungen erforderten, zeige das letztlich nur, dass das Gericht es versäumt habe, sie rechtzeitig zur Sprache zu bringen.220 Häufig wird darauf hingewiesen, dass es in der Praxis auf die Streitfrage der amtswegigen Einführung nicht ankomme, da das Gericht jedenfalls auf die Tatsache hinweisen dürfe und die Partei, für die diese günstig ist, sie sich daraufhin ohnehin ausdrücklich oder konkludent zu eigen machen werde.221 Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass bei konsequenter Zugrundelegung eines Behauptungserfordernisses gerade auch ein entsprechender Hinweis des Gerichts gegen den Beibringungsgrundsatz und/oder das Gebot richterlicher Unparteilichkeit verstoßen würde.222
218 BGH, Urt. v. 8. 10. 1959 – VII ZR 87/58, BGHZ 31, 43 = NJW 1959, 2213 (2214); Urt. v. 6. 5. 1993 – I ZR 84/91, NJW‑RR 1993, 1122 (1123); für Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz BVerfG, Beschl. v. 3. 11. 1959 – 1 BvR 13/59, BVerfGE 10, 177 = NJW 1960, 31 (31); für gerichtskundige Tatsachen im Zivilprozess BVerfG, Beschl. v. 29. 8. 1995 – 2 BvR 175/95, NJW‑RR 1996, 183 (184). 219 BGH, Urt. v. 8. 10. 1959 – VII ZR 87/58, BGHZ 31, 43 = NJW 1959, 2213 (2214); Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 19; Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4. 220 Schneider, MDR 1979, 435 (435 f.); auch MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 14 und AK‑ZPO/Rüßmann, § 291 Rn. 4 weisen darauf hin, dass Voraussetzung die „absolute Sicherheit“ der Kenntnis aller Parteien sei (Prütting) und die Ausnahme nicht für Versäumnisse des Gerichts im Rahmen der mündlichen Verhandlung genutzt werden dürfe. 221 Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 18; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 6; Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4; Zettel, Der Beibringungsgrundsatz, S. 110; Koch, Mitwirkungsverantwortung im Zivilprozess, S. 31; Coester-Waltjen, in: FS Areios Pagos, 28 (32). Von einem konkludenten Zueigenmachen geht der BGH – zumindest in Bezug auf das Vorbringen weiterer Prozessbeteiligter – bereits dann aus, wenn die für die Partei günstige Tatsache nicht im Widerspruch zu ihrem bisherigen Vortrag steht, Urt. v. 17. 1. 1995 – X ZR 88/93, NJW‑RR 1995, 684 (685); vgl. BeckOK‑ZPO/ Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 9 (allerdings mit unzutreffendem Verweis auf BGH, Beschl. v. 1. 7. 2010 – I ZR 61/09, BeckRS 2010, 18540: Dort wurde dem gerichtlichen Hinweis ausdrücklich zugestimmt). 222 Siehe dazu auch bereits § 2 I. 1.
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b) Übertragung auf qua Internetrecherche allgemeinkundige Tatsachen? aa) Klare Übertragbarkeit bei Dötsch Die heute herrschende Ansicht, dass allgemeinkundige Tatsachen auch ohne Parteivortrag verwertet werden dürfen, wird im Allgemeinen ohne Differenzierung nach den Kategorien des Bekannten oder des Ermittelbaren vertreten. Für Dötsch ist es nach einer Betrachtung des Verwertungsstreits und Entscheidung für die herrschende Meinung „dann aber auch klar, dass eigene Recherchen des Gerichts im Internet für sich genommen keinen Vorwurf der Befangenheit begründen können.“223 Anders könne dies allenfalls bei „sehr tiefgehender“ Amtsermittlung aussehen – die er jedoch selbst dann nicht für gegeben hält, wenn er in seiner eigenen richterlichen Praxis als „Fan“ des Internetarchivs Wayback224, das Inhalte zwischenzeitlich abgeschalteter Internetseiten speichert und somit über die Lebensdauer der Internetseite hinaus sichtbar macht, „Nachforschungen“ zu einer früheren Geschäftsinhaberschaft oder ähnlichem anstellt.225 Unbedingt erforderlich ist für ihn lediglich (insoweit allerdings unter Ablehnung jeglicher Ausnahmen) die Gewährung rechtlichen Gehörs im Anschluss an die Recherche.226
bb) Differenzierung bei Greger Greger hat hingegen wegen der durch das Internet bewirkten „immensen Erweiterung offenkundigen Wissens“ eine „differenzierende Rechtsansicht“ entwickelt: Der Richter dürfe allgemeinkundige Tatsachen nur dann von sich aus, mithin ohne entsprechenden Parteivortrag einführen, wenn sie als allgemein bekannt im Sinne der ersten Kategorie anzusehen seien – „(mag er sich davon auch durch eine Nachschau im Internet vergewissert haben)“ –, nicht aber dann, wenn die betreffenden Informationen nur allgemein zugänglich im Sinne der zweiten Kategorie seien.227 Dies entspreche der Unterscheidung zwischen dem „unnötigen Beweis von Allgemeinwissen“ und der „vereinfachten Beweisführung mittels allgemein zugänglicher Informationsquellen“.228 Damit 223 Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018); ders., IMR 2017, 302; zustimmend Klinger, jurisPR‑ ITR 4/2012 Anm. 4. 224 http://archive.org/web/, zuletzt aufgerufen am 5. 4. 2018. 225 Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018). 226 Wiederum zustimmend Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4. 227 Greger, in: FS Stürner, 289 (294) (Einklammerung im Original); in diesem Sinne auch Zöller/ders., ZPO, 32. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1b. 228 Greger, in: FS Stürner, 289 (294). Dieselbe Unterscheidung findet sich auch bei Howe, DisputeResolution 2/2015, 19 (21); hier bleibt allerdings unklar, ob sie sich wie bei Greger auf die Frage des Parteivortrags bezieht (wie die praktisch identische Beschreibung der Konsequenzen auf S. 21 vermuten lässt) oder vielmehr darauf, dass allgemeinkundig von vornherein nur sein könne, was der Richter „kraft eigenen Wissens selbst überprüfen kann“ (sofern nicht eine andere „Richtigkeitsgewähr“ wie z. B. bei statistischen Zahlen besteht), so dass
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§ 4 Das heutige Verständnis der Allgemeinkundigkeit
will Greger den Richter an „Fischzügen im Netz“ zur amtswegigen Aufklärung des Sachverhalts hindern. Erliege dieser dennoch der Versuchung, das Internet ohne Bezug zum Parteivorbringen nach Hintergrundinformationen zu „durchstöbern“ – „z. B. um sich einen Eindruck von der Persönlichkeit einer Partei oder eines Zeugen, einer Örtlichkeit, den Produkten oder dem Renommee eines Unternehmens, der Berichterstattung über ein bestimmtes Ereignis zu verschaffen“ – könne dies eine Befangenheit begründen. Teile das Gericht den Parteien seine Erkenntnisse mit, könne dies zu einem Ablehnungsantrag führen; verschweige es sie, begründe dies erst recht seine Befangenheit.229 Das von ihm kritisierte Durchstöbern erkennt Greger insbesondere und ausdrücklich in der von Dötsch praktizierten und „offenbar verbreitete[n]“ Vorgehensweise.230 Auch der in § 4 III.2. dargestellten Internetrecherche des Arbeitsgerichts Siegen zur Telefonnummer eines Arbeitnehmers steht Greger insoweit kritisch gegenüber – ihre Zulässigkeit hänge davon ab, „was genau der Arbeitgeber zu dem ominösen Telefonat vorgetragen hat.“231 Mit Gregers Ansatz setzen sich § 7 IV. 1.d) und e) vertieft auseinander. Vorrangig soll jedoch das auch von ihm nicht in Frage gestellte Verständnis der Allgemeinkundigkeit als solches auf seine Legitimation und Vereinbarkeit mit dem Beweisrecht überprüft werden.
V. Zwischenergebnis Beginnend mit der Definition des Allgemeinkundigen anhand der Kategorien des Bekannten und des Ermittelbaren durch den Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht in den 1950er Jahren hat sich das Verständnis der Allgemeinkundigkeit gewandelt. Während ein (in den definitionsbegründenden Urteilen und Teilen der Literatur angedeutetes) einheitliches Verständnis der beiden Kategorien sich mit dem historischen Verständnis weitgehend decken würde, hat sich in Rechtsprechung und Literatur ein isoliertes Verständnis herausgebildet, in dem das Ermittelbare als eigenständige Definitionsalternative neben dem Bekannten steht. Zentrale Bedeutung kommt in dieser Kategorie den Quellen der Allgemeinkundigkeit zu: Anders als früher sind sie nicht mehr nur Medium der Verbreitung einer Tatsache, sondern echte Tatbestandsmerkmale der Allgemeinkundigkeit. Diese wird bejaht, wenn die konkret herangezogene Quelle als allgemein zugänglich und zuverlässig anzusehen ist. auch bei vorhandenem Parteivortrag nur eine „Nachschau“ von Bekanntem in Betracht käme (worauf die vorausgehenden Erwägungen auf S. 20 hindeuten). 229 Greger, in: FS Stürner, 289 (294, 297). 230 Greger, in: FS Stürner, 289 (294, dort Fn. 20). 231 Greger, in: FS Stürner, 289 (294).
V. Zwischenergebnis
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Die Aufwertung der Quelle zum Tatbestandsmerkmal hat – dogmatisch und praktisch – erhebliche Auswirkungen auf die Rolle richterlicher Ermittlungen: Während unter der historischen Definition und einem ähnlich begründeten Urteil des Bundesgerichtshofs die Allgemeinkundigkeit im Sinne einer allgemeinen Bekanntheit oder Verbreitung Voraussetzung der – historisch umstrittenen – informellen Ermittlung im Einzelfall war, ist die Allgemeinkundigkeit im Sinne des Ermittelbaren regelmäßig erst das Ergebnis einer Recherche des Gerichts. Damit wurde die vorprozessuale Überzeugung des Gerichts als „Wesen der Offenkundigkeit“232 aufgegeben. Die Kategorie des Ermittelbaren wird als vereinfachtes Beweisverfahren verstanden, in dem das Gericht qualifizierte Quellen zu informellen Ermittlungen nutzen darf. Das bedeutet zugleich einen Wandel der beweisrechtlichen Funktion des § 291 ZPO von der Legitimierung der Verwertung vorhandenen Wissens zur Ermittlung neuen Wissens. Dieses Verständnis des § 291 ZPO ist die Grundlage der von Gerichten erster und zweiter Instanz (bei Zurückhaltung des Bundesgerichtshofs) immer häufiger durchgeführten informellen Internetrecherchen, deren Ergebnisse sie als allgemeinkundig feststellen. Dabei fällt auf, dass das Allgemeinkundige durch den Einfluss des Internets erheblich und insbesondere über die historisch hervorgehobenen „allgemeinen Umrisse“ hinaus erweitert wurde und von dem, „was man so mitbekommt“, auf das erstreckt wird, was man durch aktive Mediennutzung herausfinden kann. Die Bedeutung des vereinfachten Beweisverfahrens ist durch die Möglichkeiten des Internets merklich gestiegen. In der Literatur werden die richterlichen Internetrecherchen grundsätzlich für zulässig gehalten. Diskutiert werden Fragen der allgemeinen Zugänglichkeit und Zuverlässigkeit von Internetquellen, wobei die Zugänglichkeit nur in Einzelfällen, die Zuverlässigkeit hingegen ganz grundsätzlich als zentrales Problem des Internets erscheint. Statt einer abstrakten Qualifizierung bestimmter Internetangebote als per se zuverlässig (wie sie lediglich hinsichtlich hier zunächst außer Acht bleibender amtlicher Quellen anzuerkennen ist), wird daher zunehmend eine Einzelfallprüfung verlangt, in der an die Stelle der Prüfung der Zuverlässigkeit der Quelle vielfach die „Zuverlässigkeit“ bzw. Verlässlichkeit der Tatsache selbst tritt. Gesteigerte Bedeutung erlangt im Internetkontext ferner die Frage der Ver wertung allgemeinkundiger Tatsachen ohne Parteivortrag, in der wegen des Einflusses des Internets namentlich Greger von der heute überwiegend befürworteten amtswegigen Verwertung Abstand nehmen will, wenn es sich nicht um allgemein bekannte, sondern lediglich um ermittelbare Tatsachen handelt. Diese Entwicklungen werden im Folgenden einer kritischen Prüfung unter zogen. 232
Stein, Das private Wissen des Richters, S. 163.
§ 5 Ermittelbarkeit als Wesensmerkmal der Allgemeinkundigkeit? I. Googeln statt Wissen Das Internet hat den Erwerb von und den Umgang mit Wissen radikal verändert.1 An die Stelle eines breiten (wenngleich immer schon schwer einzugrenzenden) Schatzes an „Allgemeinwissen“ tritt mehr und mehr die jederzeitige Verfügbarkeit und Abrufbarkeit ständig wachsender Informationen. Eines menschlichen Erinnerns bedarf es immer weniger, je mehr allgemein zugängliche Quellen insbesondere im Internet das kollektive Wissen aufbewahren und aufbereiten, so dass die Menschen sich situationsbezogen das heraussuchen können, was sie benötigen. Angesichts der „ubiquitäre[n] Zugänglichkeit von Informationen“2 wird der Information selbst gegenüber ihrer Beschaffungsmöglichkeit kaum noch ein „intrinsischer Wert“ beigemessen.3 In der (bereits vor dem Internet entstandenen) Bestimmung des Allgemeinkundigen anhand der Ermittelbarkeit aus qualifizierten Quellen lassen sich diese gesellschaftlichen Entwicklungen scheinbar perfekt abbilden: Allgemeinkundig ist nicht mehr das, was mehr oder weniger jeder weiß, sondern das, was jeder googeln4 kann. Dass sich eine Gesellschaft und ihr Umgang mit Wissen wandeln, ist kein außergewöhnlicher Vorgang, kein Anlass für Kulturpessimismus und vor allem kein Gegenstand dieser Arbeit. Davon zu unterscheiden ist aus rechtswissenschaftlicher Perspektive jedoch die Frage, ob jeder gesellschaftliche Wandel gleichsam „automatisch“ eine Entsprechung im Recht – und insbesondere im Verfahrensrecht – finden muss. Zwar ist auch der Umstand, dass sich mit der Zeit und der sich in ihr wandelnden Gesellschaft auch die Auslegung gesetzlicher Normen verändert, nicht neu und nicht per se zu kritisieren. Die vorstehenden Paragraphen haben aber gezeigt, dass die wie selbstverständlich 1 Hobohm, in: Grundlagen der praktischen Information, 109 (109); Stark, in: Googleisierung der Informationssuche, 1 (1); Kissel, NJW 2006, 801 (801). 2 Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (20). 3 Hobohm, in: Grundlagen der praktischen Information, 109 (109). 4 Über 90 % der Suchmaschinen-Anfragen in Deutschland werden mit der Suchmaschine Google durchgeführt (siehe dazu noch § 7 III.1). In dieser Arbeit wird daher primär auf Google Bezug genommen, wenn es um Suchmaschinen geht. Dies ist jedoch nur exemplarisch zu verstehen und bezieht auch andere Suchmaschinen ein.
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§ 5 Ermittelbarkeit als Wesensmerkmal der Allgemeinkundigkeit?
vollzogene Implementierung des gesellschaftlichen Ersatzes von Wissen durch Googeln in den zivilprozessualen Begriff der Allgemeinkundigkeit eine gegenüber den Ursprüngen des § 291 ZPO fundamentale Wesens- und Funktionsveränderung der Norm mit sich bringt: Es war gerade die bereits vorprozessual vorhandene, mit der Allgemeinheit geteilte Überzeugung des Richters, die die Verwertung seines privaten Wissens und den Verzicht auf eine Beweiserhebung legitimierte. Das Verständnis der heutigen Allgemeinkundigkeitskategorie des Ermittelbaren als vereinfachtes Beweisverfahren verzichtet hingegen von vornherein auf das Erfordernis einer vorprozessualen Überzeugung (dazu noch § 6). Zugleich erscheint dort, wo die allgemeine Ermittelbarkeit an die Stelle der allgemeinen Bekanntheit oder Verbreitung tritt, die Frage berechtigt, wieviel legitimierende „Allgemeinheit“ dem „Allgemeinkundigen“ noch verbleibt. Dies wird im Folgenden untersucht.
II. Wortlaut 1. Offene/allgemeine „Kundigkeit“ Der Gesetzeswortlaut des § 291 ZPO kennt den Begriff der Allgemeinkundigkeit nicht. Der Wortlaut „offenkundig“ wird allerdings häufig synonym zu „allgemeinkundig“ verwendet.5 Teilweise wird aus dem Wortlaut des § 291 ZPO ausdrücklich nur die Allgemeinkundigkeit hergeleitet, während die Gerichts kundigkeit als von der Vorschrift zwar inhaltlich, aber nicht begrifflich erfasst angesehen wird.6 In diesem Verständnis der Offenkundigkeit steht das „offen“ für „öffentlich“.7 Im Unterbegriff der Allgemeinkundigkeit wird diese „öffentliche“ Kundigkeit weiter im Sinne einer „allgemeinen“ Kundigkeit präzisiert. Der Begriffsteil der „Kundigkeit“ beschreibt – unabhängig davon, ob sie „öffentlich“ oder „allgemein“ sein muss – ausdrücklich eine „Bekanntheit“.8 Begriffliche Voraussetzung ist also eine Kenntnis der Öffentlichkeit bzw. Allgemeinheit, jedenfalls aber einer diese repräsentierenden „breiten Personen5 Siehe dazu bereits einleitend § 1 I. inkl. Fn. 4. Auch in einem großen Teil der für diese Arbeit ausgewerteten Rechtsprechung und Literatur ist von „Offenkundigkeit“ die Rede, wenn „Allgemeinkundigkeit“ gemeint ist. 6 Korte, Gerichtskundigkeit im Strafprozess, S. 15; vgl. auch Zöller/Greger, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1 f. 7 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 148; Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 14. Andere Autoren sahen in dem Wortteil „offen“ hingegen eine Verstärkung der bei dem Gericht „offen“ vorliegenden Überzeugung; so insb. Langenbeck, ZZP 1882, 470 (480) und Apfelbaum, Die bei Gericht offenkundigen Tatsachen, S. 22 ff. 8 Apfelbaum, Die bei Gericht offenkundigen Tatsachen, S. 21; Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 14.
II. Wortlaut
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mehrheit“.9 Insofern wird treffend formuliert, dass im Wortsinn allgemeinkundig ist, was (in der jeweiligen Zeit und örtlichen Gemeinschaft10) als „allgemeines Wissen“11 anzusehen ist, was „alle wissen“12 bzw. „mehr oder weniger jeder kennt“.13 Wach hat das Allgemeinkundige bildhaft beschrieben als „das, was sich die Spatzen auf den Dächern erzählen“ und wovon aufgrund der allgemeinen Kundigkeit „Jedermann Kunde giebt“.14
2. Allgemeine Ermittelbarkeit als potentielle Kundigkeit Mit einer solchen öffentlichen oder allgemeinen „Kundigkeit“ im Wortsinn haben die nach der heutigen Kategorie des Ermittelbaren „allgemeinkundigen“ Tatsachen – anders als die historisch allgemein verbreiteten Tatsachen – wenig gemein. Das allgemein Ermittelbare ist schon begrifflich nicht allgemein „kundig“. Das veranschaulichen auch die in § 4 III.2. aufgeführten Rechtsprechungsbeispiele: Dass ein bestimmtes Buch als das erfolgreichste nach C. W. Cerams „Götter, Gräber und Gelehrte“ gilt und zu einem bestimmten Zeitpunkt auf Amazon als „Bestseller Nr. 1 Reiseberichte Europäische Länder“ geführt wurde15 oder es sich bei bestimmten Bauplatten eines bestimmten Herstellers um solche aus Vermiculit handelt16, ist ebenso wie der genaue Wortlaut von AGB17 oder Betriebsanleitungen18 nicht Gegenstand einer öffentlichen oder allgemeinen „Kundigkeit“, sondern gerade dadurch gekennzeichnet, dass jedermann diese Tatsachen mehr oder weniger leicht herausfinden kann, wenn er sich aktiv darüber informiert. Bei Passivität wird er diese sehr speziellen Tatsachen kaum mitbekommen. Erst recht gilt dies für aktuelle, eine vorherige Filterung nach bestimmten Kriterien voraussetzende Mietwagen‑19 oder andere Online-Angebote20. Die Kenntnis der „allgemeinkundigen“ Tatsachen ist hier, wie dargestellt,21 das Ergebnis einer aktiven Mediennutzung. Sofern von einer 9 Feuerpeil, Der Beweisablehnungsgrund der Offenkundigkeit gemäß § 244 Abs. 3 Satz 2, 1. Var. StPO, S. 16, 23. 10 Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 5; Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 8; siehe zur beschränkten Allgemeinkundigkeit auch bereits § 3 II.1. 11 Pantle, MDR 1993, 1166. 12 Lipp, Das private Wissen des Richters, S. 64. 13 Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 418; AK‑ZPO/Rüßmann, § 291 Rn. 2. 14 Wach, Vorträge über die Reichs-Civilprocessordnung, S. 208. 15 OLG Köln, Urt. v. 5. 12. 2014 – 6 U 100/14, GRUR‑RR 2015, 292 (295). 16 OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 11. 3. 2008 – 10 U 118/07, NJW‑RR 2008, 1194 (1195). 17 LG Bonn, Urt. v. 7. 8. 2001 – 2 O 450/00, MMR 2002, 255 (256 f.). 18 OLG Zweibrücken, Beschl. v. 13. 12. 2013 – 3 W 147/13, Rn. 6, juris. 19 LG Wiesbaden, Urt. v. 30. 7. 2015 – 3 S 117/14, Rn. 11, juris. 20 OLG Köln, Beschl. v. 25. 5. 2016 – 1 W 6/16, NJOZ 2016, 1410 (1412). 21 Siehe § 4 III.3.b).
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§ 5 Ermittelbarkeit als Wesensmerkmal der Allgemeinkundigkeit?
Kundigkeit überhaupt gesprochen werden kann, beschreibt die Kategorie des Ermittelbaren nur eine potentielle, nicht aber eine tatsächliche Kundigkeit. Buschhorn will das für die Kategorie des Ermittelbaren maßgebliche „in ‚öffentlichen‘ Medien gespeicherte Wissen“ hingegen aus dem Wortlaut der Offenkundigkeit herleiten, indem sie „offen“ als Gegensatz zu „verschlossen“ oder „schwer zugänglich“ versteht.22 Ein solches Verständnis setzt jedoch die Öffentlichkeit der Quelle an die Stelle der begrifflich vorausgesetzten Öffentlichkeit der Kundigkeit. Die Öffentlichkeit und sonstige Beschaffenheit der Quellen war bei der Formulierung der CPO Ende des 19. Jahrhunderts gewiss noch nicht Gegenstand der Überlegungen: Wie gezeigt, ist eine Charakterisierung der Quellen erst seit den 1950er Jahren vorgenommen worden.23 Stellt man hingegen auf die öffentliche Kundigkeit ab, kann sich die Öffentlichkeit nicht aus der Öffentlichkeit der Quellen, sondern nur aus der Öffentlichkeit der Kundigen ergeben. Das erfordert die Kenntnis einer unbestimmten Zahl von Öffentlichkeit repräsentierenden Personen, welche die Tatsache weiter verbreiten. Das „in öffentlichen Medien gespeicherte Wissen“ geht über solche Tatsachen weit hinaus und ist spätestens in Zeiten des Internets grenzenlos. Die bloße Verfügbarkeit der Tatsache in einer oder auch mehreren öffentlichen Quellen macht sie aber noch nicht öffentlich „kundig“. Mit dem Wortlaut des § 291 ZPO ist die Kategorie des Ermittelbaren insoweit schwer vereinbar.
III. Legitimation Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Schwerpunktverschiebung von „Wissen“ zu „Informieren“ wird dennoch wie selbstverständlich angenommen, dass auch im Recht dem, was jeder weiß, das gleichstehen „muss“, was für jeden aus qualifizierten Quellen ermittelbar ist.24 Dies kann nur dann überzeugen, wenn das Ermittelbare über eine gleichwertige Legitimationsbasis verfügt wie das Bekannte, die den Entfall des regulären Beweisverfahrens rechtfertigen kann.
1. Legitimation allgemein verbreiteter/bekannter Tatsachen Die Legitimationsbasis des historisch allgemein Verbreiteten sowie des heute allgemein Bekannten ist leicht zu erkennen: Was allgemein verbreitet wird, 22 Buschhorn, Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren, S. 42 f. m. w. N. 23 Siehe dazu § 4 I. und II. 24 Nur selten wird diese offenbar allgemeine Annahme so ausdrücklich formuliert wie (bereits ohne Internetkontext) von Buschhorn, Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren, S. 50.
III. Legitimation
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ohne ernstlichen Widerspruch zu provozieren, wird ganz offensichtlich von der Allgemeinheit für wahr gehalten. Aus dieser allgemeinen Überzeugung ergibt sich eine zweifache Legitimationswirkung:
a) Allgemeine Überzeugung als Indiz der Wahrheit Zum einen legitimiert die mit der Allgemeinheit geteilte Überzeugung des Gerichts eine Abweichung vom Recht auf Beweis, da die allgemeine Überzeugung von einer Tatsache seit jeher und kaum bezweifelbar als starkes Indiz für ihre Wahrheit gilt. Wenn die betreffende Tatsache nicht nur von Einzelnen individuell wahrgenommen wurde, sondern von mehreren Menschen entweder ebenfalls wahrgenommen wurde oder „im Rahmen eines kommunikativen gesellschaftlichen Prozesses“25 als wahr anerkannt und weiter verbreitet wird, ist die Kenntnis sicherer als das Ergebnis einer von individuellen Unsicherheiten geprägten Wahrnehmung.26 Der „subjektive Faktor“27 wird weitestgehend ausgeschaltet. Pantle hält die „Richtigkeitsgewähr“ der allgemeinen Anerkennung sogar für „erheblich größer als diejenige der durch Beweisaufnahme festgestellten Tatsachen zu sein pflegt“ und will – entgegen der herrschenden Meinung – bei deren Vorliegen sogar einen Gegenbeweis ausschließen.28 Auch der Bundesgerichtshof hat den Gedanken der durch die Allgemeinheit gewährleisteten Sicherheit betont: „Ein Wissen, das der Richter in genügend sicherem Maße besitzt, weil er es mit der Allgemeinheit teilt […], braucht ihm nicht mehr […] vermittelt zu werden.“29
25
Korte, Gerichtskundigkeit im Strafprozess, S. 136. 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 5; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4; (implizit) Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4; Stein, Das private Wissen des Richters, S. 148 ff.; Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 79; Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 124; Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 39; Buschhorn, Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren, S. 208; Korte, Gerichtskundigkeit im Strafprozess, S. 124. 27 Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 123. 28 Pantle, MDR 1993, 1166 (1168). Da aber auch die Allgemeinheit einmal irren kann, ist ein Gegenbeweis mit der entgegengesetzten h. M. zuzulassen; für diese BGH, Urt. v. 29. 3. 1990 – I ZR 74/88, NJW‑RR 1990, 1376 (1376); Urt. v. 2. 10. 2003 – I ZR 150/01, BGHZ 156, 250 = NJW 2004, 1163 (1164); Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 17; MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 19; Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 291 Rn. 3; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 5; Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 7; Thomas/Putzo/ Reichold, ZPO, 39. Aufl. 2018, § 291 Rn. 3; Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 415. 29 BGH, Urt. v. 14. 7. 1954 – 6 StR 180/54, BGHSt 6, 292 = NJW 1954, 1656 (1656). 26 MüKo-ZPO/Prütting,
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§ 5 Ermittelbarkeit als Wesensmerkmal der Allgemeinkundigkeit?
b) Allgemeine Überzeugung als Garant der richterlichen Neutralität Zum anderen dient die allgemeine Überzeugung der Sicherstellung der richterlichen Neutralität und Distanz zum Sachverhalt: Es ist wiederum gerade die mit der Allgemeinheit geteilte Kenntnis, die das Wissen im Gegensatz zur individuellen Kenntnis unbedenklich und damit ohne Gefährdung der richterlichen Neutralität verwertbar erscheinen lässt.30 Die Distanz zum Sachverhalt geht bei der Verwertung allgemeinkundigen Wissens nicht verloren, weil das Gericht dem Sachverhalt nicht näher steht als beliebig viele andere.31
2. Legitimation aus allgemein zugänglichen, zuverlässigen Quellen ermittelbarer Tatsachen In der heutigen Allgemeinkundigkeitskategorie des Ermittelbaren treten an die Stelle der allgemeinen Verbreitung oder Bekanntheit die allgemeine Zugänglichkeit und Zuverlässigkeit der Quelle, aus der jeder Einzelne – und im Prozess das Gericht – seine Kenntnis gewinnt. Die Qualität der Quelle ist es, die das „umständliche Beweisverfahren“32 überflüssig erscheinen lässt.33 Die Legitimationseignung dieser Kriterien wird insbesondere in Bezug auf Internetquellen im Folgenden untersucht.
a) Bedeutung und Legitimationseignung der allgemeinen Zugänglichkeit Die allgemeine Zugänglichkeit der Erkenntnisquellen wird als maßgebliche – nach Grunsky sogar alleinige34 – Legitimation für den Entfall des Beweisverfahrens angesehen. Weshalb und wodurch die allgemeine Zugänglichkeit legitimierend wirken soll, ist bislang jedoch kaum erläutert worden.
aa) Allgemeine Zugänglichkeit als Garant der allgemeinen Überzeugung? Für Graul ist die allgemeine Zugänglichkeit der Quelle eine „Vorbedingung“ dafür, dass sie „von zahlreichen Personen als Erkenntnisquelle genutzt“ werde, was wiederum Voraussetzung dafür sei, dass ihr Inhalt von diesen zahlreichen Personen geprüft und als wahr anerkannt werde.35 Ziel scheint also auch hier die Gewährleistung einer allgemeinen Überzeugung von den in allgemein zugänglichen Quellen veröffentlichten Tatsachen zu sein. Ob die Bedingung 30 Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 83. 31 Lipp, Das private Wissen des Richters, S. 63 f. 32 Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 418. 33 Greger, in: FS Stürner, 289 (292); Zöller/ders., ZPO, 32. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1. 34 Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 418. 35 Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 70.
III. Legitimation
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der allgemeinen Zugänglichkeit hierfür eine notwendige und vor allem eine hinreichende ist, erscheint aber zweifelhaft.
(1) Notwendige Bedingung? Es wurde gezeigt, dass die allgemeine Zugänglichkeit und sonstige Qualität einzelner Quellen unter der historischen Definition keine eigenständige Bedeutung hatte: Auf welchen unterschiedlichen Wegen auch immer eine Tatsache verbreitet wurde, war unerheblich, so lange nur ihre Verbreitung eine allgemeine war und unwidersprochen blieb.36 Das gilt im Grunde auch heute noch: Um eine Tatsache zu prüfen und als wahr anzuerkennen, müssen die Beteiligten sich keineswegs alle aus derselben Quelle informiert haben. Was die eine über ihre Mitgliedschaft in einem (möglicherweise registrierungs- oder kostenpflichtigen) sozialen Netzwerk erfährt, wird dem anderen von einem Freund erzählt, der ebenso wenig „allgemein zugänglich“ ist. Es spielt keine Rolle, woher jeder Einzelne die betreffende Tatsache kennt. Das gilt allerdings nur, solange die in allgemein zugänglichen Quellen veröffentlichten Tatsachen solche sind, die unabhängig von dieser Quelle allgemein verbreitet werden – oder im Sinne eines einheitlichen Verständnisses der heutigen Definition37 bereits mehr oder weniger allgemein bekannt sind.38 Denn (nur) in diesen Fällen ist Garant der allgemeinen Überzeugung eben nicht die Zugänglichkeit der Quelle, sondern die allgemeine Verbreitung. An eine allgemeine Verbreitung (oder allgemeine Bekanntheit) ist das Ermittelbare heutzutage, wie dargestellt, aber gerade nicht gekoppelt.39 Die Rechtsprechungsbeispiele zeigen, dass vor allem in (durchaus „zuverlässigen“) Internetquellen auch zahlreiche Tatsachen zu finden sind, die keineswegs „allgemein“ verbreitet werden – als Beispiel seien nur die Bauplattentypen auf der Herstellerseite, die Amazon-Bestsellerliste oder die individuell konfigurierten Mietwagenangebote konkreter Anbieter genannt. In solchen Fällen könnte die allgemeine Zugänglichkeit der Quelle tatsächlich eine notwendige Bedingung der Prüfung und Anerkennung durch die Allgemeinheit sein. Umso zweifelhafter erscheint aber gerade in diesen Fällen, ob die Bedingung der allgemeinen Zugänglichkeit hierfür auch hinreichend ist. 36 37
Siehe dazu § 3 II.2. und § 4 II.4.b). Siehe dazu § 4 II.1. 38 In diesem Sinne auch Howe, DisputeResolution 2/2015, 19 (20). 39 Siehe dazu § 4 II.3. Wenn Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 72, grundsätzlich davon ausgehen will, dass allgemeinkundige Tatsachen sich in mehreren allgemein zugänglichen Quellen finden, da „die (unbeschränkte) Allgemeinkundigkeit kein ‚Spezial- oder Expertenwissen‘ betrifft, sondern sich nur auf das allgemein anerkannte ‚Grundwissen unserer Zeit‘ bezieht“ (weshalb sie auf eine Prüfung der Zugänglichkeit der konkret genutzten Quelle dann konsequenterweise doch wieder verzichten will), offenbart dies letztlich ein (doch) einheitliches Verständnis der Allgemeinkundigkeit; zu diesem siehe § 4 II.1.
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§ 5 Ermittelbarkeit als Wesensmerkmal der Allgemeinkundigkeit?
(2) Hinreichende Bedingung? Maßgebliche Frage ist also, ob die allgemeine Zugänglichkeit einer einzelnen Quelle unabhängig von einer Verbreitung der jeweiligen Tatsache in anderen Quellen das von Graul bezeichnete Ziel gewährleisten kann, dass diese von zahlreichen Personen genutzt und die dort veröffentlichten Tatsachen geprüft und als wahr anerkannt werden.40 Diese Frage muss aber gerade wegen der allgemeinen Zugänglichkeit nahezu unendlicher Internetinhalte41 verneint werden: In einer Zeit, in der es für eine ganze Generation nichts Ungewöhnliches ist, einen (allgemein zugänglichen) privaten oder gewerblichen eigenen Blog zu betreiben, neue (allgemein zugängliche) Online-Shops, Informations- und Vergleichsportale und andere Internet-Startups aus dem Boden sprießen und sich jedermann innerhalb weniger Minuten eine eigene (allgemein zugängliche) Homepage erstellen kann – kurz: in der jeden Tag unzählige neue Websites online gehen, die für jedermann zugänglich sind, kann die allgemeine Zugänglichkeit allein nicht gewährleisten, dass alle allgemein zugänglichen Seiten auch tatsächlich in relevantem Umfang genutzt und die dort veröffentlichten Tatsachen von einer repräsentativen Allgemeinheit geprüft werden. Potenziert wird dieser Aspekt durch den ständigen Wandel der jeweiligen Inhalte.42 Sichergestellt wird durch die allgemeine Zugänglichkeit allein die potentiell allgemeine Kenntnis. Diese geht aber, anders als die tatsächlich allgemeine Verbreitung einer Tatsache, mit einer tatsächlichen Prüfung und Anerkennung durch eine hinreichende Allgemeinheit gerade nicht einher. Eine allgemeine Überzeugung als Legitimationsbasis wird von der allgemeinen Zugänglichkeit folglich nicht garantiert.
bb) Allgemeine Zugänglichkeit als Garant der Nachprüfbarkeit Bei anderen Autoren ist demgegenüber der Gedanke der Nachprüfbarkeit der Tatsache als Legitimationsbasis zu erkennen.43 Das trägt den dargestellten Umständen insoweit Rechnung, als eine tatsächlich stattgefundene (und wie dargestellt, im Internet unmögliche) Überprüfung „durch zahlreiche Personen“ 40 41
Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 70. Siehe dazu bereits § 4 IV. 1.a). 42 Dazu noch sogleich unter bb)(1). 43 Schmidt-Hieber, Richtermacht und Parteiherrschaft über offenkundige Tatsachen, S. 18; Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 151; Buschhorn, Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren, S. 53; CoesterWaltjen, in: FS Areios Pagos, 28 (31). Die Nachprüfbarkeit betont auch Koutsouradis, KTS 1984, 573 (577 f.), der unter allgemeinkundigen Tatsachen allerdings primär „anerkannte Fachkenntnisse“ im Sinne „abstrakter Lehren“ versteht und ihre Nachprüfbarkeit gerade aus ihrer Abstraktheit herleitet, wohingegen privates Wissen des Richters stets „konkreten Charakter“ habe. Das übersieht, dass Gegenstand des § 291 ZPO, wie in § 2 V. dargestellt, gerade nicht „abstrakte Lehren“, also Erfahrungssätze sind, sondern durchaus „konkrete“, aber eben offenkundige Tatsachen.
III. Legitimation
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gar nicht erst vorausgesetzt wird. Ausreichend ist vielmehr allein die theoretische Nachprüfbarkeit durch jedermann. Tatsächlich ist dies das Maximum, das die allgemeine Zugänglichkeit einer Internetquelle leisten kann: Die Inhalte allgemein zugänglicher Seiten können von jedermann überprüft werden – im Prozess also insbesondere von den Parteien, wenn sie vom Gericht auf dessen Recherche und deren „allgemeinkundige“ Ergebnisse hingewiesen wurden. Eine solche bloß potentielle und im Prozess in aller Regel erst nachträgliche Nachprüfbarkeit der Parteien kann aber anders als eine im Voraus stattgefundene tatsächliche Überprüfung und daraus resultierende Überzeugung der Allgemeinheit kein Indiz der Wahrheit sein. Sie hat somit von vornherein eine erheblich geringere Legitimationskraft. Bei genauerem Hinsehen ergeben sich zudem Einschränkungen der Nachprüfbarkeit von Internetquellen, die ihre Legitimationseignung erst recht in Frage stellen:
(1) Erschwerung durch Dynamik von Internetseiten „Allgemein zugänglich“ ist im Internet immer nur der Stand einer Website im Zeitpunkt ihres Aufrufs. Dieser Stand ändert sich in vielen Fällen bis zu mehrmals täglich – genannt seien nicht nur Nachrichtenseiten, sondern auch die in den Rechtsprechungsbeispielen herangezogenen Preisvergleichsportale oder die Seiten von Amazon: Das Oberlandesgericht Köln hat sich insofern ausdrücklich auf die Inhalte der „Plattform ‚Amazon.de‘ […] [z]um Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat“ bezogen.44 Aus ein und derselben Internetseite können sich also zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche „allgemeinkundige“ Tatsachen ergeben. Nachprüfbar ist für die Parteien aber immer nur der Stand der Internetseite zum Zeitpunkt ihres eigenen Aufrufs, nicht hingegen derjenige bei Aufruf durch das Gericht. Viele vormals „allgemein zugängliche“ Websites sind nach einer gewissen Zeit überhaupt nicht mehr oder nicht mehr unter der vorherigen Internetadresse verfügbar. So konnte z. B. die vom Oberlandesgericht Zweibrücken45 zitierte URL http://moba.i.daimler.com/ baix/cars/176/de DE/Index.html am 6. 10. 2016 noch aufgerufen werden. Dass die dort einsehbare interaktive Betriebsanleitung denselben Stand hatte wie bei Aufruf durch das Gericht, ist damit jedoch nicht gewährleistet. Am 25. 1. 2017 wurde unter derselben URL nur die Fehlermeldung „Sorry! The requested resource cannot be found“ angezeigt. Mehling hebt insoweit treffend hervor: „Das Versprechen (oder je nach Sichtweise: die Drohung): ‚Das Netz vergisst nichts‘, wird oft nicht eingelöst.“46 44 45
OLG Köln, Urt. v. 5. 12. 2014 – 6 U 100/14, GRUR‑RR 2015, 292 (295). OLG Zweibrücken, Beschl. v. 13. 12. 2013 – 3 W 147/13, Rn. 6, juris. 46 Mehling, in: Propädeutik zur Kommunikationswissenschaft, 125 (142); siehe dazu auch noch § 5 III.4.c) sowie § 7 III.5.c).
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§ 5 Ermittelbarkeit als Wesensmerkmal der Allgemeinkundigkeit?
Der insofern naheliegende Ausdruck der vom Gericht genutzten Internetseiten mag dokumentieren, welchen Inhalt das Gericht eingesehen hat. Das unterscheidet die Tatsache aber kaum noch von Tatsachen, die das Gericht „privat“ in nicht allgemein zugänglichen Quellen ermittelt. Zugespitzt formuliert: Dokumentieren kann das Gericht (z. B. durch Videomitschnitt) auch eine – unstreitig unzulässige – private Zeugeneinvernahme.47
(2) Erschwerung durch unvollständige Zitierung Eine Ausnahme bildet insoweit Wikipedia: Hier können sämtliche Vorversionen eines Artikels auch dann noch eingesehen werden, wenn dieser mehrfach überarbeitet wurde. Zosel kritisiert insoweit allerdings zu Recht, dass Gerichte – sofern überhaupt der konkrete Artikel benannt und nicht lediglich pauschal auf „Wikipedia“ (oder häufig auch www.wikipedia.de anstelle der eigentlichen Domain de.wikipedia.org48) verwiesen wird – die Artikel zitieren, als wären sie „in Stein gemeißelt“, statt von dem angebotenen Permanentlink zur konkreten Artikelversion Gebrauch zu machen.49 Ein Beispiel bietet das (inhaltlich bereits in § 2 V. 3.b)aa) behandelte) Urteil des Amtsgerichts Köln, in dem sich dieses auf „den Artikel der freien Enzyklopädie Wikipedia zum Thema Epoxidharz“ bezieht.50 In der Folge bleibt davon nur noch ein „laut Wikipedia“. Bei dem Versuch, die Quellen „nachzuprüfen“, stellt sich heraus, dass das Gericht nicht nur den Artikel zu Epoxidharz, sondern unterschiedliche Artikel der Enzyklopädie herangezogen hat, die – im Verhältnis zueinander und jeweils für sich – von verschiedenen Autoren erstellt und im Zeitraum vor und nach Veröffentlichung des Urteils mehrfach überarbeitet worden sind. Es bedarf einiges an Anstrengung und Kenntnis des Wikipedia-Versionensystems, um zu den tatsächlich verwerteten Quellen zu gelangen.51 Die unvollständige Zitierweise erschwert auch in anderen Fällen häufig die Nachprüfung: So führt beispielsweise der Verweis des Bundesgerichtshofs auf die „Homepage des Statistischen Bundesamtes unter www.destatis.de“52 47 Zu weiteren Gemeinsamkeiten der Internetrecherche mit einer Zeugenbefragung siehe noch § 7 IV. 2.c). 48 So selbst der BGH, Urt. v. 8. 5. 2013 – IV ZR 84/12, Az. IV ZR 84/12, NJW 2013, 2739 (2740 f.) zu den Definitionen von „Prospekt“ und „Effekten“ (die er zu Recht nicht als allgemeinkundige Tatsachen, sondern als Erfahrungssätze behandelt hat; siehe dazu bereits § 2 V. 2.b)aa)); vgl. auch die Kritik bei Zosel, in: FS Käfer, 491 (497 ff.). 49 Zosel, in: FS Käfer, 491 (500). 50 AG Köln, Urt. v. 20. 4. 2011 – 201 C 546/10, NJW 2011, 2979 (2979). 51 Dies waren vermutlich „Epoxidharz“ in der letzten Version vor der Urteilsveröffentlichung vom 16. 4. 2011, 15:36 Uhr, permanent verfügbar unter http://de.wikipedia.org/w/ index.php?title=Epoxidharz&oldid=87776657, sowie „Endokrine Disruptoren“ in der Version vom 26. 3. 2011, 15:57 Uhr, permanent verfügbar unter http://de.wikipedia.org/w/index. php?title=Endokrine_Disrup toren&oldid=86936889, beide zuletzt aufgerufen am 5. 4. 2018. 52 BGH, Beschl. v. 10. 12. 2004 – IXa ZB 73/04, NJW‑RR 2005, 366 (366).
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zur Nachprüfung verschiedener „allgemeinkundiger“ (Preis-)Indizes lediglich zur Startseite des extrem weit gefächerten Online-Informationsangebots des Statistischen Bundesamts. Die Indizes sind Teil der dort verknüpften, ebenfalls äußerst umfangreichen Datenbank GENESIS-online. Ein unerfahrener Internetnutzer wird zwar vermutlich noch den auf der Startseite eingebetteten Link zum Verbraucherpreisindex finden – so lange der Webmaster der Seite nicht beschließt, die Verlinkung zu entfernen. Sucht man aber beispielsweise eine Geburtenstatistik aus einem früheren Jahr, wird es trotz Suchfunktion angesichts der Fülle an Informationen bereits schwierig. Und schließlich wirft es natürlich erst recht Fragen auf, wenn beispielsweise das Amtsgericht Hamburg-Altona seine Quellen überhaupt nicht preisgibt, sondern die vermeintlich allgemeinkundige Tatsache, „dass selbst der teuerste Fernwärmeanbieter in Deutschland seinen Geschäftskunden niedrigere Preise in Rechnung stellt, als sie die Klägerin in ihre Heizkostenabrechnung eingestellt hat“ lediglich „im Internet aus einer ohne Weiteres zugänglichen vertrauenswürdigen Quelle“ entnommen haben will.53 Die Nachprüfbarkeit ist also selbst auf allgemein zugänglichen Internetseiten nicht per se gewährleistet. Dass das bislang übersehene Hauptproblem richterlicher Internetrecherchen ohnehin nicht die Nachprüfbarkeit einer einzelnen Internetseite bzw. der dort erlangten Kenntnis ist, sondern vielmehr die fehlende Nachvollziehbarkeit des gesamten Rechercheablaufs und somit die Art der Kenntniserlangung, wird in § 7 ausführlich erörtert.
b) Bedeutung und Legitimationseignung der Zuverlässigkeit aa) Zuverlässigkeit der Quelle als Indiz der Wahrheit? Der Sinn des Zuverlässigkeitskriteriums liegt auf der Hand: Von zuverlässigen Quellen erwarten wir, dass die dort veröffentlichten Tatsachen wahr sind. Die Zuverlässigkeit der Quelle konkurriert also mit der – durch die allgemeine Zugänglichkeit gerade nicht gewährleisteten – allgemeinen Überzeugung: Wo historisch die allgemeine Verbreitung Widerspruch gegen Fehlwahrnehmungen Einzelner provozieren sollte, soll heute die Zuverlässigkeit der Quelle das Risiko senken, einer falschen Information aufzusitzen. Hinter beiden Kriterien steht folglich der Anspruch, sich zu einem gewissen Grad auf die Wahrheit der Tatsache verlassen zu können.
bb) Einzelfallbewertung der Zuverlässigkeit von Internetseiten Nun wurde aber gezeigt, dass die Einordnung von Internetseiten als per se zuverlässig oder unzuverlässig angesichts der Masse an Informationen, des Aktualitätsdrucks, des ständigen Wandels und der Manipulierbarkeit im Internet 53
AG Hamburg-Altona, Urt. v. 24. 02. 2015 – 316 C 248/14, WuM 2017, 403 (404).
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schwierig ist.54 Während Irrtümer in den klassischen physischen Informationsquellen eher die Ausnahme waren, ist die Fehleranfälligkeit vieler heutzutage allgemein zugänglicher und deshalb ebenso zur Information herangezogener Internetquellen von vornherein höher. Nicht zuletzt hat das Internet ganz eigene „Streiche“ hervorgebracht wie das Erstellen vorsätzlich falscher Wikipedia-Einträge oder die Generierung von Fake News.55 Mit gutem Grund wird deshalb eine kritische Prüfung der Zuverlässigkeit im jeweiligen Einzelfall verlangt.56
cc) Individuelle Bewertung durch das Gericht Im Zivilprozess obliegt diese Einzelfallprüfung nicht etwa einem im Umgang mit Medien und der Bewertung von Publikationen ausgebildeten Bibliothekar, Lektor o.ä., sondern dem recherchierenden Gericht. Dieses stellt anhand der allgemeinen Zugänglichkeit und Zuverlässigkeit der Quelle die Allgemeinkundigkeit der Tatsache fest. Erst im Nachhinein haben die Parteien die Möglichkeit, die Zuverlässigkeit der genutzten Quelle in Zweifel zu ziehen57 und/oder den – nach heute ganz herrschender Ansicht zulässigen58 und angesichts der Erweiterung des Allgemeinkundigen umso wichtigeren – Gegenbeweis anzutreten. Das bedeutet dann aber, dass die Frage, ob „Allgemein“kundigkeit vorliegt, maßgeblich vom individuellen Urteil des Richters über die Zuverlässigkeit der Quelle abhängt. Dabei handelt es sich um eine Wertungsfrage,59 die angesichts der geschilderten Zuverlässigkeitsprobleme des Internets keineswegs immer eindeutig zu beantworten ist, sondern – wie die stark variierenden Ansichten insbesondere zu Wikipedia illustrieren – im Gegenteil „erhebliche Schwierigkeiten“ bereiten kann.60 Insoweit überzeugt es nicht, wenn das Arbeitsgericht Siegen annimmt, die „Nutzung einer allgemein zugänglichen Informationsquelle“ bedürfe keiner persönlichen Überzeugungsbildung des Richters.61 Die 54
Siehe § 4 IV. 1.b).
55 Siehe auch dazu bereits § 4 IV. 1.b). 56 BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand
1. 3. 2018, § 291 Rn. 5; Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3; ebenso im Hinblick auf die Prüfung der Zuverlässigkeit einer informatorisch befragten Person Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 134. 57 ArbG Siegen, Beschl. v. 3. 3. 2006 – 3 Ca 1722/05, MMR 2006, 836 (837); Greger, in: FS Stürner, 289 (295); BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 8. 58 BGH, Urt. v. 29. 3. 1990 – I ZR 74/88, NJW‑RR 1990, 1376 (1376); Urt. v. 2. 10. 2003 – I ZR 150/01, BGHZ 156, 250 = NJW 2004, 1163 (1164); Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 17; MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 19; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 5; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 7; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 39. Aufl. 2018, § 291 Rn. 3; Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 415; a. A. Pantle, MDR 1993, 1166 (1168); Greger, in: FS Stürner, 289 (295). 59 So auch Howe, DisputeResolution 2/2015, 19 (20). 60 Howe, DisputeResolution 2/2015, 19 (21). 61 ArbG Siegen, Beschl. v. 3. 3. 2006 – 3 Ca 1722/05, MMR 2006, 836 (837). Dazu, dass
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beste Widerlegung dieser Annahme liefert der Beschluss des Arbeitsgerichts selbst, wenn er ausdrücklich auf die „von ihm [dem Richter] für allgemein zugänglich und zuverlässig gehaltene“ Wikipedia und die Vertretbarkeit dieser – im Übrigen offen gelassenen – Einschätzung abstellt.62 Auch der Behandlung der Zuverlässigkeit als reine Rechtsfrage kann nicht zugestimmt werden, denn zur Subsumtion unter den Rechtsbegriff der Zuverlässigkeit bedarf es immer zunächst einer tatsächlichen Bewertung der Quelle.63 Wohin eine Einzelfallprüfung führt, wird noch deutlicher, wenn an die Stelle einer Prüfung der Zuverlässigkeit der Quelle die Aufforderung tritt, die Tatsache selbst auf ihre „Zuverlässigkeit“ bzw. Verlässlichkeit zu prüfen:64 Denn die Prüfung der „Zuverlässigkeit“ der Tatsache wird bei der richterlichen Recherche im Ergebnis nichts anderes sein als die Beantwortung der Frage, ob der Richter die Tatsache für wahr hält. Diese Antwort kann er wiederum nur individuell und nicht etwa im Namen der Allgemeinheit geben: Denn ob eine Tatsache „allgemein anerkannt“65 wird bzw. auch ein besonnener Mensch „außer dem Richter“ von der Tatsache überzeugt sein kann66, ist nicht objektiv feststellbar und wurde historisch gerade durch die ohne (objektiv feststellbaren) ernstlichen Widerspruch stattfindende allgemeine Verbreitung indiziert. Bei nicht allgemein verbreiteten, sondern lediglich ermittelbaren Tatsachen kann der Richter nur mutmaßen, ob auch andere diese für richtig halten.
3. Nahezu restloser Entfall der Legitimationswirkung a) Individuelle statt allgemeine Überzeugung Damit ist maßgebliches Element der „Allgemein“kundigkeit nicht mehr die individuelle Wahrnehmungsfehler minimierende Überzeugung der Allgemeinheit, sondern allein die individuelle Überzeugung des Gerichts. Zwar musste das Gericht die allgemeine Überzeugung von der Wahrheit seit jeher teilen, wenn es von einer Beweiserhebung absehen wollte. Im Rahmen der quellenbestimmten Definition tritt aber das individuelle Fürwahrhalten durch das Gericht nicht neben, sondern an die Stelle der allgemeinen Überzeugung. Die Beurteilung, ob sich aus den zur Recherche herangezogenen allgemein zugängeine typische Internetrecherche noch wesentlich mehr individuelle Momente aufweist als die Beurteilung der Zuverlässigkeit noch ausführlich § 7. 62 ArbG Siegen, Beschl. v. 3. 3. 2006 – 3 Ca 1722/05, MMR 2006, 836 (837) (Hervorhebung und Klammerzusatz durch Verf.). 63 Vgl. zur (Un-)Zuverlässigkeit als Rechts- und Tatfrage im Arbeitsrecht ErfK‑AÜG/ Wank, 18. Aufl. 2018, § 3 Rn. 3, sowie im Gewerberecht Landmann/Rohmer/Marcks, GewO, 77. EL Oktober 2017, § 35 Rn. 174. 64 Siehe § 4 IV. 1.b)ee). 65 Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4. 66 Greger, in: FS Stürner, 289 (293).
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lichen Quellen z. B. zuverlässig der Festnetzcharakter einer bestimmten polnischen Telefonnummer ergibt,67 obliegt allein dem Richter. Dadurch gewinnt der bei allgemeinkundigen Tatsachen ausgeschaltet geglaubte „subjektive Faktor“68 erhebliche Bedeutung. Die legitimierende Indizwirkung der Allgemeinkundigkeit geht dabei fast vollständig verloren: Während es nach dem ursprünglichen Sinn des § 291 ZPO Indiz für die Wahrheit und Legitimation des Beweisentfalls war, wenn eine Tatsache von der Allgemeinheit für wahr gehalten wird, soll heute das Gericht prüfen, ob es eine im grenzenlosen World Wide Web gefundene allgemein zugängliche Quelle bzw. die dort veröffentlichte Tatsache für „zuverlässig“ – im Ergebnis also für wahr – hält, damit es diese dann als „allgemeinkundig“ verwerten kann. Eine allein auf der individuellen Überzeugung des Gerichts aufbauende „Allgemein“kundigkeit kann aber nicht Indiz der Wahrheit sein und somit auch den Entfall des regulären Beweisverfahrens nicht rechtfertigen. Im Gegenteil: Die individuelle Überzeugung des Gerichts ist ja gerade Ziel und Definitionsmerkmal des regulären Beweises.69
b) Bloße Nachprüfbarkeit des individuellen Beweisergebnisses Das einzige, was „allgemeinkundige“ Tatsachen demnach noch von anderen Tatsachen unterscheidet und als Rest einer Legitimationsbasis verbleibt, ist die – noch dazu eingeschränkte70 – Nachprüfbarkeit anhand der allgemein zugänglichen Quelle. Wenngleich früher und teilweise auch in jüngerer Zeit gerne betont wurde, dass allgemein zugänglich noch nicht allgemeinkundig bedeute,71 ist genau dies letztlich in der Kategorie des Ermittelbaren der Fall.72 In dem „vereinfachten Beweisverfahren“ des § 291 ZPO ist die Allgemeinkundigkeit also nicht mehr als die (begrifflich irreführende) Bezeichnung seines allgemein nachprüfbaren Ergebnisses. Die allgemein zugänglichen Quellen sind die Beweismittel, die vom recherchierenden Gericht – unter Ausschluss der Parteien – auf ihre Glaubwürdigkeit („Zuverlässigkeit“) geprüft werden. Allein der Umstand, dass die Tatsache aus einer „zuverlässigen“ Quelle ersichtlich ist, verschafft ihr keine gegenüber anderen Tatsachen besondere Legitimation: Diese 67
ArbG Siegen, Beschl. v. 3. 3. 2006 – 3 Ca 1722/05, MMR 2006, 836 (837).
68 Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 123. 69 Über die „Tätigkeit, die in dem Richter (iudici fit probatio) die Überzeugung
von der Wahrheit oder Unwahrheit einer Behauptung begründen soll“, wird der Beweis überhaupt erst definiert, Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 110 Rn. 1; Gomille, NZFam 2014, 100 (103); siehe dazu auch bereits § 2 II. 70 Siehe dazu § 5 III.2.a)bb). 71 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 145; Pantle, MDR 1993, 1166 (1168); Korte, Gerichtskundigkeit im Strafprozess, S. 115; Zimmermann, ZPO, 10. Aufl. 2015, § 291 Rn. 1. 72 So ist z. B. für Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018) auch in der realen Welt selbstverständlich, dass alle Inhalte der allgemein zugänglichen Stadtbibliothek „unter § 291 ZPO fallen“.
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ist dieselbe, wie wenn eine (nicht „allgemeinkundige“) Tatsache im normalen Beweisverfahren von einem „zuverlässigen“ Zeugen beobachtet und geäußert wird.73 Auch die an die Stelle oder neben die Glaubwürdigkeitsprüfung der Quelle tretende Prüfung der Glaubhaftigkeit („Zuverlässigkeit“/„Verlässlichkeit“) der Tatsache unterscheidet sich nicht von derjenigen im normalen Beweisverfahren. Der einzige Unterschied ist, dass das Gericht die Beweise allein erhebt, soweit es zur Beschaffung der Beweismittel wegen ihrer allgemeinen Zugänglichkeit nicht auf die Parteien „angewiesen“ ist. Die Ergebnisse können die Parteien dann nachprüfen. Zu diesem Zeitpunkt hat die Beweiswürdigung und Überzeugungsbildung des Gerichts aber bereits stattgefunden. Ob allein die Nachprüfbarkeit des Beweisergebnisses einen Entfall des regulären Beweisverfahrens legitimieren kann, erscheint – unabhängig von den zusätzlich erörterten Einschränkungen der Nachprüfbarkeit im Internet – bereits an dieser Stelle der Untersuchung äußerst fragwürdig.74
4. Scheinlegitimation über „Natur“ allgemeinkundiger Tatsachen Soweit das Allgemeine an der Allgemeinkundigkeit nur noch die allgemeine Nachprüfbarkeit und gerade nicht mehr die allgemeine Überzeugung ist, wirft dies auch ein anderes Licht auf Legitimationsansätze, die sich auf die besondere „Natur“75 allgemeinkundiger Tatsachen oder die spezifische „Art der Kenntnis“ stützen.
a) Ursprüngliche Natur: Mit der Allgemeinheit geteilte (Art der) Kenntnis Als klassische Natur allgemeinkundiger Tatsachen wurde bereits die tatsächliche und nicht nur potentielle Kenntnis und Überzeugung der Allgemeinheit beschrieben.76 Nur wenn von der Tatsache bereits eine allgemeine Überzeugung bestand, oder in den Worten des Bundesgerichtshofs, der Richter das Wissen in genügend sicherem Maße besitzt, „weil er es mit der Allgemeinheit teilt“,77 sollte der Beweis gemäß § 291 ZPO entfallen. Dabei wurde betont, 73 Besonders sichtbar wird dies bei Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 134, 138, der – in seinem Beispiel der (nach der hier vertretenen Auffassung ebenfalls problematischen) Befragung einer „zuverlässigen“ Person – die „Glaubwürdigkeit des Informanten“ und die „Glaubhaftigkeit der Information“ für so bedeutend hält, dass auf ihre Prüfung auch „im Rahmen der Tatsachenfeststellung durch Annahme der Offenkundigkeit keineswegs verzichtet werden“ könne. 74 Dazu, dass nicht allein das „nachprüfbare“ Ergebnis, sondern gerade im Internet auch die Kontrolle seines Zustandekommens von maßgeblicher Bedeutung ist, noch ausführlich § 7 (dort insb. IV. 2.d) und e)). 75 Ausdrücklich z. B. Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 162. 76 Siehe insb. § 5 III.1. 77 BGH, Urt. v. 14. 7. 1954 – 6 StR 180/54, NJW 1954, 1656 (1656).
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dass die Allgemeinkundigkeit kein Beweismittel sei, sondern eine Eigenschaft der Tatsache.78 Spiegelberg hat dies angesichts der spezifischen „Art der Kenntnis“ dahin modifiziert, dass allgemeinkundige Tatsachen streng genommen nicht selbst anders geartet seien als andere Tatsachen, sondern nur „anders gewusst“ würden.79 Gerade der Umstand, dass der Richter durch informelle Ermittlungen nur Kenntnisse erlange, über die die Allgemeinheit bereits verfügt, sollte (nach historisch umstrittener Ansicht) neben der Verwertung vorhandenen Wissens auch informelle Ermittlungen rechtfertigen.80 Wenn Lipp schreibt, die Distanz des Richters zum zu beurteilenden Sachverhalt sei, wenn er sich über allgemeinkundige Tatsachen informiere, ebenso wenig gefährdet wie wenn er sie bereits kenne, da er kein privates Wissen erwerbe,81 kann dem (wenn überhaupt82) nur zugestimmt werden, weil und soweit Lipp sich auf das Allgemeinkundige im Wortsinn als „das, was alle wissen“83 bezieht. Auch das vielzitierte Urteil des Bundesgerichtshofs zur „Ermittlung“ allgemeinkundiger Lichtverhältnisse stellte gerade auf die Natur der Lichtverhältnisse als allgemein wahrgenommen ab.84 Zwar finden sich innerhalb des online Ermittelbaren gewiss auch heute noch zahlreiche tatsächlich allgemein bekannte Tatsachen. In diesen Fällen wäre eine Legitimation aufgrund der mit der Allgemeinheit geteilten Art der erlangten Kenntnis grundsätzlich weiterhin denkbar. Inwieweit gegen richterliche Internetrecherchen dennoch Bedenken bestehen, wird in § 6 und § 7 der Untersuchung mitbehandelt. Das primäre Interesse dieser Arbeit gilt aber solchen Fällen, in denen das Internet (wie in den meisten Rechtsprechungsbeispielen aus § 4 III.2.) spezifische Ergebnisse der Kategorie des Ermittelbaren hervorbringt, von denen ohne aktives Zutun kaum jemand etwas mitbekommt.
78 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 141; auch unter Geltung der quellenbestimmten Definition noch Buschhorn, Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren, S. 101. Als Beweismittel konnten Quellen als Indiz einer allgemeinen Verbreitung nur dann dienen, wenn das Gericht die Tatsache ausnahmsweise nicht kannte und ihm anstelle der Tatsache selbst ihre Allgemeinkundigkeit bewiesen wurde, siehe dazu auch bereits § 3 IV. 2. 79 Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 92. 80 Siehe dazu § 3 IV. 3. 81 Lipp, Das private Wissen des Richters, S. 65 f., 76 ff., 99. 82 Zur Distanzgefährdung nicht durch die Art der Kenntnis, sondern die Art der Kenntniserlangung siehe noch § 7. 83 Lipp, Das private Wissen des Richters, S. 64. Damit gibt Lipp sich für die Zwecke seiner Untersuchung zufrieden; siehe dazu auch noch § 7 V. 3. 84 BGH, Urt. v. 10. 5. 2007 – III ZR 115/06, NJW 2007, 3211 (3211).
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b) Zirkelschluss bei „Natur“ als Ergebnis einer Recherche Wenn aber das Allgemeinkundige nicht mehr regelmäßig gekannt wird, sondern seine Kenntnis eine gezielte Information nicht nur im Einzelfall, sondern typischerweise voraussetzt – mit anderen Worten: Wenn das Allgemeinkundige nur noch das nachprüfbare Ergebnis eines vereinfachten Beweisverfahrens ist, mutet es paradox an, wenn ausgerechnet diese (Ergebnis-)„Natur“ zugleich legitimierende Voraussetzung desselben Verfahrens sein soll. Bei dieser Übereinstimmung von Voraussetzung und Rechtsfolge ergibt sich ein Zirkelschluss, der dazu führt, dass das Gericht beliebig „drauf los“ recherchieren darf. Die Masse an Informationen, die aus allgemein zugänglichen Quellen verfügbar (und insoweit auch in den dargestellten Grenzen „nachprüfbar“) ist, wird weiter zunehmen. Ein Ende ist nicht in Sicht, da das Internet niemals „voll“ sein wird. Kissel drückt die Dimensionen so aus: „Die Bedeutung von Internet ist quantitativ nicht abschätzbar und geht nach Inhalt, Art und Menge über unser Vorstellungsvermögen hinaus, täglich wächst die Datenmenge ins Unermessliche.“85
Vor dem Hintergrund der voranschreitenden Globalisierung und des Englischen als international gesprochener und vorausgesetzter Sprache dürfte es im Übrigen nur eine Frage der Zeit sein, bis auch fremdsprachige Internetinhalte „allgemeinkundig“ sind. Umso mehr wird zukünftig recherchiert werden können, damit als allgemeinkundig angesehen werden und dadurch wiederum vom Gericht recherchiert werden dürfen. Auf eine Allgemeinkundigkeit als Eigenschaft der Tatsache, die sich von derjenigen ihrer als Beweismittel genutzten Quellen unterscheiden würde, kommt es hingegen nicht mehr an. Exemplarisch ist insoweit wiederum der Beschluss des Arbeitsgerichts Siegen, in dem es argumentiert, dass der Vorwurf einer „Ermittlung auf eigene Faust“ unter Ausschluss der Prozessbeteiligten bei der Feststellung allgemeinkundiger Tatsachen wegen „ihrer Natur“ von vornherein ausscheide. Diese „Natur“ wird dann aber allein mit der Ermittelbarkeit der Tatsache aus qualifizierten Quellen begründet: „Als eine offenkundige Tatsache aus einer allgemein zugänglichen zuverlässigen Quelle ist die aus einem Telefonbuch ermittelbare Telefonnummer anzusehen. Dies gilt ebenfalls dann, wenn sie im Internet über entsprechende Datenbanken – sei es über den Namen, sei es im Wege der Inverssuche – ermittelt werden können.“86
Grund dafür, dass die Ermittlungen zu der streitigen Telefonnummer zulässig waren, war also letztlich, dass sie möglich waren.87 85 86
Kissel, NJW 2006, 801 (801). ArbG Siegen, Beschl. v. 3. 3. 2006 – 3 Ca 1722/05, MMR 2006, 836 (837). 87 Dass die Telefonnummernrecherche nicht nur wegen der Art der erlangten Kenntnis,
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c) Fortwirkung der Scheinlegitimation außerhalb des Internets Der beschriebene Zirkelschluss wirkt auch ins „echte Leben“ fort: So hat das Oberlandesgericht Zweibrücken die private Inaugenscheinnahme einer Betriebsanleitung durch einen Richter im Auto einer Kollegin nachträglich damit „legitimiert“, dass es mit Hilfe einer Suchmaschine88 im Internet nach der Betriebsanleitung „fahndete“ und nach dem Fund einer interaktiven Betriebsanleitung auf der Unternehmenshomepage den darin enthaltenen, bislang von keiner Partei vorgetragenen Warnhinweis für allgemeinkundig befand.89 Den Vorwurf der Beklagten, der Richter habe hierdurch einseitig zugunsten des Klägers einen für die Beklagtenseite nachteiligen tatsächlichen Aspekt in das Verfahren eingeführt, der zuvor von keiner der Parteien angesprochen gewesen sei, wies das Oberlandesgericht zurück und bestätigte die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs durch die Vorinstanz. Der Richter habe lediglich auf privatem Weg Kenntnis von einer „ansonsten offenkundigen“ Tatsache erlangt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur privaten Beobachtung von Lichtverhältnissen90 dürfe er „im Hinblick auf § 291 ZPO auch privates Wissen verwerten oder die notwendigen Tatsachengrundlagen gegebenenfalls selbst ermitteln.“ Seine Grenze finde dies lediglich dort, „[…] wo ein Richter außerhalb eines förmlichen Beweiserhebungsverfahrens mit unzulässigen Beweismitteln gezielt Sachverhaltserforschung unter Ausschaltung der Prozessbeteiligten bzw. tiefgreifende Amtsermittlung betreibt.“91
Warum es sich bei einer durch das konkrete Verfahren veranlassten Lektüre einer (wenngleich „zufällig“ gefundenen) Betriebsanleitung nicht um eine „gezielte“ Sachverhaltserforschung unter Ausschaltung der Prozessbeteiligten handeln soll, bleibt im Einzelnen ebenso offen wie die Frage, ab wann eine Amtsermittlung „tiefgreifend“ ist. Mit dem in Bezug genommenen Fall des Bundesgerichtshofs ist der Fall jedenfalls kaum vergleichbar: Wie bereits dargestellt, hatte der Bundesgerichtshof lediglich die – im zugrunde liegenden Fall unvermeidliche – Wahrnehmung von Tatsachen für unbedenklich gehalten, die der Kategorie des Bekannten zuzuordnen sind: Die Lichtverhältnisse an einem bestimmten Tag bekommen ohne aktives Zutun zwangsläufig unzählige Menschen mit.92 Von einem sehr spezifischen Warnhinweis in der Betriebs sondern allem voran wegen der Art der Kenntniserlangung bedenklich erscheint, wird in § 7 IV. 2.b) erörtert. 88 Dazu ausführlich § 7. 89 OLG Zweibrücken, Beschl. v. 13. 12. 2013 – 3 W 147/13, Rn. 6, juris. 90 BGH, Urt. v. 10. 5. 2007 – III ZR 115/06, NJW 2007, 3211 (3211); siehe dazu ausführlich § 4 II.2. 91 OLG Zweibrücken, Beschl. v. 13. 12. 2013 – 3 W 147/13, Rn. 6, juris. 92 Zur Unterscheidung zwischen bloßem Mitbekommen und gezielter Selbstinformation siehe auch noch § 7 V.
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anleitung eines bestimmten Fahrzeugtyps wird man dies hingegen schwerlich behaupten können. Der Warnhinweis unterfällt vielmehr allein der Kategorie des Ermittelbaren und wird überhaupt erst durch eine – im vorliegenden Fall offenbar sogar erst nachträglich durchgeführte – Recherche „allgemeinkundig“. Auch hier wurde die (Offline-)Ermittlung allein durch die Möglichkeit einer (Online-)Ermittlung „legitimiert“. Die vermeintliche Legitimation durch Nachprüfbarkeit steht hier schließlich auch wegen des bereits dargestellten Aspekts in Frage, dass sich die „Allgemeinkundigkeit“ im Internet ständig wandelt: So war die in Bezug genommene Online-Version der Betriebsanleitung z. B. im Januar 2017 nicht (mehr) verfügbar.93 Im Oktober 2016 war ihr explizit der Hinweis beigefügt: „Etwaige Abweichungen zu Ihrem konkreten Fahrzeug könnten nicht berücksichtigt sein, da Mercedes-Benz seine Fahrzeuge ständig dem neuesten Stand der Technik anpasst, sowie Änderungen in Form und Ausstattung vornimmt. Bitte beachten Sie daher, dass diese Online-Betriebsanleitung in keinem Fall die gedruckte Betriebsanleitung ersetzt, die mit dem Fahrzeug ausgeliefert wurde.“94
Eine etwaige online „nachprüfbare“ Version der interaktiven Betriebsanleitung muss also weder mit der vom Gericht aufgerufenen Version, noch mit der vom Richter im Auto der Kollegin studierten Papierversion, noch mit der – allein relevanten – Betriebsanleitung des streitgegenständlichen Fahrzeugs übereinstimmen.
5. Sonderfall: Legitimation durch Amtlichkeit a) Amtliche Quellen als Allgemeinkundigkeitsquellen Eine besondere „Natur“ haben allerdings aus anderen Gründen die Standardbeispiele des Bundesgerichtshofs für Allgemeinkundiges im Sinne der Kategorie des (nur) Ermittelbaren: Sowohl bei den regelmäßig als allgemeinkundig verwerteten verschiedenen Verbraucherpreis- und sonstigen Indizes95, als auch bei anderen „allgemeinkundigen“ Tatsachen wie der Bestellung eines Insolvenzverwalters96 fällt auf, dass es sich stets um amtlich Bekanntgemachtes handelt. Als allgemein zugängliche und zuverlässige Quellen sieht der Bundesgerichtshof 93
Siehe dazu bereits oben 2.a)bb)(1). http://moba.i.daimler.com/baix/cars/w176fl/de_DE/index.html#emotions/Disclaimer. html, aufgerufen am 6. 10. 2016. 95 BGH, Urt. v. 4. 5. 1990 – V ZR 21/89, BGHZ 111, 214 = NJW 1990, 2620 (2622); Urt. v. 24. 4. 1992 – V ZR 52/91, NJW 1992, 2088 (2088); Urt. v. 10. 12. 2003 – XII ZR 155/01, NJW‑RR 2004, 649 (649); Beschl. v. 10. 12. 2004 – IXa ZB 73/04, NJW‑RR 2005, 366 (366); Urt. v. 4. 3. 2009 – XII ZR 141/07, NJW‑RR 2009, 880 (881); Urt. v. 2. 3. 2012 – V ZR 159/11, WM 2013, 232 (233); Urt. v. 7. 11. 2012 – XII ZR 41/11, NZM 2013, 148 (149). 96 BGH, Beschl. v. 5. 7. 2005 – VII ZB 16/05, NJW‑RR 2005, 1716 (171). 94
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§ 5 Ermittelbarkeit als Wesensmerkmal der Allgemeinkundigkeit?
also offenbar primär amtliche Quellen an.97 Auch andernorts werden amtliche Informationen als typisch „zuverlässige“ Informationen genannt.98
b) Eigener Ansatz: Amtliche Auskunft i. S. d. § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO aa) Amtlichkeit als Legitimationsbasis Die spezifische Legitimationsbasis der Verwertung amtlicher Informationen ist aber gerade und ausschließlich ihre Amtlichkeit – und nicht etwa ihre „Nachprüfbarkeit“ durch allgemeine Zugänglichkeit. Erst recht nicht werden amtliche Bekanntmachungen tatsächlich regelmäßig von einer relevanten Personen anzahl zur Kenntnis genommen.99 Und auch ihre „Zuverlässigkeit“ folgt allein aus ihrer Amtlichkeit. Für die Ermittlung amtlicher Informationen hat die ZPO aber eine speziellere Vorschrift vorgesehen als § 291 ZPO: die in § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO geregelte Erteilung amtlicher Auskünfte.
bb) Online-Abruf als (Alternative zur) Auskunft § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO ermächtigt das Gericht unter anderem, Behörden um Erteilung amtlicher Auskünfte zu ersuchen. Damit soll eine frühzeitige Beschaffung der für die Entscheidung erheblichen amtlichen Informationen ermöglicht werden. Dies dient wiederum einer effizienten Vorbereitung der mündlichen Verhandlung, um den Prozess möglichst in einem Termin erledigen zu können.100 Dem Zweck, amtlich geprüftes und damit besonders legitimiertes Wissen für die mündliche Verhandlung bereitzustellen, entspricht es heutzutage, auch einen Online-Abruf von Informationen, die eine solche Stelle in ihrem amtlichen Internetauftritt veröffentlicht hat, zuzulassen. Denn das Gericht könnte dieselben Informationen auch im Wege einer „echten“ Auskunft erfragen. Es ist dann lediglich eine dogmatische Frage, ob man den OnlineAbruf als „Auskunft“ oder als deren zulässige Alternative versteht.
97 Allerdings sollen nach der Rechtsprechung des BGH wohl weder alle amtlichen Veröffentlichungen per se allgemeinkundig sein (siehe z. B. zu öffentlichen Registern den bereits erwähnten Beschl. v. 8. 11. 2012 – V ZB 124/12, BGHZ 195, 292 = NZG 2013, 33 (34)), noch hat er eine ausdrückliche Beschränkung der im Rahmen des § 291 ZPO gemeinten „zuverlässigen“ Quellen auf amtliche Quellen zum Ausdruck gebracht. Dies wird auch in der Literatur nicht vertreten. 98 Siehe z. B. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11. 4. 2017 – I-4 U 31/17, VersR 2018, 87 (88); Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4; BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 5; Greger, in: FS Stürner, 289 (293); Howe, DisputeResolution 2/2015, 19 (20 f.). 99 Darauf hat bereits Stein, Das private Wissen des Richters, S. 143 ff. hingewiesen. 100 Zum Beschleunigungszweck des § 273 ZPO als „Dreh- und Angelpunkt einer konzentrierten Verfahrensleitung“ statt aller MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 273 Rn. 2.
III. Legitimation
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cc) Beispiel: Wetter Als Beispiel eignet sich das Wetter: Spielt in einem Rechtsstreit das Wetter an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit in der Vergangenheit eine Rolle, war das klassische gerichtliche Vorgehen bislang die Einholung einer (schriftlichen) amtlichen Auskunft des Deutschen Wetterdienstes gemäß § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.101 Heutzutage ist das Wetter jedes Tages der Vergangenheit hingegen „allgemeinkundig“, da es jederzeit von jedermann auf verschiedenen allgemein zugänglichen Wetterseiten inklusive Archiv im Internet nachvollzogen werden kann. Das Landgericht Dessau-Roßlau könnte insoweit Vorreiter einer neuen gerichtlichen Praxis sein: Es hat ausgeführt, aus „allgemein zugänglichen Quellen wie den einschlägigen Wetterbericht- bzw. Wettervorhersage-Seiten im Internet“ lasse sich entnehmen, „[…] dass Ende März in der Region Mitteldeutschland noch Nacht- und Bodenfrost auftreten kann (exemplarisch etwa der Wetterbericht auf wetter.de für den 27.03./28. 03. 2011).“102
Daran verwundert, dass das Gericht an die Stelle einer amtlichen Auskunft des Deutschen Wetterdienstes nicht etwa dessen eigene im Internet archivierte Informationen zu in der Vergangenheit gemessenen Werten gesetzt hat,103 sondern die archivierten Prognosen eines privaten Wetterdienstes104 – möglicherweise deshalb, weil dieser bei Eingabe eines Schlagworts (wie z. B. „Wetter“) in eine Internetsuchmaschine sehr viel weiter oben in der Trefferliste angezeigt wurde als die Homepage des Deutschen Wetterdienstes.105
101 Siehe z. B. OLG Celle, Urt. v. 10. 11. 1993 – 9 U 167/92, Rn. 15 und 40 f., juris; OLG Köln, Urt. v. 5. 2. 2004 – 12 U 112/03, VersR 2005, 512 (512); OLG München, Urt. v. 28. 3. 2006 – 25 U 3532/05, Rn. 3 u. 15, juris; OLG Rostock, Urt. v. 16. 5. 2008 – 5 U 105/08, Rn. 19, juris; OLG Brandenburg, Urt. v. 1. 7. 2009 – 3 U 92/08, Rn. 11, juris; LAG Köln, Beschl. v. 21. 2. 2013 – 6 TaBV 43/12, Rn. 14 u. 19, juris, bestätigt von BAG, Beschl. v. 27. 5. 2015, 7 ABR 26/13, NZA 2015, 1141 ff. 102 LG Dessau-Roßlau, Urt. v. 7. 6. 2012 – 1 S 32/12, Rn. 4, juris. Ob der aus der „exemplarisch“ herangezogenen „allgemeinkundigen“ Tatsache (Wetterbericht eines konkreten Datums) von dem Gericht selbst induzierte Erfahrungssatz (allgemeine Möglichkeit des Bodenfrosts Ende März) hinreichend fundiert ist, ist eine andere Frage; zum Verhältnis von Tatsachen und Erfahrungssätzen siehe § 2 V. 103 Unter http://www.dwd.de/ stellt der Deutsche Wetterdienst zahlreiche Informationen zur Verfügung, zu denen auch ein Archiv mit qualitätsgeprüften Monats- und Tageswerten der bundesweiten Wetterstationen seit Beginn der Wetteraufzeichnungen gehört, siehe http://www. dwd.de/DE/leistungen/klimadatendeutschland/klarchivtagmonat.html?nn=16102, zuletzt aufgerufen am 5. 4. 2018. 104 Die vom Gericht herangezogene Website wird nach eigenen Angaben von der RTL interactive GmbH betrieben, die ihre Wetter-Daten von dem privaten Wetterdienst „MeteoGroup“ der MeteoGroup Deutschland GmbH bezieht, siehe http://www.wetter.de/impressum. html, zuletzt aufgerufen am 5. 4. 2018. 105 Mit diesem Problemkreis beschäftigt sich § 7.
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§ 5 Ermittelbarkeit als Wesensmerkmal der Allgemeinkundigkeit?
Der Legitimation einer amtlichen Auskunft entspricht jedoch allein der Online-Auftritt des Deutschen Wetterdienstes. Dieser kann eine „echte“ Auskunft freilich nur dann ersetzen, wenn die benötigte Information sich ohne Weiteres abrufen lässt und keine individuelle amtliche Prüfung erfordert. Reichen die online bereitgestellten Informationen im konkreten Fall aus, spricht aber nichts gegen ihren – gezielten und nicht „gegoogelten“106 – Abruf von der amtlichen Homepage. Einer „Uminterpretation“ der amtlichen Informationsgrundlage zur Quelle der Allgemeinkundigkeit bedarf es dafür nicht.107 Die richtige Verortung bleibt hingegen wegen der Amtlichkeit der Information § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.
dd) Beispiel: Indizes und andere statistische Daten Auch der vom Bundesgerichtshof häufig in Bezug genommene Verbraucherpreisindex und ähnliche statistische Berechnungen sind in § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO besser aufgehoben als in § 291 ZPO. Bei diesen erscheint nicht nur ihre Allgemeinkundigkeit fragwürdig, sondern auch die (von § 291 ZPO vorausgesetzte108) Tatsacheneigenschaft: Das statistische Bundesamt ermittelt den Verbraucherpreisindex durch eine monatliche Erhebung der Verkaufspreise bestimmter repräsentativ ausgewählter Waren und Dienstleistungen (sowohl in ausgewählten, gleichbleibenden Geschäften als auch „zentral“ im Internet). Aus diesen werden fortlaufende „Preisreihen“ für einzelne Produkte erstellt, die anschließend zu Teilindizes zusammengefasst werden. Deren gewichteter Mittelwert ist der Verbraucherpreisindex.109 Dieser Mittelwert kann – anders als beispielsweise ein Gegenstand, ein Ereignis oder auch der Verkaufspreis einer konkreten Ware – nicht als solcher sinnlich wahrgenommen werden.110 Kennzeichnend ist vielmehr, dass er aus verschiedenen Einzeltatsachen (Einzelverkaufspreisen) berechnet wird und dadurch eine neue, von den Einzeltatsachen unabhängige Aussage (nämlich diejenige über den Mittelwert) ermöglicht. Damit handelt es sich nach den in § 2 V. dargelegten Grundsätzen bei Indizes
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Siehe auch dazu ausführlich § 7. aber z. B. für die Aufzeichnungen des Deutschen Wetterdienstes (ohne Internetbezug) Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 126. 108 Siehe dazu § 2 V. 109 Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch Deutschland 2017, S. 411. Mit Hilfe dieser Indizes kann die Inflation „aus Sicht der privaten Endverbraucherinnen und Endverbraucher“ gemessen werden. Indem Preisindizes in Verträgen über regelmäßig wiederkehrende Zahlungen in Bezug genommen werden, kann gewährleistet werden, dass ein vereinbarter Betrag auch zukünftig wertmäßig der ursprünglich festgelegten Geldsumme entspricht (vgl. ebd.). 110 Dass man den Index lesen kann, ändert an dieser Einordnung nichts: „Lesbar“ ist jeder Erfahrungssatz. Entscheidend ist, dass der Index anders als der einzelne Verkaufspreis nicht einem konkreten Gegenstand zugeordnet und als Teil dieses Gegenstands wahrgenommen werden kann. 107 So
IV. Zwischenergebnis
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um typische statistische Erfahrungssätze.111 Unabhängig davon ist eine „Mitteilung über […] gesammelte Daten“ jedenfalls ein typischer Gegenstand einer amtlichen Auskunft.112 Auch hier spricht nichts dagegen, einen Online-Abruf an die Stelle schriftlicher Auskünfte zu setzen.113 Entsprechendes gilt für bislang „allgemeinkundige“ Daten in amtlichen statistischen Jahrbüchern114 sowie Statistiken der Bundesbank115.
ee) Amtlichkeit und Allgemeinkundigkeit Natürlich können auch amtlich dokumentierte Tatsachen im Einzelfall allgemeinkundig im klassischen Sinn sein – allerdings nicht wegen, sondern unabhängig von ihrer Amtlichkeit, wenn die Menschen tatsächlich etwas davon mitbekommen. Für den Verbraucherpreisindex gilt das sicherlich nicht. Und auch im Wetterbeispiel wird dies selten konkrete Wetterdaten eines bestimmten Tages betreffen, sondern eher allgemeine Wetterlagen wie den bereits erwähnten „Jahrhundertsommer“.116 Auch aktuelle Unwetterwarnungen des Deutschen Wetterdienstes, die nicht nur irgendwo zum Abruf hinterlegt sind, sondern über TV-, Radio-, Print- und Online-Nachrichten allgemein verbreitet werden, gehören hierher. Teilt der Richter diese (vorhandene) Kenntnis mit der Allgemeinheit, ist ihre Verwertung unabhängig von der Möglichkeit einer amtlichen (Online-)Auskunft aufgrund der allgemeinen Überzeugung legitimiert.
IV. Zwischenergebnis Das Internet hat die gesellschaftliche Bedeutung eines „Allgemeinwissens“ zugunsten einer jederzeitigen Verfügbarkeit von Informationen verdrängt. Diese Entwicklung wird wie selbstverständlich in den zivilprozessualen Begriff der Allgemeinkundigkeit übertragen. Mit einer allgemeinen „Kundigkeit“ hat das 111 So allgemein hinsichtlich amtlicher Statistiken auch Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 146. 112 Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 273 Rn. 31 (zu Äußerungen eines Gutachterausschusses, die nur hinsichtlich der gesammelten Daten amtliche Auskünfte darstellten und im Übrigen ein Sachverständigengutachten); vgl. auch die Auflistung bei Stein/ Jonas/Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 373 Rn. 44. 113 Verbesserungsbedürftig ist insoweit allein die Dokumentation der genauen Quelle, siehe dazu § 5 III.2.a)bb)(2). 114 BGH, Urt. v. 6. 5. 1993 – I ZR 84/91, NJW‑RR 1993, 1122 (1123). 115 LG Köln, Urt. v. 8. 4. 2008 – 2 O 181/07, Rn. 45, juris; bestätigt von OLG Köln, Urt. v. 13. 11. 2008 – 8 U 26/08, juris, Rn. 107; aus anderen Gründen aufgehoben von BGH, Urt. v. 12. 11. 2009 – IX ZR 218/08, WM 2010, 138; ebenso OLG Köln, Urt. v. 14. 2. 2012 – 18 U 142/11, Rn. 203, juris; Urt. v. 14. 2. 2012 – 18 U 158/11 Rn. 151, juris; Urt. v. 24. 5. 2012 – 18 U 308/11, Rn. 161, juris. 116 OLG München, Urt. v. 26. 6. 2012 – 13 U 4950/11, Rn. 46, juris; siehe dazu bereits § 4 III.3.c).
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§ 5 Ermittelbarkeit als Wesensmerkmal der Allgemeinkundigkeit?
allgemein Ermittelbare allerdings schon begrifflich wenig zu tun. Wesensmerkmal des Ermittelbaren ist nicht mehr die tatsächliche, sondern allein die potentielle Kenntnis der Allgemeinheit. Das ist beweisrechtlich bedenklich, weil das Ermittelbare damit über keine gleichwertige Legitimationsbasis verfügt wie das allgemein Verbreitete, um einen Beweisentfall zu rechtfertigen. Die klassische Legitimationsbasis einer im Voraus tatsächlich bestehenden, die Wahrheit der Tatsache indizierenden und die richterliche Distanz zum Sachverhalt garantierenden allgemeinen Überzeugung wird in der Kategorie des Ermittelbaren ersetzt durch eine nachträgliche, potentielle Nachprüfbarkeit der individuellen Überzeugung des Gerichts von der – im Internet bisweilen keineswegs eindeutigen – Zuverlässigkeit der Quelle bzw. der Wahrheit der Tatsache. Die individuelle Überzeugung des Gerichts kann aber anders als die allgemeine Überzeugung gerade nicht Indiz der Wahrheit sein, sondern ist klassischer Gegenstand des regulären Beweisverfahrens. Die heutige „Allgemeinkundigkeit“ beschreibt demgegenüber nur noch das nachprüfbare Ergebnis eines „vereinfachten“ Beweisverfahrens, welches sich vom regulären Beweisverfahren nur dadurch unterscheidet, dass die – zur Beschaffung der allgemein zugänglichen Beweismittel nicht benötigten – Parteien ausgeschlossen und auf die „Nachprüfbarkeit“ des Ergebnisses verwiesen werden. Soweit die allgemeine „Natur“ der Allgemeinkundigkeit damit nicht mehr eine allgemeine Art der Kenntnis, sondern nur noch die allgemeine Nachprüfbarkeit ist, führt jede Argumentation, die von der „Natur“ allgemeinkundiger Tatsachen oder ihrer Art der Kenntnis als legitimierende Voraussetzung der Recherche ausgeht, in den Zirkelschluss, dass recherchiert werden darf, was recherchiert werden kann. Eine besondere, legitimierende „Natur“ haben hingegen amtliche Veröffentlichungen. Diese ergibt sich jedoch gerade aus ihrer Amtlichkeit und nicht aus ihrer vermeintlichen Allgemeinkundigkeit. Ihre Ermittlung im Prozess sollte daher nicht über § 291 ZPO, sondern über § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO erfolgen. Bei teleologischer Auslegung deckt die dort geregelte amtliche Auskunft auch einen gezielten Informationsabruf von amtlichen Internetseiten ab, weil und soweit das Gericht dieselbe Information auch im Wege einer „echten“ Auskunft anfordern könnte und eine individuelle amtliche Prüfung nicht erforderlich ist.
§ 6 Vom Allgemeinkundigkeitsbegriff unabhängige Kritik am „vereinfachten Beweisverfahren“ I. Vermengung von Definition und prozessualer Behandlung allgemeinkundiger Tatsachen 1. Richterliche Internetrecherchen per definitionem zulässig Neben dem dargestellten Legitimationsdefizit des Ermittelbaren ist die Bestimmung des Allgemeinkundigen anhand dieser Kategorie prozessrechtlich auch deshalb bedenklich, weil sie dazu führt, dass die Definition allgemeinkundiger Tatsachen einerseits und die Frage des richterlichen Erwerbs ihrer Kenntnis im Prozess andererseits verschwimmen. Die Kernfrage dieser Arbeit – ob § 291 ZPO dem Gericht erlaubt, informelle Internetrecherchen durchzuführen – scheint im Grundsatz bereits per definitionem beantwortet: Wo die Ermittelbarkeit der Tatsache (auch) durch das Gericht als Voraussetzung der Allgemeinkundigkeit angesehen wird, stellt sich die Frage nach der grundsätzlichen prozessrechtlichen Zulässigkeit entsprechender Recherchen nicht. Dass (zumindest) die Beweiserhebung über streitigen Parteivortrag „dank des Rückgriffs auf das Internet“ entfallen kann, ergibt sich vielmehr unmittelbar aus dem Allgemeinkundigkeitsbegriff.1 Und wenn bereits die Definition als „vereinfachtes Beweisverfahren“ gelesen wird, ist es ferner auch konsequent, dass als prozessrechtliches Problem außerhalb der Bestimmung der Allgemeinkundigkeit allein die Erörterung der alten Frage der Verwertung ohne Parteivortrag verbleibt. Die Internetrecherche stellt sich so allein als Problem des Beibringungsgrundsatzes dar.2
2. (Keine) Unterscheidung von Recherche und Verwertung Dieses Verständnis verstellt den Blick darauf, dass die Frage nach der prozessrechtlichen Zulässigkeit der Recherche, wenn man sie aus der Definition der Allgemeinkundigkeit herauslöst, keineswegs identisch ist mit derjenigen der 1 Greger, in: FS Stürner, 289 (293); vgl. auch Dötsch, MDR 2011, 1017 ff.; Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4 sowie die in § 4 III.2. dargestellte Rechtsprechung. 2 Siehe dazu § 4 IV. 2.
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§ 6 Vom Allgemeinkundigkeitsbegriff unabhängige Kritik
Verwertung (und anders als letztere auch nicht nur anhand des Beibringungsgrundsatzes zu beantworten ist3). Das verdeutlicht eine Erinnerung an den Kern des Verwertungsstreits:4 Die amtswegige Verwertung allgemeinkundiger Tatsachen wird seit jeher gerne mit dem Argument begründet, dass das Gericht seine vorhandenen Kenntnisse nicht einfach abstreifen und unberücksichtigt lassen könne:5 Es könne nicht veranlasst werden, auf einer falschen Tatsachengrundlage zu entscheiden, wenn es die wahren Tatsachen kennt.6 Besonders einleuchtend ist dies für den Fall, dass das Gericht seiner Entscheidung ein Geständnis zugrunde legen soll, von dessen Unwahrheit es aufgrund der Kenntnis des Gegenteils überzeugt ist. Denkbar ist aber neben bewusst unwahrem Tatsachenvortrag der Parteien auch, dass diese eine Tatsache nicht vortragen, weil sie ihnen (anders als dem Gericht) schlicht unbekannt ist: Schon Stein beschrieb das beispielhafte Dilemma, dass eine falsche Entscheidung vorprogrammiert und ein neuer Prozess unvermeidlich wäre, wenn das Gericht von der im Ort allseits bekannten Tatsache wisse, dass das Haus, zu dessen Überlassung der Beklagte verpflichtet werden soll, abgebrannt ist, dies den (nicht ortsansässigen) Parteien aber nicht mitteilen dürfe.7 Um eine wissentlich falsche Entscheidung zu verhindern, ging Stein davon aus, dass das Gericht die Partei darauf hinweisen dürfe, dass die Behauptung einer Tatsache naheläge. Für Pantle ist es sogar die ratio legis des § 291 ZPO, dass es dem Richter in solchen Fällen nicht zuzumuten sei, wider besseres Wissen zu urteilen.8 Diesen Argumenten ist durchaus zuzustimmen. Soweit es um vorhandenes Wissen des Gerichts geht, wird die herrschende Meinung zugunsten einer amtswegigen Verwertung hier geteilt. In dem dargestellten Gewissenskonflikt befindet sich der Richter aber von vornherein nicht, wenn er die fragliche Tatsache noch nicht kennt, sondern erst ermittelt. In diesem Fall begibt sich der Richter vielmehr auf die Suche nach neuen Erkenntnissen. Hierfür können durchaus andere Maßstäbe gelten als für die Verwertung vorhandenen Wissens.
3. Ursprüngliche Selbstverständlichkeit der Unterscheidung Ursprünglich war eine Unterscheidung der beiden Fragen selbstverständlich:9 Besonders deutlich wird dies bei Langenbeck, der die „Möglichkeit ex officio 3 4
Dazu noch ausführlich § 7. Siehe zu diesem auch bereits § 4 IV. 2.a). 5 Endemann, Die Beweislehre des Zivilprozesses, S. 79 f. (sogar über das „notorische“ Wissen hinaus); Hahn, Kooperationsmaxime im Zivilprozess?, S. 235; vgl. auch Lipp, Das private Wissen des Richters, S. 25 und Coester-Waltjen, in: FS Areios Pagos, 28 (29). 6 Zettel, Der Beibringungsgrundsatz, S. 111; Koch, Mitwirkungsverantwortung im Zivilprozess, S. 32; Schilken, ZZP 2013, 403 (410 f.). 7 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 164. 8 Pantle, MDR 1993, 1166 (1167 f.). 9 Siehe dazu bereits § 3 III. und IV.
I. Vermengung von Definition und prozessualer Behandlung
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zu unternehmender, auf Gewinnung der Offenkundigkeit gerichteter Schritte“ einerseits und die schon zu seiner Zeit diskutierte Verwertung allgemeinkundiger Tatsachen ohne Parteivortrag andererseits ausdrücklich als „verschiedene, aber gleich wichtige“ Fragen behandelte.10 Während Langenbeck im Ergebnis beide Fragen mit unterschiedlicher Begründung verneinte, zeigt das Beispiel Apfelbaums, dass die Differenzierung auch zu unterschiedlichen Antworten führen kann: Apfelbaum unterschied in der Frage der Verwertung zwischen rechtserzeugenden Tatsachen einerseits und Hilfs- oder Indiztatsachen andererseits und hielt die amtswegige Verwertung letzterer für zulässig. Zugleich war für ihn selbstverständlich, dass der Richter unabhängig vom Vorgetragensein dieser Tatsachen „weder das Recht noch die Pflicht“ habe, eigene Ermittlungen anzustellen.11
4. Einführung eines vereinfachten Beweisverfahrens qua definitione? Die hier kritisierte Vermengung ist erst auf der Grundlage der bundesgerichtlichen Definitionen aus den 1950er Jahren entstanden, in deren als eigenständig verstandener Kategorie des Ermittelbaren ein vereinfachtes Beweisverfahren gesehen wird, das dem Gericht formlose Ermittlungen in allgemein zugänglichen, zuverlässigen Quellen erlaube.12 Dabei könnte man die maßgeblichen Urteile durchaus auch anders lesen: Es wurde gezeigt, dass die Kategorie des Ermittelbaren in den betreffenden Urteilen auch als unselbständige, mit dem Bekannten kumulativ zu verstehende Beschreibung des Allgemeinkundigen verstanden werden kann.13 Insbesondere auf dieser Grundlage ist mit der Formulierung, allgemeinkundig seien Tatsachen, von denen „verständige Menschen“, wenn sie nicht bereits Kenntnis haben, sich aus zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkunde sicher unterrichten können,14 keineswegs ausdrücklich gesagt, dass zugleich auch dem Gericht gestattet sein soll, dasselbe im Prozess zu tun.15 Stattdessen könnte die Formulierung ohne Weiteres auf die – dem historischen Schwerpunkt des damaligen § 264 CPO näher kommende – Aussage beschränkt sein, dass das Gericht vorhandene Kenntnisse ohne Beweis verwerten darf, 10 Langenbeck, ZZP 1882, 470 (492). 11 Apfelbaum, Die bei Gericht offenkundigen
Tatsachen, S. 50 f. Siehe § 4 II. Siehe § 4 II.1. 14 BGH, Urt. v. 14. 7. 1954 – 6 StR 180/54, BGHSt 6, 292 (293); ebenso BVerfG, Beschl. v. 3. 11. 1959 – 1 BvR 13/59, BVerfGE 10, 177 = NJW 1960, 31 (31): „[…] von denen verständige und erfahrene Menschen […] sich […] überzeugen können“; ähnlich BGH, Urt. v. 13. 10. 1959 – I ZR 58/58, GRUR 1960, 126 (128): „[…] über die man sich […] unterrichten kann“ (Hervorhebungen durch Verf.). 15 Bei Musielak/Voit, Grundkurs ZPO, Rn. 744 wird aus der Formulierung hingegen von vornherein, dass die Tatsache „[…] einer beliebigen Menge bekannt ist […] und der Richter sich darüber aus zuverlässigen Quellen (zB aus dem Internet) ohne besondere Fachkunde sicher unterrichten kann“ (Hervorhebung durch Verf.). 12 13
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§ 6 Vom Allgemeinkundigkeitsbegriff unabhängige Kritik
wenn es sich um solche handelt, von denen verständige Menschen regelmäßig ebenfalls Kenntnis haben oder sich zumindest aus qualifizierten Quellen unterrichten können. Dafür spricht allem voran, dass es in keiner der drei Entscheidungen, auf die die Definitionen zurückgehen, um gerichtliche Ermittlungen in Allgemeinkundigkeitsquellen ging: Vielmehr war allein darüber zu entscheiden, ob im konkreten Fall die vorhandene Kenntnis des Gerichts von dem seit Jahren auf dem Markt erscheinenden und jedermann gegenübertretenden Warenzeichen des „Stern“16 bzw. von der Durchsetzung aller größeren Behörden mit Verbindungs leuten der NSDAP im Jahr 193617 als allgemein- oder gerichtskundig verwertet werden durfte. Auch, dass der Strafsenat in dem dritten relevanten Urteil (in dem es an sich um eine hier nicht interessierende Aktenkundigkeit ging) den Beweisentfall bei Allgemeinkundigkeit damit begründete, dass der Richter das entsprechende Wissen „[…] in genügend sicherem Maße besitzt, weil er es mit der Allgemeinheit teilt“18, zeigt, dass der Erwerb allgemeinkundigen Wissens nicht Gegenstand der Befassung war. Die Definitionen waren also, dem Kontext nach zu urteilen, mehr an der auch historisch vorrangigen Frage orientiert, welche vorhandenen Kenntnisse das Gericht haben und verwerten darf, als an der Frage, welche es erlangen darf. Es ist nicht auszuschließen, dass die Definitionen anders ausgefallen wären, wenn nicht die Funktion der Wissensverwertung, sondern eines Beweisverfahrens leitend gewesen wäre. Darüber, ob das Gericht die in den Definitionen genannten Allgemeinkundigkeitsquellen außerhalb eines regulären Beweisverfahrens nutzen darf, wäre bei dieser Lesart keine Aussage getroffen. Die „Ergebnisse einer Internetrecherche des Gerichts“19 in qualifizierten Quellen wären jedenfalls nicht per definitionem allgemeinkundig. Angesichts der weitreichenden praktischen Konsequenzen, die erst im Zusammenhang mit dem Internet so deutlich und gehäuft zutage treten, darf – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Gesetzesbindung der Gerichte aus Art. 20 Abs. 3 GG20 – bezweifelt werden, ob mit der Kategorie des Ermittelbaren tatsächlich ohne Notwendigkeit qua definitione ein vereinfachtes Beweisverfahren eingeführt werden sollte, ohne dies ausdrücklich zu erwähnen oder zu begründen. Das gilt umso mehr, als dem eingangs erörterten Recht auf Beweis nach heute einhelliger Meinung Verfassungsrang zukommt, so dass jede Einschränkung dieses Rechts einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf.21 16 17
BGH, Urt. v. 13. 10. 1959 – I ZR 58/58, GRUR 1960, 126 (128). BVerfG, Beschl. v. 3. 11. 1959 – 1 BvR 13/59, BVerfGE 10, 177 = NJW 1960, 31 (31). 18 BGH, Urt. v. 14. 7. 1954 – 6 StR 180/54, BGHSt 6, 292 = NJW 1954, 1656 (1656) (Hervorhebung durch Verf.). 19 Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3. 20 Zur häufigen Unterschätzung der Gesetzesbindung bei der Rechtsfortbildung siehe Prütting/Gehrlein/Prütting, ZPO, 9. Aufl. 2017, Einl. Rn. 37. 21 MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 284 Rn. 18; zum Recht auf Beweis siehe § 2 II.
II. Wortlaut und Systematik
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Im Folgenden wird geprüft, ob das Verständnis des § 291 ZPO als vereinfachtes Beweisverfahren unabhängig von der Definition der Allgemeinkundigkeit mit Wortlaut, Systematik und Telos des § 291 ZPO vereinbar ist.
II. Wortlaut und Systematik 1. Wortlaut des § 291 ZPO und weiterer Normen: Offenkundigkeit „bei dem Gericht“ Unter der Geltung der heutigen Definition bleibt bei der Subsumtion unter die Tatbestandsmerkmale der allgemeinen Zugänglichkeit und Zuverlässigkeit der Quelle teilweise unbemerkt, dass der Gesetzestext andere und weitere Voraussetzungen als Quelleneigenschaften enthält: So erwägen zum Beispiel Brutzer22 und Hiegert23 im Rahmen des § 727 ZPO eine gegenüber § 291 ZPO engere Auslegung, da § 727 ZPO eine Offenkundigkeit „bei [dem] Gericht“ voraussetze. Dabei übersehen beide, dass die Formulierung „bei dem Gericht offenkundig“ sich in § 291 ZPO in identischem Wortlaut findet. Auch Greger zitiert § 291 ZPO bei der Untersuchung richterlicher Internetrecherchen von vornherein ohne diesen Teil des Wortlauts.24 § 291 ZPO regelt einen Beweisentfall lediglich für Tatsachen, die „bei dem Gericht“ offenkundig „sind“. Begrifflich erfasst sind damit ausschließlich dem Gericht bereits bekannte Tatsachen. Von Tatsachen, die dem Gericht aufgrund einer Recherche offenkundig werden, ist in § 291 ZPO nicht die Rede. Vielmehr ergibt sich aus dem Wortlaut im Wege eines argumentum e contrario, dass in allen Fällen, in denen die Offenkundigkeit bei dem Gericht nicht gegeben ist, eine Beweiserhebung stattzufinden hat.25 In § 3 der Arbeit wurde dargelegt, dass das Reichsgericht und die frühen Autoren der Offenkundigkeit auf diesen Teil der Vorschrift großen Wert legten.26 Die vorprozessuale Kenntnis des Gerichts wurde sogar als das „Wesen der Offenkundigkeit“ angesehen.27 In der heutigen Kategorie des Ermittelbaren wird hingegen aus „bei dem Gericht offenkundig“ per definitionem „allgemein und damit auch von dem Gericht ermittelbar“. Im Hinblick auf andere Normen, die eine Offenkundigkeit „bei dem Gericht“ voraussetzen, gehen einige Kommentatoren des § 291 ZPO hingegen davon aus, dass mit dieser nur die Gerichtskundigkeit und nicht auch die Allgemeinkundig22 23
Brutzer, Offenkundigkeit. Wesen und Wert des Begriffs im Strafrecht, S. 65, 72. Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 95. 24 Greger, in: FS Stürner, 289 (292). 25 Langenbeck, ZZP 1882, 470 (484). 26 Siehe dazu § 3 IV. 1. 27 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 163.
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§ 6 Vom Allgemeinkundigkeitsbegriff unabhängige Kritik
keit gemeint sei: Das gilt neben der den Nachweis einer Rechtsnachfolge entbehrlich machenden Offenkundigkeit „bei dem Gericht“ gemäß § 727 ZPO28 insbesondere für die in §§ 71 Abs. 2, 147 Abs. 2, 164, 177 ZVG und § 29 Abs. 1 GBO erwähnten Tatsachen, die ebenfalls eines Nachweises nicht bedürfen, wenn sie „bei dem Gericht“ (bzw. dem Grundbuchamt) offenkundig sind.29 Unter Gerichtskundigkeit verstehen fast alle diese Autoren aber mit der herrschenden Meinung nur eine präsente (amtliche) Kenntnis des Gerichts.30 In all diesen Fällen wird also offenbar angenommen, dass ein spezifischer Nachweis der jeweiligen Tatsache gerade deshalb unterbleiben kann, weil das Gericht sie kennt. Warum dies in § 291 ZPO anders sein soll, obwohl der beweisrechtliche Kontext einer Offenkundigkeit bei dem Gericht als Alternative zu Beweis oder Glaubhaftmachung stets derselbe ist,31 wird nicht begründet. Im Gegenteil wird, soweit eine Auseinandersetzung mit dem Tatbestandsmerkmal „bei dem Gericht“ im Rahmen des § 291 ZPO stattfindet, sogar heute wie früher darauf hingewiesen, dass „bei dem Gericht offenkundig“ eine Tatsache auch in der Variante der Allgemeinkundigkeit nur dann ist, „[…] wenn die jeweils erkennenden Richter sie als offenkundig kennen, d. h. die Überzeugung von ihrer Wahrheit und Allgemeinkundigkeit aus ihrem Privatleben mitbringen.“32
Teilweise wird auch die Gefahr hervorgehoben, dass ein eigentlich notwendiges Beweisverfahren umgangen werden könnte, obwohl mangels „konkrete[r] Kenntnis“ des Gerichts gar keine Offenkundigkeit bei dem Gericht vorliege.33 Sodann folgt aber in der Regel die Feststellung, dass es ausreichend sei, wenn 28 Insoweit ist das Verständnis der Offenkundigkeit höchst uneinheitlich; siehe dazu bereits § 4 II.3.c) inkl. Fn. 63. 29 MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 11; Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 10; Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 1; wohl auch Wieczorek/ Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 4. 30 Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 9; Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 12; Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 5; lediglich MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 9 will eine Nachprüfung in den Akten erlauben, wenn der jeweilige Richter die Kenntnis ursprünglich selbst gewonnen hat; siehe zu den vertretenen Ansichten noch im Einzelnen § 6 III.3.b). 31 Zur Offenkundigkeit als originär verfahrensrechtlichem Begriff siehe auch Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 102 ff., Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 18 sowie noch sogleich unter 2. 32 Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 6 im Anschluss an Stein, Das private Wissen des Richters, S. 151 ff.; ähnlich Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 15; Zimmermann, ZPO, 10. Aufl. 2015, § 291 Rn. 2; Buschhorn, Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren, S. 51 f.; Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 163. 33 Schmidt-Hieber, Richtermacht und Parteiherrschaft über offenkundige Tatsachen, S. 9, 17; ähnlich Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 15; Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 5.
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das Gericht diese Kenntnis erst im Prozess aus qualifizierten Quellen erwerbe.34 Das Landgericht Bonn hat es insoweit als „allgemeine Meinung“ angesehen, dass nicht nur eine gerichtskundige (gemeint wohl im Sinne von „dem Gericht bekannte“), sondern „erst recht“ eine allgemeinkundige Tatsache stets auch „bei dem Gericht“ offenkundig sei. Für die Offenkundigkeit in Form der Allgemeinkundigkeit genüge wiederum die Ermittelbarkeit aus qualifizierten Quellen. „Das gilt auch für das Gericht.“35 Allein Gottwald scheint das Merkmal „bei dem Gericht“ als echte Tatbestandsvoraussetzung zu verstehen und betont, dass eine Beweiserhebung über die Tatsache oder ihre Allgemeinkundigkeit, wenn das Gericht diese nicht kennt, nicht ohne Mitwirkung der Parteien erfolgen dürfe.36 Wie sich das Erfordernis einer vorprozessualen Kenntnis mit der dazu völlig konträren Gestattung formloser Ermittlungen während des Prozesses vereinbaren lässt, bleibt in der heutigen Literatur ebenso wie bereits unter der historischen Definition weitgehend unklar. Sofern überhaupt eine Begründung erfolgt, beschränkt sich diese auf die Ablehnung eines „Formalismus.“37 Das dürfte in die Richtung der in § 6 III. zu erörternden Prozessökonomie zielen. Vom Wortlaut erfasst sind diese formlosen Ermittlungen nicht. § 291 ZPO regelt lediglich, dass eine Beweiserhebung unterbleiben kann – nicht aber, dass im Falle einer gleichwohl vorgenommenen Tatsachenermittlung erleichterte Verfahrensvorschriften zur Anwendung kämen.38
34 Buschhorn, Rechtsprobleme der Offenkundigkeit von Tatsachen im Strafverfahren, S. 51 f.; ähnlich Schmidt-Hieber, Richtermacht und Parteiherrschaft über offenkundige Tatsachen, S. 9; Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 158, 162 f.; nach dem Kontext (Zitierung zahlreicher Internetrecherchen als Beispiele) ebenso Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 15; Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4. 35 LG Bonn, Beschl. v. 7. 11. 2014 – 6 T 308/14, RNotZ 2015, 368 (371). 36 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 112 Rn. 27, 30. Für Schmoeckel, ZRG Kan. Abt. 2016, 200 (236 f.) kommt es im Rahmen des § 291 ZPO im Gegensatz zum kanonischen Recht von vornherein „[…] nicht mehr auf die Allgemeinbekanntheit, sondern vielmehr auf die Kenntnis des Gerichts an“, die weniger, aber auch mehr abdecken könne als das, was „alle“ wissen. Ein Beweisentfall ohne Kenntnis des Gerichts scheidet für ihn daher ebenfalls aus. Angesichts der rechtshistorischen Ausrichtung seiner Abhandlung wird das heutige Verständnis der Offenkundigkeit dort allerdings nicht weiter vertieft. 37 Schmidt-Hieber, Richtermacht und Parteiherrschaft über offenkundige Tatsachen, S. 17 f. (inkl. Fn. 39). 38 Ähnlich Pantle, MDR 1993, 1166 (1167), der eine informelle Selbstinformation aus allgemein zugänglichen Quellen allerdings dennoch für zulässig hält und nur ihre Verwertung im Prozess auf anderem Weg als § 291 ZPO erreichen will: Der Richter könne seine informell erlangten Erkenntnisse in den Prozess einführen. Das Eingebrachte könne sodann unstreitig werden oder das Vorbringen der durch die Nachforschungen des Richters benachteiligten Partei unter Berücksichtigung des Ergebnisses dieser Nachforschungen nicht mehr hinreichend substantiiert sein. In diesen Fällen ergebe sich die Lösung aus § 138 Abs. 3 ZPO.
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2. Wortlaut anderer Normen: Bloße Offenkundigkeit Selbst in Vorschriften, in denen der Gesetzgeber des 20. Jahrhunderts anders als derjenige des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit Offenkundigkeit auf die Formulierung „bei dem Gericht“ verzichtet hat, ist im Zivilprozessrecht gerade eine solche gemeint: So regeln die 1953 eingeführten39 Pfändungsschutzvorschriften in § 851a Abs. 2 ZPO und § 851b Abs. 4 S. 3 ZPO, dass eine Pfändung auch ohne Antrag des Schuldners unterbleiben soll, wenn offenkundig ist, dass die Voraussetzungen für die Aufhebung der Zwangsvollstreckung vorliegen. Die Gesetzesbegründung erklärt insoweit: „Zur Vermeidung überflüssiger Vollstreckungsmaßnahmen soll es zulässig sein, von der Pfändung abzusehen, wenn die Verhältnisse des Schuldners bekannt sind.“40 Wenn das Vollstreckungsgericht von der Pfändung absehen soll, müssen die entsprechenden Umstände also gerade diesem bekannt sein. Auch in der Kommentarliteratur wird zutreffend betont, dass Offenkundigkeit regelmäßig nur in Form der Gerichtskundigkeit in Betracht kommt, wenn das Vollstreckungsgericht bereits zuvor einen entsprechenden Pfändungsbeschluss aufgehoben hat.41 Auf eine allein außerhalb des Gerichts bestehende Offenkundigkeit hat der Gesetzgeber, soweit ersichtlich, ebenfalls erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und nur in wenigen, von der ursprünglichen Begriffsverwendung abweichenden Zusammenhängen abgestellt. Ein Gebrauch des „bloßen“ Offenkundigkeitsbegriffs erfolgt vorrangig bei der Regelung von Verschwiegenheitspflichten, von denen dann eine Ausnahme bestehen soll, wenn die jeweilige Tatsache offenkundig ist. Diese Begriffsverwendung findet sich zum Beispiel in § 43a Abs. 2 S. 3 BRAO, § 67 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BBG, § 37 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BeamtStG, § 23 Abs. 5 S. 2 BDSG, § 49 Abs. 1 S. 2 AbgG, § 4 S. 3 Nr. 3 Mediationsgesetz und § 28 Abs. 1 S. 2 Zivildienstgesetz. Sie stimmt mit dem heutigen Allgemeinkundigkeitsverständnis im Rahmen des § 291 ZPO weitgehend überein42 – mit dem Unterschied, dass es hier gerade auf eine Kenntnis (oder Kenntnisverschaffungsmöglichkeit) der Allgemeinheit ankommt, denn nur dann kann eine Verschwiegenheitsverpflichtung hinfällig sein. Anders als in den zuvor beschriebenen Verwendungen ergäbe die Formulierung „bei dem Gericht“, einer Behörde o.ä. keinen Sinn. Die Verschwiegenheitsregelungen stellen auch insofern einen Bruch gegenüber der ursprünglich rein verfahrensrechtlichen Verwendung des Offenkundigkeitsbegriffs dar, als es sich um materiell-rechtliche Vorschriften handelt.43 39 40
BGBl. I 1953, S. 952 (957 f.). BT‑Drs. 1/3284, S. 20. 41 BeckOK‑ZPO/Riedel, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 851a Rn. 10, § 851b Rn. 21. 42 So auch Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 18. 43 Vgl. Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 18.
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Ein Sonderfall im Verwaltungsverfahrensrecht ist § 62 Abs. 2 S. 2 SGB VIII, der bei der Erhebung von Sozialdaten eine Aufklärung des Betroffenen über die Rechtsgrundlage sowie die Zweckbestimmungen der Erhebung und Verwendung für entbehrlich erklärt, wenn diese offenkundig sind. Darunter wird verstanden, dass die relevanten Tatsachen „dem Betroffenen schon bekannt […] oder ohnehin klar sind.“44 Erforderlich ist also auch hier keine Offenkundigkeit „bei dem Gericht“ oder einer Behörde, sondern eine allgemein, jedenfalls aber bei dem Betroffenen bestehende Offenkundigkeit. Unnötige Verwirrung verursachen Normen wie § 125 Abs. 1 AO, der verlangt, dass ein schwerwiegender Fehler eines Verwaltungsakts „offenkundig“ sein müsse, um zur Nichtigkeit zu führen. Die vormals gleichlautende Formulierung in § 44 Abs. 1 VwVfG hat der Gesetzgeber mit gutem Grund zu „offensichtlich“ geändert.45 Die umgangssprachlich oft synonym verwendeten Begriffe sind in der – wenngleich zunehmend inkonsistenten – Gesetzessprache klar zu unterscheiden: Anders als die auf Tatsachen bezogene Offenkundigkeit betrifft die Offensichtlichkeit Fragen, die – wie das offensichtlich schwerwiegende Fehlverhalten eines Unterhaltsberechtigten in § 1579 Nr. 7 BGB, die offensichtlich rechtswidrig hergestellte Vorlage zur Vervielfältigung eines Werkes in § 53 Abs. 1 S. 1 UrhG oder die offensichtlich fehlende Erfolgsaussicht von Rechtsmitteln in verschiedenen Verfahrensordnungen – dem Gericht nicht einfach bekannt sein können, sondern einer Wertung bedürfen.46 Angesichts der zunehmenden Gleichsetzungen auch in der Rechtssprache verdient die Forderung Grauls47 nach einer präziseren Begriffsverwendung in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur nachdrückliche Zustimmung. Die größte Relevanz des Offenkundigkeitsbegriffs verbleibt nach alledem klar im Gerichtsverfahren.48 In diesem kommt es regelmäßig gerade auf die Kenntnis des entscheidenden Gerichts an. Hätte der Gesetzgeber eine außerhalb des Gerichts bestehende Offenkundigkeit ausreichen lassen wollen, über die sich das Gericht im Prozess außerhalb des Beweisverfahrens unterrichten kann, hätte die dann überflüssige und irreführende Formulierung „bei dem Gericht“ schon im damaligen § 264 CPO schlicht unterbleiben können und stattdessen, wie im sogleich zu erörternden § 293 ZPO, der damals als § 265 CPO direkt auf die Offenkundigkeitsnorm folgte, eine entsprechende Ermittlungsbefugnis 44 Hk-SGB VIII/Kunkel, 7. Aufl. 2018, § 62 Rn. 7; ähnlich Wiesner/Mörsberger, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 62 Rn. 15. 45 Siehe dazu BT‑Drs. 13/8884 v. 29. 10. 1997, S. 5. 46 Vgl. Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 100 ff., der insb. die Gleichsetzung durch Brutzer, Offenkundigkeit. Wesen und Wert des Begriffs im Strafrecht, S. 1 überzeugend kritisiert. 47 Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 17 mit weiteren Beispielen zur undifferenzierten Begriffsverwendung. 48 Ebenso Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 102 ff.; vgl. auch Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 18.
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aufgenommen werden können. Trotz dieser naheliegenden Möglichkeit setzt § 291 ZPO wie bereits § 264 CPO eine Offenkundigkeit gerade „auch beim Gericht“ oder (in der Alternative der Gerichtskundigkeit) sogar „nur beim Gericht“ voraus.49 Dem entspricht, dass die Begründung der CPO (wenngleich missverständlich) auf „gerichtskundige“ Tatsachen im Sinne von „dem Gericht bekannte“ Tatsachen abstellt.50
3. Ausdrückliche Ermittlungsbefugnis in § 293 ZPO und weiteren Normen Das Wortlautargument der Offenkundigkeit „bei dem Gericht“ wird verstärkt durch einen Vergleich mit dem Wortlaut der Nachbarnormen: § 291 ZPO findet sich zwischen (anderen) Vorschriften zur Entbehrlichkeit oder Zulässigkeit eines Beweises, z. B. im Falle eines Geständnisses (§ 288 ZPO), gesetzlicher Vermutungen (§ 292) oder ausländischen Rechts (§ 293). Aus § 293 ZPO ergibt sich zunächst wie auch aus § 291 ZPO, dass ein Beweis bei vorhandener Kenntnis des Gerichts unterbleibt.51 Die gegenüber der Formulierung des § 291 ZPO („Tatsachen, die bei dem Gericht offenkundig sind, bedürfen keines Beweises“) genau umgekehrte Formulierung (Die jeweiligen Rechtssätze „[…] bedürfen des Beweises nur insofern, als sie dem Gericht unbekannt sind“) erklärt sich daraus, dass der ganze „Regelungsfall“ ein „umgekehrter“ ist:52 Anders als § 291 ZPO hat § 293 ZPO keine Tatsachen, sondern Rechtssätze zum Gegenstand.53 Während Tatsachen grundsätzlich zu beweisen sind,54 hat das Gericht deutsche Rechtssätze von Amts wegen zu kennen (iura novit curia).55 Eine Beweiserhebung über Rechtssätze kommt also von vornherein nur in Ausnahmefällen in Betracht. Eine solche Ausnahme bildet § 293 ZPO, indem er eine Beweisaufnahme über Rechtssätze dort ermöglicht, wo – wie insbesondere im Falle ausländischen Rechts – eine Kenntnis vom Gericht nicht erwartet werden kann.56 49
Stein, Das private Wissen des Richters, S. 151 (Hervorhebung im Original). Zu den eher unklaren Formulierungen der Gesetzesbegründung siehe bereits § 3 II.1. Diese Gemeinsamkeit betont auch Schilken, in: FS Schumann, 373 (377 f.). 52 So die treffende Formulierung von MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 293 Rn. 1. Vgl. auch das in § 2 V. dargestellte umgekehrte Regel-Ausnahme-Verhältnis von Tatsachen und Erfahrungssätzen. 53 MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 284 Rn. 43 sowie § 293 Rn. 1, 14; Schilken, in: FS Schumann, 373 (375 f.); Seibl, ZZP 2015, 431 (432) m. w. N.; selbst wenn man darauf abstellte, dass die Existenz bestimmter ausländischer Rechtssätze eine Tatsache ist, liegt der Unterschied zu „echten“ Tatsachen auf der Hand; siehe dazu Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 136 ff. 54 Siehe dazu § 2 V. 1. 55 Statt aller MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 284 Rn. 43 sowie § 293 Rn. 2; Hk-ZPO/ Saenger, 7. Aufl. 2017, § 284 Rn. 13; Schilken, Zivilprozessrecht, Rn. 475. 56 Zum Ausnahmecharakter der Vorschrift siehe MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 293 Rn. 3, 13 sowie Hübner, Ausländisches Recht vor deutschen Gerichten, S. 44 m. w. N. 50 51
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Anders als § 291 ZPO enthält § 293 S. 2 jedoch ausdrücklich folgende Regelung: „Bei Ermittlung dieser Rechtsnormen ist das Gericht auf die von den Parteien beigebrachten Nachweise nicht beschränkt; es ist befugt, auch andere Erkenntnisse zu benutzen […].“
Die Gestattung der eigenständigen und nicht auf das Strengbeweisverfahren beschränkten57 Ermittlung durch das Gericht fügt sich problemlos in das Beweisrecht der ZPO ein: Wenn Rechtssätze von vornherein nicht regulärer Beweisgegenstand sind, ist es nur folgerichtig, dem Gericht eine formlose Kenntnisverschaffung zuzubilligen.58 Die amtswegige und informelle Ermittlung ist hier gerade nicht die Ausnahme, sondern eine „Rückkehr zu der Regel“ des iura novit curia.59 Insoweit hat es der Bundesgerichtshof nicht einmal für begründungsbedürftig gehalten, dass er das lettische Zivilgesetzbuch in englischer Übersetzung im Internet recherchierte und seiner Entscheidung zugrunde legte.60 § 291 ZPO befasst sich hingegen mit Tatsachen, über die grundsätzlich Beweis zu erheben ist. Ein Beweisentfall nicht nur für „bei dem Gericht“ offenkundige, sondern auch für „durch das Gericht anderweitig ermittelbare“ Tatsachen hätte als Abweichung vom Recht auf Strengbeweis61 erst recht einer ausdrücklichen Regelung bedurft, wenn die Zulässigkeit formloser Ermittlungen selbst dort klargestellt wird, wo sie ohnehin „natürlich“ ist. Stattdessen ermächtigt § 291 ZPO das Gericht gerade nicht zur Ermittlung des Offenkundigen, weil die Norm voraussetzt, dass dessen Kenntnis „bei dem Gericht“ besteht. Ist dies nicht der Fall, bleibt es bei dem nicht gesondert zu erwähnenden Grundsatz der Beweisaufnahme im Strengbeweisverfahren. Auch in anderen Fällen hat der Gesetzgeber Abweichungen vom Strengbeweisverfahren ausdrücklich normiert.62 Zu nennen sind neben § 293 S. 2 ZPO insbesondere die §§ 118 Abs. 2 S. 2, 128 Abs. 3 S. 4 ZPO, 495a und aus 57 Zu den schwierigen und umstrittenen Einzelfragen bzgl. Art und Umfang der zulässigen und gebotenen Ermittlungen siehe MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 293 Rn. 23 ff.; Hübner, Ausländisches Recht vor deutschen Gerichten, S. 202 ff. (insb. 221 ff.); Schilken, in: FS Schumann, 373 (376 ff.); Seibl, ZZP 2015, 431 ff.; weitgehend werden „gerichtsinterne“ Ermittlungen einschließlich Internetrecherchen (dazu insb. Hübner, a. a. O., S. 223) bereits auf der Grundlage von § 293 S. 1 ZPO für zulässig gehalten, während S. 2 zusätzlich die Möglichkeit des Frei- oder Strengbeweisverfahrens biete. Das widerspricht dem Wortlaut der Norm allerdings in derselben Weise wie vorliegend bzgl. § 291 ZPO kritisiert. Die Unterscheidung zwischen „gerichtsinternen“ Ermittlungen und Freibeweis wirft zudem erhebliche Abgrenzungsfragen auf. 58 Zettel, Der Beibringungsgrundsatz, S. 98 f. 59 Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 151. 60 BGH, Urt. v. 12. 11. 2009 – Xa ZR 76/07, NJW 2010, 1070 (1072). Auch Hübner, Ausländisches Recht vor deutschen Gerichten, S. 233 betont die Wichtigkeit des Internets als Erkenntnismittel ausländischen Rechts. 61 Siehe dazu § 2 II. 62 Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 122 Rn. 6.
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jüngerer Zeit die Kodifizierung des Freibeweises bei Einverständnis der Parteien in § 284 S. 2 ZPO.63 Dass die Rechtsprechung unabhängig von § 284 S. 2 ZPO ein Freibeweisverfahren für Sachentscheidungs- und Rechtsmittelvoraussetzungen auch ohne Einverständnis der Parteien seit jeher für zulässig hält, ist gerade wegen der fehlenden gesetzlichen Normierung von Anfang an und bis heute Gegenstand heftiger – und berechtigter – Kritik.64
III. Telos 1. Prozessökonomie Als Zweck des § 291 ZPO wird gemeinhin die Prozessökonomie bezeichnet.65 Walter erkannte in der Vorschrift geradezu „eine Inkarnation der Prozeßökonomie.“66 Und die Prozessökonomie ist es auch, die – häufig nur implizit, jedenfalls aber ohne ausführliche Begründung – seit jeher zur teleologischen Rechtfertigung eines vereinfachten Beweisverfahrens herangezogen wird.67 Das entspricht der Beobachtung Pflughaupts, dass das Argument der Prozessökonomie regelmäßig zugunsten von Verfahrensvereinfachungen aufkommt und ihm oftmals von vornherein ein „gehöriges Maß an Verständnis oder Wohlwollen“ entgegengebracht wird.68 Bei genauerem Hinsehen wirft es jedoch Fragen auf, wenn z. B. formuliert wird, die Verwertung außerprozessualer Kenntnisse des Richters befinde sich im „Spannungsfeld zwischen der Unparteilichkeit eines Richters und den Erfordernissen der Prozeßökonomie.“69 Bedeutet dies, dass die Prozessökonomie etwas „erfordern“ könnte, was gegen 63 Zur freibeweislichen Internetrecherche siehe bereits § 2 IV. 3 und noch § 6 III.3.c). 64 Grundlegend Peters, Der sogenannte Freibeweis im Zivilprozess, S. 72 ff.; ders.,
ZZP 1988, 296 (297); Schilken, in: FS Kollhosser, 649 (657 f.); Reißmann, JR 2013, 182 ff., jeweils m. w. N.; vgl. auch Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 284 Rn. 21 m. w. N. 65 Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1; MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 1; Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 2; Hk-ZPO/ Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 1; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2; Greger, in: FS Stürner, 289 (292); Howe, DisputeResolution 2/2015, 19 (20). 66 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 273. 67 So in der Sache bereits Stein, Das private Wissen des Richters, S. 169 f.; SchmidtHieber, Richtermacht und Parteiherrschaft über offenkundige Tatsachen, S. 17 f. (inkl. Fn. 39); ausdrücklich Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 274; Greger, in: FS Stürner, 289 (292); Zöller/ ders., ZPO, 32. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1; vgl. auch Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 418; Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 78 ff. 68 Pflughaupt, Prozessökonomie, S. 1. 69 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 273 (Hervorhebung im Original). Dass Walter der Prozessökonomie so eine hohe Bedeutung beimisst, überrascht zunächst vor allem vor dem Hintergrund, dass er eine Beschränkung des Rechts auf Beweis im Zivilprozess nur zum Schutz „besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter, essentieller Grundwerte“ für berechtigt hält (S. 314). Dieser vermeintliche Widerspruch löst sich jedoch dadurch auf, dass Walter für das
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den Grundsatz der Unparteilichkeit des Richters verstößt? Oder läge ein Verstoß gegen die Unparteilichkeit in Fällen von vornherein nicht vor, in denen die Prozessökonomie ein entsprechendes Verfahren „erfordert“? Ähnliche Fragen stellen sich bei dem zu lesenden „Bedarf nach vernünftiger Abwägung“ zwischen der Prozessökonomie und dem Prozesszweck der „Verwirklichung des sachlichen Rechts.“70 Der Bedeutung der Prozessökonomie und ihrem Verhältnis zu den Prozesszwecken und Verfahrensgrundsätzen wird im Folgenden nachgegangen, um sodann den Zweck des § 291 ZPO näher zu bestimmen.
2. Bedeutung der Prozessökonomie a) Orientierung am Zweck des Prozesses Mettenheim und E. Schmidt haben in ihren Monographien zur Prozessökonomie schon früh darauf hingewiesen, dass diese nicht um ihrer selbst willen zu verwirklichen ist.71 Auch der heute vor allem in den §§ 272 Abs. 1, 3, 282, 296 ZPO zum Ausdruck kommende und auch vom Bundesgerichtshof betonte, „den gesamten Zivilprozess beherrschende Beschleunigungsgrundsatz“72 ist kein Selbstzweck.73 Was in der jeweiligen Verfahrenssituation prozessökonomisch ist, kann vielmehr nur mit Blick auf einen außerhalb der Prozessökonomie liegenden Zweck des (hier: Zivil-)Prozesses bestimmt werden.74 Diesen Zweck „bei möglichst geringem Aufwand in möglichst hohem Maße zu fördern“75, ist Aufgabe der Prozessökonomie.
b) Sicherung und Durchsetzung privater Rechte als (Haupt-)Zweck des Zivilprozesses Ohne hier alle Facetten des vielfach erörterten „Klassiker[s] der zivilprozessualen Dogmatik“76 abbilden zu können, besteht heute weitgehend Einigkeit prozessökonomische vereinfachte Beweisverfahren das Einverständnis der Parteien voraussetzt (siehe dazu noch sogleich unter 3.c)). 70 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4. 71 Mettenheim, Der Grundsatz der Prozessökonomie im Zivilprozess, S. 13; E. Schmidt, Der Zweck des Zivilprozesses und seine Ökonomie, S. 8; ebenso in jüngerer Zeit insb. Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 173 ff. m. w. N. 72 BGH, Urt. v. 25. 9. 2007 – X ZR 60/06, BGHZ 173, 374 = GRUR 2008, 93 (95); entgegen der sehr dominanten Formulierung hat der BGH seine Entscheidung im zugrunde liegenden Fall „vor allem“ auf andere Gesichtspunkte gestützt. 73 Pflughaupt, Prozessökonomie, S. 116 f.; für das Strafverfahren ebenso Korte, Gerichtskundigkeit im Strafprozess, S. 129 f. 74 Mettenheim, Der Grundsatz der Prozessökonomie im Zivilprozess, S. 17; E. Schmidt, Der Zweck des Zivilprozesses und seine Ökonomie, S. 8. 75 Mettenheim, Der Grundsatz der Prozessökonomie im Zivilprozess, S. 26. 76 Prütting, AnwBl 2013, 401 (403); siehe umfassend aus jüngerer Zeit vor allem Münch, in: Symposion Stürner, 5 ff.
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darüber, dass der Zivilprozess, auf den die Parteien wegen des Verbots der Selbstjustiz angewiesen sind, allem voran der Sicherung und Durchsetzung ihrer privaten Rechte dient:77 Wenn der Staat das Gewaltmonopol für sich beansprucht, muss er seinen Bürgern Wege zur effektiven Durchsetzung ihrer Rechte zur Verfügung stellen.78 In diesem Sinne hat auch das Bundesverfassungsgericht die Aufgabe des Zivilprozesses „in erster Linie“ darin erkannt, „Interessenkonflikte zwischen rechtlich gleichgeordneten Rechtssubjekten sachgerecht zu lösen.“79 Teilweise wird auch die Verwirklichung des sachlichen Rechts als Prozesszweck angesehen.80 Subjektives und objektives Recht sind jedoch in aller Regel nur „zwei Seiten ein und desselben Tatbestands“, so dass in der Verwirklichung des objektiven Rechts kein eigenständiger Zweck zu sehen ist.81 Ein von den betroffenen Individualinteressen abweichendes, schützenswertes Allgemeininteresse an der Verwirklichung des objektiven Rechts in einem Streit zwischen Privaten ist allenfalls in hier nicht weiter interessierenden Ausnahmefällen denkbar. So hat z. B. in jüngerer Zeit Hirsch im Hinblick auf eine mögliche Entscheidungsbefugnis des Bundesgerichtshofs über Revisionen, an denen die Parteien kein Interesse mehr haben, ein die Individualinteressen überwiegendes Allgemeininteresse zur Sprache gebracht.82 Dieses Allgemeininteresse besteht aber gerade nicht an der tatsächlichen Wahrheitsfindung in individuellen privaten Beziehungen, sondern an der Klärung übergreifend relevanter Rechtsfragen. Soweit vor allem Stürner betont hat, dass der Individualrechtsschutz durch Wahrheitsfindung zu gewähren und diese somit selbst Prozesszweck sei,83 77 Stein/Jonas/Brehm, ZPO, 23. Aufl. 2014, vor § 1 Rn. 9, 30; Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, Einl. III Rn. 9; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 1 Rn. 5 ff.; Adolphsen, Zivilprozessrecht, § 3 Rn. 3; Grunsky/Jacoby, Zivilprozessrecht, Rn. 13; Münch, in: Symposion Stürner, 5 (35); Prütting, AnwBl 2013, 401 (403); Roth, ZZP 2016, 3 (22); zu weiteren Zwecken mit jeweils zahlreichen weiteren Nachweisen Mettenheim, Der Grundsatz der Prozessökonomie im Zivilprozess, S. 19 ff.; E. Schmidt, Der Zweck des Zivilprozesses und seine Ökonomie, S. 9 ff.; Pflughaupt, Prozessökonomie, S. 76 ff.; Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 17 ff. 78 Zum Hintergrund Rimmelspacher, Zur Prüfung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 19 ff.; Würthwein, Umfang und Grenzen des Parteieinflusses auf die Urteilsgrundlagen im Zivilprozess, S. 48 f.; Münch, in: Symposion Stürner, 5 (33 ff.). 79 BVerfG, Beschl. v. 25. 7. 1979 – 2 BvR 878/74, BVerfGE 52, 131 = NJW 1979, 1925 (1927). 80 Siehe z. B. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, Einl. III Rn. 9; Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 25 ff. 81 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 1 Rn. 9; ebenso Stein/Jonas/Brehm, ZPO, 23. Aufl. 2014, vor § 1 Rn. 12 m. w. N.; Schilken, Zivilprozessrecht, Rn. 10; Würthwein, Umfang und Grenzen des Parteieinflusses auf die Urteilsgrundlagen im Zivilprozess, S. 52. Bernhardt, in: FS Rosenberg, 9 (9) hat objektives und subjektives Recht als „Synthese“ zweier gleichrangiger Zwecke bezeichnet. 82 Hirsch, NJW‑Editorial Heft 18/2012, 3. 83 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 49; ähnlich Schilken,
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wird dem überzeugend entgegengehalten, dass die Wahrheitsfindung – ohne diese geringzuschätzen84 – gerade nicht Zweck, sondern „Mittel zum Zweck des Rechtsschutzes im Parteiinteresse“ sei.85 Sofern die Wahrheit überhaupt zu den Zwecken des Zivilprozesses gerechnet wird,86 wird sie jedenfalls nicht als letzter bzw. einziger Zweck angesehen.87 Hervorzuheben ist die Bemerkung Walters, dass es ein unabhängig vom Individualrechtsschutz zu verwirklichendes „Recht des Richters auf Wahrheitsfindung“ im Zivilprozess nicht gibt: Das Recht auf Beweis besteht allein im Interesse der Parteien an der Wahrheitsfindung.88 Insoweit hat selbst Stürner ausgeführt, dass das Recht auf Beweis nicht die Wahrheitsfindung als solche, sondern gerade das Interesse der Parteien an der Mitwirkung bei der Wahrheitsfindung schützt.89 Beachtung verdient auch die Bemerkung Smids, dass die fehlende Rechtskraft von Tatsachenfeststellungen in Urteilen nicht erklärbar wäre, wenn man davon ausginge, dass ein Urteil der Feststellung der Wahrheit diene.90 Aufgabe der Prozessökonomie ist es folglich, den Rechten der Parteien des Zivilprozesses auf eine möglichst zeit- und kostensparende Weise Geltung zu verschaffen. Zivilprozessrecht, Rn. 11; E. Schmidt, Der Zweck des Zivilprozesses und seine Ökonomie, S. 38 und Pflughaupt, Prozessökonomie, S. 127. 84 Smid, Rechtsprechung, S. 293 ff. bezeichnet es als „Banalität“, dass ein Urteil natürlich immer „auf der Wahrheit beruhen“ sollte. Fraglich sei aber gerade, was „prozessual mit dieser Formel gemeint“ sei. Eine Abweichung von „scheinbar ‚nur-formale[n]‘“ Verfahrensvorschriften könne damit nicht gerechtfertigt werden, da das Recht nur als wahr anerkenne, was unter Beachtung des Prozessrechts zustande gekommen sei. Siehe dazu auch noch den folgenden Abschnitt sowie § 7 IV. 2.e) und f). 85 Stein/Jonas/Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 355 Rn. 24; Stein/Jonas/Brehm, ZPO, 23. Aufl. 2014, vor § 1 Rn. 25; in direkter Auseinandersetzung mit Stürner auch Münch, in: Symposion Stürner, 5 (20 ff.). Ebenfalls in diesem Sinne hat Leipold, ZZP 1971, 150 (158) die Feststellung der Unwahrheit einer ehrverletzenden Behauptung als vom Zweck des Zivilprozesses erfasst angesehen, da sie „nicht um ihrer selbst willen, sondern zum Schutz des subjektiven Rechts, nämlich des Rechts auf Ehre“ erfolge. 86 In der Darstellung der Zwecke bei Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 1 Rn. 5 ff., Jauernig/Hess, Zivilprozessrecht, § 1 Rn. 1 ff. und Grunsky/Jacoby, Zivilprozessrecht, Rn. 13 wird die Wahrheit z. B. überhaupt nicht erwähnt. Stein/Jonas/Brehm, ZPO, 23. Aufl. 2014, vor § 1 Rn. 25 stuft die Ablehnung eines Wahrheitszwecks unter Anführung zahlreicher Nachweise als „herrschende Ansicht“ ein. 87 Vgl. die Auswertung der vertretenen Ansichten bei Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 37 ff. sowie die nachfolgenden Fn.; auch Diakonis selbst sieht die Wahrheitsfindung nur insoweit als Zweck an, „[…] als dies unentbehrlich für die [von ihm als vorrangiger Zweck identifizierte] Verwirklichung des materiellen Rechts ist und die [als weiteren Zweck angesehene] Gewährung des Rechtsfriedens nicht verletzt“ (S. 44). 88 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 302, 343. 89 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 35 f. 90 Smid, Rechtsprechung, S. 295. Leipold, ZZP 1971, 150 ff. will zum Zwecke des Ehrschutzes bei ehrverletzenden Behauptungen auch Tatsachenfeststellungen im Wege der Feststellungsklage in Rechtskraft (inter partes) erwachsen lassen. Die Wahrheit wird für ihn dadurch aber nicht zum Prozesszweck (siehe bereits Fn. 85).
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c) Bindung an das Verfahrensrecht Die Erreichung dieses Ziels soll durch das Verfahrensrecht ermöglicht werden. Es dient „der Herbeiführung gesetzmäßiger und unter diesem Gesichtspunkt richtiger und im Rahmen dieser Richtigkeit gerechter Entscheidungen.“91 Indem es die Art und Weise der Zielerreichung in abstrakter Form für alle Verfahren einheitlich festlegt, gewährleistet es eine gleichmäßige und kontrollierbare Verwirklichung des Prozesszwecks.92 Die Prozessökonomie ist Teil dieses Normengefüges. Sie lässt Verfahrensschritte dort entfallen, wo sie zur Erreichung des Prozesszwecks überflüssig sind. Darüber hinaus sanktioniert sie (insbesondere in Form von Präklusionsvorschriften) die Nichteinhaltung prozessualer Mitwirkungsrechte, -pflichten oder -obliegenheiten der Parteien, die in deren eigenem Interesse bestehen. Damit bringt sie die „Grenzen staatlichen Interesses an der Entscheidung privater Rechtsstreitigkeiten“ zum Ausdruck.93 Darin ist ein gewisser „Positivismus des Verfahrensrechts“ erkannt worden.94 E. Schmidt hat die Bindung an das Verfahrensrecht überspitzt dahingehend formuliert, prozessökonomisch sei eine Verfahrensweise „immer dann, wenn die Verfahrensregeln strikt eingehalten werden.“95 Weithin geteilt wird diese Ansicht jedenfalls insoweit, als das Argument der Prozessökonomie niemals eine Rechtfertigung zur Aushebelung zentraler prozess-, insbesondere beweisrechtlicher Grundsätze sein kann.96 Denn eine solche Argumentation liefe darauf hinaus, Verfahrensvorschriften generell zur Disposition zu stellen.97 Nicht zuletzt der gesetzmäßige Einfluss der Parteien auf die Sachverhaltsfeststellung darf nicht aus prozessökonomischen Gründen beschränkt werden, 91 BVerfG, Beschl. v. 25. 7. 1979 – 2 BvR 878/74, BVerfGE 52, 131 = NJW 1979, 1925 (1927). 92 E. Schmidt, Der Zweck des Zivilprozesses und seine Ökonomie, S. 40 ff.; vgl. auch Mettenheim, Der Grundsatz der Prozessökonomie im Zivilprozess, S. 29; Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 43. 93 Kuchinke, in: Freiheit und Bindung des Zivilrichters in der Sachaufklärung, 15 (16). 94 Mettenheim, Der Grundsatz der Prozessökonomie im Zivilprozess, S. 28 f.; E. Schmidt, Der Zweck des Zivilprozesses und seine Ökonomie, S. 40 f.; beide stellen dabei klar, dass mit dieser Sichtweise keineswegs „das jeweils geltende Prozeßrecht als optimal akzeptiert“ werde (E. Schmidt, S. 40). 95 E. Schmidt, Der Zweck des Zivilprozesses und seine Ökonomie, S. 42; ähnlich Schilken, in: FS Kollhosser, 649 (656). 96 Siehe z. B. Stein/Jonas/Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 355 Rn. 24; Prütting/ Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 284 Rn. 21; Koch, Mitwirkungsverantwortung im Zivilprozess, S. 354; Peters, ZZP 1988, 296 (298); Reißmann, JR 2013, 182 (185); Gomille, NZFam 2014, 100 (103). Diese im Schrifttum vor allem gegen den Freibeweis zur Feststellung prozessualer Tatsachen angeführte Argumentation muss erst recht gelten, wo es um die Ermittlung materiell-rechtlich relevanter Tatsachen geht. In diesem Sinne gegen die Einführung des Freibeweisverfahrens in § 284 S. 2 ZPO seinerzeit Schilken, in: FS Kollhosser, 649 ff. (insb. 658, 662). 97 Stein/Jonas/Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 355 Rn. 24; Peters, ZZP 1988, 296 (298).
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„denn ihr und nicht irgendein gedachter sozialer Konflikt ist ja Gegenstand des Prozesses.“98
d) Beurteilungsperspektive Daraus folgt zugleich, dass die Frage, für wen das jeweilige Vorgehen „ökonomisch“ sein soll, nicht allein zugunsten des Gerichts beantwortet werden kann.99 Soweit eine „Entlastung der Gerichte“ überhaupt als eigenständiges Interesse anerkannt wird, wird dieses der Aufgabe des Prozesses untergeordnet.100 Pflughaupt lehnt eine eigenständige Prozesswirtschaftlichkeit zugunsten des Gerichts von vornherein ab, da das Gericht überhaupt nur „um des Prozesses und damit um der Prozesszwecke willen“ existiere.101 Auch Jäckel geht (als Richter!) davon aus, dass eine Verfahrensbeschleunigung jedenfalls primär im Interesse und damit in der Hoheit der Parteien liege.102 Zuzustimmen ist mindestens dem insoweit „kleinsten gemeinsamen Nenner“, dass die Prozessökonomie nicht allein aus Sicht des Gerichts bestimmt werden darf, sondern mindestens ebenso den übrigen Verfahrensbeteiligten dienen muss.103 Die Rolle der Prozessökonomie verbleibt danach – soweit sie nicht bereits eindeutig in den Verfahrensvorschriften selbst verwirklicht ist – allein dort, wo verschiedene Auslegungen einer Verfahrensnorm in Betracht kommen, von denen keine eine Verschlechterung der Verfahrensqualität und insbesondere der Verfahrensrechte der Parteien bedeutet, oder dem Gericht mehrere ansonsten gleichwertige Verfahrensmöglichkeiten zur Verfügung stehen.104 Werden diese Grenzen überschritten, droht immer das Risiko einer Beschneidung rechtsstaatlicher Grundsätze.105 Vor diesem Hintergrund kann nun der prozessökonomische Zweck des § 291 ZPO genauer betrachtet werden. 98 E. Schmidt, Der Zweck des Zivilprozesses und seine Ökonomie, S. 40; vgl. auch Stein/ Jonas/Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 355 Rn. 24; Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 2 Rn. 27. 99 Eine solche Perspektive klingt etwa an bei Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 418, für den die allgemeine Zugänglichkeit der Erkenntnisquellen „[…] es überflüssig erscheinen läßt, das umständliche Beweisverfahren zur Ermittlung dieser Tatsachen zu benutzen“ (Hervorhebung durch Verf.). 100 Mettenheim, Der Grundsatz der Prozessökonomie im Zivilprozess, S. 13. 101 Pflughaupt, Prozessökonomie, S. 75. 102 Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 312. 103 So auch Peters, ZZP 1988, 296 (298); für das Strafverfahren hat Korte, Gerichtskundigkeit im Strafprozess, S. 129 überzeugend dargelegt, dass die Prozessökonomie in erster Linie dem Schutz des Angeklagten vor einem zu langen Strafverfahren und der Sicherung der Beweislage vor dem Vergessen erheblicher Tatsachen durch Zeugen dient. 104 Vgl. E. Schmidt, Der Zweck des Zivilprozesses und seine Ökonomie, S. 42 f.; Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 175; Peters, ZZP 1988, 296 (298). 105 Völzmann-Stickelbrock, ZZP 2005, 359 (360).
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3. Verwirklichung der Prozessökonomie in § 291 ZPO a) Kenntnis als Grund des Beweisentfalls Der Gesetzgeber hat den Gedanken der Prozessökonomie in § 291 ZPO verwirklicht, indem er dem Richter gestattet, anstelle einer Beweiserhebung auf sein außerprozessuales Wissen zurückzugreifen, wenn dieses wegen seiner von der Allgemeinheit geteilten Überzeugung oder seines amtlichen Erwerbs von individuellen Wahrnehmungsrisiken befreit ist. Als spezifische Funktion des Offenkundigkeits- und Allgemeinkundigkeitsbegriffs wurde bereits die nähere Bestimmung des ohne Beweiserhebung verwertbaren Wissens beschrieben: Die Abgrenzung des verwertbaren offenkundigen Wissens vom unverwertbaren individuellen Wissen des Richters diente der Legitimierung seiner Verwertung unter Abweichung vom Grundsatz des Strengbeweises.106 An dieser Funktion der Allgemeinkundigkeit als Legitimationsbasis hat sich zumindest theoretisch bis heute nichts geändert.107 Der eigentliche Grund für den Beweisentfall und die damit geförderte Prozessökonomie liegt aber nicht in der Offenkundigkeit der Tatsache, sondern in der Kenntnis des Gerichts: Eine Beweiserhebung wird nicht deshalb überflüssig, weil die Tatsache außerhalb des Gerichts offenkundig ist, sondern gerade deshalb, weil die vom Beweis bezweckte Überzeugung des Richters „von vornherein objektiv so unanfechtbar ist, wie sie es auf Grund einer Beweisaufnahme jemals werden könnte.“108 Ganz in diesem Sinne hat auch der Bundesgerichtshof ausgeführt: „Ein Wissen, das der Richter in genügend sicherem Maße besitzt, weil er es mit der Allgemeinheit teilt oder weil er es auf Grund seiner bisherigen richterlichen Tätigkeit zuverlässig erworben hat, braucht ihm nicht mehr durch die Hauptverhandlung vermittelt zu werden. Eine Beweisaufnahme hierüber wäre eine sachlich nicht gebotene Äußerlichkeit und ist daher überflüssig.“109
Ebenso wird in der Literatur formuliert: „Die Vorschrift dient der Verfahrensökonomie, indem sie Beweiserhebungen dort entbehrlich macht, wo das Gericht die zu beweisende Tatsache bereits kennt u[nd] eine Beweisaufnahme deshalb eine überflüssige Förmlichkeit darstellt.“110 106
Siehe dazu § 3 I. und II. sowie § 5 III.1. die tatsächliche Legitimationskraft allgemeinkundiger Tatsachen im heuten Verständnis erheblich reduziert ist, wurde in § 5 II. dargelegt. 108 Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 83. 109 BGH, Urt. v. 14. 7. 1954 – 6 StR 180/54, BGHSt 6, 292 = NJW 1954, 1656 (1656) (Hervorhebung durch Verf.). 110 Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 1 (Hervorhebung durch Verf.); trotzdem folgt in Rn. 3 ohne weitere Begründung die Aussage, auch die „Ergebnisse einer Internetrecherche des Gerichts“ könnten allgemeinkundig sein. Als tatsächlich maßgebliches Kriterium 107 Dass
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Walter hat aus diesem Grund sogar vorgeschlagen, auf eine definitorische Beschränkung des Offenkundigen zu verzichten und dem Richter die Verwertung seines privaten Wissens ganz grundsätzlich zu erlauben, weil es „ganz offensichtlich“ sei, dass unnötige Beweisaufnahmen unterbleiben sollen, „weil das zu Beweisende schon feststeht“ und der Sinn einer Beweisaufnahme immer dann verfehlt sei, „wenn der Richter die zu gewinnende Kenntnis schon besitzt.“111 Als offenkundig „gilt“ für Walter zunächst vielmehr alles, „was der Richter – gleich, aus welcher Quelle, jedenfalls außerhalb des konkreten Prozesses – weiß oder jedenfalls ohne weiteres feststellen kann“ (wobei eine informelle Feststellung nur mit Einverständnis der Parteien erfolgen darf, dazu noch sogleich unter c)).112 Damit erübrigt sich für Walter sowohl die Unterscheidung nach Allgemeinkundigem und Gerichtsbekanntem113 als auch die Bestimmung und Abgrenzung von privatem Wissen; letzteres sei wie jedes andere richterliche Wissen grundsätzlich verwertbar.114 Auszuscheiden ist bei Walter in einem zweiten Schritt lediglich das zufällig erworbene Zeugenwissen des Richters. Nur dieses sei im Prozess wegen des Gebots der Unparteilichkeit und der gebotenen Distanz zum Sachverhalt unverwertbar.115 Die Abgrenzung im Einzelfall ähnelt dann aber doch sehr der hergebrachten Unterscheidung zwischen individuellem und „allgemeinkundigem“ Wissen – ein Begriff, den Walter hier ungeachtet seiner Ablehnung einer Definition der Offenkundigkeit einerseits und des Verwerfens der Unterscheidung zwischen Allgemeinkundigkeit und Gerichtskundigkeit andererseits als Gegenbegriff zum unverwertbaren Zeugenwissen nutzt.116 Man muss diesen – von Rechtsprechung und Literatur nicht übernommenen – Gedanken des Definitionsverzichts nicht teilen, um dem entscheidenden Grundgedanken zuzustimmen, dass der Kern der Überflüssigkeit einer Beweisaufnahme nicht in der wie auch immer zu bestimmenden Eigenschaft der Tatsache als offenkundig, sondern in der bereits vorhandenen Überzeugung des Gerichts liegt.
für die Beweisbedürftigkeit scheint (ohne weitere Ausführungen) Benedicter, Die Sachverhaltsermittlung im Zivilprozess, S. 128 die Kenntnis des Gerichts zu erkennen. 111 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 272, 279. Für eine grundsätzliche Verwertbarkeit jeglichen Wissens auch bereits Apfelbaum, Die bei Gericht offenkundigen Tatsachen, S. 22 ff., wohingegen R. Schmidt, Die außergerichtlichen Wahrnehmungen des Prozeßrichters, S. 8 f. es als „Gewaltthätigkeit gegen das Gesetz“ bezeichnete, das bei dem Gericht Offenkundige als das bei dem Gericht Bekannte zu lesen. 112 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 276. 113 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 297. 114 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 283. 115 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 279 f. 116 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 282.
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b) Keine „Überflüssigkeit“ der Beweisaufnahme bei fehlender Kenntnis Walter hat insoweit zu Recht darauf hingewiesen, dass die Erstreckung des Beweisentfalls auf das vom Gericht aus qualifizierten Quellen Ermittelbare nicht selbstverständlich, sondern Ergebnis einer „extensiven“ Auslegung ist, bei der an die Stelle einer „reale[n] Kenntnis“ des Gerichts die „potentielle Kenntnis“ tritt.117 Um „unnötige prozessuale Aktivitäten“ zu vermeiden, rechtfertige die Prozessökonomie jedoch auch ein „vereinfachtes Beweisverfahren“.118 Auch Grunsky hält das „umständliche Beweisverfahren“ für überflüssig.119 Greger hat diesen Gedanken im Kontext richterlicher Internetrecherchen hervorgehoben und betont, dass es dem prozessökonomischen Sinn des § 291 entspreche, „unnötige“ Beweisaufnahmen zu ersparen, wenn man dem Richter gestatte, seine Überzeugung auf Informationen aus qualifizierten Quellen zu stützen.120 Die Frage ist aber doch gerade, inwiefern eine Beweisaufnahme in diesen Fällen „unnötig“ oder „überflüssig“ ist: Wenn das Gericht die Tatsache nicht kennt, sondern sich ihre Kenntnis erst im Wege eines vereinfachten Beweisverfahrens aneignen muss, ist die Beweisaufnahme eben nicht „unnötig“ oder „überflüssig“, sondern wird schlicht durch ein anderes Verfahren ersetzt. Im Rahmen der Gerichtskundigkeit ist dies auch die herrschende Meinung; dort wird ganz überwiegend auf das präsente amtliche Wissen des Gerichts abgestellt. Nur dieses könne eine Gerichtskundigkeit begründen: „Nicht offenkundig sind Tatsachen, die dem Gericht erst durch neu erworbenes Wissen (etwa durch gezieltes Studium der Fachliteratur) bekannt werden […]. Denn in diesem Fall greift der von § 291 verfolgte Zweck nicht; eine Beweisaufnahme ist nicht überflüssig.“121
Von vielen Autoren wird ausdrücklich hervorgehoben, dass der Richter sich an die gerichtskundige Tatsache noch „mit einer die volle Überzeugung begründenden Sicherheit zu erinnern“ vermögen muss.122 Nur wenige wollen ihm daneben auch eine „Nachprüfung in den Akten“ erlauben, wenn er die Tatsache 117
Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 274. Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 274. 119 Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 418; diesem folgend AK‑ZPO/Rüßmann, § 291 Rn. 2; vgl. auch Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 78 ff. 120 Greger, in: FS Stürner, 289 (292); Zöller/ders., ZPO, 32. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1. 121 Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 5; ebenso Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 12; in der Sache auch alle in der folgenden Fn. genannten Autoren. 122 Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 7 (unklar allerdings die ggü. der Vorauflage hinzugekommene Möglichkeit der Gedächtnisauffrischung, die für Aktenkundiges in Rn. 9 jedoch wiederum nicht gelten soll); Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 407, 410; Pantle, MDR 1993, 1166 (1167); ebenso bereits Bernhardt, in: FS Rosenberg, 9 (23); ähnlich Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 5; Zöller/Greger, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1a. 118
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ursprünglich selbst amtlich kennengelernt hat, sie ihm aber nicht mehr präsent ist. Eine erstmalige Feststellung von Tatsachen, die das Gericht niemals positiv gekannt hat, sondern ausschließlich aktenkundig (oder nicht einmal das) sind, halten aber auch diese Autoren für unzulässig.123 Zumindest über letzteres besteht ganz weitgehende Einigkeit.124 Warum dieselben Argumente im Rahmen der Allgemeinkundigkeit nicht gelten sollen, ist bislang nicht überzeugend begründet worden. Es ist auch schwer erklärbar, weil das Gesetz nicht zwischen Allgemein- und Gerichtskundigkeit unterscheidet, sondern einheitlich von einer Offenkundigkeit bei dem Gericht spricht.
c) Prozessökonomie eines vereinfachten Beweisverfahrens bei Einverständnis der Parteien Ein insoweit zentraler Gedanke zum „vereinfachten Beweisverfahren“ findet sich wiederum bei Walter: Die Zulässigkeit eines solchen Verfahrens ergibt sich für ihn nicht aus dem Offenkundigkeitsbegriff und nicht (allein) aus der Prozessökonomie. Offenkundigkeit bei dem Gericht setzt auch für ihn zwin gend eine Kenntnis des Gerichts voraus. Das vereinfachte Beweisverfahren bei fehlender gerichtlicher Offenkundigkeit will er deshalb nur dann zulassen, wenn keine Partei widerspricht. Sobald eine Partei nicht einverstanden sei und dieser Widerspruch nicht auf Schikane beruhe, sei der Grund für die An wendung des § 291 ZPO entfallen und das reguläre Beweisverfahren anzu wenden.125 „Überflüssig“ ist eine Beweiserhebung in diesem Verständnis also bei fehlender Kenntnis des Gerichts nur dann, wenn auch die Parteien sie für überflüssig halten und insoweit zugunsten der Prozessökonomie auf ihr Recht auf Strengbeweis verzichten. Einer Ausdehnung des Begriffs der Offenkun digkeit auf Tatsachen, „die es für den Richter gar nicht sind“, wollte Walter ge 123 MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 9; Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2; in diesem Sinne wohl auch AK‑ZPO/Rüßmann, § 291 Rn. 3. 124 Siehe die vorstehenden sowie BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 6; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3; Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 5a; a. A. wohl nur Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 39. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2, gestützt auf BGH, Urt. v. 14. Juli 1954 – 6 StR 180/54, BGHSt 6, 292 = NJW 1954, 1656 (1657), in dem dieser für das Strafverfahren auch eine Verwertung der Feststellungen in Urteilen anderer Richter als gerichtskundig anerkannte; diese Auffassung wurde für den Zivilprozess allerdings nicht bestätigt und ist auch nicht ohne Weiteres übertragbar (ebenso BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 6.1 sowie Stackmann, NJW 2010, 1409 (1409 f.)). Für den Zivilprozess hat der BGH in jüngerer Zeit ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es gegen den zivilprozessualen Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verstößt, wenn ein Gericht Aussagen, die Zeugen in einem anderen Verfahren gemacht haben, als gerichtsbekannt verwertet, selbst wenn diese Aussagen vor dem entscheidenden Richter selbst gemacht wurden, Urt. v. 4. 11. 2010 – I ZR 190/08, NJW‑RR 2011, 568 (568). 125 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 275.
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rade nicht das Wort reden.126 Genau dies hat die Entwicklung aber gebracht: Im herrschenden Allgemeinkundigkeitsverständnis ist die richterliche Recherche bereits in der Kategorie des Ermittelbaren, d. h. im Offenkundigkeitsbegriff selbst angelegt. Ein Einverständnis der Parteien, das bei Walter eine Verletzung ihrer Verfahrensrechte verhindern sollte, wird gerade nicht verlangt. Sollte ein Einverständnis der Parteien tatsächlich einmal vorliegen, wäre der Weg zu einer freibeweislichen Internetrecherche heute ganz unabhängig von § 291 ZPO über § 284 S. 2 ZPO eröffnet.127 Die Beteiligten können also zum Zwecke der Zeitersparnis einvernehmlich auf eine förmliche Beweiserhebung verzichten und den Richter stattdessen informell das Internet befragen lassen. Dass diese Möglichkeit in der Praxis kaum auf Interesse stößt, reflektiert den hohen Wert des Strengbeweisverfahrens für die Parteien.128
d) Prozessökonomie des parteiöffentlichen Internetbeweises Die höhere Prozessökonomie informeller Internetrecherchen gegenüber dem Strengbeweisverfahren ist allerdings insbesondere seit der Stärkung der amtswegigen Beweiserhebung im Zuge der ZPO‑Reform 2001 ohnehin zu hinterfragen: Erachtet das Gericht eine Internetrecherche für notwendig, kann es diese auch ohne Einverständnis der Parteien als (parteiöffentlichen) Augenscheinsbeweis von Amts wegen gemäß § 144 Abs. 1 S. 1 ZPO anordnen, wenn der Parteivortrag hierfür hinreichende Anhaltspunkte liefert.129 Auch eine „informatorische“ Internetnutzung mit den Parteien zum besseren Verständnis an sich unstreitiger Sachverhalte ist auf diese Weise denkbar.130 Da die Parteien dem Tatsachenstoff näherstehen als das Gericht und in aller Regel auf aus ihrer Sicht hilfreiche Quellen hinweisen werden, kann eine unter Einhaltung der Parteiöffentlichkeit durchgeführte Internetrecherche erheblich schneller vonstattengehen, als wenn das Gericht sich bei eigenständigen Recherchen im Internet verliert und sich von Fund zu Fund hangelt – ein nicht nur theoretisches Risiko, auf das in § 7 ausführlich eingegangen wird.131 Darüber hinaus ist das Gericht auch bei informellen Ermittlungen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich verpflichtet, den Parteien rechtliches Gehör zu gewähren, bevor allgemeinkundige Tatsachen, die nicht bereits Gegenstand des Verfahrens waren, verwertet werden.132 126
Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 275. Siehe dazu bereits § 2 IV. 3. Siehe auch dazu bereits § 2 IV. 3 (dort bei Fn. 105 und 106). 129 Siehe dazu § 2 I. 1., II.2. und IV. 2. 130 Hierfür könnte sich auch ein von Greger, NJW 2014, 2554 ff. als allgemeines prozessökonomisches Instrument vorgeschlagener formloser Erörterungstermin vor dem eigentlichen Verfahrensbeginn anbieten. 131 Siehe dort insb. III.6., IV. 1.d) und IV. 3.b). 132 BGH, Urt. v. 8. 10. 1959 – VII ZR 87/58, BGHZ 31, 43 = NJW 1959, 2213 (2214); Urt. 127 128
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Daraus wird sich nicht selten der Bedarf nach erneuter mündlicher Verhandlung ergeben. Wenn eine „prozessökonomische“ Schließung von Sachverhaltslücken ohne mündliche Verhandlung aber ohnehin nicht in Betracht kommt, dürfte auch insoweit die Recherche im Wege des förmlichen Internetbeweises regelmäßig ökonomischer sein.133 Und schließlich hat wiederum Walter auf einen weiteren wichtigen Aspekt der Prozessökonomie verwiesen: Ist der Grund für das vereinfachte Beweisverfahren (bei Walter also das Einverständnis der Parteien) entfallen, ist eine förmliche Beweisaufnahme auch deshalb ökonomischer, weil sie dem Gericht und den Parteien die Möglichkeit einer Befriedung in erster Instanz verschafft.134
e) Keine „prozessökonomische“ Lösung struktureller Probleme Wenn bei alledem die „prozessökonomischen“ richterlichen Internetrecherchen ohne Einverständnis und/oder Beteiligung der Parteien dennoch zunehmen, dürfte dies weniger der von Peters in den Blick genommenen „Bequemlichkeit der Gerichte“135 geschuldet sein als dem zunehmenden „Druck auf die Richter […], möglichst viel möglichst schnell zu erledigen“136 sowie der mangelnden Infrastruktur mancher Gerichte, die eine Durchführung des Internetbeweises als Augenscheinsbeweis ermöglichen würde – zu denken ist vor allem an fehlende Rechner, Beamer und Internetverbindung im Gerichtssaal. Bei diesen Voraussetzungen kann die nahezu unbegrenzte und einfach erreichbare Informationsfülle im Internet leicht dazu verführen, auf Beweisangebote der Parteien und das „umständliche Beweisverfahren“137 nur noch dann zurückzugreifen, wenn ein (vermeintlich) schnelles Googeln im Richterzimmer keine zufriedenstellenden Ergebnisse gebracht hat.138 Nach den unter 2. dargestellten Grundsätzen können allerdings weder eine Überlastung noch eine mangelnde Infrastruktur der Gerichte für sich genomv. 6. 5. 1993 – I ZR 84/91, NJW‑RR 1993, 1122 (1123); für Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz BVerfG, Beschl. v. 3. 11. 1959 – 1 BvR 13/59, BVerfGE 10, 177 = NJW 1960, 31 (31); für gerichtskundige Tatsachen im Zivilprozess BVerfG, Beschl. v. 29. 8. 1995 – 2 BvR 175/95, NJW‑RR 1996, 183 (184); allgemein BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 10. 133 Ähnlich argumentiert Schilken, in: FS Kollhosser, 649 (659 f.) gegen die vermeintliche Prozessökonomie jeglichen Freibeweises. 134 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 279. 135 Peters, ZZP 1988, 296 (298). 136 So die Worte der ehemaligen Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts EckertzHöfer, DÖV 2009, 729 (738); vgl. auch Musielak, in: FS Vollkommer, 237 (254 f.). 137 Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 418. 138 In diese Richtung auch Greger, in: FS Stürner, 289 (290); ein ähnliches Risiko beschreibt Strauch, in: FS Käfer, 387 (391) im Zusammenhang mit der richterlichen Rechtsfindung mit Hilfe juristischer Online-Datenbanken: Auch hier mögen dem Richter bisweilen diejenigen Mittel „optimal geeignet scheinen“, die „mit geringstem Aufwand die größtmöglichen Erledigungszahlen ermöglichen“; siehe dazu auch noch Fn. 210.
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§ 6 Vom Allgemeinkundigkeitsbegriff unabhängige Kritik
men einen „prozessökonomischen“ Verzicht auf das Strengbeweisverfahren rechtfertigen.139 Wenn die Infrastruktur eines Gerichts den technischen Anforderungen hinterherhinkt und internetfähige Rechner nur in den Richterbüros zur Verfügung stehen, kann das keinen Verzicht auf den Grundsatz der Parteiöffentlichkeit begründen, sondern muss zu einem Verzicht auf die Internetrecherche selbst führen. Und wenn zu wenige Richter zu vielen offenen Verfahren gegenüberstehen oder die Situation der Gerichte anderweitig eine zeitgemäße Führung des Zivilprozesses unter Wahrung der Rechte der Parteien systematisch gefährdet, ist der Gesetzgeber gefordert.140 Schwab hat insoweit zu Recht gemahnt, dass die Bedeutung der Prozessökonomie „doch vor allem auf rechtspolitischem Gebiet“ liege und sie „zur Lösung zivilprozessualer Probleme […] in der Regel nicht geeignet“ sei.141 In den vergangenen Jahren hat sich das Spannungsfeld der Prozessökonomie besonders anschaulich an der lebhaften Diskussion gezeigt, die sich um die Einführung elektronischer Tools am Richterarbeitsplatz zur relationsmäßigen Sortierung des – entsprechend in regelungsbedürftiger Form vorzubringenden – Parteivortrags entsponnen hat.142 In diesem Zusammenhang wird zu Recht darauf hingewiesen, dass die Möglichkeiten elektronischer Kommunikation zur Entlastung der Richterschaft allein keine hinreichende Rechtfertigung für eine wesentliche Beschneidung von Verfahrensgrundsätzen bieten.143 Dasselbe lässt sich auch und erst recht hinsichtlich der Möglichkeiten richterlicher Internetrecherchen formulieren.
f) Bedingungen der Prozessökonomie eines vereinfachten Beweisverfahrens ohne Einverständnis der Parteien Hervorzuheben ist letztlich vor allem eines: Unabhängig von der hinter informellen Recherchen stehenden Motivation wäre das vereinfachte Beweisverfahren selbst dann, wenn es tatsächlich „einfacher“ oder „schneller“ wäre als das förmliche Beweisverfahren, dadurch nicht per se prozessökonomisch. Eine auf die Prozessökonomie gestützte teleologische Auslegung des § 291 ZPO im Sinne eines vereinfachten Beweisverfahrens kann nach den dargelegten Grundsätzen vielmehr nur dann Bestand haben, wenn diese bei einer Orientierung an der Sicherung und Durchsetzung der Rechte der Parteien als Zweck des Zivilprozesses nicht zu einer Beeinträchtigung zentraler Verfahrensgrundsätze führt. Als solche wurden in § 2 der Untersuchung neben dem Beibringungsgrundsatz 139 Vgl.
Pflughaupt, Prozessökonomie, S. 349; Gaier, NJW 2013, 2871 (2873). So auch Pflughaupt, Prozessökonomie, S. 350. Schwab, NJW 1959, 1828 (1828). 142 Befürwortend vor allem Gaier, NJW 2013, 2871 (2873); kritisch und auf ein erforderliches Einverständnis der Parteien verweisend Preuß, ZZP 2016, 421 (454); siehe auch Hirtz, NJW 2014, 2529 ff. sowie Roth, ZZP 2016, 3 ff. 143 Preuß, ZZP 2016, 421 (454); Hirtz, NJW 2014, 2529 (2531); Roth, ZZP 2016, 3 (21). 140 141
IV. Zwischenergebnis
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insbesondere das Recht auf Strengbeweis (d. h. insbesondere die Parteiöffentlichkeit) und die richterliche Neutralität und Distanz zum Sachverhalt erörtert. Die Frage, inwieweit diese Grundsätze durch richterliche Internetrecherchen gefährdet werden, findet im heutigen Verständnis des § 291 ZPO nicht zuletzt aufgrund der unter I. kritisierten Vermengung zu wenig Beachtung. Ihr widmet sich der folgende Teil der Untersuchung.
IV. Zwischenergebnis Mit der Kategorie des Ermittelbaren scheint die Kernfrage dieser Arbeit nach der Zulässigkeit richterlicher Internetrecherchen bereits per definitionem beantwortet: Die Recherche des Gerichts ist notwendige Voraussetzung der Allgemeinkundigkeit, weshalb ihre grundsätzliche Zulässigkeit nicht in Frage gestellt wird. Als prozessuales Problem außerhalb der Definition wird allein die Verwertung allgemeinkundiger (also auch: im Internet ermittelter) Tatsachen ohne Parteivortrag diskutiert. Damit ist die Frage der Zulässigkeit richterlicher Recherchen aber nicht beantwortet. Ob die Bundesgerichte tatsächlich über die Definitionsvariante des Ermittelbaren ein vereinfachtes Beweisverfahren einführen wollten, ist äußerst zweifelhaft. Im Wortlaut des § 291 ZPO findet ein vereinfachtes Beweisverfahren – anders als in anderen Normen der ZPO, die eine Abweichung vom Strengbeweisverfahren erlauben – keine Stütze. Die Formulierung „bei dem Gericht“ setzt eine bei Beginn des Verfahrens bestehende Kenntnis des Gerichts voraus. Eine Auslegung, die an die Stelle der vorprozessualen Kenntnis die bloße Ermittelbarkeit durch das Gericht setzt, bedarf als contra legem-Auslegung einer umso sorgfältigeren Begründung und Rechtfertigung. Tatsächlich erfolgt eine solche zumeist nicht. Das vereinfachte Beweisverfahren wird in Ablehnung eines „Formalismus“ und zugunsten der „Prozessökonomie“ ohne Weiteres für zulässig gehalten. Die Prozessökonomie ist allerdings nicht um ihrer selbst willen zu verwirklichen, sondern am Prozesszweck der Sicherung und Durchsetzung der Rechte der Parteien auszurichten. Das Verfahrensrecht der ZPO legt die Art und Weise, in der dieser Zweck zu erreichen ist, für alle Verfahren einheitlich fest und belässt für eine prozessökonomische Auslegung von Verfahrensvorschriften nur dort einen Raum, wo diese nicht zu einer Beeinträchtigung zentraler Verfahrensgrundsätze führt. Das Vorgehen muss überdies nicht nur für das Gericht, sondern gerade auch für die Parteien prozessökonomisch sein. § 291 dient insoweit der Prozessökonomie, als wegen „Offenkundigkeit bei dem Gericht“ überflüssige Beweisaufnahmen entfallen sollen. Der Grund für die Entbehrlichkeit des Beweises liegt dabei jedoch nicht in der Offenkundigkeit der Tatsache, sondern in der Kenntnis des Gerichts. Kennt das Gericht die
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§ 6 Vom Allgemeinkundigkeitsbegriff unabhängige Kritik
betreffende Tatsache noch nicht, ist eine Beweisaufnahme gerade nicht überflüssig, sondern wird durch ein „vereinfachtes Beweisverfahren“ ersetzt. Prozessökonomisch kann dies nur dann ohne Weiteres sein, wenn ein förmliches Beweisverfahren auch aus Sicht der Parteien überflüssig ist. Bei deren Einverständnis sind informelle Internetrecherchen unabhängig von § 291 ZPO über § 284 S. 2 ZPO möglich. Liegt ein Einverständnis hingegen nicht vor, stellt sich der Strengbeweis als ökonomischer dar, da die Einflussnahme der Parteien die Effizienz der Internetrecherche steigert. Darüber hinaus besteht die Chance auf eine Befriedung in erster Instanz. Eine alleinige Internetrecherche des Gerichts ohne Einverständnis der Parteien kann hingegen weder mit strukturellen Defiziten in der Gerichtsbarkeit noch mit einer vermeintlich schnelleren oder einfacheren Sachverhaltsermittlung „prozessökonomisch“ gerechtfertigt werden. Die Prozessökonomie eines solchen Vorgehens setzt vielmehr voraus, dass die in § 2 erörterten Verfahrensgrundsätze nicht beeinträchtigt werden. Diese im herrschenden Verständnis zu kurz kommende Bedingung wird hinsichtlich richterlicher Internetrecherchen im folgenden Teil der Arbeit untersucht.
§ 7 Art der Kenntniserlangung als Risiko richterlicher Internetrecherchen für die Verfahrensgrundsätze I. Schwindende Legitimationskraft der Art der Kenntnis Es wurde dargestellt, dass die formlose Gewinnung allgemeinkundigen Wissens durch den Richter traditionell – soweit sie für zulässig gehalten wurde – mit der Art der erlangten Kenntnis begründet wurde: Allgemeinkundige Tatsachen galten per se als ungefährlich für die Verfahrensgrundsätze, weil der Richter ihre Kenntnis mit der Allgemeinheit teilte.1 Sodann wurde gezeigt, dass nicht nur die Kenntnis des Richters, sondern auch die Kenntnis der Allgemeinheit heute nur noch eine potentielle Kenntnis ist: Das Besondere an allgemeinkundigen Tatsachen ist nicht mehr eine allgemeine Überzeugung, sondern nur noch ihre Nachprüfbarkeit aus allgemein zugänglichen Quellen. Damit unterscheiden sich die „Natur“ allgemeinkundiger Tatsachen und die Art ihrer (potentiellen) Kenntnis kaum noch von der „Natur“ und Art der Kenntnis anderer Tatsachen. Die Legitimationsbasis des allgemein Ermittelbaren ist dadurch, wie gezeigt, erheblich geringer als die des allgemein Verbreiteten.2
II. Zentrales Risiko der Internetrecherche: Art der Kenntniserlangung Die Erörterung der allgemeinen Zugänglichkeit und Zuverlässigkeit bestimmter Internetquellen, aus denen sich die recherchierte Information ergibt, impliziert, dass die Informationsgewinnung auch im Internet einem „Nachschlagen“ in einem mit gezieltem Griff ausgewählten Buch entspricht, dessen Qualität als Quelle es zu prüfen gilt. Auch die analysierten Urteile nennen (wenn überhaupt) nur die letztlich verwerteten Internetquellen: verschiedene (meist nicht ausdrücklich benannte) Wikipedia-Artikel, die Bestsellerseiten von Amazon, Vergleichsportale wie billiger-mietwagen.de sowie Hersteller- oder nicht weiter 1 2
Siehe § 3 sowie § 5 II.1. Siehe § 5 III.2.
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§ 7 Art der Kenntniserlangung als Risiko richterlicher Internetrecherchen
spezifizierte Händlerseiten.3 Das bildet die Realität einer typischen Internetrecherche nicht vollständig ab. Denn die konkrete Quelle steht bei dieser nicht am Anfang, sondern ganz am Ende der Recherche. Der Weg zur Information ist trotz seiner vermeintlichen Einfachheit „hochkomplex“4 und mit dem klassischen Griff zum Buch nicht vergleichbar. Entsprechend liegen die zentralen Gefahren für die Verfahrensgrundsätze des Zivilprozesses bei der Internetrecherche nicht primär in der Art der erlangten Kenntnis, sondern gerade auch in der spezifischen Art der Kenntniserlangung. Diese in der zivilprozessualen Rechtsprechung5 und Literatur bisher nicht erörterten Risiken werden im Folgenden anhand des Ablaufs einer typischen Internetrecherche dargestellt.
III. Ablauf einer typischen Internetrecherche 1. Google als Tor zum Internet Fast jede Internetrecherche beginnt mit der Eingabe eines Suchbegriffs oder mehrerer Suchbegriffe in eine Suchmaschine.6 Die naheliegende (auch) richterliche Praxis beschreibt Zosel ebenso simpel wie treffend: Man gibt „einfach mal“ ein Schlagwort bei Google ein.7 3
Siehe dazu § 4 III.2.
4 Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (72). 5 Anders als die in dieser Arbeit zitierten Zivilgerichte hat sich das BPatG,
Beschl. v. 16. 10. 2002 – 26 W (pat) 64/00, Rn. 26, juris mit den Spezifika einer Internetrecherche auseinandergesetzt und eine Allgemeinkundigkeit ihrer Ergebnisse gerade wegen dieser Spezifika kategorisch verneint. In Frage gestellt wurde damit aber nicht die – im markenrechtlichen Inquisitionsverfahren unabhängig von § 291 ZPO für zulässig gehaltene – Internetrecherche als solche, sondern allein die unterlassene Zustellung der Rechercheergebnisse durch die Markenstelle. Die darin liegende Verletzung des rechtlichen Gehörs begründete das BPatG wie folgt: „Die Ergebnisse einer Internet-Recherche weichen, abhängig von der Qualifikation des Suchenden, der Anzahl und Qualität der gewählten Suchmaschinen, der eingegebenen Suchbegriffe und Suchoptionen häufig so stark voneinander ab, dass nicht erwartet werden kann, dass der Betroffene über den Zugang zu eben den Tatsachen verfügt, die von der Markenstelle ermittelt worden sind und der Beschlussfassung zugrunde gelegt werden sollen.“ In der zivilprozessualen Rechtsprechung und Literatur sind diese Erwägungen weithin unbeachtet geblieben – obwohl sich aus ihnen, wie im Folgenden gezeigt wird, unter Geltung der Verfahrensgrundsätze des Zivilprozesses viel weiter gehende Konsequenzen ergeben als die bloße Pflicht zur Zustellung der Ergebnisse wie im markenrechtlichen Verfahren. 6 Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (495); Stark/Magin/ Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (21); Dörr/Natt, ZUM 2014, 829 (829). 7 Zosel, in: FS Käfer, 491 (492); auch nach Dötsch, IMR 2017, 302 wird Internetwissen schlicht „gegoogelt“. Das BPatG, Beschl. v. 16. 10. 2002 – 26 W (pat) 64/00, Rn. 26, juris hat das „Ob“ der Nutzung einer Suchmaschine bei der Internetrecherche für selbstverständlich gehalten und lediglich auf „Anzahl und Qualität der gewählten Suchmaschinen“ als relevante Faktoren abgestellt. Vgl. auch die ausdrückliche Bezugnahme auf Suchmaschinen durch das OLG Zweibrücken, Beschl. v. 13. 12. 2013 – 3 W 147/13, Rn. 6, juris.
III. Ablauf einer typischen Internetrecherche
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Egal, nach welcher Information gesucht wird: Ein entsprechendes Schlagwort oder Schlagwortkonvolut wird in die (häufig bereits als Startseite festgelegte oder als Toolbar mit der Adresszeile des Browsers verknüpfte) Suchmaschine getippt – oder in das allzeit mitgeführte Smartphone gesprochen, um virtuelle Sprachassistenten zur Suche im Netz aufzufordern. Selbst dem User bereits bekannte Internetseiten werden regelmäßig auf diesem Weg aufgerufen, statt die URL einzutippen.8 Die Nutzung von Suchmaschinen ist einfach und schnell und verspricht eine gewisse Ordnung im Überfluss der Informationen. Auch der Bundesgerichtshof geht davon aus, dass „ohne die Inanspruchnahme von Suchdiensten […] die sinnvolle Nutzung der unübersehbaren Informationsfülle im World Wide Web praktisch ausgeschlossen“ wäre.9 Klarer Marktführer ist dabei Google, dessen Anteil an gestarteten Suchanfragen in Deutschland mit deutlich über 90 % angegeben wird.10
2. Rolle individueller Kenntnisse und Fähigkeiten Während manch ein User Suchmaschinen aus reiner Bequemlichkeit nutzt, wird zu Recht darauf hingewiesen, dass viele Menschen gar keinen anderen Zugang zu den Inhalten des Internets kennen.11 Das dürfte über die von Dörr/ Natt hervorgehobenen jüngeren Menschen hinaus gerade auch für die ältere Generation gelten, die sich teilweise nur soweit unbedingt nötig auf das Internet eingelassen hat.12 Damit ist eine Entwicklung angesprochen, die sich bei der individuellen Nutzung des Internets insgesamt fortsetzt und von Kissel als „technische Zweiklassengesellschaft“ bezeichnet wird: „Die intellektuellen Anforderungen an den Internet-Benutzer gehen über die Anwahl des gewünschten Gesprächspartners auf einer Telefon-Wählscheibe oder die Auswahl einer Senderfrequenz von Rundfunk und Fernsehen hinaus.“13
8 9
Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (47 f.). BGH, Urt. v. 17. 7. 2003 – I ZR 259/00, NJW 2003, 3406 (3410). 10 Siehe z. B. http://gs.statcounter.com/search-engine-market-share/all/germany; https://de. statista.com/statistik/daten/studie/167841/umfrage/marktanteile-ausgewaehlter-suchmaschin en-in-deutsc hland/, beide zuletzt aufgerufen am 5. 4. 2018; vgl. auch Dörr/Natt, ZUM 2014, 829 (833); ähnlich für Europa Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (497) m. w. N.; hinzu kommt, dass zahlreiche andere Internetportale, die eine Suche ermöglichen, auf die Ergebnisse von Google zurückgreifen, siehe auch dazu Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (497). In der folgenden Darstellung wird deshalb primär auf Google Bezug genommen; die Kernaussagen gelten aber entsprechend auch für andere Suchmaschinen. 11 Dörr/Natt, ZUM 2014, 829 (829); Stark, in: Googleisierung der Informationssuche, 1 (1). 12 Vgl. auch die Ergebnisse einer Studie zur Suchmaschinennutzung bei Stark, in: Googleisierung der Informationssuche, 1 (8). 13 Kissel, NJW 2006, 801.
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Um die unzähligen „allgemein zugänglichen“ Inhalte des Internets angemessen nutzen zu können, bedarf es also neben technischer auch gewisser kognitiver Voraussetzungen.14 Wenngleich angesichts der heutigen Selbstverständlichkeit und Bedeutung der Internetnutzung die Zahl derer, die sich im Netz überhaupt nicht zu bewegen wissen, immer kleiner werden dürfte, bleiben unerfahrenen und intuitiv vorgehenden Gelegenheitsnutzern zahlreiche Recherchemöglichkeiten verschlossen, die versierte User ohne Schwierigkeiten zu nutzen wissen. Das gilt nicht nur für das sogenannte Invisible Web oder Deep Web, das sich dadurch auszeichnet, dass seine (nicht immer legalen, teilweise aber auch einfach nur passwortgeschützten oder zahlungspflichtigen) Inhalte von den Crawlern der Suchmaschinen in der Regel nicht indexiert und somit auch nicht gefunden werden.15 Auch das von Dötsch in seiner richterlichen Praxis gern genutzte (allgemein zugängliche) Internetarchiv16, mit dessen Hilfe sich stillgelegte Internetseiten „wiederbeleben“ lassen, die bei einer „normalen“ Google-Suche vermutlich nicht mehr in der Trefferliste auftauchen würden, gehört hierher. Nur, wer solche Möglichkeiten der an sich jedermann offenstehenden Recherche kennt und weiß, wie sie funktionieren, kann von ihnen Gebrauch machen und dadurch erheblich mehr Informationen zum Recherchegegenstand herausbekommen als andere.17 Ob und in welchem Umfang „allgemeinkundige“ Benutzerprofile bei Online-Auktionshäusern oder Informationen von abgeschalteten Internetseiten zu früheren Gesellschafterverhältnissen Eingang in ein Verfahren finden,18 ist also in nicht unerheblichem Maße von der Internetkompetenz des zuständigen Richters abhängig.
3. Individuelle Festlegung der Suchbegriffe Aber auch bei einer „einfachen“ Google-Suche kommt den individuellen Fähigkeiten und Kenntnissen des Recherchierenden von Anfang an erhebliche Bedeutung zu: Studien haben bestätigt, dass verschiedene Probanden dieselbe Rechercheaufgabe höchst unterschiedlich angegangen sind.19 Während un14 Auf die gesteigerte Bedeutung der „Informationskompetenz“ in der „Informationsgesellschaft“ weisen auch Aufenanger/Siebertz, in: Googleisierung der Informationssuche, 160 (160 f.) hin. 15 Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (500); Lewandowski/ Kerkmann/ Sünkler, in: Googleisierung der Informationssuche, 75 (81); Mehling, in: Propädeutik zur Kommunikationswissenschaft, 125 (138). 16 http://archive.org/web/, zuletzt aufgerufen am 5. 4. 2018; Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018); siehe dazu bereits § 4 IV. 2.b)aa). 17 Auch das BPatG, Beschl. v. 16. 10. 2002 – 26 W (pat) 64/00, Rn. 26, juris hat die individuelle Qualifikation des Recherchierenden als maßgebliches Kriterium für die Ergebnisse betont. 18 So die Beispiele von Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018) aus seiner richterlichen Praxis. 19 Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (52).
III. Ablauf einer typischen Internetrecherche
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erfahrenere Nutzer sich häufig auf die klassische „Einwort-Suchanfrage“ beschränken, kombinieren kompetentere Nutzer Stichwörter, priorisieren diese in einer bestimmten Reihenfolge, nutzen Suchoperatoren wie AND, OR, AND NOT, Satzzeichen oder Trunkierungen oder filtern nach bestimmten Dokumententypen.20 Auch, ob und wie eine Suchanfrage im weiteren Verlauf modifiziert wird, ist individuell unterschiedlich: Während die einen bei Unzufriedenheit mit den ersten Ergebnissen eine neue Suchanfrage mit anderen Begriffen – oder auch eine andere Suchmaschine – ausprobieren, passen die anderen die ursprüngliche Suchanfrage an, indem sie Suchbegriffe hinzufügen oder entfernen.21 Unversierte Nutzer verlassen sich auch häufiger auf die „Hilfe“ der Suchmaschinen, z. B. durch die Autocomplete-Funktion, die dem Nutzer aktuelle ähnliche Suchbegriffe anderer Nutzer vorschlägt.22 Kritisiert wird daran, dass Darbietungsformen wie Autocomplete dazu führen, dass Nutzer bestimmte alternative Suchbegriffe gar nicht in Betracht ziehen, sondern sich von den – je nach Suchverhalten anderer Nutzer variierenden – Vorschlägen leiten lassen.23 Dass es sich bei diesen durchaus einmal um falsche Fährten zu nicht erwiesenen Sachzusammenhängen handeln kann, belegt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs: So hat es dieser beispielsweise als Persönlichkeitsrechtsverletzung angesehen, wenn die Autocomplete-Funktion bei Eingabe eines Namens die häufig genutzten, aber nicht in sachlichem Zusammenhang mit dem Namen stehenden Suchbegriffe „Scientology“ und „Betrug“ vorschlägt.24 Unabhängig von der Wahrheit der implizierten Zusammenhänge bergen diese an Mehrheiten orientierten Suchvorschläge immer das Risiko, die Recherche in eine andere Richtung zu lenken als eigentlich geplant und für die konkrete (Prozess-)Situation irrelevante Ergebnisse zu produzieren. Auch umgekehrt werden bei Internetrecherchen häufig Flüchtigkeitsfehler gemacht und für die Suche relevante Aspekte übersehen – wohl mit der zugrunde liegenden Einstellung, dass „Fehlentscheidungen“ beim Klicken leicht revidiert werden können.25 Nicht zuletzt legt jeder Recherchierende seiner Recherche unbewusst subjektive Annahmen zugrunde, die sich, wenn sie in die Formulierung der Suchbegriffe einfließen, von vornherein einschränkend auf die Treffer auswirken 20 Vgl. Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (35); Lewan dowski/Kerkmann/Sünkler, in: Googleisierung der Informationssuche, 75 (77) nennen als Gründe für eine insgesamt seltene Nutzung von Operatoren, dass Nutzer nicht viel Zeit und kognitive Energie für Recherchen aufwenden wollen. Zu den verschiedenen Operatoren ausführlich Mehling, in: Propädeutik zur Kommunikationswissenschaft, 125 (133 ff.). 21 Lewandowski/Kerkmann/Sünkler, in: Googleisierung der Informationssuche, 75 (78 ff.) m. w. N. nennen die erstgenannte Variante als die häufigere. 22 Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (51); Dörr/Natt, ZUM 2014, 829 (837). 23 Lewandowski/Kerkmann/Sünkler, in: Googleisierung der Informationssuche, 75 (88 ff.) sowie die vorstehende Fn. 24 BGH, Urt. v. 14. 5. 2013- VI ZR 269/12, ZUM 2013, 550 (551 f.). 25 Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (52).
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können.26 Auch die Eingaben des recherchierenden Richters werden notwendigerweise von seinem Vorverständnis in Bezug auf den ihm vorgetragenen Fall und die zu klärende(n) Frage(n) abhängen. Insoweit gilt bei der richterlichen Lektüre der Parteischriftsätze und einer darauf aufbauenden Internetrecherche nichts anderes als bei jeder anderen Tätigkeit, die ein Verstehen voraussetzt: Gadamer hat das Vorverständnis als „erste aller hermeneutischen Bedingungen“ bezeichnet.27 Esser hat daran anknüpfend für die richterliche Tätigkeit beschrieben, dass das „[…] Vorverständnis des Rechtsanwenders […] weder homogen noch einheitlich“ ist, sondern der Richter die „‚offensichtlich‘ relevanten Merkmale eines Falles“ (ebenso wie die von Esser sodann vorrangig behandelten „‚geeigneten‘ Normen zu dessen Lösung“) je nach vorherigen „Lernprozessen“ unbewusst erfasst.28 All dies hat maßgeblichen Einfluss auf die Ergebnisse, die der Recherchierende – im Prozess also der jeweilige, variierend internetkompetente Richter – erhalten wird.29
4. Ranking der Ergebnisse durch die Suchmaschine Nach dem individuell festgelegten Suchwort(konvolut) durchforstet die Suchmaschine sodann ihren aus vielen Milliarden elektronischer Dokumente im Internet erstellten Index.30 Welche Treffer dem Recherchierenden in welcher Reihenfolge angezeigt werden, wird von der Suchmaschine im Rahmen des sich anschließenden Rankings festgelegt.31 Dabei folgt jede Suchmaschine einer anderen „internen Logik“,32 so dass auch die Wahl der Suchmaschine die Ergebnisse beeinflusst.
a) Search Engine Bias In dieser Sortierung der Suchergebnisse liegt sowohl der größte Nutzen als auch das größte Problem der Suchmaschinen: Diese sind keine „neutralen 26
Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (52). Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 299. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 10; „Bewußtwerden und Selbstkontrolle“ dieser Vorgänge seien ein „nur nach veränderter Ausbildung zu erhoffendes rationales Ziel.“ Auch Foerste, in: FS Schilken, 261 (272) betont, dass die richterliche Tätigkeit stets „von Vorverständnis begleitet“ ist. 29 Vgl. auch BPatG, Beschl. v. 16. 10. 2002 – 26 W (pat) 64/00, Rn. 26, juris, das ebenfalls den Einfluss der „eingegebenen Suchbegriffe und Suchoptionen“ auf die Ergebnisse der Recherche hervorhebt. 30 Vertiefend zur Funktionsweise Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (498); Milstein, CR 2013, 721 (722). 31 Siehe dazu Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (501 ff.); Milstein, CR 2013, 721 (722). 32 Mehling, in: Propädeutik zur Kommunikationswissenschaft, 125 (139). 27 28
III. Ablauf einer typischen Internetrecherche
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Mittler“ eines klar umgrenzten Tatsachenbestands, sondern von vornherein wertende Akteure. Aus diesem Grund wird auch von einem Search Engine Bias gesprochen.33 In das Ranking fließen unter anderem Verlinkungen der jeweiligen Website auf anderen Websites, die Stelle und Häufigkeit des gesuchten Schlagworts im jeweiligen elektronischen Dokument, die Popularität und die Aktualität der Seite ein.34 Wie bereits bei der Autocomplete-Funktion erwähnt, hat auch hier jeder Klick jedes Nutzers im Internet einen „systemischen“ Effekt, indem er die zukünftige Auswahl und Reihenfolge der bei einer bestimmten Suchanfrage präsentierten Treffer mitbestimmt, die sich dadurch wiederum ständig ändern.35 Die genaue Funktionsweise insbesondere des von Google für das Ranking genutzten hochkomplexen und über 200 Kriterien berücksichtigenden Algorithmus ist allerdings nicht bekannt.36 In der Informationswissenschaft wird darauf hingewiesen, dass das verhältnismäßig geringe wissenschaftlich gesicherte Wissen über die Funktionsweise und Qualität von Suchmaschinen in keinem Verhältnis zu ihrer immensen Bedeutung für die Ergebnisse einer Internetrecherche steht.37 Neutralität und Ausgewogenheit der Ergebnisse können nicht verlässlich beurteilt werden.38 Die EU-Kommission hat 2017 eine Geldbuße in Höhe von 2,42 Milliarden Euro wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung als Suchmaschinenbetreiber gegen Google verhängt.39 Insbesondere stehen Google und andere Suchmaschinen in der Kritik, ihre eigenen Internetinhalte in den Trefferlisten vor fremden zu platzieren.40 Nicht nur aus kartell-, sondern auch aus medienrechtlichen Gründen wird ferner intensiv über eine Regulierung des privaten Suchmaschinenmarkts, 33 Siehe z. B. Milstein, CR 2013, 721 (722) m. w. N., der die Rankings von Suchmaschinen deshalb dogmatisch als Werturteile und damit Meinungsäußerungen einordnet; vgl. auch Jürgens/Stark/Magin, in: Googleisierung der Informationssuche, 98 ff.; Lewandowski/Kerkmann/ Sünkler, in: Googleisierung der Informationssuche, 75 ff. 34 Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (501 f.); Stark/Magin/ Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (54); zu weiteren – teilweise nur inoffiziell verbreiteten – Parametern siehe Weidt, WuW 2016, 164 (168). 35 Staab, in: Grundlagen der praktischen Information, 441 (448); Lewandowski/Kerkmann/ Sünkler, in: Googleisierung der Informationssuche, 75 (87). 36 Stark, in: Googleisierung der Informationssuche, 1 (2); Jürgens/Stark/Magin, in: Googleisierung der Informationssuche, 98 (114); Ott, WRP 2010, 435 (453); Dörr/Natt, ZUM 2014, 829 (834 ff.); Weidt, WuW 2016, 164 (168). Strauch, DVBl. 2007, 1000 (1003) hat dies bereits 2007 kritisiert und die Frage möglicher Manipulationen auch auf juristische Datenbanken erstreckt (die sodann alleiniger Gegenstand seiner weiteren Betrachtungen waren, ausführlich auch ders., in: FS Käfer, 387 ff.). 37 Vgl. Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (505). 38 Ott, WRP 2010, 435 (453); Dörr/Natt, ZUM 2014, 829 (834 ff.); Weidt, WuW 2016, 164 (168). 39 Siehe dazu kritisch Brauneck, GRUR Int. 2018, 103 ff. sowie aus der Zeit des siebenjährigen Ermittlungsverfahrens Körber, WRP 2012, 761 ff.; Paal, GRUR Int. 2015, 997 (insb. 1003); Hentsch, MMR 2015, 434 (435). 40 Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (506); Lewandowski/ Kerkmann/Sünkler, in: Googleisierung der Informationssuche, 75 (75).
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die Etablierung öffentlich-rechtlicher Suchmaschinen41 und andere Ansätze zur Gewährleistung einer „Suchmaschinenneutralität“ diskutiert.42 Feststeht jedenfalls, dass „technisch orientierte“ Rankings anderen Regeln folgen als „journalistisch-inhaltliche“ Auswertungen, wie sie in den traditionellen Massenmedien von ausgebildeten Journalisten übernommen werden.43 Welche aktuellen Nachrichten oder sonstigen Informationen man im Internet findet, wird also maßgeblich durch den Algorithmus der Suchmaschine bestimmt. Das bedeutet: Was im jeweiligen Moment „allgemeinkundig“ ist, entscheidet zu einem großen Teil Google. „Es geht also nicht mehr um die Frage des Inhaltes, sondern um den Auswahlprozess durch den Intermediär.“44 Die in der Öffentlichkeit meist auf das Risiko der Selektion politischer Meinungen bezogene Kritik an der „Meinungsbildung“ durch Google45 kann für den hier interessierenden Bereich der „bloßen“ Tatsachenbehauptungen ebenso Geltung beanspruchen: Denn jede vermeintlich „allgemeinkundige“ Tatsache ist potentielle Grundlage eines Fürwahrhaltens und entsprechender Meinungsbildung. Die Sorge um Googles Selektionsmacht gilt hier mithin ebenso: Es besteht die „[…] begründete Gefahr, dass man nicht mehr ‚findet, was man sucht‘, sondern dass man das findet, was Google für relevant für den Nutzer hält.“46
b) „Suchmaschinenoptimierung“ Dadurch, dass praktisch keine Internetrecherche ohne Suchmaschine auskommt, erlangen die Indexierung und das Ranking durch Suchmaschinen für Betreiber von Internetseiten eine existenzielle Bedeutung. In der Informationswissenschaft ist insoweit ein Zitat von Introna/Nissenbaum zum geflügelten Wort geworden: „To exist is to be indexed by a search engine.“47 Aus dieser Erkenntnis heraus hat sich das Tätigkeitsfeld der „Suchmaschinenoptimierung“ entwickelt: Optimiert wird hierbei freilich nicht die Suchmaschine, sondern die Auffindbarkeit der jeweiligen Seite durch Suchmaschinen. Die Möglichkeiten 41 Siehe dazu insb. Hege/Flecken, in: Googleisierung der Informationssuche, 224 ff. 42 Zu den verschiedenen Lösungsansätzen Koreng, in: Googleisierung der Informations-
suche, 245 (253 ff.); Dörr/Natt, ZUM 2014, 829 (insb. 840 ff.); Kreile/Thalhofer, ZUM 2014, 629 ff.; Hentsch, MMR 2015, 434 ff.; Paal, ZRP 2015, 34 (insb. 37 f.); Weidt, WuW 2016, 164 ff. 43 Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (21); Stark, in: Googleisierung der Informationssuche, 1 (3). 44 Kreile/Thalhofer, ZUM 2014, 629 (629). 45 Stark, in: Googleisierung der Informationssuche, 1 (4 f.); Dörr/Natt, ZUM 2014, 829 ff.; Kreile/Thalhofer, ZUM 2014, 629 ff. 46 Stark, in: Googleisierung der Informationssuche, 1 (2); ebenso aus juristischer Perspektive Kreile/Thalhofer, ZUM 2014, 629 (629). 47 Introna/Nissenbaum, TIS 2000, 169 (171); vgl. auch Dörr/Natt, ZUM 2014, 829 ff. (829); Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (21); Paal, GRUR Int. 2015, 997 (997).
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reichen von legalen technischen Maßnahmen, die lediglich die Indexierung erleichtern, bis hin zu „komplexen Manipulationen der Verlinkungsstruktur der auf die zu optimierenden Dokumente verweisenden Seiten.“48 Wie groß der Einfluss solcher Maßnahmen auf die Ergebnisse ist, ist bislang (wiederum) kaum erforscht.49
c) Zunehmende Personalisierung der Ergebnisse Wenngleich der genaue Algorithmus von Google nicht bekannt ist und ständigen Anpassungen unterliegt, steht fest, dass viele der über 200 berücksichtigten Kriterien individualisiert sind.50 So haben z. B. Zeitpunkt und Standort einer Suchanfrage sowie das für diese genutzte Gerät Einfluss auf das Ranking der Treffer.51 Darüber hinaus „lernt“ die Suchmaschine aus vorherigen Suchanfragen des Nutzers, indem sie – ganz ohne sein Zutun und Bewusstsein – sein „Clickverhalten“ und weitere „Verhaltensdaten“ auswertet.52 Das kann dazu führen, dass jeder Nutzer unterschiedliche Ergebnisse angezeigt bekommt – und zwar jeweils solche, die seine insbesondere anhand früherer Suchanfragen ermittelte individuelle Erwartung bestätigen.53 Zumindest technisch ist es möglich, dass zwei Nutzer, die identische Suchbegriffe eingeben, unterschiedliche Ergebnisse angezeigt bekommen.54 Der genaue Effekt des Nutzerverhaltens auf die technische Selektion ist bislang ebenfalls nicht hinreichend erforscht.55 Was als großer Erfolg für die Qualität der Ergebnisse aus Sicht des individuellen Nutzers angesehen wird, führt bei Internetrecherchen im Zeichen einer 48 Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (503); Dörr/Natt, ZUM 2014, 829 (838); Mehling, in: Propädeutik zur Kommunikationswissenschaft, 125 (131). 49 So die Feststellung von Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (505). 50 Stark, in: Googleisierung der Informationssuche, 1 (2). 51 Jürgens/Stark/Magin, in: Googleisierung der Informationssuche, 98 (104 ff., 130); Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (501 f.); Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (54). 52 Jürgens/Stark/Magin, in: Googleisierung der Informationssuche, 98(104 ff.); Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (501 f.); Mehling, in: Propädeutik zur Kommunikationswissenschaft, 125 (132). 53 Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (502); Jürgens/Stark/ Magin, in: Googleisierung der Informationssuche, 98 (110); Dörr/Natt, ZUM 2014, 829 (836); Kreile/Thalhofer, ZUM 2014, 629 (635); Mehling, in: Propädeutik zur Kommunikationswissenschaft, 125 (132). 54 Jürgens/Stark/Magin, in: Googleisierung der Informationssuche, 98 (109); Dörr/Natt, ZUM 2014, 829 (836). 55 Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (21); Stark, in: Googleisierung der Informationssuche, 1 (5). Jürgens/Stark/Magin, in: Googleisierung der Informationssuche, 98 (117 ff.) konnten in einem ersten Experiment mit automatischen Abfragen aus verschiedenen Nutzerprofilen noch keine drastischen Effekte der Personalisierung nachweisen, heben aber methodische Unsicherheiten hervor, die zu einer Unterschätzung des Personalisierungseffekts geführt haben könnten.
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vermeintlichen Allgemeinkundigkeit gerade zu Schwierigkeiten: Denn die individuelle Anpassung lässt befürchten, dass „[…] viele Ergebnisse, die für die Masse relevant sein können, für den einzelnen Nutzer jedoch nicht, ausgefiltert werden können.“56 Der Umstand, dass und in welchem Umfang eine personalisierte Selektion stattfindet, dürfte gerade unerfahreneren Internetnutzern nicht bewusst sein.57 Auf die Personalisierung der Ergebnisse wird bei Google weder hingewiesen noch kann sie ausgeschaltet oder von anderen Rankingfaktoren isoliert werden.58 Medienwissenschaftliche Studien deuten darauf hin, dass die breite Masse der Internetnutzer59 bisher „wenig kompetent im Umgang mit Suchmaschinen“ ist, „kaum Hintergrundwissen über Suchmaschinen“ und insbesondere wenig Wissen darüber hat, welche Faktoren auf das Ranking Einfluss nehmen. Stattdessen wird darauf vertraut, dass die angezeigten Ergebnisse die relevanten und richtigen Ergebnisse liefern.60 So entsteht das Risiko, dass Nutzer die Treffer fälschlicherweise als „quasi-objektiven Spiegel der Realität“ wahrnehmen.61 Tatsächlich zeigt sich nicht zuletzt an der zunehmenden Personalisierung der Internetrecherche ein wesentlicher Unterschied zur Inaugenscheinnahme „realer“ Begebenheiten im „echten Leben“ – und auch zum Besuch einer im Bestand begrenzten und verhältnismäßig statischen Bibliothek: Die Ergebnisse jeder Internetrecherche sind höchst individuell.
d) Insbesondere: Personalisierte Preise Ein besonders relevantes Beispiel für den Trend zur Personalisierung sind Preise von Online-Shops: Viele Online-Händler passen ihre Preise mittlerweile bis zu mehrmals täglich an, so dass sich bei Recherchen innerhalb eines Zeitraums einiger Wochen erhebliche Preisunterschiede ergeben können. Dabei zeichnet sich ab, dass bestimmte Produkte an bestimmten Wochentagen und Uhrzeiten zu besonders günstigen Preisen angeboten werden. Vor allem aber bekommen Nutzer abhängig von ihrem Standort (z. B. einer im Durchschnitt mehr oder 56 Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (502); Stark, in: Googleisierung der Informationssuche, 1 (4). 57 Kreile/Thalhofer, ZUM 2014, 629 (635). 58 Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (502); Lewandowski/ Kerkmann/Sünkler, in: Googleisierung der Informationssuche, 75 (91); Mehling, in: Propädeutik zur Kommunikationswissenschaft, 125 (132). 59 Zu dieser „breiten Masse“ gehört sicherlich auch der ein oder andere Richter: So hat Hoeren, NJW 2008, 2615 (2617) bereits 2008 festgestellt, dass (auch) die Richterschaft ihre eigene Internetkompetenz bisweilen überschätzt. 60 Stark, in: Googleisierung der Informationssuche, 1 (5, 8 f.); Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (36, 53), jeweils m. w. N.; Lewandowski/Kerkmann/ Sünkler, in: Googleisierung der Informationssuche, 75 (78 f., 94). 61 Dörr/Natt, ZUM 2014, 829 (837).
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weniger wohlhabenden Wohngegend), ihrem bisherigen Online-Verhalten und dem genutzten Endgerät zunehmend unterschiedliche Preise angezeigt: Preise auf mobilen Endgeräten sind häufig höher als auf feststehenden Rechnern.62 Die individualisierten Preise welcher Händler dem Recherchierenden bei einer Google-Suche in welcher Reihenfolge angezeigt und welche ignoriert werden, bestimmt wiederum Google. Gregers Annahme, dass sich „der Preis für ein bestimmtes Produkt“ unmittelbar mithilfe qualifizierter Quellen ermitteln lasse,63 unterliegt vor diesem Hintergrund zunehmenden Einschränkungen. Und auch die vom Oberlandesgericht Köln ermittelten „allgemeinkundigen“ Preise verschiedener gebrauchter Gegenstände wie Motortransportwagen und Werkstattwagen64 könnten bei einer Recherche zu einem anderen Zeitpunkt und/oder von einem anderen Standort und/oder Endgerät durchaus abweichen.
5. Individuelle Auswahl der Ergebnisse Aus den je nach Fähigkeiten und Suchbegriff(en) initiierten und von der Suchmaschine nach unterschiedlichsten Kriterien gerankten und personalisierten Ergebnissen klickt der Recherchierende nunmehr an, was ihm relevant erscheint.
a) Selektive Wahrnehmung der Ergebnisse Dabei kommen weitere individuelle Effekte zum Tragen: Zunächst wird das Selektionsverhalten „grundlegend und stetig“ von den Gewohnheiten verschiedener Nutzertypen geprägt, die aus der Trefferliste nach unterschiedlichen Kriterien auswählen: Während die einen Ergebnisse systematisch und nach differenzierten Auswahlstrategien auswerten, findet bei anderen eine eher unreflektierte, spontane Auswahl statt.65 Als „Schlüsselkonzept“ gerade auch in der digitalen Medienwelt hat die Medienwirkungs- und Mediennutzungsforschung aber unabhängig vom Nutzertyp die sogenannte Selektivität oder Selektion ausgemacht.66 Dieser psychologische „Einfluß des Wahrnehmenden auf die Wahrnehmung“ ist längst 62 Das haben Recherchen der ARD in Kooperation mit einem Unternehmen ergeben, das die Preise von über 1.500 Online-Shops kontinuierlich beobachtet und analysiert, siehe http:// www.ardmediathek.de/tv/Der-Montags-Check/Der-Geld-Check-Wie-finde-ich-immer-den-/ Das-Erste/Video?bcastId=22834010&documentId=38224912, ausgestrahlt am 10. 10. 2016, zuletzt abgerufen am 13. 4. 2017, am 5. 4. 2018 nicht mehr verfügbar; vgl. aber die textliche Zusammenfassung unter http://www.daserste.de/information/ratgeber-service/geldcheck/ sendung/der-geld-check-folge-1-112.html, zuletzt aufgerufen am 5. 4. 2018. 63 Greger, in: FS Stürner, 289 (295 f.). 64 OLG Köln, Beschl. v. 25. 5. 2016 – 1 W 6/16, NJOZ 2016, 1410 (1412). Siehe dazu noch ausführlich § 7 IV. 1.b). 65 Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (70). 66 Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (25).
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auch im juristischen Schrifttum untersucht und anerkannt worden: So hat (für Wahrnehmungen im „echten Leben“) vor allem Lipp herausgearbeitet, dass jede Wahrnehmung aufgrund der beschränkten Wahrnehmungsfähigkeit jedes Menschen einer unbewussten, subjektiven Selektion unterworfen ist, mittels derer der Wahrnehmende aus den vielfältigen wahrnehmbaren Sinnesreizen die tatsächlich wahrgenommenen Inhalte individuell auswählt.67 Und Krekeler hat schon Anfang der 1980er Jahre ebenfalls unter Bezugnahme auf (damals) neuere psychologische Erkenntnisse die „sozialpsychologisch begründete Tendenz zu konsonanter Informationssuche“ als auch richterliches Problem identifiziert: Bei der Selektion der tatsächlich wahrgenommenen Fakten wähle das menschliche Gehirn automatisch diejenigen Informationen aus, die seinen intuitiv bereits vorher gefassten Erwartungen entsprechen. Dies, so Krekeler zutreffend, passiere auch dem „untadeligsten“ Richter und habe nichts mit mangelnder Integrität zu tun.68 In jüngerer Zeit hat sich namentlich Schweizer intensiv mit der Psychologie der richterlichen Überzeugungsbildung auseinandergesetzt und unter Einbeziehung zahlreicher psychologischer Erkenntnisse den Prozess der „Kohärenzbildung“ beschrieben: Bereits bei „basalen Prozesse[n] der Wahrnehmung“ füge der Wahrnehmende unbewusst neue Hinweisreize so mit bestehenden Erwartungen zusammen, dass ein kohärentes Gesamtbild entsteht.69 Insoweit sei es „unumgänglich und natürlich“, dass Tatsachenbehauptungen zu „Geschichten“ strukturiert werden. Bei der Würdigung von Beweismitteln werde sodann „nicht nur die Geschichte den Beweismitteln, sondern auch die Interpretation der Beweismittel der Geschichte angepasst.“ Deshalb bestehe immer die Gefahr, dass nicht zur „Geschichte“ passende Hinweise übersehen oder abgewertet und bestätigende übergewichtet werden.70 Das gilt umso mehr, als nach Strauch auch die tatsächliche und rechtliche Begründung der gerichtlichen Entscheidung am Ende (in sich selbst sowie im Hinblick auf den vorgegebenen „Norm- und Prämissenrahmen“) kohärent sein muss.71 67 Lipp, Das private Wissen des Richters, S. 44 ff. m. w. N.; vgl. auch Balzer, Beweisaufnahme und Beweiswürdigung im Zivilprozess, Rn. 155; Schellhammer, Zivilprozess, Rn. 628 ff.; Brose, GRUR 2016, 146 (147 f.). 68 Krekeler, NJW 1981, 1633 (1636). Zu den Schwierigkeiten unseres „Strebens nach kognitiver Konsonanz“ auch Brose, GRUR 2016, 146 (147 f.). 69 Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S. 272. Die verschiedenen untersuchten Kohärenztheorien hält Schweizer für „ausgezeichnete Beschreibungen der psychologischen Prozesse, die bei der Beweiswürdigung stattfinden.“ Die empirischen Befunde seien „überwältigend“. Als (hier nicht gegenständlichen) „normative[n] Standard der Beweiswürdigung“ lehnt er Kohärenztheorien hingegen ab (S. 348). 70 Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S. 284. Auch Strauch, in: FS Käfer, 387 (405 ff.) weist auf die notwendige Kohärenzbildung bei jeder Wahrnehmung hin und betont das kognitionswissenschaftliche Phänomen der Mustererkennung durch – wiederum individuell – abgespeichertes (Vor-)Wissen. 71 Strauch, in: FS Käfer, 387 (391, 395 f. m. w. N.).
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Entsprechende Prozesse werden auch bei der Internetnutzung beschrieben: und zwar sowohl in der „präkommunikativen Phase“ als auch während und nach der Rezeption.72 Im hier interessierenden Stadium der Auswahl der Websites aus der Trefferliste führen sie dazu, dass je nach Vorwissen und Erwartung – mit anderen Worten: je nach abgespeicherter „Geschichte“ – bestimmte Medieninhalte beachtet und andere ignoriert werden.73 Der recherchierende Richter wird also intuitiv diejenigen Treffer anklicken, die seine unterbewusste Erwartung bestätigen – sofern die Suchmaschine ihm nicht ohnehin bereits nur solche anbietet. Nur ein Bruchteil des Rezipierten bleibt nach der Recherche tatsächlich in Erinnerung.74
b) Einfluss der Ergebnispräsentation Die Gestaltung der Ergebnisse durch Suchmaschinen beeinflusst sowohl, was überhaupt wahrgenommen wird, als auch, was letztlich angeklickt wird75 – wobei gerade bei unversierten Nutzern nicht selten der Fettdruck eines Schlagworts die Prüfung eines sinnvollen textlichen Zusammenhangs ersetzt.76 Die Effekte des individualisierten Rankings werden durch die Präsentation der angezeigten Ergebnisse nochmals verstärkt: So formulieren Suchmaschinen aus den gefundenen Ergebnissen zunehmend selbst konkrete Antworten und/oder stellen die – nach welchen Kriterien auch immer – „relevantesten“ Ergebnisse in einem separaten Anzeigefeld zusammengefasst dar: „Die Trefferseite […] wird zunehmend zum Ergebnis selbst.“77 Hier besteht das Risiko, dass abweichende Antworten auf dieselbe Frage vom Nutzer gar nicht erst wahrgenommen werden.78 Studien haben gezeigt, dass viele Nutzer nur die allerersten oder maximal diejenigen Ergebnisse anklicken, die ohne Scrollen im unmittelbar sichtbaren Teil des Bildschirms angezeigt werden.79 Je nach Geduld und Internetkompetenz des recherchierenden Richters wird dieser darüber hinaus auch Ergebnisse einbeziehen, die sich erst auf höheren Rangpositionen der Trefferliste finden. Bezweifelt wird ferner, dass der durchschnittliche Nutzer die Werbetreffer von bezahlenden Partnern der Suchmaschine, die unmittelbar oberhalb der „echten“ Ergebnisse angezeigt werden, von letzteren unterscheiden 72 73
Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (25). Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (25 f.). 74 Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (25). 75 Lewandowski/Kerkmann/Sünkler, in: Googleisierung der Informationssuche, 75 (86). 76 Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (36, 55 f.). 77 Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (506); zum dort insb. genannten Beispiel des Google Knowledge Graph (a. a. O., S. 504) noch sogleich unter 6.; ebenso Dörr/Natt, ZUM 2014, 829 (832). 78 Vgl. Dörr/Natt, ZUM 2014, 829 (835). 79 Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (505); Stark/Magin/ Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (36, 54), jeweils m. w. N.
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kann.80 Auch in Preisvergleichsportalen wird an erster Stelle in aller Regel nicht das günstigste Angebot angezeigt, sondern zunächst „gesponserte“ Anzeigen. Auch die weiteren Angebote sind häufig durch eine automatische Vorauswahl gefiltert, bei deren Änderung sich abweichende Preise ergeben können. Je nachdem, wieviel der recherchierende Richter von diesen Mechanismen versteht, könnte eine Internetrecherche wie die des Landgerichts Wiesbaden zu Mietwagenkosten auf dem Vergleichsportal billiger-mietwagen.de ganz andere Ergebnisse hervorbringen – und die (ohnehin schon nicht besonders aussagekräftige) ermittelte Spanne zwischen EUR 962,96 und EUR 3.081,83 „allgemeinkundiger“ Angebote für ein „streitgegenständliches Mittelklassefahrzeug“ mit spezifischen Kriterien noch weiter vergrößern oder auch verkleinern.81
c) Stand der aufgerufenen Websites Hervorzuheben ist auch, dass Probanden in Studien nicht daran gedacht haben, die Aktualität der Treffer zu prüfen.82 Das mag daran liegen, dass viele Internetseiten mehrmals täglich aktualisiert werden und man intuitiv erwartet, dass das Internet stets up to date ist – wenn nicht durch eine Aktualisierung der einzelnen Internetseiten, so doch jedenfalls durch die Auswahl der Treffer durch die Suchmaschine. Die Aktualität spielt zwar tatsächlich eine Rolle im Algorithmus.83 Dadurch werden ältere Treffer aber nicht ausgeschlossen, wenn sie aus anderen Gründen vom – wie dargestellt, nicht vollständig bekannten – Algorithmus berücksichtigt werden. Mindestens ebenso relevant ist jedoch das umgekehrte Phänomen, dass Gerichte bei ihren Recherchen auf „allgemeinkundige“ Tatsachen stoßen, die gerade wegen ihrer Aktualität kaum Aussagekraft für den zu entscheidenden Sachverhalt haben, weil dieser in den allermeisten Gerichtsverfahren bereits mehrere Monate oder auch Jahre zurückliegt. Zu dem bereits angesprochenen Problem, dass der Stand, den die Parteien nachprüfen können, nicht immer derjenige ist, den das Gericht eingesehen hat,84 kommt also das vorgelagerte Problem hinzu, dass schon der vom Gericht eingesehene Stand oftmals nicht mehr derjenige ist, 80 Stark, in: Googleisierung der Informationssuche, 1 (12); Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (505); auch Dörr/Natt, ZUM 2014, 829 (838) erwägen eine deutlichere Kennzeichnung. 81 LG Wiesbaden, Urt. v. 30. 7. 2015 – 3 S 117/14, Rn. 11, juris; ähnlich auch bereits die Vorgehensweise des AG Wolfenbüttel, Urt. v. 30. 3. 2007 – 16 C 188/05, Rn. 6, juris (ohne ausdrückliche Berufung auf § 291 ZPO). Entsprechendes dürfte für die Ermittlung von Fernwäremepreisen durch das AG Hamburg-Altona, Urt. v. 24. 02. 2015 – 316 C 248/14, WuM 2017, 403 (404) gelten. 82 Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (56). 83 Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (501 f.); Stark/Magin/ Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (54); Weidt, WuW 2016, 164 (168). 84 Siehe dazu § 5 III.2.a)bb)(1).
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der für den jeweiligen Fall eine Rolle spielt. Das gilt für fünf Jahre nach einem Unfall recherchierte Mietwagenangebote85 ebenso wie für ein Jahr nach einer Online-Auktion abgerufene AGB des Veranstalters86 oder für lange Zeit nach einem Autokauf recherchierte Online-Betriebsanleitungen87.
6. Förderung ungeplanter Entdeckungen und Tendenz zum Weitersurfen Eine Besonderheit der Internetrecherche ist es schließlich, dass die Einfachheit, weitere Informationen zu gewinnen, den Nutzer dazu animiert, weitere Links anzuklicken, die eine Vertiefung der gefundenen Information oder weitere interessante Erkenntnisse aus dem gröberen Umfeld der Suche versprechen. Die Ergebnisseiten der Suchmaschinen werden gezielt so gestaltet, dass die Wahrnehmung des Recherchierenden auf weitere Suchmöglichkeiten gelenkt wird: Neben den eigentlichen Ergebnissen, die möglichst genau auf die Suchanfrage reagieren, werden dem Nutzer zugleich Möglichkeiten angeboten, über den Tellerrand seiner Suchanfrage hinauszublicken88 – was in anderen Kontexten durchaus hilfreich und sinnvoll sein kann89. Insbesondere Googles sogenannter Knowledge Graph wurde bewusst mit einer „Serendipity Box“90 entworfen, um nach dem Serendipitätsprinzip überraschende Entdeckungen zu fördern, die ursprünglich gerade nicht gesucht wurden: Google selbst bewirbt den neben den Suchergebnissen angezeigten Kasten mit dem Satz: „Discover answers to questions you never thought to ask.“91 Die dort angezeigten „Antworten“ werden dem Nutzer also präsentiert, ohne dass er überhaupt eine entsprechende Frage gestellt hat.92 Die „interessantesten“ Antworten erscheinen wiederum bereits auf der Ergebnisseite selbst. Sie laden dazu ein, genauer nachgelesen zu werden. So surft man von Seite zu Seite, auch wenn man die zunächst gesuchte Information bereits gefunden hat. Auch in der Informationswissenschaft wird das Phänomen beschrieben, dass eigentlich als gezielte Suchanfragen geplante kurze Recherchen sich unwillkürlich zu weitläufigem Browsen ausweiten können, bei dem der Recherchierende sich von Fund zu Fund hangelt 85
LG Wiesbaden, Urt. v. 30. 7. 2015 – 3 S 117/14, juris. LG Bonn, Urt. v. 7. 8. 2001 – 2 O 450/00, MMR 2002, 255 (256), siehe dazu noch ausführlich § 7 IV. 3.c). 87 OLG Zweibrücken, Beschl. v. 13. 12. 2013 – 3 W 147/13, Rn. 6, juris, siehe dazu bereits § 5 III.4.c). 88 Quan-Haase/McCay-Peet, in: Googleisierung der Informationssuche, 136 (137): „[…] allow users to explore the boundaries of their original query“; Lewandowski/Kerkmann/ Sünkler, in: Googleisierung der Informationssuche, 75 (86). 89 Siehe dazu noch § 7 IV. 1.d). 90 Quan-Haase/McCay-Peet, in: Googleisierung der Informationssuche, 136 (137); zum Begriff der Serendipität a. a. O., S. 138 f. 91 https://www.google.com/intl/es419/insidesearch/features/search/knowledge.html, zuletzt aufgerufen am 5. 4. 2018. 92 Lewandowski, in: Grundlagen der praktischen Information, 495 (506). 86
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und so immer weitere Informationen findet und aufnimmt.93 Was auf den ersten Blick eine Qualitätssteigerung zu versprechen scheint, wirft im Lichte von Beibringungsgrundsatz und richterlicher Neutralität vor allem Fragen der Relevanz auf, die unter IV. 1. und 3. erörtert werden. Bedeutung erlangt dabei auch die Feststellung, dass sich manche Nutzer gar nicht darüber bewusst sind, dass sie ursprünglich nicht erwartete Informationen aufnehmen.94
7. Konsequenz: Keine einheitlichen Maßstäbe Als charakteristisches Merkmal von Internetrecherchen lässt sich nach alledem vor allem ihre Individualität festhalten. Jede Internetrecherche verläuft anders. Welche Ergebnisse eine Recherche hervorbringt, ist von mehreren höchst individuellen Faktoren in der Person des Recherchierenden und in den technischen Vorgängen bei der Recherche abhängig. Was die Typizitäten von Internetrecherchen für die zivilprozessualen Verfahrensgrundsätze bedeuten, wird unter IV. eingehend untersucht. Eines ist jedoch an dieser Stelle bereits hervorzuheben: Eine Vereinheitlichung der Maßstäbe bei der Internetrecherche, um ein zumindest annähernd homogenes richterliches Recherchieren zu gewährleisten, erscheint angesichts der dargestellten Individualitäten praktisch unmöglich. Insbesondere könnte eine von Bachmeier95 angedeutete, von anderen Autoren96 hingegen ausdrücklich abgelehnte Pflicht zur Internetrecherche die ständigen, unter anderem orts-, zeit-, personen- und gerätbezogenen Veränderungen der Web-Inhalte nicht ausgleichen. Eine zumindest ansatzweise Vereinheitlichung der Maßstäbe wäre allenfalls im Hinblick auf Suchstrategien und andere vom Menschen beeinflussbare Parameter denkbar. Eine Pflicht zur Internetrecherche müsste dann aber von ausdifferenzierten Vorgaben zur Durchführung der Recherche und intensiven Schulungen der Richterschaft begleitet werden, wenn sie zumindest einen gewissen Effekt auf die Maßstäbe haben sollte. Das würde wiederum einen tiefen Eingriff in die Verfahrensführung als „Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit“97 bedeuten, dem verhältnismäßig geringe Erfolgsaussichten gegenüberstünden. Mit 93 Vgl.
Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (49). Quan-Haase/McCay-Peet, in: Googleisierung der Informationssuche, 136 (140). 95 Bachmeier, DAR 2012, 557 (560); siehe dazu bereits § 4 III.4. 96 BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 5; Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 3; in dem von Saenger in Bezug genommenen Beschluss des OLG Naumburg, Beschl. v. 14. 12. 2011 – 10 W 74/11, NJW‑RR 2012, 638 (638) wird hingegen nicht per se eine Verpflichtung des Gerichts, sondern allein die allgemeine Zugänglichkeit und damit die Allgemeinkundigkeit im konkreten Fall abgelehnt (siehe dazu § 4 IV. 1.a)cc)). Tendenziell gegen eine Verpflichtung (allerdings damals auch noch gegen eine Berechtigung) OLG Köln, Urt. v. 22. 9. 2004 – 6 U 50/04, NJW‑RR 2005, 353 (353 f.) (dazu bereits § 4 III.2). 97 Musielak/Voit/Heinrich, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 42 Rn. 11; vgl. auch Maunz/Dürig/Hillgruber, GG, 81. EL Sept. 2017, Art. 97 Rn. 21 f. 94
IV. Risiken für die Verfahrensgrundsätze
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einer in jungen Jahren der CPO vereinzelt angenommenen „Pflicht zur Kenntnis“ von „Allerweltsweisheiten“98 wäre eine solche „Pflicht zur Recherche“ in kaum sinnvoll zu begrenzenden „allgemein zugänglichen, zuverlässigen Quellen“ nicht zu vergleichen. Im Ergebnis wird man daher der Ansicht zustimmen müssen, dass eine Pflicht zur Internetrecherche nicht besteht. Wer richterliche Internetrecherchen für zulässig hält, wird demnach erhebliche Unterschiede in Verfahren und Ergebnissen hinnehmen müssen – zusätzlich zu den ohnehin vorhandenen und unvermeidbaren Qualitätsunterschieden im vorprozessualen Wissen verschiedener Richter.
IV. Risiken für die Verfahrensgrundsätze Aus den dargestellten Eigenheiten einer Internetrecherche ergeben sich zudem spezifische Gefahren für den Beibringungsgrundsatz, das Recht auf Strengbeweis und die Neutralität des Richters.
1. Beibringungsgrundsatz a) Googles Herrschaft über „allgemeinkundige“ Tatsachen Dörr/Natt haben das Hauptproblem mit Google im wettbewerbs- und medienrechtlichen Kontext wie folgt formuliert: „Grund zur Sorge gibt […] der Umstand, dass die Macht, im Endeffekt zu entscheiden, was real, was richtig und falsch, was wichtig und unwichtig ist, allein in der Hand eines einzelnen, wirtschaftlichen Zwängen unterworfenen Unternehmens liegt.“99
Dieser Sorge ist aus zivilprozessualer Perspektive zuzustimmen: Denn die Entscheidung darüber, was „allgemeinkundiger“ Gegenstand des Verfahrens wird, ist nicht mehr nur eine Frage von „Richtermacht und Parteiherrschaft“100, sondern wird, sobald der Richter im Internet zu recherchieren beginnt, zu einem großen Teil von der genutzten Suchmaschine mitbestimmt. Ergänzt wird dies durch – nicht selten ebenfalls von der „Suggestivkraft“101 der Suchmaschine beeinflusste – subjektive Vorgehens- und Auswahlentscheidungen des variie98 Insb. angenommen von Wach, Vorträge über die Reichs-Civilprocessordnung, S. 209; ausdrücklich abgelehnt hingegen von Apfelbaum, Die bei Gericht offenkundigen Tatsachen, S. 50 f.; der Begriff der „Allerweltsweisheit“ wurde geprägt von Bernhardt, in: FS Rosenberg, 9 (23). 99 Dörr/Natt, ZUM 2014, 829 (836); ebenso Stark, in: Googleisierung der Informationssuche, 1 (3 f.). 100 So der Titel der Dissertation von Schmidt-Hieber, Richtermacht und Parteiherrschaft über offenkundige Tatsachen aus dem Jahr 1974. 101 Kreile/Thalhofer, ZUM 2014, 629 (629).
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rend internetkompetenten Richters. Dadurch wird die Frage, welche Tatsachen für den konkreten Prozess relevant und welche irrelevant sind, denjenigen aus der Hand genommen, die im Zivilprozess eigentlich für den Tatsachenvortrag verantwortlich sind: den Parteien.102
b) Beispielsfall: Recherche von Online-Angeboten Zur Veranschaulichung soll das Beispiel des Oberlandesgerichts Köln dienen, in dem dieses „allgemeinkundige“ Online-Angebote verschiedener gebrauchter Gegenstände als Anknüpfungstatsachen zur Schätzung eines Mindestschadens beim Verlust „vergleichbarer“ Gegenstände recherchierte: Das Landgericht Aachen hatte in dem zugrunde liegenden Prozesskostenhilfeverfahren103 eine hinreichende Aussicht auf Erfolg i. S. d. § 114 Abs. 1 S. 1 ZPO verneint und den Antrag zurückgewiesen, da es keine hinreichenden Anknüpfungstatsachen für eine Schätzung des Werts der Gegenstände erkennen konnte, für die der Antragsteller Ersatz begehrte. Der Begründung seines Rechtsmittels hatte dieser sodann neben den bereits in der Vorinstanz eingereichten Fotos teilweise auch „Internetausdrucke“ vorgelegt. Das Oberlandesgericht unterschied die verlorenen Gegenstände nun in drei Gruppen: Hinsichtlich einer Gruppe reichten die vorgetragenen Anknüpfungstatsachen auch aus Sicht des Oberlandesgerichts nicht einmal zur Schätzung eines Mindestschadens aus.104 Hinsichtlich einer weiteren Gruppe hielt das Gericht die Gegenstände für „[…] hinreichend genau beschrieben, um den behaupteten Wert durch einen Sachverständigen überprüfen zu lassen.“105 Für eine dritte, zwischen diesen beiden Gruppen angesiedelte Fallgruppe führte das Oberlandesgericht „Internetrecherchen zum Wert gebrauchter Rangierwagenheber“ und weiterer Gegenstände durch. Obwohl es insoweit teilweise „an jeglichen Angaben zu Typ und Alter der Maschine fehlt[e]“, suchte das Gericht im Internet nach „vergleichbaren“ Angeboten und schätzte so den jeweiligen „Mindestschaden“.106 Was das Oberlandesgericht hier recherchiert hat, war freilich nicht der so bezeichnete „Wert“, sondern zunächst einmal der in den recherchierten „vergleichbaren“ Einzelfällen geforderte Preis, um aus diesen Einzelfällen Schlüsse 102
Siehe zum Beibringungsgrundsatz bereits ausführlich § 2 I. OLG Köln, Beschl. v. 25. 5. 2016 – 1 W 6/16, NJOZ 2016, 1410 (1412). Zur verständlicheren Darstellung der zentralen Schwierigkeiten des (vom OLG ausdrücklich zur Rechtfertigung seiner Internetrecherchen herangezogenen) § 291 ZPO wird im Folgenden vernachlässigt, dass im Prozesskostenhilfeverfahren teilweise auch unabhängig von § 291 ZPO Internetrecherchen für zulässige gerichtliche „Erhebungen“ i. S. d. § 118 Abs. 2 S. 2 ZPO gehalten werden (siehe dazu bereits § 4 Fn. 116). Dies erscheint zweifelhaft; jedenfalls dürften die hier vorgenommenen Recherchen – auf die „offline“ wohl kein Richter gekommen wäre – über das Maß zulässiger „Erhebungen“ hinausgehen. 104 OLG Köln, Beschl. v. 25. 5. 2016 – 1 W 6/16, NJOZ 2016, 1410 (1412). 105 OLG Köln, Beschl. v. 25. 5. 2016 – 1 W 6/16, NJOZ 2016, 1410 (1413). 106 OLG Köln, Beschl. v. 25. 5. 2016 – 1 W 6/16, NJOZ 2016, 1410 (1412 f.). 103
IV. Risiken für die Verfahrensgrundsätze
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auf den Wert der verlorenen Gegenstände zu ziehen. Die tatsächlichen Grundlagen einer Schadensschätzung darzulegen und ggf. zu beweisen, ist aber auch im Rahmen des § 287 ZPO Aufgabe des geschädigten Klägers.107 Zu diesen Grundlagen gehört neben einer Beschreibung der Gegenstände auch der Preis für auf dem Markt erhältliche Vergleichsgegenstände.108 Erst und nur dann, wenn hinreichende Ausgangs- bzw. Anknüpfungstatsachen vorgetragen und notwendigenfalls bewiesen wurden, kann – ggf. mit Hilfe eines Sachverständigen – die Schätzung eines Mindestschadens erfolgen.109 Nur beim Schätzungsvorgang und nicht bei der hier gegebenen, vorgeschalteten Ermittlung der Schätzungsgrundlagen ist das Tatsachengericht nach den Worten des Bundesgerichtshofs „besonders freigestellt“, um einem Geschädigten den Ersatz seines Schadens auch dann zu ermöglichen, wenn die Höhe des Schadens nicht mit der im Rahmen des § 286 ZPO erforderlichen Gewissheit nachgewiesen werden kann.110 Zur Klärung der Schätzungsgrundlagen kann (und ggf. muss) das Gericht die Parteien zu hinreichendem Vortrag und Beweis anhalten.111 Wenn „[…] mangels greifbarer Anhaltspunkte eine Grundlage für das Urteil nicht zu gewinnen ist und das richterliche Ermessen vollends in der Luft hängen würde […], bleibt es bei der Regel, dass den Kl[äger] die Beweislast für die klagebegründenden Tatsachen trifft und deren Nichterweislichkeit ihm schadet.“112
Diese Darlegungs- und Beweislast hat das Oberlandesgericht dem Antragsteller abgenommen, indem es, statt ihn auf die Notwendigkeit ergänzender (und ggf. 107 Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 13 Rn. 20 m. w. N. sowie die Nachweise in der übernächsten Fn. 108 So ausdrücklich in einem vergleichbaren Fall auch BGH, Urt. v. 1. 2. 2000 – X ZR 222/98, NJW‑RR 2000, 1340 (1341). Der Geldwert des beschädigten oder zerstörten Gegenstands zählt hingegen zu der – anhand der dargelegten tatsächlichen Grundlagen – schätzungsfähigen Höhe des Schadens, MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 287 Rn. 16; Baumgärtel/ Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 13 Rn. 14. 109 BGH, Urt. v. 15. 3. 1988 – VI ZR 81/87, NJW 1988, 3016 (3017); Urt. v. 17. 1. 1995 – VI ZR 62/94, NJW 1995, 1023 (1023 f.); Versäumnisurt. v. 11. 3. 2004 – VII ZR 339/02, NJW‑RR 2004, 1023 (1023); Urt. v. 29. 5. 2013 – VIII ZR 174/12, NJW 2013, 2584 (2586); Wieczorek/Schütze/Prütting, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 287 Rn. 6; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 287 Rn. 15, 19; Musielak/Voit/Foerste, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 287 Rn. 7; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 114 Rn. 4, 10; Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 803. 110 BGH, Urt. v. 17. 5. 2011 – VI ZR 142/10, SVR 2012, 138 (138); Urt. v. 6. 12. 2012 – VII ZR 84/10, NJW 2013, 525 (527); zum Entstehungshintergrund der Vorschrift Musielak/Voit/ Foerste, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 287 Rn. 1. 111 BGH, Urt. v. 1. 2. 2000 – X ZR 222/98, NJW‑RR 2000, 1340 (1341); Urt. v. 25. 6. 2002 – X ZR 83/00, NJW 2002, 3317 (3320); Wieczorek/Schütze/Prütting, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 287 Rn. 8, 38; Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 13 Rn. 20; Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, Rn. 805. 112 BGH, Urt. v. 6. 12. 2012 – VII ZR 84/10, NJW 2013, 525 (527); siehe auch bereits Urt. v. 22. 10. 1987 – III ZR 197/86, NJW‑RR 1988, 410 (410); Versäumnisurt. v. 11. 3. 2004 – VII ZR 339/02, NJW‑RR 2004, 1023 (1023); Wieczorek/Schütze/Prütting, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 287 Rn. 9; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 287 Rn. 2.
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im Hauptsacheverfahren vorzunehmender) Angaben zu den verlorenen Gegenständen hin- oder den Antrag insoweit abzuweisen, den lückenhaften Vortrag zur Schätzungsgrundlage mit online ermittelten Angeboten zu „vergleichbaren“ Gegenständen selbst vervollständigte. Denn im Gegensatz zu der dritten vom Gericht gebildeten Fallgruppe hielt es diese Gegenstände offenbar gerade nicht für „[…] hinreichend genau beschrieben, um den behaupteten Wert durch einen Sachverständigen überprüfen zu lassen.“ Nur hinsichtlich der dritten Fallgruppe war „[…] bereits der bisherige Vortrag des Ast. einer Beweisaufnahme zugänglich.“113 Hinsichtlich der zweiten Fallgruppe ermöglichten erst die vom Gericht zusätzlich ermittelten Anknüpfungstatsachen eine Schadensschätzung.114 Welche „vergleichbaren“ Gegenstände dabei zur Grundlage der Schätzung wurden und mit welchem Preis, wurde einerseits (vermutlich unbewusst) von dem bei der Internetrecherche jeweils gewählten Schlagwort des Richters beeinflusst. Eine Suche nach verwandten Begriffen hätte durchaus andere Treffer erzielen können. Vor allem aber waren die Vergleichsangebote die Auswahl einer Suchmaschine. Das Ranking der Angebote wird nicht zuletzt davon abhängig gewesen sein, zu welcher Zeit, an welchem Ort und an welchem Rechner gesucht wurde und welche Suchanfragen an diesem vorher durchgeführt worden waren. Auch die unter I. 4.d) erläuterte Personalisierung von Preisen bei Online-Händlern kann sich ausgewirkt haben. Hinzu kommt bei gebrauchten Gegenständen, dass der Preis, für den diese insbesondere in Online-Auktionshäusern oder Gebrauchtwarenbörsen angeboten werden, nichts darüber aussagt, ob dieser auch erzielt werden kann. Die von dem Gericht ermittelten „Durchschnittspreise“ erscheinen vor diesem Hintergrund eher zufällig als „allgemeinkundig“.
c) Mangelnde Übertragbarkeit der Argumente für amtswegige Verwertung Die Kollision des gerichtlichen Vorgehens mit der Darlegungs- und Beweislast als Komponenten des Beibringungsgrundsatzes115 liegt im dargestellten Bei113
OLG Köln, Beschl. v. 25. 5. 2016 – 1 W 6/16, NJOZ 2016, 1410 (1413). der BGH verlangt, dass im Rahmen einer Schätzung selbst nicht vorgetragene Tatsachen nach freiem Ermessen berücksichtigt werden, zielt dies augenscheinlich primär auf Ermessensentscheidungen wie pauschale Abschläge etc. bei nicht weiter aufklärbaren Umständen und nicht auf eine eigenständige, informelle Ermittlung zusätzlicher Anknüpfungstatsachen ab, vgl. Urt. v. 24. 6. 2009 – VIII ZR 332/07, NJW‑RR 2009, 1404 (1406) m. w. N.; eine über den Parteivortrag hinausgehende Aufklärung kommt vor einer (hier in Anbetracht der dritten Fallgruppe ohnehin nicht in Rede stehenden) vollständigen Abweisung der Klage allenfalls im Wege eines Sachverständigengutachtens in Betracht – z. B. in Form einer von Parteivortrag und vorgelegten Unterlagen ausgehenden und mit entsprechender Sachkunde und Methode durchgeführten Marktwertermittlung, wie sie das Oberlandesgericht hier offenbar für die dritte Fallgruppe vorsah, vgl. dazu BGH, Urt. v. 14. 7. 2010 – VIII ZR 45/09, NJW 2010, 3434 (3436) m. w. N.; zur Beschränkung auf die Beweismittel des Strengbeweises siehe Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 13 Rn. 2. 115 Siehe dazu § 2 I. 2. 114 Soweit
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spiel auf der Hand. Nach dem gängigen Verständnis des § 291 ZPO ist diese jedoch gerechtfertigt, weil die ermittelten Vergleichsangebote „allgemeinkundig“ sind und allgemeinkundige Tatsachen nach herrschender Meinung auch ohne Parteivortrag verwertet werden dürfen.116 Dabei wird übersehen, dass die zentralen Argumente für eine amtswegige Verwertung allgemeinkundiger Tatsachen in Fällen wie dem dargestellten (und damit typischen Resultaten richterlicher Internetrecherchen) nicht greifen. Die mangelnde Unterscheidung zwischen Verwertung und Recherche wurde bereits in § 6 I. 2. kritisiert. Dies wird im Folgenden vertieft.
aa) Kein Gewissenskonflikt des Gerichts Wie bereits im Rahmen der (fehlenden) Unterscheidung zwischen Verwertung und Recherche dargestellt, ist das zentrale Argument für eine Verwertung allgemeinkundiger Tatsachen ohne Parteivortrag der Gewissenskonflikt des Gerichts bei einer Nichtberücksichtigung vorhandenen allgemeinkundigen Wissens. Das Gericht soll nicht gezwungen sein, sehenden Auges falsche Entscheidungen zu treffen, wenn es die Wahrheit kennt. Ein solcher Gewissenskonflikt scheidet jedoch von vornherein aus, wenn das Gericht die fragliche Tatsache nicht kennt, sondern wie im Beispielsfall erst recherchiert. Eine Internetrecherche zu Online-Angeboten oder dergleichen zu unterlassen, begründet keinen Gewissenskonflikt. Das Argument kann eine amtswegige Recherche folglich nicht rechtfertigen.
bb) Verhinderung des „tenorierten Widersinns“? Soweit eine amtswegige Verwertung nicht mit dem Gewissenskonflikt des Richters bei Kenntnis der allgemeinkundigen Tatsache, sondern mit der Allgemeinkundigkeit der Tatsache selbst begründet wird, lässt sich die Selbstverständlichkeit, mit der eine Dispositionsmöglichkeit der Parteien über diese Tatsachen ausscheiden „muss“117 – wobei die Begründung häufig bei dem Begriff der Allgemeinkundigkeit endet –, nur dann verstehen, wenn man sich darunter Tatsachen vorstellt, die tatsächlich mehr oder weniger jeder weiß und man schlicht nicht „ohne Schikane leugnen kann“ im Sinne des Allgemeinkundigkeitsverständnisses im kanonischen Recht.118 In diesem Sinne schrieb Bernhardt 1949 als einer der Vorkämpfer der heute herrschenden Ansicht, es führe zu „abstrusen Ergebnissen“, wenn ein Richter ignoriere, dass Deutschland im Jahr 1945 kapituliert hat. Ebenso mache er sich lächerlich, wenn er die Vollendung eines jedermann bekannten Bauwerks als nicht geschehen oder 116 Siehe dazu § 4 IV. 2. 117 MüKo-ZPO/Prütting,
5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 13; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 6. 118 Siehe dazu § 3 II.1.
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umgekehrt den Besuch des Mondes als geschehen behandle.119 Letzteres Beispiel muss freilich heute gerade umgekehrt gelten. Es belegt aber anschaulich, dass es gerade die Vorstellung allgemeinkundiger Tatsachen als – zumindest erwartungsgemäß auch dem Gericht bekannte – „Allerweltsweisheit[en]“120 war, mit der eine amtswegige Verwertung begründet wurde, da ihre Nichtberücksichtigung in den „tenorierten Widersinn“121 führen würde. Hahn sah in diesem Sinne die „eigentliche Bedeutung der Offenkundigkeit“ darin, dass Offenkundiges „dem Gericht aktuell oder latent präsent“ sei.122 Dass auch Tatsachen der Parteidisposition entzogen sein „müssen“, weil sie – wie die Online-Angebote im Beispielsfall – im Internet ermittelbar sind, ist demgegenüber keineswegs selbstverständlich. Anders als bei der Kapitulation Deutschlands würde das Außerachtlassen solcher Einzelheiten keineswegs in den „tenorierten Widersinn“ führen, sondern vermutlich niemandem auffallen – weil die Kenntnis von Preisen für gebrauchte Rangierwagenheber etc. den Menschen gerade nicht „aktuell oder latent präsent“ ist. Ob Wach es angesichts der vor hundert Jahren außerhalb jeder Vorstellungskraft liegenden, täglich wachsenden und sich wandelnden Informationsfülle in der Wikipedia und anderen Online-Quellen auch heute noch für „undenkbar“ halten würde, dass ein Richter ignoriere, was er „jedem Konversationslexikon entnehmen kann“,123 kann durchaus bezweifelt werden. Mit dem „tenorierten Widersinn“ ließe sich die Zulässigkeit einer amtswegigen Recherche – insoweit allerdings tatsächlich im Gleichlauf mit der amtswegigen Verwertung vorhandenen Wissens – also nur begründen, soweit es sich um echte „Allerweltsweisheiten“ handelt. In diesem Sinne will neuerdings Greger wegen der durch das Internet bewirkten Erweiterung allgemeinkundigen Wissens die amtswegige Verwertung auf allgemein bekannte Tatsachen der ersten Kategorie beschränken, hinsichtlich dieser aber zugleich eine vergewissernde „Nachschau“ im Internet erlauben.124 Für unzulässig hält er hingegen die amtswegige Recherche und Verwertung lediglich ermittelbarer Tatsachen der zweiten Kategorie. Dies entspreche der Unterscheidung zwischen unnötigem Beweis von Allgemeinwissen und der vereinfachten Beweisführung mittels allgemein zugänglicher Informationsquellen.125 Ob eine solche – im Ansatz überzeugende, von Greger aber nicht weiter ausgeführte – Differenzierung zwischen „Nachschau“ und anderer Recherche im Internet praktikabel ist, bedarf jedoch einer genaueren Prüfung. 119 Bernhardt, in: FS Rosenberg, 9 (22 f.); ebenso bereits 1912 Hellwig, System des deutschen Zivilprozeßrechts, S. 415. 120 Bernhardt, in: FS Rosenberg, 9 (23). 121 Brüggemann, Judex statutor und judex investigator, S. 342 f. 122 Hahn, Kooperationsmaxime im Zivilprozess?, S. 235. 123 Wach, Vorträge über die Reichs-Civilprocessordnung, S. 209. 124 Siehe dazu bereits § 4 IV. 2.b)bb). 125 Greger, in: FS Stürner, 289 (294); Zöller/ders., ZPO, 32. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1b.
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d) Internetrecherchen „im Rahmen des Parteivortrags“? Gregers Differenzierung zwischen einer zulässigen „Nachschau“ von Bekanntem und einer unzulässigen Recherche von Ermittelbarem setzt zunächst die Unterscheidung zwischen Vorgetragenem und Nichtvorgetragenem voraus: Internetrecherchen „im Rahmen des Parteivortrags“ sind (auch) für ihn von vornherein unproblematisch, sofern den Parteien die Ergebnisse mitgeteilt werden – denn dass die Beweiserhebung über streitigen Parteivortrag „dank des Rückgriffs auf das Internet“ entfallen kann, folgt ja nach dem herrschenden Verständnis unmittelbar aus dem Allgemeinkundigkeitsbegriff.126 Eine Unterscheidung zwischen Vorgetragenem und Nichtvorgetragenem impliziert jedoch, dass der recherchierende Richter sich beim Googeln ohne Weiteres in den Bahnen des Parteivortrags bewegen könnte, wenn und soweit er es muss. Tatsächlich erscheint dies vor dem Hintergrund der dargestellten Typizitäten einer Internetrecherche schwer praktikabel. Welche Ergebnisse der Recherchierende angezeigt bekommt, ist von ihm selbst kaum beeinflussbar. Auch wenn sich die Suchbegriffe „im Rahmen des Parteivortrags“ halten: Die Ergebnisse werden es nicht. Stattdessen wird der Richter bei Recherchen zu vorgetragenen Tatsachen zwangsläufig Zufallsfunde nicht vorgetragener Tatsachen machen, da sowohl die Trefferseite als auch die Inhalte der zur Prüfung des Vorgetragenen aufgerufenen Internetseiten regelmäßig über das Vorgetragene hinausgehen werden. Innovative Tools der Suchmaschinen wie die „Serendipity Box“ des Google Knowledge Graph haben ja sogar das Ziel, dem Nutzer ungeplante Zufallsfunde zu präsentieren.127 Denn die Entdeckung ungeplanter Erkenntnisse ist im Alltag und auch in der Wissenschaft durchaus gewollt, da sie eine Alltags- oder Forschungsfrage in eine neue Richtung lenken und Perspektiven erweitern kann.128 Dem Zivilprozess ist diese Art von zufallsgesteuerter Perspektivenerweiterung des Richters hingegen mit gutem Grund fremd. Dennoch lassen sich die wahrgenommenen Ergebnisse, wie es in anderem Kontext Brüggemann treffend formuliert hat, „nicht mehr durch das Sieb der Verhandlungsmaxime wegfiltern.“129 Da Zufallsfunde also praktisch nicht zu verhindern sind, wird man als naheliegende praxistaugliche „Lösung“ ein weites Verständnis des Vorgetragenseins in Erwägung ziehen, bei dem die Zufallsfunde als „notwendigerweise verbundene Tatsachen“ stets mit vorgetragen sind.130 Jedenfalls ist – entsprechend dem 126 127
Greger, in: FS Stürner, 289 (293); siehe dazu bereits § 4 III.4. und § 6 I. 1. Siehe dazu § 7 III.6. 128 Quan-Haase/McCay-Peet, in: Googleisierung der Informationssuche, 136 (138). 129 Brüggemann, Judex statutor und judex investigator, S. 369; vgl. auch Coester-Waltjen, in: FS Areios Pagos, 28 (29), die auf die Schwierigkeiten des Richters hinweist, Wahrgenommenes wieder zu „vergessen“. 130 Nach Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl. 2017, Einl. Rn. 37 erstreckt sich der Parteivortrag auf alles, „was mit logischer Zwangsläufigkeit auf Grund der Lebenserfahrung aus ihrer
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Umgang mit Zeugenaussagen, die über den Parteivortrag hinausgehen131 – davon auszugehen, dass die Partei, für die der Zufallsfund günstig ist, sich diesen zu eigen machen wird.132 Eine effektive ex ante-Begrenzung richterlicher Internetrecherchen auf tatsächlich Vorgetragenes erscheint folglich nicht möglich.
e) „Nachschau des Bekannten“ ohne Parteivortrag? Das Problem der Zufallsfunde stellt sich ebenso, wenn der Richter seine Recherche zu Vorgetragenem im Sinne Gregers auf nicht vorgetragenes „Bekanntes“ erweitern darf oder von vornherein nur letzteres „nachschaut“. Auch in diesen Fällen werden ihm darüber hinausgehende Ergebnisse präsentiert werden, vor denen er kaum die Augen verschließen kann. Dem entspricht, dass „einfache“ Suchen, bei denen der Nutzer – wie typischerweise bei „Bekanntem“ – ein schnelles, klares Ergebnis erwartet, in der Informationswissenschaft nur „idealtypisch“ von schwierigeren Suchen unterschieden werden, während bei „realen Suchvorgängen“ beide fließend ineinander übergingen.133 Hier deutet sich aber zugleich ein Rechtssicherheitsproblem an: Denn selbst wenn man unterstellt, der recherchierende Richter könnte die nicht „bekannten“ Zufallsfunde ausblenden: Wo hört das Bekannte auf und fängt das lediglich Ermittelbare an? Mit dem bereits angesprochenen Bedeutungsverlust des Allgemeinwissens und dem Ersatz von „Wissen“ durch „Googeln“ zeichnet sich ab, dass das „Bekannte“ im Netz zukünftig nur noch einen unspezifischen Teil des Ermittelbaren darstellen wird. Da ihm kaum noch ein „intrinsischer Wert“134 zukommt, wird es immer schwieriger vom restlichen Ermittelbaren abzugrenzen sein. Eine rechtssichere Unterscheidung, wann der Richter sich lediglich allgemein bekannter Informationen im Internet „vergewissert“135 und wann er stattdessen unzulässigerweise darüber hinausgehende Informationen recherchiert, erscheint kaum möglich. Der von Greger mit gutem Grund angesprochene Befangenheitsvorwurf136 droht also praktisch immer. Greger selbst hält diesen ausdrücklich für berechtigt, wenn der Richter sich ohne Bezug zum Parteivorbringen einen Eindruck z. B. von „einer Örtlichkeit, den Produkten oder dem Renommee eines Unternehmens“ oder „der Berichterstattung über ein bestimmtes Ereignis“ verschafft hat137 – obwohl sich unter diese Sachdarstellung folgt.“ Zur zulässigen Schlussfolgerung aus anlässlich der Beweisaufnahme zutage getretenen, nicht vorgetragenen Indizien siehe Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 18 Rn. 35 m. w. N. 131 Dazu ausführlich Gomille, Informationsproblem und Wahrheitspflicht, S. 380 ff. 132 Vgl. BGH, Urt. v. 19. 1. 1990 – V ZR 241/88, NJW‑RR 1990, 507 (507); MüKo-ZPO/ Rauscher, 5. Aufl. 2016, Einl. Rn. 332; Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl. 2017, Einl. Rn. 37. 133 Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (49). 134 Hobohm, in: Grundlagen der praktischen Information, 109 (109). 135 Greger, in: FS Stürner, 289 (294). 136 Greger, in: FS Stürner, 289 (294). 137 Greger, in: FS Stürner, 289 (297).
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Beispiele gewiss auch viele allgemein bekannte und nicht lediglich ermittelbare Tatsachen subsumieren lassen. Letztlich erscheint ein schon immer schwer und möglicherweise angesichts des Bedeutungsverlusts von klassischem Allgemeinwissen immer schwerer zu bestimmender Begriff wie derjenige der Allgemeinkundigkeit von vornherein ungeeignet, ex ante Grenzen für richterliche Recherchen zu ziehen.138 Sein ursprünglicher Zweck war es auch nur, bereits vorhandenes Wissen in unbedenkliches Allgemeinwissen einerseits und unverwertbares Zeugenwissen andererseits zu sortieren. Diese vom vorhandenen Wissen ausgehende Unterscheidung ist wesentlich einfacher zu treffen. Sein vorprozessual und anlasslos erworbenes eigenes Wissen daraufhin zu prüfen, ob er es „mit der Allgemeinheit teilt“ oder nicht, kann auch weiterhin getrost dem „praktische[n] Takt des Richters“139 überlassen bleiben. Die Grenzen ziehen sich hier normalerweise mit der Zeit von selbst, indem nur die allgemeinkundigen „allgemeinen Umrisse“ mit einer hinreichenden Gewissheit in Erinnerung bleiben. Auch der Umstand, dass man sich nicht mehr daran erinnert, warum bzw. woher man eine Tatsache weiß, ist, wie dargestellt,140 ein klassisches Indiz für allgemein verbreitetes Wissen: In der Regel wird man sich bei diesem nur daran erinnern, es irgendwie – vielleicht sogar mehrfach durch Fernsehen, (Online-)Zeitungslektüre und Erzählungen von Freunden (oder auch deren Mitteilungen in sozialen Netzwerken) – mitbekommen zu haben, wohingegen man sich bei individuell erlebten Tatsachen wie einem Unfallhergang gerade auch an den Moment der Kenntnisnahme erinnert.
f) Kein Anlass zur Recherche Ein Risiko, dass anstelle des Tatsachenvortrags der Parteien mehr und mehr „allgemeinkundige“ Internetinhalte den zu entscheidenden Sachverhalt prägen, besteht folglich bei jeder Internetrecherche – unabhängig davon, ob diese sich (zunächst und vermeintlich) „innerhalb des Parteivortrags“ und/oder „im Rahmen des Bekannten“ bewegt. Da Zufallsfunde und das ungeplante Ausufern von Internetrecherchen deren inhärente Risiken sind, bewegt sich jede Ausnahme auf rechtlich unsicherem Boden und ist daher abzulehnen. Die Konsequenz, dass der Richter selbst echte „Allerweltsweisheiten“ nicht „nachschauen“ dürfen soll, mag auf den ersten Blick Unverständnis auslösen. Dem sei Folgendes entgegengehalten: Zum einen wurde in § 6 gezeigt, dass sich dies ganz unabhängig vom Internet bereits aus Wortlaut, Systematik und Telos 138 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 3 hat bereits im Jahr 1893 festgestellt, dass es sich bei der Offenkundigkeit um einen Begriff handle, „über dessen Schwierigkeit und Unklarheit heut ebenso geklagt wird wie vor 500 Jahren.“ 139 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 148. 140 Siehe insb. § 4 II.4.b).
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des § 291 ZPO ergibt, der ausdrücklich nur „bei dem Gericht“ vorhandenes Wissen vom Beweis befreit. Es ist also von vornherein nur die Frage rechtfertigungsbedürftig, warum der Richter recherchieren dürfen sollte und nicht diejenige, warum er es nicht darf.141 Zum anderen muss man sich vergegenwärtigen, dass echte „Allerweltsweisheiten“ (wie in Deutschland das Datum des Mauerfalls o.ä.) dem Richter meist ohnehin bekannt sein werden. Vor allem aber werden sie in aller Regel entweder (bei fehlendem Parteivortrag) irrelevant oder (bei vorhandenem Parteivortrag) unstreitig sein. Je unproblematischer das Beispiel einer Recherche gewählt wird, desto unwahrscheinlicher ist es, dass die Parteien darüber streiten. Dann kann die Tatsache aber schlicht nach § 138 Abs. 3 ZPO als unstreitig zugrunde gelegt werden und die Frage ihrer Allgemeinkundigkeit dahinstehen. Für Recherchen des Gerichts besteht von vornherein kein Anlass. Das entspricht der Vorgehensweise des Bundesgerichtshof, der es bei der Befassung mit dem „Thor Steinar“-Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg unadressiert ließ, ob eine vom Oberlandesgericht als allgemeinkundig zugrunde gelegte Presseberichterstattung zu rechtsradikalen Assoziationen mit der Marke „Thor Steinar“ schon vor dem relevanten Datum existierte, da die Waren der Marke „[…] unstreitig in der öffentlichen Meinung ausschließlich der rechtsradikalen Szene zugeordnet werden“142. Umgekehrt und insoweit konsistent hat er in einem anderen Fall vor der Befassung mit einer möglichen Allgemeinkundigkeit festgestellt, dass eine Tatsache nicht unstreitig ist.143 Auch in der Literatur wird die Frage nach einer möglichen Allgemeinkundigkeit (soweit auf das Verhältnis von (Un-)Streitigkeit und Allgemeinkundigkeit eingegangen wird) erst nach der Frage der Streitigkeit gestellt.144 Für Stein hingegen ging die Frage der Allgemeinkundigkeit derjenigen des Bestrittenwerdens vor, „weil es ganz unzweifelhaft ist, dass immer erst die Erheblichkeit der Thatsache und nur eventuell ihre Bestrittenheit und ihr Beweis in Betracht kommt“145. Spiegelberg hat diesem Argument jedoch überzeugend 141 Vgl. die Kritik von Peters, ZZP 1988, 296 (297) zum nicht gesetzlich verankerten Freibeweisverfahren (vor und unabhängig von dessen teilweiser Kodifizierung in § 284 S. 2 ZPO): „Es sind doch die Vertreter des Freibeweises, die sich von der gesetzlichen Regelung entfernen und hierfür eine durchschlagende Begründung bieten müßten.“ Ebenso in jüngerer Zeit Reißmann, JR 2013, 182 (185). 142 BGH, Urt. v. 11. 8. 2010 – XII ZR 192/08, NJW 2010, 3362 (3362) (Hervorhebung durch Verf.). 143 BGH, Urt. v. 29. 3. 1990 – I ZR 74/88, NJW‑RR 1990, 1376 (1376). 144 Adolphsen, Zivilprozessrecht, § 22 Rn. 2; sinngemäß auch Zimmermann, ZPO, 10. Aufl. 2015, § 291 Rn. 2. 145 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 167 ff.; dessen Ansicht fortführend wohl auch Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 15 f., allerdings nur insoweit, als allgemeinkundige Tatsachen nicht wirksam bestritten werden könnten oder das Gegenteil zugestanden werden könne. Daraus folgt nicht zwingend, dass auch bei gleichlaufender Unstreitigkeit und Allgemeinkundigkeit letztere vorrangig wäre wie bei Stein. Dieser wollte eine
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entgegnet, dass der Vergleich mit der Erheblichkeit einer Tatsache unpassend ist, weil die Erheblichkeit anders als die Allgemeinkundigkeit eine materielle Rechtsfrage betrifft:146 Ob der Tatsachenvortrag einer Partei erheblich ist, ist keine prozessuale Frage, sondern dient der Bejahung oder Verneinung des – von der anderen Partei schlüssig vorgetragenen – materiellrechtlichen Tatbestands. Im Falle einer unerheblichen Tatsache ist nicht ihr Beweis irrelevant, sondern die Tatsache selbst.147 Entsprechend wird in der etablierten relationsmäßigen Vorgehensweise bei der richterlichen Sachverhaltsaufbereitung zunächst in der sogenannten Beklagtenstation festgestellt, über welche materiell erheblichen Tatsachen die Parteien streiten, bevor in der Beweisstation geklärt wird, in welchen Fällen ein Beweis aus prozessualen Gründen wie Allgemeinkundigkeit entfallen kann.148 Vorrangig kann die Allgemeinkundigkeit aus den in § 6 I. 2. dargestellten Gründen nur im hier nicht zu vertiefenden Sonderfall eines unwahren Geständnisses sein, wenn das Gericht das allgemeinkundige Gegenteil einer unstreitigen Tatsache positiv kennt.149 Dazu, mittels eigener informeller Recherchen die Wahrheit oder Unwahrheit des unstreitigen Vortrags zu erforschen, hat das Gericht im Zivilprozess aber auch in diesen Fällen keinen Anlass.
2. Recht auf Strengbeweis: Parteiöffentlichkeit a) Mangelnde Rekonstruierbarkeit der Internetrecherche Es wurde dargestellt, dass jede Internetrecherche höchst individuell verläuft. Von den individuellen Fähigkeiten und Kenntnissen des Recherchierenden und allgemeinkundige Tatsache – in seinem Beispiel das Datum des letzten Jahrmarkts, nach dem eine im Gericht anwesende Person befragt wurde – (auch) „sofern Niemand diese Angabe bestreitet, […] als bei dem Gericht offenkundig im Urtheil fest[stellen]“ (a. a. O., S. 170). Zum Sonderfall des offenkundig unwahren Geständnisses noch sogleich. 146 Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 103 ff. 147 Spiegelberg, Über das gegenseitige Verhältniss zwischen dem gerichtlichen Geständniss und der Offenkundigkeit bei dem Gericht, S. 103 ff. 148 Vgl. z. B. die Darstellung bei MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 284 Rn. 12 f.; Grunsky/ Jacoby, Zivilprozessrecht, Rn. 532 ff.; Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 3 Rn. 9 f. 149 Bei Offenkundigkeit des Gegenteils wird ganz weitgehend die Wirkungslosigkeit des Geständnisses angenommen, BGH, Urt. v. 29. 6. 1979 – III ZR 156/77, NJW 1979, 2089 (2089); MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 288 Rn. 36; BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 288 Rn. 15; Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 288 Rn. 10; HkZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 288 Rn. 21; Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 3 Rn. 17; Orfanides, NJW 1990, 3174 (3178) m. w. N. (auch zu Gegenstimmen aus der älteren Literatur). Aufgrund der hier kritisierten Kategorie des Ermittelbaren gilt dies nach der h. M. allerdings nicht nur für Fälle positiver Kenntnis des Gerichts: So ergab sich im zitierten BGH‑Urteil die „Offenkundigkeit“ des Gegenteils erst aus Monatsberichten der Deutschen Bundesbank.
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§ 7 Art der Kenntniserlangung als Risiko richterlicher Internetrecherchen
seiner subjektiven Auswahl der Suchbegriffe über den hochkomplexen und von verschiedensten, ständig veränderlichen Faktoren beeinflussten Algorithmus der Suchmaschine und deren personalisierte Aufbereitung der Treffer bis hin zum selektiven Anklicken einzelner Ergebnisse: Keine Internetrecherche wird je ein zweites Mal identisch ablaufen. In der Informationswissenschaft werden aufgrund der zunehmenden Personalisierung von Internetrecherchen bereits „schwerwiegende methodische Auswirkungen auf den wissenschaftlichen Zugang zu Suchmaschinen“ gesehen: Da der individuelle Teil einer Recherche keinen empirischen Untersuchungen offenstehe, sei die Repräsentativität von Forschungsergebnissen nicht mehr gewährleistet.150 Auch für den Zivilprozess hat die Individualität einer Internetrecherche gravierende Konsequenzen: Denn die allgemeine Zugänglichkeit der letztlich aufgerufenen Seiten ändert nichts daran, dass die konkret gefundenen „allgemeinkundigen“ Tatsachen immer das Ergebnis individueller Recherche sind. Wegen der automatischen Personalisierung der Ergebnisse und den an mehreren Stellen der Recherche hinzutretenden subjektiven Entscheidungen des recherchierenden Richters ist die spezifische Art seiner Kenntniserlangung nicht rekonstruierbar und nicht wiederholbar. Gerade deshalb ist es für die Parteien umso wichtiger, im Moment der Kenntniserlangung anwesend zu sein und auf die Überzeugungsbildung des Gerichts Einfluss nehmen zu können. Dieses Interesse schützt das Recht auf (Streng-)Beweis.151 Im „vereinfachten Beweisverfahren“ wird den Parteien dieses Recht genommen, obwohl der typische Verlauf einer Internetrecherche ihre Anwesenheit und Einflussnahme gebietet.
b) Beispielsfall: Recherche zu einer Telefonnummer Als Beispielsfall eignet sich insbesondere der Fall des Arbeitsgerichts Siegen zur Ermittlung einer Telefonnummer: Für die Wirksamkeit einer Kündigung kam es darauf an, ob ein Anruf des krankgeschriebenen Arbeitnehmers von einem polnischen Festnetz – also aus Polen – oder von einem Handy mit polnischer SIM‑Karte – also möglicherweise aus Deutschland – geführt worden war. Der mit der Sache befasste Richter stellte mittels einer „Internetrecherche im Wikipedia-Lexikon fest[…], dass es sich bei der hier strittigen Telefonnummer um eine Festnetznummer handelt.“152 150 Jürgens/Stark/Magin, in: Googleisierung der Informationssuche, 98 (111). Auf die eingeschränkte Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Internetrecherchen aufgrund ihrer Personalisierung weist auch Mehling, in: Propädeutik zur Kommunikationswissenschaft, 125 (132) hin. 151 Siehe dazu bereits ausführlich § 2 II. 152 ArbG Siegen, Beschl. v. 3. 3. 2006 – 3 Ca 1722/05, MMR 2006, 836 (837); siehe auch bereits die Darstellung in § 4 III.2.
IV. Risiken für die Verfahrensgrundsätze
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Wie eine derartige Recherche „im Wikipedia-Lexikon“ vonstattengehen soll, wird aus dem Beschluss nicht ersichtlich. Die Eingabe einer beliebigen Telefonnummer (oder angenommenen Vorwahl) in das Suchfeld der Wikipedia führt in der Regel ebenso wenig zu brauchbaren Ergebnissen wie die Suche nach einer Übersicht polnischer Vorwahlen.153 Naheliegend ist vielmehr, dass die Internetrecherche auch hier mittels Suchmaschine durchgeführt wurde. Hierfür stehen wiederum je nach Kenntnissen und Erwartungen des Recherchierenden unterschiedlichste Vorgehensweisen zur Verfügung. Der Beschluss erwähnt an späterer Stelle die sogenannte Inverssuche, bei der eine vollständige Telefonnummer eingegeben und von der Suchmaschine mit mehr oder weniger übereinstimmenden Einträgen aus Telefonverzeichnissen abgeglichen wird. Ob das Gericht auf diesem Weg (oder gar allein mit Hilfe von Wikipedia) tatsächlich herausfinden konnte, dass es sich bei der konkreten Nummer um eine Festnetznummer handelt, kann nicht beurteilt werden, da der Verlauf der Recherche in dem Beschluss nicht beschrieben wird. Der im Beschluss zitierte Hinweis des Richters, dass „[…] nach einer Internetrecherche die Telefonvorwahl +4852 der Stadt I. in der polnischen Provinz J. zugeordnet ist“, lässt jedoch vermuten, dass die Recherche keine Ergebnisse zu der konkreten Nummer erbracht hat, sondern lediglich ihre ersten Ziffern als Festnetzvorwahl eines bestimmten Ortes in Polen identifiziert wurden. Insoweit führte allerdings eine testweise vorgenommene eigene Google-Suche der Verfasserin (sowohl zu der benannten Ziffernfolge als auch zu „Ortsvorwahlen Polen“) im Januar 2017 weder zu Wikipedia noch auf andere Weise zu einer „Stadt I in der polnischen Provinz J“. Stattdessen wurde die Vorwahl auf den beiden höchstgerankten Treffern einmal der Stadt Bydgoszcz154 und einmal mehreren verschiedenen polnischen Städten zugeordnet,155 darunter allerdings nicht eindeutig auch Bydgoszcz und keine Stadt oder „Provinz“ mit Anfangsbuchstaben I oder J. Nach der Stellungnahme des Klägers soll die Ortsvorwahl wiederum einer „Stadt K.“ zugewiesen sein.156 Mit all dem ist freilich nichts darüber gesagt, ob auch polnische Handynummern mit derselben Vorwahl beginnen können.
153
2017.
So jedenfalls das Ergebnis eigener Stichproben der Verf. im Oktober 2016 und Januar
154 https://www.justlanded.de/deutsch/Polen/Landesfuehrer/Telefon-Internet/Anrufe-inPolen, aufgerufen am 25. 1. 2017 und zuletzt am 5. 4. 2018. Wikipedia-Einträge befanden sich auf den ersten Ergebnisseiten nicht. Nachträglich ließ sich allerdings ein Wikipedia-Eintrag finden, der die Vorwahl bestätigt: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Bydgoszcz&ol did=161740511, permanent verfügbare Version vom 17. 1. 2017, 22:43 Uhr, aufgerufen am 25. 1. 2017 und zuletzt am 5. 4. 2018. 155 http://www.vorwahl.me/polen/, aufgerufen am 25. 1. 2017 und zuletzt am 5. 4. 2018. 156 Vgl. die insoweit geringfügig erweiterte Wiedergabe des Beschlusses (irrtümlich als Urteil bezeichnet) in JurPC Web-Dok. 65/2006, Abs. 14 (http://www.jurpc.de/jurpc/ show?id=20060065, zuletzt aufgerufen am 5. 4. 2018).
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§ 7 Art der Kenntniserlangung als Risiko richterlicher Internetrecherchen
Da der Umstand, dass es sich bei der Ziffernfolge „52“ in der Telefonnummer um eine Ortsnetzkennzahl handeln könnte, bis zum Hinweis des Richters nicht Gegenstand des Verfahrens gewesen war, begegnet die amtswegige Recherche und Einführung ihrer Ergebnisse den bereits unter 1. dargestellten Bedenken.157 Die Abweichung vom Beibringungsgrundsatz lässt sich auch hier nicht mit Gewissensnöten des (unwissenden) Richters oder vermeintlichen „Allerweltsweisheiten“ rechtfertigen. Unabhängig davon zeigt dieser Beispielsfall aber auch und vor allem, wie wichtig die Überprüfung einer Tatsachenfeststellung via Internet durch die Parteien im Moment der Recherche ist: Denn welche Informationen das Gericht zum Zeitpunkt der Recherche angeboten bekommt und aufnimmt (und welche nicht!), ist nicht rekonstruierbar. Wonach genau das Gericht gesucht hat, ob es die richtige Nummer eingegeben hat, wo es diese eingegeben hat, welche Treffer die Suche gebracht hat, welche davon das Gericht angeklickt hat und ob diese wirklich nur die daraus gezogenen Schlüsse zulassen, kann von den Parteien nur bei der Recherche selbst kontrolliert und ggf. korrigiert werden. Vor diesem Hintergrund greift es zu kurz, wenn das Gericht sich zur Verteidigung des richterlichen Vorgehens auf die überlieferte Ansicht zurückzieht, dass der Vorwurf einer „Ermittlung auf eigene Faust“ bei der Feststellung von allgemeinkundigen Tatsachen wie einer Telefonnummer wegen ihrer „Natur“ ausscheide.158 Sofern eine spezifische „Natur“ allgemeinkundiger Tatsachen nicht ohnehin in Frage steht, wenn das einzig „Allgemeine“ daran die theoretisch allgemeine Ermittelbarkeit ist, ist es jedenfalls – wie bereits erläutert159 – zirkelschlüssig, die Zulässigkeit einer Recherche mit einer „Natur“ zu begründen, die sich gerade erst aus der Recherchierbarkeit ergibt. Und soweit eine „Nachprüfbarkeit“ als Legitimationsbasis überhaupt in Betracht kommt, zeigt sich hier, dass die allgemeine Zugänglichkeit einzelner Quellen allenfalls – und dies auch nur bei einer hier nicht gegebenen nachvollziehbaren Zitierung und mit erheblichen Einschränkungen durch die Dynamik von Internetseiten160 – einzelne Ergebnisse nachprüfbar macht, nicht aber die im Internet so spezifische, individuelle Art der Kenntniserlangung. Gerade diese Individualität der Kenntniserlangung bedeutet aber genau das Gegenteil der Annahme des Arbeitsgerichts, dass die Recherche keine persönliche Inaugenscheinnahme und Überzeugungsbildung des Richters erfordere.161
157 Auch Greger, in: FS Stürner, 289 (294) äußert im Hinblick auf den Beibringungsgrundsatz Zweifel an dem gerichtlichen Vorgehen. 158 ArbG Siegen, Beschl. v. 3. 3. 2006 – 3 Ca 1722/05, MMR 2006, 836 (837). 159 Siehe § 5 III.4. 160 Siehe dazu § 5 III.2.a)bb). 161 ArbG Siegen, Beschl. v. 3. 3. 2006 – 3 Ca 1722/05, MMR 2006, 836 (837).
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c) Parallelen zwischen Internetrecherche und Zeugenbefragung In der Individualität ihres Verlaufs und der damit einhergehenden fehlenden Rekonstruierbarkeit und Wiederholbarkeit ähnelt die Internetrecherche einem klassischen Beweismittel: der Zeugenbefragung. Denn auch die Aussagesituation des Zeugen ist nicht wiederholbar. Gerade deshalb ist dort die Parteiöffentlichkeit (§ 357 ZPO) von größter Bedeutung und den Parteien neben dem Teilnahme- auch ein eigenes Fragerecht eingeräumt (insbesondere § 397 ZPO).162 Entsprechend wird kaum ein Richter auf die Idee kommen, einen Zeugen privat zu befragen und die Parteien darauf zu verweisen, sie könnten ja ihrerseits dasselbe tun. Auch weitere typische Schwierigkeiten bei der Internetrecherche sind in ähnlicher Weise aus Zeugenvernehmungen bekannt: Zunächst ist nicht auszuschließen, dass in den Fragen des Richters sein eigenes Vorverständnis zum Ausdruck kommt und den Zeugen beeinflusst.163 Darüber hinaus muss der Richter, um im Verlauf der Vernehmung zu entscheiden, welche weiteren Fragen zu stellen sind, zwangsläufig die vorher gegebenen Antworten im Hinblick auf den zu entscheidenden Sachverhalt auswerten und damit in die Beweiswürdigung eintreten.164 Eine Beweisantizipation ist allerdings grundsätzlich unzulässig, weil sich wider Erwarten bei der Erhebung weiterer Beweise Fehler oder Lücken in der bisherigen Überzeugungsbildung herausstellen können.165 Da das deutsche Prozessrecht die Vernehmung trotz dieser Risiken und anders als andere Rechtsordnungen primär in die Hände des Gerichts legt,166 haben die Parteien ein umso größeres Interesse daran, bei der Befragung anwesend zu sein und die Entstehung der Aussage zu kontrollieren – unabhängig davon, ob sie von ihren nachrangigen eigenen Vorlage- und Fragerechten Gebrauch machen. Kaum anderes gilt für Internetrecherchen: Auch hier fließt das Vorverständnis des Richters in die Formulierung der Suchbegriffe ein. Anhand der ersten Treffer entscheidet er sodann, ob und mit welchen weiteren Suchanfragen er seine Recherche modifiziert. Der insoweit auch hier zwingenden Würdigung der gefundenen (Zwischen-)Ergebnisse ist das zusätzliche Risiko vorgeschaltet, 162 Die hohe Bedeutung der Parteiöffentlichkeit bei der Zeugenvernehmung betont auch Schilken, in: FS Kollhosser, 649 (656 f.). 163 Schellhammer, Zivilprozess, Rn. 618 formuliert: „Die Vorurteile des Richters färben nicht weniger auf die Aussage ab als die Vorurteile des Zeugen.“ 164 Brehm, Bindung des Richters an den Parteivortrag und Grenzen freier Verhandlungswürdigung, S. 37. 165 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 22. 1. 2001 – 1 BvR 2075/98, NJW‑RR 2001, 1006 (1007); BGH, Beschl. v. 29. 10. 2008 – IV ZR 272/06, NJW‑RR 2009, 244 (245); Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 286 Rn. 19; Schellhammer, Zivilprozess, Rn. 540; Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 3 Rn. 42, 45; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 294. 166 Zur Übertragung der Zeugenvernehmung auf die Parteien in anderen Rechtsordnungen Brehm, Bindung des Richters an den Parteivortrag und Grenzen freier Verhandlungswürdigung, S. 37.
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dass der Richter die zu würdigende „Antwort“ selbst aus mehreren Treffern auswählt und damit einen weiteren subjektiven Faktor einbringt. Es wurde dargestellt, dass die Auswahl der Treffer notwendigerweise selektiv und mit dem unbewussten Streben nach Kohärenz erfolgt.167 Das Interesse der Parteien, den Verlauf der Recherche zu begleiten, ist also mindestens ebenso groß wie bei einer Zeugenvernehmung. Aus diesem Grund steht ihnen auch bei der Internetrecherche ein Teilnahmerecht zu. Darüber hinaus muss mit dem für die Zeugenvernehmung ausdrücklich geregelten Fragerecht das Recht korrespondieren, eigene Suchbegriffe zur Recherche vorzuschlagen, um hilfreiche Ergebnisse zu erzielen. Hinweise der Parteien auf Treffer, die aus ihrer Sicht für die zu klärende Frage von Bedeutung sind, können neue und abweichende Ergebnisse liefern.
d) Keine Rechtfertigung des Beweisentfalls durch „richtiges“ Ergebnis Soweit über die Zulässigkeit richterlicher Internetrecherchen im „vereinfachten Beweisverfahren“ überhaupt diskutiert wird, liegt der Fokus in der Regel auf der Sicherung „richtiger“ Ergebnisse. Die Möglichkeit, sich von den betreffenden Tatsachen aus allgemein zugänglichen und zuverlässigen Quellen zu überzeugen, soll gewährleisten, dass „[…] kein vernünftiger Grund besteht, sie in Zweifel zu ziehen.“168 Ist eine „Richtigkeitsgewähr“169 gegeben, werden Internetrecherchen des Richters für unbedenklich gehalten. Das „richtige“ Ergebnis soll also das vereinfachte Beweisverfahren rechtfertigen. Das entspricht der bereits 1990 von Smid beobachteten „verbreiteten Identifikation von Rechtsprechung mit der Ermittlung ‚der Wahrheit‘“, aufgrund derer eine „Distanznahme des Richters von den Tatsachen“ – und, wie hinzuzufügen ist, eine Beteiligung der Parteien in derselben Nähe zum Beweismittel – nicht mehr als erörterungsbedürftig verstanden werde.170 Dass die allgemeine Zugänglichkeit und Zuverlässigkeit einer einzelnen Internetquelle kein objektiver Garant der Wahrheit und eine zweifelhafte Legitimationsbasis allgemeinkundiger Tatsachen ist, wurde bereits dargestellt.171 Unabhängig von der Bestimmung der Allgemeinkundigkeit könnte ein vereinfachtes Beweisverfahren nur dann durch sein „richtiges“ Ergebnis gerechtfertigt werden, wenn die Wahrheitsfindung (alleiniger) Zweck des Zivilprozesses wäre. 167
Siehe § 7 III.5.a).
168 Wieczorek/Schütze/Assmann,
ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 8; für Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 158 ist die Sicherung der „richtigen“ Entscheidung der zentrale Grund, warum er § 291 ZPO auch auf die Ermittlung von Erfahrungssätzen anwenden will. 169 Howe, DisputeResolution 2/2015, 19 (20). 170 Smid, Rechtsprechung, S. 271; zur distanzwahrenden Wirkung der Parteiöffentlichkeit noch § 7 IV. 3.f). 171 Siehe § 5 III.
IV. Risiken für die Verfahrensgrundsätze
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Dass dies nach ganz allgemeiner und überzeugender Ansicht nicht der Fall ist, wurde ebenfalls bereits erläutert:172 Der Zivilprozess dient in erster Linie der Durchsetzung der Rechte der Parteien, die für diese auf das staatliche Gewaltmonopol angewiesen sind. Die Wahrheitsfindung ist dabei selbstverständlich wesentlicher Bestandteil. Wenn die Parteien aber an der Wahrheitsfindung nur noch beteiligt werden, wenn das Gericht sie zur Sachverhaltsermittlung benötigt, weil es sich nicht alleine aus allgemein zugänglichen, zuverlässigen Quellen informieren kann, gerät aus dem Blick, dass die Wahrheitsfindung nicht um der Wahrheit selbst willen oder im Interesse des Gerichts erfolgt, sondern gerade zur Durchsetzung der Rechte der Parteien. Diese sind nicht bloße Zuarbeiter des Gerichts, wo sie zur Beschaffung von Beweismitteln gebraucht werden, sondern die zentralen Beteiligten des Verfahrens, deren materielle Rechte das Gericht zu verwirklichen und deren prozessuale Rechte es dabei zu wahren hat.
e) Ergänzende Legitimation durch Verfahren Allein aus dem (vermeintlich) richtigen Ergebnis einer Tatsachenfeststellung kann folglich nicht geschlossen werden, das Recht der Parteien auf Beweis sei nicht berührt.173 Aus der Perspektive der Parteien ist es – unabhängig davon, dass auch die Ergebnisse der „vereinfachten“ Beweisaufnahme ohne ihre Sachverhaltskenntnis häufig leiden dürften174 – ebenso wichtig, dass die Wahrheit unter Wahrung ihrer Rechte festgestellt worden ist. „Nicht erst die Entscheidung, schon die verfahrensförmige Wahrheitsfindung dient der Konfliktsbewältigung.“175 Das gilt umso mehr, je weniger die beteiligten Parteien die juristische Richtigkeit der Entscheidung beurteilen können.176 Gerade die Mitwirkung bei der Wahrheitsfindung ist Gegenstand des Rechts auf Beweis.177 Die „scheinbar ‚nur-formale[n]‘“ Regelungen des Beweisrechts können daher nicht im Dienste einer von diesen unabhängigen „Wahrheitsfindung“ abbedungen werden.178 172
Siehe § 6 III.2.b).
173 So aber Reißmann, JR 2013, 182 (184). 174 Vgl. Peters, ZZP 1988, 296 (298).
175 Brehm, Bindung des Richters an den Parteivortrag und Grenzen freier Verhandlungswürdigung, S. 191. Ursprünglich hielt Brehm das Verfahren der Wahrheitsfindung sogar für „mindestens“ ebenso wichtig wie das Ergebnis. So könne ein Urteil auch dann eine „große Ungerechtigkeit“ sein, wenn zwar der wahre Sachverhalt zugrunde gelegt, aber gegen die Rechte der Parteien verstoßen wird, indem z. B. einer Partei von vornherein kein Glauben geschenkt wird, weil sie vorbestraft ist, a. a. O., S. 27. In jüngerer Zeit hat er jedoch zugleich betont, dass die Einhaltung des Verfahrensrechts allein den Zivilprozess und sein Ergebnis ebenfalls nicht legitimiere, Stein/Jonas/Brehm, ZPO, 23. Aufl. 2014, vor § 1 Rn. 28; ähnlich auch Würthwein, Umfang und Grenzen des Parteieinflusses auf die Urteilsgrundlagen im Zivilprozess, S. 48 f. 176 Vgl. Stadler, ZZP 2015, 165 (186) im Hinblick auf Verbraucherstreitigkeiten. 177 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 35 f.; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 302, 343. 178 Smid, Rechtsprechung, S. 294.
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In jüngerer Zeit und im Hinblick auf die Entwicklung hin zu einer elektronischen Prozessführung hat namentlich Prütting darauf hingewiesen, dass bei allen zu erwartenden Veränderungen die „grundlegenden Strukturprinzipien des Zivilprozesses“ gewahrt bleiben müssen. Der Erwartung einer inhaltlich richtigen Gerichtsentscheidung im Sinne einer „materiellen Gerechtigkeit“ steht eine „prozedurale Gerechtigkeitserwartung“ gegenüber.179 Die „handelnde Verflechtung der Entscheidungsempfänger in die Entscheidungsverfahren“ ist es auch, die der Entscheidung unabhängig von ihrer Richtigkeit eine eigenständige Legitimation verleiht, aufgrund derer die (systemtheoretisch „in ein Rollenspiel verstrickten“) Beteiligten auch enttäuschende Entscheidungen hinnehmen.180 „Ein Gericht, das den Beteiligten nur noch einige fehlende Informationen abverlangt und dann nach eigener Einsicht [und, wie man heute hinzufügen mag: eigenen Internetrecherchen] ü berraschend entscheidet, nutzt die Chancen der Legitimation nicht, die ein Verfahren bietet.“181
Die von Luhmann beschriebene Legitimation durch Verfahren ist nicht dahin zu verstehen, dass sie an die Stelle von Richtigkeit, Wahrheit oder Gerechtigkeit träte oder gar selbst Richtigkeitsmaßstab wäre. Auf solcherlei Kritik hat Luhmann klargestellt, dass Entscheidungsinhalte, die nicht Gegenstand seiner funktionalen Analyse waren, „ihr eigenes Recht und ihre eigenen Begriffe“ haben, zu denen „Legitimität“ für ihn schlicht nicht gehört: Inhaltlich „richtige“ Entscheidungen sind richtig und nicht „legitim“.182 Damit ist nicht gesagt, dass Entscheidungen nicht stets zugleich richtig und legitim sein sollten.183 Selbst wenn das „ergoogelte“ Ergebnis also im Einzelfall „richtig“ ist, kann dies die Berücksichtigung der Rechte der Parteien nicht ersetzen.
f) Keine Gleichwertigkeit nachträglichen rechtlichen Gehörs An die Stelle der Parteiöffentlichkeit tritt in den von § 291 ZPO ausdrücklich geregelten Fällen, in denen eine Tatsache „bei dem Gericht offenkundig“ ist, das Gericht die allgemein- oder gerichtskundige Tatsache also bereits kennt, die Gewährung (bloßen) rechtlichen Gehörs: Das Gericht hat die Parteien auf 179
Prütting, AnwBl 2013, 401 (404 f.). Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 82, 87. Zur rechtsstaatlichen Legitimation durch Verfahren (ganz ohne Rückgriff auf Luhmann) siehe Rennert, JZ 2015, 530 (534 f.), der es als Voraussetzung der Befriedung der Parteien ansieht, dass „die Streitentscheidung nach Recht und Gesetz […] für und mit den Parteien prozedural inszeniert“ wird. 181 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 115 (Klammerzusatz durch Verf.). 182 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 1. 183 In diesem Sinne auch Stein/Jonas/Brehm, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 1 Rn. 29 mit Darstellung der Kernkritikpunkte und Reaktion auf diese; kritisch in jüngerer Zeit namentlich Roth, JZ 2016, 1134 (1135). 180
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die Tatsache hinzuweisen und zu hören.184 Diese Einschränkung des Rechts auf Beweis ist zwingend, da eine Mitwirkung der Parteien bei der Kenntniserlangung nicht mehr möglich ist, wenn diese bereits vorprozessual stattgefunden hat. Wenn das Gericht die Kenntnis hingegen erst im Prozess im Wege eines vereinfachten Beweisverfahrens erlangt, leuchtet nicht ein, wenn ohne Unterscheidung für ebenso selbstverständlich gehalten wird, dass eine nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs ausreichend sei.185 Denn hier wäre eine aktive Teilnahme der Parteien in derselben „Nähe“186 zum Beweismittel (also zu den vom Gericht genutzten Internetquellen), wie sie vom Recht auf Strengbeweis vorgesehen ist, noch ohne Weiteres möglich. Die Verwirklichung „echten“ rechtlichen Gehörs im Sinne der Parteiöffentlichkeit bei der Beweisaufnahme wird hier ohne Not durch die Gewährung „bloßen“ rechtlichen Gehörs zum Ergebnis der Beweisaufnahme und den Verweis auf eine zweifelhafte „Nachprüfbarkeit“ ersetzt. Die Voraussetzungen für eine fundierte Stellungnahme zum Ergebnis der Beweisaufnahme i. S. d. § 285 Abs. 1 ZPO werden aber gerade erst durch die Teilnahme der Parteien an dieser geschaffen.187 Das verfassungsmäßige Recht auf rechtliches Gehör ist in der ZPO mit gutem Grund nicht als bloße nachträgliche „Benachrichtigungsvorschrift“ umgesetzt worden, weil die nachträgliche Information der Parteien nicht in demselben Maße wie die Parteiöffentlichkeit geeignet ist, den Parteien dieselbe Nähe zum Beweismittel als Grundlage sachgerechter Äußerungen zu vermitteln. Sie bietet keine gleichwertige Einflussnahmemöglichkeit.188 Auch kann das nachträgliche rechtliche Gehör nicht ausschließen, dass die mitgeteilten Ergebnisse bereits auf einer selektiven Wahrnehmung beruhen.189 Die Funktion des rechtlichen Gehörs als „Sieb, in dem der 184 BGH, Urt. v. 8. 10. 1959 – VII ZR 87/58, BGHZ 31, 43 = NJW 1959, 2213 (2214); Urt. v. 6. 5. 1993 – I ZR 84/91, NJW‑RR 1993, 1122 (1123); Urt. v. 14. 5. 2013 – II ZR 76/12, NJW‑RR 2013, 1013 (1013); BVerfG, Beschl. v. 3. 11. 1959 – 1 BvR 13/59, BVerfGE 10, 177 = NJW 1960, 31 (31); Beschl. v. 29. 8. 1995 – 2 BvR 175/95, NJW‑RR 1996, 183 (184); aus der Literatur BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 10; Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1 u. 4. 185 Vgl. statt aller Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018); Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4. Die Internetrecherche des AG Wolfenbüttel, Urt. v. 30. 3. 2007 – 16 C 188/05, Rn. 6, juris zu Mietwagenkosten am Tag vor der Verkündung des Urteils begegnet schon deshalb erheblichen Bedenken, weil den Parteien offenbar nicht einmal mehr rechtliches Gehör gewährt wurde. 186 Stein/Jonas/Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 357 Rn. 1; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 2005, 359 (369). 187 Stein/Jonas/Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 357 Rn. 1; Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 224. 188 Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kap. 5 Rz. 16; Reißmann, JR 2013, 182 (186). 189 Späth, Die Parteiöffentlichkeit des Zivilprozesses, S. 109. Wenn Späth als Wesen der Parteiöffentlichkeit die „gleiche Verfahrenskenntnis von Gericht und Parteien“ (S. 20) ausmacht, muss unter der „gleichen“ daher immer auch die „gleichzeitige“ Kenntnis verstanden werden. Zur Selektion bei der Wahrnehmung siehe bereits § 7 III.5.a) sowie noch § 7 IV. 3.
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Sachverhalt von den Beteiligten […] gesiebt werden kann, um so am Schluss zur möglichen Wahrheit zu gelangen“190, kann nur voll entfaltet werden, wenn alle Beteiligten alles zur Kenntnis nehmen, was (vielleicht auch unbewusst) in das Sieb hineingelangt. Im Gegensatz zum bloßen rechtlichen Gehör sichert die Parteiöffentlichkeit also gerade auch die Transparenz der Informationsgewinnung durch das Gericht.191 Nur die Teilnahme an der Recherche ermöglicht es den Parteien und ihren Vertretern, „[…] mit Rücksicht auf das auch bei Richtern nur unvollkommene menschliche Erkenntnisvermögen und die niemals auszuschließende Möglichkeit eines Irrtums […], nach Kräften dem Aufkommen von Irrtümern und Versehen des Gerichts entgegenzuwirken.“192
Während die Überlegenheit der Parteiöffentlichkeit gegenüber dem bloßen rechtlichen Gehör grundsätzlich für alle gerichtlichen Ermittlungen gilt, tritt sie bei der Internetrecherche besonders deutlich zutage, da das Ergebnis der Recherche aufgrund der dargelegten Besonderheiten besonders eng mit der Recherche selbst verbunden ist, während der es entsteht. Dem klassischen Risiko, dass „das Gericht etwaige Schlüsse nicht sieht oder nicht für wesentlich hält“193, wird das zusätzliche Risiko vorgeschaltet, dass es für die nötigen Schlüsse relevante Rechercheergebnisse gar nicht erst zur Kenntnis nimmt und stattdessen seine Schlüsse auf Ergebnisse stützt, die von den Parteien aus unterschiedlichsten Gründen für irrelevant gehalten werden. Die fehlende Rekonstruierbarkeit und Nachvollziehbarkeit einer Internetrecherche erfordert eine Anwesenheit der Parteien bereits bei der Recherche selbst.
3. Richterliche Neutralität und Distanz zum Sachverhalt Die Frage der Gefährdung der richterlichen Neutralität194 durch Internetrecherchen wird in der Literatur bisher lediglich als Reflex des Beibringungsgrundsatzes behandelt: Entsprechend hält Greger einen Befangenheitsgrund für gegeben, wenn der Richter „ohne Bezug zum Parteivorbringen“ im Internet recherchiere,195 während Dötsch wohl auch insoweit für die (eine Verwertung ohne Parteivortrag erlaubende) herrschende Meinung spricht, wenn er für „klar“ hält, dass „eigene Recherchen des Gerichts im Internet für sich genommen 190
Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 349.
191 Gomille, NZFam 2014, 100 (103). 192 Dazu ist der Rechtsanwalt nach
ständiger Rechtsprechung des BGH gegenüber seinem Mandanten verpflichtet, Urt. v. 17. 9. 2009 – IX ZR 74/08, NJW 2010, 73 (74); Urt. v. 16. 9. 2010 – IX ZR 203/08, NJW 2010, 3576 (3577), jeweils m. w. N. 193 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 349. 194 Siehe zur richterlichen Neutralität und Distanz zum Sachverhalt bereits ausführlich § 2 III. 195 Greger, in: FS Stürner, 289 (297).
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keinen Vorwurf der Befangenheit begründen können“, solange es sich nicht um (nicht weiter definierte, aber selbst bei „Nachforschungen“ in Internetarchiven nicht angenommene) „sehr tiefgehende“ Amtsermittlung handle.196 Das Arbeitsgericht Siegen hat eine Befangenheit durch Internetrecherche wegen der „Natur“ allgemeinkundiger Tatsachen abgelehnt.197 Mit den Besonderheiten einer Internetrecherche und ihren Auswirkungen auf die richterliche Distanz zum Sachverhalt hat sich, soweit ersichtlich, bislang weder die Rechtsprechung noch die Literatur befasst.
a) Unsicherheiten individueller Wahrnehmung im Internet Die Ungefährlichkeit allgemeinkundiger Tatsachen für die richterliche Neutralität wird auch heute noch damit begründet, „[…] dass es nicht auf eine individuelle Wahrnehmung und die Unsicherheiten ankommt, die im Rahmen menschlicher Beobachtung und Wiedergabe entstehen können.“198
Genau diese Annahme trifft bei Internetrecherchen im Zeichen der Allgemeinkundigkeit jedoch nicht zu. Im Gegenteil: Es wurde gezeigt, dass jede Internetrecherche maßgeblich von individuellen Faktoren geprägt wird wie dem Vorverständnis des recherchierenden Richters, der diesem Vorverständnis sowie individuellen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechenden Wahl der Suchbegriffe und der selektiven Auswahl der Treffer aus einem unkontrollierbaren und personalisierten Ranking. Überall dort kommt der bei allgemeinkundigen Tatsachen vermeintlich ausgeschaltete „subjektive Faktor“199 und die damit verbundene Unsicherheit individueller Wahrnehmungen zum Tragen, noch bevor der Richter sein wiederum individuelles Urteil über die „Zuverlässigkeit“ der gefundenen Quellen und Ergebnisse und eine daraus folgende „Allgemein“kundigkeit trifft.200 Insoweit hat Graul zu Recht darauf hingewiesen, dass die Ermittelbarkeit aus qualifizierten Quellen keineswegs individuelle Wahrnehmungsunsicherheiten ausschaltet.201 196 Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018); ausdrücklich zustimmend Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4. 197 ArbG Siegen, Beschl. v. 3. 3. 2006 – 3 Ca 1722/05, MMR 2006, 836 (837). Zur Scheinlegitimation über die „Natur“ allgemeinkundiger Tatsachen, wenn diese allein in ihrer Ermittelbarkeit besteht, siehe bereits § 5 III.4. 198 MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 5. 199 Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 123. 200 Zur Subjektivität dieses Urteils bereits E. III.2.b). 201 Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 70. Vielmehr, so Graul, werde dies auch innerhalb der Ermittelbarkeitskategorie dadurch erreicht, dass die Tatsache zunächst einmal von einer Vielzahl an Personen wahrgenommen worden sei, die dann übereinstimmend darüber berichteten. Gerade das wird aber, wie in § 5 III.2. gezeigt, durch die bloße allgemeine Zugänglichkeit und Zuverlässigkeit der Quelle spätestens im Internet nicht mehr gewährleistet.
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§ 7 Art der Kenntniserlangung als Risiko richterlicher Internetrecherchen
Die meisten individuellen Schritte bei der Internetrecherche werden darüber hinaus unbewusst vollzogen: „Denn Suchen im Netz ist eindeutig als Niedrigkostensituation zu bezeichnen; das heißt, das Kosten-Nutzen-Kalkül der Nutzer führt dazu, dass mit nur sehr geringem kognitiven Aufwand gesucht wird. Vieles, was sie während der Suche tun, ist ihnen gar nicht bewusst und kann folglich nicht erschöpfend abgebildet werden.“202
Das Bild von „vorwiegend rational agierenden“ Nutzern wird deshalb für „unrealistisch“ gehalten.203 Die unbewusste Individualität und Selektivität der Internetrecherche ist es, die daher auch die Distanz des Richters zum zu entscheidenden Fall gefährdet: Denn durch die auf individuellen Faktoren beruhenden Such- und Auswahlentscheidungen rückt der recherchierende Richter unweigerlich – und zumeist unbewusst – näher an den Sachverhalt heran.204
b) Verführungen des Internets Die typische Prägung von Internetrecherchen durch spontanes, individuellselektives und unbewusstes Handeln ist darüber hinaus der ideale Nährboden für die „verführerische Komponente“, die § 291 ZPO ganz unabhängig von richterlichen Internetrecherchen nachgesagt wird,205 durch die Möglichkeiten des Internets aber nochmals deutlich gewachsen ist.206 Die spezifische Verführung des Internets liegt darin, dass die dargestellten Mechanismen ein „Sich-leiten-lassen“ oder „Weitersurfen“ nach dem Motto „Mal sehen, was man dazu (noch) so findet“ befördern.207 Selbst, was als harmloses Nachschlagen einer einzelnen allgemein bekannten Tatsache beginnt, ufert schnell zu ausgiebigem Surfen – auf weiteren Treffern der Ergebnisseite oder auch innerhalb der einmal gefundenen Website – aus. Das kann durchaus in der guten Absicht erfolgen, keinen falschen Erwartungen zu erliegen, sondern sich ein „vollständiges“ und „objektives“ Bild zu verschaffen, führt dann aber dazu, dass immer weitere Informationen aufgenommen werden, die 202 Stark/Magin/Jürgens, in: Googleisierung der Informationssuche, 20 (71); ähnlich Lewandowski/Kerkmann/Sünkler, in: Googleisierung der Informationssuche, 75 (78). 203 Stark, in: Googleisierung der Informationssuche, 1 (9). 204 Vgl. zur unbewussten Entstehung einer Voreingenommenheit Riedel, Das Postulat der Unparteilichkeit des Richters, S. 269; Krekeler, NJW 1981, 1633 (1633). 205 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2; ähnlich auch Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 5 sowie Pantle, MDR 1993, 1166 (1168). 206 Darauf weist auch Greger, in: FS Stürner, 289 (290) hin. 207 Insofern entwickeln die technischen Möglichkeiten bisweilen ein „verhängnisvolles Eigenleben“, wie es Kodek, ZZP 2002, 445 (481 f.) bereits für den elektronischen Rechtsverkehr und seine „treibende Kraft“ auf Reformüberlegungen konstatiert hat, die teilweise allein von dem Wunsch getragen würden, die technischen Möglichkeiten auszunutzen. Vor einem solchen „Eigenleben“ hat jüngst auch Preuß, ZZP 2016, 421 (455) gewarnt.
IV. Risiken für die Verfahrensgrundsätze
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für den konkreten Fall möglicherweise nur scheinbar Relevanz haben.208 Gerade die ungeplanten und bereits angesprochenen Zufallsfunde209 sind es, die dem Fall plötzlich eine andere Richtung geben können als vom Parteivortrag vorgezeichnet. Der Richter wird durch solche Funde verleitet, den Tatsachenvortrag um immer weitere, vielleicht nur vermeintlich passende Puzzlestücke zu ergänzen.210 Dabei ist kaum zu verhindern, dass die Identifikation mit der Partei wächst, der das jeweilige Puzzlestück günstig ist. Stürner hat in einem vergleichbaren Zusammenhang treffend pointiert: „Dieser Schritt zur weiteren Identifikation mit der Partei ist der Schritt aus der richterlichen Distanz.“211
c) Beispielsfall: Recherche zu Angaben in AGB und auf Homepage Das Landgericht Bonn hatte darüber zu entscheiden, ob im Rahmen einer Online-Auktion ein wirksamer Kaufvertrag zwischen den Parteien zustande gekommen war (worauf sich der Kläger berief). Das Landgericht wies die Klage mit der Begründung ab, dass nicht feststehe, dass der Beklagte das Gebot und somit eine vertragsbegründende Willenserklärung abgegeben habe.212 Die Begründung enthält unterschiedliche „allgemeinkundige“ Internetfunde, die das Gericht erkennbar näher an den zu entscheidenden Sachverhalt rückten, während ihre Relevanz für das Verfahren durchaus zweifelhaft ist. Zum einen sind dies die „online einsehbaren (§ 291 ZPO) allgemeinen Geschäftsbedingungen der Veranstalterfirma“ – zu denen offenbar von den Parteien nichts vorgetragen worden war.213 Mit deren Hilfe als auch zwischen den Auktionsteilnehmern heranzuziehende „Auslegungsgrundlage“ begründete das Gericht, dass es sich bei einem Gebot um eine rechtsverbindliche Willenserklärung handle. Hoeren hat diese „Marginalia“ zu Recht als „unnötig“ bezeichnet, da es auf sie 208 Für Smid, Rechtsprechung, S. 293 ist es gerade die „Subjektrolle“, in die der Richter gerät, wenn er eine außerprozessuale „Wahrheit“ ermittelt, die ihn seiner Unparteilichkeit beraubt. 209 Siehe dazu bereits Abschnitt 1.d) und e). 210 Ein gewissermaßen verwandtes Problem erkennt Strauch, DVBl. 2007, 1000 ff. in der Rechtsfindung mittels juristischer Online-Datenbanken: Die „bei Google eingeübte Suchtechnik“ verändere die richterliche Methode der Falllösung dahingehend, dass diese „nicht über dogmatische Strukturen und Kategorien erarbeitet [werde], sondern über Einordnung in Fallreihen“ (a. a. O., 1004, Hervorhebung im Original). Durch die zugespitzt formulierte Methode des „‚könnte passen‘, ‚markieren‘, ‚kopieren‘, ‚einfügen‘“ aus „mehr oder minder passenden Rechercheergebnisse[n]“ sieht Strauch die Rationalität des Rechtssystems gefährdet; siehe auch erneut und ausführlicher ders., in: FS Käfer, 387 ff. 211 Stürner, Die richterliche Aufklärung im Zivilprozess, S. 26 Rn. 24. 212 LG Bonn, Urt. v. 7. 8. 2001 – 2 O 450/00, MMR 2002, 255 (256). 213 LG Bonn, Urt. v. 7. 8. 2001 – 2 O 450/00, MMR 2002, 255 (256). Die Behandlung der AGB als Tatsachen und nicht etwa als Rechtssätze ist richtig, da es sich um privat und nicht staatlich gesetztes Recht handelt, vgl. BeckOK‑ZPO/Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 293 Rn. 6.1. Normalerweise von den Parteien zu beweisen und hier „allgemeinkundig“ ist die Tatsache, dass die AGB des Veranstalters einen bestimmten Inhalt haben – nicht anders, als der Inhalt eines Individualvertrags regulärer Beweisgegenstand ist.
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angesichts der Klageabweisung letztlich nicht ankam.214 Die Irrelevanz könnte sich bei genauerem Hinsehen aber schon aus einem anderen Umstand ergeben: Es wurde bereits erläutert, dass „allgemein zugänglich“ und damit potentiell allgemeinkundig im Internet immer nur der Stand einer Website im Zeitpunkt ihres Aufrufs ist.215 Vorliegend kommt eine Allgemeinkundigkeit daher von vornherein nur für den Inhalt der AGB zum Zeitpunkt des Online-Abrufs in Betracht. Eine Aussage über die davon zu unterscheidende (und allein relevante) Frage, welchen Inhalt die AGB zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Auktion ein Jahr zuvor hatten, ist damit nicht getroffen.216 Das internettypische Sich-leiten-lassen von Recherchefunden verführt aber bisweilen auch dann zur Verwertung eines Fundes, wenn dieser (möglicherweise unbemerkt) eigentlich irrelevant ist. Sodann nahm das Gericht Einsicht in die „allgemeinkundigen“ AGB von GMX, dem Provider, bei dem der Beklagte sein E‑Mailkonto führte. Im Urteil führte es aus, dass dem „nur pauschalen“ Beweisantritt des Klägers auf Feststellung der Sicherheit des Passworts bei GMX, das nach der Behauptung des Klägers „nicht knackbar“ war, durch Sachverständigengutachten nicht nachzugehen gewesen sei. Das begründete es unter anderem damit, dass GMX in seinen AGB darauf hinweise, dass nach dem derzeitigen Stand der Technik ein Schutz der übertragenen Daten nicht gewährleistet werden könne. Neben der Einsichtnahme in die AGB führte das Gericht (so legt es jedenfalls das Urteil nahe) probeweise eine eigene Registrierung für ein E‑Mailkonto bei GMX durch. Die so gewonnenen Erkenntnisse, dass „auch im weiteren Verlauf des Anmeldevorgangs […] bei der Eingabe der Passwortsicherheitsfrage nochmals darauf hingewiesen [werde], dass es bei zu einfach formulierten Fragen Dritten leichter gelinge, das Passwort zu entschlüsseln“, dienten im Urteil der weiteren Begründung, dass kein Sachverständigenbeweis zur Entschlüsselbarkeit des Passworts zu erheben war.217 Bei der Bewertung dieses Vorgehens sind zwei Aspekte zu trennen: Zunächst wurde einleitend erläutert, dass der Verzicht auf einen Sachverständigenbeweis nur bei hinreichender (und im Urteil zu begründender) eigener Sachkunde des Gerichts erfolgen darf.218 Diese wurde vorliegend nicht dargelegt. Stattdessen 214
Hoeren, CR 2002, 295 (295).
215 Siehe § 5 III.2.a)bb)(1). 216 Aufgefallen ist dies in
ähnlichem Zusammenhang dem OLG Karlsruhe, Urt. v. 25. 5. 2009 – 1 U 261/08, NZV 2011, 141 (142), welches (im Mai 2009) die Allgemeinen Beförderungsbedingungen einer wegen eines Unfalls im Jahr 2007 beklagten privaten Linienbusbetreiberin für allgemeinkundig hielt und dabei explizit deren „Stand Januar 2007“ erwähnte. Dies legt nahe, dass das Oberlandesgericht den Inhalt der AGB nicht nur zum Zeitpunkt des Abrufs, sondern für jeden beliebigen Zeitpunkt seit Januar 2007 und damit insb. für den Unfalltag als allgemeinkundig ansah. 217 LG Bonn, Urt. v. 7. 8. 2001 – 2 O 450/00, MMR 2002, 255 (257). 218 Siehe § 2 V. 2.b).
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stützte sich das Gericht zur Ablehnung des Beweisantrags primär auf die fehlende Substantiierung des zugrunde liegenden Vortrags. Zugleich untermauerte es die Ablehnung dann aber doch mit einer aus einzelnen Aussagen von GMX zur Daten- und Passwortsicherheit gewonnenen (vermeintlichen?) Sachkunde. Die Frage, ob es zur Beurteilung der Entschlüsselbarkeit sachverständiger Hilfe bedurft hätte, kann nur mit entsprechendem Sachverstand beantwortet werden und muss hier daher offen bleiben. Kern der Kritik ist vielmehr, dass die Suche nach brauchbaren „allgemeinkundigen“ Tatsachen auf GMX (unabhängig davon, ob diese Tatsachen sodann richtig oder falsch bewertet wurden) das Gericht unweigerlich näher an den Sachverhalt rückte – in diesem Fall auf die Seite des Beklagten, der das Glück hatte, dass das Gericht gerade diese „allgemeinkundigen“ Tatsachen fand und zu seinen Gunsten in das Verfahren einführte.
d) Keine objektive Würdigung der eigenen Recherche In diesem Zusammenhang gewinnen die uralten Erkenntnisse zum „privaten Wissen“ des Richters neue Bedeutung: Da jede individuelle Wahrnehmung fehleranfällig ist, verdient niemals „das Ergebnis der Wahrnehmung des Einzelnen unbedingten Glauben“.219 Das gilt für die Wahrnehmungen eines Richters ebenso wie für diejenigen jedes anderen Menschen.220 Vor allem aber ist kein noch so „unparteilich“ eingestellter Mensch in der Lage, seine eigenen Wahrnehmungen so objektiv und kritisch zu würdigen wie ein nicht involvierter Dritter.221 Das gilt auch bei der Internetrecherche: Welche Informationen der Richter bei dieser aufnimmt und wie er sie würdigt, folgt keinen objektiven Kriterien. Krekeler hat wegen der erwiesenen „Tendenz zu konsonanter Informationssuche“, die jüngst vor allem von Schweizer vertieft analysiert und bestätigt wurde,222 schon Anfang der 1980er Jahre die Abschaffung der (nicht nur) vom Bundesgerichtshof angenommenen Vermutung der Unparteilichkeit des Richters223 gefordert. So weit muss man nicht gehen. Eine Abschaffung der Vermutung könnte leicht dahin missverstanden werden, dass Richter stattdessen einem Generalverdacht der Parteilichkeit ausgesetzt wären. Das ist zum Schutz des Richteramts unbedingt zu vermeiden. Der Kernaussage Krekelers und 219 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 2; dem zustimmend Smid, Rechtsprechung, S. 265 f. 220 Bernhardt, in: FS Rosenberg, 9 (24). 221 Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 291 Rn. 4; R. Schmidt, Die außergerichtlichen Wahrnehmungen des Prozeßrichters, S. 35 ff.; Stein, Das private Wissen des Richters, S. 2 f.; Koutsouradis, KTS 1984, 573 (574). 222 Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S. 272; siehe dazu bereits § 7 III.5a). 223 BGH, Urt. v. 18. 12. 1968 – 2 StR 322/68, BGHSt 22, 289 = NJW 1969, 703 (704); siehe dazu § 2 III.1.
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Lipps, dass man sich der „habituellen Parteilichkeit“ jedes Wahrnehmenden224 und auch des „untadeligsten“ Richters225 bewusst sein muss, ist aber gerade im Internetkontext nachdrücklich zuzustimmen. Der Richter ist eben nicht, wie Apfelbaum Anfang des 20. Jahrhunderts meinte, „eine andere Art Mensch“, der daran gewöhnt sei, „kühler“ auf die Dinge zu blicken.226 Dieses Richterbild wurde schon damals nicht allgemein geteilt227 und ist spätestens heute überholt.228 Das Richteramt macht den dahinter stehenden Menschen nicht frei von menschlichen Unzulänglichkeiten, die seiner Objektivität abträglich sein können.229 Besonders treffend beschreibt Braun, dass der Richter „nicht nur ein prozessualer Funktionsträger, sondern zugleich ein Mitbürger ist, der über privates Wissen verfügt, das er an der Schwelle des Gerichts nicht abschüttelt, sondern mitbringt.“230 Gerade hier zeigt sich aber auch der einfache Weg zur Vermeidung eines Distanzverlusts: Während der Richter sein vorhandenes Wissen in der Tat nicht abschütteln, sondern lediglich wählen kann, ob er Zeugenwissen zu unterdrücken versucht oder – gewiss der bessere Weg – sich selbst ablehnt,231 ist das Risiko einseitig verzerrter Wahrnehmung bei noch nicht vorhandenem Wissen noch ohne Weiteres vermeidbar, indem alleinige Tatsachenermittlungen im Internet schlicht unterlassen werden. Hier kann das Gericht durch eigene Zurückhaltung noch verhindern, durch individuell gewonnene Informationen ein vorzeitig verfestigtes Bild des Sachverhalts zu gewinnen, das dann nur noch schwer verändert werden kann. Das entspricht dem Gedanken des Distanzgebots als „Selbstregulativ“232, das den Richter vor einer zu starken Identifikation mit einer Partei schützen soll. Geht der Richter dieses Risiko hingegen ein, ist – unabhängig von seiner Verwirklichung im Einzelfall – die Vermutung der Unparteilichkeit widerlegt und ein Anschein der Parteilichkeit begründet, der eine Ablehnung wegen Befangenheit rechtfertigen kann. 224
Lipp, Das private Wissen des Richters, S. 48. Krekeler, NJW 1981, 1633 (1636). 226 Apfelbaum, Die bei Gericht offenkundigen Tatsachen, S. 38. Eine Antwort auf die Frage, ab wann ein Richter zu dieser „anderen Art Mensch“ werden soll, gab Apfelbaum nicht, obwohl er dies allein auf die richterliche Erfahrung in der Amtsausübung gründete. 227 Siehe nur Langenbeck, ZZP 1882, 470 (496, dort Fn. 1). 228 Weichbrodt, Der verbotene Beweis im Straf- und Zivilprozess, S. 155 ist allerdings auch heute der Meinung, ein Richter könne sich von äußeren Einflüssen frei machen, weil er „in den Regeln juristischer Logik geschult“ sei. 229 Riedel, Das Postulat der Unparteilichkeit des Richters, S. 269; Krekeler, NJW 1981, 1633 (1633); Eckertz-Höfer, DÖV 2009, 729 (737). 230 Braun, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, S. 325. Insofern ist es mindestens missverständlich, wenn Koutsouradis, KTS 1984, 573 (575) formuliert, die Unparteilichkeit des Richters werde durch „seine Amtsstellung und Anforderungen an seine Vorbildung und seinen Charakter gewährleistet.“ 231 R. Schmidt, Die außergerichtlichen Wahrnehmungen des Prozeßrichters, S. 37 f. 232 Reischl, ZZP 2003, 81 (105). 225
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Auch die richterliche Erfahrung kann – wiederum entgegen Apfelbaums Annahme233 – die Unsicherheiten bei der individuellen Recherche nicht ausgleichen: Studien zur Beeinflussbarkeit von Richtern haben gezeigt, dass auch eine langjährige Berufserfahrung eine Beeinflussung von Richtern nicht verringerte, sondern lediglich dazu führte, „dass sie sich in ihrem (gleichermaßen beeinflussten) Urteil deutlich sicherer fühlten als unerfahrenere Teilnehmer.“234
e) Keine Wiederherstellung der Distanz durch rechtliches Gehör Das spezifische Risiko des Distanz- und Neutralitätsverlusts durch Internetrecherche führt zugleich zu der Feststellung, dass die Wahrung des rechtlichen Gehörs im Anschluss an die Recherche (ebenso wie die „Nachprüfbarkeit“ der erlangten Kenntnis) nicht ausreicht, um dieses Risiko auszugleichen. Denn die Distanz zum Sachverhalt geht bereits im Moment der Kenntniserlangung verloren. Auch der Neutralität des Richters kann also – ebenso wie dem Recht auf Strengbeweis – nicht mit der Erteilung eines richterlichen Hinweises nach § 139 ZPO genügt werden. Zur Erteilung eines etwaige Recherchen offenlegenden Hinweises ist das Gericht gleichwohl verpflichtet: Insoweit ist Greger darin zuzustimmen, dass das Verschweigen von Recherchen, die zu einer Befangenheit führen können, erst recht einen Befangenheitsgrund darstellt.235 Umso mehr müsste man eine solche Hinweispflicht auch dann bejahen, wenn man informelle Recherchen ohne die Parteien unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig hielte: Will das Gericht offenkundige Tatsachen verwerten, ist es nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich zur vorherigen Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet.236 Das schließt etwaige kraft Internetrecherche „allgemeinkundige“ Tatsachen ein.237 Bei „allgemeinkundigen“ Erkenntnissen aus dem Internet dürfte auch kaum einmal die vom Bundesgerichtshof angenommene (und in der Literatur 233 234
Apfelbaum, Die bei Gericht offenkundigen Tatsachen, S. 38. Steinbeck/Lachenmaier, NJW 2014, 2086 (2088). Bei den Versuchen ging es um eine Beeinflussung der Richter nicht auf der tatsächlichen, sondern auf der Rechtsfolgenseite bei der Höhe des Strafmaßes oder Schmerzensgelds. Die Kernaussage, dass Erfahrung die Beeinflussbarkeit nicht senkt, dürfte hier aber ebenso gelten. 235 Greger, in: FS Stürner, 289 (294, 297). 236 BGH, Urt. v. 8. 10. 1959 – VII ZR 87/58, BGHZ 31, 43 = NJW 1959, 2213 (2214); Urt. v. 6. 5. 1993 – I ZR 84/91, NJW‑RR 1993, 1122 (1123); Urt. v. 10. 5. 2007 – III ZR 115/06, NJW 2007, 3211 (3211); Urt. v. 14. 5. 2013 – II ZR 76/12, NJW‑RR 2013, 1013 (1013); BVerfG, Beschl. v. 3. 11. 1959 – 1 BvR 13/59, BVerfGE 10, 177 = NJW 1960, 31 (31); Beschl. v. 29. 8. 1995 – 2 BvR 175/95, NJW‑RR 1996, 183 (184); aus der Literatur BeckOK‑ZPO/ Bacher, 28. Ed. Stand 1. 3. 2018, § 291 Rn. 10; Musielak/Voit/Huber, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 291 Rn. 1 u. 4. 237 Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018); Klinger, jurisPR‑ITR 4/2012 Anm. 4; Greger, in: FS Stürner, 289 (295); Howe, DisputeResolution 2/2015, 19 (21).
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ohnehin mit gutem Grund kritisierte238) Ausnahme relevant werden, dass die zu verwertende Tatsache allen Beteiligten ohne Weiteres präsent ist.239 Aber auch unabhängig von der Frage einer unmittelbaren Verwertung der gefundenen Erkenntnisse im Urteil, wenn das Gericht sich also beispielsweise „nur“ Hintergrundinformationen verschafft hat, kann die Entscheidung über eine Einführung in das Verfahren nicht seinem Gutdünken überlassen werden: Auch (und gerade) nicht unmittelbar erhebliche Hintergrundtatsachen lassen das Gericht näher an den zu entscheidenden Sachverhalt heranrücken und können sein Gesamtverständnis von den zu entscheidenden Fragen maßgeblich – und möglicherweise unbewusst – prägen. Erst die Mitteilung der vorgenommenen Recherchen und gewonnenen Erkenntnisse ermöglicht den Parteien eine Beurteilung, ob sich die Recherchen im zulässigen Rahmen bewegt haben und inwieweit die gewonnenen Erkenntnisse für das Verfahren relevant sein können.240 Soweit man also entgegen der hier vertretenen Auffassung einen „Informationsvorsprung“241 des Gerichts vor den Parteien akzeptiert, muss dieser jedenfalls im Laufe des Verfahrens wieder ausgeglichen und eine übereinstimmende Nähe zum Sachverhalt gewährleistet werden.
f) Beibringungsgrundsatz und Parteiöffentlichkeit als Hüter der richterlichen Neutralität bei der Internetrecherche Angesichts der dargestellten Risiken für die richterliche Neutralität und Distanz zum Sachverhalt schließt sich der Kreis zum Beibringungsgrundsatz und der Parteiöffentlichkeit und unterstreicht deren zentrale Bedeutung: Die Nähe der Parteien zum Sachverhalt ist anders als die des Gerichts natürlich und zwingend notwendig: Je näher die Parteien an „ihrem“ Fall sind, desto besser wird die Tatsachenfeststellung gelingen. Das Internet kann für die Parteien folglich ein wichtiges Instrument zur Schärfung ihres Vortrags sein. Die Parteien sind es auch, die die Nützlichkeit einer Internetrecherche im konkreten Fall beurteilen, diese vorbereiten und ihren Tatsachenvortrag und ihre Anträge entsprechend ausrichten können. Bei der Durchführung der Internetrecherche dient eine Orientierung am von den Parteien vorgetragenen Sachverhalt der Konzentration auf die relevanten 238 Siehe zu der insb. von Schneider, MDR 1979, 435 (435 f.) geäußerten Kritik bereits § 4 IV. 2.a) m. w. N.; gegen jegliche Ausnahmen auch Dötsch, MDR 2011, 1017 (1018). 239 BGH, Urt. v. 8. 10. 1959 – VII ZR 87/58, BGHZ 31, 43 = NJW 1959, 2213 (2214); Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 19; Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 4. 240 In diesem Sinne auch Bachmeier, DAR 2012, 557 (560), der vorbereitende Internetrecherchen des Gerichts für selbstverständlich zu halten scheint, wenngleich eine Verwertung nach § 291 ZPO für ihn regelmäßig nicht in Betracht kommt (siehe dazu bereits § 4 III.4). 241 So die Bezeichnung von Smid, Rechtsprechung, S. 574, der einen solchen Informationsvorsprung (ebenfalls) ablehnt.
V. Art der Kenntniserlangung als nicht nur internetspezifisches Problem
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Tatsachen in der Informationsflut des Internets und beugt einem ausufernden Von-Fund-zu-Fund-Hangeln vor.242 Zugleich wahrt die Anwesenheit der Parteien bei der Recherche die erforderliche Distanz des Gerichts zum Sachverhalt bzw. gewährleistet eine stets übereinstimmende Nähe aller Beteiligten zu den Beweismitteln (d. h. den Internetquellen). Hinweise der Parteien können einseitige Wahrnehmungen des Gerichts verhindern oder ausgleichen. Auch wenn heute kaum noch „Verleumdungen jedes Prozeßkrämers“ gegen den Richter und der direkte Weg vom Zivilrichter zum Staatsanwalt zu erwarten sein dürften, wie R. Schmidt ihn für seine Zeit als typisch beschrieb,243 bewahrt eine ausschließlich im Beisein der Parteien stattfindende Internetrecherche das Gericht in jedem Fall vor dem – innerlich berechtigten oder unberechtigten – Anschein der Befangenheit und stärkt das Vertrauen in die Neutralität der Gerichte. Die beiden Verfahrensgrundsätze stellen sich insoweit als Hüter der richterlichen Neutralität und Distanz dar.
V. Art der Kenntniserlangung als nicht nur internetspezifisches Problem Nach dem Gesagten kommen richterliche Internetrecherchen im Zeichen der Allgemeinkundigkeit ohne Beteiligung der Parteien nicht in Betracht. Das wirft die Frage auf, ob die Art der Kenntniserlangung nicht ganz generell und auch außerhalb des Internets bislang zu wenig Berücksichtigung gefunden hat. Ein Ansatz findet sich bei Kuchinke, der auf die Art der Kenntniserlangung („Art seiner Gewinnung“) anstelle der Art der Kenntnis abstellt, um das Verbot der Verwertung privaten Wissens zu begründen: Er sieht dessen Geltungsgrund in den Garantien der ZPO für die Parteien. Bei einer Augenscheinseinnahme von einem andauernden Zustand unterscheide sich die Art der erlangten Kenntnis nicht, wenn der Richter diesen privat oder im Beweisverfahren einnehme, weshalb die Begründung über das „Zeugenwissen“ nicht trage. Entscheidend sei allein, ob die Kenntnis im Rahmen eines von der Prozessordnung vorgesehenen 242 Sticken, Die „neue“ materielle Prozeßleitung (§ 139 ZPO) und die Unparteilichkeit des Richters, S. 52 f. sieht im Beibringungsgrundsatz sogar eine „Bedingung“ der Unparteilichkeit des Gerichts – ohne darauf einzugehen, ob und wodurch die Unparteilichkeit in Verfahren mit Amtsermittlung gewährleistet wird. Brehm, Bindung des Richters an den Parteivortrag und Grenzen freier Verhandlungswürdigung, S. 220 hat insoweit differenziert, dass in Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz die eigenständige Sachverhaltsermittlung gerade und nur deshalb nicht als Parteilichkeit betrachtet werde, weil das Gericht nicht „nach freiem Ermessen“ handle, sondern eine ihm durch die Prozessordnung auferlegte Pflicht erfülle. Im Zivilprozess sei aber zunächst vom Beibringungsgrundsatz auszugehen, weshalb jede Amtsermittlung klar umgrenzt und vorhersehbar sein müsse. 243 R. Schmidt, Die außergerichtlichen Wahrnehmungen des Prozeßrichters, S. 38 f.
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§ 7 Art der Kenntniserlangung als Risiko richterlicher Internetrecherchen
Verfahrens unter Beachtung der Garantien für die Parteien erworben wurde.244 Auch Coester-Waltjen hat die fehlende Nachvollziehbarkeit des Erkenntnisvorgangs als Verletzung der richterlichen Neutralität erkannt, geht zugleich (wie implizit wohl auch Kuchinke) aber davon aus, dass dieses Risiko nur bei nicht allgemeinkundigen Tatsachen bestehe.245 Dies wird im Folgenden in Frage gestellt.246
1. Aktive Information anlässlich des Verfahrens Schon Stein und später vor allem Hiegert haben zur Rechtfertigung informeller Ermittlungen betont, dass der Richter doch sogar ein „viel zuverlässigeres Wissen“ erwerbe, wenn er sich „eigens zum Zwecke der Information“ erkundigt oder einen Augenschein allgemein bekannter Örtlichkeiten eingenommen habe.247 Die Begründung, dass der Richter seine Aufmerksamkeit in diesen Fällen gezielt auf die „entscheidenden Gesichtspunkte“248 richten könne, offenbart jedoch, warum die informelle Ermittlung gerade nicht mit der vermeintlich allgemeinen Art der erlangten Kenntnis gerechtfertigt werden kann: Sobald der zu entscheidende Fall dem Gericht bekannt ist, wird eine Inaugenscheinnahme nie mehr auf dieselbe Art und Weise erfolgen, wie „die Allgemeinheit“ den Ort beiläufig wahrnehmen würde.249 Wer sich aus einem bestimmten Anlass „eigens zum Zwecke der Information“ kundig macht, wird sein Augenmerk nicht mehr nur auf die von Stein als Merkmal der Allgemeinkundigkeit betonten allgemeinen Umrisse250 legen, die man im Vorübergehen mitbekommt, sondern sehr viel genauer hinsehen – und damit gerade die individuellen Wahrnehmungen machen, die bei allgemeinkundigen Tatsachen angeblich zu vernachlässigen sind. Darüber hinaus setzt eine gezielte Betrachtung der „entscheidenden Gesichtspunkte“ zwingend eine Wertung voraus, welche dies sind. Die Beobachtungen des Richters werden also auch außerhalb des Internets stets von seinem individuellen Vorverständnis251 und dem unbewussten Streben nach 244
Kuchinke, in: Freiheit und Bindung des Zivilrichters in der Sachaufklärung, 15 (40 f.).
245 Coester-Waltjen, in: FS Areios Pagos, 28 (43). 246 Da Ermittlungen außerhalb des Internets nicht
das eigentliche Thema dieser Arbeit sind, können sie nicht in derselben Tiefe behandelt werden. Die folgenden Ausführungen beschränken sich insoweit auf einige grundlegende Erwägungen, die sich aus der Beschäftigung mit Internetrecherchen ergeben haben. 247 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 170; Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 149 ff. 248 Hiegert, Die Sphäre der Offenkundigkeit in der Strafprozessordnung, S. 149. 249 Dabei wird nicht verkannt, dass „die Allgemeinheit“ keine homogene Gruppe ist und jeder Wahrnehmende seine eigene Perspektive hat. Maßgeblich ist hier jedoch allein, dass die Perspektive „der Allgemeinheit“ jedenfalls keine prozessbezogene ist. 250 Siehe dazu § 3 II.3. 251 Siehe dazu § 7 III.3.
V. Art der Kenntniserlangung als nicht nur internetspezifisches Problem
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Kohärenz in der Wahrnehmung252 geprägt sein, während die Parteien durchaus unterschiedliche Ansichten über die „entscheidenden Gesichtspunkte“ haben können. Der Richter gerät bei einer solchen außerprozessualen Wahrheitssuche unweigerlich in eine „Subjektrolle“, die seine Distanz zum Sachverhalt gefährdet.253 Auch hier ist es folglich die Art der Kenntniserlangung, die eine Teilnahme der Parteien an der Sachverhaltsfeststellung gebietet, um auf die Überzeugungsbildung des Gerichts korrigierend Einfluss nehmen zu können und eine gleichbleibende Nähe zum Sachverhalt zu gewährleisten.
2. Anlassloses Mitbekommen vor Verfahrensbeginn Im Hinblick auf die Verfahrensgrundsätze von vornherein unbedenklich erscheint allein die für allgemeinkundige Tatsachen im ursprünglichen Sinn typische Art der Kenntniserlangung: das – auf welchem Wege und aus welchen Quellen auch immer – anlasslose „Mitbekommen“. Anlasslos ist ein Mitbekommen immer dann, wenn es ohne jeden Bezug zum Verfahren stattgefunden hat. Nur in diesen Fällen nimmt der Richter die Tatsache als Teil der Allgemeinheit – und damit zugleich wie die Allgemeinheit – und gerade nicht als Richter wahr. Ohne Weiteres gewährleistet ist ein anlassloses Mitbekommen nur vor Beginn des Verfahrens. Hat der Richter bereits vor Beginn des Verfahrens mitbekommen, dass der letzte Sommer außerordentlich heiß und trocken war,254 oder hat er die drei Streifen auf adidas-Produkten wahrgenommen,255 stellt die Verwertung dieses Wissens nicht nur deshalb keine Gefahr für die Verfahrensgrundsätze dar, weil er diese Kenntnis mit der Allgemeinheit teilt, sondern auch, weil er sie ebenso neutral und ohne Bezug zum Verfahren erlangt hat wie die Allgemeinheit. Das entspricht dem historischen „Wesen der Offenkundigkeit“ als vorprozessual bestehende Überzeugung des Gerichts.256
3. Notwendiges Mitbekommen nach Verfahrensbeginn Sobald ein Kenntniserwerb während des Verfahrens stattfindet, ist eine in diesem Sinne anlasslose Kenntniserlangung grundsätzlich nicht mehr denkbar. Der Richter wird alles, was er erfährt, zwangsläufig aus der Perspektive des Prozesses wahrnehmen und damit von vornherein anders als noch vor dem Prozess – und anders als die Allgemeinheit. 252 253
Siehe dazu § 7 III.5.a). Smid, Rechtsprechung, S. 293. 254 So im Fall des OLG München, Urt. v. 26. 6. 2012 – 13 U 4950/11, Rn. 46, juris. 255 So im Fall des OLG München, Urt. v. 26. 7. 2001 – 29 U 2361/97, GRUR‑RR 2001, 303 (304). 256 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 163; siehe dazu § 3 IV. 1.
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Nun gibt es aber allgemeinkundige Informationen, denen man sich nicht verschließen kann – genannt seien nur die vom Bundesgerichtshof erwähnten Lichtverhältnisse,257 sobald man aus dem Haus tritt. Solchen Wahrnehmungen des täglichen Lebens kann und soll sich auch der Richter nicht entziehen. Die Art der Kenntniserlangung bleibt insoweit eine mit der Allgemeinheit geteilte, als sie (jedenfalls ohne Beeinträchtigung des Alltags) unvermeidbar ist. Die Grenzfälle liegen überall dort, wo eine Kenntniserlangung vermeidbar ist: Soll der Richter das Radio oder den Fernseher ausschalten, wenn über Tatsachen berichtet wird, die in seinem Verfahren von Bedeutung sein können? Oder die Zeitung weglegen, wenn dort vielleicht sogar über das Verfahren selbst berichtet wird? Lipp hält es für unproblematisch, wenn der Richter „eine Fernsehsendung verfolgt oder eine Zeitung liest, die sich mit dem von ihm zu beurteilenden Geschehen befassen.“258 Die Begründung ist die übliche: Er erwerbe dadurch kein privates, sondern allein ein mit der Allgemeinheit geteiltes Wissen. Die Grenzziehung, ab wann es sich nicht mehr um eine bei Lipp nur vage umschriebene Allgemeinkundigkeit im Sinne dessen, „was alle wissen“ handelt, sondern individuelles Wissen erworben wird, bleibt offen.259 Nach der heutigen Definition des Allgemeinkundigen gibt es insoweit keine Grenze, da das Berichtete immer auch allgemein ermittelbar sein dürfte. Stellt man auf die Art der Kenntniserlangung ab, verläuft die Grenze dort, wo der Richter die Zeitung nicht mehr „wie jeden Tag“ und wie die Allgemeinheit aus einem allgemeinen Interesse am Zeitgeschehen heraus liest, sondern aus der Perspektive seines Verfahrens und mit einem investigativen Interesse am Fall. Diese Grenzziehung kann nur dem Richter selbst überlassen bleiben und erfordert eine ehrliche Hinterfragung seines Erkenntnisinteresses im jeweiligen Einzelfall. Abzulehnen sind jedenfalls gezielte Nachforschungen in Zeitungsarchiven etc., die gerade aus Anlass des Verfahrens erfolgen und damit der unter 1. beschriebenen Konstellation zuzurechnen sind.260 In allen anderen Fällen, in denen die Prozessperspektive ebenfalls nur schwer abzulegen sein dürfte, muss der Richter das Rezipierte besonders kritisch würdigen und hinterfragen, ob es eine Beweiserhebung nach § 291 ZPO entfallen lassen kann. Gar nicht erst in Betracht gezogen hat der Bundesgerichtshof (selbstverständlich) eine Verwertung von Presseberichten in einem Strafverfahren, die „an der Täterschaft des Angeklagten keinen Zweifel ließen.“ Insoweit ging es nicht um eine Allgemeinkundigkeit, sondern allein um die Frage, ob ein Richter derlei Presseberichte von vornherein meiden muss, um unbeeinflusst zu bleiben. Der 257 BGH, Urt. v. 10. 5. 2007 – III ZR 115/06, NJW 2007, 3211 (3211); siehe dazu ausführlich § 4 II.2. 258 Lipp, Das private Wissen des Richters, S. 64. 259 Das kritisiert auch Feiber, NJW 1996, 2082. 260 Zumindest für den Strafprozess hingegen akzeptiert von Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, S. 78 ff.
VI. Ausblick: Mögliche Konsequenzen für richterliche Internetrecherchen
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Bundesgerichtshof verneinte diese Frage mit der Begründung, dass ein Richter (und auch ein Laienrichter) seine Verpflichtung, „[…] von außen kommende[n] Einwirkungen auf die Überzeugungsbildung des Gerichts […] keinen Einfluß zu gewähren und seine Überzeugungen ausschließlich auf Grund der Hauptverhandlungen zu gewinnen, kennt und beachtet.“
Freilich könne er, um seine „ablehnende Haltung […] gegenüber einer ungehörigen Vorwegnahme des Ergebnisses eines schwebenden Verfahrens durch Presseveröffentlichungen“ zum Ausdruck zu bringen, die Lektüre meiden – er müsse es jedoch nicht. Die für seine Unparteilichkeit streitende Vermutung bedürfe „einer solchen Unterstreichung“ nicht und werde deshalb auch von ihrem Unterbleiben nicht berührt.261 In der Realität dürfte es allerdings erhebliche Schwierigkeiten bereiten, solchen Einwirkungen „keinen Einfluß zu gewähren“.262 Insoweit wird zu Recht betont, dass sich einmal Wahrgenommenes schwerlich wieder „vergessen“ lasse263 – gerade dies ist ja auch das Hauptargument für eine Verwertung vorhandenen allgemeinkundigen Wissens.264 Vor dem Hintergrund, dass selbst in seriösen Presseerzeugnissen einseitige Darstellungen und/oder die Übernahme von im Internet gesäten Fake News nicht auszuschließen sind, erscheint die vom Bundesgerichtshof erwähnte Möglichkeit, außerprozessuale Erkenntnisse nach Verfahrensbeginn zu meiden, zumindest im Zweifelsfall als sicherster Weg zur Wahrung der richterlichen Neutralität.
VI. Ausblick: Mögliche Konsequenzen für richterliche Internetrecherchen nach Erfahrungssätzen Wie in § 2 V. einleitend erläutert, beschränkt sich der Anwendungsbereich des § 291 ZPO auf Tatsachen. Nur für diese beanspruchen die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung unmittelbare Geltung. Sie geben aber Anlass, auch die freie Ermittelbarkeit von Erfahrungssätzen, die lediglich hinsichtlich fachspezi261
BGH, Urt. v. 18. 12. 1968 – 2 StR 322/68, BGHSt 22, 289 = NJW 1969, 703 (704). handelt es sich nicht um „Zweifel an der Kompetenz der Richterschaft“, wie Weichbrodt, Der verbotene Beweis im Straf- und Zivilprozess, S. 154 unterstellt, sondern um Zweifel an einer entsprechenden Fähigkeit jedes Menschen ob seines Menschseins. Weichbrodts Annahme, der Richter sei zum Ausblenden äußerer Einflüsse wegen seiner Schulung in den „Regeln juristischer Logik“ besser in der Lage, kann nicht geteilt werden. 263 Coester-Waltjen, in: FS Areios Pagos, 28 (29); Brüggemann, Judex statutor und judex investigator, S. 369. 264 Endemann, Die Beweislehre des Zivilprozesses, S. 79 f. (sogar über das „notorische“ Wissen hinaus); Hahn, Kooperationsmaxime im Zivilprozess?, S. 235; vgl. auch Lipp, Das private Wissen des Richters, S. 25 und Coester-Waltjen, in: FS Areios Pagos, 28 (29) sowie (zum informatorischen Augenschein) Stein/Jonas/Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 371 Rn. 3. 262 Hierbei
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fischer Erfahrungssätze an eine „besondere Sachkunde“ des Richters geknüpft wird,265 auf den Prüfstand zu stellen. Bislang werden auf dem Gebiet der Erfahrungssätze ebenso wie auf demjenigen der allgemeinkundigen Tatsachen die Verwertung vorhandenen richterlichen Wissens und der Erwerb neuen Wissens im Wesentlichen gleich behandelt, da auch hier die (als vom konkreten Fall unabhängig verstandene) Art der Kenntnis im Vordergrund steht. Nach den Ergebnissen dieser Arbeit liegt hingegen auch insoweit eine Differenzierung nach Zeitpunkt und Art der Kenntniserlangung nahe:
1. Verwertung bei Verfahrensbeginn vorhandener Kenntnisse An der Freistellung der Erfahrungssätze von Beibringungsgrundsatz und förmlichem Beweisverfahren ist kritisiert worden, sie berge die Gefahr, dass wichtige Entscheidungsgrundlagen, darunter „das oft heikle Allgemeinwissen des Richters“ intransparent und unkontrolliert bleiben.266 Auch ist darauf hingewiesen worden, dass die seit jeher für das richterliche Zeugenwissen betonte Schwierigkeit der unbefangenen Würdigung eigenen Wissens im Grunde ebenso bei der Würdigung eigenen Erfahrungs- und insbesondere Fachwissens bestehe.267 Insoweit gibt insbesondere die Regelung des § 41 Nr. 5 Alt. 2 ZPO zu denken, nach der ein Richter nicht nur nach einer Vernehmung als Zeuge, sondern auch nach einer solchen als Sachverständiger aus dem Verfahren auszuscheiden hat. Trotzdem ist es ganz herrschende Ansicht, dass er sein Erfahrungswissen einschließlich seines sachverständigen Wissens – anders als sein Zeugenwissen – verwerten darf, wenn er nur „materiell“ sachverständig, also nicht vernommen worden ist.268 Hinsichtlich vorhandener richterlicher Kenntnisse von „allgemeinen“ Erfahrungssätzen (denen die Regelung des § 41 Nr. 5 Alt. 2 ZPO ohnehin nicht gilt) lässt sich dies recht einfach erklären: Denn man wird kaum verlangen können, dass ein Richter all seine vorhandene Lebenserfahrung noch einmal im Beweiswege zur Disposition stellt. Die richterliche Tätigkeit ist ohne Anwendung dieser Lebenserfahrung nicht vorstellbar und eine Beweiserhebung über jeden in die Beweiswürdigung einfließenden Erfahrungssatz undenk265
Siehe dazu § 2 V. 2.
266 Musielak/Voit/Foerste,
ZPO, 15. Aufl. 2018, § 284 Rn. 4; ähnlich Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze im Marken- und Lauterkeitsrecht, S. 63, 216. 267 Lipp, Das private Wissen des Richters, S. 62; Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 152 f.; Foerste, in: FS Schilken, 261 (271 f.). Für Smid, Rechtsprechung, S. 273 f. „bedarf“ der Richter „des Streits von Sachverständigen“ (wenngleich vereint in einer Person, die ihm die Streits der jeweiligen „Schulen“ vermittelt), um unparteiisch entscheiden zu können. 268 Foerste, in: FS Schilken, 261 (271 f.); siehe zum Zeugenwissen auch bereits § 2 III., zum sachverständigen Wissen § 2 V. 2.b).
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bar – zur Verdeutlichung denke man nur an das oben269 aufgestellte Beispiel des allgemeinen Erfahrungssatzes „Nachts ist es dunkel“. Insoweit kann nur der Mahnung Nachdruck verliehen werden, an die Stelle von Erfahrungssätzen nicht Mutmaßungen und selbstgebastelte „Alltagstheorien“270 zu setzen. Das gilt für Erfahrungssätze gleichermaßen wie für nur vermeintlich „allgemeinkundige“ Tatsachen: Auch insoweit wird gemahnt, der Richter müsse sich „davor hüten, alles ihm (vielleicht nur vermeintlich) Bekannte für offenkundig zu halten.“271 Aber auch auf dem Gebiet fachspezifischer Erfahrungssätze wird man, soweit es um vorhandene Kenntnisse des Richters geht, die er ohne Bezug zum konkreten Fall erworben hat, dem Argument zustimmen können, dass er dadurch nicht näher an den konkret zu entscheidenden Fall heranrücke, da er „lediglich das Umfeld, in das sie eingebettet sind“, kennt.272 Solche Kenntnisse des Richters sind es ja gerade, von denen gerichtliche Spezialkammern oder auch durch Parteivereinbarung zusammengesetzte Schiedsgerichte gezielt profitieren.273 Demgemäß spricht auch nichts dagegen, wenn Richter unabhängig von konkreten Verfahren Fachkenntnisse in Bereichen, mit denen sie regelmäßig konfrontiert werden, erwerben und vertiefen. Neben dem Besuch von Seminaren und der Lektüre physischer Fachliteratur kann dies durchaus auch durch das Studium geeigneter – z. B. von sachkundigen Experten empfohlener – Internetseiten erfolgen. Bei jeder Verwertung „eigener Sachkunde“ ist jedoch wiederum eine kritische Selbsteinschätzung des Richters erforderlich. Ein Verzicht auf den Sachverständigen sollte die seltene Ausnahme darstellen. Das entspricht den vom Bundesgerichtshof aufgestellten Grundsätzen.274
269 270
Siehe § 2 V. 2.a). Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze im Marken- und Lauterkeitsrecht, S. 63, 216. Eine Auswahl „überschätze[r] Erfahrungen“ schildert Foerste, in: FS Schilken, 261 (261, 265 f.); vgl. auch die Kategorie der „Vorurteile“ ohne Beweiswert bei MüKo-ZPO/Prütting, § 5. Aufl. 2016, 286 Rn. 62 und Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 17 Rn. 21 ff. 271 Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 22. Aufl. 2008, § 291 Rn. 6 sowie im Anschluss daran Pantle, MDR 1993, 1166 (1168); in diesem Sinne (und eher nicht in Bezug auf Internetrecherchen) dürften auch die Nachauflage Stein/Jonas/Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 291 Rn. 5 sowie die allgemeinen Mahnungen zur Zurückhaltung bei MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 291 Rn. 8 und Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 291 Rn. 2 zu verstehen sein. 272 Braun, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, S. 326; vgl. auch Stein, Das private Wissen des Richters, S. 85; Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze im Markenund Lauterkeitsrecht, S. 172; Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 150 f. 273 Braun, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, S. 326. 274 Siehe zu diesen Grundsätzen § 2 V. 2.b)cc).
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2. Recherche nach Erfahrungssätzen innerhalb des Verfahrens a) Konstruktion des Umfelds Erst während des Prozesses erworbene Kenntnisse von Erfahrungssätzen bedürfen hingegen einer genaueren Betrachtung. Denn dem Argument, Erfahrungssätze seien naturgemäß nicht der Gefahr von Wahrnehmungsfehlern ausgesetzt,275 lassen sich dieselben Bedenken entgegenhalten, die in § 7 für Tatsachen herausgearbeitet wurden: Je nachdem, wie der Richter mit seinem nach Prozessbeginn unvermeidbar vorhandenen Vorverständnis vom Fall sowie seinen individuellen Kenntnissen und Fähigkeiten seine Recherche gestaltet und welche Internetseiten er nach dem hochkomplexen Ranking durch die Suchmaschine findet und auswählt, wird er unterschiedliche Erfahrungssätze in seine Urteilsfindung einbeziehen, auf die ein anders oder gar nicht recherchierender Richter möglicherweise nicht gekommen wäre. Das „Umfeld“, in das der Fall – nunmehr aus der subjektiven Sicht des Richters – „eingebettet“ wird, wird in diesen Fällen erst durch die individuelle Recherche konstruiert.276 Und auch für die Annahme, dass „der Erkenntnisvorgang [von Erfahrungssätzen] wiederholbar, nachvollziehbar und damit überprüfbar“ sei,277 gilt dasselbe wie für „allgemeinkundige“ Tatsachen: Der Erkenntnisvorgang bei einer Internetrecherche ist all dies gerade nicht. Im Gegensatz zu dem Gericht bereits bekannten Erfahrungssätzen besteht in diesen Fällen aber noch die Möglichkeit, die Parteien am Kenntniserwerb teilhaben zu lassen und so eine Kontrolle zu gewährleisten. Hieran haben die Parteien auch im Hinblick auf Erfahrungssätze ein maßgebliches Interesse, da diese nicht selten für den Ausgang des Verfahrens verantwortlich sind.
b) Individualität der Kenntniserlangung unabhängig von Sachkunde Auch hier birgt also die Art der Kenntniserlangung ein besonderes Risiko – und zwar ganz unabhängig von dem stets zusätzlich relevanten Aspekt der eigenen Sachkunde des Gerichts: Die Grundsätze der Rechtsprechung, dass eine Internetrecherche ebenso wie eine Recherche in physischen Quellen ungeeignet 275 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 85. 276 Darauf, dass selbst aus vorhandenem Erfahrungswissen
des Richters der für den konkreten Fall herangezogene Erfahrungssatz erst „aus Anlass der Tatfrage […] ad hoc konstruiert“ werde, weist Foerste, in: FS Schilken, 261 (272) hin, der aus diesem Grund den Umgang mit Erfahrungssätzen allgemein einer stärkeren Kontrolle durch die Parteien durch (mindestens) „konsequente Durchsetzung des rechtlichen Gehörs“ unterstellen will. Zur „konstruktiven Intuition“ als psychologischem Prozess der Kohärenzbildung bei der richterlichen Überzeugungsbildung ausführlich Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S. 272 ff. (siehe dazu auch bereits § 7 III.5.a)). 277 Coester-Waltjen, in: FS Areios Pagos, 28 (34) unter Verweis auf Stein, Das private Wissen des Richters, S. 23.
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ist, dem Gericht die erforderliche Sachkunde zu verschaffen,278 stehen außer Frage und haben angesichts der Allverfügbarkeit von Informationen und typischen Verlockungen des Internets nur zusätzlich an Bedeutung gewonnen. Der Einschätzung Steins aus dem Jahr 1893, „je tiefer gebildet, je mehr des Lebens kundig unsere Richter sind, desto weniger ist zu besorgen, dass sie sich als Laien technischer Fragen bemächtigen“279, ist insoweit nur noch bedingt zuzustimmen. Ein gesteigerter Drang zum Googeln sollte für den Richter stets ein Indiz dafür sein, dass ein Sachverständiger hinzuzuziehen ist. Wenn der Richter, „bevor man nun ein Gutachten zu der Frage einholt [wie schwierig arabische Sprachen zu dolmetschen sind], […] einfach mal ‚Arabisch‘ bei Google ein[gibt]“280, stellt der Umfang einer etwaigen Sachkunde aber nur einen weiteren neben den zahlreichen anderen individuellen Faktoren dar, denen seine Internetrecherche ohnehin unterliegt. Auch bei Vorhandensein eigener Sachkunde bleibt daher das zentrale Problem der Internetrecherche bestehen. Denn eine hohe eigene Sachkunde mag zwar dabei helfen, eindeutig „falsche“ Ergebnisse auszusortieren. Sie ändert aber nichts daran, dass ohne Einflussnahmemöglichkeit der Parteien auf unbewusste und selektive Weise ein individuelles Bild vom vielleicht nur scheinbar relevanten „Umfeld“ entsteht, in das der Fall – wiederum vielleicht nur vermeintlich – „eingebettet“ ist. Auch insoweit sollten richterliche Internetrecherchen folglich grundsätzlich nur im Beisein der Parteien stattfinden.
c) Vorbereitende Recherchen Das wirft dann aber auch ein anderes Licht auf die von der Rechtsprechung für zulässig oder sogar geboten gehaltene richterliche Recherche zur Vorbereitung oder Begleitung eines Sachverständigenbeweises:281 Denn auch in diesem Fall nimmt der Richter individuell Informationen auf, die ihn unbewusst beeinflussen und zu einer möglicherweise vorschnellen „Einbettung“ des Falls in ein äußerst selektives Umfeld führen können. Dieses Risiko ist im Kern wiederum von einer eigenen Sachkunde unabhängig, aber umso höher, je weniger der Richter die Richtigkeit, aber auch bereits die Relevanz der Erfahrungssätze für den konkreten Fall beurteilen kann. Vor diesem Hintergrund kann die Ansicht des Oberlandesgerichts Naumburg, eine „intensive Literaturrecherche […] insbesondere unter Nutzung der erweiterten Informationsmöglichkeiten des Internets“ sei ein geeignetes Instrument zur Vorbereitung und Begleitung eines Sachverständigenbeweises,282 nicht uneingeschränkt geteilt werden. Eine 278
Siehe dazu § 2 V. 2.b)dd). Stein, Das private Wissen des Richters, S. 101. 280 Zosel, in: FS Käfer, 491 (492). 281 Siehe dazu § 2 V. 2.b)dd) und ee). 282 OLG Naumburg, Beschl. v. 18. 12. 2003 – 1 W 7/03, NJW‑RR 2004, 964 (965). 279
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solche Recherche darf jedenfalls nicht dazu führen, dass (wenn auch unwillkürlich) eine Subsumtion unter als einschlägig „ergoogelte“ fachkundliche Erfahrungssätze erfolgt, bevor der Sachverständige sein Gutachten erstattet hat. Auch diesbezüglich ist zu bedenken, dass einmal gefundene (vermeintliche) „Treffer“ im Nachhinein oftmals nicht vollständig wieder ausgeblendet werden können. Nicht zu umgehen ist eine Selbstinformation des Richters schließlich dort, wo sie in Vorbereitung der mündlichen Verhandlung zum Verständnis des Parteivorbringens zwingend erforderlich ist: So mag die Klärung bestimmter Erfahrungssätze bereits vor einer förmlichen Beweisaufnahme unverzichtbar sein, um so mache Schriftsätze der Parteien und ihrer Vertreter überhaupt verstehen zu können – man denke nur an Fachbegriffe aus einem bestimmten Bereich, in dem der Richter nicht „zuhause“ ist. Hier wird man wohl nicht erwarten können, bereits zum Verständnis solcher Fachbegriffe einen Sachverständigen einzuschalten oder auch nur die Parteien hinzuzuziehen, sondern einen Rückgriff z. B. auf Wörterbücher gestatten müssen. Die richtige Wahl dürften dabei weiterhin die im jeweiligen Gebiet anerkannten Werke wie in der Medizin der „Pschyrembel“ sein. Deren Online-Versionen können und sollten aber gezielt aufgerufen und die Selbstinformation auf das Notwendige beschränkt werden. Die Praxis, „einfach mal“ ein Schlagwort bei Google einzugeben, birgt hingegen auch hier das Risiko zahlreicher Zufallsfunde, die dazu animieren, nach weiteren Informationen zu suchen und dabei in höchst individueller und selektiver Weise zum vermeintlichen Experten zu werden. Auch insoweit kann daher nur zu Zurückhaltung gemahnt werden.
VII. Zwischenergebnis Die traditionelle Rechtfertigung informeller Ermittlungen zu allgemeinkundigen Tatsachen über die Art der erlangten Kenntnis verliert an Legitimationskraft, wenn an die Stelle der tatsächlichen Kenntnis der Allgemeinheit nur noch ihre potentielle Kenntnis tritt. Zugleich stellt sich (vor allem) bei Internetrecherchen nicht die Art der erlangten Kenntnis, sondern die Art der Kenntniserlangung als zentrales Risiko für die Verfahrensgrundsätze dar: Eine typische Internetrecherche unterliegt zahlreichen individuellen Faktoren wie dem Vorverständnis und den Recherchekenntnissen und -fähigkeiten des Recherchierenden, die sowohl die Auswahl der Suchbegriffe als auch der Ergebnisse beeinflussen. Zwischen diesen individuellen Schritten steht der hochkomplexe Algorithmus der Suchmaschine, in den ebenfalls zahlreiche personalisierte Faktoren wie Zeit und Ort der Suchanfrage, genutztes Gerät und vorherige Suchen einfließen. Die Ergebnisse einer Internetrecherche sind folglich höchst individuell und nicht zu vereinheitlichen. Darüber hinaus besteht ein erhebliches und von Vertiefungs-
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angeboten der Suchmaschinen unterstütztes Risiko, dass eine als punktuelle „Nachschau“ begonnene Recherche in das internettypische Surfen von Fund zu Fund ausufert. Welche der grenzenlosen online ermittelbaren Tatsachen Gegenstand des Verfahrens werden, liegt damit zu großen Teilen in den Händen der genutzten Suchmaschine sowie des recherchierenden Richters. Diese Abweichung vom Beibringungsgrundsatz kann nicht mit den klassischen Argumenten für eine amtswegige Verwertung allgemeinkundigen Wissens gerechtfertigt werden, da der typische Gewissenskonflikt des Gerichts nicht besteht, wenn das Gericht die zu verwertende Kenntnis nicht bereits besitzt, sondern erst erwirbt. Auch widersinnige Ergebnisse sind in aller Regel nicht zu erwarten, wenn auf die Ermittlung zusätzlicher Tatsachen verzichtet wird. Beschränkungen von Recherchen auf das von den Parteien Vorgetragene oder eine „Nachschau“ des allgemein Bekannten widersprechen den Eigenheiten einer Internetrecherche, die zwangsläufig – und durch spezifische Maßnahmen insbesondere von Google sogar ganz gezielt – auch zu nicht vorgetragenen und/oder nicht allgemein bekannten Zufallsfunden führen. Beispiele, in denen eine gezielte Nachschau von echten „Allerweltsweisheiten“ als unproblematisch angesehen werden könnte, werden dem Richter in der Regel bekannt, zwischen den Parteien unstreitig oder schlicht irrelevant sein, so dass ein Anlass zur Recherche nicht besteht. Die Individualität und mangelnde Rekonstruierbarkeit einer Internetrecherche erlaubt auch keine Abweichung vom Recht auf Strengbeweis, sondern erfordert die Anwesenheit der Parteien bei der Recherche. Diese ist insoweit mit einer Zeugenvernehmung vergleichbar. Dem dortigen Fragerecht der Parteien entspricht es, ihnen bei der Internetrecherche eine Ergänzung der Suchbegriffe und Mitbestimmung bei der Trefferauswahl zu gestatten. Ein möglicherweise „richtiges“ Ergebnis der Recherche ist nicht ausreichend. Hinreichend legitimiert wird dieses erst durch die Beteiligung der Parteien. Deren Recht auf Beweis schützt gerade die Mitwirkung an der Wahrheitsfindung und kann nicht durch die bloße Mitteilung der Ergebnisse ersetzt werden. Da bei Internetrecherchen schließlich die hinsichtlich allgemeinkundiger Tatsachen ausgeschaltet geglaubten Unsicherheiten individueller Wahrnehmungen eine bedeutende Rolle spielen, gefährden diese auch die richterliche Neutralität und Distanz zum Sachverhalt. Je nachdem, wie sich eine – nach den dargestellten Typizitäten höchst individuell und unbewusst-selektiv verlaufende – Internetrecherche entwickelt, bringt sie den recherchierenden Richter näher an den Sachverhalt und die von den Funden begünstigte Partei. Das gilt nicht nur, aber erst recht beim internettypischen „Weiterbrowsen“ zu vielleicht nur scheinbar relevanten zusätzlichen Funden. Hier gewinnt die jahrhundertealte Erkenntnis neue Bedeutung, dass auch eine unparteiliche Person ihre eigenen Wahrnehmungen nicht objektiv würdigen kann. Da die Distanz zum Sachverhalt bereits mit der Kenntniserlangung verloren geht, ist auch
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insoweit eine nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs nicht ausreichend (wenngleich bei unterbliebener Beteiligung der Parteien zwingend). Vielmehr stellen sich gerade der Beibringungsgrundsatz und die Parteiöffentlichkeit als Hüter der richterlichen Neutralität und Distanz zum Sachverhalt dar. Betrachtet man auch außerhalb des Internets nicht allein die Art der Kenntnis, sondern die Art der Kenntniserlangung, lässt sich als allgemeiner Grundsatz festhalten, dass eine aktive Information des Richters anlässlich des Verfahrens immer zu einer prozessbezogenen und sich damit von der Allgemeinheit unterscheidenden Wahrnehmung führen wird. Da auch hier das individuelle Vorverständnis des Richters von den „entscheidenden Gesichtspunkten“ die Wahrnehmung prägt, werden die Verfahrensgrundsätze wiederum gerade durch die Art der Kenntniserlangung gefährdet. Von vornherein unbedenklich ist lediglich die für allgemeinkundige Tatsachen im ursprünglichen Sinn typische Art der Kenntniserlangung: das ohne jeden Bezug zum Prozess stattfindende und hier „anlasslos“ genannte „Mitbekommen“. Hier zeigt sich das insoweit unveränderte Wesen der Allgemeinkundigkeit als bei dem Gericht bereits vorprozessual bestehende Überzeugung. Bekommt der Richter hingegen nach Beginn des Verfahrens Tatsachen mit, die eine Relevanz in seinem Verfahren haben könnten, ist jedenfalls kritisch zu prüfen, ob die Information tatsächlich nach § 291 ZPO zu verwerten ist oder unberücksichtigt zu bleiben hat. Die hier für Tatsachen gewonnenen Erkenntnisse rücken schließlich auch den bisherigen Umgang mit Erfahrungssätzen im Prozess in ein anderes Licht. Es bietet sich an, auch insoweit nach Zeitpunkt und Art der Kenntniserlangung zu differenzieren: Während eine amtswegige Verwertung von dem Gericht bereits vorprozessual und insoweit anlasslos bekannten Erfahrungssätzen auch weiterhin haltbar erscheint und bei selbstkritischer Prüfung der eigenen Kenntnisse ausnahmsweise auch einen Sachverständigenbeweis entfallen lassen kann, begegnen Internetrecherchen nach Erfahrungssätzen innerhalb des Verfahrens im Grundsatz denselben Bedenken wie Tatsachenrecherchen: Weder die Natur der Erfahrungssätze noch eine etwaige Sachkunde des Gerichts ändern etwas an der höchst individuellen und notwendigerweise selektiven Art der Kenntniserlangung, durch die das Gericht das „Umfeld“, in das der Fall „eingebettet“ ist, erst konstruiert. Aus diesem Grund sollte auch die Ermittlung von Erfahrungssätzen im Regelfall nur unter Beteiligung der Parteien stattfinden. Ausnahmen kommen mit besonderer Vorsicht bei der Vorbereitung und Begleitung eines Sachverständigenbeweises sowie dort in Betracht, wo eine gezielte Klärung von Erfahrungssätzen bereits im Rahmen der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung zum Verständnis des Parteivortrags erforderlich ist.
§ 8 Wesentliche Ergebnisse und Zusammenfassung in Thesen I. Wesentliche Ergebnisse 1. Keine richterlichen Internetrecherchen auf der Grundlage von § 291 ZPO Nach alledem lässt sich die Titelfrage der Untersuchung dahingehend beantworten, dass § 291 ZPO keine Rechtsgrundlage für richterliche Internetrecherchen bietet. Das heutige Verständnis des Allgemeinkundigen als allgemein und deshalb auch vom Gericht Ermittelbarem entspricht zwar dem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust des „Allgemeinwissens“ zugunsten einer jederzeitigen Verfügbarkeit und insbesondere „Googlebarkeit“ von Informationen, ist aber beweisrechtlich nicht haltbar. Das aus „allgemein zugänglichen, zuverlässigen Quellen“ Ermittelbare hat keine dem – im historischen Sinn – allgemein Verbreiteten entsprechende Legitimationskraft, um einen Beweisentfall rechtfertigen zu können.1 Darüber hinaus setzen Wortlaut, Systematik und Telos des § 291 ZPO unabhängig von der Definition der Allgemeinkundigkeit eine bei dem Gericht vorprozessual bestehende Kenntnis voraus.2 Diese Voraussetzung kann nicht über die Aufnahme der gerichtlichen Ermittelbarkeit in die Definition der Allgemeinkundigkeit ausgehebelt werden. Insbesondere kann eine extensive teleologische Auslegung nicht mit dem Argument der Prozessökonomie begründet werden, da die höchst individuelle Art der Kenntniserlangung bei richterlichen Internetrecherchen den Beibringungsgrundsatz, das Recht auf Strengbeweis und die richterliche Neutralität und Distanz zum Sachverhalt gefährdet.3
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Siehe dazu § 5. § 6. 3 § 7.
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§ 8 Wesentliche Ergebnisse und Zusammenfassung in Thesen
2. Verwertung vorhandenen Wissens als zentrale Funktion des § 291 ZPO Die zentrale und auch heute noch gehaltvolle Funktion des § 291 ZPO liegt hingegen in der Verwertung vorhandenen richterlichen Wissens.4 Nur hinsichtlich Tatsachen, die der Richter bereits kennt, ist eine Beweiserhebung gemäß § 291 ZPO überflüssig. Der Begriff der Allgemeinkundigkeit dient hierbei dazu, auch privates Wissen des Richters verwertbar zu machen, soweit er es mit der Allgemeinheit teilt. Ausgehend von den vorhandenen Kenntnissen des Richters, wird auch das Problem der Rechtsunsicherheit bei der Bestimmung des Allgemeinkundigen entschärft.5
3. Parteiöffentlicher Internetbeweis oder amtliche (Online-)Auskunft bei fehlender Kenntnis des Gerichts Kennt der Richter die maßgebliche Tatsache nicht, ist § 291 ZPO unabhängig von einer Allgemeinkundigkeit außerhalb des Gerichts nicht anwendbar. In geeigneten Fällen kann sich stattdessen eine mit den Parteien gemeinsam und auf der Grundlage ihres Vortrags durchgeführte Internetrecherche im Rahmen eines Beweisverfahrens anbieten und maßgeblich zu einer ökonomischen Verfahrensführung beitragen.6 Die natürliche und notwendige Nähe der Parteien zum Sachverhalt darf nicht ohne ihr Einverständnis7 hinter derjenigen des zur Distanz verpflichteten Gerichts zurückbleiben. Ihre Anwesenheit und Einflussnahmemöglichkeit bei der Recherche gewährleisten eine Konzentration auf relevante Ergebnisse und minimieren das Risiko einseitiger Wahrnehmungen durch das Gericht.8 Die so ermittelten Ergebnisse sind nicht „bei dem Gericht offenkundig“ i. S. d. § 291 ZPO,9 sondern entweder unstreitig (geworden) oder (direkt oder mittels Indizien) bewiesen. Als Indizienbeweis kommt auch der Nachweis einer außerhalb des Gerichts bestehenden Allgemeinkundigkeit (im Sinne der sogleich unter 4. darzustellenden Definition) in Betracht.10 4
Diese ursprüngliche Funktion des § 291 ZPO wurde in § 3 beschrieben. Siehe zu diesem Problem § 7 IV. 1.e). Zur Definition des Allgemeinkundigen sogleich unter 4. 6 Zum Internetbeweis siehe § 2 IV. (dort insb. 2.), zu seiner Ökonomie § 6 III.3.d). 7 Zum Freibeweis siehe § 2 IV. 3. 8 Siehe dazu insb. § 7 IV. 3.f). 9 Entsprechendes gilt für die Rechtsprechungsbeispiele aus § 4 III.2. 10 Siehe zu dieser Möglichkeit unter Geltung der historischen Definition bereits § 3 IV. 2.; aus der aktuellen Literatur vgl. z. B. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 112 Rn. 30; Hk-ZPO/Saenger, 7. Aufl. 2017, § 291 Rn. 8; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 39. Aufl. 2018, § 291 Rn. 3; ablehnend hingegen z. B. Baumgärtel/Laumen, Handbuch der Beweislast, Kap. 3 Rn. 18, Wieczorek/Schütze/Assmann, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 291 Rn. 17 sowie Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung von Amts wegen im Zivilprozess, S. 163, letztere beide mit unzutreffendem Verweis auf Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 22. Aufl. 2008, § 291 Rn. 12: Dieser erklärt lediglich (zutreffend) für unmöglich, eine bei dem Gericht bestehende Offenkundigkeit nachzuweisen, wohingegen er den (Indizien-)Beweis einer außerhalb des Gerichts bestehen5
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Sind die benötigten Informationen amtlich dokumentiert, steht dem Gericht zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung die Einholung einer amtlichen Auskunft nach § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zur Verfügung. Soweit amtliche Daten online bereitgestellt werden und es keiner individuellen amtlichen Prüfung im konkreten Einzelfall bedarf, kann das Gericht diese Daten auch (gezielt!) auf der amtlichen Website abrufen. Die richtige prozessuale Verortung der gerichtlichen Informationsbeschaffung bleibt aber auch in diesen Fällen § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO und nicht § 291 ZPO.11
4. Eigene Definition der Allgemeinkundigkeit Als „bei dem Gericht offenkundig“ in der Variante der Allgemeinkundigkeit sind nach alledem (in Weiterentwicklung der Definitionen Steins12 und Pantles13) zu verstehen: Tatsachen, die das Gericht (in Spruchkörpern: mindestens die Mehrheit seiner Mitglieder) kennt, weil sie so allgemein wahrgenommen sind oder so allgemein und ohne ernstlichen Widerspruch verbreitet werden, dass interessierte und verständige Menschen sie typischerweise mitbekommen und von ihrer Wahrheit überzeugt sein können.
a) Allgemeines Wahrgenommensein Das allgemein Wahrgenommene bezeichnet in dieser Definition das, was die Allgemeinheit einer (häufig örtlich beschränkten) Gemeinschaft durch sinnliche Wahrnehmung „live“ mitbekommt: Die Existenz und allgemeine Beschaffenheit eines Gebäudes, das Stattfinden einer Großveranstaltung, die drei Streifen auf adidas-Produkten14 oder die Zerklüftung eines Wandergebiets15 – all dies jedoch immer nur in den allgemeinen Umrissen16, an die man sich den Allgemeinkundigkeit (wie hier) ausdrücklich befürwortet, wenn diese „den erkennenden Richtern unbekannt“ ist (Hervorhebung im Original); so auch in der Nachauflage Stein/Jonas/ Thole, ZPO, 23. Aufl. 2018, §291 Rn 17. Diakonis übersieht, dass der von ihm geforderte Beweis der Tatsache selbst in vielen Fällen insb. historischer Tatsachen gar nicht mehr möglich ist und deshalb von vornherein nur ein Beweis ihres allgemeinen „Fürwahrgehaltenwerdens“ (mithin ihrer Allgemeinkundigkeit im klassischen Sinn) in Frage kommt. 11 Siehe dazu § 5 III.5. 12 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 147. Insoweit kann auf die Erläuterungen in § 3 II.2. und 3. verwiesen werden, die auch für das hiesige Verständnis gelten. 13 Pantle, MDR 1993, 1166 (1167), der sich seinerseits an Formulierungen bei Stein/ Jonas/Leipold, ZPO, 20. Aufl. 1984, § 291 Rn. 2 und Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 51. Aufl. 1993, § 291 Anm. 1A (beide zitiert nach Pantle, ebd.) anlehnt; siehe dazu bereits § 4 Fn. 23. 14 OLG München, Urt. v. 26. 7. 2001 – 29 U 2361/97, GRUR‑RR 2001, 303 (304). 15 So im Fall des OLG Koblenz, Beschl. v. 19. 2. 2013 – 5 U 34/13, NJW‑RR 2013, 1108 (1109). 16 Siehe dazu § 3 II.3.
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normalerweise erinnert: So wird den Menschen (und auch dem Richter) für eine gewisse Zeit in Erinnerung bleiben, dass der Sommer eines bestimmten Jahres ein besonders trockener und heißer „Jahrhundertsommer“ war,17 nicht jedoch, welche Temperatur an welchem Tag in jenem Jahr herrschte. Spielen gerade solche Einzelheiten in einem Rechtsstreit eine Rolle (oder kann sich der Richter auch an die allgemeinen Umrisse nicht mehr erinnern), kommt eine Internetrecherche nach dem unter 3. Gesagten grundsätzlich nur im Wege des parteiöffentlichen Internetbeweises oder (wie im Beispiel früherer Temperaturen) mittels einer amtlichen „Online-Auskunft“ in Betracht.
b) Allgemeines Verbreitetwerden Einen Großteil der allgemeinkundigen Tatsachen bilden auch heute noch solche, die in der jeweiligen zeitlichen und örtlichen Gemeinschaft nicht zwingend allgemein wahrgenommen worden sind, aber allgemein verbreitet werden.18 Als Beispiele seien allgemein überlieferte historische Ereignisse wie das Stattfinden und der – auch hier: grobe – Ablauf des Zweiten Weltkriegs oder aktuelle politische Geschehnisse wie der Ausgang einer Wahl genannt. Die Verbreitung von Tatsachen wird heutzutage häufig über das Internet erfolgen. Von allgemein und ohne ernstlichen Widerspruch verbreiteten Tatsachen im Sinne der Definition wird man daneben aber immer auch über klassische Verbreitungsvarianten wie Zeitung, Fernsehen und Radio oder auch persönliche Gespräche etwas mitbekommen. Eine Tatsache, die ausschließlich im Internet zu finden ist, wird selten allgemeinkundig sein – und wird es jedenfalls nicht durch ihre bloße Ermittelbarkeit. Dank welcher Quelle der Richter allgemein verbreitete Tatsachen vorprozessual mitbekommen hat, spielt keine Rolle. Steht eine allgemein verbreitete, aber dem Gericht bei Verfahrensbeginn unbekannte Tatsache in Streit, bietet sich der unter 3. erwähnte Beweis der Allgemeinkundigkeit mittels (parteiöffentlichem) Internetbeweis an, bei dem viele übereinstimmende Ergebnisse ein Indiz für eine auch außerhalb des Internets stattfindende allgemeine Verbreitung und damit für die Wahrheit der Tatsache sein können.
II. Zusammenfassung in Thesen 1. § 291 ZPO ist im beweisrechtlichen Kontext der Verfahrensgrundsätze zu lesen, von denen er mögliche Ausnahmen darstellt und die bei seiner fehlerhaften Anwendung gefährdet werden. 17 OLG München, Urt. 18 Entscheidend ist in
v. 26. 6. 2012 – 13 U 4950/11, Rn. 46, juris. dieser Variante nicht der Zustand einer „verbreiteten Kenntnis“, sondern das Verbreitetwerden selbst, siehe dazu und zur Rolle der Quellen § 4 II.4.a) und b).
II. Zusammenfassung in Thesen
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a) Nach dem auch heute noch den Zivilprozess maßgeblich prägenden Beibringungsgrundsatz obliegt es in der Regel den Parteien, die Tatsachen vorzutragen und ggf. zu beweisen, aus denen sie Rechtsfolgen herleiten wollen. Ein Ersatz nicht vorgetragener Tatsachen durch eigenes Wissen oder eigene Ermittlungen des Gerichts ist grundsätzlich unzulässig.19 b) Das Interesse der Parteien, an der Sachverhaltsermittlung und insbesondere der Beweisaufnahme als praktischem „Kernstück des Prozeßverfahrens“20 mitzuwirken, wird von ihrem verfassungsrechtlich verankerten Recht auf Beweis geschützt. Als Recht auf Strengbeweis gewährleistet dieses im Regelfall eine Teilnahme der Parteien an der Beweisaufnahme in derselben „Nähe“21 zum Beweismittel wie das Gericht, damit sie den Verlauf der Überzeugungsbildung kontrollieren und beeinflussen können.22 c) Der gesetzliche Richter des Grundgesetzes zeichnet sich durch Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten und dem zu entscheidenden Sachverhalt aus. Eine Ermittlung und/oder Verwertung privaten Wissens gefährden die Neutralität, da eine Würdigung eigener Wahrnehmungen nicht gleichermaßen objektiv wie durch einen unbeteiligten Dritten erfolgen kann.23 2. Internetrecherchen sind im System der Beweismittel als Augenscheinsbeweis einzuordnen. Eine Tatsachenfeststellung via Internet hat daher grundsätzlich nach den Vorschriften der §§ 355 ff., 371 ff. ZPO mit Teilnahmemöglichkeit der Parteien zu erfolgen. Eine verstärkte Nutzung dieses Beweismittels ist in geeigneten Fällen zugunsten der Prozessökonomie zu befürworten. § 284 S. 2 ZPO erlaubt darüber hinaus bei Einverständnis der Parteien eine freibeweisliche Internetrecherche des Gerichts.24 3. Gegenstand des Beweises sind in erster Linie Tatsachen. Nur für diese sieht § 291 ZPO einen Beweisentfall bei Offenkundigkeit vor. Die Allgemein- oder Gerichtskundigkeit von Erfahrungssätzen ist für ihre prozessuale Behandlung irrelevant. Die Maßstäbe zum Umgang mit Erfahrungssätzen sind durch die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die insoweit auf Internetrecherchen übertragbar ist, im Grundsatz geklärt und sollten nicht mit den Voraussetzungen des § 291 ZPO konfundiert werden.25 a) Allgemeine Erfahrungssätze unterliegen als abstrakte Sätze der Lebenserfahrung von vornherein nicht dem förmlichen Beweisverfahren. 19 20
§ 2 I. Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 50. 21 Stein/Jonas/Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 357 Rn. 1; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 2005, 359 (369). 22 § 2 II. 23 § 2 III. 24 § 2 IV. 25 § 2 V.
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b) Fachspezifische Erfahrungssätze sind durch Sachverständigenbeweis zu beweisen, der nur im Ausnahmefall entfallen kann, wenn das Gericht über eigene Sachkunde verfügt. c) Eine Internetrecherche kann einen Sachverständigenbeweis ebenso wenig ersetzen wie die Lektüre von (physischer) Fachliteratur, da auch deren Verständnis entsprechende Sachkunde voraussetzt. 4. Die primäre beweisrechtliche Funktion des heutigen § 291 ZPO bestand ursprünglich darin, eine Ausnahme vom historischen Verbot der Verwertung vorhandenen privaten Wissens des Richters zu begründen. Als das „Wesen der Offenkundigkeit“26 wurde die bereits vorprozessual bestehende Überzeugung des Richters von „auch“ (allgemeinkundig) oder „nur“ (gerichtskundig) dem Gericht bekannten Tatsachen angesehen.27 5. Hauptmerkmale der Allgemeinkundigkeit waren nach Stein das individuelle Wahrnehmungsfehler ausschließende allgemeine Wahrgenommensein oder – häufiger – die ohne ernstlichen Widerspruch erfolgende allgemeine Verbreitung einer Tatsache. Diese Merkmale beschränken das Allgemeinkundige auf die erinnerungsfähigen allgemeinen Umrisse eines Geschehens.28 6. Eine formlose Selbstinformation des Gerichts über diesem unbekannte allgemeinkundige Tatsachen anstelle einer förmlichen Beweiserhebung war historisch umstritten. Von ihren Verfechtern wurde sie meist nur mit knapper Ablehnung eines Formalismus begründet, da es sich bei allgemein verbreiteten Tatsachen in der Regel um solche handelte, deren Kenntnis man von dem Richter ohnehin erwartete.29 7. Grundlage der heute (bei Zurückhaltung des Bundesgerichtshofs) zunehmend durchgeführten richterlichen Internetrecherchen ist ein gewandeltes Verständnis der Allgemeinkundigkeit, das auf Definitionen des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts aus den 1950er Jahren zurückgeht.30 a) Die Allgemeinkundigkeit wird seitdem anhand der Kategorien des allgemein Bekannten einerseits und des aus allgemein zugänglichen, zuverläs sigen Quellen Ermittelbaren (in dieser Arbeit „das Ermittelbare“ genannt) andererseits definiert. Das (aus hier „qualifiziert“ genannten Quellen) Ermittelbare wird dabei überwiegend als eigenständige Definitionsalternative neben
26
Stein, Das private Wissen des Richters, S. 163. § 3 I./IV. 28 § 3 II. 29 § 3 IV. 30 § 4 I. 27
II. Zusammenfassung in Thesen
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dem Bekannten und nicht lediglich als dessen nähere Beschreibung angesehen.31 b) Die allgemeine Zugänglichkeit und Zuverlässigkeit der Quelle stellen in der Kategorie des Ermittelbaren echte Tatbestandsmerkmale der Allgemeinkundigkeit dar. Darin liegt eine erhebliche Aufwertung gegenüber dem früheren Verständnis, in dem die Quellen lediglich in ihrer Gesamtheit der Verbreitung einer Tatsache dienten und die Beschaffenheit der einzelnen Quelle irrelevant war.32 c) Durch die Aufwertung der Quelle zum Tatbestandsmerkmal ist die Allgemeinkundigkeit nicht mehr Voraussetzung, sondern regelmäßig erst das Ergebnis einer Recherche des Gerichts: Allgemeinkundig ist, was jedermann und damit auch das Gericht aus qualifizierten Quellen ermitteln kann.33 d) Auf die historisch als „Wesen der Offenkundigkeit“34 betonte vorprozessuale Kenntnis des Gerichts kommt es damit von vornherein nicht mehr an. Die primäre beweisrechtliche Funktion des § 291 ZPO liegt nicht mehr in der Legitimierung der Verwertung vorhandenen Wissens des Richters, sondern in einem „vereinfachten Beweisverfahren“, das dem Gericht informelle Ermittlungen in qualifizierten Quellen erlaubt.35 8. Die auf dieser Basis „allgemeinkundigen“ Ergebnisse richterlicher Internetrecherchen gehen über das historisch Allgemeinkundige und insbesondere über die früher hervorgehobenen „allgemeinen Umrisse“ eines Geschehens weit hinaus. Allgemeinkundig ist nicht mehr nur, was man normalerweise mitbekommt, sondern vor allem das, was man durch aktive Mediennutzung herausfinden kann. Dabei bietet das Internet auch dem Richter Recherchemöglichkeiten, die – wie die Inverssuche einer Telefonnummer oder der Preisvergleich individuell konfigurierter Mietwagen – vorher nicht durchführbar, jedenfalls aber äußerst fernliegend waren. Die Relevanz des „vereinfachten Beweisverfahrens“ ist durch die Möglichkeiten des Internets deutlich gestiegen.36 9. Die grundsätzliche Zulässigkeit solcher Recherchen ist in der Literatur bislang nicht in Frage gestellt worden.37 Als problematisch werden allein die Bestimmung der allgemeinen Zugänglichkeit und vor allem Zuverlässigkeit von Internetquellen und die Frage der Verwertung allgemeinkundiger Tatsachen ohne Parteivortrag empfunden. 31
§ 4 II.1.–3. § 4 II.4. § 4 II.5. 34 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 163. 35 § 4 II.6. 36 § 4 III.1.–3. 37 § 4 III.4. 32 33
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a) Hinsichtlich der Zuverlässigkeit einer Internetquelle besteht weitgehend Einigkeit, dass diese nur im Einzelfall beurteilt werden kann und muss. Lediglich amtliche Informationen werden per se für zuverlässig gehalten.38 b) Bei gegebener Zuverlässigkeit hält die herrschende Meinung eine Recherche und Verwertung allgemeinkundiger Tatsachen auch ohne zugrunde liegenden Parteivortrag für zulässig.39 10. Die Bestimmung der Allgemeinkundigkeit über die Ermittelbarkeit entspricht dem gesellschaftlichen Wandel, in dem das „Allgemeinwissen“ gegenüber einer jederzeitigen Verfügbarkeit von Informationen an Bedeutung verloren hat. Die Implementierung dieser gesellschaftlichen Entwicklung in den zivilprozessualen Begriff der Allgemeinkundigkeit ist jedoch mit dem Beweisrecht der ZPO nicht vereinbar.40 a) Das Ermittelbare hat schon mit dem Wortlaut der in § 291 ZPO beschriebenen öffentlichen oder allgemeinen „Kundigkeit“ – d. h. Kenntnis – wenig gemein. Wesensmerkmal des Ermittelbaren ist nicht mehr die tatsächliche, sondern allein eine potentielle Kenntnis der Allgemeinheit.41 b) Die Kriterien der allgemeinen Zugänglichkeit und Zuverlässigkeit der Quelle bieten keine der allgemeinen Verbreitung entsprechende Legitimation. Eine im Voraus tatsächlich bestehende allgemeine Überzeugung, wie sie historisch die Wahrheit der Tatsache indizierte und die richterliche Distanz zum Sachverhalt garantierte, können sie nicht gewährleisten.42 c) Die allgemeine Zugänglichkeit einer Quelle ermöglicht eine potentielle Nachprüfbarkeit durch die Parteien, garantiert aber im Internet keine tatsächliche Kenntnisnahme und Kontrolle durch eine hinreichende Allgemeinheit. Die Nachprüfbarkeit wird zudem dadurch erschwert, dass Internetseiten einem ständigen Wandel unterliegen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche „allgemeinkundige“ Tatsachen enthalten.43 d) Die – im Internet oftmals nicht eindeutige – Einzelfallprüfung der Zuverlässigkeit läuft auf eine individuelle Entscheidung des Gerichts über das Fürwahrhalten der gefundenen Tatsache hinaus. Die individuelle Überzeugung des Gerichts kann aber anders als die allgemeine Überzeugung nicht legitimierendes Indiz der Wahrheit sein, sondern ist klassischer Gegenstand des regulären Beweisverfahrens. Die bloße Nachprüfbarkeit des Ergebnisses legitimiert den Ausschluss der Parteien von dem vereinfachten Beweisverfahren nicht.44 38
39 40 41 42 43 44
§ 4 IV. 1.b). § 4 IV. 2. § 5 I. und alle folgenden. § 5 II. § 5 III.1.–3. § 5 III.2.a). § 5 III.2.b)–3.
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e) Die „Natur“ allgemeinkundiger Tatsachen im Sinne der Ermittelbarkeitskategorie unterscheidet sich von derjenigen anderer Tatsachen nicht mehr durch eine mit der Allgemeinheit geteilte (Art der) Kenntnis, sondern allein durch eine (eingeschränkte) Nachprüfbarkeit. Jede Argumentation, die auf der „Natur“ allgemeinkundiger Tatsachen oder ihrer Art der Kenntnis als legitimierende Voraussetzung von Recherchen aufsetzt, führt damit in den Zirkelschluss, dass recherchiert werden darf, was recherchiert werden kann.45 11. Die besondere Legitimation der häufig als Musterbeispiel „zuverlässiger“ und deshalb „allgemeinkundiger“ Informationen genannten amtlichen Veröffentlichungen liegt nicht in ihrer vermeintlichen Allgemeinkundigkeit, sondern ausschließlich in ihrer Amtlichkeit. Für die Ermittlung amtlicher Informationen hat der Gesetzgeber nicht § 291 ZPO, sondern die amtliche Auskunft nach § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO vorgesehen. Der Zweck dieser Vorschrift erfasst auch einen gezielten Informationsabruf von amtlichen Internetseiten zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung, weil und soweit das Gericht dieselbe Information auch im Wege einer „echten“ Auskunft erfragen könnte und es keiner individuellen amtlichen Prüfung bedarf.46 12. Die Kategorie des Ermittelbaren lässt die Frage nach der Zulässigkeit richterlicher Recherchen per definitionem beantwortet erscheinen, da die Recherche des Gerichts notwendige Voraussetzung der Allgemeinkundigkeit ist. Das täuscht darüber hinweg, dass die Recherchefrage eine andere ist als die allein diskutierte Frage der Verwertung ohne Parteivortrag.47 a) Die zentralen Argumente des Verwertungsstreits beziehen sich auf vorhandenes Wissen des Richters und geben auf die Frage der Ermittlung neuen Wissens keine Antwort.48 b) Es kann bezweifelt werden, dass die Einführung eines vereinfachten Beweisverfahrens von den Bundesgerichten intendiert war, als sie die Definitionsvariante des Ermittelbaren schufen.49 13. Unabhängig von der Definition der Allgemeinkundigkeit widerspricht ein vereinfachtes Beweisverfahren Wortlaut, Systematik und Telos des § 291 ZPO. Das Tatbestandsmerkmal „bei dem Gericht“ setzt eine vorprozessuale Kenntnis des Gerichts voraus. Eine Ermittlung außerhalb des Strengbeweisverfahrens erlaubt § 291 ZPO im Gegensatz zu anderen Normen der ZPO nicht.50 45 46 47 48 49 50
§ 5 III.4. § 5 III.5. § 6 I. § 6 I. 2.–3. § 6 I. 4. § 6 II.–III.
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a) Eine extensive contra legem-Auslegung als vereinfachtes Beweisverfahren kann insbesondere nicht mit einem pauschalen Verweis auf die „Prozessökonomie“ gerechtfertigt werden. Die Prozessökonomie ist kein Selbstzweck, sondern dem Prozesszweck der Sicherung und Durchsetzung der Rechte der Parteien untergeordnet. Wie dieser Zweck zu erreichen ist, legt das Prozessrecht für alle Verfahren einheitlich fest. Für eine prozessökonomische Auslegung von Verfahrensvorschriften verbleibt nur dort ein Raum, wo diese nicht zu einer Beeinträchtigung zentraler Verfahrensgrundsätze führt. Dabei ist die Prozessökonomie niemals allein aus der Perspektive des Gerichts, sondern stets auch der Parteien zu beurteilen.51 b) In § 291 ZPO hat der Gesetzgeber den Gedanken der Prozessökonomie verwirklicht, indem wegen „Offenkundigkeit bei dem Gericht“ überflüssige Beweisaufnahmen unterbleiben sollen. Der prozessökonomische Grund für den Beweisentfall ist aber nicht die Offenkundigkeit der Tatsache, sondern die Kenntnis des Gerichts. Kennt das Gericht die betreffende Tatsache noch nicht, ist eine Beweisaufnahme nicht überflüssig, sondern wird durch ein nicht im Wortlaut der Norm angelegtes „vereinfachtes Beweisverfahren“ ersetzt.52 c) Ein solches Verfahren ist nur dann von vornherein prozessökonomisch, wenn auch die Parteien ein förmliches Beweisverfahren für überflüssig halten. In diesen Fällen sind informelle Internetrecherchen gemäß § 284 S. 2 ZPO unabhängig von § 291 ZPO zulässig. Anderenfalls ist das Strengbeweisverfahren ökonomischer, da es durch die Einflussnahme der Parteien effizientere Internetrecherchen ermöglicht und die Chance auf eine Befriedung in erster Instanz bietet.53 d) Die Prozessökonomie eines vereinfachten Beweisverfahrens ohne Einverständnis der Parteien kann weder mit strukturellen Defiziten in der Gerichtsbarkeit noch mit einer vermeintlich gesteigerten Schnelligkeit oder Einfachheit der Sachverhaltsermittlung begründet werden, sondern ist an der Wahrung der zentralen Verfahrensgrundsätze zu messen.54 14. Das zentrale Risiko der Internetrecherche für die Verfahrensgrundsätze liegt nicht in der Art der erlangten Kenntnis, sondern in der höchst individuellen Art der Kenntniserlangung des Gerichts. Eine alleinige Internetrecherche des Gerichts ist mit dem Beibringungsgrundsatz, dem Recht auf Strengbeweis und der richterlichen Neutralität und Distanz zum Sachverhalt nicht zu vereinbaren.55 51
§ 6 III.1.–2. § 6 III.3.a)–b). 53 § 6 III.3.c)–d). 54 § 6 III.3.e)–f). 55 § 7 I.–IV. 52
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a) Der Verlauf einer typischen Internetrecherche beginnt mit der Eingabe eines nach dem subjektiven Vorverständnis von den zu klärenden Fragen sowie individuellen Recherchekenntnissen und -fähigkeiten gewählten Suchbegriffs (oder -konvoluts) in eine Suchmaschine und führt über einen hochkomplexen, nicht im Einzelnen erforschten und in mehrfacher Hinsicht personalisierten Algorithmus der Suchmaschine zur Anzeige individueller und ständigem Wandel unterliegender Treffer, aus denen eine unvermeidbar selektive Auswahl der für relevant gehaltenen Ergebnisse erfolgt. Dabei entspricht es einem typischen und von Vertiefungsangeboten der Suchmaschinen gezielt geförderten Verlauf, dass eine anfänglich eng umgrenzte Suche in ein immer weitläufigeres Browsen von Fund zu Fund übergeht. Eine Homogenität richterlicher Internetrecherchen erscheint vor diesem Hintergrund auch nicht mittels einer (deshalb abzulehnenden) Pflicht zur Internetrecherche erreichbar.56 b) Die Hoheit darüber, welche Tatsachen bei richterlichen Internetrecherchen „allgemeinkundiger“ Gegenstand des Verfahrens werden, liegt entgegen dem Beibringungsgrundsatz nicht bei den Parteien, sondern zu großen Teilen bei der genutzten Suchmaschine und zu weiteren Teilen bei dem recherchierenden Richter. Mit den Argumenten für eine Verwertung vorhandener Kenntnisse des Gerichts ist dies nicht zu rechtfertigen. Theoretisch überzeugende Beschränkungen richterlicher Internetrecherchen auf das von den Parteien Vorgetragene und/ oder eine „Nachschau“57 des allgemein Bekannten sind nicht praktikabel, da eine Internetrecherche zwangsläufig immer auch nicht vorgetragene und/oder nicht allgemein bekannte Zufallsfunde hervorbringt. Darüber hinaus stellt das Bekannte im Internet lediglich einen Teil des Ermittelbaren ohne „intrinsischen Wert“58 dar und lässt sich nicht rechtssicher von diesem abgrenzen.59 c) Angesichts der Individualität und mangelnden Rekonstruierbarkeit einer Internetrecherche gebietet der Zweck des Rechts auf Strengbeweis eine Anwesenheit der Parteien im Moment der Recherche und Überzeugungsbildung. Entsprechend dem Fragerecht bei einer (ebenfalls nicht identisch wiederholbaren) Zeugenvernehmung, ist ihnen bei der Internetrecherche ein Recht auf Ergänzung der Suchbegriffe und Beteiligung an der Trefferauswahl einzuräumen. Das „richtige“ Ergebnis allein kann eine Verkürzung der Parteirechte nicht rechtfertigen, sondern bedarf einer zusätzlichen Legitimation durch die Mitwirkung der Parteien, in deren Interesse der Prozess und das Recht auf Beweis überhaupt existieren. Letzteres schützt im Gegensatz zum bloß nachträglich gewährten Recht auf rechtliches Gehör gerade die Mitwirkung an der Wahrheitsfindung in
56 57
§ 7 III. Greger, in: FS Stürner, 289 (294). 58 Hobohm, in: Grundlagen der praktischen Information, 109 (109). 59 § 7 IV. 1.
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derselben „Nähe“60 zum Beweismittel wie das Gericht. Eine Mitteilung der Ergebnisse reicht deshalb nicht aus.61 d) Die Internetrecherche birgt neutralitätsgefährdende Unsicherheiten individueller Wahrnehmungen, die bei allgemeinkundigen Tatsachen insoweit zu Unrecht für ausgeschaltet gehalten werden. Sie rückt den Richter unweigerlich und häufig unbewusst näher an den Sachverhalt und die Partei heran, der die jeweils gefundene Tatsache nutzt. Das gilt umso mehr, je mehr sich der Richter zum internettypischen „Weitersurfen“ verleiten lässt. Eine objektive Würdigung der vielleicht nur scheinbar relevanten Ergebnisse ist auch einem noch so unparteilichen und erfahrenen Richter nicht möglich. Durch den Beibringungsgrundsatz und die Parteiöffentlichkeit können die richterliche Neutralität und Distanz zum Sachverhalt bei der Internetrecherche gewahrt werden. Wollte man – entgegen der hier vertretenen Auffassung – alleinige Internetrecherchen des Gerichts unter bestimmten Voraussetzungen zulassen, müsste der dadurch gewonnene „Informationsvorsprung“62 des Gerichts vor den Parteien durch eine Offenlegung der Recherchen und ihrer Ergebnisse (unabhängig von deren Verwertung) ausgeglichen werden.63 15. Auch außerhalb des Internets verdient die Art der Kenntniserlangung stärkere Beachtung. Zu unterscheiden ist insbesondere zwischen einer gezielten Selbstinformation nach Verfahrensbeginn einerseits und dem anlasslosen Mitbekommen vor Verfahrensbeginn andererseits.64 a) Eine aktive Information des Richters zu prozessbezogenen Tatsachen – seien diese außerhalb des Gerichts allgemeinkundig oder nicht – birgt stets die Gefahr einseitig verzerrter Wahrnehmungen. Die Wahrnehmungen des Richters auch von allgemein zugänglichen Orten etc. unterscheiden sich von denjenigen der „Allgemeinheit“ zwangsläufig dadurch, dass ihnen ein prozessbezogenes Vorverständnis von den „entscheidenden Gesichtspunkten“ innewohnt.65 b) Nur, was der Richter ohne konkreten Anlass als Teil der Allgemeinheit mitbekommen hat, ist von vornherein jedem Anschein der Parteilichkeit entzogen. Das führt zurück zum ursprünglichen „Wesen der Offenkundigkeit“66 als bei dem Gericht bereits vor Beginn des Verfahrens bestehende Überzeugung von allgemein verbreiteten Tatsachen.67 60 Stein/Jonas/Berger, ZPO, 23. Aufl. 2015, vor § 357 Rn. 1; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 2005, 359 (369). 61 § 7 IV. 2. 62 Smid, Rechtsprechung, S. 574. 63 § 7 IV. 3. 64 § 7 V. 65 § 7 V. 1. 66 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 163. 67 § 7 V. 2.
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c) In den nach Verfahrensbeginn liegenden Grenzfällen bilden ebenfalls das „Mitbekommen“ des Richters von bestimmten Tatsachen als Teil der Allgemeinheit einerseits und das gezielte Nachforschen andererseits die Pole der (Un-)Zulässigkeit. Unabdingbar ist in jedem Fall eine kritische Würdigung des Rezipierten und der eigenen Beeinflussung.68 16. Die Ergebnisse der Untersuchung geben Anlass, auch den nach herrschender Ansicht gegenüber Tatsachen freieren prozessualen Umgang mit Erfahrungssätzen zu überdenken. Auch diesbezüglich liegt eine Unterscheidung nach der Art der Kenntniserlangung nahe.69 a) Eine Verwertung vorhandenen (allgemeinen oder fachspezifischen) Erfahrungswissens, das ohne Bezug zum Verfahren erworben wurde, erscheint bei kritischer Hinterfragung dieses Wissens durch den Richter unbedenklich. Insoweit kann insbesondere an den Grundsätzen des Bundesgerichtshofs festgehalten werden, dass ein Sachverständigenbeweis im Falle eigener Sachkunde ausnahmsweise entfallen kann.70 b) Auch an den Rechtsprechungsgrundsätzen zur fehlenden Eignung einer Internetrecherche zum Erwerb hinreichender eigener Sachkunde des Gerichts ist festzuhalten. Unabhängig davon sollte eine Internetrecherche angesichts ihrer in § 7 herausgearbeiteten Typizitäten auch auf dem Gebiet der Erfahrungssätze grundsätzlich nur unter Beteiligung der Parteien durchgeführt werden. Ausnahmen sind denkbar, wenn und soweit sie zur Vorbereitung und Begleitung eines Sachverständigenbeweises geboten sind oder eine Klärung von Fachbegriffen o.ä. bereits zum Verständnis des Parteivortrags erforderlich ist. In diesen Fällen sollte jedoch nicht „gegoogelt“, sondern – online wie offline – gezielt ein im jeweiligen Fach anerkanntes Werk zu Rate gezogen werden.71 17. Im Ergebnis kann § 291 ZPO nicht als Rechtsgrundlage richterlicher Internetrecherchen herangezogen werden. Seine beweisrechtliche Bedeutung liegt auch heute in der Verwertung vorhandenen Wissens des Richters. Dieses ist unter den Voraussetzungen verwertbar, die in § 8 I. 4. als Definition vorgeschlagen wurden.
68 69
§ 7 V. 3. § 7 VI. 70 § 7 VI.1. 71 § 7 VI.2.
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Sachverzeichnis Ablehnung wegen Befangenheit siehe Befangenheit Aktenkundigkeit 130, 147 Algorithmus 159 f., 161 f., 180, 206, 219 Allgemeine Geschäftsbedingungen 2, 40, 79, 105, 167, 191 ff. Allgemeinwissen 60, 68, 99, 103 f., 125, 174, 176 f., 202, 209, 216 –– „Allerweltsweisheiten“ 169, 174, 177 f., 182, 207 Amazon 79, 105, 109, 111, 153 Amtlichkeit –– Amtliche Auskunft 47, 85, 122 f., 210 ff., 217 –– Amtliche Bekanntmachung 48, 69, 72, 121 –– Amtliche Informationen/Quellen 69, 90, 101, 121 ff., 216 –– Amtliche Internetseiten 77, 90, 121 ff. –– Amtliche Kenntnis 3, 37, 45 f., 85, 132, 144, 146 f. Anscheinsbeweis 28, 35 Augenschein –– Augenscheinsbeweis 13, 19 ff., 25, 41, 47, 148, 149, 213 –– Inaugenscheinnahme 24, 65 f., 88, 120, 162, 182, 197 ff. –– „Informatorischer Augenschein“ 14 ff., 21 Ausdruck von Internetseiten 19 f., 23 f., 170 Ausländisches Recht 29, 136 f. Ausschluss von der Ausübung des Richteramts 17 f. Autocomplete 157, 159 Befangenheit 17 f., 80 f., 93, 99, 100, 176, 188 ff., 194, 195, 197 Beibringungsgrundsatz 5, 6, 7 ff., 18, 40,
44, 51, 86, 98, 127 f., 150, 169 ff., 182, 188, 196 f., 202, 207, 209, 213, 218 ff. (Allgemeine) Bekanntheit 59 ff., 79, 81, 83, 84 f., 91, 101, 104, 109 Beschränkte Allgemeinkundigkeit 47 f., 67, 71, 85, 105, 211 Betriebsanleitung 2, 81, 83, 88, 105, 111, 120 f., 167 Beweis der Allgemeinkundigkeit 53, 56, 210 Beweisgegenstand 5, 24 ff., 41, 213, 216 Beweislast siehe Darlegungslast Beweiswürdigung 12, 117, 183, 202 Blog/Blogger 94, 110 Brockhaus 77, 91 Browsen siehe Surfen Crawler 156 Darlegungs- und Beweislast 10 f., 40, 171 f. Datei 20, 23 Deep Web 156 Definition der Allgemeinkundigkeit 45 ff., 57 ff., 62, 70 ff., 100 f., 127 ff., 200, 209, 211 f., 214 f. Definitionen als Erfahrungssätze 31 Distanz zum Sachverhalt siehe Neutralität Dynamik von Internetseiten 24, 111, 182 Elektronisches Dokument 19 f., 23, 158 f. E‑Mail 19, 22, 40, 79, 192 Epoxidharz 4, 36 ff., 112 Erfahrungssätze 4, 5, 6, 24 ff., 27 ff., 49, 65, 84, 110, 112, 123, 124, 201 ff. Erheblichkeit 9, 12, 21, 25, 98, 122, 178 f., 196 Erinnern/Erinnerung 50, 56, 71, 72, 74, 83, 85, 103, 146, 165, 177, 212, 214
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Sachverzeichnis
Ermittelbarkeit 59 ff., 67 ff., 103 ff., 127, 133, 151, 182, 189, 201, 209, 216, 217
127 ff., 131 ff., 144 ff., 151 f., 173, 179, 186, 199, 202 f., 209 ff., 213 ff. Klauselverfahren 70, 90
Facebook 23, 92 Fachliteratur 32 f., 38, 41, 203, 214 Fake News/Fehlinformation 92, 93, 114, 201 Fernsehen 60, 125, 155, 177, 212 Freibeweis 22 f., 137 f., 148, 213 Fremdsprachige Internetinhalte 119 Funktion der Offenkundigkeit/des § 291 ZPO 5, 43 ff., 76, 210, 214, 215
Lebenshaltungskostenindex siehe Verbraucherpreisindex Legitimation 6, 56, 106 ff., 153, 182, 185 f., 206 f., 209, 216, 217, 219 Lexikon 49, 55, 60, 75, 88, 174, 180 f. Lichtverhältnisse 64 ff., 75, 118, 120, 200
Gerechtigkeit 16, 186 Gerichtskundigkeit/-bekanntheit 1 ff., 35, 45, 46 f., 55, 104, 130, 131 ff., 144 ff., 213, 214 Gesetzlicher Richter 16 ff., 213 Geständnis 96 f., 128, 179 Gewissenskonflikt 97, 128, 173, 182, 207 Google 21, 88, 90, 154 ff., 158 ff., 169 ff., 181, 205 f., 209 Hacker 92 Handelsregister/öffentliche Register 49, 52, 69 f., 89 f. Hilfs-/Indiztatsachen 25, 96 f., 129 Hinweis des Gerichts 98, 128 Hyperthermie 39 Index/Indexierung von Internetseiten 156, 158, 160 f. Individualität der Internetrecherche 155 f., 156 f., 158 f., 163 ff., 168 f., 179 ff., 183 f., 189 f., 193 ff., 198 f., 204 ff., 206 ff., 209, 218 ff.; siehe auch Personalisierung Indizienbeweis 28, 35 Indiztatsachen siehe Hilfstatsachen Internetarchiv 4, 99, 156, 189 Internetbeweis siehe Augenscheinsbeweis Internetkompetenz 156, 158, 165, 170 Inverssuche 81, 84, 119, 181, 215 Invisible Web siehe Deep Web Kenntnis des Gerichts (von allgemeinkundigen Tatsachen) 43 ff., 51 ff., 83 f.,
Mauerfall 94, 178 Mietwagen 2, 40, 80, 83, 90, 105, 109, 153, 166, 167, 187, 215 Nachprüfbarkeit 72, 74, 110 ff., 116 f., 119, 121, 122, 126, 153, 166 f., 182, 187, 216 f. Nachrichten 1, 89, 92, 111, 125, 160 Neutralität des Richters 5 f., 9, 16 ff., 41, 50, 108, 151, 168, 188 ff., 198, 199, 201, 207 f., 209, 213, 218, 220 Notorietät 44, 45 ff. Objektivität siehe Neutralität Öffentliche Register siehe Handelsregister Offensichtlichkeit 35, 135, 158 Parapsychologie 30 Parteiherrschaft siehe Beibringungsgrundsatz Parteiöffentlichkeit 5, 11 ff., 21, 22, 40 f., 148 f., 150, 179 ff., 208, 210, 212, 220 Parteivortrag 1, 4, 6, 10, 11, 23, 51, 96 ff., 127 ff., 148, 150, 151, 172 ff., 175 ff., 191, 208, 215 ff. Personalisierung der Internetrecherche 161 ff., 172, 180, 189, 206, 219 Pflicht zur Internetrecherche 87, 168 f., 219 Präsentes Wissen siehe Kenntnis des Gerichts Preise 1, 2, 80, 111, 113, 124, 162 f., 166, 172, 174, 215 Privates Wissen des Richters 18 f., 41, 43 ff., 55 f., 64 ff. Prozessökonomie 21, 76, 133, 138 ff., 209, 213, 218
Sachverzeichnis
Quelle 2 ff., 38, 48 f., 57 ff., 59 ff., 72 ff., 87 ff., 108 ff. Radio 125, 200, 212 Ranking von Suchergebnissen 158 ff., 165, 172, 189, 204 Recht auf (Streng-)Beweis siehe Parteiöffentlichkeit Rechtliches Gehör 4, 12, 13, 98, 99, 148 f., 186 ff., 195 f., 208, 219 Rechtsstaatsprinzip 13, 16, 143 Sachkunde 4, 31 ff., 34 ff., 41, 192 f., 201 ff., 214, 221 Sachverständiger/Sachverständigenbeweis 14, 22, 27, 31 f., 38, 39 f., 41, 79, 80, 82, 84, 170 ff., 192 f., 203, 205 f., 208, 214, 221 Selektion/Selektivität 163 ff., 180, 184, 187, 189 f., 205 f., 207 f., 219 Serendipität 167, 175 Staatsangehörigkeit berühmter Personen 81 f. Suchbegriff 154, 156 ff., 161, 175, 180, 183 f., 189, 206 f., 219 Suchmaschine 78, 81, 88, 103, 120, 123, 154 ff., 169 ff., 175, 180, 181, 204, 206 f., 219 Surfen 167 f., 190, 207, 219, 220 Tatsachen 24 ff. Telefonnummer 2, 80 f., 84, 100, 116, 119, 180 ff., 215 Tennislärm 35 Überzeugung –– des Gerichts 11, 12 f., 49, 53, 56, 76, 101, 104, 114, 115 ff., 144 f., 180, 182, 183, 199, 208, 213, 214, 216, 219, 220 –– der Allgemeinheit 107 f., 108 ff., 113, 117 f., 125, 126, 153, 216 Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme 21 Unmöglichkeit 30, 35 Unparteilichkeit siehe Neutralität Unstreitigkeit 14 ff., 23, 78, 148, 178 f., 207, 210
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Urkunden(beweis) 13, 19, 23 f., 25, 41, 47, 52, 70, 82 URL 23, 111, 155 Verbraucherpreisindex 69, 113, 121, 124 f. (Allgemeine) Verbreitung 48 ff., 55, 56, 62, 71 ff., 83 f., 91, 100 f., 104, 106 ff., 126, 177, 209, 211 f., 214 ff. Vereinfachtes Beweisverfahren 5, 22, 76 f., 84 f., 99 f., 101, 116, 119, 126, 127 ff., 174, 180, 184, 187, 215 ff. Verfahrensgrundsätze 7 ff., 17, 57, 139 ff., 150, 153 ff., 218 Verhandlungsmaxime siehe Beibringungsgrundsatz Verkehrsauffassung 34 Vermiculit 79, 94, 105 Vorverständnis 158, 183, 189, 198, 204, 206, 208, 219 f. Wahrheit 8, 11, 50, 63, 95, 107, 111, 113, 115 f., 126, 140 f., 157, 173, 179, 184 ff., 199, 207, 211 f., 216, 219 Wahrnehmbarkeit/Wahrnehmbares 25, 37, 41, 58, 60 f., 62, 65, 66 Wayback siehe Internetarchiv Wesen der Offenkundigkeit 53, 56, 76 f., 101, 131, 199, 208, 214 f., 220 Wetter 1, 2, 64 ff., 85, 123 ff. Wikipedia 23, 31, 36 ff, 78, 92 ff. Zeitung 49, 60, 74, 77, 89, 92, 177, 200, 212 Zeugenbeweis 13, 24 f., 41, 112, 117, 183 ff., 207 Zeugenwissen siehe privates Wissen Zitierung von Internetseiten 37, 92, 112 f., 182 Zufallsfunde 175 ff., 191, 206 f., 219 (Allgemeine) Zugänglichkeit 2, 6, 38, 58 ff., 87 ff., 101, 108 ff., 209, 214 ff. Zuverlässigkeit 2, 6, 38, 57 ff., 90 ff., 101, 113 ff., 209, 214 ff. Zweck –– des § 291 ZPO 138 ff. –– des Zivilprozesses 139 ff.