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German Pages [365] Year 2013
Paul Natorp
Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode „Der Seele Grenzen kannst du im Gehen nicht ausfindig machen, und ob du jegliche Straße abschrittest; so tiefen Sinn hat sie.“ Heraklit, Fr. 45 (Diels/Kranz).
Erstes Buch Objekt und Methode der Psychologie Herausgegeben, kommentiert und mit einer Einleitung versehen von Sebastian Luft
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ISBN 978-3-534-25098-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72952-4 eBook (epub): 978-3-534-72953-1
Inhalt Einleitung des Herausgebers ............................................................. xi Vorwort ............................................................................................ 1 Erstes Kapitel. Geschichtliche Orientierung über das Problem der Psychologie .................................................................................................... 5 §1. Absicht der geschichtlichen Orientierung. S. 5 – § 2. Der naive Monismus. S. 6 – § 3. Die Naturphilosophen und Aristoteles. S. 7 – § 4. Naturalistische Psychologie der Neuzeit. S. 9 – §5. Das Problem der Psychologie als das der Subjektivität. S. 10 – § 6. Entdeckung des Psychischen als des Subjektiven. Protagoras. S. 11 – §7. Erste Ansätze zur positiven Charakteristik der Bewusstheit. S. 13 – §8. Die Neuplatoniker; Augustin. S. 14 – § 9. Descartes und seine nächsten Nachfolger. S. 15 – § 10. Die Psychologie des Sensualismus. S. 17 – §11. Moderne Psychologie. Th. Lipps. S. 18 – § 12. Plato und Kant. Psychologie nach kritischer Methode. S. 20. Zweites Kapitel. Das Bewusstsein, die Bewusstheit und das Ich ............ 25 §1. Das Bewusstsein als Problem. S. 25 – §2. Momente der Bewusstseinstatsache. S. 26 – § 3. Die Bewusstheit ein unreduzierbar Letztes. S. 29 – § 4. Das Ich nicht Gegenstand. S. 30 – § 5. Das Ich nicht Problem der Psychologie, aber Problemgrund. S. 33 – § 6. Der Inhalt allein Problem. Auseinandersetzung mit Husserl. S. 34 – § 7. Das Ich als Unmittelbares, höchst Konkretes. S. 38. Drittes Kapitel. „Tätigkeiten“ des Bewusstseins .................................. 41 §1. Der Bewusstseinsinhalt alleiniges Problem der Psychologie. S. 41 – §2. Die Annahme von Tätigkeiten des Bewusstseins. S. 41 – § 3. Die Täuschung in der Annahme der Bewusstseinstätigkeiten. S. 44 – §4. Weiteres inbetreff der „Tätigkeiten“. S. 45 – §5. Haltbarer Sinn der „Tätigkeiten“: Art der Einfügung in die Bewusstseinseinheit. S. 46 – §6. Bestätigung der These für die sinnlichen Elementarinhalte. S. 47 – § 7. Bestätigung für Inhaltsverbindungen. S. 49 – §8. Gefühl und Streben. S. 49 – §9. Präsentatives und repräsentatives Bewusstsein. S. 51 – §10. Verhältnis von Präsentation und Repräsentation. S. 52 – §11. Genauerer Sinn der „Verbindung“ im Bewusstsein. S. 56.
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Inhalt
Viertes Kapitel. Subjektivität als Subjektivierung ................................. 59 §1. Gefahr einer Logisierung der Psychologie. S. 59 – § 2. Die Aufgabe [ix] einer radikalen Begründung des Verhältnisses des Subjek|tiven und Objektiven. S. 60 – §3. Die Aufhebung des starren Gegensatzes des Objektiven und Subjektiven. S. 63 – §4. Relativierung der Begriffe des Subjektiven und Objektiven. S. 65 – §5. Korrelativität der Prozesse der Objektivierung und der Subjektivierung. S. 67. – A. Form und Materie. – §6. Relativität des Gegensatzes von Gesetz und Einzelnem. S. 69 – §7. Durchführung nach den kategorialen Grundbestimmungen. S. 71 – § 8. Vertiefung des Gegensatzes des Objektiven und Subjektiven durch die Relativierung des Gegensatzes des Allgemeinen und Einzelnen. S. 72 – §9. Folgerungen. S. 74. – B. Bestimmung und zu Bestimmendes. – §10. Das Psychische nicht das Unbestimmte, sondern das in sich allseitig Bestimmte. S. 76 – § 11. Das Psychische als Potenz der Bestimmung. S. 78. – C. Repräsentation und Präsentes. – § 12. Das Unmittelbare als das Präsente, S. 79 – § 13. Relativierung des Gegensatzes des Repräsentativen und des Präsenten. S. 81. – D. Sein und Erscheinung. – § 14. Relativierung der Begriffe des Erscheinens und des Seins. S. 83. Fünftes Kapitel. Psychologie nicht Objektivierung ............................... 87 §1. Negative Folgerung hinsichtlich des Verfahrens der Psychologie. S. 87 – § 2. Konkrete Objektwissenschaften und reine Gesetzeswissenschaften. S. 88 – § 3. Annäherung der modernen Psychologie an eine Erforschung der reinen Subjektivität. S. 91 – § 4. Die Aussage als Vertretung des Subjektiven. S. 92 – §5. Die Aussage als Objektivierung. S. 94 – §6. Vorurteil und Meinung. S. 95 – §7. Das Verfahren der bisherigen Psychologie objektivierend, nicht subjektivierend. S. 97 – §8. Das Subjektive nicht ein Gebiet von Erscheinungen, sondern das Erscheinende überhaupt und als solches. S. 99 – §9. Koinzidenz des Subjektiven und Objektiven im Begriff „Erscheinung“. S. 101 – §10. Korrelativität des Subjekts- und Objektsbezugs. S. 103 – §11. „Psychisches“ und „Physisches“. S. 105 – § 12. Das „Physische“ immer auch „psychisch“. S. 106 – § 13. Das Psychische stets physisch zu repräsentieren. S. 108 – §14. Identität des letzten Physischen und Psychischen im sinnlichen Bewusstsein. S. 110 – §15. Sinnlichkeit und Denken. S. 111 – §16. Die Vielheit der subjektiven Darstellungen und der Stufengang der Objektivierung. S. 113 – § 17. Erweiterung des Korrelativitätsstandpunkts auf die Gebiete des Willens, der Kunstgestaltung und der Religion. S. 116. Sechstes Kapitel. Die Korrelativität der Subjekts- und Objektsbeziehung. Historischer Rückblick .................................................................... 121 §1. Der Grundgedanke der Korrelativität der Subjekts- und Objektsbeziehung. S. 121 – §2. Nähere Bestimmung des Korrelativitätsprinzips.
Inhalt
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S. 122 – § 3. Die Konkretheit des Erlebnisses als Resultat der Wechselbezüglichkeit. S. 125 – § 4. Die Eleaten und Protagoras. S. 126 – § 5. Plato. S. 128 – § 6. Descartes. S. 129 – § 7. Spinoza, Malebranche, Leibniz. S. 130 – §8. Der moderne Sensualismus und Positivismus. S. 133 – § 9. Kants Auflösung des Dualismus. S. 137 – §10. Durchführung des Monismus auf Kantischer Grundlage. S. 139 – § 11. Ergebnis und weitere Aufgabe. S. 141. | [x] Siebentes Kapitel. Die Einheit der objektivierenden Erkenntnis .......... 143 §1. Objektivierung = Gesetzeserkenntnis. S. 143 – §2. Psychologie als Deskription. S. 143 – §3. Tatsachenerkenntnis abhängig von Gesetzeserkenntnis. S. 145 – §4. Die Zeit- und Raumbestimmung der Tatsache. S. 147 – §5. Bestätigung. S. 150 – §6. Weiteres über die Einheit der Zeit- und Raumordnung. S. 151 – § 7. Gemeinsamkeit der Zeit-RaumWelt. S. 152 – §8. Vermeintliche Unräumlichkeit des Psychischen als des innerlich Wahrgenommenen. S. 154 – §9. Raumwahrnehmung notwendig bezogen auf den einen, objektiven Raum. S. 155 – § 10. Auch das Subjekt der Raumwahrnehmung im objektiven Raum. S. 156 – § 11. Schlussfolgerung. S. 157 – §12. Verallgemeinerung des Schlusses auf alles sinnliche Bewusstsein. S. 158 – § 13. Indirekter Raumbezug des Nichtsinnlichen im Bewusstsein. S. 160 – §14. Vermeintliche Unabhängigkeit, des Psychischen vom Kausalzusammenhang der Natur. S. 160 – § 15. Die Unerklärbarkeit des Psychischen aus dem Physischen. S. 162 – § 16. Das Erkenntnisgesetz des Exakten. S. 164 – §17. Inexaktheit des Sinnlichen als solchen, S. 165 – §18. Unterschied und Gleichartigkeit des Verhaltens in Hinsicht der Quantität und der Qualität der Erscheinungen. S. 167 – § 19. Die sinnliche Qualität nicht Eröffnung einer Eigenwelt des Psychischen. S. 169 – §20. Naturwissenschaftliche und rekonstruktive Psychologie. S. 172. Achtes Kapitel. Die Methode der Rekonstruktion .............................. 175 §1. Unzulänglichkeit der Auffassung der Psychologie als „Beschreibung“. S. 175 – § 2. Grundgedanke der „Rekonstruktion“ des Unmittelbaren im Bewusstsein. S. 176 – § 3. Wieso die Rekonstruktion eine Aufgabe ist. S. 178 – § 4. Genauerer Sinn der Rekonstruktion. S. 179 – § 5. Weitere Ausdehnung des Bereiches der Rekonstruktion. S. 181 – § 6. Objektivierung selbst als Problem der rekonstruktiven Psychologie. S. 182 – § 7. Objektiver und subjektiver Sinn der „Begründung“. S. 184 – § 8. Der Schein des Subjektivismus. S. 185 – §9. Auflösung des Scheines des Subjektivismus. S. 188 – §10. Der Schein des Subjektivismus bei Kant. S. 190 – §11. Endgültige Überwindung des Subjektivismus. S. 191 – §12. Korrelativität der Methoden der Objektivierung und der Subjektivierung. S. 193 – § 13. Nochmaliger Rückblick auf Kant. S. 195.
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Inhalt
Neuntes Kapitel. Beantwortung von Einwänden ................................. 197 § l. Haupteinwände gegen die Idee der rekonstruktiven Psychologie. S. 197 – § 2. Beantwortung des ersten Einwands. S. 199 – § 3. Beantwortung des zweiten Einwands. S. 200 – § 4. Auflösung des dritten Einwands. S. 202 – §5. Grund des Einwands. Letzte Einheit des Objektiven und Subjektiven. S. 203 – §6. Auflösung des vierten Einwands. S. 205 – §7. Nochmals die ideale Einheit des Objektiven und Subjektiven. S. 207 – §8. Zeitlichkeit [xi] und Überzeitlichkeit des Bewusstseins. S. 209. | Zehntes Kapitel. Die Disposition der Psychologie .............................. 211 §1. Die Aufgabe der Disposition der Psychologie. S. 211 – §2. Der Begriff der Potenz als disponierender Grundbegriff der Psychologie. Die untere Grenze des Bewusstseins. S. 213 – § 3. Bewusstseinsstufen und Bewusstseinsrichtungen. S. 215 – § 4. Seins- und Sollensbezug auf den drei Hauptstufen des Bewusstseins. S. 217 – §5. Obere Grenze des Bewusstseins. S. 219 – § 6. Allgemeine Beschreibung der Bewusstseinsarten – Phänomenologie des Bewusstseins – als erste Provinz der Psychologie. S. 220 – §7. Die Stufenfolge der Erlebniseinheiten, als zweite Hauptaufgabe der Psychologie. S. 222 – § 8. Das Gemein-Ich. Obere und untere Grenze auch der Erlebniseinheit. S. 225 – §9. Probe auf die Vollständigkeit der Einteilung. Ontische und genetische Betrachtung. S. 227 – § 10. Psychologische Betrachtung nicht als solche zeitlich. S. 229 – § 11. Die zeitliche Disposition der Erlebnisse sekundäres Problem. S. 231 – §12. Günstiger Schein der zeitlich-genetischen Betrachtungsweise. S. 233 – § 13. Grundfehler in der Annahme psychischer Kräfte. S. 234 – § 14. Der gleiche Fehler in der Annahme psychischer „Vorgänge“. S. 236 – § 15. Zurückführung der zeitlichen Auseinanderlegung auf die ursprüngliche Kontinuität des Bewusstseins. Ergebnis für die Disposition der Psychologie. S. 237. Elftes Kapitel. Kritische Übersicht über sonstige Theorien: Wundt, Lipps, Husserl, Dilthey ............................................................................. 241 I. W. Wundt. – § 1. Wundts scheinbare Wendung zum Monismus. S. 241 – § 2. Der Dualismus nicht überwunden. S. 243 – § 3. Die Methode der Psychologie nicht wesentlich verschieden von der der Naturwissenschaften. S. 245 – § 4. Die psychische Kausalität. S. 246. – II. Th. Lipps. – § 5. Lipps ursprünglicher Standpunkt. S. 248 – § 6. Schwierigkeit dieses Standpunkts. S. 249 – §7. Ankündigung eines veränderten Standpunkts im „Leitfaden“ von 1903. S. 251 – §8. Die 2. und 3. Auflage des Leitfadens. S. 252 – §9. Kritik. S. 254 – § 10. Näherung zu unserem Standpunkt in der Abhandlung „Inhalt und Gegenstand“. S. 255. – III. E. Husserl. – § 11. Subjektivität und Objektivität nach Husserls „Logischen Untersuchungen“. S. 257 – § 12. Wesentliche Verschiedenheit meiner Auffassung von der Husserls. S. 259 – §13. Ergebnis der Vergleichung. S. 263 – §14. Husserls neuer
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Standpunkt. S. 264. – IV. W. Dilthey. – § 15. Diltheys „beschreibende und zergliedernde“ Psychologie. S. 267. Zwölftes Kapitel. Kritische Übersicht über sonstige Theorien: Münsterberg, Bergson ......................................................................................... 271 V. H. Münsterberg. – § 1. Grundanlage der Psychologie Münsterbergs. S. 271 – §2. Begriff des Psychischen als des „Nichtidentifizierbaren“. S. 273 – § 3. Übereinstimmungen in Münsterbergs und unserer Auffassung des Psychischen. S. 274 – §4. Verhältnis des Psychischen zu Zeit, Raum und Messbarkeit. S. 276 – §5. „Indirekte Beschreibung“ des Psychischen. S. 279 – § 6. Indirekte Erklärung; Ablehnung psychischer Kausalität. S. 280. – VI. H. Berg|son. – § 7. Bergsons „Unmittelbare Gegebenheiten“; [xii] seine Kritik der Psychophysik. S. 283 – §8. Analogie mit meiner Auffassung des Psychischen als des „Unmittelbaren“. S. 285 – § 9. Bergsons Ablehnung des Mechanismus. S. 286 – §10. Das Problem der Freiheit. S. 289 – §11. „Materie und Gedächtnis“. Wahrnehmung und Vorstellung und ihre Beziehung zur Aktivität. S. 290 – §12. Gedächtnis und Erinnerung. S. 292 – §13. Monistische Konsequenz. S. 293 – §14. Die Kritik von V. Delbos. S. 295 – § 15. Die „Einleitung in die Metaphysik“. Ohnmacht des Begriffs. S. 297 – § 16. Die Umkehrung der Wissenschaft und die Integration. S. 299 – §17. Kritik. Statik und Dynamik. S. 302 – §18. Ergebnis. S. 303. Literaturverzeichnis ........................................................................ 305 Register ......................................................................................... 309
Einleitung des Herausgebers Vorliegender Band bringt die 1912 erschienene und seitdem nie wieder offiziell1 aufgelegte Schrift Paul Natorps, Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode (im Folgenden AP2), wieder zum Abdruck. Die vorliegende Einleitung ist eine generelle Einführung in Natorp: in sein Werk im Allgemeinen, in die vorliegende Schrift im Besonderen. Weiterhin wird die Bedeutung der AP sowohl im Rahmen des Natorp’schen Oeuvres als auch für die philosophische Szene ihrer Zeit dargestellt. Zum Schluss folgen ein paar Überlegungen zu den bleibenden Leistungen der vorliegenden Schrift.
1. Paul Natorp – ein Public Intellectual und sein Werk Wer war Paul Natorp (1854–1924)? Es ist für den heutigen Leser wahrscheinlich vollkommen verblüffend, wenn man darauf hinweist, dass Natorp vor einem Jahrhundert zu den herausragenden Intellektuellen Deutschlands gehörte; dass er – abgesehen davon, dass er ein weithin, auch international, bekannter Professor für Philosophie und Pädagogik und namhafter Vertreter des Neukantianismus der Marburger Schule war – auch ein wahrer öffentlicher Gelehrter war, jemand also, dessen Werk nicht in der Welt des philosophischen Elfenbeinturms verbleibt. Letzter Aspekt wird zumeist unterschlagen, wenn man ihn ausschließlich zur Marburger Schule und der deutschen Universitätslandschaft, zumal ihrer Wilhelminischen Ära, zählt, – einer Ära, die wir wähnen, weit hinter uns gelassen zu haben. Zwar ist – um hier anzusetzen – das Klischee des mit preußischen Tugenden ausgestatteten, trockenen Universitätsprofessors nicht ganz von der Hand zu weisen, und Natorps Ruf beruhte sicherlich weder auf einer begeisternden Persönlichkeit, noch verbrachte er viel Zeit auf zelebrierten Vortragsreisen, um seine Gedanken zu verbreiten. Das leicht entzündbare, aber charismatische Temperament seines Mitstreiters in Marburg, Hermann Cohen (1842–1918), war ihm fremd, und im Vergleich zum ständig herumreisenden Cohen, den die Kleinstadtatmosphäre Marburgs zu ersticken drohte, blieb Natorp lieber in eben dieser kleinen Universitätsstadt (von Gadamer 1
Ein unautorisierter Nachdruck existiert bei E.J. Bonset, Amsterdam 1965. Einfache Zitate in Klammern im Haupttext beziehen sich auf die AP in der neuen Paginierung. Die alte Paginierung ist am Seitenrand einsehbar. 2
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im Rückblick liebevoll als „kleine Weltstadt des Geistes“ bezeichnet) und arbeitete im Stillen. Die Rolle des äußerlich stoischen, aber leidenschaftlich arbeitenden Hochschullehrers hielt ihn jedoch nicht davon ab, öffentlich Stellung zu beziehen zu verschiedenen Themen und zu allerlei Fragen des Lebens, nicht nur universitären oder intellektuellen, und das durchaus auf kontroverse Weise3. Seine in Pamphlets und Zeitungen veröffentlichten zahlreichen Stellungnahmen betreffen etwa das Bildungswesen, hier vor allem die Frage nach der Reform und Umwandlung der dreistufigen Sekundarschulen in Gesamtschulen (welche er befürwortete), verschiedene Aspekte der Soziologie (Sozialpädagogik und „Sozialidealismus“) und die Innen- wie Außenpolitik des Deutschen Reiches. Schließlich äußerten sich seine Meinungen auch in den – unbestreitbar ärgerlichen – „Kriegsschriften“ während und nach dem ersten Weltkrieg, auch wenn Natorps Einlassungen fern von der ansonsten üblichen Kriegstreiberei seiner auch philosophierenden Zeitgenossen war4. Dass Natorp trotz des äußeren Erscheinungsbildes nicht in seiner Rolle als trockener Gelehrter aufgeht, zeigt sich schließlich in seinem erstaunlich umfangreichen Oeuvre als Komponist heiterer wie düsterer Klavierund Gesangskompositionen im Stile der Romantik5. Dennoch ist Natorp in erster Linie als Vertreter der Philosophie der „Marburger Schule“ – der neben der „südwestdeutschen“ Schule bekanntesten Gruppierung des Neukantianismus in Deutschland – in Erinnerung geblieben. Wenden wir uns also seinem philosophischen Werk zu, dessen Eigenleistung aber ohne Natorps institutionelle Einbettung nicht verständlich wird. So sind zunächst einige institutionspolitische Worte zur sogenannten „Marburger Schule“ angebracht. Natorp und Hermann Cohen stehen für die Eckpfeiler dieser Schule. Um was für eine Philosophie bzw. um was für eine Schule handelt es sich hierbei? Die Marburger Schule ist – neben der Südwestdeutschen oder Badener Schule – als eine der zwei Hauptrichtungen des Neukantianismus in die Geschichte eingegangen. Der Neukantianismus im Allgemeinen kann als die weithin verzweigte Bemühung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesehen werden, zu Kant zurückzukehren 3 Eine umfassende Darstellung von Natorps Wirken gibt Paul Jegelka, Paul Natorp. Zur Geschichte der Marburger Schule s. auch die bisher unübertroffene historische Darstellung von Ulrich Sieg, Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. 4 Eine vollständige Bibliographie von allen Druckschriften Natorps gibt es nicht. S. die Bibliographien bei Paul Jegelka, Paul Natorp, S. 352–356, und Alan Kim, „Paul Natorp“. Zu Natorps Kriegsschriften, auch im Vergleich zu denen seiner Zeitgenossen, vgl. S. Luft, „Germany’s Metaphysical War“. 5 Natorp erwog sogar zeitweise Komponist zu werden und schickte einige seiner Kompositionen an Johannes Brahms, der ihm jedoch hiervon lebhaft abriet. Ich verdanke diese Information Prof. Dr. Jürgen Stolzenberg.
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und seine Philosophie wiederzubeleben. Innerhalb dieser allgemeinen Tendenz ist die Marburger Schule um Cohen und Natorp die geschlossenste und einheitlichste Schulbildung, die sich in dieser Phase der europäischen Philosophie gebildet hat. Die Marburger Schule hat damit, als wahrhaft zu nennende Schule, das klarste philosophische Profil aller durchaus diversen Bemühungen, „zu Kant zurückzugehen“. Obwohl es zahlreiche „Satelliten“ dieser Schule gab – am Bekanntesten etwa Ernst Cassirer –, bestand sie doch im Wesentlichen aus Cohen und Natorp mit ihrem Schülerkreis in Deutschland und aus dem Ausland6. Innerhalb der „imperialen Stellung“ (Habermas), die der Neukantianismus in Deutschland genoss, stand die Marburger Schule aufgrund ihrer thematischen und systematischen Einheitlichkeit an oberster Stelle und wurde somit Vorbild für andere Bewegungen. Ihre institutionspolitische Bedeutung und Macht kann nicht hoch genug geschätzt werden, auch wenn sich Cohen und Natorp als im ständigen Kampf gegen ihnen widrig gesinnte Kräfte aller Couleur empfanden. So kämpfte Cohen z.B. gegen den weitverbreiteten Antisemitismus, der auch vor dem Innenleben deutscher Universitäten nicht Halt machte. Gerade deshalb galt die Geschlossenheit der Schule über alles: Der junge Martin Heidegger, aus der Schule von Husserls Phänomenologie kommend, wusste, warum er, als er 1923 nach Marburg ging, einen „Stoßtrupp“7 eigener Schüler mitnahm. Natorp stand lange im Schatten des unbestrittenen, jedoch streitbaren „Schuloberhaupts“ Cohen, der jedoch schon 1912 die hessische Kleinstadt verließ, um in Berlin zu leben und zu wirken8. Dennoch war trotz Cohens Weggang die „Marburger Schule“ weiterhin ein klar identifizierbarer Name. Die Organisation als „Schule“ mit einem inhaltlich definierten philosophischen „Kern“ – in diesem Fall einer Methode, die von den Schülern weitergetragen und Anwendung erfahren sollte – ist paradigmatisch für spätere diverse „Schulen“ oder „Bewegungen“ geworden. Zum Beispiel hat sich in ähnlicher Weise auch die „Phänomenologische Bewegung“ organisiert – zumindest nach der Vorstellung Husserls –, bis hin zu anderen ähnlich organisierten Schulen wie etwa (nach dem Zweiten Weltkrieg) die „Erlanger Schule“ um Lorenzen und Kamlah oder die „Heidelberger 6 Zu den aus der Marburger Schule hervorgegangenen Intellektuellen gehören neben Ernst Cassirer weiterhin Hans-Georg Gadamer, Dimitry Gawronsky; die bekanntesten aus dem Ausland stammenden Schüler sind der Spanier José Ortega y Gasset, der Niederländer H.J. Pos und der Russe Boris Pasternak. 7 So im Brief an Jaspers vom 14. Juli 1923 (Heidegger-Jaspers Briefwechsel, S. 41). 8 Cohen wirkte in Berlin an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, wo er sich v.a. religionsphilosophischen Fragen zuwendete und dort nochmals einen eigenen Schülerkreis um sich scharte, dem u.a. Martin Buber und Franz Rosenzweig angehörten.
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Schule“ um Henrich und Tugendhat. Solche und ähnliche Bemühungen um Schulbildungen, ungeachtet aller philosophischen Binnendifferenzen, kann man mit Fug und Recht als Anlehnungen an die Marburger Schule ansehen, sowohl in Form als auch in Organisation. Der (nicht rein) philosophische Schulterschluss zwischen Cohen und Natorp war jedoch ein delikater. Obwohl in den philosophischen Kernpunkten mit Cohen einig, war Natorp doch ein eigenständiger Kopf und in mindestens drei Hinsichten philosophisch breiter als Cohen. Erstens war Natorp ausgebildeter klassischer Philologe, der sich in der griechischen Philosophie ausgezeichnet auskannte und überhaupt über eine beeindruckende philosophiehistorische Kenntnis verfügte. In dieser Funktion publizierte er Studien über Platon, Descartes und andere Figuren der westlichen Philosophie, die auch heute noch – vor allem im Falle Platons – zum Standardrepertoire der Forschung gehören; es war auch auf diesem Gebiet, worin sich Natorp als erstes einen Namen als Forscher und Gelehrter machte. Zweitens musste sich Natorp aufgrund der Zuweisung seiner Professur, die neben der Philosophie auch die Pädagogik abdeckte, in letztere einarbeiten und beschäftigte sich in dieser Kapazität vor allem mit dem Reformpädagogen Pestalozzi. Sein Interesse an universitäts- und schulpolitischen Fragen rührt daher. Drittens hatte Natorp ein besonderes Interesse für Psychologie, wie aus dem vorliegenden Buch hervorgeht. In diesem Gebiet lag Natorps besondere Originalität. Die Frage einer Psychologie ist insofern eine Abweichung von Cohen, als dieser eine Psychologie im Rahmen der Philosophie – die natürlich in gut neukantianischer Manier Transzendentalphilosophie sein musste – nicht nur für problematisch hielt, sondern, ständig eine Einlassung auf den Psychologismus vermutend, heftig gegen sie wetterte. Freilich vertritt auch Natorp alles andere als einen Psychologismus, aber während es für Cohen keine Alternative zu einer psychologistischen – also reduktiven und damit zum Skeptizismus führenden – Betrachtung des Bewusstseinslebens gab, sah Natorp eine Chance für eine neuartige Psychologie „nach kritischer Methode“, also im Rahmen des Kantianismus der Marburger Schule. Natorp war sich bewusst, dass er hierin mit Cohen uneins war; die schulpolitische Zusammenarbeit jedoch übertrumpfte einen öffentlich ausgetragenen Dissens, und Natorp war klug genug, den äußerlichen Frieden zu wahren. Die eigentliche Provokation, die von Natorps AP ausging, wurde ironischer Weise von ihrem Autor selbst heruntergespielt. Abgesehen von dieser Abweichung von der Hauptlinie der Marburger Schule war Natorp über alle Maßen linientreu: Parallel zu den Schriften zur Psychologie, die Natorp seit seinen Anfängen in Marburg verfasste, veröffentlichte er zu den Kernthemen der Marburger Schule – zu dem, was man heute als Wissenschaftstheorie bezeichnen würde –, sowie zur Logik anderer Kulturgestalten, etwa Ästhetik und Religionsphilosophie. Das theoretische
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Hauptwerk in dieser Hinsicht ist seine Schrift Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften (1910, 2. Aufl. 1921), die Cohens wissenschaftslogisches Programm einlöst, aber der aktuellen Wissenschaftsentwicklung seiner Zeit ungleich näher als Cohen selbst stand9. In seiner Schriftkomposition klarer und weniger ausschweifend als Cohen, war Natorp damit in besonderer Weise für die Breitenwirkung der Philosophie der Marburger Schule verantwortlich. Diese Tätigkeit als Popularisierer kommt vorläufig im Jahre 1911 zum Abschluss, als Natorp die kleine Schrift Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme veröffentlicht. Sie ist die einzige richtige Programmschrift des gesamten Neukantianismus10. Die Zeit zwischen 1900 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist die Blütezeit der Marburger Schule. Die Allgemeine Psychologie, die 1912 folgt und eigentlich „nur“ eine Neuauflage des kurzen Büchleins Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode von 1888 sein sollte, wächst aber im Vergleich zu dieser früheren Schrift auf über das Dreifache an und bildet, zumindest nach dem im Vorwort angekündigten Programm von 1912, ein neues, mehrere Bände umfassendes Projekt, von dem die AP lediglich der erste, einführende Band ist. Während Natorp im Kontext der Schule mit Cohen Schulter an Schulter steht, reift hier ein neues Interesse heran, dem Natorp im letzten Jahrzehnt seines Lebens zunehmend Zeit und Denkenergie widmet; ein Projekt, welches ihn über das, was traditionell den Namen „Psychologie“ trägt, weit hinausführt, wie unten (4. & 5.) diskutiert wird. Obwohl Natorp es im Blick auf die Schulgemeinschaft wohl nie zugegeben hätte, hat nicht zuletzt auch Cohens Weggang aus Marburg 1912 dazu beigetragen, ihn philosophisch freier atmen zu lassen. So traut sich Natorp etwa, seine Gedanken öffentlich in seinen Vorlesungen vorzutragen, und er diskutiert sie auch offenbar in seinen letzten Lebensjahren mit dem der Marburger Schule kritisch gegenüberstehenden Martin Heidegger. Zu der von ihrem Autor selbst angekündigten Ausführung dieses Programms einer kritischen Psychologie kommt es allerdings nicht. Was als Neubeginn eines neuen Projekts gedacht war, entpuppt sich in Wahrheit als ein Anhieb zu Natorps Spätphilosophie, die zu neuen Ufern aufbricht und die mitunter als Abschied vom Neukantianismus im Stile der Marburger Schule angesehen wird. Entgegen ihrer Präsentation, als Beginn eines neuen Projekts, ist die AP in Wahrheit also das Werk eines Übergangs. 9
Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften ansehen wurden jedoch von anderen wissenschaftslogischen Schriften Natorps und von Cassirers Substanzbegriff und Funktionsbegriff von 1910, was explizit in der wissenschaftstheoretischen Tradition der Marburger Schule stand, überschattet. 10 Vgl. hierzu die kundige und umsichtige Einleitung des Herausgebers der Neuauflage von 2008, Karl-Heinz Lembeck.
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Dieser Einschätzung der Natorp’schen Spätphilosophie als Abschieds vom Kantianismus, der sich im Nachlassmanuskript Allgemeine Logik sowie in den beiden Werken Vorlesungen über praktische Philosophie (1925) und Philosophische Systematik (von 1923, posthum 1954 erschienen) manifestiert, ist grundsätzlich zuzustimmen. Die systematische Position, die Natorps Spätwerk einnimmt, ist schwer zu bestimmen; ein Standpunkt im Rahmen des Kantianismus ist es sicher nicht, insofern sich Natorp über die Kantische Grundbestimmung der Transzendentalphilosophie, nicht über die Grenzen möglicher Erfahrung hinauszugehen, hinwegsetzt. Natorps Denkweg beginnt mit dem nüchternen Projekt der Rechtfertigung – ganz in Einklang mit Cohen – der exakten Wissenschaften und endet in einer Form von Mystizismus, der das „ewige Ja“11 zum Sein zelebriert. Es ist jedoch ein Denkweg, der in einer erstaunlich konsequenten Weise und stets in nüchterner Selbstrechtfertigung und transparenter Selbstkritik seitens eines Denkers auf höchstem Niveau seines Könnens erfolgt. Gehen wir im Folgenden auf die Philosophie der Marburger Schule und das Natorp’sche Projekt einer Psychologie „nach kritischer Methode“ im Rahmen dieser Schule ein.
2. Die Philosophie der Marburger Schule: die transzendentale Methode Die Marburger Neukantianer Cohen und Natorp fassten die von ihnen vertretene Anknüpfung an Kant – eine Anknüpfung, die immer in erster Linie dem Geiste, nicht dem Buchstaben Kants folgen sollte – stets in zwei eng zueinander gehörenden Aspekten auf: erstens im Sinne der Methode und zweitens als besondere Form des von Kant inaugurierten transzendentalen Idealismus. Um was für eine Methode handelt es sich und wie hängen beide Aspekte, Methode und Idealismus, systematisch zusammen? Das am deutlichsten identifizierbare Kernelement der Marburger Schule ist die Methode, welche Cohen und Natorp in Anlehnung an Kant die „transzendentale Methode“ nennen. Auch wenn Kants Philosophie zweifellos transzendental zu nennen ist und er seine Vernunftkritik auch als „Traktat über die Methode“ bezeichnet, findet sich die Formulierung „transzendentale Methode“ nicht bei Kant, und in der Tat meinen die Marburger hiermit etwas Spezifischeres als das, was bei Kant selbst eine transzendentale Methode zu nennen wäre. Fassen wir zuerst in aller Knappheit Kants Grundidee zusammen und wenden uns dann der Marburger Interpretation derselben zu.
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Vgl. Philosophische Systematik, S. 1–10, insbes. S. 5–7.
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Kants Vernunftkritik kann als die Überwindung der gegensätzlichen Grundpositionen des Empirismus und des Rationalismus angesehen werden. Kant erkennt im Prinzip die Vorzüge beider an, wenn er darauf besteht, dass alle Erkenntnis mit der Erfahrung anfängt, dass sie aber nicht mit ihr endet. Trotz unseres Zugangs zur Welt durch Erfahrung ist es uns dennoch möglich, Erkenntnis a priori von ihr zu haben. Daher rührt Kants Leitfrage, „wie ist synthetische Erkenntnis a priori möglich?“; es geht demnach nicht um die Frage, ob sie prinzipiell möglich ist, sondern darum, was sie ermöglicht. Solche Art von Erkenntnis ist nur möglich durch den mit der Kopernikanischen Wendung eingeführten transzendentalen Idealismus, der besagt, dass wir nur das von der Welt a priori erkennen, was wir selbst in sie legen. Dinge sind uns in der Erfahrung gegeben, aber sie sind uns immer gegeben durch unsere sinnlichen Anschauungsformen Raum und Zeit und gedacht mithilfe der auf sie als Erscheinungen bezogenen Kategorien der reinen Vernunft. Die synthetische Spontaneität des Verstandes verbindet das in der Sinnlichkeit Gegebene mit von Kategorien abgeleiteten Begriffen im Urteil. Das bedeutet also, Wahrheitsaussagen a priori sind – abgesehen von apriorischer Erkenntnis in der reinen Mathematik – möglich auch in Bezug auf Dinge, die uns in unserer Erfahrung gegeben sind. Damit durchschlägt Kant den Gordischen Knoten von Empirismus und Rationalismus: Dass wir von der Welt nur durch Erfahrung wissen, ist unzweifelhaft; aber damit dürfen wir unsere Erkenntnisweise von der Welt nicht auf empirische Erkenntnis reduzieren. Was wir von der Welt a priori wissen können, wissen wir kraft unserer Verstandesleistungen, die in uns als Vernunftwesen liegen und mit denen wir die Welt erkennen; aber solche Vernunfterkenntnis ist bezogen auf das in der Sinnlichkeit Gegebene, darüber hinaus ist keine Erfahrung und entsprechend auch keine Erkenntnis von über die Sinnlichkeit hinausgehenden Dingen möglich. In summa, der Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand ermöglicht uns eine rationale Erkenntnis dessen, was uns in der Erfahrung gegeben ist. Cohen setzt genau an dieser Stelle an: Was meint Kant mit „Erfahrung“? Doch sicher nicht die vorwissenschaftlich-lebensweltliche Erfahrung! In der Tat ist Cohens erstes bedeutende Werk betitelt Kants Theorie der Erfahrung (1871), das die These vertritt, dass Kant in seiner Vernunftkritik einen neuen Begriff von Erfahrung begründet hat. Die Erfahrung, von der Kant spricht, ist laut Cohen die Erfahrung des Naturwissenschaftlers, der im Sinne der von Newton kanonisierten modernen exakten Naturwissenschaft Mathematik auf das in der Natur Erfahrene anwendet. Entsprechend sind die Erfahrungsgegenstände des Naturwissenschaftlers nicht die Naturdinge (also Pflanzen, Lebewesen und sonstige Naturvorkommnisse), sondern die „Zahlen und Figuren“, die sie bestimmen und denen sie unterstehen. Diese „Gegenstände“ der Wissenschaft sind die wahren Dinge. Es gibt also keine rein sinnlich gegebenen Dinge, die später mit Begrifflichkeiten versehen würden, wenn sich der Wissenschaftler ans Werk macht. Die Erfahrung
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des Naturwissenschaftlers ist nie naiv und ohne Absichten, sondern sein Blick ist von vornherein geleitet von Hypothesen, Begrifflichkeiten, theoretischen Vorhaben. Damit ist für die Marburger jener missliche Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand, sinnlicher Rezeptivität und begrifflicher Spontaneität, überwunden, sofern es „Dinge“ für den Wissenschaftler nur insoweit überhaupt erst „gibt“, sofern sie begrifflich gefasst werden. Das begriffliche Fassen ist das, was Kant mit der Wendung, „was wir in die Dinge legen“, gemeint hat. Erfahrung im Vollsinne des Begriffs ist begrifflich, und das in der Erfahrung gegebene Ding ist das vom Wissenschaftler mithilfe von Begriffen konstruierte wissenschaftliche Faktum12. Diese Interpretation des Kantischen Begriffs der Erfahrung und die Konsequenzen für die Bedeutung der Vernunftkritik, gegen die später vor allem die Vertreter der Phänomenologie Sturm gelaufen sind, sind weitreichend. Diese Kritik muss sogleich genannt werden, denn man versteht dadurch die Stoßrichtung der Marburger Erkenntniskritik13. Der Hauptvorwurf dieser Interpretation der Kantischen Vernunftkritik war der einer Einengung der Kritik der Vernunft im Allgemeinen auf die in der modernen Naturwissenschaft zur Anwendung kommende Vernunft im Besonderen. In der Tat ist diese kritische Einschätzung insofern richtig, als die Rolle und das Schicksal der Philosophie von den Marburgern eng mit dem Fortschritt der modernen Wissenschaft verbunden angesehen werden. Diese Identifizierung von Vernunft- mit Wissenschaftskritik trug den Marburgern den Ruf ein, einen allzu eng an die Wissenschaften orientierten Vernunftbegriff zu haben, sowie überhaupt ein allzu restriktives Verständnis von Kritik. Von Kants weit reichender Vernunftkritik und der Neubegründung einer Metaphysik in den Grenzen der reinen Vernunft blieb damit nicht mehr viel übrig. Dieser Vorwurf war den Marburgern natürlich bekannt, und ihre Replik darauf war, dass dies der einzige Weg für die Philosophie war, den übermächtigen Naturwissenschaften beizukommen, auch wenn dies die Preisgabe einer Region oder einer Aufgabe sui generis für die Philosophie bedeutete. Es war eine Tatsache, mit dem man sich im Zeitalter des szientistischen Positivismus nolens volens zu arrangieren hatte, dass die Naturwissenschaften zum alles dominierenden Kulturfaktum geworden waren. Auch wenn man sich freilich eines naturwissenschaftlichen Reduktionismus zu wehren hatte – bzw. diese Abwehr zu einer Hauptaufgabe der Philosophie wurde –, war es 12
Hier trifft sich Cohen sowohl mit Hegel wie auch mit modernen Positionen, etwa der von John McDowell, vgl. hierzu Ursula Renz, „Von Marburg nach Pittsburgh“. 13 Es ist charakteristisch für Cohen und Natorp, dass sie den Begriff „Erkenntniskritik“ gegenüber dem der „Erkenntnistheorie“ bevorzugten; denn es geht nicht um eine (konstruktive) Theorie, wie Erkenntnis zustande kommt, sondern um eine (regressive) Kritik der bestehenden Erkenntnis.
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dennoch die vornehmliche Aufgabe der Philosophie, sich mit der Tätigkeit der modernen Wissenschaft auseinanderzusetzen. Es war eine Rolle, die sich die Philosophie nicht ausgesucht hatte, sondern in die sie gezwungen wurde, wenn man nicht wissenschaftliche Philosophie zugunsten von Mystizismus oder Weltanschauungsphilosophie aufgeben wollte oder, noch schlimmer, in den Klagegesang des „Untergangs des Abendlandes“ miteinstimmen wollte. Nur eine direkte Auseinandersetzung mit den Wissenschaften konnte die Philosophie vor ihrem vollkommenen Überflüssigwerden und einer vollständigen Nichtbeachtung seitens der Wissenschaft bewahren. So ist die Bindung der Marburger Schule an die Naturwissenschaften zu erklären, und obwohl Natorp ein getreuer Marburger war, ist es doch die Reduktion von Philosophie im weiten Verständnis auf Wissenschaftskritik und Wissenschaftstheorie, gegen die er mit seiner Psychologie in subtiler Weise angeht, ohne aus den Grenzen des Marburger Neukantianismus ausbrechen zu wollen. Die Aufgabe der Philosophie war für die Marburger also vor allem die Kritik der in der Wissenschaft – konkret, der exakten modernen Naturwissenschaft – zur Anwendung kommenden Vernunft. Sofern sich diese Position grundsätzlich im Rahmen des transzendentalen Idealismus hält, da ein direkter Zugang zu einem wie immer existierenden „Ding an sich“ abgelehnt wird, bevorzugen Cohen und Natorp den Titel „kritischer Idealismus“ (oder einfach nur „Kritizismus“), der die Rolle der Philosophie als Kritik der Wissenschaften betonen soll14. Entsprechend ist das „Faktum der Vernunft“ in der Marburger Schule das „Faktum der Wissenschaft“. Damit ist die Aufgabe der Philosophie als transzendentaler Idealismus im Sinne des kritischen Idealismus neu definiert: Die Erfahrung, von der auszugehen ist, ist ausschließlich die Erfahrung des Wissenschaftlers in der Weise, wie er oder sie die Natur „sieht“ z. B. in Experimenten und durch besondere Messinstrumente, etwa das Mikroskop oder das Fernrohr. Es ist dies das schroffe Gegenteil einer romantischen Naturerfahrung, – es ist die Natur, wie sie durch das Experiment in den „Zeugenstand“ gerufen und gezwungen wird, ihre Geheimnisse preiszugeben, wie bereits Kant das Geschäft der modernen Naturwissenschaften charakterisiert hatte. Was bei Kant aber nur ein Aspekt der Vernunftkritik war, wird in Marburg zu ihrer fast ausschließlichen Aufgabe. Die Frage, wie die die Philosophie aber nun in diesem Geschäft verfährt, führt schließlich zur transzendentalen Methode der Marburger Schule. Hier zeigt sich, dass der Unterschied zwischen der Tätigkeit des Wissenschaftlers und der des Philosophen nicht grundsätzlich verschieden ist. Während das 14 Die Begriffe „Kritizismus“ bzw. „kritischer Idealismus“ ersetzen damit den Begriff des transzendentalen Idealismus, analog zu „Erkenntniskritik“, die die Aufgabe der Erkenntnistheorie präzisiert; s. vorige Fußnote.
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„tägliche Brot“ des Wissenschaftlers die Sammlung von neuen Daten und Beobachtungen ist, also – wie man sagen könnte – die empirische Feldforschung, so findet der eigentliche Fortschritt der Wissenschaft im Denken statt, d.h. im Ausdenken von Gedankenexperimenten und den daraus folgenden logischen Schlüssen, im Falle der Falsifikation die Konstruktion neuer Versuchsanordnungen, im Falle der Verifikation der weitere Fortschritt zu neuen Hypothesen. So konnten die Marburger bekanntlich sagen, dass jede Gabe – also das in der Erfahrung Gegebene im Sinne ihres Verständnisses von Erfahrung – gleichzeitig Auf-Gabe ist für weitere Forschung. Oder – in den Worten Natorps – jedes factum ist ein fieri, ein Werden, so dass das Faktum der stets fortschreitenden Wissenschaft eigentlich ein „Werdefaktum“ ist (vgl. unten, S. 262). Gegenüber den psychischen Akten des Erdenkens neuer Hypothesen und des Ziehens neuer Schlüsse seitens kreativer Wissenschaftler besteht der eigentliche Fortschritt der Wissenschaft jedoch in ihrem „logischen“ Aufbau und dem „logischen“ Fortschritt im Sinne neuer aus diesen Vernunftschlüssen folgenden objektiven Erkenntnisse und der Weiterführung des „Logischen“ selbst im Wortsinne: der Bildung neuer Begriffe und des Aufsuchens neuer Theorien und Kategorien für das neu Entdeckte. So ist, um ein Beispiel zu nennen, das Modell des Atoms in der neueren Physik ein Beispiel für eine neue Kategorie im Rahmen der neuen Teilchenphysik, ein Modell mithin, zu dem es in der Wirklichkeit nichts Entsprechendes gibt: Das Atom ist ein hilfreiches Denkmodell, mehr nicht; ein solches noch dazu, welches seit Bohr tiefgreifende Umwandlungen erfahren hat, sich also, trotzdem es ein logisches Modell ist, im Fluss befindet. Das fixierte logische Konstrukt wird also im Zuge des Fortschritts der Wissenschaft wieder in den lebendigen Gedanken verflüssigt, wieder neu fixiert, um dann wieder erneut verflüssigt zu werden, usw. Dies ist der logische Fortschritt der Wissenschaft. Die eigentliche Arbeit in den Wissenschaften ist somit das Logische in diesem Sinne, und dieser logische Aufbau der Welt wird nicht in der Welt gefunden, sondern – im Sinne des transzendentalen Idealismus – in sie gelegt: er wird konstruiert. Erfahrung und das in ihr Gegebene sind konstruiert von der menschlichen Vernunft, und dies ist die Tätigkeit, die in der Wissenschaft immer schon im Gange ist und nicht erst motiviert werden muss vom Philosophen. Sofern die moderne Naturwissenschaft in diesem Sinne Begriffe und Theorien in die Natur legt, um sie „nach Begriffen zu buchstabieren“, praktiziert sie schon den transzendentalen Idealismus, ohne ihn jedoch als solchen zu durchschauen: Naturwissenschaftler sind keine Philosophen, und müssen es auch nicht sein, um ihre Arbeit zu tun. Das eigentliche Wesen ihres Tuns wird aber vom hierüber reflektierenden Philosophen aufgedeckt: Wissenschaftler sind zwar ihres Tuns unbewusst, doch in Wahrheit Transzendentalphilosophen; das ist die provokante These des Marburger Neukantianismus.
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Hier findet sich nun der arbeitsteilig der Philosophie angestammte Platz. Der Philosoph unterscheidet sich vom tätigen und seiner Sache hingegebenen Wissenschaftler darin, dass er die Tätigkeit des letzteren reflektiert und auf den Begriff bringt: Kants Vernunftkritik ist die erste, ihrer Aufgabe vollbewusste philosophische Artikulation und Rechtfertigung der modernen Naturwissenschaft. Der Philosoph rechtfertigt die Naturwissenschaft, sofern diese in ihrer Funktionsweise und in ihrem philosophischen Charakter erklärt wird, aber auch, insofern sie in ihre rechtmäßigen Grenzen gewiesen wird: ihr Anwendungsgebiet ist das in der Erfahrung Gegebene, darüber hinaus (über Gott, Freiheit oder Unsterblichkeit) darf sie nichts aussagen. Dies entspricht der von Kant so konzipierten – positiven wie negativen – Vernunftkritik, jedoch bei Cohen limitiert auf die in den Wissenschaften zur Anwendung kommende Vernunft. Während Gott, Freiheit und Unsterblichkeit bei Kant zu regulativen Ideen umgewandelt werden – also z.B. die Idee der Freiheit in der Begründung der Moralphilosophie unerlässlich ist –, beschränkt die Marburger Schule das Tätigkeitsgebiet der Wissenschaft auf das in der Erfahrung Gegebene, auch wenn zugestanden wird, dass die Erfahrung in der Naturwissenschaft nicht die einzige Art von Erfahrung ist, wohl aber die, worin die menschliche Vernunft das Höchste leistet, was sie zu leisten imstande ist. Ist Wissenschaft Konstruktion von Wissen, dann ist Philosophie die Nach-Konstruktion der Funktionsweise und der Logik dieser Konstruktion. Der Philosoph erklärt, nachkommend, die Logik der Forschung in der Weise, wie sie das Wissen von der Natur konstruiert. Der Philosoph arbeitet demnach im Tandem mit dem Wissenschaftler, sofern der Philosoph das in der Wissenschaft erarbeitete Faktum in seiner Entstehung und seinem logischen Aufbau erklärt und rechtfertigt. Transzendentalphilosophie muss immer vom als wahr akzeptierten Faktum der Wissenschaft den Ausgang nehmen, und dieses Faktum muss in seiner inneren Logik erklärt und gerechtfertigt werden. Der Philosoph geht in den vom Wissenschaftler zuerst gemachten Fußstapfen und rechtfertigt im erläuterten Sinn die Entstehung von Objektivität, die aus dem dynamischen Fluss des Bewusstseinsprozesses, dem eigentlichen Denken als Bewusstseinstätigkeit, geschaffen wird. Objektivität im Sinne von wissenschaftlich erarbeiteter Wahrheit ist somit der stillgestellte, im Begriff bzw. der Theorie kristallisierte Bewusstseinsstrom. Das Denken selbst ist im lebendigen Fluss des Theoretisierens, Schließens, Bildens von Hypothesen usw. begriffen und terminiert in Theorien und Termen – und verflüssigt sich darauf hin wieder, da der Erkenntnisprozess nie abgeschlossen ist. Jeder Fund ist Anstoß zu neuer Forschung15. Diesen Prozess des Terminierens in Begriffen und Theorien
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Freilich waren die Marburger keine Fallibilisten; die prinzipielle Möglichkeit
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darzustellen, ist nun die Aufgabe der transzendentalen Methode. Sie hat keinen ihr ureigenen Sachbereich, sondern ist an die Fakten und Ergebnisse gebunden, die die Wissenschaften liefern. Sie ist also keine „kreative“, „vorausspringende“ Logik, die ein neues Wissenschaftsgebiet erst erschließen würde16. Schließlich ist der Vollständigkeit halber zu ergänzen, dass sich Cohen zwar in erster Linie am Faktum der Wissenschaften im Rahmen der theoretischen Philosophie orientierte, er aber anerkannte, dass die menschliche Vernunft nicht nur aus reiner Vernunft besteht, sondern dass die Vernunft theoretische, praktische und ästhetische Applikation hat, anknüpfend an die kanonische Dreiteilung Kants. Dennoch aber ist in all diesen „Seinsweisen“ des Menschen der Ausgang von einem wissenschaftlichen Faktum zu nehmen, um den rationalen Kern dieser Tätigkeiten zu ermitteln. Das Faktum, wovon z. B. in der praktischen Vernunft der Ausgang zu nehmen ist, ist die Jurisprudenz; auf diese richtet sich sodann in analoger Weise die transzendentale Methode. Cohens Hauptorientierung ist die Wissenschaft – d.h. die logische Form und der logische Aufbau, die in jeder Kulturform anzutreffen ist –, so dass der Vorwurf des extremen „Logizismus“ der Marburger Schule berechtigt ist. Natorp bezog gegen Cohen keine offene Gegenstellung, doch dieser extreme Logizismus war ihm unangenehm. Die Psychologie nach kritischer Methode ist ein indirekter, aber beredter Beleg für diesem Befund. Wie passt nun Natorps Psychologie in die Marburger Schule; genauer, wie nimmt sich das Natorp’sche Projekt einer „allgemeinen Psychologie nach kritischer Methode“ im Rahmen der Marburger Schule aus?
3. Das philosophische Projekt einer „allgemeinen Psychologie nach kritischer Methode“ im Rahmen der Marburger Schule Die Methode der Marburger Schule ist – kann man zusammenfassend sagen – eine Methode der Rechtfertigung der in den Wissenschaften vor sich gehenden Objektivierung in der Art, wie sich aus „fliehenden Gedanken“ Theorien bilden, d.h. – um es mit Natorps Worten zu sagen – wie
der Falsifizierbarkeit aller wissenschaftlichen Theorien war von ihnen noch nicht erwogen, aber sie ist vom Standpunkt der Marburger Schule durchaus antizipierbar. 16 Diese Formen von Logik wurden in der Phänomenologie entwickelt, etwa in Husserls Konzeption einer transzendentalen Logik als Logik der transzendentalen Subjektivität oder Heideggers Idee einer existenzialen Logik als Auslegung des menschlichen Daseins in seiner Faktizität. Sie sind bewusste Gegenentwürfe zu Cohens transzendentaler Methode als einer „Logik des reinen Denkens“, die ausschließlich an den Wissenschaften orientiert ist und damit keine eigenständige Aufgabe (mehr) hat.
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sich aus Subjektivem Objektives bildet. Wie steht es aber nun mit diesem Subjektiven, aus dem Objektivität hervorgeht? Wie steht es mit einer Wissenschaft von diesem Subjektiven selbst, dem, was traditionell Psychologie heißt? Hierbei ist Cohens, von Kant herrührende, Haltung gegenüber einer Psychologie einseitig kritisch. Anders gesagt, war für Cohen – wie für andere Philosophen der Zeit, so auch Husserl – das große Schreckgespenst der Psychologismus, der sich durch eine szientistische Weltauffassung nahelegte, die es denkbar machte, das Denken lediglich als Gehirnfunktion anzusehen. Diese von den Naturwissenschaften geformte Weltsicht war aufgrund ihrer empirischen, durch Experimente bestätigten Evidenz so überzeugend, dass sie auch von vielen Philosophen wie Psychologen vertreten wurde. So bedeutete Cohens Interesse an der „logischen Form“ der in den Wissenschaften vor sich gehenden Objektivierungen negativ eine Ablehnung einer psychologistischen Erklärung dieser Logik. Psychologismus – als einer besonderen Form von Anthropologismus – ist die Auffassung, dass Logik nichts anderes als ein Denkvorgang in der menschlichen Psyche ist, bzw. jene sich auf diese reduzieren lässt. Die Konsequenzen hiervon sind Skeptizismus und Relativismus; Relativismus, weil logische Gesetzmäßigkeiten auf Vorgänge im menschlichen Gehirn reduziert werden und damit relativ zur menschlichen Spezies sind. Dies führt zum Skeptizismus, da objektive Wahrheiten nur wahr sind, insofern wir sie, als menschliche Spezies in der jetzigen Entwicklungsstufe, als wahr empfinden. Die Notwendigkeit, die wir empfinden, wenn wir apodiktische Wahrheiten einsehen, ist eben nicht mehr als ein menschliches Empfinden. Damit ist es nicht ausgeschlossen, dass in der Zukunft (Vernunft-)Wesen entstehen, für die 2+2 nicht mehr vier, sondern fünf ist. Damit ist aller universale Wahrheitsanspruch von Wahrheiten a priori prinzipiell bestritten17. Nun war es schon Kants Bemühung, den Skeptizismus zu überwinden, und zwar, indem er bekanntlich seine Vernunftkritik zwischen Dogmatismus und Skeptizismus ansiedelte und damit den radikalen Skeptizismus eindämmte. Ein Psychologismus, wie er im 19. Jahrhundert aufgrund der neuen Ergebnisse der Naturwissenschaften und der damit einhergehenden Wissenschaftsgläubigkeit aufkam, wäre für Kant zwar undenkbar gewesen. Dennoch aber sieht er sich genötigt, die sog. „subjektive Deduktion“ der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft in der zweiten Auflage dahin zu verändern, dass der Schwerpunkt nicht auf den subjektiven Leistungen der 17 Skeptischer Relativismus war die Konsequenz des Psychologismus, wie es Husserl bekannter Maßen in Band I (Prolegomena zu einer reinen Logik, 1900) der Logischen Untersuchungen diagnostizierte. Viele zeitgenössische Philosophen, v. a. Natorp, waren mit dieser Diagnose einverstanden und begrüßten Husserls Kritik lebhaft.
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menschlichen Vernunft liegt, sondern deren Vermögen, objektive Erkenntnis hervorzubringen (entsprechend wird die Version der zweiten Auflage auch „objektive Deduktion“ genannt). Also finden sich schon bei Kant Hinweise auf einen „Subjektivismus“, der die Vernunft auf die menschliche Subjektivität zu reduzieren droht. Das Szenario des Psychologismus war hingegen in Cohens Zeit, der aller über die Natur hinausgehender „Geist“ suspekt war, höchst lebendig. So ist Cohens Insistenz auf die logische Form des „reinen Denkens“ ein impliziter Kampf gegen den Psychologismus, indem das im wissenschaftlichen Denken sich vollziehende Erkennen von allem Subjektiven purgiert wird. Die Konsequenz für Cohen war, dass er die Psychologie als eine eigene Disziplin innerhalb der Philosophie, richtig verstanden als Transzendentalphilosophie, rundheraus ablehnte. Hier setzt nun Natorp ein: Schon der Titel „Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode“ ist Programm, sofern er sich zur Aufgabe setzt, eine Psychologie trotz aller Warnungen Cohens im Rahmen der „kritischen Methode“ – vulgo: der transzendentalen Methode – durchzuführen. Was motivierte Natorp dazu und weshalb sah er sich zu einem solchen Unternehmen genötigt? Zunächst ist werkbiographisch daran zu erinnern, dass Natorps Interesse an der Psychologie in die Anfänge seines Werkes zurückreicht: Sein erster Versuch, die kurze Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode von 1888 und der im Jahr zuvor erschienene programmatische Aufsatz, „Ueber objective und subjective Begründung der Erkenntniss“, also die Idee einer der „objektiven Begründung“ der Erkenntnis parallele (oder inverse) „subjektive Begründung“ stammen bereits aus dieser Zeit, auch wenn sich Natorp damals noch nicht der Tragweite dieser Ausweitung der Begründungsproblematik bewusst war. Doch woher stammte sein Interesse an der Psychologie? Natorp sah sich als Philosoph geradezu berufen, eine entscheidend wichtige, aber irregelaufene Disziplin zu retten; denn seine Wahrnehmung der psychologischen Forschung seiner Zeit war ernüchternd. Natorp gelangt zu dem Schluss, dass alle empirischen Forschungen zum Bewusstsein ihrem Gegenstand grobes Unrecht antun. Im Zuge ihrer Forschung töten diese Psychologien das lebendige Bewusstseinsleben ab; sie behandeln es – wie Natorp drastisch sagt – wie eine Leiche „in Seziersälen“ anstatt als lebendiges Wesen (vgl. unten, S. 176). Weshalb tun sie das? Um die Metapher einzulösen, im Versuch, das Bewusstseinsleben zu untersuchen, stellen sie das, was wesentlich lebendig, also dynamisch und fließend ist, still. Im Versuch, das Bewusstseinsleben, das Subjektive, zu fassen, ver-objektivieren sie es in genau der Weise, wie jede andere Wissenschaft objektivierend vorgeht. Diese Methode ist für das Bewusstsein unangemessen, da es intrinsisch dynamisch und immer-beweglich ist. Psychologen sezieren statt dessen den starren Leichnam des Psychischen. Wenn Wissenschaft – im Sinne des Marburger Modells – Objektivierungen vornimmt, tut sie genau damit dem Subjektiven
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Gewalt an, indem sie es objektiviert. Der wissenschaftliche Ansatz ist der Sache wesentlich unangemessen, sofern das Subjektive in das verwandelt wird, was es gerade nicht und niemals ist. Entgegen aller anderen, objektiv gerichteten Wissenschaften leidet die Psychologie an dem „Midas-Problem“, dass sie, was sie anfasst, zu kaltem Gold verwandelt. So stellt sich also das Schicksal der Psychologie als Wissenschaft vor ein prekäres Dilemma gestellt: (1) Entweder man stellt das Projekt einer „Wissenschaft von der Seele“ von vornherein unter das Verdikt des Psychologismus und kehrt sich – als Philosoph – davon im Ganzen ab. Oder (2) man akzeptiert, dass eine Wissenschaft vom Subjektiven zwar prinzipiell möglich sein mag, dass ein solches Projekt aber, als Objektivierung eines wesentlich Subjektiven, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, weil es letzterem notwendigerweise Gewalt antut und damit den Psychologen – im Bilde zu reden – a priori zum Leichenfledderer macht. Beide Szenarien sind höchst unbefriedigend. Ersteres ist nicht akzeptabel, weil damit die Erforschung einer anscheinend wichtigen Dimension der menschlichen Existenz – was immerhin auch traditionell in der westlichen Philosophie als Disziplin mit dem Namen Psychologie, so schon bei Aristoteles und sogar den Vorsokratikern, behandelt wurde – rundheraus abgelehnt wird. Die zweite Alternative ist nicht befriedigend, weil der Vorwurf nicht von der Hand zu weisen ist: Psychologie ist eine Wissenschaft, und gleichgültig, ob sie eine Natur- oder Geisteswissenschaft ist, ist sie als Wissenschaft interessiert an objektiven Ergebnissen, also Gesetzmäßigkeiten, seien diese Naturgesetze oder auch nur Regelmäßigkeiten des menschlichen Geistes, und so fallen sie unter die allgemeine Tendenz von Wissenschaft an sich, objektivierend zu sein. Und Objektivierung des Subjektiven ist eine radikale Verfälschung des Untersuchungsgegenstandes. Vor dieses Problem sieht sich jegliche Wissenschaft vom Subjektiven gestellt; keine hat, laut Natorp, diesen prinzipiellen Fehler auch nur gesehen, geschweige denn theoretisch reflektiert und schließlich korrigiert. Man muss verstehen, dass diese Kritik auf den Naturalismusvorwurf hinausläuft, sofern das Bewusstsein nicht in seiner Eigenart, in seiner ontologischen Differenz zum Naturhaften gesehen wird und dass daher die Methode gangbar scheint, das Bewusstsein wie jede andere Naturtatsache auch zu objektivieren. Es ist dieses Bestehen auf der ontologischen Differenz zwischen Natur und Bewusstsein, das Natorps ganzes Unternehmen antreibt. In dieser Insistenz auf der Eigenart des Bewusstseins sind Natorps Bemühungen mit denen von Husserl, Dilthey und auch dem frühen Heidegger vergleichbar, wenn auch seine Lösung durchaus anders lautet. Vor diesem unbequemen Dilemma steht also Natorp, wenn er unternimmt, eine Psychologie nach kritischer Methode durchzuführen, die weder, als nach kritischer Methode vorgehend, die Seele als etwas Naturhaftes behandeln darf, noch die Tendenz mitmachen darf, welche die Wissenschaft tout court
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auszeichnet: nämlich objektive Ergebnisse zu erbringen, d.h. das wesentlich Subjektive zu verobjektivieren. Vor diesem Hintergrund nun schreitet Natorp zur Tat.
4. Natorps Programm einer rekonstruktiven Psychologie: der Rückgang auf das Unmittelbare des Bewusstseins. Kurze Inhaltsübersicht über die Allgemeine Psychologie Welchen Weg findet Natorp aus dem Dilemma? Wichtiger Ansatzpunkt für seine Bemühung ist die Rückerinnerung an eine wissenschaftstheoretische Debatte, die im späten 19. Jahrhundert zwischen den Neukantianern – hier v.a. der südwestdeutschen Schule – und Dilthey geführt wurde. Im Lichte der erstaunlichen Ergebnisse der Naturwissenschaften wurde mit einem Mal der Status der sogenannten Geisteswissenschaften fraglich. Ihr Vorgehen kann, wie Windelband meinte, gegenüber den „nomothetischen“ (also Gesetze feststellenden) Naturwissenschaften, „idiographisch“ (das Individuelle beschreibend) genannt werden. Sie sind, wie es Dilthey nannte, gegenüber den „erklärend“ vorgehenden Naturwissenschaften, „verstehend“. Windelbands und Diltheys Unterscheidungen sind nicht identisch, aber deuten auf je ihre Weise auf die fundamentale Differenz beider Wissenschaftsarten. Es ist eben etwas radikal Verschiedenes, ob man Naturvorgänge erklärt oder die Geisteshaltung Goethes nachversteht. Die Frage ist nun, ob das Bewusstsein eine Naturtatsache ist oder der Sphäre des „Geistes“ angehört. Je nachdem, wie man die Frage beantwortet, würde dann die Psychologie, als Wissenschaft vom Bewusstsein, entweder eine Natur- oder eine Geisteswissenschaft sein. In der Tat wurde die Debatte in dieser Gegenüberstellung geführt: Die „Seele“ ist entweder ein Teil der Natur und daher sind ihre Gesetze nichts anderes als Naturgesetze, so dass ein schroffer Unterschied zwischen Gehirn und Seele gar nicht besteht, weshalb man die Idee einer separaten, etwa gar unsterblichen, Seele getrost aufgeben kann. Das ist die Position des Naturalismus. Oder die Seele oder das Bewusstsein sind etwas radikal anderes, etwas „Geistiges“, was unter seinen ihm eigenen Gesetz- oder Regelmäßigkeiten steht, und diese sind eben – ja was genau? Dies ist die Frage, die sich stellt, wenn man das Bewusstsein als gegenüber jeder Naturtatsache radikal eigenständig ansieht. In diesem Fall erfordert eine Psychologie, wenn sie nicht als Naturwissenschaft aufgefasst wird, ihre eigenen Begrifflichkeiten, Methoden und Kategorien. Die Frontlinien und Grundunterscheidungen, wie sie hier aufgezeigt sind, sind heute trotz neuer Terminologie im Wesentlichen die gleichen. Entscheidend für das Verständnis von Natorps Projekt ist, dass seine systematische Stellung quer zu der Alternative Natur- oder Geisteswis-
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senschaft steht: Natorps Psychologie ist nämlich Wissenschaft weder der einen noch der anderen „Region“, weil beide Disziplinen in je ihrer Weise objektivierend vorgehen, sofern sie Gesetzmäßigkeiten feststellen. Dies geschieht ebenso in den Geisteswissenschaften, wenn sie dem Geiste eigene Begrifflichkeiten und Theorien, die eo ipso allgemeingültig, also objektiv gültig sind, fordern18. Aus diesem Grund bevorzugt Natorp auch den Titel „Kulturwissenschaften“, der beide Wissenschaftsarten umfasst (denn auch Naturwissenschaft ist Teil des menschlichen Kulturschaffens). Beide Grundpositionen sind laut Natorps Verdikt darin identisch, dass sie objektivierend vorgehen und damit das Subjektive in diesem Prozess „töten“. Ist Wissenschaft sowohl im Sinne von Natur- wie Geisteswissenschaft fest-stellend, also objektivierend, dann darf die Psychologie keine Wissenschaft, zumindest nicht im herkömmlichen Sinn aller anderen Kulturwissenschaften, sein. Ein Großteil der eigentlichen Ausführungen in der AP sind negativ und dem Nachweis gewidmet, inwiefern Psychologie als Wissenschaft im traditionellen Sinn das Psychische in praxi objektiviert, also explizit oder nicht als fixierte Tatsache, sei es der Natur oder der vom Menschen gemachten Kultur ansieht. Diese scharfsinnige Aufdeckung und Kritik vor allem an den in der Psychologie vorherrschenden Naturalismen ist immer noch hochaktuell. Wenn also die AP den Untertitel „Objekt und Methode der Psychologie“ hat, so ist Natorps Pointe, dass weder das Objekt der Psychologie – welches nämlich gerade kein Objekt, sondern ein Subjekt ist –, noch die Methode der Psychologie, die aller anderen Wissenschaft gegenüber radikal anders sein muss, je recht konzipiert wurden. Der Anspruch von Natorps „Psychologie“ könnte also radikaler kaum sein. Es überrascht nicht, dass Husserl, dessen Anspruch mit seiner Phänomenologie nicht weniger radikal war, in Natorps Psychologie eine „große Vorahnung“ seines eigenen Projekts sah19; und in der Tat sind die Parallelen von Husserls Phänomenologie und Natorps Psychologie auffallend, sowohl methodisch wie deskriptiv. Husserls Phänomenologie, insbesondere in ihrer reifen („genetischen“) Gestalt, ist undenkbar ohne den Einfluss Natorps. Ein weiteres Indiz für ihre enge Verbundenheit ist, dass Husserl die Philosophie des Marburger Neukantianismus zwar ablehnte, womit er die transzendentale Methode meinte; Natorps Psychologie hingegen sah er, völlig richtig, nicht als Teil dieser Schuldoktrin. Natorp war seinerseits begeistert von Husserls Widerlegung des Psychologismus im ersten Band der Logischen 18 Also auch die idiographischen Geisteswissenschaften sind für Natorp objektivierend, sofern sie, wenn sie Individuelles beschreiben – z.B. wenn der Historiker die Eigenart der Französischen Revolution zu fassen versucht –, ebenso das fließend Subjektive fest-stellen. 19 Vgl. Zur phänomenologischen Reduktion, S. 4.
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Untersuchungen (den Prolegomena zu einer reinen Logik), die ihn in Husserl einen Gleichgesinnten sehen ließ. Nach der Ablehnung objektivierender Methoden verbleibt jedoch die Frage: Welche Methode muss also nun dem wahren „Objekt“, d.h. dem Subjekt, gegenüber angewandt werden, um den grundsätzlichen Fehler der Objektivierung zu vermeiden? Natorps Eröffnungsschritt besteht darin, den Begriff des Bewusstseins selbst zu differenzieren. Ist dem Bewusstsein immer etwas bewusst, hat es also „Inhalte“ bzw. ist es „intentional verfasst“, wie man in phänomenologischer Terminologie sagen könnte, dann muss man die Inhalte des Bewusstseins von dessen Tätigkeiten (den intentionalen Vollzügen) unterscheiden, sowie schließlich das Ich, dem diese Inhalte bewusst sein. Diese Unterscheidungen laufen im mit Äquivokationen behafteten Begriff „Bewusstsein“ unglücklich ineinander. Was Bewusstsein also gegenüber aller bewussten Objektivität auszeichnet – wenn man unter letzterer alles versteht, was einem bewusst sein kann –, ist die Tatsache des Bewusst-seins selbst, also des „bewusst“ an sich, ungeachtet all dessen, was ins Bewusstsein treten kann. Natorp verwendet hierfür den Neologismus „Bewusstheit“20 und bezeichnet hiermit das gegenüber allem Objektiven radikal verschiedene Wesen des Bewusstseins. Ist alles, was bewusst werden kann, Objektives, ist das Bewusstsein das allem Objektiven gegenüber radikal Entgegengesetzte. Diese radikale Entgegensetzung kann nun methodisch eingeholt werden. Die transzendentale Methode besteht in der Konstruktion des Objektiven in wissenschaftlichen Theorien, der Konstruktion wissenschaftlicher Fakta. Die Tätigkeit der Wissenschaft ist die Verobjektivierung von subjektiven Denkvollzügen, die in wissenschaftlichen Theorien ihre Kristallisierung finden. Ist die Bewegung der Wissenschaft demnach die vom Subjektiven zum Objektiven hin, steht nichts im Wege, diese Bewegung rückgängig zu machen, also die Konstruktion zu re-konstruieren. Damit ist die Marschrichtung der Natorp’schen Psychologie vorgegeben: die Re-Konstruktion des unmittelbaren Erlebens im Bewusstsein rückgehend von den Objektivierungen. Entsprechend vergleicht Natorp die zwei Methoden der Objektivierung und der Subjektivierung auch als die Plus- und Minus-Richtung auf einer gemeinsamen Skala (vgl. unten, S. 68). Die Psychologie in Natorps Verständnis ist zwar aller objektiven Bewegung der Wissenschaft radikal entgegengesetzt, 20 Dieser Begriff wird übrigens schon in der Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode von 1888 verwendet. Wie Hans-Georg Gadamer scharfsinnig bemerkt, besteht hierin Natorps Umformung des Kant’schen transzendentalen Ich, sofern die Bewusstheit die „Beziehung der Bewußtseinsinhalte auf einen transzendentalen Ichpol“ (Wahrheit und Methode, S. 249) meint. Natorp sieht sich also trotz aller Hinbewegung zu einer phänomenologischen Bewusstseinskonzeption Kants Ichkonzeption verpflichtet.
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ist aber letztlich doch keine eigenständige Methode gegenüber der der Wissenschaften, sondern deren Umstülpung oder Umkehrung. Es gibt also nicht zwei verschiedene Arten von Wissenschaften, sondern es gibt einen Prozess bzw. eine Struktur, die in zwei einander entgegengesetzten Richtungen abgeschritten werden kann. Die Wissenschaft im traditionellen Verständnis ist damit einseitig, sofern sie diesen subjektiven Prozess selbst ignoriert21. Das Verhältnis von subjektiver und objektiver Wissenschaft ist nach Natorp vielmehr eine Korrelativität in der Bewegung, deren Unterschied lediglich in der Richtung besteht. In Wahrheit bilden Objektives und Subjektives eine „ideale Einheit“. Welche Ergebnisse sind von einer solchen psychologischen „Wissenschaft“ zu erwarten? Sind die Ergebnisse der Wissenschaften (im normalen Sinn) allgemein und abstrakt, so geht die Rekonstruktion den entgegengesetzten Weg und verweist auf die urtümliche Konkretion des Bewusstseins, in dem sich das Allgemeine bildet und formiert. Das Bewusstsein bzw. die Bewusstheit ist das „Urkonkrete“, aus dem alles gleich einer stetig sprudelnden Quelle entspringt und auf das alles Bewusste zurückbezogen ist22. Was als ein Auseinander von unterschiedlichen Objektivationen (den verschiedenen Kulturregionen) erscheint, ist entsprungen aus der einen ursprünglichen Kontinuität des Bewusstseinsstroms. Das Subjektive ist damit ein stetig pulsierendes „Herz“ als urkonkretes Leben, aus dem Objektivierungen in verschiedene Richtungen entspringen. Später wird Natorp für diese Urkraft bzw. Urtätigkeit den Begriff der Poiesis, als des urkonkreten, noch blinden Schaffens, verwenden. In jeder Objektivierung muss es möglich sein, das Objektivierte auf dieses konkrete Leben zurückzuführen. So kann man also von verschiedenen Objektivierungen her auf verschiedene Weisen rückschließen, in denen sich das ursprüngliche Leben des Bewusstseins ausspricht. Grundbegriff hierfür ist bei Natorp die Potenz (s. unten, S. 78 ff.)23. Diese ist der „disponierende Grundbegriff“ der Psychologie (s. unten, S. 213ff.), sofern alle abstrakte Aktualität des Bewusstseins auf ihre konkrete Potentialität zurückgeführt wird, jede Energeia, mit Aristoteles zu reden, auf ihre Dynamis, ihre 21 Auch hier lassen sich Parallelen zu Husserls Konzept der natürlichen Einstellung ziehen. Die natürliche Einstellung, welche auch die Einstellung ist, in der sich die Wissenschaften befinden, besteht in der naiven Meinung, die Welt existiere bewusstseinsabhängig; d.h., sie ist sich des subjektiven Prozesses, in dem sich die Welt im Bewusstsein konstituiert, nicht bewusst. 22 Auch in dieser Charakterisierung des Bewusstseins als stetigen Stroms, aus dem stetig neuer Bewusstseinsinhalt entspringt, mag man an Husserls Begriff der „lebendigen Gegenwart“ als tiefster Stufe des Bewusstseins denken. 23 „Potenz“ ist ein spekulativer Begriff, der sich bereits in ähnlicher Bedeutung bei Schelling findet, was Natorp vermutlich nicht bewusst war, zumindest nicht in der AP.
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Potentialität des Bewusstseinslebens. So ergibt sich ein „Stufengang der Objektivierung“ (S. 101), der jeweils in der Rekonstruktion wiederum in seine entsprechenden subjektiven Prozesse aufgelöst werden kann. In Natorps Worten: Dieses alle Möglichkeit einer Psychologie, als der Wissenschaft von der Subjektivität, begründende allgemeinste Wechselverhältnis des Bestimmbaren und seiner Bestimmung gilt nun eben in dem ganzen Stufengange der Objektivierung, also auch der dieser entsprechenden Subjektivierung: für jede höhere Stufe der Objektivierung bedeutet die niedere die Potenz, für jede niedere die höhere die entsprechende Aktualisierung. Aber eben indem dieses Wechselverhältnis für die ganze Stufenfolge der Objektivierung, also wieder und wieder gilt, solange als irgend noch etwas von Bestimmtheit erreichbar, d.h. soweit überhaupt irgendetwas noch mit Sinn aussagbar ist, so findet dieser Stufengang, also auch der Rückgang zu den subjektiven Grundlagen, seine ideale Grenze in dem Ansatz eines letzten noch schlechterdings nicht Bestimmten, aber aller Bestimmung Fähigen, somit allseitig Bestimmbaren und zu Bestimmenden, einer Aristotelischen Urmaterie (πρâτη Ôλη) oder eines Chaos, aus dem die ganze Weltschöpfung des Bewusstseins hervorgehe, wenigstens in letzter, in allerletzter Betrachtung hervorzugehend zu denken sei. (S. 214) Diese Grund-„Bewegung“ nun kann nun nicht nur von der Erkenntnis her (also dem theoretischen Bewusstsein) rückgängig gemacht werden, sondern von allen anderen Bewusstseinsrichtungen, nämlich den praktischen, künstlerischen und religiösen, sofern sie in objektiven Gebilden (Moralsystemen, Kunstwerken und religiösen Kulten) terminieren. Die Totalität dieser objektiven Gebilde ist in der Tradition der Marburger Schule Kultur. Die Transzendentalphilosophie der Marburger Schule vollzieht damit, wie es Cassirer sagt, den Schritt „von der Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur“24. Bei allen Unterschieden, die Cassirers Kulturphilosophie, wie sie in seiner Philosophie der symbolischen Formen ausgeführt wird, auszeichnet, ist diese Konzeption von Kultur und deren Kritik ein roter Faden, der durch den Marburger Neukantianismus hindurchgeht. Natorps allgemeine Psychologie ist die dieser Kulturphilosophie im Ganzen radikal entgegengesetzte „Disziplin“. Wie geht diese Psychologie nun vor? Laut Natorp hat sie im Wesentlichen zwei Stufen. Zunächst ist es die Aufgabe der allgemeinen Psychologie, d.h. noch vor der Untersuchung der verschiedenen Bewusstseinsrichtungen, 24
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S. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache, S.
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eine allgemeine Beschreibung von „psychologischen Grundkategorien, wie Sinnlichkeit überhaupt, Zeit- und Raumordnung überhaupt, Begriffsfügung überhaupt, Strebung überhaupt“ (S. 221) usw. durchzuführen. Daraus erwächst, wie Natorp es ausdrücklich unter Hinweis auf Husserl sagt, eine „Phänomenologie des Bewusstseins“ als „bloßer Beschreibung der Bewusstseinsgestaltungen ihrer Art nach“ (ebd.), also noch vor ihrer Unterscheidung in die „reinen Erkenntnis-, Willens- und Kunstgestaltungen“ (ebd.). Natorp gesteht jedoch zu, dass man zur ursprünglichen Konkretion des Bewusstseins auf dieser Stufe der Psychologie noch nicht vordringt: Denn „mit dem allen bliebe man noch immer weit diesseits des vollen, unmittelbaren Lebens des Bewusstseins“ (ebd.). Diese erste Stufe ist eine Art Propädeutik, die erst den Sinn für die eigentliche Seinsweise des Bewusstseins schärft. Die Hauptaufgabe der allgemeinen Psychologie besteht darin, eine „Stufenfolge der Erlebniseinheiten“ anzusetzen, also der Erlebnisweisen des „Ich“ auf der jeweiligen Stufe der Bewusstheit, um die „Zurückbeziehung des Erlebnisinhalts auf das erlebende Ich“ (S. 222) zu etablieren. Was hiermit gemeint ist, präzisiert Natorp mit der Bezeichnung „genetische Psychologie“ oder „genetische Betrachtung“, die nicht mit einer zeitlichen Stufenordnung zu verwechseln ist, sondern eine „überzeitliche“ Betrachtung der Genesis des Bewusstseinslebens selbst ist. Jede genetische Betrachtung, die in die subjektiven „Tiefen“ zurückdringt, ist damit parallel zu jeder Stufe der Objektivierung, jedes Mal analog hinsichtlich ihrer Stufe. Jede Objektivierungsstufe wird damit auf ihre jeweilige subjektive „Potenz“ hin befragt. Somit weist die „Grunddisposition“ der Psychologie zwei Stufen, eine „ontische“ und eine „genetische“, auf, so dass „aus dem Gesichtspunkte der Genesis nicht eine neue Provinz der Psychologie abzugrenzen ist. … [U]nd zwar vertritt die allgemeine Phänomenologie die ontische [Seite], die Stufenordnung die Erlebniszusammenhänge die genetische Seite der psychologischen Aufgabe“ (S. 239). Die ontische Phänomenologie, die die erste Stufe der allgemeinen Psychologie ausmacht, ist vergleichbar mit dem, was Husserl „statische Phänomenologie“ nennen wird, d.h. die Grundunterscheidung der intentionalen Aktvollzüge in das bewusste Ich, die Art des Aktvollzuges und des Aktinhalts, wobei Husserls noetisch-noematische Phänomenologie sicher weitaus differenzierter ausgeführt ist als Natorps allgemeiner Phänomenologie. Der springende Punkt für Natorp ist, dass diese erste Stufe, insofern sie Abstraktheiten des Bewusstseins feststellt, als Wissenschaft nicht anders als andere objektivierende Wissenschaften vorgeht. Sie mag damit zwar einen ersten Hinweis auf die den abstrakt aufgewiesenen Bewusstseinsarten zugrundeliegenden Bewusstseinsweisen des konkreten Lebens des Bewusstseins darstellen, ist aber nicht selbst die dem Bewusstsein eigentlich
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angemessene Disziplin; sie ist gewissermaßen die Vorstufe zur eigentlichen Psychologie. Diese, die wahre Psychologie, die eine genetische Betrachtungsweise voraussetzt und der Husserl’schen genetischen Phänomenologie vergleichbar ist, kann, als rekonstruktiv und zurückgehend auf das konkrete Leben, nicht mehr „Wissenschaft“ im herkömmlichen Sinn genannt werden, und es stellt sich die Frage nach ihrem Untersuchungsgegenstand: was bleibt außer dem ständigen Hinweis auf das konkrete Leben, aus dem alles weitere – was immer es sei – entspringt, was aber selbst nicht mehr thematisiert werden kann? Husserls Antwort in seiner genetischen Phänomenologie, dass auch in dieser Sphäre der Genesis – von Husserl auch Passivität genannt – „Gesetze der Genesis“ aufzuweisen sind, wäre für Natorp insofern inakzeptabel, als die Feststellung von Gesetzen wiederum objektivierend ist. Wo für Husserl Phänomenologie selbstverständlich eine Wissenschaft ist (als Wissenschaft von der Erfahrungsweise von Welt vom Erfahrungsstandpunkt), tut sich für Natorp hier ein Abgrund von dunklem „Bewusstseinsgrund“ auf. Auf diesen kann man zwar im Prinzip als allen Objektivierungen zugrundeliegenden Einheitsgrund verweisen, man kann aus ihm jedoch nicht viel mehr heben außer diesem Hinweis auf „konkretes Leben“, ohne dem Objektivierungsverdacht zu verfallen. Liest man Natorps allgemeine Psychologie mit der Erwartung, eine konkrete Wissenschaft mit ihren eigenen Ergebnissen vorzufinden, die etwa eine echte Alternative zu empirischen Psychologien oder Husserls transzendental-eidetischer Phänomenologie oder Heideggers Hermeneutik des faktischen Daseins wäre, wäre man sicherlich enttäuscht. Es sollte aber deutlich werden, dass vor allem Husserls späte Phänomenologie ohne den Einfluss Natorps unmöglich gewesen wäre. Auch der frühe Heidegger, der sich zwar Natorp gegenüber fast ausschließlich kritisch äußert, ist maßgeblich von Natorps Insistenz auf der letztlich nicht-objektivierbaren Konkretion des faktischen Lebens des Menschen beeinflusst worden. In der Tat ist Natorps Psychologie – wenn der Titel überhaupt angemessen ist – in erster Linie wirkungsgeschichtlich von Bedeutung; diese Bedeutung kann jedoch kaum überschätzt werden. Auch als Leistung in sich selbst, vom Standpunkt eines Kantianismus die Möglichkeit, wenn nicht einer Psychologie, so doch eines Zugangs zum konkreten Bewusstseinsleben zu erschließen, ohne in einen Naturalismus oder Empirismus zu verfallen, ist Natorps AP in ihrer spekulativen Kraft ein höchst beeindruckendes Dokument eines systematischen Zwischenstadiums zwischen Kritizismus und Phänomenologie. Dennoch ist letztlich das Urteil nicht vermeidbar, dass die Natorp’sche Psychologie keine Wissenschaft ist, denn sie ist aller Wissenschaft im herkömmlichen Sinn entgegengesetzt. Was ist dann die AP? Es handelt sich nicht eigentlich um eine Psycho-logie, sondern eine gegenüber aller Wissenschaft
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angesiedelte Metareflexion auf die Tatsache, dass alles Objektive seinen subjektiven Ursprung hat. Eine eigentliche Wissenschaft ist demnach auch hieraus nicht zu entwickeln, wie Natorp vermutlich selbst gemerkt hat, als er seinen stolz angekündigten Ansatz nicht weiter ausgeführt hat. Dennoch würde man Natorps Leistung geringschätzen, würde man sie an dem positiv Geleisteten allein messen. Vielmehr ist Natorps Leistung in AP in erster Linie eine eindrucksvolle Demonstration, dass das Bewusstsein keine weltliche Tatsache ist, sei es der Welt der Natur oder des in Kulturgestalten verobjektivierten Geistes. Auch sind die von ihm ins Feld geführten Argumente gegen die Naturalisierung des Bewusstseins im Lichte gegenwärtiger Debatten zur Naturalisierung des Bewusstseins höchst lesenswert. Seine diesbezüglichen Ausführungen haben nichts an ihrer Aktualität verloren, auch wenn die AP letztlich ein philosophisches Fragment geblieben ist. Aber bekanntlich sind ja viele große Werke der Philosophiegeschichte Fragmente geblieben.
5. Natorps immanente Weiterentwicklung nach Allgemeine Psychologie hin zum Spätwerk Philosophische Systematik Natorp hat das in der AP groß angelegte, ehrgeizige Projekt niemals durchgeführt; die Veröffentlichung der weiteren angekündigten Bände erfolgte nicht. Stattdessen hat Natorp in seinem Spätwerk eine Wende vollzogen, für die die AP in Wahrheit ein Übergangsstadium bildet. Was waren die Gründe für die Aufgabe des ursprünglichen Projekts und in welche Richtung bewegte sich Natorps Denken in seiner letzten Phase? Die Beantwortung dieser Fragen muss sich auf kurze Andeutungen beschränken. Natorps Denkbewegung ging nach der Veröffentlichung der AP ungehemmt weiter. Zwischen 1912 und seinem Todesjahr war Natorp mit zahlreichen Projekten parallel beschäftigt; am meisten jedoch galten seine Bemühungen der systematischen Aus- und Zusammenführung seines Denkens. Diese Bemühungen enden über Zwischenstationen in seinem letzten Werk, der Philosophischen Systematik, die kurz vor seinem Tod fertiggestellt, aber im Jahre 1954 erstmals herausgegeben wurde. So gering war das Interesse an Natorp bzw. dem Neukantianismus im Allgemeinen zur Zeit von Natorps Tod. Die Wellen der neueren Philosophie, vor allem der Phänomenologie, aber auch der positivistischen Wissenschaftsphilosophie des Wiener Kreises – der sich in seinen Bemühungen vornehmlich vom Kantianismus der Marburger Variante abgrenzte –, spülten gleichsam über die Neukantianer hinweg. Hierbei war oftmals als Motivation der eigenen Denkanstrengungen die Abgrenzung von der etablierten „Wilhelminischen“ Philosophie. Das mit der Regierung der Nationalsozialisten in Deutschland einsetzende Schisma in
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der deutschen Kultur im Allgemeinen ließ den Neukantianismus, der inzwischen als „liberale“, von Juden propagierte Philosophie des Kaiserreiches verunglimpft wurde, vollends in Vergessenheit geraten. Eine systematische Rückbesinnung auf den Neukantianismus begann in Deutschland erst gut fünfzig nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dass die AP in Wahrheit ein Übergangswerk statt eines Neubeginns war, lässt sich bereits zum Ende der AP sehen. Natorp endet das Werk mit einer ausführlichen, auf zwei Kapitel verteilten Auseinandersetzung mit konkurrierenden Theorien, also Wundt, Lipps, Husserl, Dilthey, Münsterberg, und Bergson. Diese Zusammenfassungen lassen sich, bevor Natorp zur Kritik schreitet, durchaus als kurze Einleitung zu den Forschungsprogrammen dieser damals äußerst populären Denker lesen. Während Bergson, Husserl und Dilthey nie ganz aus dem Blickfeld nachfolgender Philosophie verschwunden sind, gilt dies sicher nicht für Wilhelm Wundt und Theodor Lipps sowie den nach Amerika ausgewanderten, in Harvard lehrenden Deutschen Hugo Münsterberg. Ironischer Weise aber endet Natorp sein Werk mit einer ausführlichen Würdigung des Franzosen Henri Bergson – der längsten Darstellung aller sonstigen Theorien, die Natorp darstellt. Natorp selbst erkennt Bergsons Wendung zum Mystizismus an und, was noch entscheidender ist, würdigt sie positiv (vgl. S. 303 f.). Natorp schließt die AP mit dem Hinweis, dass für ihn selbst „immer nur das ewige Streben zur Gottheit“ (S. 304) anerkannt werden muss, d.h. dass die Gottheit im gut Kantischen Stil lediglich eine regulative Idee sein kann, sowie dass er darauf verzichten muss, „etwas wie eine ‚mystische Vergottung‘ als Menschen erreicht zu haben oder je erreichen zu können oder zu sollen“ (ebd.). Obwohl man sich also vor einer „Vergottung“ des Menschen hüten muss, bekundet Natorp, wenn auch etwas verklausuliert, durchaus Sympathie mit Bergsons „religiösen Zug“ (ebd.). Die Ironie besteht darin, dass Natorp als strenger Wissenschaftler im Sinne des Wissenschaftsideals der Marburger Schule anfängt, aber eigentlich in der AP in eine Dimension vorstößt – des urkonkreten Lebens –, die nicht mehr Gegenstand einer Wissen-schaft sein kann, was ihn an den Mystizismus grenzen lässt. Weiter entfernt von der „Urstiftungsidee“ der Marburger Schule kann man eigentlich nicht sein. Dennoch aber kommt Natorps Denken genau an dieser Stelle zur Ruhe und der Mystizismus wird das letzte Wort des Philosophen sein25. Während Natorp am Ende der AP noch schwankt, besteht die weitere Entwicklung seines Denkens im Wesentlichen darin, dieses mystische Element nicht nur zuzulassen, sondern voll zum Ausdruck zu bringen. Die 25 Der Bezug zum Mystizismus wird in der AP auch direkt hergestellt durch Natorps Erinnerung an die mystische Tradition bezüglich des religiösen Bewusstseins, das in den Grenzen „zwischen dem ewigen Nichts und dem ewigen Ichts“ (S. 226) schwankt.
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Grundidee ist kurz darzustellen, auch wenn Natorp in seinen letzten Jahren extensiv hieran gearbeitet und geschrieben hat. Wenn die Methode des Objektivierens und deren Gegenbewegung hin zum Subjektiven nichts anderes als gegenläufige Richtungen auf einer Skala sind, dann kann man spekulieren, ob nicht beide widerläufigen Methoden hinsichtlich einer ihnen zugrundeliegenden „Einheitsmethode“ überwunden werden können. Gibt es eine „Dimension“, die beiden Tendenzen nochmals ursprünglicher ist? Natorp sieht diese Ursprungsdimension in dem, was man, noch ursprünglicher als Subjekt oder Objekt, schlichtweg als „Leben“ bezeichnen kann. Dieses Leben bezeichnet Natorp auch als „Poiesis“, als „ursprünglich leistende, kreative Kraft“. Hierbei ist Natorp eindeutig von der Lebensphilosophie beeinflusst, die ebenfalls das Denken des jungen Heidegger beeinflusste. Dieser Schritt hat bei Natorp aber schließlich eine noch radikalere Konsequenz zur Folge, von der man auch vermuten kann, dass sie für den Heidegger von Sein und Zeit – welches in Marburg entstand – entscheidend wurde. Liegt nämlich diese ursprüngliche Poiesis noch vor aller „abgeleiteten“ Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, dann ist diese Ursprungsdimension weder mit Begriffen des Objektiven und Subjektiven fassbar. Während Natorp in AP noch das Urkonkrete des Lebens subjektivitätstheoretisch zu fassen versucht, ist die Poiesis in Natorps letzter Phase nicht mehr in subjektiven Begriffen zu begreifen. Die Dimension, die noch tiefer als subjektives Leben liegt, sondern als „lebensbejahende Kraft“ gefasst wird, bezeichnet Natorp in seiner Philosophischen Systematik als Sein, Sein schlechthin, reines Sein. Ob hier ein noch zu wenig gewürdigter Einfluss auf Heideggers Seinsfrage vorliegt, mag hier lediglich nahegelegt werden.
6. Zu Rezeption, Einflussnahme und Würdigung der Allgemeinen Psychologie. Natorps Kampf gegen die Naturalisierung des Bewusstseins Natorps AP kann mit Fug und Recht als eine der originellsten Schriften angesehen werden, die aus dem Neukantianismus im Allgemeinen, der Marburger Schule im Besonderen hervorgegangen ist. Ihre Bedeutung sowohl für den Aufstieg, die Entwicklung (bzw., mit Sieg zu reden, des Niedergangs) der Marburger Schule, wie auch des Natorp’schen Denkweges steht außer Zweifel, und ihr Einfluss auf anderweitige Philosophen und philosophische Schulen, vor allem die Phänomenologie, war – wie aus dem Vorigen deutlich werden sollte – weit reichend, obgleich die Einschätzung zumeist negativ war. In Wahrheit haben sich viele philosophische Zeitgenossen Natorps an der AP gerieben und im Anschluss daran, oder in kritischer Ablehnung gegen sie, ihre eigenen philosophischen Positionen entwickelt. Wenn man
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eine Liste der bedeutendsten philosophischen bzw. psychologischen Werke der Zeit von 1900 bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 aufstellen wollte – hierzu zählen zweifellos Edmund Husserls Logische Untersuchungen und die Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Buch I, Max Schelers Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Martin Heideggers Sein und Zeit, Karl Jaspers’ Allgemeine Psychopathologie, Nicolai Hartmanns Ethik, Cassirers Philosophie der symbolischen Formen –, dann gehört die AP auch in diese Reihe. Für seine Zeitgenossen bestand kein Zweifel, dass Natorp zu den bedeutendsten Philosophen seiner Zeit gehörte, und angesichts seines weitverzweigten Schrifttums war die AP zweifellos für ihren Autor von herausragender Bedeutung und in jedem Falle sein bekanntestes Werk. Auch wenn Natorp keine Nachfolger hatte, die das Projekt einer rekonstruktiven Psychologie weitergeführt hätten – wie Natorp selbst keine Schüler im echten Sinne des Wortes hatte26 –, und auch wenn Natorp selbst das Projekt einer solchen transzendentalen Psychologie zugunsten einer oben besprochenen, der Methoden von Subjektivierung und Objektivierenden noch vorausliegenden „Einheitsmethode“ aufgegeben hat, bleibt der Wert der AP doch bestehen, der in erster Linie in ihrem Einfluss auf andere Denker liegt. Weiterhin besteht ihre Originalität in ihrem transzendentalphilosophischen Ansatz im Rahmen der Marburger Schule, d.h. im kühnen Versuch einer Disziplin, die im Rahmen der Kant’schen Transzendentalphilosophie als problematisch, wenn nicht sogar unmöglich galt. Dennoch war Natorp gerade am wenigsten Kantianer in den philosophischen Instinkten, die ihn antrieben, ein solches Projekt zu unternehmen. Wie gezeigt, inspirierten ihn hierbei phänomenologische und lebensphilosophische Motive, die ihn, wie er meinte, dennoch nicht das Flussbett kantischer und neukantianischer Provenienz verlassen ließen. In Wahrheit jedoch ist bereits die AP dem Neukantianismus in seiner orthodoxen (wissenschaftstheoretischen) Marburger Variante längst entwachsen, und Natorp bahnt mit dem Entwurf einer eigenständigen, ihrem Untersuchungsgegenstand angemessenen „Wissenschaft vom Subjektiven“ allem voran der Phänomenologie den Weg. So bleibt die AP unterm Strich ein Hybridwesen zwischen Kantianismus und Kant-fremden Einflüssen und ist gerade deswegen so interessant. Die AP
26 Natorp konnte freilich Denker vom Range Ernst Cassirers, Nicolai Hartmanns und Hans-Georg Gadamers, der bei Natorp promovierte, zu seinen Schülern zählen (neben weniger herausragenden Figuren wie etwa Hinrich Knittermeyer), aber keiner von ihnen hat das Projekt einer rekonstruktiven Psychologie weitergeführt, und von seiner Wende ins Mystische in seiner Spätphase hat sich etwa Cassirer bei aller Würdigung explizit distanziert. S. hierzu Jürgen Stolzenberg, „Poiesis. Zu Paul Natorps und Ernst Cassirers Begründung der Philosophie“.
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besticht also nicht in erster Linie durch einen schlüssigen Systementwurf – bei allen hiermit einhergehenden Schwächen –, sondern ist insbesondere aufgrund ihrer leidenschaftlichen Denkanstrengung, also nicht allein wegen ihrer Wirkungsgeschichte, noch heute aktuell.
7. Hinweise zur Textgestaltung Vorliegende Neuedition ist eine für den Unterrichts- und Forschergebrauch erstellte Leseedition. Eine kritische Edition der Werke Natorps steht noch aus, die vermutlich erst nach einer Würdigung des Gesamtwerkes des Philosophen entstehen kann. In diesem Sinne mag von der vorliegenden Ausgabe, wie zu hoffen steht, eine – wenn auch kleine – Initialzündung ausgehen, sich mit dem Oeuvre des Neukantianers mit der meisten Breitenwirkung zu Lebzeiten auseinanderzusetzen. Da es sich um keine historisch-kritische Edition handelt, wurde von einem kommentierenden Apparat abgesehen, sondern lediglich Natorps eigene Zitate sowie Anspielungen auf Werke und Zitate anderer Autoren nachgewiesen, sofern sie offensichtlich und für den heutigen Leser möglicherweise nicht mehr selbstverständlich sind. Die vielen z.T. auch unbelegten Nachweise demonstrieren Natorps enge Einbindung in die Forschung seiner Zeit, nicht nur in der theoretischen Philosophie und der Philosophiegeschichte, sondern auch in der zeitgenössischen psychologischen Forschung. Nachweise Natorps werden hier insgesamt als Fußnoten wiedergegeben. Die kommentierenden Nachweise, die vom Herausgeber hinzugefügt wurden, bzw. alle Zusätze zu Nachweisen Natorps wurden als solche kenntlich gemacht (durch eckige Klammern oder den Zusatz „Anm. d. Hrsg.“). Die Rechtschreibung wurde behutsam auf das Niveau der neuen deutschen Rechtschreibung gehoben, wobei (regionale oder zeitgemäße) Eigenheiten Natorps beibehalten wurden, wie etwa das für ihn typische Genitiv-s zwischen zusammengesetzten Worten (z.B. „Objektserkenntnis“), sowie andere dialektale Eigenarten, die etwas archaisch klingen mögen, aber nicht falsch sind im Sinne der neuen Rechtschreibekonvention. Geringfügige Setzer-, Rechtschreibe- und Interpunktionsfehler wurden stillschweigend korrigiert. Schließlich hat Natorp selbst einen ausführlichen Index erstellt, der hier übernommen wird. Am Ende findet sich eine Bibliographie aller von Natorp zitierten bzw. verwendeten Werke, allerdings nach den neuesten Editionen. Werke nicht-deutschsprachiger Autoren werden in der Bibliographie auch in der deutscher Übersetzung aufgelistet, wobei Übersetzungen im Text nur im Ausnahmefall hinzugefügt werden. ***
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Ich danke der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, hier vor allem den Lektoren, vormals Carolin Köhne und später Benjamin Landgrebe und Cana Nurtsch, die sich bereit erklärt haben, dieses Projekt in das Verlagsprogramm der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft aufzunehmen. Weiterhin danke ich der Firma TAT Zetwerk (Utrecht), hier insbesondere Johannes Rustenburg und Laurie Meijers, für das Einscannen und Bearbeiten des Originaltextes sowie die Erstellung der letzten Druckvorlage. An Prof. Dr. Markus Asper (Berlin) geht ein Dank für die Übersetzung einiger schwieriger lateinischer Zitate. Schließlich geht ein besonderer Dank an meine Forschungsassistentin im akademischen Jahr 2012/13 an der Marquette University, Kimberly S. Engels M.A., die mir bei der Recherche der von Natorp verwendeten, teilweise schwer zugänglichen Quellen geholfen hat. Milwaukee, Dezember 2012 Sebastian Luft
Weiterführende Literatur Eine vollständige Bibliographie aller von Natorp zitierten Schriften findet sich am Ende des Buches. Hier werden lediglich weiterführende Literatur bzw. weitere, hier zitierte Schriften Natorps aufgeführt. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache. Tübingen 1923. Cohen, Hermann: Kants Theorie der Erfahrung (erste Auflage von 1871). Hg. vom Hermann-Cohen Archiv unter der Leitung von Helmut Holzhey. Hildesheim/Zürich/New York 1987. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 61990. Heidegger, Martin: Zur Bestimmung der Philosophie. Hg. von Bernd Heimbüchel (Gesamtausgabe 56/57). Frankfurt/M. 1987. Heidegger, Martin & Karl Jaspers: Briefwechsel. Hg. von Walter Biemel & Hans Saner. Frankfurt/M. 1990. Holzhey, Helmut: Cohen und Natorp. Bd. 1: Ursprung und Einheit. Die Geschichte der ‚Marburger Schule‘ als Auseinandersetzung um die Logik des Denkens; Bd. 2: Der Marburger Neukantianismus in Quellen. Zeugnisse kritischer Lektüre. Briefe der Marburger. Dokumente zur Philosophiepolitik der Schule. Basel/Stuttgart 1986. Husserl, Edmund: Zur phänomenologischen Reduktion. Texte aus dem Nachlass (1926–1935). Hg. von Sebastian Luft (Husserliana XXXIV). Dordrecht/Boston/London 2002. Jegelka, Norbert: Paul Natorp. Philosophie – Pädagogik – Politik. Würzburg 1992. Kim, Alan: „Paul Natorp“, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy (http:// plato.stanford.edu/entries/natorp). Köhnke, Klaus Christian: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus. Frankfurt/M. 1986. Luft, Sebastian: „Germany’s Metaphysical War. Reflections on War by Two Representatives of German Philosophy: Max Scheler and Paul Natorp“, in: Clio Onlnine. Themenportal Erster Weltkrieg (http://www .erster-weltkrieg.clio-online.de/site/lang_de-DE/ItemID_208/mid_12122/ 40208738/Default.aspx). : Subjectivity and Lifeworld in Transcendental Phenomenology. Evanston 2011.
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Weiterführende Literatur
Natorp, Paul: „Allgemeine Logik“ (1918/19), in: Werner Flach & Helmut Holzhey, Hgg., Erkenntnistheorie und Logik im Neukantianismus. Hildesheim 1980, S. 227–269. : Philosophische Systematik. Mit einem Vorwort von Hans-Georg Gadamer. Hamburg 2000. : Vorlesungen über praktische Philosophie. Erlangen 1925. Renz, Ursula: „Von Marburg nach Pittsburgh: Philosophie als Transzendentalphilosophie“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59 (2011), S. 249–270. Sieg, Ulrich: Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft. Würzburg 1994. Stolzenberg, Jürgen: „Poesis. Zu Paul Natorps und Ernst Cassirers Begründung der Philosophie“, in: Peter-Ulrich Merz-Benz & Ursula Renz, Hgg., Ethik oder Ästhetik? Zur Aktualität der neukantianischen Kulturphilosophie. Würzburg 2004, S. 135–154.
Vorwort „Allgemeine Psychologie“ will dies Buch begründen und lehren, nicht Psychologie schlechtweg. Nicht in die psychologische Forschung will es unmittelbar einführen, sondern über deren logische Grundlagen Klarheit schaffen. Es ist nicht eine Eigenheit dieser Wissenschaft, sondern allen Erfahrungswissenschaften gemein, dass sie anfangs auf nicht zulänglich geprüftem und gefestetem logischem Grund und Boden ihren Bau zu errichten unternehmen und erst hinterher, wenn Schwankungen eintreten, ja Einsturz droht, auf das Erfordernis fest und tief gelegter begrifflicher Fundamente sich besinnen. Zwar in der empirischen Forschung steckt allemal auch ein gut Teil Logik. Es muss ja in der Fortarbeit der Empirie das Bedürfnis genau und einhellig bestimmter und in Strenge festzuhaltender Begriffe sich auf Schritt und Tritt fühlbar machen. Daher kann eine Wissenschaft es in der Richtung der Spezifikation sogar zu einem hohen Grade von Klarheit und Feinheit auch des logischen Aufbaues gebracht haben und doch, je näher man den Fundamenten kommt, um so mehr die Strenge und Sicherheit leitender Begriffe vermissen lassen. Dass es nun mit der Psychologie in der Tat so bewandt ist, verrät sich deutlich darin, dass in letzter Zeit immer dringlicher, und nicht von den unbedeutendsten Forschern, das Bedürfnis einer Revision der Fundamente empfunden, und nicht selten schon gegen das Ganze dieser Wissenschaft, so wie sie bis dahin betrieben worden, eine tiefeinschneidende Kritik gerichtet wird. Ich nannte es einmal die „Vorfragen“ der Psychologie. Jemand erhob dawider den Einwand: ob es nicht vielmehr Nachfragen seien? Eben das kennzeichnet das Bedenkliche der Lage: die Frage nach den Fundamenten soll zurückgeschoben werden, bis der Bau – wie soll man sagen: fertig ist? Fertig wird er doch nie! Also: bis er stockt, oder gar einstürzt? Wie dem auch sei: jedenfalls gibt es, hier wie in aller | Wissenschaft, das was Aristoteles [iv] als das „an sich Frühere“ von dem „für uns Früheren“: dem Empirischen, unterscheidet1; und jedenfalls ist, hier wie überhaupt, Gegenstand der Philosophie das πρêτον, das nicht bloß (vergleichsweise) Frühere, sondern (schlechthin) Erste in einem jeden Erkenntnisgebiet, die ρχª, der logische, obgleich nicht empirische „Anfang“ der Wissenschaft2; jener Anfang, der 1 2
Nach Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1139b – Anm. d. Hrsg. Nach Aristoteles, Metaphysik, 1019a – Anm. d. Hrsg.
Vorwort
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richtiger „Ursprung“ heißt. „Für uns“, das heißt für den Standpunkt der Erfahrung, von der ja alle „unsere“ Erkenntnis anfängt, obgleich nicht entspringt3, sind alle philosophischen Fragen „Nachfragen“: das ändert aber nichts daran, dass sie die „an sich“ voraufgehenden, dass sie die Fragen des echten „Anfangs“: des Prinzips, oder, was wiederum nichts anderes besagt, des „A priori“ sind. Unsere Psychologie aber will philosophische, sie will, wenn man diese Bezeichnung als die deutlichere vorzieht, Philosophie der Psychologie sein; also überhaupt nicht Psychologie, wofern man darunter empirische Forschung und nichts anderes versteht. Indessen, wie allgemein die Philosophie mit der empirischen Forschung das Problemgebiet gemein hat, nur in zentraler, nicht peripherischer Richtung es bearbeitet, so darf unsere „Allgemeine Psychologie“ eben diesen Namen sich wohl beilegen, weil sie im Problemfelde der Psychologie in der Tat arbeitet, nur selbst nicht, wenigstens nicht unmittelbar, an ihrem Aufbau mitschafft, sondern auf Prüfung – wenn es sein kann: Sicherung, wenn es sein muss: Umbau – der Fundamente wesentlich bedacht ist. Sie gerade sucht den Logos der Psyche; also hat sie wohl auch ein Recht, sich „Psychologie“ zu nennen, nur eben „allgemeine“; allgemein im Sinne des Fundamentalen. Den Weg zur Begründung einer Wissenschaft über die Untersuchung ihrer logischen Grundlagen aber nennt man, seit Kant, den kritischen, insofern er die Krisis vollzieht zwischen dem, was Wissenschaft ist, und was nicht. Also deckt sich die „Allgemeine Psychologie“ mit der Psychologie „nach kritischer Methode“. Die Notwendigkeit aber einer solchen „kritischen“ Grundlegung zur Psychologie ist am dringlichsten bei der Frage, was überhaupt ihr Objekt sei, und was ihre Methode. Das eben ist der unwidersprechliche Beweis der bisherigen Fundamentlosigkeit der Psychologie, dass sie über keine Frage so wenig wie über diese sichere und einmütige Rechenschaft zu geben vermag. [v] Als ich vor nun fast einem Menschen|alter diese merkwürdige Beobachtung machte und dadurch veranlasst wurde, die Frage nach Objekt und Methode der Psychologie mir zu besonderer Untersuchung vorzunehmen4, konnten meine Skrupel befremdlich neu erscheinen und fanden nur wenig Beachtung. Aber seitdem ist dieselbe Frage wieder und wieder, und in zunehmend radikalem Sinne gerade von einigen der eifrigsten und anerkanntesten Empiriker der Psychologie erhoben worden. Dass eine bloße, äußerst knapp gefasste „Einleitung“ in die Psychologie, von einem Verfasser zumal, der empirische Forschungen auf diesem Gebiet nicht aufzuweisen hatte, nicht sonderlich beachtet wurde, ist nichts, worüber man sich zu
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Nach Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 1. – Anm. d. Hrsg. 1887 erschien von Natorp der Aufsatz „Ueber objective und subjective Begründung der Erkenntniss“ und 1888 die Schrift Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode. – Anm. d. Hrsg. 4
Vorwort
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verwundern hätte; zu verwundern ist eher, dass das kleine Buch vom Jahre 18885, nachdem es schon lange vergriffen ist, noch immer begehrt wird und der Wunsch seiner Erneuerung wieder und wieder an mich herantrat. Aber es widerstrebte mir, es in der früheren Gestalt, allenfalls überarbeitet, nochmals herauszugeben. Dem Programm musste endlich die Ausführung folgen; die aber bedurfte einer langen Vorbereitung. Denn so, wie sich die Aufgabe der Psychologie mir ergeben hatte, mussten voraus die Grundlagen der Logik, Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie6 genügend gesichert sein, ehe die neue Fundamentierung der Psychologie gewagt werden durfte. Der dadurch bewirkte lange Aufschub ist aber meiner Arbeit in mancher Hinsicht zustatten gekommen. Das inzwischen sehr gesteigerte Interesse an philosophischer Fragestellung überhaupt und so auch an der Klärung der Fragestellung der Psychologie im ganzen Zusammenhange der philosophischen Systemfragen lässt eine ganz andere Teilnahme für diese Neubearbeitung hoffen, als der ihrerzeit die Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode begegnet ist. Doch war nach so langer Zeit natürlich auch der Teil der Grundlegung, der der alten „Einleitung“ entspricht: die Untersuchung eben über Objekt und Methode der Psychologie, gänzlich neu anzulegen und auszuführen. Denn wenn auch von den früheren Aufstellungen das Wesentliche stehen geblieben ist, so haben doch in der weiteren Durcharbeitung der Grundfragen auch diese letzten Entscheidungen sich mir noch wesentlich geklärt, gefestigt und vertieft. Zugleich bietet die gerade in der Richtung der prinzipiellen Begründung weit fortgeschrittene Arbeit der führenden Psychologen reichen Anlass zu Auseinandersetzungen, die deshalb fruchtbarer werden können, als kritische Auseinandersetzungen unter Philosophen es sonst zu sein pflegen, weil auf der einen Seite | man hier eigentlich erst in den Anfängen [vi] steht, daher die Gefahr einer dogmatischen Verhärtung minder groß ist, auf der andern aber eine Übereinstimmung wenigstens über die allgemeine Richtung, in der die Sicherung des Fundaments allein gelingen kann, schon erreicht ist. Denn nicht bloß in der Problemstellung überhaupt: in der Forderung der reinen Herausarbeitung der Subjektivität als solcher, sondern auch in einer Reihe charakteristischer Thesen im Besondern, stimmen Forscher wie Lipps und Husserl, Münsterberg und Bergson mit meinen Aufstellungen von 1888 wesentlich überein und scheiden sich scharf von der ganzen herrschenden, objektivistisch gerichteten Psychologie. Es dürften daher die kritischen Auseinandersetzungen, denen vornehmlich, aber nicht
5 Gemeint ist die Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode. – Anm. d. Hrsg. 6 Einen Überblick über diese Disziplinen gibt Natorps Programmschrift Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme. – Anm. d. Hrsg.
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Vorwort
allein, die beiden letzten Kapitel des vorliegenden ersten Buches gewidmet sind, auf besondere Beachtung seitens der Mitforschenden wohl rechnen. Wegen der überragenden Wichtigkeit dieser allgemeinsten der allgemeinen Fragen der Psychologie aber schien es angemessen, die auf diese bezügliche, ganz in sich geschlossene und eigengeartete Untersuchung in diesem Bande gesondert zu liefern. Dieser tritt also ganz an die Stelle meiner Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode und mag als deren Neubearbeitung immerhin angesehen werden, obgleich er nur zum kleineren Teil die früheren Gedankengänge wiederholt und auch insoweit fast nur ausnahmsweise die alten Formulierungen unverändert übernehmen konnte. Es ist diesem Bande auch ein eigenes, mit besonderer Sorgfalt ausgearbeitetes Register beigefügt; es soll dadurch dem ernstlich prüfenden Leser die Mühe erleichtert werden, zu jedem besonderen Fragepunkte die nach der Natur so fundamentaler Untersuchungen meist nicht nur an einem Ort zu findenden Stellen zusammenzubringen. So ist es nun freilich wiederum nur die Grundlegung zur Grundlegung der Psychologie, was in diesem ersten Bande dem Leser vorliegt. Aber ihre fernere Durchführung ist jetzt soweit vorbereitet, dass ich sie, wenigstens ihrem erstwichtigen Teile nach, für das nächste Jahr in bestimmte Aussicht stellen darf. Nach meiner Disposition (Kap. X) hat sich die Grundlegung der Psychologie gleichsam in zwei Dimensionen zu erstrecken: sie hat einerseits, als „Allgemeine Phänomenologie“ des Bewusstseins, dessen Bestand überhaupt, [vii] seiner Art nach, in systematischem Aufbau zu entwickeln, andererseits für | die Stufenfolge der Erlebniseinheiten das logische Grundgerüst zu liefern. Die erstere Untersuchung betrifft den logischen Aufbau der Psychologie nach der ontischen, die letztere nach der genetischen Seite. Die erstere ist noch fundamentaler als die letztere und muss in geschlossener Ganzheit gegeben werden können; was in gleichem Grade von der letzteren nicht gefordert werden kann. Der zweite Band soll die Phänomenologie in Vollständigkeit erbringen; ob auch schon die Systematik der Erlebniseinheiten, vermag ich in diesem Augenblick noch nicht zu übersehen.
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Marburg, im Oktober 1912. Der Verfasser. |
Erstes Kapitel
Geschichtliche Orientierung über das Problem der Psychologie §1. Absicht der geschichtlichen Orientierung. Der grundlegende Teil der allgemeinen Psychologie hat die beiden unter sich eng verbundenen, nur in der Abstraktion zu sondernden Aufgaben: 1. den Begriff des Psychischen, als dessen, was die Psychologie zu untersuchen hat, 2. den Begriff dieser Untersuchung, ihr Ziel und ihren Weg, festzustellen. Was ist der Sinn der Psyche, deren Logos gesucht ist, und was der Sinn dieses Logos? Kurz lassen sich die beiden Fragen bezeichnen als die nach dem Objekt und nach der Methode der Psychologie. Unter „Objekt“ wird hier verstanden: der „Vorwurf“, das Problem; das, wonach in der Psychologie die Frage ist, nicht die Antwort. Man nehme das Wort rein im Sinne des grammatischen Objekts der Untersuchung, welche die Psychologie jedenfalls bedeutet: was ist ihr „Gegenstand,“ das heißt, was ist es, das der Erforschung und Feststellung bedarf, welche unter dem Titel der Psychologie sich ankündigt? Nur wenn das zur Klarheit gebracht ist, lässt sich über den „Gang“ dieser Untersuchung, über die „Methode“, etwas Sicheres ausmachen. Ja, es wird durch die bestimmte Bezeichnung des zu Erforschenden der Weg der Forschung seiner allgemeinen Richtung nach schon vorgezeichnet sein; ihn im besonderen zu bestimmen, bleibt darum doch noch eine eigene Aufgabe. Eine philosophisch radikale Beantwortung beider somit eng verknüpften Fragen wäre nur im Zusammenhange des Systems der Philosophie zu geben möglich1. Hier wird dieser höchste Anspruch nicht erhoben. Um so weniger braucht der Umweg vermieden zu werden, der über die geschichtliche Orientierung auf die systematische Entscheidung erst hinleitet. Denn allerdings auf den systematischen Zusammenhang der philosophischen Probleme muss die Entscheidung | sich schließlich stützen. Die Vorführung [2]
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Hermann Cohen (1842–1918), das Schuloberhaupt der Marburger Schule, verfasste ein „System der Philosophie“ mit den drei Teilen Logik der reinen Erkenntnis, Ethik des reinen Willens und Ästhetik des reinen Gefühls. Das System sollte zum Abschluss kommen mit einem letzten Band, der eine Psychologie als „Einheit des Kulturbewusstseins“ enthalten sollte. Cohen verstarb jedoch vor Abschluss des letzten Teils. – Anm. d. Hrsg.
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Erstes Kapitel
geschichtlicher Tatsachen kann den gesuchten Begriff nicht erbringen; sondern am Stoff der Geschichtstatsachen muss eine kritische Arbeit sich vollziehen, für die kein anderer letzter Maßstab gilt als die Systemeinheit der Philosophie. Indessen könnte es sein, dass diese kritische Arbeit zu einem guten Teile schon geschichtlich vorläge. Dann würde die Kritik selbst bis zu einem gewissen Punkte in der Form der historischen Vorführung gegeben werden können. Und wenn dann auch zuletzt noch ein wesentlicher Schritt über das geschichtlich Vorliegende hinaus gewagt werden muss, so wird auch dieser Schritt sich am leichtesten einführen, wenn er als Konsequenz einer Folge von Schritten sich erweist, die bereits getan sind. §2. Der naive Monismus. Alles naive Reflektieren über Grundfragen der Erkenntnis richtet sich zunächst skrupellos aufs Objekt, als ob es gegeben sei. Man weiß vielleicht ganz wohl, aber wird noch nicht zu aufrüttelnden Zweifeln dadurch angeregt, dass Objekte doch in jedem Fall von uns, den Subjekten, wahrgenommen, vorgestellt, gedacht, dass sie Gegenstände des Bewusstseins sind; man fragt noch nicht, welche ganz allgemeine Konsequenz sich daraus für die behauptete Objektivität unserer Erkenntnis ergibt. Oder die Subjektivität wird vielleicht schon ausdrücklich beachtet als das selbstverständlich notwendige Mittel, die Objektivität zu erfassen; aber als solches Mittel wird doch sie selbst noch ganz in der Art eines Objekts, als ein Bestandteil der Objektwelt, nicht als ihre Grundvoraussetzung, ins Auge gefasst; etwa als ob man ein Instrument, das man zum Sehen braucht, dann auch selber besichtigte, um seine Beschaffenheit zu prüfen, den Grund seiner etwaigen Mängel zu erkennen und so den Fehler, den es in unsere Auffassung der Objekte brachte, berichtigen zu können. Mag in dem Problemwort „Psyche“ sogar schon eine gewisse Ahnung der unvergleichlichen, hoch problematischen Eigenart des Bewusstseins sich ausdrücken – wie wenn Heraklit in dem Worte, welches diesem Buche als Motto vorgesetzt ist, das Staunen naiv ausspricht über die abgründlichen Tiefen der Seele, deren Grenzen man nicht ausfände, auch wenn man jegliche Straße abschritte, so tief liege ihr Logos –: als eine ganz eigene Aufgabe des Erkennens, grundverschieden von und gar vorausgehend aller Nachfrage nach den Objekten, wird die Subjektivität noch langehin nicht [3] gewürdigt. | Man sucht eben und glaubt zu erkennen, was „ist“, insbesondere, als Philosoph, was schlechthin, ursprünglich „ist“. In dieser Forderung eines Ur-Seins aber liegt schon, dass das, was ist, jedenfalls in seinem letzten, verborgensten Grunde Eines sein, in dieser Einheit aber unterschiedslos Alles, was ist, umfassen müsse. Es soll sein Eines in Allem, Alles in Einem; mithin über allen Gegensatz hinaus; also zum Beispiel nicht Stoff, im Unterschied und Gegensatz zur Form oder zur Bewegung oder zur Kraft, oder eins von diesen, im Gegensatz zum Stoff, sondern geformter,
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bewegter, kraftbegabter Stoff, in den Stoff eingegangene Form, an ihm sich darstellende Bewegung oder Kraft; ebenso nicht lebloser Leib, im Unterschied und Gegensatz zum Lebendigen, oder Lebendiges im Gegensatz zum Leblosen, sondern lebendiger Leib, leibhaftes Leben; und so denn auch nicht seelenloser Körper, körperlose Seele, sondern beseelter Körper, eingekörperte Seele. Dem naiven Monismus aller ursprünglichen Philosophie widerstrebt daher vor allem jede Absonderung des Psychischen. Darin liegt auch ohne Zweifel eine richtige Ahnung: in letzter Instanz verträgt das Psychische wirklich keine Absonderung. Aber doch musste es erst einmal für die Betrachtung abgesondert werden, wenn es überhaupt in seinem eigenartigen Problemcharakter erkannt werden sollte. Vor solcher abstrakten Sonderung aber scheut der durchaus konkret gemeinte Monismus der urwüchsigen Philosophie zurück; deshalb ist es nicht eben das Problem des Bewusstseins oder der Subjektivität als solcher, welches in der Philosophie zuerst entdeckt wird. §3. Die Naturphilosophen und Aristoteles. Kaum eine andere als diese naiv monistische Auffassung kennt die archaische Philosophie der Griechen, die der sogenannten Naturphilosophen bis in die Zeit des Sokrates; für sie charakteristisch ist der Hylozoismus, der der Begründung einer von der Körperlehre abgesonderten Seelenlehre offenbar nicht günstig ist. Aber auch nachdem, besonders seit Plato, alle jene begrifflichen Scheidungen – Stoff gegen Form, Bewegung, Kraft, Leben gegen Lebloses, Seele gegen Körper – scharf herausgetreten und damit das eigene Problem des Psychischen schon nahe genug gestreift worden ist, findet dennoch der erste Begründer einer Psychologie, als abgesonderter philosophischer Wissenschaft, Aristoteles, nichts nachdrücklicher zu betonen als die wirkliche Un|getrenntheit aller jener Momente, deren begriffliche Scheidung zwar in [4] ihrer ganzen Strenge festgehalten, wenn nicht noch verschärft wird; genauer: ihre Ungetrenntheit im Bereiche des für den Menschen erfahrbaren, des natürlichen Seins; über welchen Seinsbereich indessen nur, nachdem er ganz durchmessen ist, letzten Endes die Metaphysik einige wenige behutsame Schritte mehr fragend und mutmaßend als entscheidend hinaus zu tun wagen darf. Ganz ins Natürliche eingespannt erscheint daher – wenn von jenem letzten metaphysischen Ausblick einmal abgesehen wird – bei Aristoteles, kaum anders als bei den alten Naturphilosophen, die Seele (Psyche). Zwar wird sie durchaus als Funktion, in Aristoteles eigenem Ausdruck als „Energie“, das heißt, als in Tat begriffen gedacht, aber eben nur als Beseelung des Leibes; noch hebt ihr Begriff sich daher keineswegs streng ab von dem des Lebens, vielmehr er fließt mit diesem fast ganz in eins zusammen. Die Untersuchung „über die Seele“ (Περ½ ψυχ²σ, De anima; „Psychologie“ ist erst moderne Wortprägung) umfasst die gemeinsamen
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Grundvoraussetzungen für die gesamten Wissenschaften von der lebenden Natur, also die Gesetze des pflanzlichen Lebens nicht minder als des tierischen und menschlichen; die (auf die Pflanzen sich miterstreckenden) Funktionen der Atmung, Ernährung, Fortpflanzung, Fortbewegung so gut wie die (dem Tier eigenen) des Empfindens, Fühlens, Begehrens, und die (dem Menschen eigentümlichen) des vernünftigen Denkens und Wollens. Eine bestimmte Abgrenzung und begriffliche Zusammenfassung solcher Lebensfunktionen des Organismus, denen das Merkmal der Bewusstheit gemeinsam und eigentümlich ist, gegenüber solchen anderen, in deren Betrachtung von einem etwa begleitenden Bewusstsein mindestens abgesehen werden kann, fehlt durchaus. Dagegen hat Aristoteles mit hinreichender Klarheit die Verwandtschaft und den Grund der Zusammengehörigkeit dieser so verschiedenen Klassen von Lebensbetätigungen erkannt und zum Ausdruck gebracht. Der einigende Gesichtspunkt ist der der Organisation, und zwar der aus gegebenen Anlagen sich entwickelnden. Aristoteles ist der Entdecker des Begriffs des Organischen, mit dem wesentlichen Merkmal der Entwicklungsfähigkeit. Mit einer für den damaligen Stand der Kenntnis und der theoretischen Reflexion gleich bewundernswürdigen, doch eben von diesem Standpunkt wiederum begreiflichen Unbefangenheit aber [5] sucht | er die Organisation auch zu den in unserem Sinne seelischen, das heißt Bewusstseinsfunktionen im Körper. Der Körper ist organisiert, wie zu allen ohne Bewusstsein sich vollziehenden, physiologischen Funktionen des Lebens, der Lebenserhaltung, Lebensfortpflanzung, so zu den heute als psychisch unterschiedenen, das heißt: Bewusstseinsleistungen. Insbesondere die Entwicklung des Bewusstseins wird mit der der körperlichen Organe, an die es in der Tat aufs engste gebunden ist, völlig in eins gefasst2. Auch die bewussten Funktionen sind Funktionen des Körpers, mithin die Psychologie eine Naturwissenschaft, wie dem Objekt, so auch der Methode nach; ausdrücklich wird im Eingang der Untersuchung über die Seele betont, dass man in dieser wie in aller Naturwissenschaft die Erklärungsgründe von den Erscheinungen abzuleiten, also nicht etwa aus irgend einer unmittelbaren Innenschau zu schöpfen habe3. Innerhalb des weiten Rahmens der Naturwissenschaften aber ist Psychologie die Grundwissenschaft von der belebten, der organischen Natur. Mit modernem Namen wäre sie Allgemeine Biologie zu betiteln. Die berühmte aristotelische Definition der Seele als „Entelechie (erster Stufe) des der Anlage nach lebendigen Körpers“ ( ντελ¢χεια © πρâτη σâµατοσ δÒναµει ζων £χοντοσ4) hat wesentlich diese Bedeutung: der zur
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Vgl. Aristoteles, De Anima, B 1 (412a–413a). – Anm. d. Hrsg. Vgl. Aristoteles, De Anima, A 1 (402a–403b). – Anm. d. Hrsg. Aristoteles, De Anima, B 1 (412a). – Anm. d. Hrsg.
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Ausübung der Lebensfunktionen befähigte, gleichsam fertige, nämlich für sie organisierte und entwickelte Körper, dieser sei der beseelte. Im Begriff der Lebensfähigkeit werden alle die Bedingungen wirklichen Lebens zusammengefasst, welche im körperlichen Organismus selbst gegeben sein müssen, damit er, natürlich wenn auch die notwendig hinzukommenden äußeren Bedingungen erfüllt sind, wirklich leben könne; von der so verstandenen Lebensfähigkeit des Körpers wird dann die wirkliche Lebendigkeit desselben, welche die Seele, als die Beseelung des Körpers, ausmacht, ferner nur unterschieden wie der Akt (oder die „Energie“) von der bloßen Potenz. Der Lieblingssatz der Materialisten: Keine Kraft ohne Stoff, kein Stoff ohne Kraft, fände auf das Verhältnis von Seele und Leib nach Aristoteles genau entsprechende Anwendung. Zwar führt Aristoteles letzten Endes noch eine reine stofflose Energie des Denkens ein, deren Annahme durch seine Definition der Seele eigentlich ausgeschlossen sein sollte5; indessen lässt seine nüchterne Empirie ihn nicht verkennen, dass auch das reinste Denken, jedenfalls beim Menschen, an die Tätigkeit der Phantasie und | durch diese [6] an das Funktionieren leiblicher Organe strengstens gebunden ist; und so hebt diese durch letzte metaphysische Erwägungen diktierte Abweichung von der sonst ganz rein durchgeführten naturalistischen Begründung der Psychologie sich fast von selbst wieder auf; es darf davon hier, wo es auf die Grundauffassung der Psyche und der Psychologie allein ankommt, so gut wie ganz abgesehen werden. §4. Naturalistische Psychologie der Neuzeit. Der Naturalismus der Psychologie ist somit, historisch angesehen, nicht etwa eine späte Errungenschaft sei es des modernen, oder auch des antiken, das heißt, vorzugsweise des epikureischen Materialismus, sondern er ist die ursprünglichste aller Stellungnahmen zum Probleme der Psyche. Er hat unter dem durch die Jahrtausende fortwirkenden Einflusse des Aristoteles sich zwar nicht ganz streitlos behaupten können, sondern ist vielfach mit von anderen Seiten her entwickelten Auffassungen (von denen bald zu reden sein wird) in Widerspruch getreten. Aber er hat sich, in der Grundrichtung wenigstens, immer erhalten, und es ist aus dem Schoße der modernen, sonst vielmehr im fortgesetzten Kampfe gegen Aristoteles allmählich erstarkten Naturauffassung eine der seinigen innerlichst verwandte, obgleich mit einem wesentlich anderen Begriffsapparat arbeitende naturalistische Psychologie neu erstanden. Nicht mehr auf dem Grunde der naiv dogmatischen Vorannahme der Alleinheit des „Seienden“, sondern auf dem wohlgeprüften, durch den siegreichen Fortgang der Wissenschaft selbst wie durch die tiefbohrende kritische Arbeit der Erkenntnistheorie von Descartes bis Kant immer mehr gefestigten Boden
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Vgl. Aristoteles, De Anima, Γ 5 (430a). – Anm. d. Hrsg.
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der Einheit der theoretischen Erkenntnis – einer Einheit, gegründet in deren Methode, jener Methode, deren kurz zusammenfassender Ausdruck die Kausalität ist – wächst langsam, aber um so stetiger und widerstandsfähiger, der stolze Bau der modernen naturalistischen Psychologie6. Fast keiner von denen, welche vom 17. Jahrhundert ab die psychologische Forschung ernstlich gefördert haben, wie verschieden auch sonst ihr Vorgehen sein mochte, lässt sich überhaupt in den Sinn kommen, die psychisch genannten Erscheinungen anders als zum wenigsten nach physischer Analogie, nach den allgemeinen Methoden der Naturwissenschaft, insbesondere unter dem obersten leitenden Gesichtspunkte empirischer Kausalität in Betracht zu ziehen. Damit aber ordnet sich der Bereich des Psychischen, [7] auch wenn von jeder ausdrück|lichen Festsetzung darüber abgesehen, wenn die Frage nach dem Verhältnisse des Physischen und Psychischen als eine die Empirie übersteigende, „metaphysische“ Frage ganz aus dem Spiel gelassen wird, doch faktisch durchaus der „Natur“ ein und unter. Und wenn dieser Naturalismus allerdings nicht mehr in der gleichen naiven Selbstsicherheit auftreten kann wie bei den Alten, wenn feinere, schärfer zugespitzte begriffliche Erwägungen und Distinktionen mit der Zeit nötig werden, um ihn gegen die immer ernster sich erhebenden Einwendungen zu sichern – er erhält sich, vor allem in der Arbeit der psychologischen Forschung selbst. Er behauptet das Feld, gestützt auf den kräftigsten Beweis, den es geben kann, den Beweis der Tat. Ein Weg, auf dem man sichtlich vorwärts, dem Ziele näher rückt, muss schon, wenigstens in der Grundrichtung, der rechte sein, welche Zweifel auch, bevor man ihn betrat, gegen ihn begründeter Weise obgewaltet haben und vielleicht einer abstrakt logischen Reflexion noch fort und fort zu schaffen machen mögen. Mindestens eine Seite der Wahrheit, und am Ende die wichtigste, muss die Wissenschaft getroffen haben, welche des Erfolges sich rühmen darf, dass sie die Erkenntnis der Sache wirklich und mächtig weitergebracht, dass sie Einsichten zutage gefördert hat, denen auch der theoretisch Zweifelnde, mit welchen Vorbehalten und Verwahrungen auch immer, doch irgend einen Grad von Zustimmung nicht versagen kann. §5. Das Problem der Psychologie als das der Subjektivität. Indessen, die Zweifel bestehen und wollen irgendwie beschwichtigt sein. Braucht die psychologische Einzelforschung nach naturwissenschaftlicher Methode sich durch sie nicht stören zu lassen, da ihr Recht durch den glücklichen Fortgang der Erkenntnis selbst ihr hinreichend verbürgt ist – Philosophie wenigstens, die nach der Einheit der menschlichen Erkenntnis als eines unteilbaren Ganzen, und nicht bloß nach der praktisch hinreichenden Bewährung einer
6 Vgl. hierzu Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, I, S. 314–435 & S. 553–567. – Anm. d. Hrsg.
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einzelnen, wenn auch noch so wichtigen Wissenschaft fragt; die auch mit der bloßen kritischen Rechtfertigung einer besonderen Erkenntnisart (der theoretischen und zwar kausalen) sich nicht begnügen kann, – sie darf an diesen Zweifeln keinesfalls achtlos vorbeigehen. Diese Zweifel betreffen in der Tat nicht bloß die Art des Vorgehens in der psychologischen Forschung, sondern deren ganzes Problem; sie stellen die Existenzfrage dem ganzen Begriff einer Psychologie, sei es als eines Zweiges | der Naturwissenschaft, [8] oder zwar als einer eigenen Wissenschaft neben dieser, die aber doch von der allgemeinen Art der Naturwissenschaft, und also nach gleicher Methode wie sie zu bearbeiten sei. Die Zweifel betreffen überhaupt den Begriff des Psychischen, als Gegenstandes einer Untersuchung, gleichartig der Naturwissenschaft, wenn nicht ganz dieser zugehörig. Der klare, in der Tat durchschlagende Grund des Zweifels ist dieser: „Natur“ besagt Objektivität; Natur ist nur der kurze Ausdruck für den Inbegriff dessen, was überhaupt Objekt und zwar bloß theoretischer Erkenntnis zeitbestimmter Vorgänge ist. Die Denkmittel und Methoden für sie sind daher identisch mit denen theoretischer Objektsetzung überhaupt. Die Psyche dagegen will, allem Objekt gegenüber, vielmehr das bedeuten, dem allein etwas Objekt, das aber selbst nicht wiederum Objekt sei; entweder überhaupt nicht, oder jedenfalls nicht im gleichen Sinne; wie für sie die Natur, alles was zur Natur gehört, Objekt ist. Das Psychische bedeutet, mit anderen Worten und mit einem Wort gesagt, das Subjektive, rein als dieses. Können auf dieses überhaupt die gleichen Begriffsschemata Anwendung finden, durch welche vielmehr das Objekt als solches gedacht wird, zumal das Objekt einer besonderen Art, das Objekt der Natur? Das ist die ernste Frage, welche, selbst in dieser ganz vorläufigen, genauerer Bestimmung dringend bedürftigen Fassung sich als die Existenzfrage der naturalistischen Psychologie (und bisher gibt es kaum eine andere) zu erkennen gibt. §6. Entdeckung des Psychischen als des Subjektiven. Protagoras. Geschichtlich taucht das neue Problem der Subjektivität, aus dem schon bemerkten Grunde, allerdings vergleichsweise spät erst auf, und wird auch dann entfernt nicht sofort nach seiner ganzen, umwälzenden Bedeutung verstanden. Schon das natürliche, ohne Skrupel aufs Objekt gerichtete Bewusstsein vermag zwar auf der Stufe der Naivität nicht lange zu verharren, dass es alles, was wir wahrzunehmen meinen, vollends, was wir bloß vorstellen oder denken, ganz so wie wir es wahrnehmen, vorstellen, denken, an sich „seiend“ glaubte; es lernt bald genug unterscheiden zwischen solchen Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken, welche dem Objekt gemäß, also gegenständlich wahr sind, und solchen, die ihr Objekt gleichsam verfehlen, d.h. ihm gemäß sein möchten, aber es nicht sind. Es lernt unterscheiden | zwischen Wahrheit und [9] Schein, zwischen dem, was an sich so „ist“, und was nur „uns“, den Menschen,
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sich so darstellt, so „erscheint“ in unseren Wahrnehmungen, Vorstellungen oder Gedanken. Aber es gelangt noch nicht sogleich auch dahin, den Grund dieses Scheinens und nicht Seins allgemein im Verhältnisse des Objekts zu etwas Anderem: unserer Subjektivität, zu suchen, namentlich aber, dies Andere nun zum Vorwurf einer eigenen Untersuchung zu machen. Denn das Interesse der Erkenntnis haftet insoweit ausschließlich am Objekt. Was sich nicht als objektiv richtig festhalten lässt, wird abgewiesen, wenigstens vorerst aufseite gestellt; es interessiert nicht, man fragt ihm nicht weiter nach, oder sucht allenfalls im einzelnen für den trügenden Schein einzelne, wiederum objektive Gründe aufzuzeigen. Die bloße, bei jedem geringsten Erkenntnisversuch sich aufdrängende Unterscheidung von Wahrheit und Schein oder Erscheinung (zwischen welchen beiden Begriffen zunächst kaum unterschieden wird) ist also noch längst nicht die Entdeckung der Subjektivität als eines eigenen Problems. Immerhin bezeichnet sie, innerhalb einer übrigens noch durchaus objektiv gerichteten Denkweise, den Punkt, von welchem die Entdeckung dieses Problems ausgehen konnte und schließlich ausgehen musste. Sie fasst die Subjektivität wirklich schon ins Auge, aber nur vom Standpunkte der Objektivität, im Höchstfall als deren Negativ. Eine weit entschiedenere Wendung zur Subjektivität bedeutet es dagegen, wenn Protagoras auftritt und erklärt, „der Mensch“ sei das Maß für die Dinge, d.h. das Subjekt für das Objekt. „Wir“, die Subjekte, erkennen überhaupt in keinem Fall, was die Dinge an sich sind oder nicht sind; sondern allein, was sie sind oder nicht sind für uns, die jedesmal Wahrnehmenden oder Vorstellenden oder Urteilenden, kurz das jedesmalige Subjekt. Ja, es gibt überhaupt kein, wenigstens uns erreichbares „Sein“ (οÐσºα) oder „Wahre“ (ληq¢σ), welches das der Dinge selbst wäre, sondern was „wir“ als solches ansprechen und zu erkennen meinen, ist stets nur „Sein für uns“7, für das jedesmalige Subjekt8. Damit ist zum ersten Mal (wenigstens für den Okzident) die Subjektivität selbst und als solche (obgleich eine solche Benennung noch fehlt) in den [10] Bereich philosophischer Erwägung gerückt. Allein die | Wendung ist auch jetzt entfernt noch nicht eine totale. Immer noch wird das Interesse an der
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©µêν τν οÐσºαν Platon, Theaitetos, 160b, τ²σ µ²σ οÐσºασ C. Anders ©µετ¢ρα οÐσºα Phaidon 76 E, vgl. αÐτ²σ (sc. τ²σ ψυχ²σ) 92 D. Darüber siehe unten Kap. 4, §14. [Natorp zitiert hier verschiedene Wendungen bei Platon, die als „Sein für uns“ übersetzbar sind. – Anm. d. Hrsg.] 8 Natorp zitiert hier aus dem berühmten homo mensura-Satz des Protagoras, der in Platons Dialog Theaitetos wiedergeben wird (vgl. 152a) und in deutscher Übersetzung lautet: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, wie sie sind, und der Nichtseienden, wie sie nicht sind.“ – Anm. d. Hrsg.
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Subjektivität als solcher weit überwogen durch das an der Erkennbarkeit des Objekts. Was das „Maß“ sei für die Dinge, also fürs Objekt, wie viel – oder wie wenig wir, infolge unserer Subjektivität, vom Objekt erkennen, diese Frage bleibt noch die beherrschende; sie erscheint ohne Vergleich wichtiger, als die andere, was denn die Subjektivität selbst eigentlich sei. Selbst indem man, wie eben Protagoras, in jenem urwüchsigen Radikalismus, in welchem allgemein das beste Verdienst der ältesten philosophischen Versuche der Griechen liegt, die Subjektivität im schroffsten, abstraktesten, daher schlechthin ausschließenden Gegensatz zur Objektivität denkt, bleibt es im Grunde bei der bloßen, absoluten Verneinung der Erkennbarkeit einer reinen Objektivität; nicht aber tritt an die Stelle des damit für nichtig erklärten Problems der Objektserkenntnis nun etwa als neues, zentrales Problem das der Erkenntnis der Subjektivität. Sie glaubt man zu haben; denn wie hätten wir nicht – uns selbst! Also scheint sie überhaupt kein Problem zu sein. So ist die Subjektivität zwar entdeckt, aber noch nicht eigentlich in Besitz genommen, nicht zum Gegenstand einer eigenen, ausschließlich und ihrer selbst wegen auf sie gerichteten wissenschaftlichen Untersuchung erhoben. § 7. Erste Ansätze zur positiven Charakteristik der Bewusstheit. Auch Plato tut den entscheidenden Schritt zur Psychologie nicht, obgleich er von mehr als einer Seite, wohl eher als irgend ein anderer Philosoph des Altertums, dazu vorbereitet war. Ihm verdanken wir vor allem die eindringliche Darlegung und Kritik der Entdeckung des Protagoras, im Dialog „Theaetet“. Gerade dieser zeigt Plato selbst der entscheidenden Wendung so nahe wie vielleicht keine zweite philosophische Schrift des klassischen Altertums. Aber doch ist es, hier wie überhaupt, nur im Zusammenhange anders, nämlich kritisch, auf die Grundlegung der Logik und Ethik gerichteter Untersuchungen, dass Plato in das Gebiet der Subjektivität einige tiefere Blicke tut. Bis in welche Tiefen diese reichen, davon wird noch weiterhin zu reden sein; hier muss es bei der negativen Feststellung bleiben, dass auch er die Subjektivität als ein ganz eigenes und zwar fundamentales Problem der Philosophie dennoch nicht voll erkannt hat. Das ist im Grunde auch wohl begreiflich. Denn gerade, wenn das Problem des Bewusstseins von allen philosophischen Problemen das | tiefstliegende, [11] zugleich inhaltlich umfassendste, also in jedem Sinne der Systemordnung nach letzte Problem ist, so wird es auch erst nach allen anderen in seiner ganzen, radikalen Bedeutung erfasst werden können. Es musste erst der sichere Grund gelegt sein zur Logik, zur Ethik, ja auch zur Ästhetik und Religionsphilosophie, bevor das Problem des „Bewusstseins“ seiner ganzen Tiefe und Weite nach gestellt und genau in dem Maße, als jene Vorbedingungen erfüllt waren, wissenschaftlich beantwortet werden konnte. Es war aber die eigentliche Mission Platos, zu allen jenen der Philosophie
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wesentlichsten Disziplinen erst den Grund zu legen. Dabei musste er wohl fast in jeder einzelnen der ihn beschäftigenden radikal-philosophischen Fragen auch auf das Problem des Bewusstseins stoßen und stößt wirklich darauf. Aber er darf und kann in die Untersuchung dieses ganz eigen gearteten Problems sich noch nicht tiefer einlassen, weil zu viele erst von weitem dazu vorbereitende Schritte noch zu tun waren. Man baut eben auch das Haus der Philosophie nicht vom Dach herab, sondern von den Fundamenten aufwärts. Ganz verständnislos dagegen erweist sich Aristoteles gegen die bedeutende Anregung des Protagoras und die noch ungleich tieferen Ansätze zur Psychologie bei Plato. So ist es ihm möglich, seine Psychologie, ganz als ob nichts geschehen sei, in jenem rein objektiven, naturalistischen Sinne aufzubauen. Aber auch die Richtungen der alten Philosophie, welche an Protagoras bewusst angeknüpft und seinen Gedanken im wesentlichen treu bewahrt haben, die Kyrenaiker und dann die Skeptiker (spätere Akademiker wie Pyrrhoneer) zeigen sich ausschließlich interessiert an dessen negativ kritischer Konsequenz für Logik, Physik und Ethik, während sie zur Psychologie als Wissenschaft der Subjektivität höchstens beiläufig, im Zusammenhange erkenntniskritischer Erwägungen, einiges Wenige beitragen. §8. Die Neuplatoniker; Augustin. Indessen konnte, nach Plato, selbst eine so starr objektivistische Psychologie wie die des Aristoteles an der Eigenart des Bewusstseins nicht mehr ganz achtlos vorbeigehen. Schon er, deutlicher dann, in sichtlicher Anknüpfung an ihn, die Neuplatoniker, beachten wenigstens den Unterschied zwischen Bewusstsein und bewusstlosem Haben von [12] Vorstellungen9. Das | „begleitende“ Bewusstsein (παρακολουqεÂν ist der Ausdruck) wird beschrieben als ein Reflexakt (νακαµπτοÒσησ τ²σ διανοºασ, „indem das Denken sich zurückbiegt“); aber freilich wie ein besonderer Akt, der zu dem des Empfindens, Vorstellens usw. wie nachträglich hinzutritt; eine Auffassung, die nur zu deutlich noch das einseitige Ausgehen vom objektiven Geschehen verrät, aber immerhin beweist, dass man auf die Eigenheit des Bewusstseins aufmerksam ist und nach etwas wie einer Erklärung, oder wenigstens nach einem bezeichnenden Ausdruck dafür sucht. Mächtigen Einfluss musste auf die Weiterentwicklung der psychologischen Besinnung die entschiedene Wendung auf das Innenleben der Seele üben, welche, im späteren Altertum von vielen Seiten vorbereitet, durch das Eindringen der religiösen Gedanken des Orients neu und stärker angeregt, durch das Christentum, besonders seitdem es sich philosophisch zu
9 Hermann Siebeck, Geschichte der Psychologie I, 2, S. 331ff. und „Die Willenslehre bei Duns Scotus und seinen Nachfolgern“, S. 213ff. [Siebeck zitiert hier Galen – Anm. d. Hrsg.]
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fundamentieren genötigt war, zur vollen Entfaltung gebracht wurde. In Augustinus namentlich, der ebenso wohl neuplatonischer Philosoph wie paulinischer Christ war, trafen die Anregungen von der philosophischen und der religiösen Seite zusammen. So wundert man sich nicht, gerade bei ihm bereits auf den nachmals von Descartes betonten Satz zu stoßen: dass wir des eigenen, seelischen Seins im bloßen Bewusstsein unmittelbarer und näher gewiss sind als irgendeines Daseins äußerer Gegenstände; denn auch wenn wir an allem Dasein von Dingen außer uns zweifeln würden, so würde selbst dieser Zweifel, als eine Modifikation unseres Bewusstseins, uns des eigenen, psychischen Daseins unwidersprechlich gewiss machen10; eine kritische Wendung des Bewusstseinsbegriffs, die zwar als solche nicht Psychologie ist und auch bei Augustin nicht zu ihr führt, aber doch erkennen lässt, bis zu welchem Grade der Bestimmtheit der Begriff des Selbstbewusstseins, als des Gemeinsamen und Zugrundeliegenden in allem, was wir innerlich erleben, und damit als Voraussetzung auch für alles, was wir als Objektives von uns, den Subjekten, unterscheiden und uns gegenüberstellen, denen wenigstens, die auf der Höhe der bis dahin erreichten philosophischen Besinnung stehen, bereits lebendig geworden ist. § 9. Descartes und seine nächsten Nachfolger. Diese selbe Erwägung aber wird in Descartes geradezu zum Ausgangspunkt der | ganzen modernen [13] Philosophie über das, was „ist“, der philosophischen Grundwissenschaft (prima philosophia), im üblichen Ausdruck: der Metaphysik. Auf Grund dieser Erwägung stellt Descartes zum ersten Mal in vollkommener begrifflicher Schärfe, in einem ganz antik anmutenden Radikalismus auseinander und gegeneinander das Bewusstsein mit allem seinem Inhalt – der Ausdruck dafür ist bei ihm Cogitatio, Denken, welches jedoch nach seiner weitesten Bedeutung erklärt wird als Bewusstseinsinhalt überhaupt, daher zum Beispiel Wollen, Einbildung, Empfindung mitumfasst11 – und andererseits die körperliche Existenz, als deren allgemein unterscheidendes Merkmal die Ausdehnung (extensio) gilt; ausdrücklich in dem Sinne, dass auch alle Erkenntnis der letzteren, als ein Bewusstsein, auf den Denkenden bezogen,
10 Vgl. Hermann Leder, Untersuchungen über Augustins Erkenntnistheorie, S. 66ff., S. 76ff. 11 René Descartes, Principia I 9: „Cogitationis nomine intelligo illa omnia quae nobis consciis in nobis fiunt, quatenus eorum in nobis conscientia est. Atque ita non modo intelligere, velle, imaginari, sed etiam sentire idem est hic quod cogitare etc.“ [Kursivierung von Natorp. Übers.: „Unter Denken verstehe ich alles, was mit Bewusstsein in uns geschieht, insofern wir uns dessen bewusst sind. Deshalb gehört nicht bloß das Einsehen, Wollen, Vorstellen, sondern auch das Wahrnehmen selbst zum Denken. – Anm. d. Hrsg.]
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zur Innenwelt der Cogitatio gehöre und die Existenz des Denkenden weit unmittelbarer und sicherer als die des Gedachten beweise. Damit ist zum ersten Male die Absonderung des Bewusstseinsbegriffs klar und in voller Allgemeinheit vollzogen. Von hier aus hätte es nun nahe gelegen, sich die Aufgabe einer Psychologie zu stellen, welche den Bestand des Bewusstseins – jenes „Alles, was mit unserem Bewusstsein in uns geschieht, sofern davon ein Bewusstsein in uns ist“ – rein in dieser klar erkannten Eigenheit und Selbständigkeit darzustellen hätte, völlig unabhängig von jeder Voraussetzung über eine dem Bewusstsein äußerliche Existenz, ja überhaupt von jeder Nachfrage nach einer solchen. Das Merkwürdige ist, dass diese Aufgabe gleichwohl auch von Descartes nicht gestellt wird. Es bleibt eben auch sein philosophisches Interesse, trotz jener fundamentalen Einsicht, noch überwiegend gerichtet auf das Objekt, die Natur; darüber hinaus allenfalls auf die Gottheit, bezüglich deren er übrigens, ähnlich wie Aristoteles, sich begnügt, nur überhaupt ihren Begriff aufzustellen und ihr Dasein (wie er meint) zu beweisen12. Es ist bekannt, wie „Gott“ bei Descartes eigentlich nur als letzter Garant für die Gewissheit des Naturseins dient. Was aber die menschliche Seele betrifft, so wird zwar, unter der Fortwirkung des religiösen Interesses, und zwar ganz im augustinischen [14] Sinne, die strenge | Unabhängigkeit ihres letzten Wesens vom Körper, ihre „Distinktheit“ ihm gegenüber betont; auch darin übrigens weicht Descartes von Aristoteles kaum ab, der auch eine schlechthin körperfreie Funktion der Denkseele in letzter, metaphysischer Erwägung ja nicht in Abrede stellte; das ganze empirische Dasein der Seele dagegen bleibt darum bei Descartes nicht weniger eng, nach dem unergründlichen Ratschluss ihres Schöpfers, an den Körper gebunden, ja es wird in einer Vollständigkeit, wie nie zuvor, zu ihm in einer – moderne Mathematiker würden sagen: eineindeutigen Beziehung gedacht, das heißt einer Beziehung der Art, dass keine gegebene Verschiedenheit oder Veränderung auf der Seite des subjektiven Innenlebens angenommen werden darf, der nicht eine bestimmte Verschiedenheit oder Änderung des Körpers entspräche, und umgekehrt. Daraus wird dann bei Spinoza der genaue wechselseitige „Ausdruck“ der Veränderungen der im letzten Grunde einzigen Substanz unter ihren beiden Attributen, Denken und Ausdehnung. Und ähnlich verhält es sich, trotz aller sonstigen Verschiedenheit, bei Malebranche und bei Leibniz. So verbleibt aber alles, was Descartes und diejenigen seiner Nachfolger, welche mit ihm näher oder entfernter zusammenhängen, zur Erforschung des seelischen Lebens beigetragen haben, trotz der klaren Erkenntnis der radikalen Verschiedenheit des seelischen Lebens vom Naturgeschehen
12 Vgl. René Descartes, Meditationes de prima philosophia, 3. Meditation, „De Deo, quod existat“ („Über das Dasein Gottes“). – Anm. d. Hrsg.
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(unter der Form der „Ausdehnung“) durchaus in der allgemeinen Bahn der naturalistischen Psychologie. Der ursachliche Zusammenhang des Geschehens bleibt das allbeherrschende Interesse; dieser aber muss ja, gerade nach der ganzen Strenge der Voraussetzungen des Descartes’schen Dualismus, wie auch der spinozistischen Vorstellung von der „Substanz“, sich rein und ungebrochen auf der Seite der „Ausdehnung“ darstellen; das Besondere der Bewusstseinsdaten interessiert allenfalls als Hinweis auf solche objektive Momente, nämlich ursachliche Zusammenhänge, welche, wenn rein erkannt, ohne alle Einschränkung als natürliche, nämlich räumlich vermittelte, zuletzt mechanische sich herausstellen müssten und darum auch ganz unbedenklich als solche hypothetisch angesetzt werden. Somit hätte gerade nicht die Psychologie der reinen Subjektivität, sondern eher noch die starr objektivistische, die naturwissenschaftliche Psychologie (wie etwa in unseren Tagen die Siegmund Exners13) in den Konstruktionen eines Descartes und Spinoza ihre Vorläufer zu erkennen. | [15] §10. Die Psychologie des Sensualismus. Aber noch viel weitergehend behauptet sich der natürliche Objektivismus; er behauptet sich selbst da, wo nun wirklich das Psychische, oberflächlichem Anschein nach als das rein Subjektive, im Unterschied vom Physischen als dem Objektiven, zum Gegenstande der Untersuchung gemacht wird: in der englischen Psychologie von Locke abwärts. Dieser allem radikalen Philosophieren instinktiv abgeneigte Denker hält den Descartes’schen Dualismus scheinbar unverändert fest; doch schwächt er ihn sofort ab durch die naive (Gassendi’sche, d.h. epikureische) Erinnerung: man habe doch keinen Grund zu behaupten, dass die Materie nicht auch denken könne. Dem entspricht es ganz, dass er in der Psychologie – der er übrigens ein ernstes Interesse entgegenbringt und in der er mit nüchterner Beobachtung und gesundem Verstand genug des Richtigen und Förderlichen erreicht oder anbahnt, ja die eigentlich seine ganze Philosophie ausmacht – doch eben durchaus die objektivistische Bahn innehält, auf die er sich ebenso wohl durch Hobbes wie durch Descartes hingewiesen sah. So bleibt Locke in seiner psychologischen Denkweise dem Aristoteles nur noch ein gut Teil näher als Descartes. Aber auch Berkeley, der sich vom Materialismus frei macht und zu einem schroffen Immaterialismus vordringt, Esse = Percipi setzt14, kommt unter der Fortwirkung des metaphysischen Interesses nicht zu einer Psychologie der reinen Subjektivität, sondern nur zu einer neuen Beantwortung des ontologischen Problems. Hume aber, welcher die seit Descartes die Philosophie beherrschende Substanzfrage
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Österreichischer Physiologe (1846–1926). – Anm. d. Hrsg. „Sein ist Wahrgenommenwerden“, Grundprinzip von Berkeleys sog. „subjektivem Idealismus“. – Anm. d. Hrsg. 14
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entschlossen beiseite schiebt und einen ganz reinen Phänomenalismus durchzuführen unternimmt, von dieser Seite also eher als jene Vorgänger die Vorbedingungen zu erfüllen schiene, um zu einer Psychologie der reinen Subjektivität durchzudringen – selbst er kann, da die Psychologie bei ihm wie bei allen bisher Genannten vor allem Ursachenforschung bleiben soll, es gar nicht vermeiden, wesentlich doch im Naturalismus stecken zu bleiben. Das Getriebe der psychischen Vorgänge stellt sich ihm durchaus als ein Mechanismus von Assoziationen dar, der sich bei der geringsten Prüfung als eine handgreifliche, obwohl sehr missratene Imitation des Naturmechanismus, wie ihn Descartes und Newton für die Körperwelt aufgestellt hatten, zu erkennen gibt. Das größte Verdienst seiner grundsätzlichen Stellungnahme in der hier fraglichen Beziehung liegt eigentlich gerade in diesem klaffenden inneren Widerspruch, der es auf [16] die Dauer unmög|lich machen musste bei seiner Position zu verharren: er will die Kausalität als trügenden Schein entlarvt haben, aber erklärt dann diesen Schein durch die – Kausalität der Assoziationen. Das hätte ihm nicht begegnen können, wenn er sich zur vollen Klarheit gebracht hätte, was er zu entdecken bisweilen auf dem besten Wege scheint: dass die Kausalität, neben der Substantialität, gerade das entscheidende Instrument zum Aufbau der Objektwelt ist. Kann sie dann zugleich das geeignete Mittel sein, die Subjektivität des Erscheinens zur Erkenntnis zu bringen? §11. Moderne Psychologie. Theodor Lipps. Bei dem allen ist Humes Treatise on Human Nature das mit Recht bewunderte Muster geblieben für die ganze, ja der vollen Absicht nach subjektivistische und doch in Wahrheit ganz und gar objektivistisch verbliebene Psychologie der Folgezeit, für die lange Reihe der englischen Assoziationspsychologen sowie deren festländische Nachfolger bis etwa auf ihren heute wohl angesehensten Vertreter Theodor Lipps herab. Man ersetzt (seit Beneke15) den gröberen Mechanismus der Assoziationen durch den feineren der Dispositionen; eine Wandlung, die im besten Fall der der Naturwissenschaft vom Descartes’schen Standpunkt der Bewegung zum modernen der Energie verglichen werden dürfte, aber an dem hier in Rede stehenden grundsätzlichen Fehler des Vorgehens durchaus nichts ändert oder bessert. Man fühlt, vielmehr man hat das bestimmteste Bewusstsein, dass man vom Naturalismus loskommen müsste; aber man bleibt von den Denkschematen der Naturerkenntnis dennoch so ganz beherrscht, dass man immer wieder, ohne überhaupt einen Anstoß dabei zu empfinden, ohne eine andere Möglichkeit überhaupt ernstlich in Erwägung zu ziehen, das Subjektive, Psychische nach denselben Kategorien – als Vorgänge, Veränderungen in der Zeit, die als solche doch
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Friedrich Eduard Beneke (1798–1854). – Anm. d. Hrsg.
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ihre bestimmenden und zwar wiederum zeitlichen Ursachen haben müssen – zu denken fortfährt –, die doch vielmehr die Denkmittel der Objektivität, nämlich der Natur sind. Wenigstens doch am Erfolge hätte man der Verkehrtheit solches Tuns innewerden müssen. Denn das Psychische wird so unfehlbar zu einer zweiten Objektwelt, geradezu einer zweiten „Natur“, deren Verhältnis zur eigentlich so benannten, nämlich räumlichen Natur dann ganz unfassbar wird und zu den so endlosen wie unfruchtbaren metaphysischen Streitigkeiten nur zu begreiflichen Anlass bietet, die mehr als alles dazu beigetragen haben, die Philosophie bei den strengen | Wissenschaften in Verruf zu [17] bringen. Für diese zweite Natur stellt man ein System von Gesetzen auf, ganz in Nachahmung der Naturgesetze, ja direkt als Naturgesetze des Bewusstseins; aber freilich in wenig befriedigender, gegenüber den echten, gehörig bestimmten Gesetzen wirklicher Naturwissenschaft wenig vorteilhafter Gestalt. Man möchte sie sich am ehesten verständlich machen als vorläufige, gar sehr vorläufige Suppositionen kausaler Zusammenhänge, welche strenger und reiner als naturgesetzliche im sonst verstandenen Sinne, nämlich zwischen räumlichen Vorgängen, etwa als chemische Umsetzungen zwischen Nervenprozessen, zu deuten wären, und welche ihre Rolle gänzlich ausgespielt hätten, sobald es gelänge die letzteren befriedigend darzustellen. Diese Assoziationen, Apperzeptionen, Dispositionen und was sonst diese Art von Psychologie als instrumentale Begriffe gebraucht, sind nichts als „okkulte Qualitäten“ fragwürdigster Art, wenn man sie nicht verstehen darf als bloße Umschreibungen noch zu lösender Probleme; Probleme, welche wissenschaftlich nicht anders zu beantworten wären als durch exakte Naturgesetze, bezogen auf Zeit und Raum, eingefügt in den seinem ganzen Sinne nach einzigen Kausalzusammenhang des in Zeit und Raum Geschehenden. Es bedarf wohl einer besonderen Erklärung für solche durch die Jahrhunderte fortwährende Blindheit gerade der Forscher, die am intensivsten an der Psychologie gearbeitet haben und also mit der Eigenheit des Problems der Subjektivität am genauesten vertraut sein müssten, gegen eine einfache Wahrheit, die doch seit so lange schon von den Einsichtigeren erkannt und oft und nachdrücklich ausgesprochen worden war. Verhältnismäßig leicht lässt diese Blindheit für die ältere Zeit sich verstehen aus der allgemeinen Strömung des philosophischen Denkens im 17. und noch dem größeren Teile des 18. Jahrhunderts, nämlich aus der in dieser Zeit vorwaltenden Einseitigkeit eines starren Intellektualismus. Der bloße „Verstand“ kennt nur, darf nur kennen, was ist und geschieht, und solche logische Zusammenhänge, welche nur auf das, was ist und geschieht, Bezug haben und selbst, zwar nicht geschehen, aber „sind“. Auch das Sollen wird dann zum bloßen Spezialfall des zeitlich bestimmten Seins, zu einem bloß anderen Ausdruck der „Tatsache“, dass der und der Einzelne oder die und die gegebene Gemeinschaft so
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und so „will“, das heißt für diesen Standpunkt: sich notwendigerweise, aus [18] der und der kausalen Bestimmtheit, so getrieben | fühlt. Oder auch, es wird
eine logische Unvereinbarkeit dessen, was nicht sein soll, mit irgendwelchen, wiederum logisch begründeten, also selbst als seiend, wenn auch in einem besonderen Sinne seiend gedachten Voraussetzungen angenommen. So wird ganz folgerichtig (wie typisch schon bei Hobbes) die Ethik naturalisiert, oder allenfalls (wie in der Schule von Cambridge) logisiert. Und nicht besser ergeht es der Ästhetik, der Religionsphilosophie. Damit wird eine großartige Vereinheitlichung der Probleme – aber auf Kosten ihrer spezifischen Eigenheit erreicht, die dem philosophischen Trieb eine scheinbare Befriedigung schafft. Durch den gleichen berückenden Schein eines höchst kritisch begründeten Monismus aber hintergeht der Intellektualismus in anderer Weise eben auch die Späteren, wenn sie auf der einheitlichen Basis der Psychologie die Probleme der Logik und Erkenntnistheorie, der Ethik, der Ästhetik, der Religionsphilosophie zu lösen und damit gerade der von ihnen sehr wohl gewürdigten großen Entdeckung der Priorität des Bewusstseins gerecht zu werden meinen. So glaubt der Psychologismus sich himmelweit entfernt von allem Naturalismus; er glaubt ihn endgültig entwurzelt zu haben, indem er ja auf den Einheitsgrund des Bewusstseins die Einheit des „Seienden“ in allen seinen verschiedenen Richtungen, nicht bloß das „Sein“ der Natur, sondern auch das der Sitten und der Kunst, ja der Religion zu gründen überzeugt ist. Er merkt nicht, dass er, um die Natur im Bewusstsein zu gründen, zuerst das Bewusstsein naturalisiert hat. §12. Plato und Kant. Psychologie nach kritischer Methode. Von hier aus fällt nun ein helles Licht auf die ganze bisherige Geschichte des psychologischen Problems. Mit höchstem Recht haben Sokrates und Plato neben und über dem Natur-Sein ein Sein des Sollens (unter dem Namen des Guten) im strengsten Sinne als objektives behauptet. Zwar schien ihnen, mit nicht minder großem Rechte, das Sittliche, wenn irgend etwas, eine Eigenwelt des „Menschen“ zu begründen; aber damit erhoben sie in der Tat die „Menschheit“, nach der sittlichen Bedeutung dieses hohen Namens, zur Höhe einer rein objektiven Idee, welche sogar der höchsten der Ideen, die eigentlich nur die Idee der Idee selbst ist: der des Guten, unmittelbar unterstellt ist. Nicht entfernt aber dachten sie daran, die Idee selbst damit ins „Menschliche“, im Sinne des Subjektiven, herabholen zu wollen. (So konnte [19] höchstens der Kynismus den Gedanken des Sokra|tes verkehren.) Und nicht anders verhält es sich mit der Idee des Schönen, welche Plato, eben aus der objektivistischen Grundrichtung seines Denkens, an die des Guten nur allzu nahe heranrückt. Fortan wird nun stets in der platonischen Dreieinheit des „Wahren, Guten, Schönen“ das höchste und höchst objektive Sein der Gottheit gedacht. Damit war der Psychologie freilich unmittelbar nicht gedient, mittelbar aber die einzig sichere, vor allem die genügend allgemeine
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Grundlage geschaffen. Denn erst als Gegenbild der vollen, unverkürzten Objektivität, nämlich jener dreifachen, dreieinigen des Wahren, Guten, Schönen, konnte nunmehr auch das „Bewusstsein“ nach der subjektiven Seite seine genügend tiefe und allgemeine Charakteristik finden. Diesen Weg hat der Sensualismus verfehlt; er musste ihn verfehlen, da sein Prinzip selbst ihn auf den Weg des Naturalismus zwang, mit dem er von dem Grundfehler des Intellektualismus eben nicht loszukommen vermochte. Dagegen hat auf jener platonischen Grundlage Kant das Fundament endgültig geschaffen, auf dem nunmehr auch eine neue Psychologie sich aufbauen lassen muss; obgleich er selbst sein System nicht bis zu diesem wahren Abschluss gebracht, ja selbst diese Aufgabe nirgends deutlich bezeichnet hat. Vor allem ist es sein unermessliches Verdienst, dass er, ganz die Gedankenrichtung Platos wiederaufnehmend und in seiner Linie konsequent weitergehend, das sittliche Sollen als eine durchaus eigene, in keiner Weise auf das „Sein“ der Theorie reduzierbare, nicht bloß gleich fundamentale, sondern fundamentalere Art ein Objekt zu setzen gegenüber der „Erfahrung“ oder „Natur“ begriffen, als dritte aber, in gewisser Überordnung über die theoretische sowohl als die ethische, die ästhetische Art der Objektsetzung zur Anerkennung gebracht hat, welche, wie sie nun auch des näheren zu begründen sein mag, jedenfalls fortan in voller Unabhängigkeit und mit gleichem Objektivitätsanspruch jenen beiden zur Seite steht. Damit hat aber auch der Urbegriff der Psychologie, der Begriff des Bewusstseins sich gewaltig vertieft. Dieses ist fortan nicht mehr bloß theoretisches (als welches es sich schon durch die Benennung zu erkennen gab in Descartes’ Cogitatio, Berkeleys Percipi), sondern ebenso ursprünglich, ja ursprünglicher ethisches, weiterhin ästhetisches und endlich religiöses. Damit wird es aber nun zur vollen Unmöglichkeit, das Bewusstsein, sei es, wie bei Aristoteles, der Natur einzugliedern, oder, | wie bei der überwiegenden Mehrzahl der neueren Psychologen, [20] zwar als neben ihr stehend, vielleicht sogar sie umfassend, aber dennoch mit den gleichen Denkmitteln wie sie zu bearbeiten, somit wirklich als eine andere Natur darzustellen. Als zweite „Welt“ gegenüber der der theoretischen Erkenntnis („Natur“ oder „Erfahrung“ im kantischen Sinne) steht ja nun vielmehr die Sittenwelt da, und als dritte die Welt der Kunst; vielleicht noch als eine Überwelt über diesen dreien die Welt der Religion. Die Innenwelt des Bewusstseins aber lässt sich diesen dreien oder vieren in keiner Weise mehr logisch über- oder neben- oder unterordnen, sondern sie stellt zu ihnen insgesamt, zur Objektsetzung jeder Art und Stufe, gleichsam die Gegenseite, eben die Innenwendung, nämlich die letzte Konzentration ihrer aller auf das erlebende Bewusstsein dar. Diese letzte Konzentration ist es, die der Begriff des Psychischen als des Bewusstseins, seinem vollen, konkreten Gehalt nach, nicht etwa als voraus gegeben bloß anzuerkennen, sondern überhaupt erst aufzustellen und zu entwickeln hat;
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sie ist, voraus vor der Psychologie, oder in der bloßen Aufstellung ihres Begriffs, nichts als ein Fragewort, welches freilich, wie das von jeder recht formulierten wissenschaftlichen Frage gilt, die Antwort in dem Sinne schon vorausbestimmt, dass sie die Bedingungen festsetzt, denen sie zu genügen habe. Die Konzentration aber, von der hier die Rede ist, kann jetzt keine bloß begriffliche mehr sein; begrifflich würde durch die objektive Grundlegung der Logik, Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie, wenn diese vollendet wäre, alles Erreichbare geleistet sein. Auch irgendeine letzte Vereinigung dieser aller durch einen höchsten, aber wiederum nur begrifflich höchsten Bezug (gesetzt, dass dies überhaupt noch eine verständliche Aufgabe wäre) würde doch eben nur abstrakt sein; im prägnanten Begriff des Bewusstseins dagegen als des unmittelbaren Erlebens ist eine schlechthin konkrete Einheit gefordert und gedacht. Das war die Aufgabe, welche von Urzeiten an vorschwebte, aber bis heute kaum an irgend einer Stelle in ganzer Klarheit erfasst und deutlich formuliert ist: die Totalität des Erlebten, so wie das überhaupt wissenschaftlich möglich ist, zur Darstellung zu bringen; jene Ureinheit des Bewusstseins für die Reflexion wiederherzustellen, in welcher nichts vom Andern abgetrennt, nicht ein Sein neben dem Sollen, oder dieses neben jenem, nicht theoretische [21] Bestimmungen neben ethischen | und ferner ästhetischen, religionsphilosophischen, oder diese neben jenen stehen bleiben, sondern diese und alle etwa ihnen gleichartig sei es unter- oder neben- oder übergeordneten, auf Abstraktion beruhenden Scheidungen in die ursprüngliche Konkretion, in die konkrete Ursprünglichkeit des „Bewusstseins“ wieder zurückgenommen sein sollen. Diesen Universalitätsanspruch des Bewusstseins hat diejenige Psychologie, welche durch die kritische Arbeit Kants allein als möglich übriggelassen, aber auch zwingend gefordert ist, zu vertreten, als eine letzte Aufgabe der Philosophie; für die aber erst der Grund zu legen war durch die sichere, nicht psychologische, sondern je ihrem eigenartigen Problem angepasste, rein objektive Begründung der Logik, Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie16, die für die andere, nämlich subjektive Begründung, welche die Psychologie zu erbringen hat, erst die Voraussetzungen schaffen musste. Latent lag diese Aufgabenstellung im Begriff der „Psyche“ eigentlich schon seit Plato, den namentlich die Neuplatoniker in diesem Punkte wohl verstanden haben. Dass diese Aufgabe aber bisher nicht nur nicht gelöst, sondern nicht einmal als Aufgabe in voller Klarheit gestellt werden konnte, ist durch den, wenn noch so kurz hier dargelegten Geschichtsgang nun wohl
16 Natorp spielt hier auf Cohens „System der Philosophie“ an (vgl. oben, Anm. 1, S. 5), welches lediglich die „objektive“ Begründung der Erkenntnis vollzog. – Anm. d. Hrsg.
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einigermaßen erklärt. Es musste dazu eben erst die Möglichkeit geschaffen werden durch die objektive Kritik der theoretischen, ethischen, ästhetischen und religiösen Erkenntnis, wie sie seit Plato gefordert und angebahnt, aber erst durch Kant, was die Problemstellung, die allgemeine Disposition, die Methode, kurz die wesentliche Fundamentierung betrifft, übrigens selbst durch ihn nicht auch schon in der ganzen Durchführung, zulänglich geleistet ist. Nachdem aber inzwischen die kritische Philosophie in allen ihren Einzelzweigen wie in dem Ganzen ihres Systemaufbaues beträchtlich weiter gefördert und in gewisser Vollständigkeit durchgearbeitet ist, kann nunmehr auch jene letzte Aufgabe der Philosophie in dem einzigen mit den Prinzipien der objektiven Kritik verträglichen Sinne gestellt und ihre Auflösung mit Hoffnung auf ein reines Ergebnis in Angriff genommen werden. | [22]
Zweites Kapitel
Das Bewusstsein, die Bewusstheit und das Ich §1. Das Bewusstsein als Problem. Die geschichtliche Orientierung ergab als das eigene Problem, welches zu seiner Auflösung einer besonderen Wissenschaft, der Psychologie, bedarf, das Problem des Bewusstseins oder der Subjektivität als solcher. Alles was in irgendeinem Sinne Objekt ist oder objektive Geltung beansprucht, fällt, als Objekt oder hinsichtlich seines objektiven Geltungsanspruchs, unter andere Wissenschaften: Natur- und Kulturwissenschaften (denn auch diese sind, samt und sonders, objektivierend), und schließlich unter die philosophischen Wissenschaften, welche für jene alle die letzten, wiederum objektiven Gesetzesgrundlagen nachzuweisen haben: Logik, Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie. Die Subjektivität allein bleibt übrig als ein Problem, das gänzlich außer dem Gesichtskreis objektivierender Wissenschaft oder deren Begründung in wiederum objektiven Gesetzen liegt; ein Problem aber, das zugleich durch jene insgesamt unabweislich gestellt ist; denn nichts ist Objekt anders als für ein Subjekt oder Bewusstsein; in aller erkannten oder angenommenen Objektivität liegt das Gegenverhältnis zur Subjektivität: dem Subjekt soll das Objekt gelten; dem Subjektiven gegenüber, zwar in Gegenstellung gegen es, aber damit zugleich in unablöslicher Beziehung zu ihm, das Objektive. Selbst der Begriff der Objektivität kann nicht endgültig bestimmt sein, ohne dass auch der der Subjektivität es ist. Somit muss das Problem der Subjektivität anerkannt werden völlig auf gleicher Linie mit dem der Objektivität; ja es wird der Irrtum – in den zurückzufallen wir jetzt nicht mehr in Gefahr sind – wenigstens begreiflich, dass jene dieser sogar sachlich vorgeordnet sei. Denn alle Objektserkenntnis ist, als Erkenntnis, doch eine wie auch immer bevorzugte Art von Bewusstsein; das Bewusstsein aber muss wohl, eben vom Bewusstsein aus gesehen, das Erste zu sein scheinen. Wie anspruchsvoll auch und gebieterisch das Objektive dem Subjektiven gegenübertritt, es bleibt immer | sein Gegenüber, von ihm aus gegenübergestellt. Sobald diese [23] Reflexion einmal platzgegriffen hat, ist jedenfalls die naive Ansicht, der das Objekt nicht bloß das Nächste, sondern das Einzige ist, auf immer dahin; zu ihr schlechthin zurückzukehren ist nicht ferner möglich für den, der nicht die Entschlossenheit aufbringt, eine der größten, der zweifelsfreiesten Errungenschaften der gereifteren philosophischen Besinnung lediglich zu ignorieren.
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Anders, für manchen vielleicht zugänglicher ausgedrückt: das unmittelbare Erlebnis des Subjekts ist jedenfalls etwas, es will als etwas schlechthin eigner Art gewürdigt sein, vor aller Frage nach Objekten, die, von der Subjektivität des Erlebens unabhängig, „an sich“ dasein oder gelten sollen. „Mein“ Empfinden, Vorstellen, Denken, „mein“ Fühlen, Begehren, Wollen ist etwas, ganz abgesehen von der Frage, was das Objekt sein mag, außerdem dass und wie „ich“ es empfinde, vorstelle, denke, fühle, begehre, will. Das unmittelbare Erlebnis des Bewusstseins verlangt, nachdem es einmal als etwas Eigenes entdeckt ist, nicht bloß in seiner vollen Selbständigkeit – Selbständigkeit jedenfalls als Problem – anerkannt, sondern als schlechthin erstes, ursprünglichstes Faktum gewürdigt zu werden, das auch in jeder Aussage vom Objekt stillschweigend vorausgesetzt sei; das sachlich jedenfalls zugrunde liege, auch wenn es sich der Reflexion ganz entzieht oder sich wenigstens erst zuletzt ihr erschließt. So droht die Subjektivität, einmal anerkannt, die Objektivität sogar ganz zu verschlingen, da doch alles noch so gegenständlich Vorgestellte, Gedachte, Erkannte, als vorgestellt, gedacht, erkannt, jedenfalls Inhalt von Bewusstsein ist. Es erscheint weit schwieriger, der Objektivität eine eigene, unabhängige Bedeutung gegenüber der Subjektivität zu sichern, als es zuvor war, gegen das übermächtige Interesse an der Objektivität das Eigenrecht der Subjektivität des Bewusstseins überhaupt erst zur Anerkennung zu bringen. So hängt das Interesse der Psychologie innerlichst zusammen mit den Grundfragen aller Philosophie. Aber nicht auf diese zu antworten ist hier die Aufgabe; was an dieser Stelle uns interessiert, ist nur, dass unfraglich und uranfänglich dieser Begriffsgegensatz besteht, und dass das Bewusstsein, die Subjektivität als solche, jedenfalls etwas ist, dem nachzufragen, das als eigenes Problem anzuerkennen sei, wie auch immer bei der Beantwortung [24] dieses Problems auf die Gegenständlich|keit, auf die Objektivität jeder Art und Stufe Rücksicht zu nehmen sein mag. §2. Momente der Bewusstseinstatsache. Es gilt nun aber etwas mehr Klarheit zu gewinnen über den Inhalt dieses Problems, über den ganzen Sinn der Frage nach der Subjektivität. Diese sehr nötige Klärung kann füglich ihren Ausgang nehmen von der Besinnung darauf, was schon das Wort „Bewusstsein“, in dem ja die Grundfrage der Psychologie sich zusammenfasst, an Problemgehalt in sich birgt. Der Infinitiv „Bewusstsein“ enthält in sich gleichsam verdichtet den allgemeinen Sinn der Aussage: „Etwas ist – mir oder irgendwem – bewusst.“ Auf Grund dieser volleren Umschreibung der Bewusstseinstatsache zerlegt sich das Problem deutlich in zunächst zwei Fragen: Was ist der Sinn des Bewusst-seins, d.h. was ist allgemein die Bedeutung der Aussage, dass etwas (mir oder irgendwem) bewusst sei, und zweitens: Was ist es allgemein, das einem bewusst ist, und wie? Gibt es irgend ein Merkmal, welches
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das, was bewusst ist, sofern es bewusst ist, allgemein charakterisiert, im Unterschied, sei es nun von etwas, das überhaupt keinem bewusst ist, oder, wenn diese Voraussetzung (wie sich schon jetzt absehen lässt) sich als unstatthaft erweisen sollte, im Unterschied von dem, wodurch irgend etwas (das immerhin jemandem bewusst sein mag) charakterisiert wird, nicht sofern es Einem bewusst, sondern sofern es Objekt ist; denn die Objektivität als Gegensatz oder Gegenseite der Subjektivität steht ja nun bereits fest. Man kann diese beiden Fragen, die des „Dass“ und des „Was“, füglich unterscheiden als die formale und die materiale Frage des Bewusstseins. In diesem Kapitel soll es sich um die erstere handeln. In dieser scheint aber noch eine weitere Frage sich zu verbergen, nämlich die nach dem Ich (oder Du oder Er usw.), dem etwas bewusst sei. Es wären demnach im ganzen drei Momente, die in dem Ausdruck „Bewusstsein“ eng in Eins gefasst, aber durch Abstraktion doch auseinanderzuhalten sind: 1. das Etwas, das einem bewusst ist; 2. das, welchem etwas oder das sich dessen bewusst ist; 3. die Beziehung zwischen beiden: dass irgend etwas irgendwem bewusst ist. Ich nenne, lediglich der Kürze der Bezeichnung halber, das Erste den Inhalt, das Zweite das Ich, das Dritte die Bewusstheit. Inhalt des Bewusstseins, Bewusstseinsinhalt: das ist natürlich ein bildlicher Ausdruck; denn das Bewusstsein ist nicht ein Gefäß oder | Behältnis, das [25] eine Materie in sich fasst. Zwar hat das Gleichnis guten Grund: es scheint allem Bewusstsein eigen zu sein, dass es jederzeit einen Inbegriff, eine Zusammenfassung einer Mannigfaltigkeit in einer Einheit darstellt. Indessen darf von dieser seiner Eigenheit vorerst ganz abgesehen werden; es ist für diese ganz vorläufige Sondierung noch von keinem besonderen Belang, ob das, was einem bewusst ist, ein schlechthin Einzelnes oder eine zur Einheit zusammengefasste Mehrheit ist. Wir entnehmen die Bezeichnung „Inhalt“ einfach einem in der Psychologie vielfach angenommenen Sprachgebrauch, und verstehen darunter bis jetzt durchaus nichts mehr als: das, wovon es irgendwie Bewusstsein gibt; was Einem, oder wessen irgendwer sich bewusst ist, es sei übrigens, was es sei. Manche Philosophen behaupten einen radikalen Unterschied zwischen „Inhalt“ und „Gegenstand“ des Bewusstseins. Wir werden dazu Stellung nehmen; vorerst aber tragen wir kein Bedenken – da es vom Gegenstand doch sicher Erkenntnis oder Vorstellung, kurz irgend eine Art von Bewusstsein gibt – ihn insofern mit zum „Inhalt“ zu rechnen. An sich wäre für das, was wir bezeichnen wollen, gerade der Ausdruck „Gegenstand“ sehr wohl brauchbar, wenn man uns nämlich gestatten wollte, ihn einfach grammatisch zu verstehen: als das, wovon es Bewusstsein gibt, was als Genetivus objectivus zu „Bewusstsein“ treten kann. Da indessen jene andere Auffassung einmal besteht und eine gewisse Verbreitung gefunden hat, welche den „Gegenstand“ vom „Inhalt“ völlig trennt, den Inhalt „subjektiv“, den Gegenstand aber „transsubjektiv“ nennt; da überhaupt der „Gegenstand“, als das „Objekt“, gerade die
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Zweites Kapitel
Gegenseite der Subjektivität zu bezeichnen dient: so würde ein solcher Wortgebrauch die Verständigung erschweren und wird darum von uns lieber vermieden. Freilich will man von jener Auffassung aus begreiflich dem Worte „Inhalt“ (Bewusstseinsinhalt) die Weite der Bedeutung, in der wir ihn nehmen, nicht zugestehen. Ich werde daher jedes Mal, wo auf jene mögliche Auffassung besondere Rücksicht zu nehmen ist, auch den Ausdruck „Inhalt“ lieber vermeiden und (wenn es auch ohne Unbequemlichkeit des Ausdrucks nicht abgeht) bloß von dem reden, was Einem, oder wessen er sich bewusst sei. Auf alle Fälle bitte ich, wo hier von „Inhalt“ überhaupt gesprochen wird, nichts anderes als dies darunter verstehen zu wollen. [26] Das zweite Moment am Bewusstsein: das, welchem irgendetwas, | oder welches sich dessen bewusst ist, pflegt in der Philosophensprache das „Ich“ genannt zu werden. Man kann ohne Gefahr auch das Wort „Subjekt“ dafür gebrauchen, vorbehalten nur, dass darunter rein das grammatische Subjekt verstanden wird. Denn es heften sich freilich auch an dieses Wort, wie nicht minder an den Ausdruck „Ich“, leicht allerlei besondere Vorstellungen und Reflexionen, von denen hier gänzlich abzusehen ist, namentlich die Meinung von einem für sich seienden permanenten Etwas (Ding, res), dem es nur je und dann begegne, dass ihm das und das bewusst sei, das an sich aber auch ohne wirkliches Bewusstsein fortbestehe; vom Ich als einer Substanz oder Wesenheit, dem beharrlichen Träger des Bewusstseins oder der Bewusstseinsmöglichkeit als ihres Attributes (bleibender Eigenschaft) oder Modus (vorübergehenden Zustands). Was an dieser Vorstellung etwa begründet sein mag, wird an seiner Stelle zu untersuchen sein; vorerst kann und soll davon gänzlich abgesehen werden, denn es soll an dieser Stelle noch durchaus nichts supponiert, keinerlei besondere Voraussetzung eingeführt werden für etwas wie eine Theorie des Bewusstseins, sondern es handelt sich bis jetzt rein darum, Klarheit zu gewinnen über das Problem, welches durch das Faktum des Bewusstseins der Psychologie gestellt sei. Als solches bloßes Problemwort jedenfalls schließt das „Bewusstsein“ nicht sogleich in sich ein Ich als auch abgesehen vom Akte des Bewusstseins, für sich bestehende Substanz, sondern allein als in diesem Akte selbst gegebenen Bezugspunkt; so wie andererseits nicht den „Inhalt“ als auch abgesehen von seinem Bewusstsein vorhandenes Objekt, sondern lediglich als den zu jenem korrelativen anderen Bezugspunkt im Akte des Bewusstseins selbst. Das Dritte aber ist die Beziehung zwischen diesen beiden Punkten: dem, was bewusst, und dem, dem es bewusst ist. Denn eine solche Beziehung scheint das Bewusstsein in jedem Fall zu bedeuten, jene, die sich sprachlich eben ausdrückt in dem Satze: Etwas ist mir, oder Ich bin mir eines Etwas bewusst. Etwas ist mir bewusst, d.h. im Akte des Bewusstseins auf mein Ich bezogen; ich bin mir seiner bewusst, d.h. das Ich bezieht sich im Akte
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des Bewusstseins auf das Etwas, das ihm bewusst ist; und nichts anderes als diese stets wechselseitig zu verstehende Beziehung des Ich auf das Etwas, des Etwas auf das Ich bedeutet für das Eine wie für das Andere der „Akt“ des Bewusstseins. | [27] Diese Beziehung nun, rein als solche, bloß hinsichtlich ihres Stattfindens überhaupt, zu bezeichnen wäre gerade der Infinitiv „Bewusstsein“ an sich wohl geeignet. Nur ist der infinitivische Sinn dieses Ausdrucks durch den vielfältigen Gebrauch etwas zu sehr verblasst; er hat, ähnlich dem Infinitiv „Sein“, durch die Substantivierung viel von der bezeichnenden Kraft des Infinitivs, von dem ursprünglich verbalen Charakter desselben eingebüßt; stößt man doch in philosophischen Büchern nicht ganz selten sogar auf den barbarischen Plural „Bewusstseine“; worunter man meint: die verschiedenen Ich oder Subjekte mit ihrem bewussten Inhalt, keineswegs die verschiedenen Akte oder Vorkommnisse von Bewusstsein, wie es der Infinitivbedeutung des Wortes entspräche. Zweckmäßig schiene es mir, den Ausdruck „Bewusstsein“ zu gebrauchen für das Ganze des Sinns der Aussage „Etwas ist mir bewusst“, d.h. die drei Momente: das Ich, das bewusste Etwas und die Beziehung zwischen beiden darin einzuschließen, dagegen für das abstrakte Moment dieser Beziehung das seltenere, nur in der Kunstsprache der Psychologie gebräuchliche Substantivum abstractum „Bewusstheit“ vorzubehalten. Indessen ist auch darüber kein Einvernehmen bisher erreicht, sondern es werden beide Ausdrücke fast von jedem Psychologen anders, nach besonderer eigener Festsetzung oder auch ohne solche, gebraucht. Ich werde daher der Regel nach einfach reden erstens vom Inhalt oder bewussten Etwas, zweitens vom Ich, und drittens von der Beziehung zwischen beiden, die ich nur Kürze halber bisweilen mit dem Worte „Bewusstheit“ bezeichnen werde. §3. Die Bewusstheit ein unreduzierbar Letztes. Fragt man nun: „was ist das Ich?,“ so ist schon geantwortet: nichts als der andere Bezugspunkt zum bewussten Etwas, in eben der Beziehung, welche das Bewusstsein für beide bedeutet. Fragt man aber weiter: was ist diese Beziehung? so kann die Antwort nur lauten: ein Letztes, das, eben als solches, keiner weiteren Erklärung oder Reduktion mehr fähig noch bedürftig ist. Alle Beziehung findet im Bewusstsein, kraft des Bewusstseins statt; Beziehung überhaupt ist ein Charakter, der Grundcharakter des Bewusstseins; wie könnte eine besondere Art der Gattung „Beziehung“ es sein, welche das Bewusstsein von sonstiger Beziehung unterschiede? Beziehen heißt: in einem Bewusstsein, und zwar in einem Bewusstsein, zugleich auseinanderhalten und vereinigen; wenn man also das Bewusstsein überhaupt als eine Beziehung erklärt, so sagt man | damit nichts Neues, sondern bringt nur in Erinnerung, [28] dass in allem Bewusstsein ein Auseinanderhalten und zugleich Vereinigen stattfindet; es kann aber nicht weiter die Forderung gestellt werden, dass
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man ein unterscheidendes Merkmal der Beziehung, sofern diese eben im oder mit Bewusstsein stattfinde, angeben solle. Überhaupt lässt sich von dieser Beziehung, wie es scheint, gar nichts weiter aussagen; sie lässt sich nur tautologisch umschreiben, aber mit nichts anderem, als bekannterem, vergleichen, von nichts anderem, als ursprünglicherem, ableiten oder durch es, als in sich klareres, erklären. Wohl hat man analogische Umschreibungen dafür seit lange schon gebraucht, aber diese erläutern immer nur den allgemeinen Fall durch irgendeinen besonderen; wie wenn man sagt, es finde in allem Bewusstsein eine Beziehung statt wie die der Punkte der Peripherie auf das Zentrum. Die Vergleichung trifft in einigem, aber nicht in jedem Betracht zu; der Mittelpunkt des Kreises gehört mit den Punkten der Peripherie doch in eine Ordnung von Gegenständen, er hat zu ihnen ein Verhältnis im allgemeinen gleicher (nämlich räumlicher) Art wie sie zu ihm. Nicht so in unserem Fall. Das Ich, als gemeinsames letztes Beziehungszentrum zu dem ihm bewussten Inhalt, steht dem Inhalt nicht gleichartig, sondern völlig unvergleichlich gegenüber; es hat, so sehr die Beziehung zwischen beiden eine wechselseitige ist (d. h. mit der Beziehung des Etwas zum Ich die des Ich zum Etwas stets zugleich gegeben ist), nicht zum Inhalt eine Beziehung gleicher Art wie der Inhalt zum Ich; es ist eben nicht dem Inhalt bewusst, wie der Inhalt ihm; es zeigt sich vielmehr eben darin nur sich selbst, keinem anderen gleich, dass wohl Anderes ihm, aber nie es selbst Anderem bewusst sein kann. Das heißt: es kann selbst nicht Inhalt (bewusstes Etwas) werden und ist in nichts dem gleichartig, was irgend Inhalt von Bewusstsein (bewusstes Etwas) sein kann. Eben darum muss es wohl jeder weiteren Beschreibung unzugänglich sein; denn alles, wodurch man es, oder die Beziehung auf es, zu beschreiben versuchen wollte, würde doch nur aus dem Inhalt des Bewusstseins genommen werden können, also es selbst, das Ich, und die Beziehung auf es nicht treffen, wohl aber – voraussetzen. Anders ausgedrückt: jede „Vorstellung“, die wir uns von ihm machen würden, würde es zum „Gegenstand“ machen („Gegenstand“ im allge[29] meinsten Sinne des Gegenüber zum Ich); man hat aber schon | aufgehört es als Ich zu denken, wenn man es als Gegenstand denkt. Ich sein heißt, nicht Gegenstand, sondern allem Gegenstand gegenüber das sein, dem allein etwas Gegenstand ist. Und ganz dem Entsprechendes gilt von der Beziehung auf das Ich. Bewusst sein heißt: Gegenstand für ein Ich sein; dies Gegenstand-sein lässt sich nicht selbst wiederum zum Gegenstand machen. §4. Das Ich nicht Gegenstand. Das lautet nun freilich paradox, dass das Ich und die Beziehung auf es sich in keinem Sinne solle zum Gegenstand machen lassen, d.h. selber bewusst werden können. Wie können wir dann überhaupt mit Sinn davon reden, wie überhaupt seines Daseins, seines Vorkommens gewiss sein, wenn es in keiner Weise bewusst sein, wir also in keiner Weise
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sollen wissen können, was denn das sei, dessen Dasein wir behaupten? In der Tat lässt sich ihm nicht einmal Dasein, Vorkommen, Tatsächlichkeit beilegen, im gleichen Sinne; wie sonst diese Aussagen verstanden werden. Zu jeder Aussage, welches Inhalts auch immer, auch zu der Aussage der Existenz oder Tatsächlichkeit, ist ja das Bewusstsein schon Voraussetzung; also lässt es sich, in dieser seiner letztgültigen Bedeutung, so wenig wie dem Begriff „Beziehung“, etwa dem Begriff „Tatsache“ oder „Existenz“ als Spezialfall unterordnen. Ich hatte in meiner Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode vielleicht noch etwas zu skrupellos von der „Tatsache“, daneben von dem „Phänomen“ des Bewusstseins gesprochen1. Diese Redeweise ist wenigstens nicht gegen das Missverständnis genügend geschützt, als sei „Tatsache“ oder „Phänomen“ ein Gattungsbegriff, unter dem durch irgendeine spezifische Differenz das Bewusstsein als eine Art Tatsache oder Phänomen von anderen sich sondere. Jede solche Absonderung ist durch die absolute Ursprünglichkeit des Bewusstseins ausgeschlossen. Hobbes sagt einmal, an sich tief und der allgemeinen Intention nach zweifellos richtig: von allen Erscheinungen (Phänomenen) sei das merkwürdigste (und ursprünglichste) das Erscheinen (das φαºνεσqαι) selbst2. Aber das Erscheinen kann jedenfalls nicht im gleichen Sinne ein Erscheinendes (Phänomen) genannt werden wie das, von dem es ausgesagt wird; es selbst, das Erscheinen, erscheint eben nicht wiederum. Erscheinen heißt hier nur: Einem bewusst sein, als von ihm selbst, dem es bewusst ist, Verschiedenes, weil doch ihm (im weiten Sinne des Wortes) Objekt (Gegenüberstehendes). Was ist denn nun das, dem es bewusst ist? Stellt man es selbst – ihm selbst – wiederum gegenüber, so macht | man es wieder zum Objekt, verwandelt [30] also seine Natur, ja verkehrt es in sein Gegenteil; man stellt es selbst auf die Gegenseite, auf die Seite des bewussten Etwas. Das ist vielleicht unvermeidlich, wenn man überhaupt von ihm reden und es zum Gegenstand (Vorwurf) einer eigenen Reflexion machen will. Wir fordern also (von uns selbst und von Andern) nicht, dass man diese Objektivierung des Ich sich durchaus verbiete; nur muss man wissen: es ist dann nicht mehr ganz es selbst, was man vor Augen hat, sondern gleichsam sein Spiegelbild, sein
1 Vgl. Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, S. 11–15 (§4. „Begriff des Bewusstseins. Die Bewusstheit“). – Anm. d. Hrsg. 2 Vgl. Thomas Hobbes, De Corpore, S. 213: „Of all the phenomena or appearances that are near to us, the most admirable is apparition itself, το φαινεσqαι; namely that some natural bodies have in themselves the patterns almost of all things, and others of none at all.“ Übers.: „Von allen Phänomenen oder Erscheinungen, die uns nahestehen, ist das Erscheinen selbst das merkwürdigste, το φαινεσqαι; nämlich dass manche natürliche Körper in sich selbst die Muster fast aller Dinge tragen, und andere überhaupt keine.“ – Anm. d. Hrsg.
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Reflex, sein Repräsentant in seinem Gegenüber, dem Inhalt oder Objekt, d.h. dem bewussten Etwas. So wie die Netzhaut nicht buchstäblich sich selbst sehen kann, sondern allenfalls nur ihr Gegenbild im Spiegel, so kann das Bewusstsein nicht wiederum sich selber bewusst sein im eigentlichen Sinne, sondern nur, gleichsam durch seinen Reflex im Inhalt. Das Erstere würde nichts Geringeres besagen, als dass das Ich zugleich Gegenstand für es selbst, zugleich Erkennendes und Erkanntes, zugleich Subjekt und Objekt eines und desselben Erkenntnisaktes, oder dass es, als numerisch und inhaltlich dasselbe, doch sich selbst gegenüber, also nicht es selbst sei. Dergleichen scheinen nun zwar einige Philosophen allen Ernstes behaupten zu wollen, aber es widerspricht dem Augenschein. Ein Akt wie Vorstellung, Erkenntnis, überhaupt Bewusstsein kann unmöglich so gedacht werden, dass Subjekt und Objekt dieses Aktes in jeder Hinsicht, inhaltlich und numerisch, dasselbe wären. Bewusstsein ist, wie gesagt, eine Relation, die als solche zwei Termini gebraucht, nicht mit einem sich begnügen kann. Wenn wir also sagen, dass wir ein Bewusstsein von uns selbst haben, so verdoppeln wir künstlich das, was doch in sich schlechthin Eines sein soll; wir machen (künstlich) uns selbst zum Gegenstand; das heißt, es ist dann das, was in diesem Akte uns bewusst ist, nicht mehr das ursprüngliche Ich, dem dies bewusst ist, denn das ist eben Subjekt (d.h. das, dem etwas bewusst ist); es kann nicht zugleich auch Objekt zumal dieses selben Bewusstseinsaktes (d.h. das, was darin bewusst ist) sein. Ich schließe: also muss wohl das Objekt des Aktes, den wir Selbstbewusstsein nennen, nicht mehr das ursprüngliche Ich, sondern ein abgeleitetes sein. Indem ich, wie man richtig sagt, mir selber gegenübertrete, versetze ich mich gleichsam außer mir selbst, um mich selbst als Objekt anzuschauen oder irgendwie in Betracht zu nehmen oder irgend einen Erkenntnisakt auf mich zu richten. Das aber kann ich nur uneigentlicher [31] Weise, nur durch | eine Fiktion. Aber nicht das Subjekt ist dabei ein fiktives; ich3 bin in jedem Fall der Betrachtende; also muss wohl das Objekt ein bloß fiktives, nämlich nicht das ursprüngliche Ich, sondern irgendetwas Anderes, ein „Inhalt“ sein, durch den es nur vertreten wird. Das drückt der seit alter Zeit dafür gebrauchte Vergleich der Spiegelung in der Tat ganz zutreffend aus: der so betrachtete Inhalt ist nicht mehr das Original, sondern bloß sein Reflex. So sage ich auch: ich sehe mich selbst im Spiegel, und meine doch offenbar: mein Gegenbild; denn nur das ist im Spiegel, nicht aber das Original. Was ist denn der Spiegel, in dem das Ich sich reflektiert? Offenbar der Inhalt, das bewusste Etwas. So zeigt es sich auch klar am Ergebnis: alles, wodurch man je versucht hat das Ich wie einen gegebenen Gegenstand zu beschreiben, ist offenbar vom Inhalt geborgt. Man beschreibt nicht bloß (wie schon gesagt) das Allgemeine durch das Besondere, das Ursprüngliche durch
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Im Original „Ich“ – Anm. d. Hrsg.
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das Abgeleitete, sondern man beschreibt überhaupt nicht das Bewusst-sein selbst (dies ist immer schon vorausgesetzt), sondern beschreibt nur, wie im Bewusstsein der Inhalt sich darstellt. Man versuche nur irgendeine solche Umschreibung beim Wort zu nehmen, so zeigt sich sofort, dass es erstens nur ein besonderer Fall von Bewusstsein ist, durch den man den allgemeinen Fall erläutert, und dass es zweitens nicht das Bewusst-sein selbst, sondern ein Verhalten des Inhalts ist, was man beschrieben hat. Namentlich wird man die räumlichen Vergleiche niemals los, während doch alles darüber einig ist, dass die Beziehung zwischen Ich und Bewusstseinsinhalt keinesfalls eine räumliche, dass Räumlichkeit nur ein Merkmal des Inhalts ist. Gebrauchen wir wieder, der bequemeren Fassung halber, den Ausdruck „Gegenstand“ im erklärten allgemeinen Sinne, so erhält das Gesagte diesen Ausdruck: Das Ich lässt sich, in seiner Ursprünglichkeit, nicht zum Gegenstand machen, da es vielmehr, allem Gegenstand gegenüber, das ist, dem allein etwas Gegenstand ist. Es selbst kann keinem Andern (ursprünglich – sondern nur abgeleiteter, fiktiver Weise) Gegenstand sein; nur Anderes ihm. Es kann auch nicht, wie man geglaubt hat, sich selber Gegenstand sein; sondern man hat schon aufgehört es als Ich zu denken, indem man es als Gegenstand denkt. Und dasselbe gilt von der Bewusstheit. Bewusst-sein heißt Gegenstand für ein Ich sein; dies Gegenstand-sein lässt sich nicht wiederum zum Gegenstand machen, es sei denn durch eine Übertragung, die nicht mehr das unmittelbare Wesen der Sache ausdrückt. | [32] §5. Das Ich nicht Problem der Psychologie, aber Problemgrund. Wir bestätigen durch dies alles aber schließlich nur die absolute Ursprünglichkeit des Erlebens. Erleben ist ursprünglicher als aller Begriff. Also war es von Anfang an verkehrt, von ihm wiederum einen Begriff zu fordern. Eben von der letzten Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit des Erlebens entfernt man sich, wenn man es selbst unter einen Begriff zu fassen, das heißt es mit Anderem, als logisch Gleichstehendem, zu koordinieren und einem Dritten, als logisch Höherstehendem, zu subordinieren versucht. Man steht dann immer schon, ohne es zu merken, bei seinem Gegenüber, dem bewussten Etwas. Man glaubt es selbst sich selber gegenüberzustellen; aber das ist, wenn es eigentlich verstanden werden sollte, in sich widersprechend; als Gegenüber wäre es eben Objekt; aber seine ganze Natur ist vielmehr, im Unterschied von allem Objekt das zu sein, dem allein etwas Objekt ist. Daraus ergibt sich nun freilich (wie schon bemerkt) die paradoxe Konsequenz, dass das ursprüngliche, reine Ich, das Ich der Bewusstheit, in eigentlicher Bedeutung weder Tatsache, noch Existierendes, noch Phänomen ist. Aber die Paradoxie hebt sich auf, sobald man sich klar macht: es ist Grund aller Tatsache, Grund aller Existenz, alles Gegebenseins, alles Erscheinens; nur darum kann es selbst nicht eine Tatsache, eine Existenz, ein Gegebenes, ein Erscheinendes sein. Dagegen mag es wohl ihm wesentlich
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sein, dies alles letztlich (im subjektiven Sinne) zu begründen; und wenn man sich die Freiheit nimmt, unter „Tatsache“ das alle Tatsächlichkeit Begründende, unter „Existenz“ das alle Existenz Begründende, unter dem „Gegebenen“ den Grund aller Gegebenheit, unter „Erscheinung“ den Grund des Erscheinens mitzuverstehen, so mag man unter diese „Begriffe“ das Bewusstsein – scheinbar und formal – subsumieren; aber es ist dann nicht mehr eine Subsumtion im sonstigen Sinne; es wird damit das Bewusstsein nicht anderen Tatsachen, anderem Existierenden oder Gegebenen oder Erscheinenden logisch koordiniert und gemeinsam mit ihm einem höheren, d.i., allgemeineren Begriff subordiniert, sondern es bleibt ihnen allen – nicht als Gattungsbegriff, als höherer Begriffsgrund übergeordnet, aber als letzter Seinsgrund vorgeordnet. Für unsere nächste Absicht nun ergibt sich aus diesem allen eine klare, aber freilich nur negative Konsequenz: die reine Ichheit, desgleichen die [33] reine Beziehung auf das Ich, ist nicht Problem für die | Psychologie. Sie ist selbst nicht Problem, eben weil sie Grund und Voraussetzung alles psychologischen Problems ist. Allein kraft ihrer gibt es Psychologie auch nur als Problem; aber sie selbst kann eben darum für die Psychologie nicht Problem sein. Was heißt es denn, dass ein Problem existiert? Es heißt, dass ein sicherer, nicht selbst wiederum problematischer Grund ist, kraft dessen das Problem überhaupt nur besteht, kraft dessen es aber auch der Lösung zugänglich ist. So also, als Problemgrund, nicht selbst als Problem, hat die Psychologie die Bewusstheit überhaupt oder die Ich-Beziehung zugrunde, recht eigentlich „zum Grunde“ zu legen, zu supponieren; aber einen Gegenstand der Untersuchung für die Psychologie bildet sie fernerhin nicht. §6. Der Inhalt allein Problem. Auseinandersetzung mit Husserl. Gegenstand psychologischer Untersuchung ist dagegen: wie in der Beziehung auf ein und dasselbe Ich allemal das, was bewusst ist, also der Bewusstseinsinhalt, sich darstellt: nämlich eben als „Inhalt“, das heißt – wie nun zu betonen wichtig wird – als Inbegriff, als Mannigfaltiges einerseits auseinandergehalten (oder der Auseinanderhaltung wenigstens fähig), andererseits in einer Einheit sich zusammenfassend (oder doch zusammenfassbar). In dieser Gedankenrichtung hat Edmund Husserl4 meine Aufstellung über das Ich und die Bewusstheit zu berichtigen geglaubt. Jeder Vernünftige wird nur dankbar sein für eine überzeugende Verbesserung der eigenen Aufstellungen; und von nicht vielen würde ich eine solche lieber hinnehmen als von diesem Philosophen, mit dessen „phänomenologischen“ wie allgemein methodischen Auffassungen ich mich vielfach begegne5. Ich finde 4 5
Logische Untersuchungen, II [Husserliana XIX/1 & 2]. Man vergleiche besonders die Grundgedanken von Logische Untersuchungen I
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gegen seine Berichtigung auch nur das Eine zu erinnern, dass das, was er in Bezug auf meine Aufstellung, in der Meinung, sie zu berichtigen, an sich zutreffend aufstellt, schon in meinem früheren Entwurf einer Methodik der Psychologie (der Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, 1888) klar ausgesprochen, nur allenfalls nicht genug in den Vordergrund und in genügend helle Beleuchtung gerückt war. Es wurde nämlich dort6 gesagt, die „Verbindung“, das heißt, die Einheit, in der in jedem Akte des Bewusstseins | [34] der Inhalt sich darstellt, sei der konkrete Ausdruck der Bewusstheit selbst; in ihr erhalte sie ihren bestimmten, positiven Wert. Auch sei im Grunde nichts damit gesagt, die Verbindung finde statt vermöge der gemeinschaftlichen Beziehung der Inhaltsbestandteile auf ein und dasselbe Ich, da umgekehrt das Ich eins und dasselbe allemal nur sei für eine Mehrheit von Inhaltsbestandteilen, sofern unter ihnen Verbindung (in einem Bewusstsein) sei. Verbindung sei Beziehung auf ein und dasselbe Ich, Beziehung auf ein und dasselbe Ich sei Verbindung; eins durch das andere erklären heiße dasselbe durch dasselbe erklären7. Nichts anderes (das wenigstens überzeugend wäre) besagt aber Husserls Korrektur meiner Aufstellung. Er betont einerseits, was ich auch betont hatte: der Beziehung des Erlebten zum erlebenden Bewusstsein (nach meiner Ausdrucksweise: der Bewusstheit) entspreche kein eigentümlicher „phänomenologischer Befund“8 (in meiner Sprache: sie sei selbst kein „Inhalt“ des Bewusstseins); sondern ihr entspreche, eben „phänomenologisch“, nur die „reale Erlebniskomplexion“, die „Verknüpfungseinheit“ der Erlebnisse. Er betont andererseits: das Gegenstand-sein (für ein Ich) könne allerdings wiederum Gegenstand – anderer Akte sein (meine Frage war aber, ob es Gegenstand dieses selben Aktes – dass es sich eines Inhalts bewusst ist – sein könne). Akte richten sich auf die Eigenheit von Akten, in denen etwas erscheint9. Übrigens sei die Beziehung des Ich auf den Bewusstseinsinhalt
[Husserliana XVIII] mit meiner Sozialpädagogik (1. Auflage 1898), §4, und schon mit der Abhandlung des Jahres 1887, „Ueber objective und subjective Begründung der Erkenntniss“. Im Übrigen siehe Kap. XI. 6 Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, S. 30 [Hier schreibt Natorp: „Allgemein also bildet die Verbindung der Inhalte im thatsächlichen Bewusstsein (daher ohne Rücksicht des Unterschieds objectiver oder bloss subjectiver Gültigkeit) das Object der psychologischen Untersuchung.“ – Anm. d. Hrsg.]. 7 Ebd., S. 31. [Hier schreibt Natorp: „Verbindung ist die Beziehung auf ein und dasselbe Ich; Beziehung auf ein und dasselbe Ich, das ist die Verbindung; Eins durch das Andere erklären heisst idem per idem erklären.“ – Anm. d. Hrsg.]. 8 S. 331 [der ersten Auflage der Logischen Untersuchungen, Husserliana XIX/1, S. 363; bei Husserl ist „phänomenologischer Befund“ kursiviert – Anm. d. Hrsg.]. 9 S. 342f. [der ersten Auflage der Logischen Untersuchungen, Husserliana XIX/1, S. 374f. – Anm. d. Hrsg.].
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keineswegs aller Unterschiede bar, denn die Weise, wie sich die Inhalte in die Erlebniseinheit einfügen (das nämlich und nur das bedeutet ihm die Beziehung auf das Ich) sei doch sicher verschieden. – Für die Ichbeziehung nach ihrer konkreten, in Husserls Sinne „phänomenologischen“ Bedeutung habe ich das gar nicht bestritten, sondern selber betont; und es gilt damit auch für die „Akte“, sofern darunter eben (nach Husserl) die konkreten Vereinigungen (Einfügungen in die Erlebniseinheit) verstanden werden, die ich auch selbst gelegentlich als „Akte“ bezeichnet habe10. Für diesen konkreten Sinn des „Aktes“ hat es gewiss auch seine volle Richtigkeit, dass ein Akt wiederum Gegenstand anderer Akte sein, d.h. dass Verbindungen, Fügungen [35] von Inhalten sich wieder in andere Verbindungen oder Fü|gungen einfügen, Relationen untereinander wiederum in Relation treten können. Es ist auch durchaus zu verstehen, dass Husserl, nach der ganzen Absicht seiner „Phänomenologie“, sofort beim „phänomenologischen Befund“, d.h. in meiner Sprache, beim Bewusstseinsinhalt, der ja gerade nach meiner Behauptung das einzige Untersuchungsfeld für die Psychologie ist, mit seiner Betrachtung einsetzt. Das reine Ich, das Ich der Bewusstheit überhaupt, auf welches allein meine These sich bezog, kommt für ihn daher gar nicht erst in Frage11. Es geht indessen schwerlich an, die Ichbeziehung restlos, auch nach ihrer letzten, schlechthin ursprünglichen Bedeutung gleichzusetzen der Fügung der Inhaltsmomente, das heißt zu erklären: „Etwas ist mir bewusst“, heiße überhaupt nur, es füge sich als Bestandteil in eine bestimmte Gesamtheit von Inhaltsmomenten; „a ist mir bewusst“ heiße überhaupt nur, es sei Bestandteil einer Inhaltsgesamtheit S (a, b, c …), welche eben das Ich ausmache. Gemeint wird dies mit der Aussage „Etwas ist mir bewusst“ sicherlich nicht, denn wir 10 S. 358 [der ersten Auflage der Logischen Untersuchungen, Husserliana XIX/1, S. 393 Anm. – Anm. d. Hrsg.] bemerkt Husserl selbst, dass ich, wenn ich die besonderen Akte (des Hörens usw.) ablehne, „Akt“ im buchstäblichen Sinne psychischer Betätigung verstehe (s. darüber Kap. III). [Husserl schreibt in dieser Anmerkung: „Wenn Natorp (Einleitung in die Psychologie, S. 31) gegen die ernstgenommene Rede von psychischen Akten als Betätigungen des Bewußtseins oder des Ich einwendet: ‚nur weil Bewußtsein oft oder immer von Streben begleitet ist, erscheint es als ein Tun und sein Subjekt als Täter‘ – so stimmen wir ihm vollkommen zu. Die ‚Mythologie der Tätigkeiten‘ lehnen auch wir ab; nicht als psychische Betätigungen, sondern als intentionale Erlebnisse definieren wir die ‚Akte‘.“ – Anm. d. Hrsg.] 11 Husserl korrigiert sich in der zweiten Auflage der Logischen Untersuchungen von 1913 hinsichtlich dieser Auffassung und ausdrücklich unter mehrmaliger Berufung auf den Einfluss Natorps. Er schreibt in einer in der zweiten Auflage hinzugefügten Anmerkung (zum Satz „Nun muß ich freilich gestehen, daß ich dieses primitive Ich als notwendiges Beziehungszentrum schlechterdings nicht zu finden vermag.“): „Inzwischen habe ich es zu finden gelernt, bzw. gelernt, mich durch Besorgnisse vor den Ausartungen der Ichmetaphysik in dem reinen Erfassen des Gegebenen nicht beirren zu lassen.“ (Husserliana XIX/1, S. 374, Anm.). – Anm. d. Hrsg.
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sagen doch nicht bloß von den Einzelbestandteilen des Inhalts (a, b, c usw.), sondern auch von solcher Gesamtheit S (a, b, c …) aus, dass sie uns bewusst sei, während sie doch nur sehr künstlich Bestandteil ihrer selbst genannt werden könnte; sondern etwa eine Gesamtheit S (a, b) ist Bestandteil einer anderen Gesamtheit S (a, b, c), diese wieder einer dritten S (a, b, c, d) usf. Nach Husserl müsste man sagen können: der Einzelinhalt sei bewusst der Inhaltsgesamtheit, diese dagegen, die Inhaltsgesamtheit (sofern sich die Betrachtung auf diese beschränkt und nicht ihre Unterordnung unter eine höhere zur Frage steht), sei überhaupt nicht bewusst. Es bleibt aber unzweifelhaft immer die Supposition des Bewusst-seins und zwar Einembewusst-seins, also auch des Ichs, dem der Inhalt, gleichviel ob Einzelinhalt oder verbundene Vielheit, bewusst, das selbst aber eben damit nicht Inhalt (weder Einzelinhalt noch verbundene Vielheit) sei. Man könnte vielleicht versuchen zu sagen (und nach einzelnen Wendungen scheint es von Husserl so gemeint zu sein), es sei die Einheit der allemal verbundenen Inhalte, und nicht die Inhalte, obwohl in ihrer Vereinigung; d.h. es käme die Unterscheidung von Inhalt und Ich hinaus auf die logisch gewiss wohlbegründete Unterscheidung zwischen dem Vielen, das in Verbindung steht, und dessen Verbindung, im Sinne der Einheit, in der das Viele vereinigt sei (Verbundenheit). | Das Ich sei also allerdings nicht identisch mit den [36] Inhaltsbestandteilen, weder den einzelnen noch sämtlichen (einzeln genommen und dann summiert), wohl aber mit ihrer (jedesmaligen) Einheit. Aber die „Form“ (aristotelisch gesprochen) der Verbindung, als im Mannigfaltigen dargestellt, gehört ohne Zweifel zu dem mir Bewussten, also zum Inhalt, so gut wie die „Materie“, das Mannigfaltige selbst; das Ich aber, dem beides, das Mannigfaltige wie dessen Einheit, das Mannigfaltige in Einheit, die Einheit im Mannigfaltigen bewusst ist, wird nicht gedeckt durch die „Verknüpfungseinheit“ der Inhalte, obgleich als „phänomenologischer Befund“ nur diese ihm entspricht, es also für die psychologische Untersuchung durch sie durchaus vertreten werden kann und muss, denn in nichts anderem ist es (wie ich fort und fort betont habe) konkret zu fassen. Wohl aber ist es unabhängig von ihr abstrakt zu supponieren. Als was denn? Die Antwort kann nur lauten: nicht als eine, als die jedesmalige Verknüpfungseinheit, sondern als die Einheit, als letzter Seinsgrund der Vereinigung, und damit als Einheitsmöglichkeit, mit einem Wort als Einheitsgrund überhaupt. Es ist ein Unterschied wie der der platonischen „Idee“ von dem an ihr „Teilhabenden“, worauf wir hinauskommen. Die Idee erscheint als solche nicht, aber sie ist darum nicht weniger zu supponieren, und zwar mit Notwendigkeit, da ohne ihre Supposition die Erscheinung selbst nicht fundiert wäre, also nicht gelten könnte (nämlich kraft der „Teilhabe“). Und hier erkennen wir nun die begreifliche Veranlassung des Anstoßes, den man nahm: man sucht als Faktum in der Erscheinung, was als Grund alles Faktums und alles Erscheinens selbst nicht Faktum, nicht Erscheinung sein kann.
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Dass die letzte, übergreifende Einheit des Bewusstseins sich selbst nicht in einem eigenen „phänomenologischen Befund“ aufweisen lässt, kann auch aus folgender Erwägung kein stichhaltiger Einwand sein. Müsste das „Erleben“, um als Faktum anerkannt werden zu dürfen, selbst wiederum (als „Inhalt“) erlebt werden, so würde dasselbe mit gleicher Notwendigkeit gelten vom Erleben des Erlebens, und vom Erleben wiederum dieses Erlebens, und so ins Unendliche weiter. Der Rückgang ins Unendliche ist aber hier ganz unannehmbar. Denn wenn gewiss ein begrenztes Erlebnis wiederum Inhaltsbestandteil eines anderen begrenzten Erlebnisses sein kann, so kann dies doch nicht ins Unendliche fortgehen, wenn wenigstens das Erleben [37] je wirklich sein soll, wie doch | der Einwand es fordert. Der Rückgang ins Unendliche ergäbe sich aber unter der gedachten Voraussetzung nicht bloß als möglich, sondern als unausweichlich notwendig. Das haben alle die, welche (wie auch Husserl) gegen dies Argument vom Rückgang ins Unendliche Einspruch erhoben haben, nicht beachtet; darum wird es durch die Einwendungen nicht getroffen. Indessen bedarf es nicht erst dieses künstlichen Umwegs über das Gedankenexperiment des Rückgangs ins Unendliche, auf welches daher auch ein besonderes Gewicht nicht gelegt wird. § 7. Das Ich als Unmittelbares, höchst Konkretes. Was die Unterscheidung von abstrakter und konkreter, oder reiner und im Inhalt sich darstellender Einheit, oder von Einheit als Idee und als Erscheinung (phänomenologischer Befund) besagen will, muss freilich dem unzugänglich bleiben, der die Bewusstseinserscheinungen gleichsam nur statisch betrachtet, d. h. allemal nur eine bestimmt begrenzte Inhaltsgesamtheit als gegeben annimmt, während im wirklichen Leben des Bewusstseins es gar keine solche starren Verknüpfungseinheiten gibt, sondern alles im Fluss ist, was für einen willkürlich, für die Betrachtung abgegrenzten Bewusstseinsakt ein geschlossenes Ganzes, für einen anderen bloßer Bestandteil, was Bestandteil, wiederum Ganzes sein kann; welche „Akte“ selbst im lebendigen Bewusstsein keineswegs starr und fest, gegeneinander abgeschnitten sind, sondern gänzlich ineinander überfließen, so dass überhaupt niemals anders als willkürlich, für die Reflexion, solche bestimmt abgegrenzte Inhaltsgesamtheiten bestehen. Sollte nun das Ich in diesen Fluss gänzlich mithineingerissen sein, so würde es damit, noch ganz anders als bei David Hume, der im Ich nichts als ein „Bündel“ von Vorstellungen sah12, jener Identität verlustig gehen, die nun doch eben das ist, was das Ich den wechselnden Inhalten gegenüber auszeichnet und den Vergleich vom Zentrum rechtfertigt. Das Zentrum eben kann identisch bleiben nicht bloß für alle Verschiedenheit der Peripheriepunkte
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Vgl. A Treatise of Human Nature, I, IV, vi. – Anm. d. Hrsg.
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bei ruhender Peripherie, sondern auch für allen Wechsel derselben wie auch ihrer besonderen Verknüpfungsweisen (z.B. der Krümmung der Peripherie), wenn man die Peripherie selbst nicht fest, sondern mit wechselndem Radius, und zwar unendlich, vielleicht unendlichfach unendlich, nämlich in unendlichen Dimensionen beweglich, sich weiter und weiter hinausschiebend oder umgekehrt enger und enger zusammenziehend denkt. Der Vergleich, so sehr immer Vergleich, reicht dennoch hin, auch noch das zu veranschaulichen, wie | gar nicht es eines besonderen „phänomenologischen Befundes“ bedarf, [38] damit man eine solche Beziehungseinheit behaupten dürfe; wie sie in gar keiner begrenzt gegebenen Verknüpfung dargestellt zu sein nötig hat noch überhaupt dargestellt sein könnte, sondern allenfalls nur, theoretisch ausgedrückt, in dem Bestande des Gesetzes, durch das sie alle ins Unendliche, also ohne gegeben zu sein, d.h. a priori, bestimmt oder doch im allgemeinen bestimmbar sind. Kühner mag es scheinen, diesen (natürlich zeit- und raumfreien) „Bestand“ der Einheitsidee nun nach seiner konkreten Bedeutung ausgedrückt zu finden in der absoluten Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit des Erlebens. Denn jene ideale oder Gesetzeseinheit ist eben höchst abstrakt, während das Erlebnis schlechthin konkret, das Konkreteste von allem, das Urkonkrete ist. Aber vielleicht verhält es sich hier wie sonst, dass gerade die Extreme koinzidieren. Sie koinzidieren im Momente der Kontinuität. Jedenfalls wird doch in der Unmittelbarkeit des Erlebens alle begriffliche Abgrenzung aufgehoben, die durchgängige Wechselbezüglichkeit des durch den Begriff Auseinandergestellten, des logisch Diskreten ursprünglich und unaufheblich bestehend gedacht; so aber fällt auch im Gesetz alle Isolierung der Einzelsetzungen weg; es werden diese in die ursprüngliche Kontinuität wieder einbezogen, aus der sie nur durch Abstraktion für die mühsam von Haltpunkt zu Haltpunkt fortschreitende Reflexion sich herauslösten; das heißt, das Gesetz will eigentlich das letzte Konkrete bedeuten, obgleich dieses in ihm nur einen abstrakten Ausdruck findet. Es bedeutet das Konkrete, das heißt, es fordert die Konkretion, und ist selbst abstrakt nur, sofern es bei der Forderung stehen bleibt, nicht aber nach dem erfüllten Sinn des Geforderten. Wenn nun im Begriff des Erlebnisses unfraglich die wirkliche Identität des erlebenden Ich, und zwar nicht als bloße etwa willkürliche Annahme, sondern als absolutes Faktum, vielmehr als Fieri, ja als Facere, als absolute „Tat“ (Akt) – se faire sagt Bergson13 – eingeschlossen liegt, d.h. gedacht sein will, – eine Identität, die nicht in der jedesmaligen begrenzten Inhaltskomplexion sich erschöpfe, sondern über jede solche Begrenzung mindestens der Möglichkeit nach hinausreiche, also auch nicht durch diese erst gesetzt sei, sondern ihr voraus, eben darum auch unbeschränkt über
13
Vgl. die Diskussion von Bergson in Kap. XII. – Anm. d. Hrsg.
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sie hinaus bestehe –: so hat diese Supposition, wie wir jetzt erkennen, das tiefste und innerlichste Recht auf ihrer Seite. Denn genau in diesem Sinne [39] ist das Be|wusst-sein als Bezugseinheit gegründet in der Idee dieser Einheit, die somit zwar Supposition, aber schlechthin notwendig zu supponieren ist, wofern überhaupt Bewusstsein stattfinden soll; zu supponieren nicht sowohl als Begriff (obwohl man nicht umhin kann sich auch eine Art Begriff von ihr zu machen), sondern als Urerlebnis, als das Urerlebnis. Es gibt eben nicht bloß die Erscheinungen, es gibt auch das Erscheinen selbst, obgleich dies selbst – natürlich – nicht wiederum erscheint. Und es gibt – das besagt, nur in anderer Wendung, dasselbe – jenes ursprüngliche Ich, das nicht in den jeweils sich begrenzenden und in dieser Begrenzung beständig wechselnden Inhaltskomplexionen aufgeht, sondern, in sich grenzenlos und beharrend (in dem Sinne, wie die Idee beharrt), über diese alle hinausragt, also wiederum in diesen nicht erscheint, aber als Grund des Erscheinens (so wie die Idee Grund ist) sie alle „allein möglich macht“. Und zwar als letzter Sachgrund, nicht bloß Begriffsgrund. Für die Aufgabenbestimmung der Psychologie aber gewinnen wir damit wahrlich nichts Geringes: die schrankenlose Freiheit, Inhaltsbeziehungen und Beziehungen von Beziehungen anzusetzen über jede willkürliche Abgrenzung hinaus, die für die analysierende Betrachtung freilich unerlässlich, aber eben als solche niemals endgültig, sondern stets wieder überschreitbar und notwendig zu überschreiten ist. Schon hier lässt sich absehen, dass gerade damit die psychologische Empirie erst von jeder hemmenden Fessel befreit, dass sie einer allseitigen Entwicklung fähig wird. Sie wird erlöst von den Schranken einer bloßen Statik „gegebener“ Bewusstseinsfakten, sie weitet sich zu einer freien Dynamik. Sie überwindet die starren Diskretionen, die künstlichen Stillstände der Betrachtung, sie mündet ein in den allgewaltigen Strom des Werdens und der Kontinuität. Eben damit wird die Ichbeziehung so allbefassend in ihrer Konkretheit und Aktualität, wie sie es zuvor nur im Abstraktionssinne, d.h. in der bloßen Potenz war. Gerade indem sie nicht selber erscheint, nicht selber erlebt wird, erweist sie sich als der volle, konkrete Ausdruck des Erscheinens, des Erlebens selbst in seiner absoluten [40] Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit. |
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„Tätigkeiten“ des Bewusstseins §1. Der Bewusstseinsinhalt alleiniges Problem der Psychologie. Für die Klärung des Problems der Psychologie ist bis dahin gewonnen: 1. in positiver Hinsicht die Sicherung ihres Problemgrundes in der letzten, schlechthin übergreifenden Einheit des Bewusstseins; 2. in negativer die Feststellung, dass dieser Problemgrund selbst nicht Problem, nicht Gegenstand der Untersuchung für die Psychologie ist. Diese bleibt somit ausschließlich hingewiesen auf das, was irgendwem bewusst ist, auf den Bewusstseinsinhalt. Auch ein „Datum“ der Psychologie kann das Ich der reinen Bewusstheit nicht eigentlich genannt werden. Datum hieße Problem; Problem aber ist das reine Ich eben nicht. Es ist Prinzip; ein Prinzip aber ist niemals „gegeben“, sondern, je radikaler, um so ferner allem Gegebenen. „Gegeben“ würde überdies heißen „Einem gegeben“, das aber hieße wiederum: Einem bewusst. Das Bewusst-sein ist im Begriff des Gegebenen also schon vorausgesetzt. Eben als Voraussetzung aller Gegebenheit kann aber die reine Bewusstheit selbst nicht „gegeben“ heißen; so wie das Erscheinen selbst nicht eine Erscheinung [heißen kann]. Problem dagegen und im Sinne des Problems „gegeben“, d.h. zur Untersuchung aufgegeben, ist die relative Einheit des Bewusstseins, d.h. die besondere Art, wie jedes Mal (nämlich für die jedesmalige psychologische Erwägung, unter dem jedesmaligen Gesichtspunkt einer solchen) der Inhalt des Bewusstseins sich in Einheit darstellt. Jede bestimmte Bewusstseinseinheit also ist für die Psychologie Problem, nur nicht jene letzte, allem vorgeordnete, welche eben damit auch allem vorausliegt, was für die Psychologie Problem sein kann und muss. Die relative Einheit aber gehört selbst zum Inhalt, da die „Form“, d.i. die Art der Vereinigung, nicht weniger als die „Materie“, die zu vereinigenden Elemente, zum Inhalt, buchstäblich zum Innengehalt des Bewusstseins | gehört, ja das wesentlich Konstituierende [41] eines solchen ist. Denn Inhalt besagt: ein Mannigfaltiges in Einheit, Materie in Form. §2. Die Annahme von Tätigkeiten des Bewusstseins. Hat man gegen die These, dass Psychologie es einzig mit dem Inhalt des Bewusstseins zu tun habe, Einspruch erhoben, so hatte man entweder eben die Unterscheidung von Form und Materie im Sinn und missverstand nur, als ob unter „Inhalt“ die
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Materie allein, ohne die Form, gemeint sei1; oder man dachte wirklich an jene letzte, übergreifende Einheit, welche in der Psychologie voll anzuerkennen und an die Spitze zu stellen, aber an der weiter nichts zu untersuchen oder näher zu bestimmen ist, die, gerade als ihr letzter Problemgrund, nicht selbst ein Problem für die Psychologie bilden kann. Man glaubte indessen sie als Datum vorzufinden und so denn auch zum Problem machen zu können. Sie sollte, im Unterschied vom Inhalt des Bewusstseins, sich darstellen in der Art der Tätigkeit, in der das Bewusstsein als konkretes immer bestehe. Die leere Abstraktion der Bewusstheit freilich, der bloße Allgemeinausdruck des Erscheinens oder Einem-bewusstseins überhaupt, sei kein Problem der Psychologie; sehr wohl aber lasse sich angeben, worin das Bewusst-sein als konkretes bestehe, nämlich im Tätig-sein, und zwar allemal in einer bestimmten Weise der Tätigkeit. In allem konkreten Bewusstsein: in Empfindung, Vorstellung, Denken, Gefühl, Begehr, Willen, kurz in jeder Modifikation des Bewusstseins haben wir, so glaubt man zu finden, außer dem Bewusstsein des Empfundenen, Vorgestellten, Gedachten, Gefühlten, Begehrten, Gewollten noch ein Bewusstsein des Empfindens, Vorstellens, Denkens, Fühlens, Begehrens, Wollens als unseres Tuns, und darin erhalte die Bewusstheit und das bewusste Ich seine konkrete Bestimmung. Das Ich oder die Bewusstheit in abstracto sei weiter nichts als Tätiges bezüglich Tätigkeit überhaupt; konkret dagegen, d.h. im jedesmaligen aktuellen Bewusstsein sei das Ich eben allemal in bestimmter Tätigkeit begriffen: wahrnehmend, vorstellend, denkend usw. Die Bewusstheit als konkrete bestehe somit in der so und so näher bestimmten Tätigkeit. Was überhaupt eine Tätigkeit des Bewusstseins sei, und was das Tätige dabei, dürfe man nicht fragen oder so im allgemeinen erklären wollen, das führe wieder zu nichts; aber an solchen Beispielen [42] von Bewusst|seinstätigkeiten oder Akten, wie den genannten, liege es unverkennbar vor. So ist die Unterscheidung von Akt und Inhalt des Bewusstseins in der Psychologie vielfach angenommen. Sie wird oft ganz ohne besondere Vorbereitung oder Rechtfertigung, wie etwas von selbst Verständliches, Unanfechtbares eingeführt. Einige der besten neueren Psychologen zwar, wie Lipps und Husserl, machen von dem Begriff psychischer Tätigkeiten als unmittelbarer Gegebenheiten keinen Gebrauch mehr; sprechen sie überhaupt von Tätigkeiten, so werden solche allenfalls erst eingeführt im Sinne theoretischer Voraussetzungen, als psychische Ursachen; Kräfte oder Energien, zur Darstellung der gesetzlichen Zusammenhänge psychischen Geschehens2; was hier noch nicht zur Frage steht. 1 So Johannes Volkelt, s. [Natorps] „Zu den Vorfragen der Psychologie“, S. 586ff., besonders S. 590 f. 2 So namentlich Theodor Lipps, Grundtatsachen des Seelenlebens, Kap. 2.
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Verständlich wird die Behauptung von Tätigkeiten als ursprünglichen Daten der Psychologie aus dem gewiss begründeten Bestreben, die Subjektivität des Bewusstseins in aller Strenge festzuhalten, die Psychologie gegen die Gefahr eines Objektivismus, der zuletzt immer Naturalismus zu werden droht, zu sichern. Man sah wohl oder hatte unbestimmt im Sinne, dass der „Inhalt“ in jedem Falle eine Objektivierung fordert; dass er, auch wenn als Erscheinung des Objekts von diesem selbst unterschieden, doch immer auf es bezogen, immer Darstellung des Objekts auf irgendeiner Stufe und in irgendeiner Richtung der Objektivierung ist. Erscheinung ist eben immer Erscheinung des Objekts, ja man kann sagen, sie ist das Objekt, so wie es dem Subjekt allemal unter den gegebenen Bedingungen sich darstellt. Soll also die Subjektivität nicht gänzlich in die Objektivität aufgehen und verschwinden, so muss sie (schließt man) in etwas anderem als der Erscheinung (also dem Inhalt) zu fassen sein. Als dies andere glaubt man dann zu finden die Tätigkeiten des Bewusstseins. Z.B. der gehörte Ton ist jedenfalls, als Phänomen, auf sein Objekt – in diesem Falle einen bestimmten Vorgang in der äußeren Natur: Luftschwingungen und deren Übertragung auf den Hörnerven, und schließlich irgendeinen Prozess im Zentralorgan – zu beziehen. Er bedeutet, als psychisch gegeben, allerdings nicht diesen Naturvorgang, sondern dessen Darstellung für den Hörenden; aber nicht bloß jener äußere Vorgang, sondern auch eben dies: dass und wie, in welcher „Erscheinung“ ein solcher und solcher äußerer Vorgang sich einem so und so organisierten und unter | solchen und solchen sonstigen Bedingungen [43] stehenden Subjekt darstellt, sei schließlich Frage der Naturwissenschaft, die ja nicht bloß die physikalische, sondern ebenso gut die physiologische Akustik einschließt. Das Einzige, wofür Naturwissenschaft nicht zuständig sei, sei das Bewusst-sein selbst, d.h. die Tätigkeit, in diesem Fall das Hören; diese also (schließt man) müsse hier das eigentümliche Problem für die Psychologie sein. Sie habe mit dem Inhalt, z.B. dem gehörten Ton, weiter nichts zu tun, als dass eben für das von der Naturseite (d.h. physikalisch und physiologisch) so und so bedingte Auftreten dieser Erscheinung die zugehörige psychische Tätigkeit nachzuweisen sei. Die auf den Naturvorgang zu beziehende Erscheinung, in diesem Fall der vernommene Ton, gehöre also zur Psychologie allenfalls nur als Ausgangs-, als Ansatzpunkt, nicht an sich, nach ihrem eigenen Gehalt als Erscheinung; sondern diese sei, eben als solche, auf das darin erscheinende Objekt (den Naturvorgang) zu beziehen. Das Erscheinen selbst dagegen, das Einzige, was an dem Faktum der Erscheinung das Psychische sei, werde konkret fassbar in der bestimmten Tätigkeit des Bewusstseins, in diesem Fall dem Empfinden, speziell dem Hören. Wäre das nichts Eigenes, so bliebe gar kein eigentümliches Problem für die Psychologie, sondern es gäbe hier ein Problem nur für die Naturwissenschaft.
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§3. Die Täuschung in der Annahme der Bewusstseinstätigkeiten. So diese Vorstellungsart, wie sie, nur meist weniger klar ausgedrückt, in gangbaren psychologischen Darstellungen, offener oder versteckter, zugrunde liegt. Die Feststellungen des vorigen Kapitels ermöglichen uns darüber rasch zur Klarheit zu kommen. Gewiss ist als zweierlei durch Abstraktion auseinanderzuhalten: das Dasein des Inhalts und sein Verhalten zum Ich. Aber es erwies sich schon, dass das letztere sich auf keine Weise für sich gegenständlich machen und unter gesonderte Betrachtung stellen lässt, weder als Allgemeines noch in irgend einer Spezifikation. Die Spezifikation gerade liegt einzig und allein im Inhalt. Im Dasein des Inhalts für den jedes Mal Empfindenden, Vorstellenden usw. liegt immer schon das unbeschreibliche Gegenüber zum Ich, sonst wäre es eben nicht für ihn da, nicht Inhalt seines Bewusstseins. Aber dies Gegenüber stellt sich nun nicht selbst wiederum uns vor oder gegenüber, weder als Bewusstheit überhaupt noch als irgendeine Spezifikation von Bewusstheit; z.B. wir haben nicht eine Empfindung (oder sonstige Bewusstheit) unseres [44] Emp|findens, sondern nur des Empfindungsinhalts, z.B. der Farbe Rot, des Tons Gis usf. Wenn mir aufgegeben wird, darauf zu achten, ob ich zum Beispiel eine bestimmte Tonempfindung habe, so habe ich auf nichts anderes zu achten als eben auf den Ton, den ich hören soll, und ich werde ihn dann vielleicht wirklich hören. Wer außerdem noch sein Hören hört oder auf irgendeine andere, mir nicht gegebene Art empfindet oder sich seiner bewusst wird, den könnte ich um diese Art Empfindung oder sonstiger Bewusstheit vielleicht beneiden, aber ich kann es ihm nicht nachtun. „Der Ton ertönt mir“ und „Ich höre den Ton“: dies sind für mich nicht zwei Tatsachen, weder zwei aufeinanderfolgende noch zwei gleichzeitig erlebte, sondern es ist eine einzige Tatsache, in der ich allenfalls durch Abstraktion die bekannten zwei Momente unterscheiden kann: das Dasein des Inhalts und seine Zugehörigkeit zu „mir“, d.h. zum Gesamtgehalt meines jetzigen (jetzt in Betracht gezogenen) Bewusstseins. Keines dieser zwei Momente aber lässt sich vom anderen wirklich ablösen; sie sind im Akte des wirklichen Bewusstseins durchaus ungetrennt und untrennbar zusammen gegeben. Ich kann wohl ihr Verhältnis, wie jedes Verhältnis zweier Dinge, auf doppelte Weise zum Ausdruck bringen, vonseiten des Einen und vonseiten des Anderen; ich kann das eine Mal vom Inhalt, z.B. dem gehörten Ton, aussagen, er habe dies Verhältnis zu mir, dass er mir ertöne, das andere Mal von mir, ich habe zu ihm dies Verhältnis, dass ich ihn höre; aber dies sind so wenig zwei verschiedene Tatsachen, wie es zwei verschiedene Tatsachen sind, dass A B und dass B A gegenüberliegt. Dieser oft gebrauchte Vergleich des Gegenüberliegens ist übrigens (wie schon einmal bemerkt wurde) reichlich ungenau. Beim räumlich Gegenüberliegenden kann ich immerhin jedes der sich Gegenüberliegenden, A wie B, auch für sich und in mannigfachen
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anderen räumlichen Beziehungen betrachten; in unserem Falle dagegen kann ich zwar wohl z.B. den Ton für sich oder im Verhältnis zu anderen ihm nebengeordneten Objekten (Bewusstseinsinhalten) erwägen, ohne sein Verhalten zum Ich weiter berücksichtigen zu müssen; aber ich kann nicht ebenso mich und mein Hören in Betracht nehmen, ohne an den gehörten Ton mitzudenken, sondern, wenn ich ihn weglasse, so bleibt von dem gedachten Faktum, meinem Hören dieses Tones, nichts übrig, was sich erwägen oder in Untersuchung ziehen, oder worüber sich irgendwelche Aussage tun ließe. Entschwindet mir der Ton, so entschwindet | auch mein Hören des Tons, [45] und es tritt entweder ein anderer Inhalt auf, für welchen Entsprechendes gilt, oder, wenn aller Inhalt mir entschwindet, so entschwindet auch die Bewusstheit und das Ich, und es bleibt gar nichts übrig. §4. Weiteres in Betreff der „Tätigkeiten“. Hieraus ist zu schließen: mein Bewusst-sein, z.B. Hören, ist nur da oder findet statt, sofern der Inhalt, z.B. der Ton, für mich da ist; sein Dasein für mich, das ist mein Bewusstsein von ihm. Wer sein Bewusstsein noch sonst irgendwie zu ertappen vermag als im Dasein eines Inhalts für ihn, dem kann ich es nicht nur nicht nachtun, sondern (eben deshalb) mir auch gar nicht klar machen, was er wohl bei sich erleben mag. Ich muss daher in meiner Psychologie von der Unterscheidung zwischen dem Bewusstsein des Inhalts und dem Bewusst-sein dieses Bewusst-seins wohl absehen, ja ich kann nach meiner Psychologie nicht wohl umhin zu vermuten, dass, wer so unterscheidet, in einer Täuschung befangen sei und wirklich nichts anderes im Sinne habe als die mit jedem Inhalt freilich notwendig gegebene Beziehung auf das Ich, nur dass er den oft gerügten Fehler begeht, diese Beziehung auch für sich gegenständlich machen zu wollen. Nur kurzer Andeutung bedarf es, dass, wer ein Bewusst-sein des Bewusstseins behauptet, folgerecht auch ein Bewusst-sein des Bewusstseins des Bewusst-seins usf. behaupten müsste; wie es einige Philosophen denn auch unbefangen tun. Aber damit gerät man in eine bodenlose Metaphysik, in deren Labyrinthe wenigstens der psychologische Empiriker, mit dem wir es hier nur zu tun haben möchten, sich so wenig wie wir wird verirren wollen. Die Tätigkeiten im gedachten Sinne sind also jedenfalls nichts Gegebenes. Wollte man indessen auf ihr Gegebensein auch verzichten und sie lediglich als theoretische Voraussetzungen einführen wollen, so fürchte ich, dass man damit gerade die Gefahr nicht vermiede, die man vermeiden wollte: die Gefahr einer falschen Objektivierung der Subjektivität selbst und als solcher. Man macht dann gerade das Bewusst-sein selbst zu etwas für sich Gegenständlichem, zu einer zweiten „Natur“, die man ganz nach dem Muster der ersten, in Wahrheit einzigen, in einem System zeitlich bestimmter Akte oder Vorgänge, nebst deren Ursachen, Kräften, Energien und dann wohl
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auch Substanzen, darzustellen d.i. zu konstruieren unternimmt; Akten, denen [46] man | mit der zeitlichen schließlich auch die räumliche Beziehung schwerlich
wird absprechen dürfen, denn ich, der Empfindende, bin, als empfindend, z.B. hörend oder sehend oder tastend, doch sicher im Raume, empfange Eindrücke im Raume usw. So aber erhält man unentrinnbar nichts als eine bloße Wiederholung, einen bloß anderen Ausdruck jener selben „Natur“, der man entrinnen wollte, nämlich der, auf welche die Erscheinungen – die des Bewusstseins, es gibt keine anderen – als Erscheinungen ihres Objekts zu beziehen sind: der räumlichen Natur. Indessen gehört diese Frage, wie schon gesagt, nicht eigentlich schon an diese Stelle, denn hier ist erst die Frage nach dem Psychischen als Problem, noch nicht nach den Denkmitteln zur wissenschaftlichen Bearbeitung dieses Problems. §5. Haltbarer Sinn der „Tätigkeiten“: Art der Einfügung in die Bewusstseinseinheit. Am sichersten wird man jeder Gefahr einer solchen falschen Objektivierung entgehen, wenn man die Frage der Psychologie streng darauf konzentriert: Wie stellt der Inhalt in der Einheit des jeweiligen Bewusstseins sich dar? Diese Einheit wird stets auch irgendwie objektiv bedingt sein; aber als erlebte besteht sie jedenfalls zunächst auf subjektiver Seite, in einem Bewusst-sein; und so bleibt man streng beim Subjektiven des Erlebnisses, also bei dem eigentümlichen Problem der Psychologie, solange man nur streng bei ihr bleibt. In der Erlebniseinheit findet zugleich das volle Anerkennung, was der einzig haltbare Sinn der psychischen „Tätigkeiten“ ist: die bestimmte Art der Einfügung der in abstracto isolierbaren Inhaltsmomente (als „Materie“) in die jedesmalige Inhaltseinheit (als „Form“). Ich höre nicht mein Hören, ich höre allein den Ton; aber eben ich höre ihn, d.h. er ist für mich da, er ist Bestandteil meines (jetzigen, für jetzt in Betracht gezogenen) Bewusstseins, und ordnet sich damit ein in die konkrete Einheit dieses meines Erlebens; nur das ist die „subjektive“ Seite des fraglichen Faktums. Damit ist aber nichts von dem Behaupteten zurückgenommen; denn es wurde nicht behauptet: das Dasein des Tons schlechtweg, sondern sein Dasein für mich, sei identisch mit meinem Hören des Tons. Das Dasein für mich, im Unterschied vom Dasein für einen Anderen oder von seinem objektiven Dasein, d.h. für einen möglichen Hörenden überhaupt, wird aber eben charakterisiert durch die bestimmte Weise der Einbeziehung in den Zusammenhang oder in die Einheit meines Erlebens. Das wäre jedoch [47] durch das Wort „Tätigkeit“ | keinesfalls unmissverständlich ausgedrückt. Denn der verständliche Sinn dieser Redeweise wäre doch wohl der, dass es ein bestimmtes Verhältnis des Ich zum Inhalt sei, um das es bei den vorausgesetzten „Tätigkeiten“ sich handle. Das ist es aber eben, was ich nicht für richtig erkennen kann, weder im allgemeinen, d.h. in dem Sinne, dass in jedem Bewusstseinsakte für sich dies Zweierlei vorliege, die Bewusstseinstätigkeit und der Inhalt, noch in der Spezifikation, d.h. in der Bedeutung,
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dass die charakteristische Verschiedenheit der Bewusstseinsakte allemal in doppelter Gestalt sich aufweisen lasse, einmal als Verschiedenheit des Inhalts, und zweitens als Art der Bewusstseinstätigkeit, d. h. als Sonderart des Verhaltens des Ich zum Inhalt. Dagegen wird das gar nicht bestritten, dass es verschiedene und zwar grundverschiedene Arten der Einfügung der jeweiligen Inhaltsbestandteile in die Erlebniseinheit gibt; behauptet wird nur, dass diese Verschiedenheit der Einfügung, da sie doch eben den Inhalt und nichts anderes betrifft, auch stets am Inhalt und nur an ihm aufzeigbar sein müsse; dass also nicht eine doppelte Verschiedenheit sei die des Inhaltsganzen, so wie es allemal Einem bewusst ist, und die der Art des Bewusst-seins des Inhalts. Das Bewusst-sein ist eben konkret nirgends anders aufzuweisen als am Inhalt und der Art seiner Fügung. Die Fügung ist eben die des Inhalts, so wie er im Bewusstsein ist, nämlich als Mannigfaltiges in Einheit; also muss sie eben an diesem aufzeigbar sein. So sehr dies in allgemeiner Erwägung nunmehr klar sein dürfte, so erscheint es doch, um womöglich jeden Zweifel über diesen Punkt auszuschließen, nicht überflüssig, es durch eine kurze Induktion auch im Einzelnen zu bestätigen. Dabei muss natürlich, was das Besondere der Bewusstseinsgestaltungen betrifft, teilweise späterem vorgegriffen werden, da über die Sondergestaltungen des Bewusstseins hier noch nichts vorausgesetzt werden soll. Doch lässt sich die Argumentation unschwer so führen, dass sie sich in nichts auf eigentümliche, etwa strittige psychologische Auffassungen zu stützen braucht; oder es kann die etwa noch nötige Berichtigung oder nähere Bestimmung solcher Auffassungen (welche den Kern des hier zu Beweisenden nicht berührt) späterer Erwägung vorbehalten bleiben. §6. Bestätigung der These für die sinnlichen Elementarinhalte. Handelt es sich zunächst um die letzte „Materie“ des Bewusstseins, die sogenannten Empfindungen, so wäre in deren Begriff streng | genommen von aller [48] „Form“, also von jeder unterschiedlichen Art der Einfügung in den Bewusstseinszusammenhang zu abstrahieren, also von irgendwie verschiedenen Arten der Bewusstheit bei ihnen überhaupt nicht zu reden. In der Tat wird es auch nicht leicht jemandem einfallen, das Bewusstsein zweier verschiedener Farben oder Töne, bloß als solches, der Art nach, als Bewusstsein, und nicht bloß nach dem Inhalt zu unterscheiden. Auch dass die verschiedenen Klassen von Empfindungen, z.B. Gesichts- und Gehörsempfindungen, durch den Inhalt hinreichend unterschieden sind und nicht außerdem durch irgendeine Besonderheit des Bewusst-seins des Inhalts unterschieden zu werden nötig haben, wird man bei einigem Besinnen wohl zugeben müssen. Dass uns beim Hören allerdings anders „zumute“ ist als beim Sehen, ist gewiss; aber diese Verschiedenheit betrifft offenbar nicht mehr den reinen Empfindungsinhalt, sondern hängt von mancherlei zum Teil schwer fasslichen Begleitmomenten, von Komplexionen sei es unter
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Empfindungen verschiedener Klassen oder solcher mit Gefühls- und Strebensmomenten ab. Dass allgemein das Bewusstsein qualitativ verschiedenen Inhalts nicht außerdem noch qualitativ verschiedenes Bewusstsein ist, diese Behauptung wird, solange es sich um Einzelinhalte (Empfindungen) handelt, aus dem besagten allgemeinen Grunde wohl nicht bestritten werden können. Eher werden manche Psychologen geneigt sein, Grade oder Stufen der Bewusstheit schon von den Empfindungen an zu unterscheiden, ohne dass deren Annahme identisch sein soll mit der von Intensitätsunterschieden des uns Bewussten, also in diesem Falle des Empfundenen. Allein es sollte klar sein, dass eine solche Unterscheidung jedenfalls, sofern es sich um Empfindungen handelt, bei Intensitäten genau so wenig Grund hat wie bei Qualitäten. Das Hören des stärkeren Tons ist nicht außerdem auch noch stärkeres Hören, das Sehen des intensiveren Lichtes nicht außerdem intensiveres Sehen. Wenn ich „denselben“ Ton, d.h. einen Ton derselben Höhe und Klangfarbe, einmal leise, ein andermal laut höre, so ist es eben nicht mehr derselbe Empfindungsinhalt, dem erst mein Hören den schwächeren oder stärkeren Akzent gibt, sondern es sind für meine Empfindung verschiedene Inhalte, z.B. der Ton C leise und derselbe laut ertönend; zu dieser Verschiedenheit des Inhalts tritt nicht als eine weitere hinzu die der Intensität meines Empfindens; so vollends beim helleren und dunkleren Rot. [49] Was den Schein | erwecken kann, als komme neben der Steigerung im Inhalt noch eine Steigerung der Empfindungstätigkeit in Frage, ist wohl (wenn nicht Physiologisches gemeint ist) wiederum das Auftreten von Begleitmomenten; z. B. der Intensitätssteigerung der Empfindung parallel gehender Lust- und Unlustgefühle oder Strebungen. Aber nach solchem allen ist hier nicht die Frage, sondern nach der Empfindung selbst, ihrem Inhalt einerseits, und dem genau auf diesen und nichts anderes bezogenen „Akte“ des Empfindens andererseits. Da aber ist ganz gewiss nicht eine Intensitätssteigerung des Aktes (z.B. des Hörens) neben der Intensitätssteigerung des Inhalts (des Gehörten) nachweisbar. Entsprechendes wird dann wohl auch für alle anderen Bewusstseinsgestaltungen, bei denen Intensitätsunterschiede in Frage kommen, zugestanden werden müssen. Man spricht auch von hellem und dunklem Bewusstsein. Aber es verhält sich mit den Klarheitsgraden des Bewusstseins schwerlich anders als mit den Intensitätsgraden, gleichviel wie diese sich zu jenen übrigens verhalten mögen. Im einen Fall ist etwas Deutliches mir bewusst, im andern etwas minder Deutliches; z.B. im wachen Bewusstsein viel deutlich Verbundenes und Unterschiedenes, im träumenden (im Allgemeinen) weniger und in loserer, schwankenderer Verbindung und Unterscheidung. Das alles sind Verschiedenheiten, die am Inhalt aufweisbar sind; das Bewusst-sein des Inhalts, das Bewusst-haben desselben, ist in allen diesen Fällen der Art nach, als Bewusst-sein, nicht verschieden.
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§7. Bestätigung für Inhaltsverbindungen. Gehen wir nun über zu den Verbindungen, zunächst den einfachsten und durchsichtigsten, den bloßen äußeren Zusammensetzungen und Gruppierungen der Einzelinhalte, die dabei übrigens ihre Natur in keiner Weise ändern sollen: so ist es gewiss ein Unterschied, 1. ob zwei oder mehr Inhalte überhaupt in Verbindung auftreten, oder isoliert, und 2. ob in solcher oder anderer Verbindung, z.B. ein einzelner Inhalt A in einer bestimmten, engeren Verbindung bloß mit einem zweiten, B, oder mit diesem und einem dritten, vierten und so fort; und solche Reihen oder Gruppen wiederum isoliert oder mit andern vereinigt usf. Aber stets ist die Verbindung oder Verbindungslosigkeit am Inhalt aufzuzeigen, am Inhalt, eben so, wie er uns bewusst ist, und nicht außerdem am Bewusst-sein des Inhalts. Zur äußeren Verbindung gehört vor allem – oder sie ist vielleicht stets (das sei hier gleichgültig) – die zeitliche und die räumliche. Ge|wiss ist [50] es ein Unterschied, ob ich eines Nacheinander im Gegebensein zweier Inhaltsmomente mir bewusst bin oder nicht; ein Unterschied, ob ich einen und denselben (nämlich in jeder sonstigen Beziehung den gleichen) Inhalt als in dem oder einem anderen Zeitpunkt gegeben vorstelle, und entsprechend: in dem oder einem andern Ort, der oder einer anderen räumlichen Beziehung; auch mag man sagen, es sei ein Unterschied in der Art, wie der Inhalt mir bewusst ist. Allein so gewiss die Zeit- und Raumordnung überhaupt zum Inhalt gehört und nichts anderes als eine Ordnung oder Verknüpfung unter Inhaltsbestandteilen ist, so gewiss sind auch hier der Unterschied in der Weise des Bewusstseins und der Unterschied in der Art, wie der Inhalt im Bewusstsein sich darstellt, ein Unterschied und nicht deren zwei. §8. Gefühl und Streben. Nun gibt es aber auch Weisen der Verbindung, die nicht so äußerlich bloß als Zusammensetzungen beschreibbar sind. Und namentlich hierbei drängt die unvergleichliche, kaum überhaupt beschreibliche Sonderheit der Verbindung sich als etwas dem Bewusstsein Eigentümliches auf. Das trifft besonders zu auf jene Momente, die mit den Namen Gefühl und Streben bezeichnet werden. Diese scheinen schon gar nicht mehr durch die Besonderheit eines „Inhalts“ – indem man darunter eben nur die Bestandteile äußerer Kompositionen versteht –, sondern ausschließlich durch ein eigenes Verhalten des Ich oder Subjekts zu seinem (in jenem engeren Sinne verstandenen) Inhalt charakterisiert zu sein; durch eine eigene Art, wie dem Subjekt dabei „zumute“ ist. Allein wenn – wie natürlich – anerkannt wird, dass Gefühl und Streben nicht aufgehen in Vorstellung, als äußere Komposition von Empfindungen; wenn darin, so eng auch ihre Beziehung auf die Vorstellung und die Verbindungen und Scheidungen in dieser sein mag, doch jedenfalls ein innerlicherer Bezug unter den Elementen der Vorstellung obwaltet, den man
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seinem allgemeinsten Charakter nach etwa als „Tendieren“ beschreiben mag, ein Bezug, der vielleicht tiefer als irgend etwas anderes im Urerlebnis wurzelt, so ist dies schwer fassliche Grundmoment des Gefühls und Strebens darum doch, als mir Bewusstes, von mir Erlebtes, im „Inhalt“ des Bewusstseins, nach unserem, der allgemeinen psychologischen Terminologie übrigens nicht widerstreitenden Gebrauche dieses Terminus, mitbegriffen. Diesen weiten Sinn des Bewusstseinsinhalts aber einmal vorausgesetzt, ist es auch [51] hier in der | Tat nicht zweierlei Unterschied: die unterschiedliche Art, wie der Inhalt bewusst ist, und die unterschiedliche Art dieses Bewusstseins selbst. Zum vollen, konkreten Gehalt des Bewusstseins gehören grundwesentlich auch die Momente des Gefühls und Strebens. Sie mögen (wie gesagt) das Bewusstsein noch innerlicher und eigentlicher bezeichnen als irgendetwas anderes; dem braucht durchaus nicht widersprochen zu werden (so wenig es hier schon behauptet werden soll); aber das ändert nichts daran, dass sie, ebenso gut wie der bloße Vorstellungsinhalt, eben als Inhaltsmomente im Bewusstsein erlebt werden, nur als andere, eigen geartete Inhaltsmomente. In jenem Grundmomente des Tendierens aber (von dem sich erweisen wird, dass es auch dem, was man Gefühl nennt, als letzter Kern zugrunde liegt) ist wohl der allgemeine Grund des Tätigkeitsbewusstseins und damit auch der Meinung von der Eigenbedeutung der Bewusstseinstätigkeiten zu suchen. Bloße Vorstellung wäre passiv; die Vorstellung erscheint nur darum als eigenes Tun, nicht als etwas, das uns bloß angeschieht, weil eben das Moment der Tendenz, von dem in ihrem psychologischen Begriff zwar abstrahiert wird, doch wirklich stets mit ihr zusammengeht. Aber es ist ja jetzt nicht die Frage, ob etwas wie Tätigkeit als Inhalt von Bewusstsein (neben anderem) überhaupt vorkomme; das zu leugnen wäre wohl absurd, da die in aller Sprache so außerordentlich weitreichende, ja sozusagen in jeder Aussage liegende Voraussetzung der Tätigkeit sich doch wohl auf irgendein sehr fundamentales Moment des Bewusstseins gründen muss; sondern es war die Frage, ob das Bewusst-sein selbst (gleichviel welches Inhalts) als Tätigkeit gegeben sei, oder allein in seinem Inhalt, welcher Inhalt z.B. auch Streben oder Tätigkeit sein kann. Übrigens, wenn die Verbindung überhaupt, und andererseits die Sonderung, die mit ihr ja stets zusammengeht (denn A und B verbinden sich nur, indem sie sich gemeinsam von anderem sondern), unserer Behauptung nach der konkrete Ausdruck der Bewusstheit ist, so würde es, da eben die Verbindung, und ebenso die Sonderung, sich in nichts innerlicher als in dem Momente der Tendenz, gleichsam als Anziehung und Abstoßung, ausspricht, sich ganz wohl rechtfertigen lassen, die Bewusstheit vorzugsweise in diesem Momente konkret ausgedrückt zu finden. Daraus versteht es sich wohl, wenn Psychologen wie Wundt, Lipps und viele andere die Ichbeziehung in der Tat [52] vorzugsweise in | den Momenten des Gefühls und Strebens zu fassen suchen.
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Wie es auch mit der Richtigkeit solcher Ansetzungen stehen mag, wenigstens vom Standpunkte unserer gegenwärtigen Erwägung ließe sich dagegen kein Einwand erheben. Umgekehrt aber wäre damit auch nichts gegen unsere Behauptung gesagt. Die Momente des Gefühls und Strebens würden darum nicht weniger zum Inhalt gehören, sie müssen keineswegs darum etwas neben dem Inhalt und vor ihm bedeuten, kraft dessen der Inhalt (als ob er sonst etwa für sich zu existieren fähig wäre) erst dem Ich oder Bewusstsein sich zueigne. Auch wenn man (gegen unsere Terminologie) den Begriff „Inhalt“ auf den Vorstellungsinhalt beschränken würde, wäre die eben gekennzeichnete Auffassung darum nicht haltbarer. Denn die Momente des Gefühls und Strebens existieren nur in unlöslicher Komplexion mit der Vorstellung, und zwar, sofern sie Verbindung (und beziehungsweise Trennung) bedeutet; so wie umgekehrt diese nie ohne jene besteht. Man kann auch nicht sagen, die Momente des Gefühls und Strebens seien es, welche die Verbindung und Trennung zuwege bringen; sondern sie gehen nur zusammen mit den Verbindungen und Scheidungen in der Vorstellung, die andererseits zwar unter völliger Abstraktion von den Gefühls- und Strebensmomenten darstellbar sind. Dass insbesondere das konkrete Ich, sofern darunter z.B. mein Ich im Unterschied von jedem anderen verstanden wird, zwar nicht allein, aber doch vorzugsweise wiederum in Momenten des Gefühls und Strebens sich gründet, ist wohl unfraglich. Aber das konkrete Sonder-Ich ist selbst nichts weniger als ein einfaches Datum; es wird selbst erst konstituiert durch das Ganze des Erlebniszusammenhanges, den in dieser seiner Konstitution darzustellen erst die Aufgabe, und allem Anschein nach längst nicht die erste und nächste, vielleicht auch nicht die letzte Aufgabe der Psychologie sein wird. Darüber kann hier, in ihrem allerersten Anfang, noch nichts vorweggenommen und gar als gegeben zugrunde gelegt werden, ausgenommen wenn man unter dem Gegebenen (mit uns) das Problem versteht. Dann ist aber mit jenem Satze nicht mehr gesagt, als dass im Problem des Bewusstseins, namentlich des Sonderbewusstseins, das Problem des Gefühls und Strebens als ein vorzüglich wichtiger Problembestandteil enthalten sei. Unsere Frage aber ist hier erst nach dem Sinn des Bewusst-seins überhaupt. Diesen in der „Tätigkeit“ zu suchen mag vielleicht gerade das Moment der Tendenz, das in allem Gefühl und Streben liegt, verleitet haben; es | mag vielleicht [53] die ganze Mythologie der Bewusstseinstätigkeiten daher stammen: weil im Bewusstsein oft oder immer auch Streben liegt, erscheint es selbst als Tun und sein Subjekt als Täter. Aber gerechtfertigt, wohl gar als ursprüngliche Data des Bewusstseins, sind damit diese Auffassungen keineswegs. §9. Präsentatives und repräsentatives Bewusstsein. Noch bleibt übrig der vielleicht radikalste aller Unterschiede des Bewusstseins, der wohl am deutlichsten bezeichnet wird als der von präsentativem und repräsentativem Bewusstsein; weniger gut bezeichnet man ihn als den von Perzeption und
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Apperzeption. Für alles einfache Präsent-haben eines Inhalts wird man eher geneigt sein zuzugeben, dass das Ich sich dabei zum Inhalt wesentlich gleich, nämlich nur entgegennehmend, perzipierend, gleichsam nur als Zuschauer verhalte; nicht so bei solchem Bewusstsein, das nicht beim unmittelbar Gegenwärtigen stehen bleibt, sondern Nichtgegenwärtiges vergegenwärtigt; also namentlich nicht ans Hier und Jetzt gebunden bleibt, sondern örtlich und zeitlich Fernes, nicht als Gegenwärtiges, sondern bestimmt als Nichtgegenwärtiges dennoch, wie wenn es gegenwärtig wäre, vorstellt. „Vorstellen“ bedeutet hier etwas ganz anderes als bei der Präsentation. Bei dieser bedeutet es: gleichsam vor sich hinstellen, oder vor sich stehen haben; in solchem Sinne stellt etwas stets nur sich selbst, nie etwas anderes vor. Dagegen in der Repräsentation stellt Eines ein Anderes vor, d.h. vertritt es, tritt stellvertretend für es ein. Dabei kommt es dann anscheinend nicht aufs Gegebene allein, sondern auf unsere Auffassung an, welche in jedem solchen Fall etwas Nichtgegebenes ins Gegebene hineinlegt. Dieser Unterschied ist manchen Psychologen so radikal erschienen, dass sie sich nicht entschließen mochten, beides unter der einzigen Benennung „Bewusstseinsinhalt“ zusammenzufassen; sondern sie nennen das Präsente allein „Inhalt“, das bloß Repräsentierte „Gegenstand“. So tief aber auch dieser Unterschied sein mag, so ändert er doch daran nichts, dass beides, das Präsente und das Repräsentierte, uns Bewusstes und in diesem weiten Sinne Bewusstseinsinhalt ist. Zunächst muss in der Repräsentation jedenfalls das Repräsentierende präsent sein. Aber auch die Beziehung des Repräsentierenden (sagen wir A) auf das „Gemeinte“, d.i. Repräsentierte (sagen wir X) muss dem Bewusstsein präsent sein; denn sie ist [54] ja nicht wiederum durch etwas anderes | repräsentiert; sondern unmittelbar, als sie selbst, bewusst. Wie aber könnte die Beziehung (von A auf X) präsent sein, ohne dass auch der andere Terminus (X) auf irgendeine Weise bewusst, also dem Bewusstsein gegenwärtig wäre? Nur (so schwer das zu verstehen sein mag) nicht als Gegenwärtiges (A), sondern als Nichtgegenwärtiges, z.B. Vergangenes. Man muss doch zugeben, dass es ein Bewusstsein von Zeitfolge gibt; in diesem kann aber höchstens ein Zeitpunkt als Gegenwart, alle anderen müssen als Nichtgegenwart (Vergangenheit oder Zukunft) dennoch dem Bewusstsein in irgendeinem Sinne gegenwärtig sein, da es sonst eben nicht eine Folge verschiedener (sich ausschließender) Zeitpunkte wäre, die uns (jedes Mal „jetzt“) bewusst ist. Somit ist doch diese Folge selbst, und nicht bloß ein absolut einzelner Punkt, dem Bewusstsein in bestimmter Weise gegenwärtig, d.h. es gibt ein Gegenwärtighaben des Nichtgegenwärtigen und als Nichtgegenwärtiges. § 10. Verhältnis von Präsentation und Repräsentation. Gewiss ist nun dies etwas ganz Eigenartiges, wenn man will, Wunderbares, d.h. mit nichts andrem Vergleichliches am Bewusstsein; zugleich etwas, was sich in der Tat
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auf alles Bewusstsein erstreckt. Denn es gibt, wie schon gesagt, überhaupt kein Bewusstsein ohne Tendenz; in aller Tendenz aber liegt notwendig die Beziehung des Gegenwärtigen auf ein Nichtgegenwärtiges; man strebt nur nach dem, was man nicht hat. Ebenso gewiss liegt umgekehrt in der bewussten Beziehung auf Nichtgegenwärtiges immer etwas von Tendenz; es ist Beziehung auf ein X als zu Bestimmendes; es sollte gegenwärtig sein, die Vorstellung strebt gleichsam es in die Gegenwart (vor dem Bewusstsein) einzubeziehen; es ist, wie man richtig sagt, „intendiert“, d. h. in der Tendenz liegend. Auch im „Beziehen“ liegt der Zug, in dem die Spannung (das heißt ja eigentlich „Tendenz“, intentio), also ein Moment des Strebens sich unverkennbar ausspricht. Und darum erscheint auch die Repräsentation oder Apperzeption, weit mehr als die mindestens scheinbar passive Präsentation, als Akt, als Tat, als Handlung (bei Kant: Funktion, Spontaneität), im Unterschied von der bloßen Rezeptivität der Perzeption. Es muss indessen betont werden, dass, so tief und unverwischbar, rein begrifflich angesehen, der Unterschied von präsentativem und repräsentativem Bewusstsein ist, gleichwohl im wirklichen Leben des Bewusstseins dieser Unterschied sich durchaus fließend zeigt. Sobald | ich einen Inhalt, [55] den ich als präsent anspreche, mir zum Gegenstand mache, mich fragend und Antwort gebend, urteilend auf ihn beziehe, nehme ich offenbar meinen Standpunkt gleichsam außer ihm; er ist also nun auf einmal nicht mehr mir präsent, mein unmittelbares Erlebnis, sondern mir gegenüberstehend. Ich „beziehe“ mich auf ihn, d.h. er ist mir nur repräsentativ gegenwärtig. Ja, sobald ich an dem noch so gegenwärtig Vorgestellten, etwa am Bilde einer geometrischen Figur, die ich vor Augen habe, irgendwelche besonderen Beziehungen mir zum Bewusstsein bringe, so nehme ich meinen Standpunkt etwa in einem Punkte der Figur, und beziehe auf diesen die anderen, als außer ihm liegende, also nicht im gleichen Sinne mir präsente, obgleich doch angenommen war, dass die ganze Figur mir präsent sei. So habe ich nun um so mehr das Bewusstsein, dass ich es bin, der diese „Beziehung“ erst knüpft, indem ich in meinem Bewusstsein von einem Punkte A zu einem Punkte B usf. den Übergang vollziehe. Es handelt sich hier offenbar um jene Eigenheit des Bewusstseins, welche Kant (und nach ihm besonders Trendelenburg) durch den Begriff der Bewegung im Bewusstsein bezeichnet3 und durchaus
3 Kritik der reinen Vernunft, B 155, Anm. zu § 24. [„Bewegung eines Objekts im Raume gehört nicht in eine reine Wissenschaft, folglich auch nicht in die Geometrie; weil, daß etwas beweglich sei, nicht a priori, sondern nur durch Erfahrung erkannt werden kann. Aber Bewegung, als Beschreibung eines Raumes, ist ein reiner Aktus der sukzessiven Synthesis des Mannigfaltigen in der äußeren Anschauung überhaupt durch produktive Einbildungskraft, und gehört nicht allein zur Geometrie, sondern sogar zur Transzendentalphilosophie.“ – Anm. d. Hrsg.]
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auf die „Spontaneität“ zurückführt. Dabei verfährt das Bewusstsein mit einer schier grenzenlosen Freiheit: wie von A nach B, kann ich z.B. auch von B nach A gehen, oder von B nach C, von C nach D usf.; ich kann Ausgangspunkt, Richtung, Umfang der Beziehung fort und fort wechseln, wobei dann fort und fort, was präsent war, zum bloß Repräsentierten, was repräsentiert, wieder zum Präsenten wird, und zwar willkürlich von mir dazu gemacht wird. Wie diese Redeweise nun auch genauer zu interpretieren sein mag, insofern jedenfalls ist sie voll begründet, als ich bei allem solchen Wechsel der Beziehung, in der ich das vorliegende Bild meiner Vorstellung in Betracht nehme, die Identität dieses so mannigfach verschieden betrachteten Objekts meiner Vorstellung im Bewusstsein festhalten kann. Es soll zwar die Möglichkeit aller dieser Beziehungen, es soll diese Beziehungen selbst, genau in dem Sinne, in dem wir sagen, dass solche an sich, in der Sache bestehen, in sich enthalten; es soll vielleicht in der ganzen, obwohl unbegrenzbaren Mannigfaltigkeit dieser Beziehungen selbst nur bestehen; aber doch nur im beziehenden Bewusstsein werden diese Beziehungen realisiert; selbst der Gedanke ihres Ansichbestehens schließt im Grunde die Voraussetzung eines übergreifenden („transzendentalen“) [56] Bewusst|seins, dem sie bestehen, ein, d. h. den Gedanken, sie würden einem solchen gedachten übergeordneten Bewusstsein sich in ihrer Allheit darstellen, während sie dem unseren sich freilich nur wechselweise, eine um die andere, darstellen wollen. Es scheint also alle Beziehung als solche nur im Bewusstsein stattfinden zu können, ja sie scheint ihm so wesentlich zu sein, dass auch umgekehrt (wie schon in anderem Zusammenhange gesagt wurde) alles eigentliche Bewusstsein Beziehung – das heißt aber: nicht die Präsentation, sondern die Repräsentation das Ursprüngliche, die Präsentation nur aus dem repräsentativen Bewusstsein, als in ihm eingeschlossenes Moment, abstrahiert ist. Denn die Beziehung auf ein X setzt freilich immer ein A voraus; die Beziehung fordert einen Standpunkt, von dem aus und auf den zurück ich beziehe; der als Ausgangspunkt und sicheres Fundament der Beziehung selbst nicht bloß erzielt (neuere Psychologen sagen: „gemeint“, fast im alten Sinne, wo Meinen Lieben bedeutet), sondern „gegeben“ sei. Aber in der Tat nur als Grundlage für die Repräsentation scheint das dem Bewusstsein Präsente durch Abstraktion herauszulösen; nur für die theoretische Rekonstruktion geht es vorher, während an sich, im wirklichen Leben des Bewusstseins, vielmehr die Beziehung das Erste, Unmittelbare ist, zu welcher stets und gleich wesentlich der andere Bezugspunkt, das X, gehört. Sollte diese Auffassung zutreffend sein – und sie als zutreffend zu erweisen wird eine der Hauptaufgaben dieses Werkes sein –, so würde sich daraus ergeben, dass es nicht richtig, zum wenigsten ungenau ist, zwischen präsentativem und repräsentativem Bewusstsein zu unterscheiden. Deckt sich Bewusstsein mit Beziehung, und schließt Beziehung (als solche eines A
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zu einem X) gleich notwendig beides, Präsentation und Repräsentation (d.i. Vorstellung als A und als X) ein, so gibt es gar nicht präsentatives Bewusstsein neben repräsentativem, sondern nur präsentative neben repräsentativen Momenten in allem und jedem Bewusstsein. Meint man nun etwa unter dem „tätigen“ Bewusstsein allgemein das beziehende (Beziehung pflegt ja vorzugsweise als „Akt“ bezeichnet zu werden), so würde aus unserer Voraussetzung folgen, dass es anderes als tätiges Bewusstsein überhaupt nicht gibt. Das Ich ist, als beziehendes, immer aktiv, nie bloß passiver Zuschauer; ist doch auch das Schauen selbst ein Akt und nicht ein bloßes passives Verhalten. Reine Passi|vität wäre [57] Tod; die Lebendigkeit also, die „Tätigkeit“ des Bewusstseins in diesem genauen Sinne, wird nicht nur nicht bestritten, sondern es wird jeder letzte Rest des Gedankens eines untätigen Bewusstseins ausgeschieden. Nur wird eben damit 1. die Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Verhalten des Ich, präsentativem und repräsentativem Bewusstsein, 2. die Scheidung der Tätigkeit vom Inhalt (die ja eine Scheidung des Inhalts von der Tätigkeit zur Folge hätte) hinfällig. Zum Inhalt, wurde gesagt, gehört gleich wesentlich Form und Materie. Wie nun der Materie das präsentative Bewusstsein entspricht (das „Positive“, Sinnliche des Bewusstseins hat von jeher sein sollen das jetzt und hier Gegenwärtige, Gegebene), so der Form das repräsentative; denn Form heißt Beziehung. Oder sie besagt Verbindung, Fügung; die Verbindungen aber, die Fügungen des Bewusstseins sind eben Beziehungen; indem wir also das Bewusstsein wesentlich als Verbindung, als Einheit des Mannigfaltigen verstehen, schließen wir das Moment der Beziehung darin ein; wir setzen es, der Sache nach, als das Grundmoment des Bewusstseins. Das verbindungslose, unbezogene Mannigfaltige, die immer präsente Materie des Bewusstseins sinkt dann herab zu der Bedeutung einer bloßen, obschon notwendigen Abstraktion: Inhaltsmomente des Bewusstseins lassen sich in Betracht nehmen unter Absehung von der Verbindung, vom Bezug, und damit – vom Bewusstsein; aber sie existieren darum nicht im wirklichen Leben des Bewusstseins (d.h. sind ursprünglich und eigentlich überhaupt nicht bewusst) außer jedem Bezug, sondern nur in ihm, nämlich als Bezugsgrundlagen. Wo nichts perzipiert würde, wäre auch nichts zu apperzipieren da; aber auch keine Perzeption würde zum Bewusstsein kommen, wo nicht apperzipiert würde. Kommt sie aber nicht zum Bewusstsein, so ist sie, eben fürs Bewusstsein, so gut wie nicht da. Dass sie „im“ Bewusstsein ist, kann nur allenfalls bedeuten, dass sie apperzipiert werden kann; dies „Können“ ist aber, wie jede bloße Möglichkeit, nur Supposition der Theorie, nicht selbständiges Datum. Also ist „Perzeption“ überhaupt nicht Bewusstsein, sondern nur Bewusstseinsmöglichkeit, d.h. Supposition rekonstruierender Theorie. Es ist also auch nicht ein eigenes, unterschiedliches „Verhalten“ des Ich zu dem ihm „gegebenen“ Inhalt. Ein Verhalten des Ich könnte allenfalls nur das Apperzipieren genannt werden.
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Drittes Kapitel
Aber dann gibt es eben nur dies eine Verhalten des Ich zum Inhalt, in [58] dem alles Bewusstsein, als aktuel|les und nicht bloße Potenz, besteht. Eben
darum aber gibt es auch eigentlich einen Inhalt von Bewusstsein nur in der Apperzeption. Und so wird wiederum die Scheidung von Akt und Inhalt bedeutungslos; beides bezeichnet, allenfalls mit einer hier unwesentlichen Bedeutungsnuance, denselben Sachverhalt: das Bewusstsein als Beziehung. Dieses ist nicht zweimal da, einmal als „Form“ im Inhalt, und zweitens im Akte des Beziehens, sondern der „Akt“ des Beziehens ist ebenso identisch mit dem Bewusst-sein der Beziehung (d. h. dem Bewusstsein, dessen Inhalt die Beziehung, das Bezogensein z.B. von A auf X ist), wie der „Akt“ des Empfindens (wenn man von einem solchen überhaupt reden will) identisch ist mit dem Bewusstsein, dessen Inhalt das Empfundene (z. B. Rot oder der Ton C) ist. Dann aber ist es voll gerechtfertigt, zu sagen: nicht bloß das A und das X, sondern auch die Beziehung beider auf einander ist Inhalt, sofern uns Bewusstes; sind doch beide, das A wie das X, als A und als X, selbst nur bewusst in dieser Beziehung, die allein ihnen ihre Bedeutung (als des Bezogenen und dessen, worauf die Beziehung geht) erteilt. Bezogenes und Beziehung – so kann man es auch ausdrücken – sind in einem und demselben Inhalt, als Materie und Form desselben, aufweisbar, und nur in ihm; also, wenn man vom Akte des Beziehens spricht, so wird damit nicht eine neue Tatsache bezeichnet, sondern nur die Tatsache, dass ein Bewusstsein solches Inhalts (solcher Materie in solcher Form) stattfindet, oder dass ein solcher Inhalt eben bewusst ist; was genau das von uns Behauptete war. §11. Genauerer Sinn der „Verbindung“ im Bewusstsein. Durch die Repräsentation klärt und vertieft sich nun der Sinn der „Verbindung“ im Bewusstsein. Sie ermöglicht namentlich ein beinahe schrankenloses Hinausgehen über die Bedingtheit durch Zeit und Raum. Es gibt zeitlose Verbindung so gut wie zeitliche, raumfreie wie räumliche. Zeit wie Raum sind besondere Weisen der Verbindung im Bewusstsein, keineswegs die radikalsten; es ist so falsch, die Zeit wie den Raum zur Voraussetzung zu machen für ein Bewusst-sein überhaupt. Auch in dieser Hinsicht ist die Redeweise von Tätigkeiten, Akten als etwas Eigenem irreleitend, da die Akte sich unter dem Schema der Zeit ordnen zu müssen scheinen. Die Bedeutung der Zeitvorstellung im Bewusstsein bleibt tief und umfassend genug, auch wenn man einsieht, dass sie bis zu den allerletzten Tiefen des Bewusstseins nicht zurückreicht. [59] Radikal | darf schon hier, wenn noch so vorläufig, ausgesprochen werden: das Bewusstsein ist als eine Mannigfaltigkeit nicht bloß von einer oder einigen, sondern wahrscheinlich von unendlichen Dimensionen anzusehen. Gerade alles Unendlichkeitsbewusstsein erklärt sich (psychologisch) aus der Repräsentation nicht bloß ohne Widerspruch, sondern fast ohne Schwierigkeit.
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Es mag nun allenfalls etwas äußerlich, beinahe oberflächlich scheinen, dies alles unter den Begriff „Inhalt“ zu fassen. Aber man muss dies Wort „Inhalt“ nur selbst inhaltvoll verstehen; vertritt doch auch in der Sprache der Logik der „Inhalt“ den Innengehalt, die Konzentration im Gedachten, gerade im Unterschied von der bloß äußeren, peripherischen Umspannung, dem „Umfang“. Dementsprechend ist die „Verbindung“ von uns gemeint: nicht in der einzigen Form der äußeren Komposition, sondern vielgestaltig, auch als Verflechtung (Komplexion), auch als innere Vereinigung, Konzentration; in jedem Fall aber als Beziehung. Wir sagten dafür auch „Fügung, Einfügung“; wir können diese jetzt ohne weiteres erklären als wieder nur anderen Ausdruck für „Beziehung, Einbeziehung“. Diese möge man fortan stets unter der „Verbindung“ mitverstehen, so wird sie schon nicht zu äußerlich, an der Oberfläche bleibend erscheinen. Es gibt keine Isolierung im Bewusstsein, das sollte betont werden; es gibt Isolierung nur in der Abstraktion, und nur als Gegenseite der Verbindung; nur in der Absicht, das in der Abstraktion aus der Verbindung Herausgelöste dann in sie wieder zurückzuführen und dadurch die Verbindung selbst zur vollen Klarheit zu bringen. Es gibt Sonderung auch im Bewusstsein, aber selbst nur als eine Art der Beziehung, ja der Verbindung; denn das mit Bewusstsein Auseinandergestellte muss wiederum doch in einem Bewusstsein (insofern in Verbindung) sein. So auch, wenn man Akte des Bewusstseins, so wie Akte des Dramas, unterscheidet, muss man sich stets darüber klar sein, dass solche Scheidungen niemals endgültig sind, dass es doch immer eine in letztem Betracht unzerlegliche „Handlung“ bleibt, die nur für die Reflexion sich in eine Reihe von Akten und „Auftritten“ gliedert, ja selbst für die Reflexion sich nur auseinanderlegt, um auch für sie sich hinterher wieder zu vereinen. Für die Reflexion, daher für eine Wissenschaft vom Bewusstseinsleben, für den Logos von der Psyche, ist solche Auseinanderlegung allerdings nicht bloß notwendig, sondern das zuerst und fast allein Notwendige; denn die Synthese ergibt sich nachher so gut wie | von selbst, etwa wie aus der Analysis die Konstruktion bei [60] der Lösung geometrischer Aufgaben. Aber grade die Voraussetzung der Analyse ist, dass das Bewusstsein durchweg und nur in Verbindung besteht; zu analysieren wäre nicht, was nicht zuvor und an sich verbunden wäre. Das Bewusstsein besteht in Verbindung, seinem Inhalt nach; „Inhalt“ heißt eben: Bestand. Das dürfte durch diese Betrachtung nun zu endgültiger Klarheit gebracht sein.
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Subjektivität als Subjektivierung §1. Gefahr einer Logisierung der Psychologie. Die Erwägungen der vorigen beiden Kapitel waren erforderlich, um Klarheit zunächst darüber zu schaffen, was das Problem der Psychologie nicht sein könne. In positiver Hinsicht aber ergab sich dabei bereits soviel: Problem der Psychologie ist der gesamte „Inhalt“ des Bewusstseins, alles, was überhaupt Einem bewusst ist, sofern es dies ist. Dies und nichts mehr oder weniger; denn an der Gesamttatsache „Einem ist etwas bewusst“ ist das abstrakte Moment des „Einem-bewusst-seins“, d.h. dass überhaupt Bewusstsein stattfindet, zwar als Problemgrund unangreifbar gesichert, aber selbst nicht Problem, sondern letzte Voraussetzung. Problem ist nur das „Einem Bewusste“, welches wir in allgemeinster Bezeichnung „Inhalt“ nennen; alles am Inhalt, die „Form“ wie die „Materie“. Es ergab sich aber auch schon, dass das zuerst und unabhängig zu Bestimmende die „Form“, und erst unter ihrer Voraussetzung und im Rückblick auf sie auch die „Materie“ bestimmbar ist: eben als das darin zu Formende. Gegen diese Aufgabenbestimmung der Psychologie aber kann sich ein ernstes Bedenken regen. Es kann scheinen, als laufe damit die Psychologie immer noch die Gefahr, vor der wir sie gerade schützen wollten: ganz auf den Weg der Objektivierung zu geraten. Denn die Objektivierung jeder Art und Stufe beruht auf der Zurückbeziehung alles dessen, was am Bewusstsein Materie ist, auf die Form, nämlich die Einheit des Gesetzes, sei es Zeitgesetz des Geschehens oder überzeitliches Gesetz des Sollens, oder welche anderen Arten von Gesetzlichkeit | es noch geben mag, denn [61] darüber soll hier noch nichts endgültig bestimmt sein. Die Zurückführung auf den Gegenstand ist die Zurückführung auf das Gesetz. Und nur eine Objektivierung höherer Stufe ist es, welche die Gesetze, die Gesetzeserkenntnis irgendwelcher Art, weiterhin auf das Urgesetz der Gesetzlichkeit selbst zurückleitet, wie es, je für verschiedene Grundrichtungen objektiver Erkenntnis, die Logik (im engeren Sinne: Logik der theoretischen Erkenntnis), die Ethik, die Ästhetik, und zuletzt deren Vereinigung im Systeme der Philosophie zur Aufgabe hat. Eben in der allgemeinen Möglichkeit solcher Reduktion, in der Möglichkeit, sie auch nur sich zur Aufgabe zu stellen, erweist sich das „Bewusstsein“, und zwar in Hinsicht der Form, d.h. der Gesetzeseinheit, allbefassend; oder richtiger, erhält die These seiner unbedingten Überordnung ihren wissenschaftlich präzisen Sinn. „Bewusstsein“ ist alles, was Gegenstand der Erkenntnis ist, insbesondere sofern es nicht
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bloß unter gewisse Einheiten oder Gesetzesbeziehungen mannigfacher Art (Seins-, Sollensgesetze usw.) und etwa wiederum besondere Beziehungen solcher Beziehungen, sondern unter einen letzten Einheitsbezug sich fügt, welcher kein anderer sein kann als der der Methode, nämlich der Gesetzlichkeit überhaupt. Die ganze Erarbeitung solcher Fügungen und Fügungen von Fügungen, solcher Beziehungen und Beziehungen von Beziehungen, bis zu dem höchsten, gemeinsamen Bezug, in dem zuletzt alles mit allem muss gedacht werden können, nämlich unter dem letzten methodischen Gesichtspunkte der Gesetzlichkeit (das heißt ja: der Bezüglichkeit) überhaupt – das und nichts anderes ist aber die Aufgabe und ist überhaupt der alleinige Sinn der objektivierenden Erkenntnis jeder Art, bis hinauf zur obersten, selbst streng objektiven Erkenntnis der schließlich einheitlichen Gesetzgebung aller objektivierenden Erkenntnis, welche etwa „Logik“, im umfassendsten Sinne, oder, nach, Kant, Transzendentalphilosophie heißen würde. Dächte man sich diese Leistung der objektivierenden Erkenntnis vollbracht: wäre nicht damit eben die Forderung erfüllt, den Gesamtgehalt des Bewusstseins, in dem Sinne, in welchem dies überhaupt eine verständliche Aufgabe ist, zur wissenschaftlichen Darstellung zu bringen? Wäre dies so, so würde Psychologie überhaupt nichts Eigenes mehr gegenüber dem Ganzen der objektivierenden Erkenntnis sein, sie könnte allenfalls nur eine letzte [62] Zusammenfassung ihrer gesamten | Leistung bedeuten. Das Ergebnis wäre eine reine Logisierung der Psychologie allenfalls in einer neuen, vielleicht der höchsten möglichen Form. Die Transzendentalphilosophie wäre dann nicht mehr in Gefahr, in Psychologie, aber desto mehr die Psychologie, in Transzendentalphilosophie gänzlich aufzugehen und zu verschwinden. §2. Die Aufgabe einer radikalen Begründung des Verhältnisses des Subjektiven und Objektiven. In der Tat gibt es keine Frage des Bewusstseins, deren Beantwortung nicht wenigstens ihre letzte Grundlage in der Transzendentalphilosophie zu suchen hätte. Aber darum verschwindet dennoch nicht notwendig das Problem der Subjektivität ganz in das der Objektivität. Zwar bliebe wirklich für das erstere kein Raum, wenn jemals das Werk der Erkenntnis abgeschlossen sein könnte. Denn damit würde das Gegenverhältnis des Subjektiven und Objektiven sich gänzlich aufheben. Da indessen die Aufgabe der Objektivierung des Subjektiven eine unendliche ist, also auf keiner erreichten oder je erreichbaren Stufe gelöst gedacht werden darf, so verschwindet ebenso wenig die Subjektivität in die Objektivität wie diese in jene, sondern auf jeder Stufe der Erkenntnis besteht das Gegenverhältnis des Subjektiven und Objektiven. Was aber ist die präzise Bedeutung dieses bleibenden Gegenverhältnisses, welcher positive Sinn also verbleibt immer der Subjektivität, auch gegenüber der noch so weit getriebenen Objektivierung des Subjektiven?
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Die wenigsten scheinen hierin überhaupt ein Problem zu sehen. Der Unterschied, meint man, sei doch mit Händen zu greifen, überhaupt nicht zu verfehlen. Vor allem: die Objektivität ist eine und identisch, der möglichen und wirklichen subjektiven Darstellungen des Objekts sind unabsehbar viele und verschiedene, so viele nicht bloß als Subjekte sind, denen das Objekt sich darstellt, sondern als Momente und Stufen solcher Darstellung gedacht werden können; so verschiedene, als die ja nicht bloß von Subjekt zu Subjekt, sondern auch für ein und dasselbe Subjekt sozusagen von Moment zu Moment sich ändernden Bedingungen dieser subjektiven Darstellung verschieden sind. In dieser Gegenstellung denkt schon Protagoras die Subjektivität gegenüber der Objektivität; oder wenigstens gibt Plato in seiner Darstellung der Lehre des Sophisten diese sichere und deutliche Zuspitzung. Und die gleiche allgemeine Unterscheidung kehrt dann mit geringen Abweichungen durch die Jahrhunderte der Geschichte der Philosophie wieder | bis zu den Neuesten herab. Ich selbst hatte dieser jedenfalls [63] nächstliegenden Auffassung in meiner Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode soweit nachgegeben, dass ich als Problem der Psychologie aufstellte: die Darstellung des Bewusstseinsinhalts im „jedesmaligen“ Bewusstsein, d.h. für das jedesmalige Subjekt im jedes Mal in Betracht gezogenen Erlebnisakt1. Indessen findet man bei näherer Prüfung bald, dass diese Unterscheidung des Subjektiven vom Objektiven, wenn sonst richtig, doch keinesfalls hinreichend radikal ist. Denn es werden dabei erstens die Subjekte, je nach der jedem eigenen Begrenzung des Gesamtinhalts seines Bewusstseins, zweitens die zeitliche Auseinanderlegung des gesamten Bewusstseinsverlaufs des gegebenen Subjekts in eine Folge von Akten oder Auftritten von Bewusst-sein, als selbstverständlich vorausgesetzt, als „gegeben“ angenommen, während es (wie an einer Stelle meiner Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode übrigens klar gesagt war2) sicher erst zur Aufgabe der Psychologie gehört, die Abgrenzung eines Sonder-Ich durch den Sonderzusammenhang seiner Erlebnisse, und dann die zeitliche Disposition der Erlebnisse jedes Subjekts, aus den Elementen und Verbindungsformen des Psychischen überhaupt theoretisch darzustellen und zu begründen. Ohne solche, selbst schon zur Aufgabe der Psychologie gehörige Begründung könnte beides offenbar nur aus dem objektiven Zusammenhange herübergenommen werden; es wäre für das Erste das biologische Individuum, für
1 Vgl. Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, S. 43–51 (§8. „Das Verfahren der Psychologie verschieden von allem Verfahren objectivirender Wissenschaft“). – Anm. d. Hrsg. 2 Es ist nicht ersichtlich, auf welche Passage der Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode Natorp sich hier bezieht. Vgl. etwa S. 43–51. – Anm. d. Hrsg.
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das Zweite der Verlauf der Lebensprozesse eines solchen, so wie er in objektiver Erkenntnis sich ergibt, zugrunde zu legen, d.h. die Betrachtung verbliebe wenigstens halb im Problemzusammenhange der objektivierenden Erkenntnis: der Naturwissenschaft und zwar der Biologie, indem nur an einer bestimmten Stelle des (als Ganzes schon vorausgesetzten) objektiven Zusammenhanges, dennoch als ein gänzlich Neues, Heterogenes, das jedesmalige Bewusstsein des jedesmaligen Subjekts aufträte. Es mag nun eine solche Eingliederung der Subjektivität in den Zusammenhang der Objektivität an ihrer Stelle auch begründet und notwendig sein; aber sie ist jedenfalls ungeeignet, das Verhältnis des Subjektiven und Objektiven aus seinem Ursprung verständlich zu machen; sondern genau diese prinzipiell nicht einheitliche Betrachtungsart ist es, welche die Existenz des Psychischen von je zu einem hoffnungslosen Rätsel zu machen schien. Schon bei Protagoras (immer nach Platos Darstellung im Theaitetos) ist es auffallend, wie ganz in objektivem Zusammenhange die Subjektivität, als dennoch [64] radikal | Neues, eingeführt und begründet werden soll; aus einem ganz objektiv beschriebenen und offenbar auch so gemeinten Wechselverhältnis zweier objektiver Potenzen, einer aktiven und einer passiven, soll die Subjektivität des (jeweiligen) Bewusstseins, unter dem Namen der Empfindung, des Verspürens (α»σqησισ), entspringen, während doch die ganze Bedeutung der großen Wendung, die Protagoras der Philosophie geben wollte, darin beschlossen lag, dass das Subjektive überhaupt vorhergehe und zugrunde liege dem Objektiven überhaupt3. Nicht anders ist es bei den Kyrenaikern, und nicht anders bei den Neueren, wie es scheint, ohne Ausnahme. Man entgeht der Schwierigkeit auch dann nicht, wenn man unter dem „jeweiligen“ Bewusstsein nicht den nach Individuum und Zeitpunkt begrenzten, sondern den überhaupt irgendwie, nämlich je für eine bestimmte, besondere Problemstellung abgegrenzten Bewusstseinsbereich versteht. Damit wird das Psychische nur noch sichtbarer unter allgemein gesetzliche, also objektive Erwägung gestellt. Fragt man z.B., statt nach der Lichtempfindung des und des empfindenden Individuums zu der und der gegebenen Zeit unter den und den individuell so und so bestimmten Umständen, allgemein nach der Empfindung etwa eines bestimmten Rot, oder nach der Lichtempfindung, sofern sie allgemein, also gesetzlich, bedingend ist für eine solche und solche Raumauffassung etc., so ist klar, dass die Problemabgrenzung durchaus nach Gesichtspunkten objektivierender Erkenntnis (in diesem Fall der physikalischen und physiologischen Optik) geschieht. Solche Problemabgrenzungen sind nun wiederum ohne allen Zweifel an ihrer Stelle notwendig und begründet; aber es kann noch weniger auf diesem als auf dem vorher 3 Anspielung auf Protagoras’ homo mensura-Satz, s.o., Anm. 8, S. 12. – Anm. d. Hrsg.
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von uns in Erwägung gezogenen Wege die fundamentale Beziehung sich zu erkennen geben zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven überhaupt, und also zwischen Psychologie und objektivierender Wissenschaft. Auch so tritt immer noch an irgendeiner Stelle mitten im Zusammenhange objektivierender Erkenntnis – man versteht nicht, warum und woher, und weshalb gerade hier – die Subjektivität als ein absolut neues Moment ein, das in dieser seiner Neuheit aus dem Zusammenhange der Objektivierung doch offenbar herausfällt, in ihm wie ein Fremdling erscheinen muss. Das Psychische erscheint dann einerseits ins Physische gänzlich aufgesogen, da es sich ganz seinen Gesetzen (des Orts- und Zeitbezugs, der substantiellen, | der [65] kausalen Begründung usf.) fügen soll; andererseits aber, da ihm nun doch seine Eigenheit nicht abgestritten werden kann, so setzt es sich gegen diesen Zwang der Verobjektivierung, der es in seinem Wesen angreift, gleichsam zur Wehre, und versucht nun, um über diesen Zwang Herr zu werden, vielmehr umgekehrt das Physische, allgemein das Objektive, sich zu unterwerfen. Dies unklare Ineinander zweier völlig heterogener Seinsweisen befriedigt nach keiner Seite und beschwört mit Notwendigkeit alle jene Konflikte und Verwickelungen herauf, welche die Frage des Verhältnisses des Psychischen zum Physischen, des Subjektiven zum Objektiven überhaupt, schon seit so langer Zeit zum beliebtesten Tummelplatz metaphysischer Grübeleien und endloser Dispute gemacht hat. §3. Die Aufhebung des starren Gegensatzes des Objektiven und Subjektiven. Um zu der somit geforderten radikalen Lösung der Frage zu gelangen, ist es der sicherste Weg, dass man die Frage zunächst umkehrt. War gefragt, was das Subjektive als Gegensatz oder Gegenseite des Objektiven bedeute, so muss ja dies klar werden, wenn es gelingt, zuerst darüber Klarheit zu erreichen, wieso denn dem Subjektiven ein Objektives gegenübertritt. Das Subjektive ist, unter psychologischem Aspekt, ja vielmehr das Erste; das Subjekt ist es, welches das Objekt sich gegenüberstellt; aus dem Subjektiven wächst das Objektive erst hervor, um dann freilich, wie ein ungeratenes Kind, sich als „Gegenstand“ ihm gegenüber, ja feindlich, Vernichtung drohend, ihm entgegenzustellen. In dieser Gegenstellung liegt aber doch eine starke Paradoxie. Es scheint, als müsse das Subjekt, indem es das Objekt sich gegenüber und gleichsam aus sich heraus stellt, gewissermaßen aus sich selbst heraustreten; wie Lipps einmal sagt: über den eigenen Schatten springen. Wäre das Objekt nicht außer dem Subjekt, wie wäre es denn Objekt, d.h. ihm gegenüberstehend? Doch aber, wie wüsste das Subjekt es draußen, sich gegenüber, wenn es nicht dies Draußen, dies Gegenüber in seinem Bewusstsein irgendwie hätte, also mit seinem Bewusstsein es doch irgendwie erreichte? Dann aber scheint es wiederum nicht draußen, sondern in seinem Bereich, allenfalls an seinen Grenzen liegen zu müssen.
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Sicher ist nun die Vorstellung des Draußenseins des Objekts sachlich wohlbegründet. Denn das Objekt wird seinem Begriff zufolge gedacht [66] als unabhängig vom Subjekt und seiner jeweiligen, eben sub|jektiven Auffassung, „an sich“ bestehend. Es muss vom Subjektiven verschieden, kann nicht mit ihm identisch sein, wenn doch für alle grenzenlos verschiedenen Subjekte und subjektiven „Auffassungen“ das Objekt eines und dasselbe sein soll. Und doch gilt ebenso sicher die andere Erwägung: ich mag noch so sehr meiner subjektiven Vorstellung (A) das von ihr verschiedene, gleichwohl von ihr „gemeinte“ Objekt (X) als ein anderes gegenüber und entgegenstellen; dennoch muss ich dies Gegenüber und Entgegen, muss ich diesen Bezug des A auf das X, den ich mit „Meinen“ bezeichne, in meinem Bewusstsein setzen, und in der Setzung dieses Bezugs muss auch der andere Terminus (X) – nur eben als X, nicht als A – von mir gesetzt, also doch mir bewusst sein. Beide Termini müssen für diese meine Auffassung (des A als bezogen auf X) gleichsam in einer Ebene liegen. Wenn vollends das X durch das A bestimmt werden soll – und nur aus dem, was ich habe, aus dem mir „Gegebenen“ kann ich es überhaupt bestimmen; eher habe ich das Objektive selbst nicht, als ich es nicht irgendwie aus Gegebenem bestimmt habe –, so muss es ja damit in mein Bewusstsein ebenso einbezogen werden können, wie das A, der Voraussetzung nach, ihm zugehört. Würde es aber auch niemals darin einbezogen, oder wenigstens nie schlechthin, so soll es jedenfalls darin einbezogen werden, so besteht jedenfalls die Intention dieser Einbeziehung, da ja gefordert wird, dass das X durch das A (und beziehungsweise B, C, allgemein durch schon Gegebenes, Bekanntes) bestimmt werde; in dieser Forderung aber, in dieser Tendenz der Einbeziehung liegt auch immer schon ihre gedankliche Vorwegnahme, d.h. die Einbeziehung wird im Gedanken vollzogen, wenngleich nicht sofort auch mit dem Anspruch gültiger Erkenntnis. So strebt also das Bewusstsein in aller aufs Objekt gerichteten Erkenntnis über sich selbst hinauszuwachsen; es wächst, indem die Erkenntnis fortschreitet, wirklich über sich selbst hinaus, d.h. der Bewusstseinsbereich dehnt sich weiter und weiter, befasst auf jeder folgenden Stufe, was auf einer vorigen nicht in ihm befasst war. Damit erklärt sich jenes sonst unmögliche und widersinnige „Springen über den eigenen Schatten“ freilich einfach genug: der Schatten springt mit, d.h. die Problemstellung schiebt sich weiter und weiter; was auf einer Stufe Problem, wörtlich Vorwurf, nämlich Vorwegnahme der Einbeziehung war, ist auf der nächsten nicht mehr Problem, indem die Einbeziehung nunmehr vollbracht ist. Es ist ein [67] Hinwegschreiten | über sich selbst in keinem bedenklicheren Sinne, als in dem wir sagen, es habe einer sich selbst übertroffen, nämlich durch eine neue Leistung seine früheren überboten.
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§4. Relativierung der Begriffe des Subjektiven und Objektiven. So wird aber das Problem der Objektivierung identisch mit dem der sich beständig erweiternden Subjektivität. Bewusstsein, subjektiv in dem Sinne: für ein Subjekt überhaupt bestehend ist eben alles, das „objektiv“ wie das „subjektiv“ Genannte. Objekt im Sinne des Gegenüberstehenden aber ist für die je erreichte Stufe, was in den Bewusstseinsbereich erst einbezogen werden soll, einbezogen zu werden im Begriff steht, gegenüber dem, was darin bereits einbezogen ist. Das Objekt ist wörtlich der Gegenwurf, in der Tat vielmehr der Vorwurf, das Problem: die Vorausnahme der Einbeziehung, die auf einer folgenden Stufe dann wirklich vollzogen wird; objektiv ist – so angesehen – die allemal erst zu erreichende höhere Stufe, im Vergleich zu jeder niederen, subjektiv die allemal niedere Stufe des dennoch immer aufs Objekt gerichteten Bewusstseins, im Vergleich zur höheren. Zum Beispiel, wenn ich eine bestimmte Farbe (Rot, Grün) sehe, so ist für eine naive Erkenntnisstufe das Rot, das Grün schon das Objekt, das heißt, man glaubt, ohne Prüfung, darin ein Eines, Identisches zu erfassen, welches nicht bloß für den jedes Mal Wahrnehmenden und seine gegenwärtige Wahrnehmung, sondern an sich dies Selbige (d.h. Objekt) sei; auf einer höheren Stufe der Objektserkenntnis erkläre ich es für bloß subjektiv, das heißt, ich erkenne, dass es so, als dies Eine, Identische, für das ich es ansprach, allenfalls nur für meine gegenwärtige oder eine ihr genau gleiche, aber ungenaue, mindestens unfertige, nicht gehörig bestimmte Wahrnehmung oder vielmehr Auffassung bestand, dass dagegen wirklich in diesen Qualitätsausdrücken (Rot, Grün) eine strenge, haltbare Einheit und Identität, also ein „Objekt“ im strengen Sinne, nicht erreicht war und überhaupt nicht gesucht werden durfte; während eine haltbarere, mithin wenigstens vergleichsweise objektive Bestimmung etwa in der physikalischen Auffassung des gleichen Objekts, z.B. als eine bestimmte Geschwindigkeit von Lichtschwingungen, erreicht wird. Nun mag für eine wiederum vertiefte Erkenntnis auch dieser Ansatz sich als ungenau, mindestens unfertig, abschlusslos herausstellen; so wird damit wiederum eine vergleichsweise objektive Bestimmung gefordert, gegenüber welcher die vorher für objektiv genom|mene nun wiederum eine (vergleichungsweise) subjektive Ansicht [68] darstellt. Da aber jede erreichbare „objektive“ Bestimmung immer nur bedingterweise diese Geltung des Objektiven wird beanspruchen können, so wird verständlich, wie jede überhaupt erreichbare Objektsbestimmung ohne Ausnahme, im Vergleich zu der allemal höheren, mag diese nun wirklich erreicht sein oder nur Aufgabe, wiederum als „subjektiv“ angesehen werden kann und muss. Umgekehrt, da es keine noch so niedere Bewusstseinsstufe gibt, die nicht eine Vereinheitlichung in irgendeinem, wenn noch so engen Bereich darstellte, so kann auch wiederum kein Bewusstsein in einem absoluten und ausschließenden Sinne subjektiv genannt werden, sondern
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jedes stellt schon eine Objektivierung irgendeiner, sei es auch niederster Stufe dar. Sehr leicht sind ja in allem, was nur ein Subjektives genannt werden mag, die allgemeinen Funktionen der Objektivierung, etwa Kants Quantitäts-, Qualitäts-, Relations- und Modalitätsbestimmungen, in jedem Fall aber die Grundfunktion der Vereinheitlichung, der Identifikation überhaupt zu erkennen. Nur die äußerste, ideale d.h. nie erreichte Grenze wäre, nach der einen Seite, diejenige Objektivität, welche auch den letzten Rest von Subjektivität ausgestoßen hätte, nach der anderen diejenige Subjektivität, welche keinen Grad von Objektivität mehr einschlösse. Ein solcher Nullgrad der Objektivität wie der Subjektivität kann aber nie verwirklicht sein, sondern beide bezeichnen, wie die absolute Null und das absolute Unendlich in der Zahl, nur eben die idealen Grenzen, zwischen denen der ganze Prozess der Erkenntnis verläuft; welcher Prozess nun, je nach der Richtung, in der man sich den Weg beschrieben denkt, als unendlicher Prozess der Objektivierung oder aber der Subjektivierung verstanden werden kann. Und zwar kann man sagen, es bezeichne die Richtung der Objektivierung, d.h. der zentralen Vereinheitlichung, die Plusrichtung des Erkenntnisweges (denn Erkenntnis als solche zielt auf Einheit des Bewusstseins), die auf das zentral zu vereinigende, selbst also vergleichungsweise peripherische Mannigfaltige, Unbestimmte, aber zu Bestimmende die Minusrichtung. Aber wiederum kann es endgültig nicht bloß die Minusseite der Objektivierung sein, welche die Subjektivität definiert. Denn Bewusstsein (wie schon gesagt) ist alles, die Form wie die Materie, die Materie in Form, die Form in Materie, Bewusstsein also auch die objektive Erkenntnis, gerade als solche; wenn aber Bewusstsein, [69] dann auch Subjektives, ebenso gut wie | Objektives. Und die vollendete Objektivierung würde zugleich die vollendete Subjektivierung bedeuten, während jeder nur bedingten Objektivierung auch eine nur bedingte Subjektivierung entsprechen wird. Insofern gehen beide durchaus zusammen und keine schlechthin der andern vorher. Aber doch bleibt dabei immer der Unterschied der Betrachtungsrichtung: objektiv ist das Bewusstsein (jeder Art und Stufe), sofern Gesetzesbewusstsein (also sofern in Form dargestellt), subjektiv, sofern lebendige, konkrete Erfüllung (also sofern auch material bestimmt, nicht abstrakte Form). So erscheint allerdings die allemal niedere Stufe der Objektserkenntnis, im Vergleich zur höheren, in einem besonderen Sinne subjektiv; und diese Subjektivität ist in der Tat nur die negative Kehrseite der Objektivität; das letzte Subjektive läge dann diesseits aller Objektserkenntnis, ihr voraus. Dagegen, sofern das Subjektive das konkret Erfüllte, diese Konkretheit aber für die Erkenntnis gerade bedingt ist durch die vollste, bis aufs letzte durchgeführte Objektivierung, wird die Objektserkenntnis vielmehr zum bloßen Mittel für die Erkenntnis des Subjektiven, und liegt das letzte Subjektive vielmehr erst jenseits und gleichsam oberhalb der Objektserkenntnis.
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§5. Korrelativität der Prozesse der Objektivierung und der Subjektivierung. Nach beiden Auffassungen (die allenfalls im Ausdruck, aber nicht in der Sache sich widersprechen) ergibt sich aber, dass die Darstellung der Subjektivität doch immer eine eigene Aufgabe für die Erkenntnis bleibt. Nämlich indem die Erkenntnis zunächst einzig ihre ursprüngliche Richtung, auf den Gegenstand hin, verfolgt, so muss die allemal niedere Stufe zunächst verlassen, weil doch eben überschritten werden. Das Subjektive (in diesem Sinne), einmal als solches erkannt, interessiert nicht weiter die aufs Objekt gerichtete Erkenntnis; es wird, nachdem es zum Ausgang für die vergleichungsweise objektive Erkenntnis einmal gedient hat, aufseite gestellt; es hat seinen Dienst getan. Darum aber eben bleibt stets der Rückgang zu ihm möglich und gefordert; es kann jederzeit die Frage erhoben werden und ist zu erheben nach dem Subjektiven, von dem aus, ja aus dem dies Objektive erkannt wurde. Diese Frage mag zunächst erhoben werden im eigenen Interesse der objektiven Erkenntnis; sei es im Falle des Zweifels, wo dann der Rückgang auf den sicheren Ausgangspunkt zur Nachprüfung und, wenn | ein Fehler sich [70] entdeckt, zur Berichtigung dient; oder zur Orientierung über die Richtung des weiter zu verfolgenden Weges und das dabei zu beobachtende Verfahren. Aber zuletzt ist nicht entscheidend, in welcher Absicht der Rückgang geschieht, sondern dass er jederzeit möglich und an sich eine Aufgabe ist. Auch bietet er, ganz für sich betrachtet, ein Interesse für die Erkenntnis; denn die im Fortgange der Objektivierung überschrittenen Stufen sind darum nicht dem Bewusstsein überhaupt verloren; „gelten“ sie nicht mehr, für den Standpunkt und das Interesse der objektivierenden Erkenntnis, so „sind“ sie darum nicht weniger; „Bewusstsein“ im umfassenden Sinne, das Universum des Bewusstseins umschließt die niederen Stufen nicht minder als die höheren. Alles aber, was ist, stellt auch der Erkenntnis eine Aufgabe. Aber der ganze gewichtige Sinn dieser Aufgabe wird erst damit klar, dass jene erste, unvollkommenere Auffassung der Subjektivität als der bloß niederen Stufe der Erkenntnis überwunden und der Vollsinn des Subjektiven erkannt wird in der konkreten Totalität des Erlebten. Diese ist nur als Aufgabe das voraus, aller objektivierenden Erkenntnis schon zugrunde Liegende; der Erkenntnis nach vielmehr das Letzte und Höchste. Alle Objektivierung wird so für die Erkenntnis des Subjektiven, seinem Vollsinn nach, wie gesagt, zum bloßen Mittel. Umso mehr besteht auf jeder, auch der höchsten Stufe der Objektivierung auch die Aufgabe der Subjektivierung. Bildlich mag man es sich so verdeutlichen: der Drang der objektivierenden Erkenntnis geht einseitig auf Erweiterung der Grenzen des Bewusstseinsreiches, gleichsam auf neue Eroberungen, auf Einverleibung neuer Provinzen; gegenüber diesem nach „außen“ gerichteten Drang aber (denn das „Objekt“ scheint, aus dem schon erklärten Grund, stets draußen zu sein) besteht
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andererseits eine Tendenz gleichsam nach innen, auf volle Aneignung und Inbesitznahme des ganzen schon eroberten Reiches, auf volle Herrschaft eben des Bewusstseins im Innern desselben. Das in der Tat ist allein der begründete Sinn des Innen und Außen; es kann sich dabei nur handeln um die Innen- und Außenrichtung schließlich desselben einzigen Prozesses der Entwicklung des Bewusstseins. Daher ist nicht zu reden von innerem und äußerem Sinn, innerer und äußerer Wahrnehmung, als ob es sich um zwei nebeneinander liegende Bereiche von Objekten handelte; sondern man hat [71] sich das Verhältnis etwa so zu denken, wie (nach einem schon einmal von | uns gebrauchten Vergleich) bei einem sich ins Unendliche ausdehnenden Kreise stets Innen- und Außenrichtung (zum Zentrum und zur Peripherie) sich unterscheiden lässt. Auch auf diese Weise bleibt der Gegensatz so streng und total wie der von Plus und Minus; aber es ist nur der Gegensatz der Plusund Minusrichtung eines und desselben Prozesses der Erkenntnis; nicht ist es ein Sich-gegenüberstehen wie zweier feindlichen Mächte, etwa zweier Heere im Krieg, von denen jedes bemüht ist dem andern Terrain abzugewinnen und auf seine Kosten vorzudringen. Das Verhältnis des Gegensatzes wird zu dem der Gegenseitigkeit, die zugleich notwendige Korrelation bedeutet. In dieser Korrelation aber bedeutet nun die Minusrichtung nicht mehr Minderung, Rückgang wohl gar bis zur Nullität des Bewusstseins; sondern es entspricht der peripherischen Erweiterung vielmehr die zentrale Vertiefung, die allerdings Zurückbeziehung auf den Ursprung ist, in der aber von dem in der objektivierenden Richtung des Erkennens Gewonnenen durchaus nichts wieder verloren geht, vielmehr auch, was verloren schien, was als „Subjektives“ im schlechten Sinn aufseite gestellt wurde, wiederaufgenommen und in seine vollen Rechte wieder eingesetzt, alles neu Gewonnene aber zugleich bewahrt und mit jenem in Verbindung gesetzt, der Gesamtgehalt des Bewusstseins also nicht verkürzt, sondern vermehrt, bereichert, intensiv erhöht wird. Entscheidend aber ist, dass so das anfangs starr scheinende Gegenüber des Objektiven und Subjektiven sich völlig auflöst in den lebendigen Prozess der Objektivierung einerseits, der Subjektivierung andererseits, in welchem es weder ein Objektives noch ein Subjektives schlechtweg, sondern immer nur ein vergleichsweise Objektives und Subjektives gibt, nach einem Stufengange, der mit gleichem Recht als Stufengang der Objektivierung wie, in der Umkehrung, der Subjektivierung bezeichnet werden kann; ein Stufengang, für den es weder nach oben noch nach unten eine Grenze gibt, ausgenommen die ideelle in der bloßen Fiktion der absoluten Objektivität und der absoluten Subjektivität. Mit einem Wort: der Unterschied des Objektiven und Subjektiven relativiert sich, er wandelt sich in den bloßen Richtungsgegensatz des dennoch einheitlichen, ja einzigen Prozesses, welchen wir soeben den der „Entwicklung“ des Bewusstseins nannten.
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Die so gewonnene allgemeine Ansicht des Verhältnisses des Objektiven und Subjektiven wird indessen manchem zunächst so fremd er|scheinen, [72] dass es nötig ist, sie in noch helleres Licht zu rücken, indem wir sie nach besonderen Seiten durchführen durch die wiederholt schon verwendeten Gegensatzpaare: A. B. C. D.
Form und Materie, oder Beziehung und Bezogenes; Bestimmung und Unbestimmtes, erst zu Bestimmendes; Repräsentation und Präsentes; Seiendes und Erscheinendes.
A. Form und Materie §6. Relativität des Gegensatzes von Gesetz und Einzelnem. Die „Form“ bezeichnet das Bewusstsein nach der Seite der Vereinheitlichung, die „Materie“ nach der Seite des in Einheit darzustellenden, in sich einheitslosen „Mannigfaltigen = X“; oder jene im Sinne der Beziehung, diese im Sinne des Bezogenen. Die „Einheit des Mannigfaltigen“ aber oder die Beziehung als solche stellt sich dar im Gesetz; und im Gesetz gründet sich der Gegenstand; das Erscheinende wird erkannt als Erscheinung des Gegenstandes, indem es erkannt wird als bestimmt durch das Gesetz, oder durch eine allgemein obwaltende Beziehung. So wird die Objektivierung des Subjektiven identisch mit der Vereinheitlichung des Mannigfaltigen oder der Beziehung des Beziehbaren, also der Formung der Materie. Zwar, da es doch immer Einheit des Bewusstseins ist, in der das Mannigfaltige des Bewusstseins dargestellt wird, so tritt die Objektivierung aus dem Bereiche des Bewusstseins überhaupt niemals heraus. Aber sie bezeichnet am Bewusstsein eben die Richtung der Vereinheitlichung, nicht (in gleicher Weise und im gleichen Sinne) die der Vermannigfaltigung. Sondern das Mannigfaltige, Beziehbare, die „Materie“ des Bewusstseins tritt zunächst in den Hintergrund zurück. Das ist ja oft betont worden, zunächst und besonders als unterscheidender Charakter des Naturerkennens: dass darin alles Einzelne auf das Allgemeine des Gesetzes bezogen werde; nicht mehr als Einzelnes, sondern nur als Fall des Gesetzes, mithin als Stoff, an dem die Form (des Gesetzes) sich allein darstelle, in Frage komme. Zwar scheint es auf den ersten Blick sich anders zu verhalten mit der ethischen, mit der ästhetischen Erkenntnis, an denen in der Tat die Subjektivität, also die psychologische Erwägung, starken Anteil hat. Aber doch sucht auch sie das Gesetz, auch wenn sie, wie dies am ersichtlichsten von der ästhetischen | [73] Erkenntnis gilt, es nur am Einzelnen und für dieses sucht. Und genau nur soweit, als sie das Gesetz erreicht, erreicht sie die jedenfalls auch von ihr angestrebte objektive Gültigkeit.
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Somit aber bleibt die objektivierende Erkenntnis jeder Art und Richtung, auch in ihrer höchsten Entfaltung, immer in einer gewaltigen Einseitigkeit befangen, welche vielleicht die Sicherheit ihres Fortganges und gerade auch ihre Ausbreitung über alle Gebiete des Bewusstseins entscheidend bedingt. An sich aber ist das Mannigfaltige doch eben auch im Bewusstsein, und ist seine Erkenntnis wahrlich nicht weniger gefordert als die der Gesetzeseinheit, der es sich freilich stets zu fügen hat und schließlich auch immer fügt. Ja es wird zuletzt jene einseitige Richtung auf Gesetzeseinheit nur verständlich als Mittel, um das Einzelne, und soweit möglich alles Einzelne, zur Erkenntnis zu bringen. Mag für die Gesetzeserkenntnis das Einzelne bloßes Mittel sein, für die Erkenntnis des Einzelnen ist es umgekehrt das Gesetz. Oder in der anderen Wendung des Ausdrucks: Form ist Beziehung, Einheit eben der Beziehung. Diese gerade ermöglicht und ist bestimmt zu ermöglichen die Unterwerfung auch des ganzen materialen Gehalts des Bewusstseins (des Beziehbaren) unter die Herrschaft der Erkenntnis. Das Gesetz in der Erkenntnis hat somit eine Funktion analog der des Gesetzes der Gemeinschaft: indem es die Leistung der unter dem Gesetz verbundenen Glieder einem gemeinsamen Plane des Zusammenwirkens unterwirft, will es gerade jedem Einzelnen sein Eigenrecht sichern; sein Recht, wie freilich auch seine Pflicht. Es will also das Einzelne nicht vernichten, nicht es dem Allgemeinen opfern, sondern in ihm es gerade retten, erhalten. So sprachen die Alten von einem „Retten“ der Phänomene4 gerade durch den Einheitsbezug des Gesetzes; womit gemeint ist, dass der Einzelfall in seinem Wahrheitsbestand gerade festgestellt und überhaupt erst gesichert werde, indem er unter dem Gesetz als notwendig erkannt wird; z.B. die bestimmte gegenseitige Stellung der Gestirne im gegebenen Augenblick durch die Erkenntnis, wie aus dem Gesetz, nach welchem allgemein die gegenseitige Lage der Gestirne von Moment zu Moment sich bestimmt, für den gedachten Zeitpunkt eben diese Stellung als notwendig resultiert; so wie Kepler vortrefflich sagt, dass das Gesetz die Erscheinungen „rette und [74] zum Ergebnis habe“ (salvat et efficit)5. |
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Anspielung auf die von Platon Simplicius zugeschriebene Sentenz σíâζειν τ φαινʵενα. – Anm. d. Hrsg. 5 Vgl. Johannes Kepler, Epitomes Astronomiae Copernicae, Lieber Primus, De Hypothesibus: „Ubi ut quisque pollet ingenio, ita plurimas apparentiarum diversitates salvat et efficit per unam aliquam sibique perpetuo simile motuum formam aut figuram corporum, demonstrationis suae methodum omnem accomodans legibus et theorematibus qua geometricis qua opticis, quae geometriae subordinata est, fitque ut ad ipsam rerum naturam, excogitandis hujusmodi formis motuum, alius alio propius perveniat.“ Übers.: „So wie jeder es seiner Intelligenz nach kann, bewahrt er die meisten Verschiedenheiten der Erscheinungen und bewirkt durch irgendeine einzige
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§ 7. Durchführung nach den kategorialen Grundbestimmungen. Unschwer lässt diese allgemeine Bedeutung des Gesetzes sich bestätigen in allen Sonderrichtungen der Objektserkenntnis, wie sie, zunächst für die bloß theoretische Erkenntnis, etwa in Kants Kategorien auseinandergelegt sind. Nach Seite der Quantität stellt der Fortgang in der Richtung vom Einzelnen zum Allgemeinen sich dar als schrittmäßige Erweiterung des Erkenntnisbereichs; aber die Erkenntnis des Allgemeinen bietet wiederum die Grundlage für eine weiter und weiter gehende Spezifikation, die mindestens der Idee nach bis zum Einzelnen herabreicht. Ist nun unter dem Gesichtspunkte des Gesetzes als des Allgemeinen das Einzelne freilich nur von Bedeutung als „Fall“, so muss doch im Gesetz gerade die Allheit der möglichen Fälle enthalten sein; es darf keinen möglichen Fall geben, der nicht in ihm geborgen und aus ihm wiederum darzustellen und zu sichern wäre. Bedeutet das Gesetz gleichsam eine Abbreviatur, so hat diese doch nur Sinn, sofern das unendliche Mannigfaltige, das in diese kurze Formel zusammengezogen wurde, durch geeignete „Diskussion“ daraus wieder gewonnen werden kann; so muss etwa die Definition des Dreiecks, als Regel der möglichen Schneidungen dreier Geraden, es ermöglichen, das Kontinuum der Gattung „Dreieck“ logisch zu erschöpfen, so dass, wenn man das Kontinuum, für welches die Definition eben das Gesetz angeben muss, ganz durchläuft, jeder mögliche Fall berührt wird; und so durchweg. – Nach Seiten der Qualität stellt der Fortschritt der Erkenntnis in der Richtung der Objektivierung sich dementsprechend dar als fortschreitende Konzentration. Diese gibt erst den Gattungsbegriff, sofern er nicht bloß dem Umfang nach alle, d.h. die ganze Reihe der möglichen Einzelfälle, sondern dem Inhalt nach alle Arten, die Allheit der Weisen, wie z.B. drei Gerade sich schneiden können (also die möglichen Lagebeziehungen, mithin Winkelgrößen, wie auch Verhältnisse der Seitenlängen) in Vollständigkeit einschließt. – Nach Seiten der dynamischen Verknüpfung stellt derselbe Fortgang der Erkenntnis sich dar als der von engeren zu weiteren Funktionalbeziehungen. Gerade die Funktion aber entwickelt sich durch die ganzen Reihen der möglichen Werte der in gesetzmäßigen Bezug zu einander gesetzten Veränderungen hindurch, so dass jeder Fall erfasslich, vielmehr wirklich in dem Gesetze befasst wird, nämlich für jeden eine bestimmte Aussage aus dem Gesetze ableitbar sein muss. Demgemäß wird besonders das | Naturgesetz, das sich ja jederzeit als [75] und mit sich immer identische Bewegungsform oder Figur der Himmelskörper, indem er die gesamte Methode den Gesetzen und Theoremen seinem Beweises anpasst, sei es geometrischen, sei es optischen, die der Geometrie untergeordnet sind, und so geschieht es, dass er der Natur der Dinge selbst, dadurch dass er die Formen der Bewegungen sich solcherart ausdenkt, der eine auf diesem, der andere auf einem anderen Wege näher kommt.“ – Anm. d. Hrsg.
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Funktionalbeziehung ausdrücken lassen muss, zum entscheidenden Mittel, das Einzelgeschehnis in seinem dynamischen Werte und damit in seinem höchst konkreten Bezug zu allem mit ihm in dynamischem Zusammenhang Stehenden bestimmbar zu machen. – Und damit wird endlich, unter dem Gesichtspunkte der Modalität, das Wirkliche, und zwar als Einzelnes, für die Erkenntnis erreichbar, indem es nach seiner Möglichkeit nicht nur, sondern nach seiner Notwendigkeit, als nur so, nicht auch anders sein könnend, und so erst als wahres „Faktum“ erkennbar wird. (Man denke an Keplers „efficere“6.) Somit stellen eben durch das Gesetz die Beziehungen nach allen Seiten sich her, welche die Formung jedweder Materie zuwegebringen; allgemeine zwar, durch die aber, eben als solche, auch die Beziehung des Einzelnen zum Einzelnen (ideal jedes zu jedem) rekonstruierbar werden muss. Durch die Schritt um Schritt der Erkenntnis eroberte allseitige Beziehung aber wird das Einzelne selbst, allemal als Terminus solcher Beziehungen, und zwar ganz in ihrer Allseitigkeit, überhaupt erst darstellbar; es wird also aus den Relationen das Relatum der Erkenntnis erst gewonnen, nicht aus den Relata, als seien diese das voraus Bekannte, die Relationen aufgebaut; das heißt, nach der vorigen Formulierung: es wird aus der Form erst die Materie für die Erkenntnis erfassbar, nicht aus der Materie die Form. §8. Vertiefung des Gegensatzes des Objektiven und Subjektiven durch die Relativierung des Gegensatzes des Allgemeinen und Einzelnen. Dass dies aber doch erst Aufgabe und nicht mit der Aufstellung und dem Erweise des Gesetzesbezugs selbst etwa schon geleistet ist, wird daraus klar, dass im Gesetz als solchem der Bezug eben nur als allgemeiner ausgesprochen und definiert, der Einzelfall dagegen wie ausgelöscht, um jede selbständige Bedeutung gebracht erscheint. Warum das? Weil es erst galt, feste Haltpunkte für die Erkenntnis zu gewinnen in dem unveränderlichen Bestande allemal einer allgemeinen Relation. Sofern und solange dies die Aufgabe ist, erscheint die grenzenlose Veränderlichkeit von Fall zu Fall als schlechterdings untergeordnet, ja gerade als das, worüber man hinauskommen müsse. Das ist besonders ersichtlich in den Anfangsstadien der Wissenschaft und der Philosophie; in charakteristischer Form z.B. bei Plato. Da gilt durchaus [76] das Veränderliche der Erscheinungen als das, wovon | die Erkenntnis sich entfernen, worüber sie sich erheben müsse zum unwandelbar – nämlich im Begriff – Beharrenden. Würde sie freilich bei diesem nun stehen bleiben, so würde damit die Erkenntnis selbst stillgestellt, sie verfiele unrettbar jener Erstarrung, die in schroffster Einseitigkeit geradezu klassisch sich bereits früh dargestellt hatte in der Lehre der Eleaten, dieser „Stillsteller
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Vgl. das vorige Zitat. – Anm. d. Hrsg.
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des Alls“7. Es ist zu bewundern, wie Plato, der erst selbst auf diesen Fehlweg geraten war und fast geraten musste, dann seine Ungangbarkeit klar begreift und nun entschlossen seine starren „Ideen“ (die doch auch schon in ihrer ersten, starren Form das Gesetz meinten) in Bewegung setzt. Aber auch das kommt hierbei sofort, wenigstens der Sache nach, zur vollen Klarheit, dass die Rückwendung vom Unveränderlichen zur Veränderung, von der Ruhe zur Bewegung, von den starren, abstrakten Scheidungen zur durchgängigen Kontinuität zugleich den Rückgang vom Tode zum Leben, vom erstarrten Leib, vom entseelten Leichnam des Seins zur Seele, von der leeren Abstraktion des objektiven Gesetzes – wir würden sagen zur Totalität des „Bewusstseins“ bedeutet. Plato verfällt aber darum nun nicht etwa der entgegengesetzten, nicht minder verhängnisvollen Einseitigkeit des Heraklitismus, der nur den ewigen Fluss der Bewegung gelten lassen wollte. Dieser hatte ja schon zur Konsequenz des Protagoreismus geführt: dass nur die Subjektivität gelte, die Objektivität nichts mehr dürfe gelten wollen. Sondern Plato behauptet mit vollem Bewusstsein miteinander beides: Unveränderliches und Veränderung, Ruhe und Bewegung, Diskretion und Kontinuität, als Leib und Seele des Bewusstseins. Die unveränderlichen Bestimmungen dienen fortan bloß als Haltpunkte, gleichsam als Wegsteine, um den Marsch der Erkenntnis zu markieren, die Diskretionen nur, um das Kontinuierliche, das „Zwischen“, erkennbar zu machen, die „Grenzen“ der Begriffe nur, um das „Unbegrenzte“ zu „begrenzen“ und durch stetige, methodische Abwandlung von Grenze zu Grenze zu Begriff zu bringen. Das „Sein“ selbst, auf das doch alle Frage der Erkenntnis geht, bleibt dennoch nicht in jedem Betracht das Erste und gar allein Geltende, vielmehr das Werden wird, als Genesis – d. h. als Erstehen, nach letztem etymologischem Grunde als Erzeugung – gerade der tiefste Ausdruck des Ursprungs; das Sein wird „gewordenes Sein“, eben weil bloß jeweilige, immer wieder überschreitbare, notwendig wieder zu überschreitende „Begrenzung des Unbegrenzten“. | Damit aber nähert sich Plato in überraschender Weise der [77] Einsicht, die bei den Neueren und Neuesten erst zum vollen Durchbruch gelangt, nämlich der der Erkenntnis als eines Prozesses ins Unendliche, wie wenn er im „Parmenides“ erklärt, dass zuletzt in der Erkenntnis überhaupt keine absoluten Anfänge, Mitten und Enden gelten, sondern vor jedem Anfang ein neuer Anfang, über jedes Ende ein ferneres Ende, in jedem Zentrum ein wiederum zentraleres gefunden werden muss8; denn genau dies ist es, was in strengster Durchführung namentlich die moderne Mathematik als reine Methodologie der Erkenntnis entwickelt hat, aber auch die moderne
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Platons Bezeichnung der Eleaten, vgl. Sophistes, 181a. – Anm. d. Hrsg. Vgl. Natorps Interpretation des Parmenides in Platos Ideenlehre, S. 221–278. – Anm. d. Hrsg. 8
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Naturwissenschaft immer bestimmter als den wahrsten Ausdruck der ihr erreichbaren „Wirklichkeit“ anzuerkennen sich genötigt sieht; nicht minder helles Licht fällt von eben dieser Unendlichkeit des Erkenntnisprozesses auf die meisten Gebiete der Kulturwissenschaften, in denen man es von Anfang an nur mit „unendlichen Aufgaben“ zu tun hat. §9. Folgerungen. Auf der höchsten Stufe der Erkenntnis wäre demnach wirklich aller Stillstand in Bewegung, alle Diskretion in Kontinuität wieder gelöst und verflüssigt zu denken; und eben damit wäre dann die Totalität, also das volle Leben des Bewusstseins, das als Grund und Ursprung aller Objektserkenntnis immer vorausgesetzt war, selbst, so wie dies überhaupt möglich ist, der Erkenntnis erhalten, vielmehr überhaupt erst zur Erkenntnis gebracht. Aber diese erschöpfende Erkenntnis des Bewusstseins, in der der Gegensatz des Subjektiven und Objektiven gänzlich ausgelöscht wäre, ist allerdings nur ein nie erreichtes noch erreichbares Ideal. Die „Begrenzung des Unbegrenzten“, die Darstellung des Kontinuums durch Gesetze, die doch immer nur Beziehungen zwischen Diskretionen ausdrücken können, wenngleich in einem ins Unendliche zu entwickelnden Systemzusammenhange, ist zwar die Aufgabe, aber die unendliche Aufgabe der Erkenntnis, zunächst als Erkenntnis des Objekts. Eben darum aber bleibt auch immer der Gegensatz von Objektivität und Subjektivität und damit die Doppelrichtung des Prozesses der Erkenntnis, als Prozesses der Objektivierung und der Subjektivierung. Der Grund ist klar: die objektivierende Erkenntnis kann gar nicht anders als allemal Einzellinien verfolgen; sie kommt nur weiter durch ein zerlegendes, abstrahierendes Verfahren, welches gleichwohl zuletzt [78] darauf abzielt, den vollen, konkreten Gehalt des Bewusstseins, jene als | ursprünglich immer vorauszusetzende Totalität des Erlebens, in der Weise, wie dies überhaupt nur gefordert werden kann, der Erkenntnis zu erobern und damit erst im Vollsinn des Wortes zum Bewusstsein – die Psyche zum Logos – zu erheben; denn in der Hypothesis ihrer Ursprünglichkeit ist sie zwar als Dynamis vorausgesetzt, nicht aber aktuell bewusst. Restlos dargestellt wäre sie erst auf jener idealen Höhe der Erkenntnis, die als ideale eben nur ihr unendlich fernes Ziel bezeichnet; die wirkliche, „menschliche“ Erkenntnis, Erfahrung, findet sich stets in der Mitte zwischen der ursprünglichen, aber chaotischen, somit unterbewussten Konkretion des Urerlebnisses, und der aus der Diskretion erst wiederzugewinnenden vollbewussten Konkretion jener gedachten, aber nie erreichten Höhe der Erkenntnis, die, am Maße menschlichen, d.h. sondernden Bewusstseins gemessen, wohl schon als überbewusst zu bezeichnen wäre. Das ideale Ziel also wäre: der Vollgehalt des Bewusstseins, wie er im Urerlebnis zwar gedacht, gefordert, im Sinne des Problems sogar gegeben, aber nicht erkannt ist – dieser Vollgehalt, erhoben zu jenem bis aufs letzte
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geklärten, gereinigten Bewusstsein, welches die objektivierende Erkenntnis stets anstrebt, aber nur bedingterweise erreicht, da sie ja überhaupt nur im Bereiche des Bedingenden und Bedingten ihre Funktion ausüben kann; in welchem somit nichts mehr ausgeschaltet, abgelöst, beiseite gestellt, sondern alles, was im Bewusstsein ursprünglich war oder vielmehr zeitlos ist, erhalten bliebe, insbesondere nichts außer Bezug stände, sondern alles in durchgängigem Bezug zu allem. Denn die Totalität des Bewusstseins muss ja Totalität der Beziehungen, also durchgängige Wechselbeziehung bedeuten, da, wie oft gesagt, Bewusstsein überhaupt nur in Beziehung besteht. Gegenüber dieser Aufgabe wird alle Zerlegung, alle Heraushebung einzelner Beziehungen zum bloßen Mittel, um die ursprünglich unzerlegte, ja unzerlegliche Einheit durchgängiger Wechselbeziehung, in der das Bewusstsein eigentlich und im letzten Grunde besteht, so wie dies überhaupt möglich ist, zur Erkenntnis zu bringen. Die Zerlegung – wenn es nämlich bei ihr bleiben sollte – wäre wie die Sektion des Leichnams des Bewusstseins; Bewusstsein aber bedeutet Leben, d.h. durchgängige Wechselbeziehung. Darin definiert sich zugleich die Unmittelbarkeit des Bewusstseins, der gegenüber alle Isolierung (auch Isolierung von Einzelbeziehungen) nur die Bedeutung des Mittels oder der Vermitte|lung behält, die lediglich dient, [79] das Unmittelbare zur Erkenntnis zu bringen; denn es ist in seiner Unmittelbarkeit, die als Ausgang der Erkenntnis allerdings immer vorausgesetzt wird, nichts weniger als schon erkannt. Aber sofern und solange man nun bei den bloßen Vermittelungen stehen bleibt, ist man noch nicht beim Unmittelbaren, also nicht beim Bewusstsein, im Vollsinn des Lebens, der Seele. Das letzte Unmittelbare des Bewusstseins bleibt zwar, allem Gesagten zufolge, absolut genommen unserer Erkenntnis überhaupt unerreichbar, aber das hindert nicht, seine Wiederherstellung in der Erkenntnis, in den Grenzen, in denen sie erreichbar ist, als Aufgabe, nur eben ewige Aufgabe zu begreifen. Über dies letzte Gegenverhältnis von Objektivierung und Subjektivierung hinaus aber gibt es keine verständliche Aufgabe mehr, sei es für eine Psychologie, oder für eine Metaphysik des Idealen und Realen, oder wie sich das sonst nennen mag. Jede Forderung einer noch weiteren Reduktion dieser letzten Wechselbeziehung ist unzulässig und schließlich bedeutungslos. Die Reduktion könnte selbst nur die Richtung entweder der Objektivierung oder der Subjektivierung einschlagen und würde also bestenfalls dasselbe Problem auf einer neuen Stufe der Betrachtung nochmals stellen. Aber diese neue, vermeintlich höhere Stufe der Betrachtung ist in der Tat eine Illusion. Das Subjektive oder Psychische besteht selbst als Problem nur im Gegensatz zum Objektiven als dem Gesetzlichen irgendwelcher Art und Richtung; für es selbst, als solches und hinsichtlich seines allgemeinen Bezugs zu seiner Gegenseite, der Objektivität des Gesetzes, kann nicht noch eine fernere Reduktion gefordert werden. Die Aufgabe der Psychologie
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liegt über der der Gesetzeserkenntnis; sie setzt sie, und zwar in jeder ihrer möglichen Gestalten, schon als gelöst voraus. Das Gesetz überhaupt ist für sie nur Brücke, über die man hinaus sein, die man verlassen haben muss, um drüben zu sein; so wie im Ursinn des Gesetzes die vollständige Erfüllung des vom Gesetz Gebotenen das Gesetz selbst aufhebt. Gesetz ist Forderung, die Forderung aber verliert ihren Sinn, in dem Augenblick, da sie erfüllt ist. Nur ist wirklich die Forderung des Gesetzes, wie fort und fort betont wurde, nie schlechthin erfüllt; also bleibt freilich immer die Forderung des Gesetzes; aber nicht ihre Aufstellung ist die Sache der Psychologie, sie liegt noch ganz diesseits der letzteren; sie hat für sie nur die Bedeutung der [80] Voraussetzung. |
B. Bestimmung und zu Bestimmendes §10. Das Psychische nicht das Unbestimmte, sondern das in sich allseitig Bestimmte. Objektsetzung ist Bestimmung, Festsetzung als das und das; was dagegen in der Schwebe, was bestimmungslos oder unzulänglich bestimmt bleibt, gilt genau so weit als Subjektives. Die Farbe, der Ton, so wie sie unmittelbar der Sinnesempfindung sich darstellen, sind etwas bloß Subjektives: das besagt und hat immer besagen wollen, es sei aus sich nicht bestimmt, sondern schwankend, schwebend; wir meinen wohl in ihm ein Eines, Identisches zu erfassen, aber die wissenschaftliche Nachprüfung, die Prüfung am objektiven Maßstab stellt klar heraus, dass es in sich und aus sich einer streng identischen Bestimmung nicht fähig ist. Es ist zwar nicht absolut unbestimmt, wie ja auch (schon von Demokrit an) nicht jeder objektive Erkenntniswert ihm abgesprochen wird; denn es bleibt jedenfalls vorausgesetzt, dass jeder in der Empfindung sich darstellenden Verschiedenheit irgendeine Verschiedenheit des zugrunde liegenden Objektiven entsprechen müsse; aber das Empfindungsdatum für sich reicht nicht hin zu einer solchen Bestimmung, durch die ein Objekt im Natursinn bestimmt wäre, da erweislich in der Empfindung sich als identisch darstellt, was objektiv nicht identisch ist, sobald nämlich die Verschiedenheit unter dem Schwellenwert bleibt. Genau so weit kann das Empfundene also nicht objektive, also nur subjektive Geltung beanspruchen. Der Unterschied des objektiv und subjektiv Gültigen ist somit hier durchaus fließend; aber so ist ja überhaupt der ganze Unterschied des Objektiven und Subjektiven; gerade diese Relativierung scheint so unter dem Gesichtspunkte der Bestimmung ihre präzise Bedeutung zu erhalten. Soll nun Psychologie die Erkenntnis des Subjektiven als solchen sein, so kann leicht die Vorstellung entstehen, als müsse sie also die von der objektivierenden Erkenntnis erreichte Bestimmung wieder preisgeben und zu der Unbestimmtheit, die durch die Objektivierung überwunden wurde,
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zu dem Chaos, aus dem der Kosmos der Gegenstandswelt hervorging, zurückkehren. Die Arbeit der Psychologie gliche dann nur zu sehr der negativen Arbeit der Penelope, die nachts das Gewebe wieder auftrennte, das sie tags geschafft hatte. Ich gestehe gern, dass meine frühere Darstellung in einigen weniger behutsamen Wendungen diese absurde Vorstellung nahelegen konnte: als solle das schlecht|hin Bestimmungslose, vor aller [81] Bestimmung, also eben in seiner Nichtbestimmtheit, das Problem der Psychologie bilden. Dass dies keine sinnvolle Aufgabe wäre, ist freilich leicht zu sehen. Vielmehr den Vollgehalt des Bewusstseins, so wie dies überhaupt möglich ist, zur Erkenntnis zu bringen, ist die Aufgabe. Was überhaupt „Einem bewusst“ heißen soll, kann schon nicht schlechthin bestimmungslos sein. Der „Inhalt“ des Bewusstseins soll ergründet werden, und zwar gerade hinsichtlich seiner „Verbindung“; „Inhalt“ aber wäre überhaupt nicht zu nennen, was schlechthin unbestimmt wäre und bleiben oder wieder werden sollte; vollends die „Verbindung“ (Form) ist ja gerade das, was die Bestimmung ermöglicht und leistet. Oder es wurde gefragt nach dem letzten „Konkreten“ des Bewusstseins; das Konkreteste ist aber gerade das Bestimmungsreichste, nicht das Bestimmungsärmste oder gar gänzlich Bestimmungslose. Also muss wohl Psychologie, gegenüber objektivierender Erkenntnis, nicht ein Rückgängigmachen der geleisteten Bestimmung, sondern im Gegenteil ein überbieten dieser Bestimmung, sofern sie irgend noch im Leeren der Abstraktion verblieb, durch nur vollere, wenn es sein könnte, erschöpfende Bestimmung bedeuten. Diese Einsicht ist durch die vorige Betrachtung nun wohl zur vollen Deutlichkeit gebracht. Die Objektivierung vollzieht sich notwendig auf dem Wege der Abstraktion. Um erst einige sichere Haltpunkte zu gewinnen, arbeitet sie gewisse Bestimmtheiten zunächst für sich heraus; sie trifft Festsetzungen, aber nicht um in ihnen das Denken nun dauernd stillzustellen, sondern von ihnen aus gerade den Fluss der Bewegung selbst, so wie dies überhaupt möglich ist, gedanklich zu bewältigen, das Fließende selbst nicht zum Stehen, aber zur Bestimmung, die selber sich der Veränderlichkeit aufs genaueste anzuschmiegen hat, zu bringen. Gerade mit der volleren Durchführung der Bestimmung werden die abstrakten Sonderungen als solche wieder aufgehoben, also der Vollgehalt und damit das „Leben“ des Bewusstseins erst der Erkenntnis wirklich erschlossen. Somit ist es nicht ein Minus, sondern ein Plus an Bestimmung, was die Psychologie anstrebt: auch alles das, was die objektivierende Erkenntnis zunächst aufseite stellen musste, also in Unbestimmtheit beließ, soll nunmehr zur Bestimmung gebracht, es soll eben damit der starren Welt der Objekte Bewegung, Leben und Seele wieder zugeführt und so die Objektwelt, die vom subjektiven Erlebnis sich los|gelöst, sich wie ein Fremdes ihm gegenübergestellt hatte, der Psyche [82] erst ganz zugeeignet, in das volle Leben des Bewusstseins zurückbezogen, ganz wieder unser werden, wie sie es ursprünglich, aber nur im Sinne des
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Problems, schon gewesen war. Denn Leben heißt Bewegung, Kontinuität durchgängiger Wechselbeziehung; tot bleibt, was abgelöst, starr, bewegungsund beziehungslos verharrt. Also nur die Starrheit der Objektsbestimmung und damit die Loslösung des Objekts von der Subjektivität des Erlebnisses wird überwunden, die Bestimmung selbst dagegen nicht wieder rückgängig gemacht. Das Invariable, die endliche, sondernde Bestimmung war nur das unerlässliche Mittel, das Variable, die unendliche Variabilität zum Begriff, und damit eben zur klarsten Bestimmung zu bringen. Ein Rückgang ist es nur insofern, als das erst aufseite Gestellte jetzt wieder in Betracht genommen wird, nicht aber in der Absicht, es in seiner Unbestimmtheit zu lassen oder in sie wohl gar zurückzuversetzen, sondern, soweit es dessen fähig ist, nunmehr auch zur Bestimmung zu bringen. Es ist Rückwendung von der Abstraktion des Gesetzes, die vom Erlebten zwar ausging, aber je höher sie hinaufstieg, umso weiter sich von ihm entfernte, zur Konkretion des Vollerlebnisses; dieser Rückgang aber vollzieht sich gerade durch immer reichere Bestimmung, die von der Statik der objektiven Feststellungen zur Dynamik der allseitigen Wechselbeziehungen, welche das Leben des Bewusstseins erst ausmacht, von der Diskretion jener Festpunkte des Denkens, die wir Objekte heißen, zur Kontinuität eines allseitigen Überganges fortschreitet. § 11. Das Psychische als Potenz der Bestimmung. Also nicht das Subjektive „vor“ aller Objektivierung, das noch nicht Bestimmte „vor“ aller Bestimmung ist an sich das Problem der Psychologie, sondern der Gesamtgehalt des Bewusstseins gerade im Sinne des voll Bestimmten, die Rückführung der starren Abstraktionen, deren die Objektivierung bedurfte, in den konkreten Erlebniszusammenhang. Nur wird allerdings eben damit auch das Subjektive vor der Objektivierung definierbar, nämlich als „Dynamis“, als Potenz aller der Bestimmungen, die an ihm durch die objektivierende Erkenntnis vollzogen wurden und weiter vollziehbar sind. Auch dieser Begriff der Potenz aber ist jetzt nicht mehr bloß negativ; er schließt die Positivität der Möglichkeit und der Aufgabe (der Bestimmung) in [83] sich. Das noch nicht Bestimmte wird zum Bestimmbaren, | zu Bestimmenden, zur Möglichkeit und Forderung eben der Bestimmung, welche dann die objektivierende Erkenntnis an ihr wirklich vollzieht. Also muss diese freilich zuvor bekannt sein, d.h. es verhält sich genau nach der Lehre des Aristoteles: die Potenz wird erst erkannt, indem sie in die Aktualität übergeführt wird. In solchem Sinne bleibt das früher Gesagte doch bestehen: nur im Rückgang von der erreichten Erkenntnis lasse sich sagen, als was das zu Erkennende vor der Erkenntnis „gegeben“ war: nämlich als die Möglichkeit aller der Bestimmung, welche die Erkenntnis an ihr wirklich vollzieht. Damit klärt sich zugleich der Sinn der Bezeichnung des Unmittelbaren im Bewusstsein als des „Gegebenen“, obgleich nicht Bestimmten, sondern
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erst zu Bestimmenden. Gewiss muss im Subjektiven als gegeben gedacht werden, was, als Objektives, eben doch an und aus dem Subjektiven erkannt werden soll. Aber dies unmittelbar Gegebene ist (wie fort und fort in der Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode9 betont wurde) nicht auch unmittelbar bekannt, sondern es erschließt sich unserer Erkenntnis erst mittelbar, auf dem Umwege über die Objektsbestimmung. Daher wird das Wort „gegeben“ allerdings sofort irreleitend, sobald man unter Gegebenem voraus Bekanntes versteht; sondern zum Vorgegebenen wird das Unmittelbare erst unter dem neuen, eigenen Gesichtspunkte der Psychologie, indem es als Bedingung der dadurch möglichen Objektserkenntnis hinterher, in rückschauender (reflexiver) Erkenntnis erst aufgestellt und zur Definition gebracht wird. So ist vor allem das Empfindungsdatum nicht, als Subjektives, voraus „gegeben“, in dem Sinne, dass es vorher bekannt (das hieße ja: fertig bestimmt) wäre; sondern die psychologische Rekonstruktion hat es erst aufzustellen und zu definieren als die voraus „gegebene“ Möglichkeit (Potenz) aller der Bestimmung, welche die objektivierende Erkenntnis an ihm wirklich vollzieht. Von dieser Möglichkeit weiß die Empfindung selbst nichts; wie ja offenbar das Neugeborene nichts davon ahnt, was (nämlich vom Objekt, denn das ist stets der Sinn des Gegebenseins) ihm durch die Empfindung gegeben sei. Dennoch ist die Psychologie unzweifelhaft im Recht, wenn sie die Empfindung als Ausgang, als subjektiven Grund der objektivierenden Erkenntnis ansetzt. Nur gibt es überhaupt keine Möglichkeit, diesen lediglich als Potenz zu verstehenden „Grund“ zur Definition zu bringen, anders als im Rückgang von der schon erreichten Erkenntnis: als Potenz genau dessen, was auf dem Wege der objek|tivierenden [84] Erkenntnis sich Schritt um Schritt aktualisiert. Und nicht anders verhält es sich mit dem Gefühl, dem Streben, oder was sonst als Urgrundlage des Psychischen, oder in dieser mitenthalten, durch die Psychologie etwa herausgestellt werden mag.
C. Repräsentation und Präsentes §12. Das Unmittelbare als das Präsente. Der Begriff des Subjektiven als des Unmittelbaren, des Objektiven als des Mittelbaren und Vermittelten führt aber die Betrachtung sofort noch eine Stufe weiter zurück auf den wichtigen Unterschied des präsentativen und repräsentativen Bewusstseins. Das Unmittelbare zumal als das „Gegebene“ scheint das dem Bewusstsein Präsente zu bedeuten, während das Objekt niemals gegeben, niemals
9 Vgl. etwa Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, S. 36 f. – Anm. d. Hrsg.
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dem Bewusstsein präsent, sondern, eben als Objekt, d.h. Gegenüberstehendes, nur mittelbar, durch Repräsentation bewusst sein kann, indem ein Gegenwärtiges auf ein Nichtgegenwärtiges bezogen, dieses selbst dadurch „vergegenwärtigt“, das heißt aber nicht wirklich gegenwärtig, sondern durch Gegenwärtiges nur vertreten, unter ihm „gemeint“ wird. Nun ergab sich das Paradoxe, dass unter dem Gesichtspunkte der Psychologie gerade das angeblich Gegebene, Unmittelbare, somit Präsente das Problem, das Gesuchte, also erst mittelbar zu Erkennende wird, und zur Erkenntnis erst gebracht wird durch Vermittlung dessen, was zuvor das Nichtgegebene, Mittelbare, bloß repräsentativ Bewusste war, nämlich das Objektive. Die Paradoxie löst sich durch unsere letzten Ausführungen: auf der Stufe, da die Arbeit der objektivierenden Erkenntnis erst einsetzte, musste das zu Objektivierende, selbst nicht Objektive, d.h. Subjektive freilich „gegeben“ sein, aber damit nicht auch bekannt; sondern gegeben nur im Sinne der Potenz, welche Potenz selbst erst zur Erkenntnis gebracht wird, indem sie sich aktualisiert. Als Objektivierung ist aber diese Aktualisierung zunächst vielmehr Abkehr vom Subjektiven, das als das letzte Unmittelbare gleichwohl immer vorausgesetzt bleibt; es bedarf also noch jenes Rückganges vom Objektiven zum Subjektiven, um das letztere, als das ursprünglich Vorauszusetzende, zur Definition zu bringen. Es wird somit in einem ersten Stadium im Subjektiven alle daran vollziehbare Objektivierung in der Potenz gegeben gedacht; worin aber diese Gegebenheit bestehe, was der Gehalt [85] dieser Potentialität sei, lässt sich erst sagen, | nachdem und insoweit als, im zweiten Stadium, die Potenz aktualisiert ist. Diese Aktualisierung bedeutet zunächst Entfernung vom Subjektiven, Gegenstellung des Objektiven gegen es. In einem dritten, letzten Stadium der Erkenntnis hebt diese feindliche Trennung sich wieder auf; das Objektive wird ins Subjektive des Erlebnisses wieder zurückgeführt; dadurch würde es dann möglich sein, den Vollgehalt des Erlebten, der schon im ersten Stadium, nur eben für unsere Erkenntnis bloß als Potenz, vorausgesetzt, aus sich aber nicht erkennbar war, als Aktuelles und zwar das letzte Aktuelle zur Erkenntnis zu bringen. Es würden also im Idealfall das erste und das dritte Stadium sich decken, nur mit dem allerdings wesentlichen Unterschied, dass der übrigens identische Bewusstseinsinhalt im ersten Stadium als nicht aktualisierte, im dritten nunmehr und zwar voll aktualisiert gedacht wird. Aber beide, das Anfangswie das Endstadium, bezeichnen, wie schon gesagt, nur ideale Grenzen; wirklich bewegt sich unsere Erkenntnis, sei es in objektivierender oder subjektivierender Richtung, stets in der Mitte zwischen beiden. Also ist auch der Gegensatz des Gegebenen und Erkannten stets nur beziehungsweise, nach einer beiderseits ins Unendliche verlaufenden Stufenreihe zu verstehen. Damit muss aber dann auch der Gegensatz des Präsenten und Repräsentativen sich relativieren. Diese Relativierung ist es, die wir jetzt noch etwas näher ins Auge zu fassen haben.
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§13. Relativierung des Gegensatzes des Repräsentativen und Präsenten. Es ist in der Tat nicht der augenfälligste, aber vielleicht der tiefste aller Irrtümer der bisherigen Psychologie, dass sie immer noch diesen Gegensatz, der neuerlich wohl am häufigsten als der von „Inhalt“ und „Gegenstand“ bezeichnet wird, als starr, ein- für allemal fest, und wohl gar gegeben denkt. Dieser Irrtum bildet die letzte Zuflucht des Dualismus des Subjektiven und Objektiven, des „Psychischen“ und „Physischen“. Hatte man sonst die Scheidelinie zwischen Akt und Inhalt gezogen, so zieht man sie jetzt zwischen Inhalt und Gegenstand. Aber wie jener Gegensatz sich relativiert hat, so relativiert sich notwendig auch dieser. Das letzte „Ich“ ist Supposition, nicht „phänomenologischer Befund“. Diese Benennung könnte höchstens dem jeweiligen, für die Betrachtung so oder so willkürlich abgegrenzten Erlebniszusammenhang erteilt werden. Aber auch dieser darf nie als gegeben genommen werden im gewöhnlich verstandenen Sinne des | voraus [86] Bekannten; wie könnte er sonst das Problem der Psychologie sein? Was wir hätten, brauchten wir doch nicht erst zu suchen. Also ist auch der „Inhalt“, im Sinne des dem Bewusstsein Präsenten, niemals gegeben, außer im Sinne des aufgegebenen Problems. Andererseits ist der Gegenstand, seinem Begriff zufolge, als dem Ich und dem Erlebnis Gegenüberstehendes, vielmehr Gegenübergestelltes, allerdings niemals präsent; dennoch muss es offenbar ein Bewusstsein von ihm geben, wenn doch Erkenntnis; die Repräsentation, in der diese Erkenntnis besteht, findet doch eben statt im Bewusstsein, sie ist die Tat des Bewusstseins; es stellt sich selbst das Objekt gegenüber; nur in diesem seinem Objizieren weiß es überhaupt von ihm. Die Repräsentation muss (wie früher gesagt) selber präsent sein, obwohl – nein, indem sie das Objekt als nicht Präsentes (wir sagten: als X, nicht als A) setzt. Es ist unsere Setzung, wir wissen sie, sie ist uns bewusst. Sie als uns Bewusstes, das heißt eben: psychologisch darstellen, heißt aber schon: sie darstellen als uns präsent und nicht wiederum bloß repräsentiert. Ist sie aber präsent, so muss in ihr auch das Objekt gewissermaßen präsent sein; dem ist auf keine Weise zu entrinnen. Für den Gesichtspunkt der Psychologie ist diese Darstellungsweise nicht zu umgehen. Der Gipfel der Paradoxie aber ist es erst, dass wir (wie sich zeigte) das nur repräsentativ Bewusste nötig haben, um das angeblich dem Bewusstsein unmittelbar Präsente, und als solches, zur Erkenntnis zu bringen. Damit scheint alles auf den Kopf gestellt: das Gesuchte zum Gegebenen, das Gegebene zum Gesuchten, das X zum A, das A zum X gemacht. Der Sinn dieser Kopfstellung, d. h. dieser Umwendung der Fragestellung und damit des Erkenntnisganges, ist durch alles Vorausgeschickte aber nun schon klar geworden. Es ist eben so, dass derselbe, einige Weg der Erkenntnis in diesen zwei Richtungen zu beschreiben ist, vom Subjektiven zum Objektiven und vom Objektiven zum Subjektiven. Die Objektivierung, eben als Repräsentation, entfernt sich vom Unmittelbaren des Bewusstseins; bei dieser
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Entfernung und anscheinenden Entfremdung kann es nicht bleiben; das aus dem Bewusstsein Herausgestellte verlangt in es wieder einbezogen zu werden; welche Einbeziehung die Bedeutung hat: dass die isolierten Einzelbezüge, die erst als einzelne herauszuarbeiten waren, nicht in dieser Isolierung verharren, sondern in die durchgängige Wechselbezüglichkeit, die [87] den Vollsinn des „Bewusstseins“ erst ausmacht, wieder hineingestellt wer|den müssen. Die durch jene Herauslösung und damit Gegenstellung gegen das Subjektive erreichte Erkenntnis wird damit nicht etwa wieder preisgegeben, die Erkenntnis wird im Gegenteil nur noch unendlich vertieft und erfüllt. Preisgegeben wird nur die Ablösung von der Totalität des Erlebten, welches ja zugleich das zu Erkennende ist. Aber auch das Gegenverhältnis des Subjektiven und Objektiven bleibt immer; denn nur im nie erreichten, noch erreichbaren Idealfall würde beides koinzidieren; in aller wirklichen, erreichbaren Erkenntnis (Erfahrung) bleibt die Gegenstellung; aber sie relativiert sich. Ein letztes Subjektives, also Präsentes ist so wenig wirklich darstellbar, wie ein letztes Objektives, also nur Repräsentiertes; sondern da die Stufenreihe der Subjektivierungen, gleich der der Objektivierungen, der sie in der Umkehrung entspricht, unendlich ist, so erhält sich immer das Gegenverhältnis beider, jedoch nicht als starre Scheidung, sondern allein als Doppelrichtung des dabei doch immer einigen, stetigen Prozesses der Erkenntnis. Also bleibt das letzte Subjektive ebenso wie das letzte Objektive das immer Gesuchte, nie Gegebene; d.h. Psychologie ist Problem, und bleibt es immer. Bewusst aber – das sei auch in dieser Richtung nochmals betont –, bewusst ist alles, das Objektive wie das Subjektive, das Präsente wie das Repräsentierte, das X wie das A. Auch ist, ganz wie in der Gleichung, das X nur X (d.h. Gesuchtes) für ein A (Gegebenes), das A nur A (Gegebenes) für ein X (Gesuchtes); beide bestehen und bedeuten nur etwas in der Gleichung der Erkenntnis. Da aber dieser ganze Gegensatz sich relativiert hat, so ist nie absolut, sondern immer nur beziehungsweise von einem X und einem A zu reden. Das Subjektive vor aller Objektivierung wäre ein A außer Beziehung auf ein X; das Objektive jenseits aller Subjektsbeziehung („Ding an sich“ im falschen Sinne) wäre ein X außer Beziehung zu einem A; das eine wie das andere hat, genau erwogen, keinen Sinn. Die Beziehung auf ein X gehört zum Begriff des A, als des, zum Behufe seiner Bestimmung, Gegebenen, die Beziehung auf ein A (oder B usf.) zum Begriff des X, als des durch jenes zu Bestimmenden. So wie in der Algebra, der wir diese Bezeichnungsweise der Analogie halber entnehmen, das X und das A ihren präzisen Sinn nur haben im Algorithmus der Rechnung und allein für diesen, so gibt es das X und das A der großen Rechnung der Erkenntnis nur in ihr und für sie, das heißt [88] aber, nur für ein Bewusstsein, welches das X | auf das A, das A auf das X bezieht. Auch in dieser Richtung bedeutet das Bewusstsein die Beziehung, keine andere als die, in der die ganze Arbeit der Erkenntnis, und zwar nach ihrer Doppelrichtung, überhaupt besteht.
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D. Sein und Erscheinung §14. Relativierung der Begriffe des Erscheinens und des Seins. Zum Abschluss dieser ganzen Betrachtung, zugleich als Übergang zur zweiten Grundfrage der Psychologie, nämlich der der Methode, mag es instruktiv sein, das Wechselverhältnis des Objektiven und Subjektiven auch noch unter die Beleuchtung des uralten Gegensatzes von Sein und Erscheinen zu stellen. Von diesem Punkte ging ja die Entdeckung des Problems der Subjektivität ursprünglich aus. Schon Xenophanes, der Vorgänger der Eleaten, spricht den Verdacht aus, dass am Ende Schein und (trügliche) Meinung sich auf alles erstrecken möge (δÊκοσ δ’ π½ πσι τ¢τυκται – sonst δÊξα oder δÊξισ10), ein reines Sein, also reine Erkenntnis uns Menschen überhaupt nicht erreichbar sei. Wenigstens alles sinnlich und erfahrungsmäßig (wie man glaubt) Erkannte erklären dann die Eleaten schroff und rückhaltlos für trügliche Meinung „der Menschen“, d. h. für subjektiv (der „Mensch“ steht schon hier für das Subjekt)11, und eben darum nicht wahr. Das ruft dann wieder die kaum minder herausfordernde Gegenthese des Protagoras hervor: nur Schein, nur Meinung gilt, Sein, reine Erkenntnis gilt nicht; Erscheinung, Meinung, also – die Subjektivität ist das Maß der Dinge, des Objekts. Zwar sofern die Meinung gelten soll, ist es unleugbar doch irgendeine Art oder Stufe von Objektivierung, die man im Sinne hat; aber dann wenigstens die dem Subjekt (dem „Menschen“) nächstliegende; schlechthin verworfen aber wird die absolute Objektgeltung, die auch in der Tat unserer Erkenntnis unerreichbar ist. Sie entginge eben, als absolute, allem möglichen Bezug auf „uns“, d.h. auf das Subjekt. Auf diesen Bezug kommt es indessen gerade an. So scheint dann das Subjektive, das Subjektivere Geltung zu beanspruchen vor dem Objektiven, dem Objektiveren. Als ob die Objektsetzung, als unsere Setzung, nicht mindestens gleichen Anspruch hätte, uns zu gelten! Und dann doch wohl den höheren, da sie eben die Erkenntnis höherer Stufe darstellt, und nach Er|kenntnis zu fragen [89] auch der nicht umhin kann, der das „Maß“ für sie im Subjekt sucht. Die Erkenntnis höherer Stufe ist aber eben damit auch Bewusstsein höherer
10 Vgl. Xenophanes, Fragment 34 (Diels/Kranz) – Übers.: „Und das Gewisse (Unzweifelhafte, Genaue) aber erblickte kein Mensch, und es wird auch nie einen geben, der [es] weiß in Bezug auf die Götter und alles, was ich nur immer erwähne; denn selbst wenn es einem im höchsten Maß gelänge, etwas Treffliches auszusprechen, so wüsste er doch selbst nicht [davon]; Anschein (Schein, Meinung) haftet an allem.“ – Anm. d. Hrsg. 11 Vgl. Parmenides, Fragment 1 (Diels/Kranz). – Anm. d. Hrsg.
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Stufe. Das ist die unendliche Überlegenheit Platos über allen Subjektivismus: ihm bedeutet „unser“ Sein, Sein für uns (©µετ¢ρα οÐσºα), ja das der „Seele“, des Bewusstseins „selbst“ (αÐτ²σ scil. τ²σ ψυχ²σ, vgl. oben Kap. I, § 6), gerade das Sein der Idee, welches das Gesetz und damit die rein objektive Erkenntnisgeltung vertritt. Gerade das in der Idee gegründete, echte Sein im Gegensatz zu dem, was „wir“, was die „Menschen“ gemeinhin Sein nennen (dem Subjektiven), ist unser, nämlich unserem tieferen, radikaleren Selbst eigen, und hat darum uns in letzter Instanz zu gelten. Zwar droht hier anfangs noch der Rückfall in die entgegengesetzte Einseitigkeit: nur die Idee, das Gesetz, gilt; in ihr, als dem Festen, Beharrenden, droht aber die Erkenntnis wieder zu erstarren, bewegungs- und leblos, also seelenlos zu werden. Damit verfiele die Ideenlehre unrettbar wieder dem Eleatismus, dem das Subjektive, weil subjektiv, weil „unsere“, der „Menschen“ trügliche Meinung, nicht gültiges Sein, ja schlechthin den Gegensatz des Seins bedeutet. So wird oft genug auch bei Plato das Sein „an sich“ dem „für uns“ oder „bei uns“ ( ν ©µÂν, in unserem Bereiche), dem, welches „wir haben“ (£χοµεν)12, als der bloßen Erscheinung, ja dem Wahn und Trug entgegengestellt; jenes streng identisch beharrend, dieses in ewig flutendem Wechsel und damit aller sicheren Feststellung, also der Erkenntnis sich entziehend. Aber dieser starre Dualismus, in dem man meist das Wesen des Platonismus gesehen hat, wird dann von Plato selbst überwunden: das Erscheinende wird auf der Höhe der Entwicklung seiner Lehre selbst zum Objektiven (wie wir sagen würden) auf irgendeiner Stufe der Objektivierung; gerade damit aber wird die Objektivität des Seins nun erst recht unser, d.h. sie wird ganz ins „Bewusstsein“ hineinbezogen; was dann ganz folgerecht zu der Aufstellung eines allbefassenden Bewusstseins (Psyche) führt. Freilich zu einer methodischen Erforschung der Subjektivität, als Aufgabe einer eigenen Wissenschaft, kommt es bei Plato dennoch nicht; aber alle Prämissen dazu sind erreicht, dies Problem zu stellen, wie denn auch im einzelnen manche seiner tiefsten Erwägungen sich ganz unter diesen Gesichtspunkt bringen ließen. Dieser historische Entwicklungsgang hat, wie so vieles, ja beinahe alles [90] in Plato, eine ewig typische Bedeutung; er spiegelt klar den sach|lich notwendigen Gang der Problementwicklung. Für eine erste Erwägung ist das Subjektive schlechthin das Nichtobjektive, das Erscheinende schlechthin das Nichtseiende. So muss es sich darstellen für die aufs vermeintlich feststehende Sein einseitig gerichtete Erkenntnis; für sie ist eben das Erscheinende nur das, von dem die Erkenntnis sich zu entfernen, über das sie hinauszukommen habe. Indem dann aber mehr und mehr das reine Sein sich als unendliche Aufgabe herausstellt, gewinnt damit das Erscheinende
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S.o., Anm. 7, S. 12. – Anm. d. Hrsg.
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den positiven Wert der Darstellung des Seins auf irgendeiner Stufe der ewig fortschreitenden Erkenntnis; nur eben der allemal niederen Stufe, von der höheren aus gesehen. Auch so noch fällt das Schwergewicht auf das Sein; aber schon hat sich der Gegensatz relativiert. In einer letzten Erwägung endlich streift das Erscheinen den negativen Charakter, den des wenigstens relativen Nichtseins, gänzlich ab: alles noch so objektiv bestimmte „Sein“ bleibt eben doch Bewusstsein, bleibt Erscheinung, im nunmehr ganz positiven Sinn der Darstellung des Objekts für das Subjekt je auf einer bestimmten Stufe (wie wir sagen würden) der Objektivierung. Und da die ganze trennende Gegenstellung des Seins gegen das Erscheinen in der Tat nur auf der Unvollkommenheit der Seinsbestimmung beruht, so denkt man sich wenigstens im Idealfall diese Trennung gänzlich aufgehoben, das Sein also nicht mehr als „Objekt“ im Sinne einer Gegenstellung gegen die Erscheinung, sondern selbst, ganz wie es ist, in die Erscheinung getreten, das Erscheinen als Selbstoffenbarung und damit gerade höchste Realisierung des Seins, welches sonst, nicht so realisiert, immer etwas von dem Charakter des bloß Potentiellen behielte. Aber diese letzte Ansicht hat freilich nur begrenzenden Wert; für alle wirkliche, erreichbare Erkenntnis bleibt es bei der Relativierung sowohl des Erscheinens als des Seins, und also des ganzen Gegensatzes beider; nur dass jetzt auch nicht mehr unbedingt der Akzent auf das Sein als das Objektive fällt, vielmehr die Richtung der Subjektivierung der der Objektivierung gleichwertig zur Seite tritt. Daraus ergibt sich dann als notwendige Konsequenz die Aufgabenstellung für die Psychologie, so wie sie durch alle diese im Ausdruck vielseitig gewendeten, der Sache nach gleichsinnigen Betrachtungen nunmehr festgelegt ist. | [91]
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Psychologie nicht Objektivierung §1. Negative Folgerung hinsichtlich des Verfahrens der Psychologie. Aus der gewonnenen Aufklärung über das Objekt der Psychologie lassen sich einige allgemeinste Schlüsse hinsichtlich ihrer Methode sogleich ableiten; zunächst ein negativer Schluss, der für die positive Entscheidung den Boden bereitet, ja fast schon zwingend auf sie hinführt. Ist es die Aufgabe der Psychologie, das Subjektive des Bewusstseins abseits aller Objektivierung, das letzte Unmittelbare desselben, diesseits oder, wenn man will, jenseits aller Vermittlungen, den vollen, konkreten Gehalt des Erlebten, hinaus über alle bloße Abstraktion, zur Erkenntnis zu bringen, so kann zu dieser Erkenntnis nicht eben das Verfahren taugen, welches, als solches, der Absicht und der möglichen Leistung nach, vielmehr auf den Gewinn von Begriffen, auf Vermittlung einer Erkenntnis vom Objekt gerichtet ist. Das Verfahren der Psychologie muss also grundverschieden, in gewisser Weise entgegengesetzt sein dem Verfahren aller solchen Erkenntnis, welche in irgendeinem Sinne objektivierend zu Werke geht. So aber ist alle sonstige Erkenntnis beschaffen, also muss die Methode der Psychologie eine ihr durchaus eigentümliche sein. So unwidersprechlich aber diese Folgerung ist, so wenig entspricht ihr das tatsächliche Vorgehen der ganzen oder fast der ganzen bisherigen Psychologie. Denn, wie verschiedene Wege diese auch eingeschlagen hat, eine wie große Mannigfaltigkeit von Verfahrungsweisen im Besonderen in ihr mit mehr oder weniger Glück versucht worden ist, so zeigt sich doch darin eine, gerade angesichts der sonst weitgehenden Divergenz um so auffälligere Einmütigkeit, dass man in den Untersuchungen der Psychologie stets die allgemeine Richtung der Objektivierung genommen und eingehalten hat. Das ist von einer Seite sehr begreiflich. Psychologie will Wissenschaft sein, oder strebt jedenfalls es zu werden; wie dürfte ihr Verfahren | also gänzlich [92] verschieden sein von allem, was sonst als wissenschaftliches Verfahren in Brauch ist, ja Wissenschaft als solche überhaupt nur möglich zu machen scheint? Was anders könnte sie sich zur Aufgabe stellen als Begriffe von ihrem Objekt zu gewinnen, sein Mannigfaltiges in Einheiten des Denkens, den gegebenen Tatbestand unter Gesetze zu bringen, die Erscheinungen ihres Gebietes zurückzubeziehen auf das darin erscheinende Sein? Psychische Tatsachen oder Erscheinungen mögen von allen sonstigen noch so weit verschieden sein, und es mag diese Verschiedenheit noch so beträchtliche
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Fünftes Kapitel
Abwandlungen des allgemeinen Verfahrens der Wissenschaft bedingen, den Grundcharakter alles auf Begriff vom Objekt zielenden Verfahrens scheint doch auch das Verfahren am Psychischen, also das Verfahren der Psychologie, nicht verleugnen zu dürfen. Und doch ist nichts gewisser, als dass die Psychologie mit eben diesem Verfahren der objektivierenden Wissenschaft, wie es soeben in verschiedenen, im Grunde aber gleichbedeutenden Wendungen beschrieben wurde, dem, was ihr eigentümliches Problem ausmacht, dem Unmittelbaren des Erlebnisses, nicht näher kommt, vielmehr es notwendig hinter sich lässt, ja sich nur weiter und weiter von ihm entfernt. Aus der Erfahrung, das heißt in letzter Instanz aus dem Inhalt des Erlebten, schöpft alle objektivierende Erkenntnis; aber indem sie daraus schöpft, indem sie ihre Begriffe und Erkenntnisse aus ihm gleichsam heraufholt, zerteilt sie es notwendig, setzt Teilansichten, bestimmt herausgehobene Einzelbeziehungen an die Stelle des ursprünglichen, unzerstückten Ganzen des Erlebnisses. Sie geht notwendig, nach dem „Divide et impera“1, zerlegend, analytisch zu Werke; damit und nur damit gelangt sie zu dem, was sie als Objekt dem Subjektiven des Erlebnisses gegenüberstellt; es ist also offenbar, dass sie vom Subjektiven, Erlebten zwar den Ausgang nimmt, aber bei ihm nicht verbleibt, sondern es gleichsam umschafft in etwas, das ihm gegenüber ein Neues, gewissermaßen ihm Entgegengesetztes ist und sein will. Wie wäre sonst von einem Objekt, von objektiv Gültigem, gegenüber bloß Subjektivem, überhaupt zu reden? Psychologie aber soll die Wissenschaft des Subjektiven sein. §2. Konkrete Objektwissenschaften und reine Gesetzeswissenschaften. Diese erste Klarstellung fordert sogleich noch eine nähere Bestimmung. [93] Reduktion auf Gesetze ist der gemeinsame Charakter | der objektivierenden Erkenntnis jeder Art. Darunter ordnen sich zunächst zwei Grundarten von Gesetzen: Gesetze zeitbestimmten Seins und Gesetze des Sollens. Auf Gesetze des Seins und zwar des zeitbestimmten beschränkt sich durchaus die Naturerkenntnis; Sollensgesetze verbinden sich mit Seinsgesetzen (ohne dass diese in Wegfall kämen) in aller solchen Erkenntnis, welche das Eigenartige der Kulturobjekte betrifft. Schon das Sein im engeren Sinne des zeitlich bestimmten ist nun entgegengesetzt dem Erscheinen; das Sollen sogar auch dem zeitbestimmten Sein, dem Sein der „Tatsache“, sei diese noch so objektiv festgestellt; um so mehr also dem Unmittelbaren der Erscheinung. In dem Sollen, der Forderung, liegt zwar auch wieder ein eigenes Moment des Subjektiven; davon wird noch zu reden sein; allein „es soll“ heißt nicht bloß:
1 „Teile und herrsche!“, eine Julius Caesar zugeschriebene Maxime. – Anm. d. Hrsg.
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irgendwer oder -was fordert es so, sondern es besteht an sich, in der Sache, die Forderung, ungefragt ob je ein Subjekt in der Erfahrung sich finden mag, welches die Forderung bedingungslos zu der seinigen macht, oder vollends, sie erfüllt. Das Sollen schließt also in sich den Anspruch einer objektiven Geltung nicht nur gleichen, sondern höheren Ranges gegenüber der der erfahrbaren Tatsache. Mit gutem Grunde wird darum auch dem Sollen selbst ein eigenes Sein zugeschrieben, welches so gut, ja mehr noch als das Sein im Erfahrungssinne der bloßen Erscheinung gegenüber sich behaupte; der Erscheinung: das besagt aber schon der Subjektivität des jeweiligen Erlebens. Das Sein des Sollens liegt also, wenn man vom Subjektiven aus die Richtung der objektivierenden Erkenntnis beschreibt, nicht diesseits, sondern „noch jenseits“ (£τι π¢κεινα, Plato2) des Seins im Sinne der Tatsache. Unsere allgemeine Folgerung erhält hiermit den präzisen Sinn: dass weder in der Erkenntnis dessen, was im Erfahrungssinne „ist“, noch dessen, was sein soll, mithin weder in Natur- noch in Kulturwissenschaft, noch in irgendeiner gleichartigen Fortsetzung des im letzten Grunde einheitlichen Verfahrens dieser beiden Hauptgattungen konkret wissenschaftlicher Erkenntnis, die Psychologie gesucht werden darf. Was gibt es denn noch außer diesen beiden großen Gebieten, in welche die Gesamtheit der konkreten Wissenschaften sich zunächst aufzuteilen scheint? In die Kulturwissenschaft dürfen wir einrechnen die Gebiete des ethischen, des ästhetischen und des religiösen Bewusst|seins. An diesen [94] allen hat ohne Zweifel die Subjektivität nicht geringeren Anteil als am theoretischen Bewusstsein; aber sie alle nehmen ebenso sicher teil an dem allgemeinen Charakter der Objektivierung; darüber ist genug schon bei anderer Gelegenheit gesagt worden und wird genug noch weiterhin zu sagen sein. Es gibt außerdem noch die letzte Grundlegung der konkreten Objektwissenschaften, sei es von rein theoretischer oder praktischer, ästhetischer oder religiöser Ordnung, in den reinen Gesetzes- oder Methodenwissenschaften: Logik, Ethik, Ästhetik, Religionsphilosophie. Aber schon damit, dass wir sie Gesetzeswissenschaften nennen, ist ja gesagt, dass auch sie objektivierend sind, nicht weniger, sondern in nur noch radikalerem Sinne als die konkreten Objektwissenschaften. Sie verhalten sich zu diesen als Prinzipien- und Methodenlehre; sie handeln von den objektiven Gründen der beherrschenden Begriffe und Gesetze, auf denen das ganze Verfahren jener, der konkreten Objektwissenschaften beruht. Streben also die letzteren aus den Phänomenen je ihres Gebietes die Gesetze dieser Phänomene zu erkennen, so fragen die ersteren nach den Gesetzen, welche das gesamte
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Vgl. Plato, Politeia, 509b. – Anm. d. Hrsg.
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Verfahren dieser konkreten Gesetzeserkenntnis bestimmen; sie führen somit das Werk der Reduktion auf Gesetze, also das konstruktive Verfahren der wissenschaftlichen Erkenntnis nur noch eine Stufe weiter zurück oder höher hinauf ins Abstrakte. Konstruierend also und somit objektivierend sind sie nicht weniger, sondern nur noch mehr als jene. Darüber hat zwar in der Philosophie lange Zeit große Unsicherheit geherrscht; es hatten diese Wissenschaften unter einer unklaren Vermischung ihrer Aufgabe mit der der Psychologie zu leiden; einer Vermischung, die durch die Unklarheit über den Charakter und die Methode der letzteren großenteils verschuldet war, aber auch umgekehrt diese Unklarheit vermehren half. Aber diese Problemvermengung ist gegenwärtig in gewissem Maße schon überwunden. Es hat zuerst die Logik sich aus den Schlingen des „Psychologismus“ befreit; die formalistische Logik stellt vielleicht schon ein nicht weniger unhaltbares gegenteiliges Extrem dar, aber sicher nicht darin ist sie im Irrtum, dass sie die Logik in die nächste Nachbarschaft der Mathematik bringt, dass sie die Gesetze des Schlussverfahrens und alles, was von dieser Art ist, in reinen, abstrakten Grundformeln und Operationen analog denen der Mathematik zu entwickeln und gewissermaßen in Rechnung zu verwan[95] deln | strebt, womit jedem auch entferntesten Schein einer Begründung im Subjektiven des Denkerlebnisses ja gründlich gewehrt ist. Ferner stehen bis jetzt einer streng psychologiefreien Begründung die Ethik, die Ästhetik und die Religionsphilosophie; aber erkannt wird wenigstens, dass eine solche gefordert ist und möglich sein muss, wenn anders diese Disziplinen sich in dem Range reiner Gesetzeswissenschaften analog der Logik (gleichsam als Logik des reinen Willens, Logik der reinen Kunstgestaltung, Logik selbst des religiösen Bewusstseins)3 sollen behaupten können. Der Idee nach jedenfalls sind auch sie den konkreten Objektwissenschaften, deren letzte Gesetzlichkeit sie darzulegen und zu begründen haben, ebenso logisch übergeordnet, wie die Logik im engeren Sinne, nämlich die der Erfahrung, den ihr zugeordneten konkreten Wissenschaften, den mathematischen und Naturwissenschaften. Die Gesetze jener Grundwissenschaften, welche zusammen die Philosophie als Erkenntniskritik ausmachen, müssen, wenigstens der Idee nach, zu den Gesetzen der zugehörigen konkreten Objektwissenschaften sich verhalten wie letzte Obersätze der Deduktion; so stehen zweifellos die Gesetze der Mathematik unter denen der Logik, die der Mechanik unter denen der reinen Mathematik, die der speziellen Physik unter denen der reinen Mechanik usw. Dann aber müssen wohl die Aufstellungen der Ethik, der Ästhetik und der Religionsphilosophie, gleich denen der Logik, in demselben Maße vom unmittelbar Erlebten ferner abliegen als die ihnen zugeordneten konkreten
3 Vgl. Hermann Cohens drei Teile des „Systems der Philosophie“, s. o., Anm. 1, S. 5. – Anm. d. Hrsg.
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Wissenschaften. Also ist jedenfalls in irgendeiner von diesen oder ihnen insgesamt die Psychologie so wenig zu suchen, wie umgekehrt sie in der Psychologie. § 3. Annäherung der modernen Psychologie an eine Erforschung der reinen Subjektivität. Auch lässt sich beobachten, dass schon lange gerade die besten Psychologen ihr Arbeitsfeld eher diesseits auch der konkreten Objektwissenschaften, im Gebiete des unmittelbar Erlebten suchen. Man strebt ersichtlich, gerade in das Konkreteste des individuellen Erlebnisses zu dringen. Man nimmt zur Untersuchung gerade das vor, was besonders von der Naturwissenschaft, als für ihren Zweck (der Objektivierung) untauglich, aufseite gestellt wird: die Schwankungen und Unbestimmtheiten der Objektauffassung, die Sinnestäuschungen, die ganze „subjektive“ Überkleidung der Dinge mit Farbe, Ton, überhaupt Empfindungsqualität; die weiten Gebiete des Scheins und Meinens, die bequeme Weitmaschig|keit der [96] Sprachbegriffe, die Schwankungen, Unbestimmtheiten, Täuschungen auch des abstrakten Denkens, das logisch Irrationale, den Widerspruch selbst; das dunkle, dumpfe Fühlen, das ganz eigenartige, allem Naturwissenschaftlichen seitab liegende Gebiet des Strebens – dies alles nicht in der Richtung der Frage nach dem Objektivgültigen darin, sondern eben hinsichtlich seines individuellen und momentanen Charakters, hinsichtlich jenes Charakters der Unbestimmtheit, der Irrationalität. Und wenn man gewiss dies vielfach Verworrene entwirren, das Komplizierte auseinanderlegen, durch Analyse zur erreichbaren Klärung bringen will, so ist es doch gerade die Verflechtung, die vielfältige Mischung und Kreuzung, die ursprüngliche Ungeschiedenheit aller vom Standpunkte objektivierender Theorie irgend noch zu scheidenden Gebiete, Richtungen oder Einzelbestimmtheiten des Bewusstseins im unmittelbaren Erlebnis, was den Psychologen interessiert; welches alles aber von der Psychologie immer dann und in dem Maße verkannt werden musste, als sie vom Gesichtspunkte der Objektivierung einseitig beherrscht blieb. Man strebt also doch vielfach, gegenwärtig vielleicht mehr als je, das Subjektive in seiner ganzen Eigenheit zu erfassen; man befragt direkt das einzelne, individuell bestimmte Subjekt, lässt es ganz aus dem Eigensten seiner Subjektivität heraus, abseits alles Objektivitätsanspruchs, nur sich aussprechen und macht dann allen solchen subjektiven Befund zum Forschungsobjekt einer Wissenschaft, die, eben als Wissenschaft vom Subjektiven, gewiss mit Fug Psychologie genannt wird. Ist nicht also die Forderung, die Richtung aufs Unmittelbare des Erlebnisses zu nehmen, wenigstens in dieser schon bedeutenden und mit jedem Tage an Bedeutung gewinnenden Strömung der neueren Psychologie bereits in weitem Umfange erfüllt? Es ist durchaus anzuerkennen: man hat die Richtung zum Unmittelbaren des Bewusstseins eingeschlagen; aber allerdings mehr aus richtigem
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Fünftes Kapitel
Instinkt als mit sicherem methodischem Bewusstsein; daher auch nicht in reiner Konsequenz, nicht bis zur klaren Überwindung des Grundfehlers der objektivistischen Richtung, die bis vor nicht langer Zeit in der Psychologie fast alleinherrschend war. Man hat erstens, soviel ich beobachte, nicht klar gesehen, jedenfalls nicht in der Art und Richtung seiner Nachforschungen grundsätzlich und streng die Einsicht betätigt, dass das, was [97] man als das subjektiv Gegebene | beschreibt und zum Forschungsobjekt macht, vielleicht vergleichungsweise Subjektives, dem Unmittelbaren des Erlebnisses Näheres sein mag, aber noch längst nicht das letzte, schlechthin Subjektive oder auch nur das erreichbar Subjektivste – wohl ein „für uns Früheres“, aber noch nicht das Erste, Unmittelbare ist; dass man es dabei stets noch mit Objektivierungen, nur eben unterer Stufen, gegenüber denen der konkreten Objektwissenschaften und vollends der reinen Methodenwissenschaften, zu tun hat. Aber das würde an sich weniger geschadet haben, da anders als durch die Objektivierungen niederer Stufe dem ursprünglich Subjektiven in der Tat nicht näher zu kommen ist. Der ernstere Fehler ist vielmehr der andere, dass man auf dieser vermeintlich gegebenen Grundlage die Forschung selbst durchaus wieder in objektivierender Richtung führt, indem man, jedenfalls der Sache nach, meist aber auch ganz ausdrücklich, nach dem Vorbild der Naturwissenschaft, der objektivierenden Wissenschaft überhaupt, diese gegebenen Tatsachen auf allgemeine Gesetze, und zwar Ursachgesetze zu reduzieren strebt. Man vermag eben deshalb auch die Kollision gar nicht zu vermeiden mit den konkreten Gesetzeswissenschaften, zunächst den Naturwissenschaften, die doch eben auch auf der Erfahrung, also dem Erlebten, zuletzt dem unmittelbar Erlebten fußen und dieses, wenn auch immer nur in irgendwelcher bestimmten Begrenzung, auf Gesetze reduzieren wollen. Man hat wohl den Ausgangspunkt der Untersuchung eine Stufe weiter zurückverlegt und dadurch, soweit man seine Absicht wirklich erreichte, den Herrschaftsbereich der objektivierenden Wissenschaft eine Strecke tiefer hinein ins Subjektive erweitert; aber man ist von dem gewählten Ausgangspunkt eben doch nur in der ursprünglichen Richtung, der der Objektivierung fortgegangen; man hat also, im günstigen Fall, das Werk der konkreten Objektwissenschaften weiter gefördert, aber nicht die eigentümliche Aufgabe der Psychologie gelöst oder auch nur klarer erkannt; man ist, im weniger günstigen Fall, mit den gar kein wesentlich anderes Ziel verfolgenden Objektwissenschaften in Grenzstreitigkeiten geraten, welche doch wenigstens darauf hätten aufmerksam machen müssen, dass man eine verkehrte Richtung eingeschlagen hat. §4. Die Aussage als Vertretung des Subjektiven. Was das erste betrifft, so genügt schon ein oberflächlicher Blick in die Werke gerade der besten [98] Psychologen der bezeichneten Richtung – ich nenne | als solche Husserl und
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Lipps4 –, dass das, was man da, sei es bloß beschreibend (analytisch) oder beschreibend und erklärend (analytisch und synthetisch) bearbeitet, entfernt nicht das Subjektive letzter Instanz, sondern durchweg nur Objektivierungen verschiedener Stufen sind. Man befragt, wie gesagt, das Subjekt, lässt es sich aussprechen; aber – „Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr“5: dies Wort, vom Dichter in einem engeren Sinne gemeint, drückt, nach dem Wortsinn und in voller Allgemeinheit genommen, die ganze Notlage der Psychologie aus, die ja eben der Psyche den Logos, der Seele die Sprache zu geben die Aufgabe hat. Die Aussage ist es, alle und jede Aussage, welche das Material dem Psychologen liefert und in der Tat nur liefern kann. Der Umweg über die Aussage ist also gar nicht zu vermeiden; will ich auch nur das eigene unmittelbarste Empfinden, Fühlen, Streben, kurz Erlebnis gleichsam auf der Tat betreffen, um es an der Gerichtsstelle der Wissenschaft zur Anzeige zu bringen, ich muss, um es auch nur bei mir selbst anzuzeigen, es irgendwie aussprechen, sonst fehlt es dem Richterspruch an jeder fassbaren Unterlage. Nicht dass ich empfinde, ist schon ein hinreichendes Datum für psychologische Untersuchung, sondern es muss irgendwie aussagbar sein, was ich empfinde. Jede Aussage aber ist schon Bestimmung, Festlegung, und zwar durch Subsumption unter bereitstehende Begriffe; z.B. „Dies ist rot“: hier sind „Rot“ und vollends „Dies“ unzweifelhaft Gemeinbegriffe sogar hoher Stufe. Also ist es schon Objektivierung, somit sicher nicht das subjektive Erlebnis in seiner reinen Subjektivität, was darin zur Anzeige gelangt, sondern ein bloßer Hinweis auf es, bestenfalls ein willkürlicher Ausschnitt aus ihm. So ist es, aus klar einzusehender Notwendigkeit, mit jeder Aussage bewandt. Aussagen aber sind in jedem Fall, wo man nur hinblickt, das Material, das einzige Material der Psychologie der hier fraglichen Richtung. Psychologen haben schon begonnen, umfassende Organisationen zu bilden, um Fragebogen zu versenden, das heißt, Aussagen, nichts als Aussagen zu sammeln. Wer aber wollte leugnen, dass Aussagen Urteile, also Objektivierungen bedeuten; dass die bestimmenden Funktionen des Denkens, dieselben, auf denen alle Setzung des Gegenstandes, wissenschaftliche wie nichtwissenschaftliche, beruht, und die überhaupt gar keine andere Aufgabe als die der Objektivierung haben, stets – ob in strengerer oder loserer Form, das macht hier keinen | grundsätzlichen Unterschied – darin spielen? Das [99] Unmittelbare des Bewusstseins, des eigenen und vollends des fremden, lässt sich eben nicht auch unmittelbar, in sich selbst, sondern allein in seiner „Äußerung“ betreffen, die, als Äußerung, in der Tat immer schon
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Zu Natorps Diskussion von Husserl und Lipps, vgl. Kapitel XI. – Anm. d. Hrsg. Vgl. Goethes und Schillers Distichon „Sprache“ (1797) aus den Zahmen Xenien: „Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr.“ – Anm. d. Hrsg. 5
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Entäußerung, ein Heraustreten aus seiner eigenen in die Sphäre der Objektivität (irgendwelcher Stufe) ist. Es haben deswegen manche Psychologen, wie eben die genannten, sich mit einem ganz an Aristoteles erinnernden Eifer vorzugsweise an den Wortbegriffen der Sprache zu orientieren versucht; sie beziehen sich auf diese fort und fort und appellieren damit an das – Gemeinbewusstsein der eine bestimmte Sprache Sprechenden. Ganz gewiss liegt hier ein vom Psychologen keinesfalls zu vernachlässigendes, reiches Untersuchungsmaterial vor; denn gebildete Sprachen bergen in ihrem Wortbestand, ihren syntaktischen Beziehungen, in allem und jedem ihrer Bestandteile einen kaum erschöpfliehen Schatz primitiver Erkenntnisse. Aber eben Erkenntnisse, Objektivierungen also, die, je in den Grenzen ihres engeren Zwecks, an Schärfe und Prägnanz denen der Wissenschaft kaum nachstehen, dabei aber, eben dank der engeren Begrenzung ihres Objektsbezugs auf zwar gemeinsame, aber innerhalb dieser Gemeinsamkeit doch mannigfach sich individualisierende Lebenszwecke, dem Unmittelbaren, Subjektiven um ebenso viel näher liegen – aber doch Objektivierungen. Schon weil sie gemeinsamer Verständigung dienen – aber auch wenn sie lediglich der Verständigung mit sich selbst dienen wollten; wenn ich z.B., wie Kinder gerne tun, mir eine Geheimsprache ersonnen hätte, um mich, unbelauscht von aller Welt, allein mit mir selbst zu unterhalten –, in jedem Falle muss die Aussage den Weg der Abstraktion, der Verallgemeinerung beschreiten, also vom unmittelbar Erlebten, das stets konkret und individuell bestimmt ist, sich mehr oder minder entfernen; sie muss Festsetzungen treffen, also den flutenden Strom des inneren Geschehens gewaltsam stillstellen; mit einem Wort, sie gibt nie das Unmittelbare, wie es in sich ist, obwohl sie, wie jede Objektivierung, es zur Voraussetzung hat, also gewiss auf es zurückweist und in irgendwelchem Maße darauf zurückschließen lässt. § 5. Die Aussage als Objektivierung. Der Irrtum ist nur zu ersichtlich: man glaubt das Subjektive zu erreichen, indem man wirklich nur von irgendeiner gegebenen auf die nächstniedere Stufe der Objektivierung zurücktritt. Z.B., [100] die Farbe, die ich sehe, der Ton, | den ich höre, ist ja nicht die Schwingungszahl des Physikers, sondern ganz etwas anderes; in dieser gewiss unbestreitbaren Zweiheit glaubt man die ursprüngliche Dualität des „Psychischen“ und „Physischen“ zu erfassen. Aber es ist eben wieder eine Objektivierung nur niederer Stufe, was man fälschlich als Subjektives, wohl gar das letzte Subjektive anspricht. Die Angabe „Rot“ oder „Ton Gis“ ist doch nicht die Angabe meines unmittelbaren Erlebnisses, meines Sehens, meines Hörens, sondern die Angabe eines Was des Gesehenen, Gehörten; eines Was, welches ich selbst unter mannigfach anderen Bedingungen, und welches auch ein Anderer, jeder andere in gewissem Maße mir gleich Organisierte als dasselbe soll wiedererkennen können; eines Rekognoszibeln, also, genau nach Kants unwidersprechlicher Feststellung: eines Objekts. Allerdings keines reinen
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Objekts; denn eine reine Identität wird freilich dadurch nicht erkannt, wie die strengere wissenschaftliche Nachprüfung z.B. unter dem Gesichtspunkte des Schwellengesetzes mit leichter Mühe beweist. Die Mittel der Darstellung eines solchen Was des Empfindungsinhalts aber sind gleichwohl genau dieselben, auf denen alle Darstellung des Objekts auch in der reinsten Wissenschaft beruht: Identifikation und Unterscheidung, Reihenordnung und Zählung (ich denke z.B. das Rot als Farbe an bestimmter Stelle der Farbenreihe; die sprachlichen Benennungen der Farben sind rohe Vertreter von Ordnungszahlen der Reihe; so noch deutlicher die Benennungen der Töne nach ihrer Stellung in der Skala); zeitliche, räumliche Einordnung (es ist das hier und jetzt Gesehene, Gehörte); Relationsbestimmungen (denn die Aussage lautet, in einiger Vollständigkeit interpretiert: Ich sehe Rot, Ich höre Gis; das heißt, es wird das empfindende Individuum, mit bestimmter Organisation zu dieser Art Empfindung überhaupt, und andererseits ein Gegebenes = X vorausgesetzt, welches oder von welchem her empfunden wird; und zwischen beiden eine geeignete Wechselbeziehung); kurz, die Aussage ist, nach ihrem ganzen Inhalt, nach allen darin zur Anwendung kommenden Denkmitteln, eine deutliche, unbestreitbare Objektivierung, in diesem Fall auch unwidersprechlich bezogen auf räumlich wie zeitlich bestimmte, und zwar auf einzige Weise, in Hinsicht des einziges Raumes, der einzigen Zeit bestimmt gedachte Vorgänge; somit eine Objektivierung ganz von der Ordnung der Naturerkenntnis. Nur ist sie eben keine reine Objektivierung, sondern, sofern nach einer solchen die Frage | ist, gar sehr [101] der Korrektur bedürftig, welche Korrektur eben die Wissenschaft von der Natur vollzieht. Aber das ändert nichts daran, dass es eine Objektivierung, jedenfalls der Versuch einer solchen ist. Dementsprechendes aber gilt von allem und jedem empirischen Befund, mit dem die Psychologie arbeitet und überhaupt arbeiten kann. Nicht bloß sie selbst vollzieht daran Objektivierungen, sondern schon die ersten Daten, mit denen sie arbeitet, bestehen in Objektivierungen irgendwelcher Art und Stufe. Das rein Subjektive ist, eben als solches, nie gegeben, sondern gerade erst das Gesuchte. Die bisherige Psychologie aber nimmt, in oft verwunderlicher Unbefangenheit, das Gesuchte für gegeben, das X für ein A. Der Fehler ist keineswegs geringer, als wenn die Objektwissenschaften ihr Objekt für gegeben nähmen: Naturwissenschaft die Naturvorgänge, Ethik das Gute, Ästhetik das Schöne usf. Das war in primitiven Stadien der Wissenschaft begreiflich und kaum zu vermeiden; es hätte aber der Psychologie nicht begegnen dürfen, die mit ihrer Arbeit erst in einem Stadium einsetzte, wo jener primitive Irrtum wenigstens in der Naturwissenschaft längst überwunden war. §6. Vorurteil und Meinung. Es genügt, um sich von dieser Sachlage unerschütterlich zu überzeugen, im Grunde die einzige Erwägung, dass
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es stets Urteile sind, was man zugrunde legt. Ob richtig oder falsch, ob überhaupt unter dem Gesichtspunkte des Richtigen und Falschen oder unabhängig von der Forderung der Richtigkeit ausgesprochen, das heißt Vorurteile, das macht hierbei keinen ernsten Unterschied. Gewiss ist schon das ein allererster Schritt auf dem Wege zur Psychologie, dass man das Urteil eben nicht unter dem Gesichtspunkte der Frage, ob (objektiv) richtig oder falsch, sondern nur im Sinne der Tatsache, dass so geurteilt wird, ins Auge fasst; nicht unter dem Gesichtspunkte der „Episteme“ (Erkenntnis), sondern der „Doxa“ (Meinung) sie erwägt. Aber auch schon das Meinen ist ein Objektivieren; man meint doch eben, die Sache sei so. Das Meinen befolgt daher auch durchaus keine anderen Gesetze als die der Objektserkenntnis, nur befolgt es diese Gesetze lässig und ungenau. Es sucht und will Zusammenhang, Einheit der Vorstellung; es erreicht auch stets ein gewisses Maß von Einheit; es ist nur zu rasch zufriedengestellt mit irgendeinem oberflächlich erfassten, für die nächste Absicht gerade [102] hinreichenden | Zusammenhang, woneben sehr viel Zusammenhanglosigkeit, ja Widerspruch unvermerkt mit unterläuft. Meinung als solche fragt eben nicht, aber untersteht sich gleichwohl zu antworten. Darum gilt sie mit Grund der Wissenschaft als Subjektives, nämlich vergleichungsweise Subjektives; genauer müsste es lauten: vom Subjektiven noch nicht genug losgelöstes Objektives, da ja in weitem Umfang stets auch objektiv Richtiges in ihr enthalten ist. Gewiss fällt nun die Meinung, eben damit, dass die streng objektivierende Wissenschaft sie aus ihren Grenzen ausschließt, mit Fug und Recht der Psychologie als Problem anheim; dass diese sich mit ihr zu schaffen macht, ist also durchaus in Ordnung. Ist das Gemeinte, unter wissenschaftlichem Gesichtspunkte beurteilt, Schein und Irrtum: gerade als Schein, als Irrtum ist es wahrlich auch etwas Wirkliches, Vorhandenes, vielleicht das reichlichst Vorhandene, das untilgbar Wirklichste von allem. Als solches interessiert es immerhin auch die objektivierende Wissenschaft; sie zieht es genau so weit in Untersuchung, als nötig ist, um zu entscheiden, erstens, ob und inwiefern das Gemeinte etwa zutrifft, und zweitens, wie es gesetzmäßig bedingt war, dass man so meinte; denn erst durch die vollständige Aufklärung auch über die Ursache des Irrtums, nicht durch seine Richtigstellung allein, wird der Irrtum gründlich überwunden. Aber offenbar weder die Nichtigkeitserklärung der Meinung – oder andernfalls ihre Erhebung zur Erkenntnis, die ja auch ihren Charakter als Meinung aufhebt –, noch andererseits ihre kausale Erklärung betrifft die Meinung als Subjektives, gehört also, als solche, zur Aufgabe der Psychologie. Sondern sie interessiert die Meinung eben als Subjektives, interessiert auch ihr Anspruch objektiver Geltung nur als subjektiver Anspruch, das heißt als selbst wiederum gemeint, nicht hinsichtlich seines Rechts oder Unrechts. Aber vollständig täuscht man sich, wenn man im Gemeinten, darum weil es als solches
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nicht objektiv Gewusstes ist, schon das rein Subjektive erfasst zu haben glaubt. Denn Meinung bleibt eben immer – Objektivierung. Freilich wird durch diese Erwägungen die Notlage der Psychologie grell genug beleuchtet. Würde man selbst versuchen, oder würde es überhaupt möglich sein, den Befund des unmittelbaren Erlebnisses irgendwie abseits aller Aussage, alles Urteilens, alles Meinens, rein in sich selbst zu erfassen –: bliebe man nicht dennoch immer genötigt, | ihn irgendwie abzugrenzen, [103] ihn aus dem ganzen Geflecht des Erlebens irgendwie, und wäre es bloß mit dem Finger zeigend, mit den Augen winkend, herauszuheben, also den kontinuierlichen Strom des Werdens, als der alles innere Leben sich unzweifelhaft darstellt, gleichsam zu unterbrechen, künstlich für die Betrachtung stillzustellen, den Einzelbefund zu isolieren und, zum Zweck der Isolierung, zu fixieren, gleichsam zu sterilisieren, wie der Anatom sein Präparat? Löst man ihn nicht aber eben damit schon vom Erlebten, Subjektiven, macht ihn also dennoch zum – Objekt? Man erfasst also schließlich, so scheint es, überhaupt nie das Subjektive selbst und als solches, sondern, um es ja recht wissenschaftlich zu fassen, muss man es seines ganzen Charakters der Subjektivität erst entkleiden. Man schlägt die Subjektivität tot, um sie zu sezieren, und meint in dem Sektionsbefund – das Leben der Seele aufzuzeigen! §7. Das Verfahren der bisherigen Psychologie objektivierend, nicht subjektivierend. Dass die Psychologie sich in dieser Notlage befindet, ist in der Tat so offenbar, dass es einigermaßen begreiflich wird, wenn sie aus solcher Not nun eine Tugend zu machen sucht; wenn man von vornherein in gar keinem anderen letzten Interesse an das Subjektive herantritt, als in dem der Objektivierung. Daher geht man, wenn man anfänglich noch so sehr interessiert schien, das Subjektive in seiner Reinheit zu ergreifen, doch sehr bald wieder ausschließlich in objektivierender Richtung weiter. Man meint offenbar, in einer Wissenschaft gar nicht anders als objektivierend vorgehen zu können und zu sollen; man betont ja fortwährend, dass es ein anderes wissenschaftliches Verfahren überhaupt nicht gebe als das bekannte Verfahren, welches eben das aller objektivierenden Wissenschaft ist: Gesetzeserkenntnis. Wäre es aber auch etwa nicht gewollt, jedenfalls als Tatsache liegt es vor, dass man nichts anderes erreicht als Objektivierungen irgendwelcher Art und Stufe. Man arbeitet zwar, glaubt wenigstens zu arbeiten und will arbeiten am Individuellen, am unmittelbaren Leben der Seele; aber man arbeitet an ihm lediglich in der Richtung auf Objektserkenntnis. Der individuelle Befund interessiert, ganz wie in der Naturwissenschaft, nur als Fall des Allgemeinen. Nur strebt man, wie gesagt, die Erkenntnis des Allgemeinen selbst, nämlich des Gesetzes, einen Schritt tiefer hinein ins Konkrete zu führen. Psychologie möchte nicht bloß eine empirische Wissenschaft sein wie jede | andere, sondern womöglich [104]
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die Wissenschaft des Empirischen selbst und überhaupt; sie möchte das Erfahren selbst in Erfahrung bringen – aber indem sie es selbst wiederum im Gesetz objektiviert. Und so darf man sich über das Resultat nicht wundern: was die Psychologie dieses Stils erreicht, sind Naturgesetze der ganzen Intention nach. Freilich nichts weniger als reine; davon wird noch zu reden sein; ihr ganzer Aufbau fiele dahin in dem Augenblick, wo es der Naturwissenschaft gelänge, die Kausalzusammenhänge der Gehirnprozesse in ähnlichem Grade wie etwa die der Gestirnbewegungen in reinem Gesetzeszusammenhange darzustellen. Vielleicht nur weil die Psychologie bis zu wirklich reinen Objektivierungen in strengen Naturgesetzen nicht vordringt, kann sie sich selbst mit der Vorstellung einstweilen noch betrügen, dass sie mit dieser ganzen, offenbar und erklärtermaßen der Naturwissenschaft nachgebildeten, unwidersprechlich auf Objektivierung zielenden Forschungsweise dennoch im Subjektiven, Psychischen verbleibe. Dass die Psychologie, stets wenn sie an der Absicht der Erklärung festhält, in der Richtung der Objektivierung arbeitet, das Subjektive als solches also verfehlt, ist in sich klar, und es wird handgreiflich an jedem, wie immer angestellten Versuch. Lipps z.B. geht nach einer raschen, allzu raschen Übersicht über das Empfindungsmaterial sofort zur Untersuchung psychischer „Vorgänge“ über, von denen ausdrücklich erklärt wird und ohnehin klar ist, dass sie als solche nicht gegeben, nicht uns bewusst, sondern konstruiert sind6. Diese nicht gegebenen Vorgänge bilden fortan das Thema der Lipps’schen Psychologie. Also ist man berechtigt zu behaupten: diese Psychologie handelt, ihrer Hauptabsicht nach, ausgesprochenermaßen nicht vom bewusst Erlebten, sondern von etwas, das jenseits, oder, wenn man will, diesseits des Erlebten liegt; welches mit dem jenseits Gedachten, nämlich dem naturwissenschaftlich, insbesondere physiologisch zu Erforschenden möglicherweise an sich identisch, zunächst aber, in der empirischen Erforschung selbst, nicht zu identifizieren – obgleich aus demselben Material und nach gleicher Methode konstruiert, nicht etwa gegeben ist oder sein soll. Es ist nicht das Erlebte noch etwa das Erleben, sondern etwas hinter beidem, wodurch beides zustande kommen soll. Das heißt: diese Psychologie führt gar nicht in die Welt des unmittelbar Erlebten hinein, sondern [105] ganz aus ihr heraus, hinter sie zurück, gleich|sam auf den Schnürboden des Theaters. Der Grund ist klar: Lipps glaubt, so verfahre alle Wissenschaft, und sie könne überhaupt nicht anders verfahren. Aber damit wird ja eingestanden, was hier eben zu zeigen war: dass man die Aufgabe der Psychologie durchaus als die einer objektivierenden Wissenschaft ansieht und behandelt.
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Zu Natorps Auseinandersetzung mit Lipps s. Kap. XI. – Anm. d. Hrsg.
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Dass man bei solchem Verfahren mit der wirklichen, rein objektivierenden Wissenschaft, zunächst der Naturwissenschaft, unvermeidlich in Kollision gerät, ist unwidersprechlich und liegt ebenfalls als Tatsache klar zutage. Diese Beobachtung besonders war es, welche vor jetzt mehr als einem Vierteljahrhundert zu der kritischen Untersuchung über Objekt und Methode, über die ganze Grundlage der Psychologie führte, deren Ausführung in diesem Buche vorgelegt wird7. Der nähere Nachweis bleibt einem besonderen Kapitel vorbehalten; das Faktum selbst aber kann ohnehin nicht wohl bestritten werden, und so mag es an dieser Stelle mit dem kurzen Hinweis genug sein. Allem solchen Verfahren gegenüber also wird hier die These vertreten: dass überhaupt keinerlei nach Gesetzen erklärende Theorie, keinerlei Herausarbeitung objektiver Zusammenhänge, seien es solche des Seins oder des Sollens, die Aufgabe der Psychologie sein könne, dass vielmehr ihr Verfahren ein von allem auf Objektivierung gerichteten, d. h. von dem Verfahren aller sonstigen Wissenschaft grundverschiedenes, gewissermaßen ihm entgegengesetztes sein müsse. §8. Das Subjektive nicht ein Gebiet von Erscheinungen, sondern das Erscheinende überhaupt und als solches. Soll diese These irgend Anerkennung finden, so genügt es nicht, das Verfehlte des bisherigen Vorgehens zu erkennen; sondern man muss bis auf den letzten Grund des Fehlers zurückgehen, um ihn vom Grunde aus berichtigen zu können. Dieser letzte Grund des Fehlgehens ist nun im Allgemeinen schon klar bezeichnet worden: man hat sich nicht deutlich gemacht, dass alles Erscheinende als solches und ohne Unterschied einerseits subjektiv, andererseits objektiv zu beziehen ist. Man glaubte vielmehr immer nebeneinander Objektives und Subjektives schon in den Erscheinungen selbst vorzufinden, und suchte dann für diese vermeintlich toto genere verschiedenen, obwohl einander eng koordinierten und vielfach ineinandergreifenden Gebiete von Erscheinungen oder Erscheinungsmomenten verschiedene und koordinierte, allenfalls erst in einer ferneren, | letzten, jedoch schon überempirischen [106] Erwägung irgendwie sich wieder vereinigende Systeme erklärender Begriffe. Statt dessen behaupten wir: subjektiv ist das Erscheinen selbst und überhaupt, und nicht ein Gebiet von Erscheinungen im Unterschied von einem anderen, oder eine bestimmte „Seite“ derselben; objektiv alles, was in der Absicht erklärender Theorie der Erscheinung, sei es in wissenschaftlicher oder außerwissenschaftlicher Erkenntnis zugrunde gelegt, oder auch als
7 Gemeint ist Natorps Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode von 1888; die „Ausführung“ ist die vorliegende Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. – Anm. d. Hrsg.
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zu erreichendes Ziel ihr vorgehalten, oder in irgendeinem sonstigen Sinne als Grund oder Prinzip von ihr unterschieden und ihr gegenübergestellt wird. Zunächst: es gibt nicht zwei gesonderte, auch nur in der Abstraktion zu sondernde, unter sich koordinierte Gebiete oder Reihen von Erscheinungen: Erscheinungen des Bewusstseins und solche, die es nicht wären. Sondern, „Etwas erscheint“, das heißt schon, es ist einem bewusst. Also ist notwendig alle Erscheinung Erscheinung in einem oder für ein Bewusstsein und insofern psychisch. Andererseits aber heißt „Etwas erscheint“ auch: es stellt einen Gegenstand, auf irgendeiner Stufe und in irgendeiner Art und Richtung der Vergegenständlichung, dar. Und es sind genau dieselben, nicht bloß irgendwie gleichartige oder eng verbundene Erscheinungen, die einerseits dem Bewusstsein, in unserem Sinne als Bewusstseinsinhalt, sich darbieten, und die andererseits auf den in ihnen sich darstellenden Gegenstand zurückweisen, das heißt auf ihn zurückbezogen sein wollen und notwendig zurückbezogen werden; immer unter Berücksichtigung der verschiedenen Richtungen und verschiedenen Stufen der Vergegenständlichung. Auch verhält es sich nicht so, dass allemal „dieselbe“ Erscheinung wie aus zwei Erscheinungen zusammengesetzt wäre, oder überhaupt irgendeine Verschiedenheit des Inhalts an ihr sich aufweisen ließe, hinsichtlich deren sie in dieser zweifachen Beziehung, der subjektiven und der objektiven, zu erwägen wäre, etwa so, wie man denselben Naturkörper, aber eben hinsichtlich verschiedener Merkmale, nach verschiedenen Vergleichungsrichtungen, z.B. physikalisch (und wieder mechanisch oder optisch oder elektrisch usw.) oder chemisch oder technologisch usw. erwägen kann; sondern es ist einzig der Unterschied des Beziehungs- oder Vergleichungssinnes, nach welchem numerisch und der Art nach dieselbe Erscheinung, und zwar ihrem vollen Gehalt nach, das eine Mal, hinsichtlich ihres Objektivitätscharakters, [107] als Darstellung des | Gegenstandes allemal in bestimmter Richtung und auf bestimmter Stufe der Vergegenständlichung, das andere Mal, hinsichtlich ihres Subjektivitätscharakters, als Moment des Erlebens des Subjekts, wiederum allemal auf bestimmter Stufe und in bestimmter Richtung der Subjektivierung, ins Auge gefasst wird. Subjektivität und Objektivität sind nach dieser Auffassung, wenigstens in letzter, idealer Ansicht, zueinander schlechthin reziprok wie Berg und Tal oder wie Rechts und Links. Es gibt nicht bloß, wie Schopenhauer sagt, „kein Objekt ohne Subjekt, kein Subjekt ohne Objekt“8; dabei könnten sogar beide, wie nach Descartes, dem ganzen Begriff nach verschieden geartete, „distinkte“ Substanzen bleiben, wenn nur (wie die Descartes’schen
8 Vgl. Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, S. 39. – Anm. d. Hrsg.
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Substanzen auch) in ihren beiderseitigen Veränderungen streng gesetzmäßig aneinander geknüpft. Sondern das Subjektive ist subjektiv nur von Standpunkte eines Objektiven, das Objektive objektiv nur vom Standpunkte eines Subjektiven irgendwelcher Art und Stufe, so wie ein Links nur ist von einem Rechts, ein Rechts nur von einem Links aus gesehen. Alle Darstellung eines Objektiven ist Objektivierung eines Subjektiven, alle Darstellung eines Subjektiven Subjektivierung eines Objektiven; es besteht also zwischen beiden, ideal genommen, volle Identität, bis auf den Unterschied des Vorzeichens, das heißt des Betrachtungssinnes. Immerhin gilt diese völlige Koinzidenz, wie gesagt, nur in letzter, idealer Ansicht der Sache, das heißt, wenn man sich den Prozess der Erkenntnis im Ganzen, in seiner unendlichen Stufenfolge vorliegend denkt. Stehen wir dagegen, wie es wirklich in aller Erfahrungserkenntnis der Fall ist, mitten in dem Prozess, allemal auf bestimmter Stufe desselben, so ist die Scheidung immer klar und unzweideutig. Daher erklärt sich der Schein einer nicht nur schließlichen, sondern unmittelbar vorliegenden Zweiheit. Anders wäre der Dualismus, der von allen Positionen in der Seelenfrage doch einmal die naive ist und als solche ein starkes Präjudiz eines beträchtlichen Wahrheitsanteils für sich hat, selbst als Schein und Irrtum kaum zu begreifen. §9. Koinzidenz des Subjektiven und Objektiven im Begriff „Erscheinung“. Dass in irgendeinem unsagbaren letzten Grunde der Dinge „Physisches“ und „Psychisches“ nicht bloß zusammenhängen, sondern eins sein müssten, ist eigentlich von jeher in der Philosophie, wenn nicht geradezu behauptet, doch als eine der denk|baren und vielleicht die an sich befriedigendste [108] mögliche Voraussetzung über das Unwissbare angesehen worden. Aber diese letzte Einheit, meinte man, sei eben, wenn nicht für immer und notwendig, so jedenfalls bisher tatsächlich unbekannt; die Erscheinungen dagegen lägen unbestreitbar vor als spezifisch verschiedene; also seien jedenfalls für die empirische Forschung die Gebiete des Physischen und des Psychischen (denn in der Regel sah man das Problem des Objektiven und Subjektiven überhaupt nur in dieser engeren Gestalt) immer getrennt zu halten; und allenfalls erst am Ende der Rechnung (wenn es ein Ende gäbe) dürfte man hoffen, von den verschiedenen Ausgangspunkten auf den verschiedenen Wegen der Forschung doch in einem und demselben Resultat zusammenzutreffen. Dagegen behaupten wir: dass auch unmittelbar eine solche Zweiheit von Erscheinungsgebieten gar nicht vorliegt, sondern eben nur ein zweiseitiger Bezug; und zwar so, dass, was unter einem Gesichtspunkte als Subjektives, unter einem andern als Objektives, was in einem Betracht als Objektives, in einem andern wiederum als Subjektives sich darstellt. Nur indem man den Stufengang der Objektivierung, der in der Umkehrung zum Stufengang der Subjektivierung wird, nicht beachtete, sondern das Verhältnis des
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Subjektiven und Objektiven starr, unbeweglich dachte, konnte man in jenen Dualismus verfallen, vielmehr in ihm, der freilich die nächste, die naive Ansicht der Sachlage gibt, stecken bleiben. Husserl9 hat gegen die These, der Unterschied des Subjektiven und Objektiven sei ein bloßer Unterschied der Betrachtungsweise, indem dieselbe Erscheinung einmal in subjektivem, das andere Mal in objektivem Zusammenhange erwogen werde, den Einwurf gemacht, dass er auf eine Äquivokation hinauskomme, indem mit „Erscheinung“ sowohl das „Erlebnis, in dem das Erscheinen des Objekts bestehe“, als das erscheinende Objekt bezeichnet werde. Der Einwurf richtet sich nicht ausdrücklich gegen meine Aufstellung; aber die Formulierung der bestrittenen These klingt so nahe an meine Ausdrucksweise an, dass man den Einwand wohl auf meine Ansicht beziehen würde, selbst wenn er etwa nicht gerade sie meinen sollte; und an sich verlohnt es sich für uns, den Einwand zu prüfen, weil er immerhin mit [109] einem gewissen Scheine gegen unsere These sich erheben könnte. | Ich glaube indessen nicht jener schon den alten Skeptikern geläufigen, unter den Neueren besonders von Ernst Laas10 betonten, mir daher von meinen ältesten philosophischen Studien an wohlbekannten Äquivokation verfallen zu sein. Ich verstehe unter „Erscheinung“ (φαινʵενον) weder das Erlebnis, dass etwas mir erscheint (das φαºνεσqαι, von dem öfter gesagt worden ist, dass es selbst – trotz Hobbes – kein Phänomen ist), noch das Objekt, welches erscheint, an sich aber und abgesehen von dieser Erscheinung „sein“ und dasein soll; sondern genau das, als was das Objekt sich dem jedesmaligen Subjekt darstellt, den Erscheinungsinhalt, die Erscheinung des Gegenstandes gerade im Unterschied von seinem gedachten Ansichsein. Z.B. die Dinge erscheinen uns farbig und tönend, der Mond erscheint dem Beobachter auf der Erde als flache, kreis- oder sichelförmige Scheibe; die Sonne zeigt sich für den Beobachter auf der Erde in 24 Stunden um diese kreisend. Diesem Faktum, dass das Objekt sich dem Subjekt so und so darstellt, gebe ich einerseits, indem ich es in den Zusammenhang des vom Subjekt Erlebten einreihe (z.B. die Folge der Stellungen des Mondes am Himmel, wie ich sie sukzessiv beobachtet habe, als Folge meiner „Wahrnehmungen“ der Mondstellung zu der und der Zeit gleichsam summiere), die Beziehung auf mich als, in diesem Fall wahrnehmendes, diese bestimmte Erscheinung während dieser bestimmten Zeit beobachtendes Subjekt; demselben Erscheinungsinhalt gebe ich andererseits die Beziehung auf das darin, Andern ebenso wohl wie mir, oder einem idealen, seinen Standpunkt in absoluter Freiheit wechselnden Beobachter für jeden dieser möglichen Standpunkte übereinstimmend sich darstellende Objekt, indem 9 [Erste Auflage der] Logische Untersuchungen II, S. 328 [Husserliana XIX/2, S. 359f. – Anm. d. Hrsg.]. 10 Vgl. Ernst Laas, Positivismus und Idealismus. – Anm. d. Hrsg.
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ich alle solche möglichen Ansichten aus verschiedenen Standpunkten oder unter wechselnden sonstigen Bedingungen zur Einheit bringe, zur Einheit nämlich einer Regel, eines Gesetzes, welches das Objekt, nach dem die Frage ist, z. B. die gegenseitige Stellung von Erde und Sonne, für jeden gegebenen Moment und unter jeder gegebenen sonstigen Bedingung bestimmbar macht. So ist die Einordnung in beiden Fällen ganz verschieden; das aber, was eingeordnet wird: das in der einzelnen Erscheinung allemal so und so sich darstellende Verhalten (z.B. die erscheinenden Lageverhältnisse von Erde und Sonne zu der und der Zeit usw.), ist beidemal nicht etwa bloß gleicher Art, sondern numerisch dasselbe. Jene beiden Beziehungen aber sind nicht bloß verschieden, sondern | der Richtung nach wie Plus [110] und Minus entgegengesetzt, in dieser Entgegensetzung übrigens zueinander korrelativ: die eine ordnet die Einzelerscheinung ein in den konkreten Zusammenhang meiner Erlebnisse, zeigt sie daher in enger Verflechtung mit sonstigen Erlebnismomenten desselben Subjekts, löst sie dagegen vollständig aus dem objektiven Zusammenhang; die andere löst sie umgekehrt aus der Verflechtung der Erlebnisse des jedesmaligen Subjekts und stellt sie in den ganz anderen Zusammenhang objektiver, von dieser Erlebniskette unabhängiger Vorgänge und Gesetzlichkeiten. Jene Beziehung geht ihrer Richtung nach schließlich auf das absolut Konkrete der erlebten Tatsache, diese auf das absolut Abstrakte des Gesetzes. Aber jedes solches Konkrete ist in der Tat nur eine Konkretion aus solchen Abstraktheiten, jedes solches Abstrakte eine Abstraktion aus solchen Konkretheiten. §10. Korrelativität des Subjekts- und Objektsbezugs. Husserl betont in demselben Zusammenhange auch wieder den Unterschied von Inhalt und Gegenstand, der in der Tat mit dem der subjektiven und objektiven Beziehung der Erscheinung sich engstens berührt. Aber was ich betone, ist nicht bloß die Koinzidenz des so zweiseitig zu Beziehenden, sondern zugleich die Korrespondenz und Korrelativität der Beziehungsrichtungen: das A (der „Inhalt“) ist nur das A zum X (dem „Gegenstand“), das X nur das X zum A in einer und derselben Gleichung der Erkenntnis; aber dieses Gegenverhältnis von X und A verschiebt sich zugleich beständig, je nachdem die Rechnung der Erkenntnis fortschreitet. Auch wer, wie Husserl oder Lipps, Inhalt und Gegenstand gegeneinanderstellt, kann doch nicht umhin, auch den Fall zu setzen, dass die „Intention“ des Gegenstandes durch den Inhalt „erfüllt“, in unserer Gleichnissprache: das X durch die A, B usw. bestimmt wird; dann hört aber dieser „Gegenstand“ auf, als X dem A gegenüberzustehen, er ist vielmehr dann selbst „Inhalt“ geworden. (So fasst es Husserl selbst wenigstens als Idealfall ins Auge11; vgl. unten Kap. XI). Die
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Husserliana XIX/2, S. 608, S. 645ff., bes. S. 647 f.
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Koinzidenz gilt aber in der Tat auch im Falle der nichterfüllten „Intention“, nämlich genau so weit, als allemal Bestimmung des Gegenstandes erreicht ist. Ist aber auch sonst nichts an ihm bestimmt, so ist doch das X in jedem Falle gewissermaßen bestimmt durch sein genau definiertes Verhältnis zu [111] den bekannten Größen; es ist gleichsam die Stelle bestimmt, die es | zu erfüllen hätte, etwa so wie die Stelle für den Neptun durch die Rechnung bestimmt war, schon ehe die Beobachtung ihn direkt nachwies. Indem der Gegenstand „gemeint“ wird, wird er doch in unserer Vorstellung wenigstens versuchsweise gesetzt; ideal existiert er damit für den idealen Erkennenden, für das ideale Subjekt, und bedeutet die Existenz als Objekt die Existenz für das ideale Subjekt, das heißt, man denkt sich die Stufenreihe der Objektivierungen fortgesetzt über die bis dahin erreichte Stufe, indem man zugleich den Umkreis der Subjektivität sich erweiternd, jede zufällige Schranke wie unserer so auch jeder höheren, umfassenderen Subjektivität wieder überschritten denkt. Also die Zweiheit und das Gegenverhältnis von A und X, von Präsentation und Repräsentation, Inhalt und Gegenstand, besteht zwar auf bestimmte Weise für die bestimmte, in der jeweiligen Betrachtung festgehaltene Stufe, aber relativiert sich im Fortgang von Stufe zu Stufe; und der letzten Wahrheit der Sache entspricht eben dieser Fortgang und nicht das Stehenbleiben auf der gegebenen Stufe; das heißt, das Gegenverhältnis besteht nicht an sich als starres, sondern bewegliches, und der Schein des starren Gegensatzes entspringt nur daraus, dass man das gerade gegebene Stadium in der Betrachtung isoliert, es gegen seine Natur künstlich festlegt und zur Erstarrung bringt. Solche Festlegung ist methodisch notwendig, aber nur als Durchgang, so wie der Stand allemal auf einem Fuße notwendig ist für das Gehen, aber eben immer wieder verlassen werden muss, wenn ein Gang zustande kommen soll. Fest bleibt einzig der Richtungsgegensatz, oder besser gesagt das Gegenverhältnis der beiden Richtungen des Erkenntnisganges. Was das Spätere, wird für einen neuen Schritt das Frühere; in rückschauender Betrachtung umgekehrt das Frühere das Spätere; nur das Früher und Später, das heißt, dass überhaupt allemal ein Früheres und Späteres ist, bleibt, denn es beharrt unabänderlich gleichsam der Plus- und Minussinn der Wegrichtung der Erkenntnis. Das ist der „Monismus“, den wir behaupten. Dieser Monismus aber, sagen wir, ist nicht erst ein fernes, vielleicht nie zu realisierendes Ideal der Erkenntnis, sondern liegt in der Erfahrung selbst unmittelbar vor; allerdings nicht in irgendeiner einzelnen oder in einer angebbaren Summe von Einzelerfahrungen, sondern erst wenn man die Erfahrung in ihrem Gesamtgange, als Entwicklung der Erkenntnis aus dem Unendlichen ins [112] Unendliche, das heißt als Prozess (das besagt | ja eben: Gang, Methode) ins Auge fasst. Eine dinghafte Einheit findet sich nicht, man hätte sie gar nicht suchen sollen, denn sie hat überhaupt keinen angebbaren Sinn. Aber über diesem verkehrten Suchen, scheint es, hat man die wirkliche und gegebene
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Einheit: die methodische, die Einheit des Erkenntnisweges, übersehen. Diese hat die kritische Philosophie uns erkennen gelehrt, und damit ist das Problem: Monismus oder Dualismus? prinzipiell erledigt. Der allein haltbare Monismus, der der Erkenntnis selbst, hebt den allein haltbaren Dualismus, den der beiden zueinander korrelativen Wegrichtungen der Erkenntnis, der Richtung der Objektivierung und der Subjektivierung, nicht nur nicht auf, sondern schließt ihn unmittelbar ein; die Einheit der Erkenntnis besteht nur in dieser Korrelation und kraft ihrer. Eine Einheit hat überhaupt keinen Sinn, wenn sie nicht Einheit einer Mehrheit ist und eben sie vereint, so wie eine Zweiheit, je mehr sie ursprünglich sein soll, um so sicherer eine Einheit zur Voraussetzung hat, die eben in ihr nach den ursprünglich in ihr geeinten Seiten oder Richtungen sich für die Betrachtung auseinanderlegt. So entfällt überhaupt die Alternative: Monismus oder Dualismus; eine Ursprungseinheit kann nur Einheit einer ursprünglich in ihr eingeschlossenen Mehrheit, im Urfall Zweiheit sein. §11. „Psychisches“ und „Physisches“. Es bleibt übrig, die allgemeine These etwas mehr ins Besondere zu entwickeln. Ihre vollständige Durchführung zwar kann nur die Aufgabe dieser ganzen Grundlegung sein; aber die allgemeinsten Richtungen wenigstens, nach denen sich das Problem spezifiziert, lassen sich schon hier aufweisen, und sie müssen aufgewiesen werden, wenn das Gesagte nicht allzu sehr im Leeren der Abstraktion stehen bleiben soll. Man hat, wie schon bemerkt, in der Regel bloß von dem Gegensatze des „Psychischen“ zum „Physischen“ gesprochen. Das ist schon eine schiefe Entgegensetzung. Das Psychische soll den ganzen Gehalt der Subjektivität umfassen; das Subjektive aber objektiviert sich nicht allein in der Natur, sondern ebenso wohl in der Geschichte; nicht allein im zeitbestimmten Sein, sondern auch im überzeitlichen Sein des Sollens, auf das alles zeitbestimmte Sein höher hinauf beziehbar und notwendig zu beziehen ist. Also war der Gegensatz des Subjektiven und Objektiven von Anfang an nach diesen beiden Hauptrichtungen oder Dimensionen – mindestens nach diesen zweien – ins Auge zu fassen. Die alleinige | Gegenstellung zum „Physischen“ [113] wäre etwa analog der Betrachtung des Punktes allein im Verhältnis zur Linie, aber nicht zur Fläche und zum Raume, oder zur Linie und Fläche, aber nicht zum Raume. Solche Beschränkung ist zulässig und verständlich in didaktischer Absicht, zur vorläufigen Erleichterung der Betrachtung. Aber so wie die Mathematik schließlich zu der Einsicht gekommen ist, dass die allseitige, nicht bloß drei- sondern n-dimensionale Betrachtung, wenngleich sie an die Abstraktionskraft höhere Anforderungen stellt, doch als die radikalere an sich einfacher und durchsichtiger ist, so hoffen wir zu zeigen, dass in der sehr fundamentalen philosophischen Frage, die uns hier beschäftigt, die mehrdimensionale Betrachtung, wie die radikalere, so auch die ist, die allein zur vollständigen Aufhellung der Sache taugt. Doch
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gehen wir der bisher so allgemein vorwaltenden Einschränkung der Frage vorläufig noch insoweit nach, dass wir zuerst das Verhältnis des Psychischen, das heißt, der Subjektivität, zur Objektivität im Sinne der Naturwirklichkeit oder des Physischen ins Auge fassen. Behauptet wird also in dieser Rücksicht: es gibt nicht zweierlei „Erscheinungen“, in der Bedeutung in der Erfahrung sich darstellender Tatsachen oder Vorgänge in der Zeit: Erscheinungen des Bewusstseins und Erscheinungen der äußeren Natur. Sondern alles, was als ein Geschehen in der Zeit in Erfahrung kommt und überhaupt in Erfahrung kommen kann, ist einerseits, sofern eben es in Erfahrung kommt, notwendig Inhalt oder Gegenstand für ein Bewusstsein, insofern „psychisch“, andererseits, als Darstellung des Gegenstandes, einzuordnen in den seinem ganzen Begriff nach einheitlichen, ja einzigen Zusammenhang des objektiven Geschehens, welcher „Natur“ heißt, insofern „physisch“. Natur: so nennen wir die Einheit des unter Zeitbezug Erfahrenen und überhaupt Erfahrbaren, wie sie durch das Instrument des Gesetzes, und zwar des die Ordnung des Geschehens in der einzigen Zeit und dem einzigen Raum bestimmenden, also des Kausalgesetzes, konstruiert wird. In diese Konstruktion ist, der Idee nach, alles Erfahrbare, bis zum letzten, sofern es überhaupt dem Zeitbezug unterliegt, einzubeziehen; das heißt, alles „Psychische“ ist, sofern (im hier verstandenen Sinne) Erscheinendes, ebenso wohl Erscheinung der Natur wie Erscheinung im Bewusstsein; es ist eben eine Weise, wie ein Vorgang der Natur allemal einem Bewusstsein sich [114] darstellt. Diese Darstellung ist immer | naturbedingt, ebenso notwendig wie andererseits auf ein Bewusstsein, für das sie da ist, bezogen. Diese doppelte Beziehung liegt, wie gesagt, in der Erfahrung, in aller Erfahrung, indem eben Erfahrung überhaupt in dieser Doppelbeziehung besteht. Sie setzt aber die Identität des so doppelseitig zu Beziehenden, der „Erscheinung“, voraus; und die beiden Beziehungen stehen dabei nicht gleichgültig nebeneinander, sie bestehen nicht bloß wie durch Zufall oder Verhängnis, oder, wie bei Descartes, durch einen unergründlichen Willensbeschluss des Schöpfers, tatsächlich immer zusammen, sondern sind ihrem ganzen Begriff nach notwendig zu einander korrelativ; sie entsprechen sich wie Rechts und Links, Konvex und Konkav. Nur durch Abstraktion kann man die Betrachtung jeweils auf die eine oder die andere von beiden Beziehungen beschränken. Dies soll nun an einigen typischen Fällen im Besondern gezeigt werden. §12. Das „Physische“ immer auch „psychisch“. Alles Erfahrene ist zunächst Wahrgenommenes; als Kern der Wahrnehmung aber gilt die Sinnesempfindung; es mag also von ihr die Betrachtung ihren Ausgang nehmen. Es unterliegt nun keinem Zweifel, dass es uns möglich ist, den Inhalt der Empfindung, z.B. die bestimmte Farbe, den bestimmten Ton, an sich gegeben zu denken, das heißt, von der Beziehung auf ein bestimmtes empfindendes
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Bewusstsein, in dem es gegeben sei, bei seiner Betrachtung zu abstrahieren. Von „kritischer“ Reflexion abgesehen, sieht jeder Farben und Töne als Existenzen oder Momente des Existierenden an, die nicht notwendig an diesem und diesem (meinem oder eines Andern) Bewusstsein haften, sondern in sich etwas sind, und auch an sich da wären, wenn nicht gerade dieses und dieses sie empfindende Subjekt da wäre. Und der Inhalt der Empfindung wird in diesen beiden Betrachtungsweisen (1. als an sich, 2. als für dies und dies Bewusstsein gegeben) durchaus als derselbe vorausgesetzt; der Unterschied ist allein der des Bezugs, oder der Einordnung, im einen Fall in den Erlebniszusammenhang des jedesmaligen Subjekts, im andern in den Daseins- und Veränderungszusammenhang der Objekte. Und ebenso verhält es sich mit dem Inhalt jeder auf ein Sein oder Geschehen in Zeit und Raum bezogenen oder beziehbaren Wahrnehmung oder auch Vorstellung; dieser Inhalt ist nicht in sich selbst ein doppelter, er zeigt auch nicht, trotz irgendeiner letzten, verborgenen Identität, sozusagen ein doppeltes Gesicht, je nachdem er vonseiten | des Bewusstseins oder des vom Bewusstsein unab- [115] hängig gedachten, zeit-räumlich bestimmten Seins erwogen wird, sondern er bleibt durchaus, qualitativ wie numerisch, derselbe Inhalt, der nur in dieser doppelten Beziehung, das ist Einfügung und Verbindung mit andern, ins Auge gefasst wird. Man unterscheidet zwar, besonders in der Wissenschaft, in weitem Umfang aber auch schon in der gemeinen Vorstellung, zwischen der Erscheinung des Gegenstandes allemal für ein bestimmtes Bewusstsein, und dem, was er, der Gegenstand, an sich selbst sei. Nie gilt das in der Erscheinung sich Darstellende schon als solches für ein Objektives, sondern diesen ausgezeichneten Geltungswert der Objektivität erteilt namentlich die Wissenschaft nur gewissen Inhalten oder Inhaltsverbindungen, und in der Regel gerade nicht denen, die sich uns subjektiv am unmittelbarsten darstellen. Der objektive Zusammenhang will eben erst aufgedeckt sein, und er kann tief versteckt liegen. Erst sozusagen ein Sublimat der Erscheinungen, erst die durch die ganze ungeheure Arbeitsleistung der Wissenschaft herauszustellende Gesetzesordnung des Geschehens bedeutet für die Wissenschaft den Gegenstand. Indessen vollzieht sich die neue Verknüpfung, in welcher damit die Wissenschaft die Phänomene erst darstellt, doch wiederum in einem, eben dem wissenschaftlichen, Bewusstsein. Es ist also der Gegenstand der Wissenschaft (hier der Naturwissenschaft) nicht dem „Psychischen“ durchaus entgegengesetzt, sondern selbst wiederum „psychisch“, wenn man unter dem Psychischen das Einem Bewusste versteht. Es ist nur ein anderes Bewusstsein, ein anderer „Standpunkt“ des Aufnehmenden, dem der Gegenstand sich anders als zuvor darstellt; und auch diese neue Darstellung des Gegenstandes „Erscheinung“ zu nennen, ist besonders darum wahrlich begründet, weil gerade das wissenschaftliche Bewusstsein selbst wiederum
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seinen Standpunkt fort und fort wechselt, jedem neuen Standpunkte aber, den es einnimmt, das Objekt sich wieder anders darstellt, was für einen Standpunkt als reiner Ausdruck des Gegenstandes galt (z. B. das System der Himmelskörper nach Ptolemäus), für einen neuen zur bloßen „Erscheinung“ wird, die auf einen ganz anderen Zusammenhang (z.B. nach Kopernikus), als den objektiv wahren, bezogen wird. Dieser Fortgang geht aber, wie nun wohl [116] endgültig erkannt ist, an sich ins Unendliche; nur für uns | bleibt er, wegen der Beschränkung unserer Erfahrung, allerdings notwendig auf wenige Stufen eingeschränkt. Somit gibt es für uns keine „objektivere“ Ansicht von der „Natur“ als eben diese: dass überhaupt keine je erreichte wissenschaftliche Darstellung des objektiven Zusammenhanges als schlechthin, sondern allemal nur für den gegebenen Standpunkt der Wissenschaft zutreffend erachtet werden darf. Was anders aber war der Grund, weshalb man die Farbe, den Ton, ja die offenbarsten Sinnestäuschungen für „subjektiv“ erklärte, als dass eben der Gegenstand nur für einen beschränkten Standpunkt, nur für eine bestimmt begrenzte Betrachtung sich so darstellte, jenseits dieser willkürlichen Begrenzung dagegen anders? Dabei blieb es doch (der Voraussetzung nach) immer der Gegenstand, ja „derselbe“ Gegenstand, der sich darin darstellte; und für die jedesmalige Begrenzung der Betrachtung stellte er sich notwendig so, nicht anders dar; nicht minder notwendig, als er für eine erweiterte Betrachtung, für einen höher genommenen Standpunkt sich anders zeigte. Es ist also jede Betrachtung, allemal in ihrer genauen Begrenzung genommen, streng auf ihren Standpunkt bezogen, so objektiv und so subjektiv wie jede andere; aber die Stufen der Betrachtung, die Gesichtspunkte sind verschieden, und die Betrachtung aus dem allemal höheren Gesichtspunkt hat den Vorzug der relativen Wahrheit, sofern sie die aus dem niederen und aus jedem niederen Gesichtspunkt erklärt und gewissermaßen umfasst; denn aus der Kenntnis des wahren, oder wenigstens relativ wahreren Sachverhalts kann ich die „Erscheinung“ für jede mögliche engere Begrenzung der Betrachtung berechnen, nicht umgekehrt. §13. Das Psychische stets physisch zu repräsentieren. Somit ist alles, von der einen Seite angesehen, nämlich nach Maßgabe der Forderung, der Idee der absoluten Objektivität beurteilt, ein Subjektives; es ist ebenso gewiss alles, von der Gegenseite aus gesehen, unter der Idee der letzten, absoluten Subjektivität beurteilt, ein Objektives, nur auf verschiedenen Stufen der Objektivierung. Die Farbe, der Ton, der gebrochene Stab im Wasser, jede Sinnestäuschung ist eine Objektsdarstellung allemal für eine genau so und so begrenzte Auffassung, weil ja für diese bestimmte Begrenzung mit gesetzmäßiger Notwendigkeit so und nicht anders bestimmt. Auch die Berichtigung jeder solchen begrenzten Auffassung in der jedes Mal höheren kann und darf doch nichts von ihr ausstreichen, für null und
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nichtig erklären; nichts löst | sich wirklich aus dem Zusammenhang der [117] Objektivität, wie eben die Wissenschaft ihn zu konstruieren hat; vielmehr gerade aus diesem Zusammenhang muss sich ergeben, dass, für einen so und so begrenzten Standpunkt, das Objekt sich so und nicht anders darstellen musste. Die „Erscheinung“ bildet nicht nur den Ausgang, sondern sie bildet fort und fort den Grund, der den Gedankenbau der Objektivität trägt; so wie im andern Sinne freilich sie durch diesen begründet (fundamentiert) wird. Die Erscheinungen, nicht als einzelne, aber in ihrer Gesamtheit, bilden die letzte Beweisinstanz für irgendwelche theoretische Aufstellung; an ihnen hat die Festigkeit einer jeden wissenschaftlichen Konstruktion sich zu erproben. Die Theorie muss, nach jenem Ausdrucke der Alten, die Erscheinungen „retten“, nicht sie auslöschen, annullieren, das heißt es darf durch eine theoretische Konstruktion die Erscheinung in keinem Falle gänzlich negiert werden, sondern sie muss ihrem vollen Gehalte nach aufrecht erhalten bleiben, in dem bestimmten Sinne, dass die Notwendigkeit dieser Erscheinung aus den Voraussetzungen der Theorie resultiert; die Erscheinung muss verständlich werden, indem sie selbst in den objektiven, den Gesetzeszusammenhang des Erscheinenden sich auf bestimmte Weise einordnet. Würde nicht aus der Konstruktion des Kopernikus folgen, dass die Sonne für den auf der Erde befindlichen, die Bewegung seines Standorts nicht kennenden oder nicht berücksichtigenden Beobachter in 24 Stunden sich um die Sonne bewegend erscheinen muss, so könnte die Theorie nicht Geltung beanspruchen. Wirklich spricht die Wissenschaft keiner einzigen Erscheinung diese Wirklichkeit, als Erscheinung, ab. Farbe ist, nach ihrer Behauptung, nicht objektiv vorhanden; aber dass sie, bestimmt so und nicht anders, erscheint, ist unter den und den, objektiv (physikalisch und physiologisch) definierten Bedingungen, notwendig, ist in der objektiven Notwendigkeit der Gesetze (physikalischer und physiologischer Optik) begründet. Würde jemals aus der zugrunde gelegten Vorstellung des objektiven Verhalts die Erscheinung nicht, und zwar mit objektiver Notwendigkeit, ganz in ihrer angenommenen Bestimmtheit resultieren, so wäre nicht die Erscheinung zu negieren, sondern die Theorie zu berichtigen. Auch das Subjektivste des Bewusstseins, Gefühl und Streben, sofern irgend es als Sinnliches auf Zeit und Raum bestimmt bezogen bleibt, hat die Naturwissenschaft auf objektive Vorgänge, auf bestimmt definierte Zuständlichkeiten | und Veränderungen im Nervensystem, zu [118] deuten, durch sie zu repräsentieren, so dass für jede Modifikation dieser subjektiven Phänomene bestimmte objektive Bedingungen mindestens hypothetisch angebbar werden. Auch sie haben für sie die Bedeutung von Zeichen, von Anzeigen auf, wenn nicht bekannte, dann noch zu erforschende Zusammenhänge objektiven Geschehens; auch sie also sind ihr Erscheinungen des Gegenstandes und nicht etwa ausschließlich des Bewusstseins.
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Somit ist überhaupt alles, was nur als Phänomen im Bewusstsein auftritt, auch Phänomen für die objektivierende Wissenschaft, in diesem Fall Naturwissenschaft. Eine Erscheinung, welche nicht als zu erklärendes, mithin auch beweisendes Moment zum objektiven Zusammenhange des Geschehens (zum Naturzusammenhange) gehörte und auf ihn zu beziehen wäre, gibt es so wenig, wie es eine Erscheinung gibt, die nicht Erscheinung für ein Bewusstsein wäre. §14. Identität des letzten Physischen und Psychischen im sinnlichen Bewusstsein. Und zwar ist darum nicht etwa eine jede Erscheinung wie aus zwei Erscheinungen zusammengesetzt, oder lässt überhaupt irgendein Unterschied des Inhalts sich angeben, hinsichtlich dessen sie einmal als Bewusstseinserscheinung, das andere Mal als Erscheinung des Gegenstandes aufzufassen wäre; sondern es ist überhaupt in jeder Beziehung, inhaltlich und numerisch, dieselbe Erscheinung, die in dieser doppelten Rücksicht von uns erwogen wird. Am Ersichtlichsten ist dies eben bei dem, wovon unsere Betrachtung ausging und worüber sie bisher noch nicht wesentlich hinausgekommen ist, der direkten Sinneswahrnehmung. Denn deren Eigentümlichkeit besteht gerade in einem so unmittelbaren Gegenwärtighaben des Objekts vor dem Bewusstsein, dass in ihr Objekt und Bewusstseinsinhalt gänzlich in eins zusammenzufließen scheint. Kein naiver Mensch glaubt etwas anderes zu sehen und zu greifen als die wirklichen, objektiv vorhandenen Dinge und Geschehnisse; und richtig verstanden gibt die Wissenschaft diesem naiven Zutrauen in die Realität unserer sinnlichen Wahrnehmungen und somit in die Sinnlichkeit des Realen durchaus recht, indem sie erweist, dass die Dinge, genau so wie, und in eben den zeitlichen und räumlichen Verbindungen, in denen wir sie wahrnehmen, zufolge ihrer eigenen Beschaffenheit, ihrer Stellung zu uns und den sonstigen Umständen des Falls, sich uns darstellen müssen, in Gemäßheit der Gesetze der „Natur“, [119] der der Objekte wie | unserer eigenen, das heißt gemäß der Einrichtung unserer Organe und den jedesmaligen Bedingungen ihres Funktionierens. Nicht wesentlich anders aber verhält es sich selbst mit den Vorstellungen der reproduktiven Phantasie. Diese sind im Grunde gleichfalls Wahrnehmungen, nur unter veränderten äußeren Bedingungen. Sie sind den Wahrnehmungen im gewöhnlichen Sinne dem Inhalt nach durchaus gleichartig. Man hat es vielfach Hume nachgesprochen, dass sie durchweg schwächer wären; aber weder würde das einen spezifischen Unterschied begründen, da schwache Wahrnehmungen immer Wahrnehmungen bleiben, noch lässt der Unterschied sich überhaupt als durchgehend behaupten. Nicht bloß kann die reproduktive Vorstellung sich in abnormen Fällen (Traum, Halluzination) bis zur vollen Lebendigkeit der gegenwärtigen Wahrneh-
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mung steigern, sondern auch die ganz normale, wache Reproduktion z.B. schwächerer Geräusche gibt an Stärke, wie man sich in jedem Augenblick leicht überzeugt, der Wahrnehmung durchaus nichts nach. Ein etwa durchgehender Unterschied würde jedenfalls nur in einer Verschiedenheit der begleitenden Umstände begründet sein können; auch solche Verschiedenheiten aber werden für beide Fälle im allgemeinen gleichartige Ursachen haben: Erregungen des Zentralorgans von im Allgemeinen ähnlicher Form, nur etwa im einen Fall durch peripherische, im andern durch zentrale Reizung (ausschließlich oder überwiegend) verursacht. Solche Verschiedenheiten in den besonderen Bedingungen mögen eine Verschiedenheit begleitender, z.B. Gefühlsmomente bedingen, derzufolge auch bei sonstiger Gleichheit des Inhalts uns bei der reproduktiven Vorstellung anders „zumut“ ist als bei der Wahrnehmung; obwohl namentlich bei sehr lebhafter Vorstellung, z.B. der musikalischen des Musikers, der malerischen des Malers, eine solche Verschiedenheit kaum vorhanden sein dürfte. Jedenfalls der eigentliche Inhalt der Vorstellung selbst, z.B. Höhe, Stärke, Klangfarbe des wahrgenommenen und des vorgestellten Tones, braucht in nichts verschieden zu sein; ob und wieweit er es ist, hängt von den besonderen Bedingungen des Falls ab, welche bei beiden im einzelnen vielfach verschieden sein mögen, nicht aber an sich davon, ob es Wahrnehmung ist oder reproduktive Vorstellung. Somit ist die reproduktive Vorstellung, soweit sie überhaupt den Charakter des Sinnlichen hat, in der hier fraglichen Beziehung der sinnlichen Wahrnehmung durchaus gleichzustellen und | nicht weniger als sie, natürlich immer [120] ihrer Besonderheit gemäß, auf die Objektivität zu beziehen. Und mit dem sinnlichen Gefühl und Streben, dem originären wie dem reproduzierten, verhält es sich keineswegs anders. Im Verhältnis zum Objekt (worunter vorerst immer Vorgänge der Natur, insbesondere Nervenvorgänge verstanden werden) ist es, wie das Beiwort „sinnlich“ schon verrät, eigentlich Wahrnehmung, mag es auch für das Bewusstsein überhaupt, sofern es nicht bloß Bewusstsein des zeitlich Wirklichen, sondern z.B., als Streben, des Seinsollenden ist, noch sonst eine Bedeutung haben; nach der ist hier noch nicht die Frage. §15. Sinnlichkeit und Denken. Aber mit dem am Bewusstsein, was über das Sinnliche ganz hinausgeht, dem Denken und allem davon Abhängigen, scheint es zunächst sich anders zu verhalten. Zwar ist nicht zweifelhaft, dass es auch dem Denken nie an einer materialen, sinnlichen Unterlage fehlt, hinsichtlich deren es der objektivierenden Betrachtung ebenso wie alles Sinnliche unterworfen ist. Aber gerade das spezifisch neue Moment am Denken, die gleichsam übergreifende Einheit des Bewusstseins, in der eine Mannigfaltigkeit durch Zeit oder Raum unterschiedener Inhalte sich zusammenfasst, jene ganze Eigenheit des Bewusstseins, die wir als Repräsentation von aller direkten Präsentation unterscheiden, scheint,
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während eben sie es ist, durch die ein objektiver Zusammenhang sich uns erst herstellt, selbst in diesen sich nicht einfügen zu wollen, sondern dem Bewusstsein ausschließlich zu verbleiben. Indessen, die Frage war vorerst nur nach dem, was erscheint; von jener übergreifenden Einheit aber lässt sich im eigentlichen Sinne nicht sagen, dass sie erscheine. Also kann sie allerdings nicht im gleichen Sinne wie das „Mannigfaltige“, das die „Materie“ des Bewusstseins bildet, auf den Gegenstand bezogen werden. Indessen sie erscheint dennoch in einem Sinne, nämlich in der bestimmten Verbindung, in der, eben ihr zufolge, das Mannigfaltige sich uns ordnet. Nun: ebenso fern und genau in dem Sinne, in welchem sie darin erscheint, ist sie auch auf den Gegenstand (hier die Natur) notwendig zu beziehen. Die Verbindung sei simultan oder sukzessiv, so sind für das gleichzeitige Gegebensein der verbundenen Inhaltsmomente im allgemeinen gleichzeitig, für das sukzessive Auftreten sukzessiv gegebene Bedingungen aufzuweisen; im letzteren Falle wohl auch noch besondere Bedingungen dafür, dass das vorhergehende [121] Moment für das folgende nicht verloren, | sondern bei dessen Auftreten in seiner Wirkung noch vorhanden war; das Vergangene muss eine „Spur“ hinterlassen haben, welche uns im Jetzt das Früher repräsentiert. Gewiss bleibt hierbei gerade das unberücksichtigt, was das Unterscheidende des Zeitbewusstseins, und so allgemein jenes übergreifenden, repräsentativen Bewusstseins, eben ausmacht: dass durch ein jetzt Gegenwärtiges ein nicht Gegenwärtiges, aber ehemals (sei es auch unmittelbar vorher) gegenwärtig Gewesenes bedeutet oder vertreten (repräsentiert) sein soll. Aber das ist überhaupt nicht zu erklären, weil es selbst nicht erscheint; es ist nicht zu objektivieren, weil es selbst die Objektivierung vollzieht. In der Zeit erscheint alles, wie im Bewusstsein, aber die Zeit selbst ist darum keine Erscheinung, so wenig wie das Bewusstsein. Sie geht zwar die Wissenschaft dennoch sehr nahe an, nämlich als Instrument der Objektivierung, als Grundlage der Objektserkenntnis. Aber gerade darin kommt es klar zum Ausdruck, dass die Gegenständlichkeit Schöpfung des Bewusstseins ist und nur für es, ja in ihm besteht. Also handelt es sich nicht um zweierlei Erscheinungen, die auf zweierlei Gegenstände (einen draußen, einen drinnen) zu beziehen wären, sondern um zwei Bedeutungen, um zwei Stufen der Gegenständlichkeit, denen ebenfalls zwei Bedeutungen, zwei Stufen der Subjektivität entsprechen. Allgemein lässt sich sagen: das Mannigfaltige des Bewusstseins vertritt die Erscheinung, das heißt das, was auf den Gegenstand zu beziehen ist, die Einheit des Mannigfaltigen die Gegenständlichkeit selbst. Die Erscheinung wird auf den Gegenstand bezogen, das heißt: ihr Mannigfaltiges wird in Einheit dargestellt. Also ist die „Form“ (diese Einheit) als solche nicht wiederum, als Erscheinung, auf den Gegenstand zu beziehen, sondern es wird allemal nur das auf einer niederen Stufe der Objektivierung so und so
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verbundene (also geformte) Mannigfaltige auf einer höheren Stufe in eine strengere und damit umfassendere Einheit gebracht. Durch den bloßen allgemeinen Gegensatz von Form und Materie, Einheit und Mannigfaltigem ist das Verhältnis des Subjektiven und Objektiven indessen noch nicht hinreichend ausgedrückt, sondern auf das Verhältnis über- und untergeordneter Einheiten kommt es hierbei ganz wesentlich an. Gerade dies aber ist in der Frage bisher so gut wie gar nicht beachtet worden; dies ist also jetzt noch besonders zu betrachten. | [122] §16. Die Vielheit der subjektiven Darstellungen und der Stufengang der Objektivierung. Nur eines hat man gesehen, das sich freilich auch der oberflächlichsten Betrachtung kaum verbergen konnte: die Gegenständlichkeit soll eine sein, sie ist als einzige jederzeit gedacht und gefordert, ja, wie man meint, gegeben; der subjektiven Darstellungen dagegen sind viele, so viele als Subjekte sind, und noch weit darüber hinaus: so viele als Stufen des Bewusstseins oder mögliche Standpunkte der Betrachtung auch für ein und dasselbe Subjekt existieren. Aber die volle, in die Tiefe dringende Erwägung dieses Unterschieds führt gerade nicht auf die starre Zweiheit des Psychischen und Physischen. Der Schein einer solchen vermag sich höchstens so lange zu behaupten, als man hier nur ein unbewegliches Gegenüber sieht und die ganze, geradezu grenzenlose Verschiebbarkeit des Gegenverhältnisses des Subjektiven und Objektiven übersieht, daher auch unterlässt, nach den ja wiederum objektiven Gründen jener Verschiedenheit der Objektsdarstellungen zu fragen. Zunächst wird die Verschiedenheit der Subjekte selbst schlechthin als „gegeben“ hingenommen. Gewiss ist sie empirisch gegeben; aber man sollte endlich wissen, dass alles in solchem Sinne „Gegebene“ Problem ist. Gegeben sein heißt im einzig annehmbaren Sinne: als Problem aufgegeben sein. Von allem aber, was Problem ist, ist, wie schon einmal gesagt, das individuelle Subjekt gewiss nicht das am wenigsten Problematische. Es selbst wird erst konstituiert durch eine schließlich unangebbare Summe von Beziehungen, welche, jede für sich und in ihrem wechselseitigen Zusammenhange, tausendfach bedingt, und zwar objektiv bedingt sind; biologisch zunächst begründet durch den Zusammenhang der Nervenprozesse eines bestimmten Energiekomplexes, des biologischen Individuums, welches selbst wieder ein nichts weniger als unumstößlich fester, sondern starken Schwankungen unterliegender Einheitsbezug ist. Dieser hoch komplexe Erlebniszusammenhang ist jedenfalls nichts Letztes, Fundamentales, sondern selbst ein besonderes, sehr verwickeltes Problem innerhalb des weiten Problemgebietes der Subjektivität überhaupt. Ein Letztes schiene eher das Augenblickserlebnis zu sein; aber auch dieses ist noch kompliziert, es fordert wieder eine Zerlegung bis in seine durch Abstraktion irgend noch herausstellbaren Elementarbestandteile oder
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[123] Momente. Diesen gegenüber – | die unter dem Namen der „Empfindung“
vielmehr gesucht als gegeben sind – bedeutet schon eine hohe Komplexion das Augenblickserlebnis in seiner Ganzheit, eine noch sehr viel höhere, aber der Erlebniszusammenhang „eines“ empirischen Subjekts. Es ist nur eine von unabsehbar vielen möglichen Gestaltungen der Subjektivität, und zwar eine schon weit in der Richtung der Objektivierung vorgeschobene Stufe derselben. Aber das Einzelindividuum – darauf kommt es im gegenwärtigen Zusammenhang besonders an – bleibt wiederum nicht abgeschlossen, isoliert. Sondern wie unter den Einzelerlebnissen „desselben“ Individuums sich eine Einheit erst herstellen muss durch das Wunder der Erinnerung, das eine Art Wechselverkehr zwischen zeitlich entfernten Erlebnissen stiftet, so schließt sich eine neue Einheit, vielmehr unzählige solche, unter den Erlebnissen verschiedener Individuen durch das nicht weniger erstaunliche Wunder der Gemeinschaft; für den jetzigen Gesichtspunkt: Gemeinschaft der Objektsvorstellung, der Objektsbeziehung der Erlebnisse. Es gibt weiterhin typische Darstellungen des Gegenstandes nicht für ein bestimmtes Subjekt oder eine bestimmt begrenzte Mehrheit solcher, die in zufälliger Gemeinschaft stehen, sondern für einen gewissen idealen Durchschnitt unter übereinstimmenden Lebens- und also Erkenntnisbedingungen stehender Klassen von Subjekten, bis schließlich hinauf zur idealen letzten Einheit der Objektsdarstellung für ein im gleichen Sinne ideales „Bewusstsein überhaupt“. Diese kaum übersehbare Mannigfaltigkeit von Objektsdarstellungen mag sich etwa ordnen unter eine allgemeine Unterscheidung sagen wir der Bewusstseinshöhe; ein Unterschied, der psychologisch um vieles bedeutsamer ist als der der Darstellung für verschiedene individuelle Subjekte; denn deren Verschiedenheit wird vielmehr erst definierbar, wenn es gewisse allgemeine Maßstäbe gibt, nach welchen die Individualitäten hinsichtlich der Gestaltung ihrer Objektvorstellungen sich vergleichen und in einem begrifflichen Kontinuum darstellen lassen; nicht anders als man Farben oder Töne in ihrer Bestimmtheit nur feststellen kann im Hinblick auf das Kontinuum der Farben, der Töne. Damit aber sehen wir uns zurückgeführt auf die so oft schon berührte Stufenordnung der Subjektivierungen, die in der Umkehrung der Stufenordnung der Objektivierungen, je nach der [124] sukzessiven Erhöhung des Erkenntnisstandpunkts, entspricht. | Es ist theoretisch denkbar und ideal gefordert, dass ein System der möglichen subjektiven Darstellungen einer gegebenen Objektivität gegeben werde; etwa wie, nach einem von Leibniz gern gebrauchten Vergleich, derselbe Stadtplan verschiedene perspektivische Bilder ergibt für die verschiedenen möglichen Standpunkte, aus denen er sich betrachten lässt12.
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Vgl. Monadologie, 57. Übers.: „Und wie dieselbe Stadt von unterschiedlichen
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Man kann und muss sich die ganze Mannigfaltigkeit dieser möglichen Darstellungen wie durch eine „Transformation“ in erschöpfender Übersicht a priori gebbar denken; auf Grund einer solchen Konstruktion würde dann die Einheit der Objektivität sich für jede mögliche Stufe der subjektiven Darstellung mit Sicherheit herstellen lassen; vielmehr sie stellt sich wirklich durch eine, freilich nur ganz im Rohen vollführte, daher sehr unzulänglich bleibende Konstruktion solcher Art jederzeit her. Ich verständige mich mit dem Andern über ein gemeinsam von uns wahrgenommenes oder vorgestelltes Objekt, indem ich mich in den Standpunkt des Andern „versetze“, ja mich gänzlich in „ihn“ hineindenke, das heißt, mir, so gut oder schlecht es nun gelingen mag, deutlich mache, wie ihm, für diesen seinen Standort, das Objekt sich darstellen muss. Das ist immer Rekonstruktion der Subjektivität, der Darstellung des Objekts für das jedesmalige Subjekt, allerdings von einem allgemeinen Standpunkt und im Interesse der Objektivität, gleichsam zu deren Schutz; aber sie behält ihre volle Bedeutung, ja entfaltet sie erst ganz, wenn von diesem Sicherungswerte für die Objektivität abgesehen und rein die Darstellung, gleichsam die Definition der Subjektivität selbst in ihrer jeweiligen Bestimmtheit, als ein völlig eigenes und positives Problem, eben das der Psychologie, ins Auge gefasst wird. Jener Leibniz’sche Vergleich macht zugleich sinnfällig, inwiefern diese Betrachtungsweise einen Übergang wie in eine neue Dimension bedeutet: man muss über die Ebene, in der der Plan gezeichnet ist, sich erheben, um die möglichen Ansichten desselben erschöpfend geben zu können. Die neue Dimension der Betrachtung besteht deshalb und darin, dass es nicht nur eine Objektivität, sondern eine schließlich unendliche Stufenfolge von Objektivierungen gibt. Man mag einwenden, die Objektivität sei denn doch ihrem ganzen Begriff nach nur eine. – Unstreitig: als einzige ist sie gefordert. Aber hier handelt es sich darum, in welcher Gestalt sie in empirisch konkreter Erkenntnis dargestellt und überhaupt je darstellbar sei. Denkt man sie sich, als einzige, schlechthin sich darstellend, so verschwindet mit | der Vielheit [125] der Darstellungen des Objektiven sofort auch die Vielheit der Subjekte und subjektiven Auffassungen. Es wäre, als absolute Darstellung, auch Darstellung für ein absolutes Bewusstsein, für eine absolute Subjektivität. Die absolute Objektivität also und die absolute Subjektivität würden sich decken; nur weil in der Erfahrung eben nie diese absolute Objektivität, sondern stets nur eine bedingte, und zwar nach einer unendlichen Stufenfolge Seiten betrachtet als eine andere erscheint und wie perspektivisch vervielfältigt ist, so geschieht es auch durch die unendliche Vielheit der einfachen Substanzen, daß es ebenso viele unterschiedliche Universen gibt, die gleichwohl nur die Perspektive eines einzigen sind, je nach den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade.“ – Anm. d. Hrsg.
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der Bedingtheit, sich darstellt und je sich darstellend gedacht werden kann, besteht und bleibt immer bestehen der Gegensatz des Subjektiven und Objektiven, nämlich in der Vergleichung je zweier verschiedener Stufen der Objektsdarstellung, nie dagegen für eine gegebene Stufe. Für jede Stufe aber, auch für die ideal höchste, bleibt immer die Korrelativität von Bewusstsein und Gegenstand. §17. Erweiterung des Korrelativitätsstandpunkts auf die Gebiete des Willens, der Kunstgestaltung und der Religion. Es bleibt als letztes übrig, die Beschränkung der Betrachtung wiederaufzuheben, die darin bestand, dass wir „das Psychische“, wie hergebracht, zunächst nur in Entgegensetzung zum „Physischen“, das heißt zur Objektivierung im Naturgesetz dachten. Diese herkömmliche Beschränkung versteht sich wohl hauptsächlich daraus, dass gerade hier der Gegensatz und der Schein der Getrenntheit des Objektiven und Subjektiven am stärksten ist. Doch gibt es ja über diese eine Art der Objektsbeziehung hinaus, die des zeitbestimmten Seins, jedenfalls noch eine höhere: die des Sollens. Hier am ehesten kann von Koordination die Rede sein: die Welt des Sollens scheint zunächst geschieden von der des zeitlichen Seins, über sie hinausliegend, da der Seinsbezug sich in reiner Abstraktion von allem Sollensbezug begrifflich scheiden lässt, der letztere dagegen den ersteren in jedem Fall voraussetzt, ja einschließt, aber doch wesentlich über ihn hinausreicht. Allein erstens verbleibt doch auch die Beziehung auf den seinsollenden Gegenstand in der gleichen allgemeinen Richtung eben der Gegenstandssetzung. Und zwar beruht die Gegenstandssetzung hier ebenso wie in jenem anderen Bereich auf dem Gesetz; Gesetze sind es, die das Sollen begründen, nicht minder als es Gesetze sind, die das zeitbestimmte Sein konstituieren, und jene zeigen sich in letztem Betracht gleichsam kontinuierlich an diese sich anschließend, aus ihnen hervorwachsend, jedoch [126] sie wie in eine neue Dimension hinein fortsetzend. Im Grunde | wird nur die einschränkende Bedingung des Zeitbezugs aufgehoben, der Einheitsbezug selbst aber über alle zeitliche Auseinanderlegung hinweg festgehalten, in welcher Loslösung er denn freilich nur noch gedanklich, ideell, eben im Sinne des Sollens und nicht des verwirklichten Seins gelten kann. Nun weist einerseits diese neue Richtung oder Dimension der Objektivierung auf eine neue Seite der Subjektivität, und zwar als allen anderen vorgeordnet, also auf einen nur tieferen, radikaleren Sinn auch der letzteren. Dies mag weiterer Untersuchung vorbehalten bleiben; hier kommt es vorerst nur darauf an, dass einerseits die Einheit der Subjektivität gesichert bleibt in und mit der der Objektivität, andererseits die Differenzierung des Sinnes der Subjektivität ebenso notwendig der des Sinnes der Objektivität folgt. Beides verknüpft sich darin, dass die Einheit der Objektivität und also auch die der Subjektivität eben die Einheit auch dieser sehr radikalen, in bestimmtem Sinne wohl letztgültigen Verschiedenheit ist, die sich objektiv
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als die des Seins und des Sollens, subjektiv als die von Vorstellung und Willen oder Strebung ausdrückt. Der Sollensbezug besteht in der Tat nicht ohne den Bezug des zeitlichen Seins, wie auch dieser in Wirklichkeit (trotz der Möglichkeit reinster Abstraktion) nicht ohne den Sollensbezug; die scheinbare Koordination löst sich also auch hier in letzter Erwägung in die strengste Korrelation, und so ist das „Bewusstsein“, seinem vollen Sinne nach, erst durch die entsprechende Korrelation von Seins- und Sollensbewusstsein zureichend zu definieren. „Bewusstsein“, im objektiven Sinne verstanden, meint eigentlich die letzte Vereinigung dieser beiden Grundrichtungen der Objektsbeziehung, und so muss auch die Subjektivität nicht nur beide gleichermaßen, sondern beide zugleich in dieser strengen Korrelativität umfassen. Ohne eine von beiden wäre das Bewusstsein gerade im subjektiven Sinne wiederum in ein abstraktes verwandelt; vielmehr durch ein solches ersetzt, da es eben das letzte Konkrete bedeuten muss. Es gibt also, streng gesprochen, unter psychologischem Gesichtspunkt kein „Bewusstsein“ einer bloßen Empfindung oder Vorstellung oder auch gedanklichen Beziehung, sondern nur ein solches, in dem Vorstellung (oder Gedanke) und Wille (Strebung) ungeschieden eins sind. Und mit diesen auch wohl das, was man als dritte Grundgestalt des „Bewusstseins“ anzusetzen pflegt: das „Gefühl“. Ob dieser Ansatz selbst richtig ist, welche eigene Richtung objektivierender Erkenntnis | ihm [127] entsprechen mag, und was sonst alles hier zu fragen wäre: das kann hier nicht nebenher entschieden werden. Es genügt aber für den augenblicklichen Zusammenhang, anzudeuten, dass wohl der Gegensatz, in welchem die beiden Grundarten der Objektivierung, zum Seienden (im Zeitsinn) und zum Seinsollenden, sich zunächst darstellen, noch irgendeine Vermittlung fordert; diese sei etwa gegeben in der dritten Hauptrichtung der Kulturgestaltung, nämlich der ästhetischen; so fordert diese jedenfalls auch einen subjektiven Ausdruck, der in irgend vergleichbarer Weise Seins- und Sollensbezug auch ihrer subjektiven Grundlage nach, also Vorstellung und Strebung, wird vereinigen müssen. Dieser Ausdruck ist nun schwerlich das „Gefühl“; sicherlich nicht im gewöhnlich verstandenen Sinne der Lust und Unlust; eher möchte es etwas wie Kants „produktive Einbildungskraft“ sein, die von ihm definiert wird durch die „Bewegung“, als „Handlung des Subjekts“, nicht als „Bestimmung des Objekts“ verstanden13; diese mag sich übrigens im unmittelbaren Erlebnis immer zugleich ausdrücken in einem Momente, für welches das Wort „Gefühl“, nach dem die „Ästhetik“ benannt ist, nicht unzutreffend wäre, besonders wenn es erlaubt ist, dies „Gefühl“, mit Cohen, als „Erfühlen“ sich zu deuten14. Dem mag nun sein wie immer; so
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Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 120. – Anm. d. Hrsg. Vgl. Kants Begründung der Ästhetik, S. 394ff. – Anm. d. Hrsg.
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Fünftes Kapitel
kann jedenfalls darüber kein Zweifel obwalten, dass, was am ästhetischen Bewusstsein Objektivierung ist, als solche nicht zur Aufgabe der Psychologie gehört; dass aber sicher auch der Psychologie daraus die Aufgabe erwächst, zu dieser neuen Richtung der Objektivierung auch ein eigenes Moment der Subjektivität, als Bewusstseinsgrundlage zu dieser Objektivierungsart, nachzuweisen. Zweifelhaft mag erscheinen, ob auch das religiöse „Bewusstsein“ im gleichen Sinne bloß ein subjektivierender Ausdruck einer wiederum neuen und vielleicht erst der höchsten Objektsbeziehung sei; wobei übrigens die Frage, ob diese neue Objektivierungsart eine reelle oder bloß ideelle, ja wohl gar fiktive sei, nicht entscheidend ins Gewicht fiele. Bloß ideell ist die Objektsbeziehung in letzter Betrachtung auch für den Willen, und das Ideelle scheint schon zum Fiktiven sich zu steigern in der künstlerischen Objektivierung, ohne dass damit ihr Objektscharakter überhaupt zweifelhaft würde; so oder irgendwie dem ähnlich könnte es auch mit dem religiösen Bewusstsein sich verhalten. Das alles kann aber hier weder als anderweitig erledigt angenommen noch nebenher erledigt werden, muss also als bloße [128] Frage stehen bleiben. | Schließlich aber darf die Psychologie auch nicht bei einer letzten Mehrheit subjektiver Grundlagen, wohl gar einer beziehungslosen Mehrheit stehen bleiben, sondern es wird diese Mehrheit in einem letzten Einheitsbezug sich zusammenschließen müssen, durch den dann erst die ganze und reine Subjektivität zur Definition gebracht sein wird. Aber diese letzte, konkreteste Einheit haben wir nicht schon voraus, wenn Haben Erkannthaben, Gegebensein für die Erkenntnis bedeuten soll; sondern sie zu rekonstruieren ist gerade erst die Aufgabe. Nur die Vorbedingungen dazu liefert die gesonderte Herausstellung der unterschiedlichen Gesetzlichkeiten, auf denen der Erfahrungsgegenstand, der Gegenstand des Willens, der Gegenstand der ästhetischen Gestaltung und die wenn noch so fragliche, aber wenigstens als Problem zweifellos existierende Gegenstandssetzung der Religion beruht, sowie selbst die Nachweisung je besonderer subjektiver Grundlagen für jedes von diesen. Solange man sondert, verbleibt man letzten Grundes noch in der objektivierenden Richtung der Erkenntnis, selbst wenn die Sonderung nicht mehr unmittelbar die Objektivierung, sondern die Art der subjektiven Grundlagen für die mancherlei Richtungen der Objektivierung betrifft, also auf Psychologie unzweifelhaft hinzielt. Aber man steht insofern wenigstens noch nicht bei dem letzten Unmittelbaren des Erlebnisses; man tut im Grunde noch das Gegenteil dessen, was die Psychologie zu ihrer eigentlichsten Aufgabe hat: Wiederherstellung der ganzen Konkretion des Erlebten. Mit diesen absichtlich ganz im allgemeinen verbleibenden Erwägungen muss es für diese Stelle sein Bewenden haben; denn es sind zu viele und schwierige Fragen auf diesem Felde bisher noch ungelöst, als dass es fruchtbar
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sein könnte, diese ohnehin bloß präliminare Betrachtung auf dies ganze weite Problemgebiet auszudehnen. Genug dass gleichsam die Brücke zu ihm hinüber geschlagen, und dass die Durchführbarkeit unserer These für den ganzen Umfang des Bewusstseins wenigstens im Allgemeinen absehbar geworden ist. Durch diese Betrachtung aber ist uns nunmehr der Weg gebahnt, dass wir zur Formulierung der wesentlichen positiven Voraussetzungen für die Aufgabenbestimmung der Psychologie jetzt fortschreiten dürften. Vorher mag indessen eine historische Beleuchtung der bis hierher gewonnenen Ansicht nach ihrer allgemein philosophischen, d. i. systematischen Bedeutung wohl am Platze sein. | [129]
Sechstes Kapitel
Die Korrelativität der Subjekts- und Objektsbeziehung. Historischer Rückblick §1. Der Grundgedanke der Korrelativität der Subjekts- und Objektsbeziehung. Zwei Punkte sind durch die bisherige Untersuchung zu hinreichender Klarheit gekommen. Es liegen überhaupt nicht zwei einander parallele Reihen oder Ordnungen von Phänomenen vor, sondern es ist eine und dieselbe Erscheinung einerseits Erscheinung für ein Bewusstsein, andererseits Erscheinung des Gegenstandes. Das Dasein für ein Ich ist nicht ein neues Faktum, das zum Dasein der Erscheinung als Erscheinung des Gegenstandes hinzuträte, sondern eben als Erscheinung ist sie nur da, sofern sie erscheint, das heißt, für jemanden da ist. Umgekehrt ist das Dasein der Erscheinung als Darstellung des Gegenstandes nicht ein neues Faktum, das zum Dasein derselben als Erscheinung für ein Ich erst hinzuträte, sondern wiederum als Erscheinung ist sie für ein Ich gar nicht anders da, als sofern ihm darin der Gegenstand, auf irgendeiner Stufe der Vergegenständlichung, sich darstellt. Eine und nicht zweifach – „psychisch“ und „physisch“ – ist aber auch die Gegenständlichkeit, auf welche die Erscheinung zuletzt bezogen wird. Wenn nur eine (letzte) Erscheinung und nur eine (letzte) Gesetzlichkeit der Gegenstandsbeziehung ist, woher sollte eine zweifache Gegenständlichkeit wohl kommen? Dagegen bleibt immer diese letzte Zweiheit eben von Erscheinung und Gegenstand. Diese hat man eigentlich im Sinn, wenn man sich eine Zweiheit sei es der Erscheinung oder der Gegenständlichkeit oder beider denkt. Die vermeinte Dualität der Wirklichkeit, sei es der erscheinenden oder der realen, löst sich gänzlich auf in die freilich durch keinen Fortgang der Erfahrung aufzuhebende, weil diesen Fortgang selbst bedingende Dualität von Erscheinung und Gegenstand, deren Unterschied und Verhältnis beruht auf dem Gegensatz und der Wechselbeziehung des in sich grenzen- und bestimmungslosen „Mannigfaltigen“ | und des- [130] sen Begrenzung und Bestimmung zu jener „Einheit“ der Auffassung, welche den Begriff, das Gesetz und darin den Gegenstand konstituiert. Diese von Plato schon geahnte, von Kant tiefer erkannte, obwohl nicht auch in durchweg strenger und haltbarer Gestalt durchgeführte
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Sechstes Kapitel
Zweiseitigkeit der Beziehung der Erscheinung ist also nicht wegzubringen; aber sie hindert nicht, sondern bedingt gerade, dass die Erkenntnis der Erscheinung, zunächst verstanden als Naturerkenntnis oder als „Erfahrung“ in Kants Sinne, eine ist. Eins und unentzweit ist das Gebiet der zu objektivierenden Erscheinungen, eine und ursprünglich zusammenhängend die unmittelbare Ordnung der Erscheinungen in Zeit und Raum, den beiden, unter sich wiederum unlöslich verknüpften Grundformen unmittelbarer Vergegenständlichung; eine und nicht zweifach die über Zeit und Raum übergreifende, ewige, allgegenwärtige Ordnung der Gesetze. Dieser „Monismus“ unterliegt nicht dem Verdacht einer die Bedingtheit unserer Erkenntnis überfliegen wollenden Spekulation, er bringt vielmehr gerade diese Bedingtheit selbst auf ihren bestimmtesten Ausdruck. Er ist nicht transzendent, sondern immanent; es ist der Monismus der gegenständlichen Erkenntnis selbst, der Monismus der Erfahrung, wie Kant ihn, nach bloß theoretischer Seite, ausspricht in dem Satze der Kritik: „Es ist nur eine Erfahrung, in welcher alle Wahrnehmungen als im durchgängigen und gesetzmäßigen Zusammenhange vorgestellt werden; ebenso, wie nur ein Raum und Zeit ist, in welcher alle Formen der Erscheinung und alles Verhältnis des Seins oder Nichtseins stattfinden.“1 Man kann es auch so ausdrücken: es ist nur eine gegenständliche Wahrheit, nur eine Objektivität unserer (zunächst immer theoretischen) Erkenntnis. Denn das ist überhaupt der Begriff des Gegenstandes: die notwendige Einheit, in der alle auf ihn bezogene Erscheinung sich zusammenfasse. Diese Einheit des Gegenstandes wird konstituiert durch die Einheit des Gesetzes; Bedingungen derselben sind die Einheit der Zeit und des Raumes. Diese Einheit des Gegenstandes (nämlich der „Natur“), als identisch mit der der „Erfahrung“, darf auch nicht bloß als unendliche Aufgabe oder regulative Maxime, sondern muss als konstitutiver Grundsatz der Erfahrungswissenschaft, als ihr oberster Grundsatz ausgesprochen werden. Erfahrung als Wissenschaft, als Erkenntnis des Gegenstandes, besteht nur in Kraft dieser Voraussetzung; irgendeine [131] Auf|stellung, vollends eine Methode, welche diesem Grundsatze zuwiderliefe, würde sich damit außerhalb der „Möglichkeit“ einer „Erfahrung“ überhaupt stellen. § 2. Nähere Bestimmung des Korrelativitätsprinzips. Indessen bedarf diese These, die soweit nur das Reinergebnis der Kantischen Grundlegung der Erfahrungstheorie ausspricht, einer doppelten Ergänzung. Erstens denkt sich Kant die objektive Einheit der Erfahrung noch zu sehr als fertig gegeben, wenigstens in ihrer Gesetzesform überhaupt geschlossen, nämlich in dem „Faktum“ der Euklidischen Mathematik und der Newton’schen Naturwis-
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Kritik der reinen Vernunft, A 110.
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senschaft sicher vorliegend. So sieghaft klar namentlich im letzten Resultat seiner Kritik der „unendlichferne“ Ausblick, die Idee im bestimmtesten Sinne der unendlichen Aufgabe sich auftut und damit das idealistische Grundmotiv dieser Kritik sich enthüllt, so wird dennoch mit dieser Unendlichkeit wenigstens in der Richtung nicht ganzer Ernst gemacht, dass die Objektivierung der theoretischen Erkenntnis überhaupt sich in einer beiderseits grenzenlosen Stufenordnung aus dem Unendlichen ins Unendliche vollzieht. Das „Faktum“ der Wissenschaft, auf welches die kritische Arbeit der theoretischen Philosophie ein für allemal bezogen und sicher gegründet zu haben das unvergängliche Verdienst Kants ist, wurde von ihm selbst nur noch viel zu eng in der bestimmten, gerade damals vorliegenden Gestalt des Euklid-Newton’schen Systems der mathematischen Naturwissenschaft, noch nicht mit ganzer Klarheit und Freiheit als immerfort wirkender, auf keiner gegebenen Stufe vollendeter oder je vollendbarer Prozess ins Auge gefasst. Dagegen ist die Philosophie gerade Kant verpflichtet für die andere, weitführende Einsicht, durch die unser Ergebnis erst vervollständigt und zu seiner letzten Klarheit gebracht wird: dass überhaupt nicht im Naturerkennen allein das Ganze des Prozesses der Objektivierung beschlossen liegt. Sondern über dem Naturreich baut erst das Reich der Zwecke sich auf. Aber das allgemeine Verhältnis von Erscheinen und Sein ist in diesem kein anderes als im Naturreich. Dem Erlebnis des Subjekts treten auch hier die Objektivierungen verschiedener Art und Stufe gegenüber; zunächst praktische „Ideen“, Gesetze nicht des Seins, sondern des Sollens, des Rechts, der sozialen und individualen Sittlichkeit, und was irgend von dieser Ordnung sein mag; ein Subjektives und ein Objektives also, in gleich strenger Einheit der Wechselbeziehung | in praktischer Erkenntnis einander [132] bedingend, wie Erscheinung und Gesetz der Natur in der theoretischen. In letzter Betrachtung aber kann die Subjektivität auch wiederum nicht in diese Zweiheit, nach gewöhnlicher Fassung von „Vorstellung“ und „Willen“, oder irgendeine Dreiheit oder Vierheit von Urgestalten auseinanderfallen, sondern es wird auch unter diesen verschiedenen Grundrichtungen, welche und wie viele ihrer nun sein mögen, eine ebenso strenge Wechselbezüglichkeit auf subjektiver Seite gelten müssen, wie sie andererseits die objektiven Gesetzlichkeiten des Sollens und des Seins im Erfahrungssinne, der Teleologie und der Kausalität, oder wie sonst es zu formulieren sein mag, zu einer letzten Einheit zusammenschließt. Leibnizens Forderungen der „Harmonie“ ist auch hier, gewiss ganz im eigenen Sinne Leibnizens, zu vertiefen zu der eines letzten, wenigstens ideellen Einheitsbezugs. Dieser weist aber dann zwingend zurück auf eine Ureinheit aller Grundrichtungen des Bewusstseins gerade im letzten, radikalsten Grunde der Subjektivität, den wir mit dem Worte „Erlebnis“ vorläufig bezeichnen.
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So rechtfertigt sich in jeder Richtung der uralte und unzerstörliche Einheitszug der Philosophie, der Zug des „Monismus“. Aber er muss „methodischer“ Monismus werden, d.h., die geforderte Einheit liegt nicht vor, sei es in einem Ding aller Dinge oder einem Zweck aller Zwecke, oder einem letzten Absoluten, welches, wie der Gott des Aristoteles, irgendwie dies beides und überhaupt alles, was in den letzten Gründen des „Seins“ wurzelt, in Einem wäre; sondern sie ist ganz schlicht und präzis zu verstehen als Einheit der Methode, d.i. des Ganges, des ewigen, gesetzmäßigen Fortgangs der Erkenntnis; als Einheit von Beziehungen unter einem letzten, übergreifenden Bezug; einer Einheit, welche die Mannigfaltigkeit, die schließlich unbegrenzbare Mannigfaltigkeit der sich ihr unterordnenden Beziehungen nicht aufhebt im Sinne des Zunichtemachens, sondern in sich zusammenfasst oder vielmehr ursprünglich aus sich hervorgehen lässt (sie aufhebt im Sinne der Hinaufhebung und Erhaltung); welche eine Entwicklung in einen unerschöpflichen, einen ewigen „Gang“ des Werdens, eine „Methode“, und damit in diese ganze, ewig werdende Welt, vielmehr diese Welt von Welten (des Sollens, des Erfahrungsseins, und welche weiteren Differenzierungen es noch geben mag) nicht nur offenhält und erlaubt, sondern bedingt und [133] notwendig macht und, da alles | letzte Bedingen gegenseitig sein muss, sie wiederum als ihre eigene konstituierende Bedingung in sich schließt. Dies System unendlich sich entwickelnder Beziehungen aber durchwaltet als letzter Grundgegensatz der von Vermannigfaltigung (Differenzierung) und Vereinheitlichung (Integrierung). In diesem wurzelt und besteht eigentlich der Gegensatz von Subjektivität und Objektivität; nicht als der von Bewusstsein und Nichtbewusstsein, denn Bewusstsein ist alles; sondern des engeren, des Sonderbewusstseins, und des weiteren, übergreifenden, des Kantischen „Bewusstseins überhaupt“. Zwar stellt sich uns der umfassendere Bezug – weil wir, zufolge der zufälligen Beschränkung unseres Bewusstseinsumfangs, ihn nicht auszufüllen vermögen – als der leerere, inhaltsärmere dar; an sich aber brauchte in dem umfassenderen, und so auch in dem letzten, über alles übergreifenden Bezug von dem Inhaltsreichturn, der uns nur im engeren Bezug des jeweiligen Sondererlebnisses voll bewusst wird, nichts verloren zu gehen, darf nichts verloren gehen; das Gesetz enthält doch „an sich“ die Allheit der konkreten „Fälle“ unverkürzt; ja auch die Mehrheit, die Unendlichkeit der möglichen Sonderansichten, wie sie je nach Wahl des Standorts sich ergeben müssen, ist an sich durch den übergreifenden Bezug nicht ausgeschlossen, sondern, nur eben nicht mehr als gesondert, sondern in der Totalität ihres Zusammenhanges, vielmehr eingeschlossen zu denken. So ist nicht nur Alles Bewusstsein, sondern es ist auch alles Bewusstsein Eins, nur in dieser Einheit zugleich unendlich differenziert, so dass in letzter, idealer Ansicht jede wechselseitig negierende Gegenstellung von Objektivität und Subjektivität allerdings entfiele. Aber erstens bleibt selbst in dieser Idealansicht der Richtungsgegensatz, den wir als den der
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Integration und der Differentiation soeben bezeichneten, immer bestehen; und dann ist diese letzte, absolute Einheit eben uns nicht gegeben, sondern was uns vorliegt, ist nur der ewige Marsch der Erkenntnis, den wir Erfahrung nennen, der aber ebenso wohl nach der einen Seite zu verstehen ist als Bewegung zu dem unendlichfernen Ziele jener letzten Einheit, wie andererseits als unendliche Differenzierung. So aber: als Ziel, das die Richtung des unendlichen Weges bestimme, liegt sie in der Tat immer zugrunde; sie ist, wenn schon das „für uns“ Letzte, doch das „an sich“ Erste. Ihr zufolge ist die Richtung jenes Marsches ursprünglich und unaufheblich eine; welche Richtungseinheit gleichsam als ihren Plus- | und Minussinn in sich schließt [134] die beiden „Sinne“ der Vereinheitlichung und der Vermannigfaltigung, der Integration und der Differentiation, und das heißt: der Objektivierung und der Subjektivierung. §3. Die Konkretheit des Erlebnisses als Resultat der Wechselbezüglichkeit. Diese Selbstbesinnung also ist die große Errungenschaft, für welche die Psychologie der kritischen Philosophie zu Dank verpflichtet ist, die aber in der Psychologie selbst bisher noch am wenigsten fruchtbar gemacht und in ihre Konsequenzen entwickelt worden ist. Einzig in der „Methode“, im ewigen Fortgang der Erkenntnis gibt es, jedenfalls für uns, ein „Sein“, wird die Aussage des Seins überhaupt für uns verständlich. Die Illusion eines in sich abgeschlossenen und bestimmten, und nun rückwärts die Wegrichtung der Erkenntnis erst bestimmenden Seins ist nicht mehr möglich, nachdem der Prozess der Erkenntnis selbst auf diese ihm immanente Unendlichkeit sich erst ganz besonnen hat. Für sie ist ganz ernstlich2 „der Weg alles, das Ziel nichts“. Mit dieser Einsicht wird Philosophie erst der Fülle des Lehens und damit der Forderung des Begriffs Seele oder Bewusstsein gerecht. Ein erreichtes oder auch nur erreichbar gedachtes – das hieße: endliches – Ziel des Strebens, in dem das Bewusstsein überhaupt nur lebendig ist, würde diesem Streben selbst und damit eben dem Leben, der Seele, dem Bewusstsein ein Ende setzen, es vernichten. Diese Unendlichkeit liegt aber von Anfang an im Begriff des Strebens, welches als solches ja Richtung besagt: eine Richtung besteht (wie oft gesagt) als solche ins Unendliche fort. Also führt gerade der Standpunkt der „Methode“ recht in die Fülle des Lebens hinein und nicht, wie man bisweilen gefürchtet hat, aus ihm heraus in die leere Abstraktion eines bloßen Gedanken-Seins. Der Abstraktionen bedarf freilich die Wissenschaft, gerade um die volle Konkretheit des „Lebens“, so wie dies überhaupt möglich ist, zu Begriff zu bringen; keine Wissenschaft kann der Abstraktion entraten, am wenigstens die Philosophie. Aber ihre Abstraktionen wollen, ebenso wie die der konkreteren Wissenschaften, zuletzt nicht Trennungen
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Vgl. Philosophie, ihr Problem und ihre Probleme, S. 34 f.
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bedeuten, sondern nur die notwendigen Diskretionen vollführen, die gerade bezwecken, die Kontinuität des durchgängigen, unendlich sich entwickelnden Zusammenhanges und Wechselbezugs zu Begriff zu bringen. Denn für uns ist freilich das Kontinuierliche nur vom Diskreten, das [135] Unendliche nur vom Endlichen aus zu fassen und | zur Definition zu bringen. In solcher „Begrenzung des Unbegrenzten“ besteht überhaupt alle uns mögliche Erkenntnis; nur ein absolutes Bewusstsein möchte ihrer entraten können. Wenn also in diesen beiden Grundmerkmalen: der allgemeinen Wechselbezüglichkeit und der unbeschränkten Entwicklungsmöglichkeit, eben das sich wissenschaftlich darstellt, was man als Leben und Tat, als Reichtum und Fülle des Erlebens gegenüber der Leere, Armut und Totenstarre solcher Abstraktionen, die wirklich und dauernd nur Trennungen bedeuten sollten, mit Recht verlangt, so ist klar, wie in eben jenen Merkmalen die Aufgabe der Psychologie bestimmt sein muss, wenn anders das Erlebnis in seiner konkreten Fülle zu Begriff, die Psyche zum Logos zu bringen ihre Forderung ist. Dagegen beruhen alle fundamentalen Irrungen, wie der Philosophie überhaupt, so besonders der des Bewusstseins, der Psyche, darauf, dass man aus Abstraktionen Trennungen macht. So denkt man sich, statt der in unendlicher Stufenfolge sich entwickelnden Wechselbeziehung der Objektivierung und Subjektivierung, eine starre Objektivität und eine starre Subjektivität und einen ebenso starren Bezug zwischen beiden. So zerfällt dann das lebendige Sein in den entseelten Körper und die entkörperte Seele, in die entgeistigte Natur und den der Natur entfremdeten Geist; so treten in feindlichem Gegensatz auseinander die Natur und die sittliche Welt, Verstand und Wille und so fort; wo überall die tiefer dringende Besinnung nur durchgängige Wechselbeziehung, nichts von starrer Scheidung zu erkennen vermag. Durch diese Erwägung fällt helles Licht auf die wechselreiche Geschichte des Problems der Psyche, auf welche vom Standpunkte der bis dahin klar gewordenen Grundposition der kritischen Psychologie nochmals einen Blick zu werfen hier die geeignete Stelle ist. §4. Die Eleaten und Protagoras. Die äußerste Starrheit dualistischer Gegeneinanderstellung des Objektiven und Subjektiven zeigt der erste Anfang der abendländischen Spekulation über Sein und Erkennen, die dennoch, gerade in der unerbittlich schroffen Fassung aller Probleme hochbedeutsame Lehre des Eleaten Parmenides. Sie kennt nur das Eine, unbeweglich Ruhende, Absolute, welches allein wahrhaft und schlechthin „ist“, und diesem gegenüber das vielgespaltene, ruhelos bewegte, relative, sich so nennende Sein, das nur in unserem, der Menschen trügerischem Wähnen [136] existiert; ein reines, absolutes Nicht|sein, welches aber dennoch als Faktum für diese trügerische Meinung, in ihr unleugbar und hartnäckig vorhanden ist und sich nicht wegphilosophieren lassen will, mit dem darum sich irgendwie
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abzufinden Parmenides selbst (im zweiten Teil seines Lehrgedichts3) sich doch herbeilassen muss. Kein Wunder, dass alsbald Protagoras die offenbar unhaltbare Antithese kurzerhand umkehrt und in kaum minderer Schroffheit das Gegenteil zu verfechten wagt: das Absolute ist nicht, sondern es gibt nur die grenzenlose, ewig wechselnde Bezüglichkeit des Erscheinens. An diesem übrigens stellt nun schon, wie sehr immer in bloßer tastender Ahnung, die Tatsache der Korrelativität des Subjektiven und Objektiven sich deutlich heraus: das Subjekt und das Objekt, Ich und „meine“ Erscheinungen, beide sind jederzeit und aufs strengste aneinander gebunden (λλªλοισ συνδεδ¢σqαι4); nur für ein jeweiliges Subjekt (Wahrnehmendes) gilt und existiert überhaupt die jeweilige Objektsbestimmung (das wahrgenommene, nämlich bezügliche, auch in seinem Subjektsbezug selbst von Moment zu Moment wechselnde „Sein“); aber auch das Subjekt „ist“ ganz und gar nicht für sich, sondern es hat wiederum nur in den ewig wechselnden und bezüglichen Objektsvorstellungen sein ebenso wechselndes, bezügliches „Sein“. Mögen auch diese merkwürdig scharfen Formulierungen nicht dem Protagoras selbst, sondern dem Berichterstatter, Plato, auf Rechnung zu schreiben sein, doch wird er recht gesehen haben, dass dem Protagoras, da er ja von den Eleaten herkam und seine Sätze den ihrigen entgegenstellte, es der Sache nach so vorschwebte, nur so vorschweben konnte. Eben Plato vermochte ihn in dieser Tiefe zu verstehen, weil aus seiner unvergleichlich klareren Einsicht nur so die tastenden Ahnungen des Vorgängers sich zurechtlegen ließen. Die Überlegenheit seiner Ansicht aber liegt (wie wir schon sahen) zunächst darin, dass er nicht an dem isolierten Augenblickserlebnis des jedesmaligen Subjekts haften bleibt, sondern die in sich grenzen- und bestimmungslose Mannigfaltigkeit der Momenterlebnisse „in eine Einheit, heiße sie nun Seele (= Bewusstsein) oder wie immer“, und damit zugleich die Mannigfaltigkeit des Erlebnisinhalts, des Erscheinenden, sich zusammenfassen lässt in objektive Einheiten: in die Objektsbestimmungen, wie eben die Erkenntnis sie nach einer unwandelbaren Gesetzlichkeit ihrer selbst vollzieht5. Ohne solche Einheit des Bewusstseins und andererseits des Gegenstands erreicht in der Tat weder das Bewusstsein noch der Gegen|stand, noch [137] die Wechselbeziehung beider einen präzisen, wissenschaftlich fassbaren Sinn; wie denn Plato in aller Schärfe gegen Protagoras beweist, dass ohne diese Zusammenfassung zur Einheit weder ein Jemand noch ein Etwas, weder ein Wahrnehmender noch ein Wahrgenommenes, also weder ein Subjekt noch ein Objekt sein würde. Ganz vermag das auch der moderne
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Vgl. Fragmente 2–8 (Diels/Kranz). – Anm. d. Hrsg. Platon, Theaitetos 160b. 5 Natorp paraphrasiert hier Platons Parmenides; vgl. hierzu auch Platos Ideenlehre, S. 221–278 (Kap. 7, „Parmenides“). – Anm. d. Hrsg. 4
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Positivismus, wie ihn etwa Ernst Laas6 in enger Anlehnung an Protagoras durchzuführen strebte, nicht mehr zu verkennen. Zwar soll noch immer alles Bewusstsein wenigstens in seinem letzten Ursprung einzelne Wahrnehmung sein; auch alle Objektsbeziehung würde damit in die Subjektivität des Wahrnehmens sich auflösen; aber wenigstens in wirkliche und mögliche Wahrnehmungen. In dieser „Möglichkeit“ ist aber die übergreifende Einheit des Gesetzes stillschweigend vorweggenommen, der Standpunkt der gegebenen Wahrnehmung also – ungewollt, ja in Widerspruch mit der sensualistischen Grundabsicht – verlassen. § 5. Plato. Während aber der Sensualismus das Psychische ausschließlich in die Wahrnehmung bannen möchte – es nur eben nicht fertig bringt, sondern einen über sie hinübergreifenden Bezug wider Willen doch anzuerkennen genötigt wird, entdeckt Plato gerade den tieferen Sinn der „Psyche“, des Bewusstseins, in jener übergreifenden Einheit, in der das Mannigfaltige der Wahrnehmungen, möchte es immerhin an sich „gegeben“ sein, doch erst sich vereinigen, auf die es zusammenstreben, gemeinsam tendieren muss (συντεºνει7), um überhaupt zum Bewusstsein zu gelangen. Denn ohne sie bliebe es ein schlechthin Unbestimmtes (πειρον); erst in der Einheit. des Bewusstseins, welche die Wurzel des Denkens ist, erreicht es überhaupt irgendwelche Bestimmtheit. So wird jetzt gerade jene Einheit, welche das Sein der Erkenntnis, also die Objektivität konstituiert, zum prägnantesten Ausdruck der Psyche, also der Subjektivität des Bewusstseins. Es ist klar, wie damit die starre Gegenstellung des Subjektiven und Objektiven eigentlich schon radikal überwunden ist. Es muss aber wohl dieser Prozess der Vereinheitlichung, die in der Umkehrung ebenso wohl Vermannigfaltigung ist, als „Begrenzung des Unbegrenzten“, selbst ein unendlicher, und zwar nach beiden Richtungen unendlicher werden, womit jede Möglichkeit einer Absolutsetzung sei es des Objektiven oder des Subjektiven der Sache nach ausgeschlossen ist. Hätte Plato seine Reflexion [138] in voller Bestimmtheit auf diese letzte aller philo|sophischen Fragen gerichtet, er hätte die sonst von ihm doch vertretene dualistische Entgegensetzung des Seelischen und Leiblichen völlig überwinden müssen. Auch so kommt er ihrer Aufhebung manchmal überraschend nahe. Das Leibliche soll sich decken mit dem Sinnlichen, Werdenden, Bezüglichen; dieses aber löst sich in letzter Betrachtung ihm gänzlich auf in die unendliche Entwicklung eben der Beziehungen, welche – die Idee setzt; womit zugleich deren, anfangs noch in fast eleatisch starrer Absonderung gedachtes „Sein“ sich auch seinerseits auflöst in diese selbe Unendlichkeit sich entwickelnder Beziehungen, in denen das Sein, das als solches freilich Einheit bedeutet, in die unendlichfach 6 7
Vgl. Ernst Laas, Positivismus und Idealismus. – Anm. d. Hrsg. Platon, Theaitetos 184d.
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unendliche „Erscheinung“ sich entfaltet. Die Erscheinung – also das Subjektive – ist so fortan gar nicht mehr ein Gegensatz des Seins, sie hat den eleatischen Sinn des absoluten Nichtseins und daher Wahns und Trugs gänzlich abgestreift, sie stellt vielmehr dar ein „Werden zum Sein“; ein Begriff, in welchem in unwidersprechlicher Deutlichkeit die anfänglich schroffe, letzte Entgegensetzung, in der von den Eleaten an zugleich die des Subjektiven und Objektiven sich ausprägte, überwunden ist: das Sein schließt das Werden jetzt so wenig aus, dass es selbst nur sein jeweiliges Resultat, das Werden seine Bedingung, aber freilich wiederum nichts für sich, sondern auf das Sein von Haus aus, seinem ganzen Sinn und Begriff nach gerichtet ist. So wird die „Seele“ zum vollen Sein erst erhoben, damit zugleich das Sein beseelt. Das Sinnlichste des Erlebnisses sogar, das Erscheinen selbst wird zum notwendigen und gleichwertigen Gegenglied der Wechselbeziehung, in der überhaupt nur das Sein sich entfaltet. Und so sind nun in der Tat, wie Plato es, in allerdings zu enger, weil ausschließlich sinnlicher Wendung, bei Protagoras dennoch vorgeahnt finden konnte, Subjekt und Objekt streng „an einander gebunden“, auf einander bezogen, Eins nur mit dem Andern, nicht starr und unveränderlich „seiend“, sondern ewig „werdend“, aber „zum Sein“ werdend zu denken. Als Tendenz jedenfalls liegt es bei Plato so vor, wenn auch vielleicht nicht als so abgeklärtes Reinergebnis, wie es hier formuliert wurde. Denn allerdings bleiben neben den genialen Wendungen, die diese Denkrichtung unwidersprechlich erkennen lassen, andere stehen, welche beweisen, dass wenigstens in der Grundstimmung Platos die alte dualistische Auffassung, die namentlich von Sokrates her ihm überkommen und auch aus religiösen Motiven tief in ihm gewurzelt war, sich immer daneben | behauptet und oft genug vorwaltet. In der Geschichte [139] hat Plato mehr durch diese als durch jene tiefere Einsicht gewirkt, so dass für die herrschende Vorstellung nicht ganz ohne inneres Recht Platonismus gleichbedeutend wurde mit Dualismus. § 6. Descartes. In mancher Hinsicht ähnlich wie mit Plato verhält es sich mit Descartes. Auf den ersten Blick und gewiss auch nach seiner vorwaltenden Gedankenstimmung vertritt er einen so starren Dualismus wie Plato. Dennoch ist auch jene andere, zuerst in Plato sich ankündigende Tendenz auf einen korrelativen Monismus ihm nicht fremd geblieben. Schon früher (Kap. I) wurde darauf hingewiesen, wie in der Voranstellung des „Ich denke“ eben die allem Bewusstsein, mithin aller Gegenstandsbeziehung zugrundeliegende Beziehung auf das Ich anerkannt wurde als schlechthin erste, grundlegende Gewissheit, als Angelpunkt aller Erkenntnis, als allein fester Punkt für die Metaphysik, vergleichbar dem festen Standort, den Archimedes für sich forderte, um von ihm aus die ganze äußere Welt zu bewegen. Aber als nicht minder von jeder Vorstellung untrennbar wie die Ichbeziehung gilt ihm die Gegenstandsbeziehung. Denn in der
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Vorstellung (idea) als solcher liegt ebenso wesentlich, dass sie Vorstellung von Etwas ist, dass sie den Gegenstand vorstellt (rem repraesentat), wie dass sie „gedacht“ ist, d. h. in einem Bewusstsein sich darstellt. Vor allem aber ist die Gegenstandsbeziehung selbst ihm rein Sache des Denkens und bedeutet andererseits das „Ich denke“ ihm zwar im weiten Sinne alles Bewusstsein, vorzugsweise aber doch den „Verstand“, der das Objekt erkennt. Der Einheitsbezug im Denken des Verstandes ist es genau, der die „Sache“, die „Substanz“ (die ausgedehnte wie die denkende) und somit überhaupt das Objekt der Erkenntnis erst darstellt. Denn auch der äußere Gegenstand, auch das Außen selbst ist ihm nicht schlechthin gegeben, sondern wird gedacht, kann nur gedacht werden, gerade weil es nicht selbst Denken, sondern ihm gegenüber ein schlechthin Anderes sein, dennoch aber ihm gelten soll. Gegeben ist allenfalls, unter dem Namen der „Ausdehnung“ (extensio), eine Grundlage des Außenbezugs, den doch nur das Denken des Verstandes, und zwar des mathematischen Verstandes, vollziehen kann, indem es der „Imagination“ (gegebenen Bildvorstellung) des äußeren Gegenstandes die „Intellektion“ (das reine Verstandesdenken des wissenschaftlichen Gegenstandes doch als eines äußeren) substituiert8. Die „Ausdehnung“ [140] spielt hierbei | eine Rolle nah verwandt der des „Raumes“ (χâρα) bei Plato9, der in ähnlich rätselhafter Stellung, als denkverwandte und doch nicht aus reinem Denken stammende, dem Denken der Außenwelt jedoch unweigerlich zugrundeliegende Bedingung, eine schwer zu behauptende Mittelstellung zwischen Sinnen und Verstand einnimmt. Das aber ist bei Descartes eigentlich der letzte Halt des Dualismus, der sonst von allen Seiten sich aufzulockern beginnt und wenigstens bis soweit schon von Descartes selbst aufgelöst wird, dass trotz der behaupteten strengen „Distinktheit“ der „Attribute“ des Denkens und der Ausdehnung die Modifikationen beider streng und notwendig zusammengehen sollen, an jeder Erscheinung daher der doppelte Bezug möglich und notwendig ist auf den körperlichen Vorgang einerseits, das Erleben des Subjekts andererseits. §7. Spinoza, Malebranche, Leibniz. Von solchem „Parallelismus“ war aber nur noch ein Schritt zum Identitätsstandpunkt, der denn auch bei den Nachfolgenden deutlicher und deutlicher, und zwar als unmittelbare Fortentwicklung eben der Descartes’schen Position, am bestimmtesten bei Spinoza erreicht wird. Zwar ist für eine ernstere metaphysische Erwägung die eine Substanz mit den zwei toto genere verschiedenen Attributen (Ausdehnung und Denken) wahrlich keine befriedigende Lösung. Wie können denn zwei toto genere verschiedene Attribute doch auf eine Substanz 8 Natorp paraphrasiert hier Descartes’ 1. Meditation, v. a. Abschn. 6. – Anm. d. Hrsg. 9 Nach Platons Timaios. – Anm. d. Hrsg.
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bezogen werden? Was unterscheidet denn Substanzen, wenn nicht das „wesentliche“ Attribut? Aber was vorschwebt, ist ersichtlich die Einheit des Gesetzes. Es ist ein und derselbe Gesetzeszusammenhang des Geschehens und nicht deren zwei, nur dann etwa wieder unter einem neuen Gesetz sich vereinigende, was so doppelgestaltig, unter dem Attribut der Ausdehnung als Mechanismus körperlicher Vorgänge, unter dem des Denkens als Erscheinung allemal in einem Bewusstsein sich darstellt. Aus gleicher und einheitlicher, nicht doppelter gesetzlicher Notwendigkeit erfolgen die Veränderungen in der Körperwelt und der Wechsel der Vorstellungen in den Denkenden. So ist eine und dieselbe die „Ordnung und Verknüpfung“ der Dinge und der Ideen, das heißt, dieselbe, nur in der Einzahl vorhandene, Ordnung und Verknüpfung des Geschehens, die wir „Natur“ nennen, ist, und zwar mit gleicher, absoluter Wahrheit, in dieser Doppelgestalt uns gegeben: einmal, als ob sie außer uns, an sich bestände; als solche wird sie notwendig körperlich, mechanisch vorgestellt; das | andere Mal als im Denken gegeben; [141] denn denken müssen wir sie doch, sonst wüssten wir nichts von ihr. Jede dieser Betrachtungsarten ist in sich folgerecht zusammenhängend und durch Abstraktion von der andern scharf und vollständig trennbar; sie sind beide vollkommen „wahr“; nur drückt eben keine von beiden für sich, sondern nur beide in ihrer Vereinigung das ganze Wesen der Sache aus. In dieser Grundvoraussetzung weicht Spinoza nicht so weit von Descartes ab, als der Unterschied und Gegensatz der beiderseitigen Formulierungen es zunächst erscheinen lässt; das wird besonders klar, wenn man Spinoza nicht direkt mit Descartes, sondern mit Malebranche vergleicht, der doch nur Descartes’ Ansicht folgerecht durchzuführen glaubt. Nur der von dogmatischer Metaphysik nun einmal unabtrennbare Absolutismus hindert bei Spinoza noch die reinere Ausführung des Korrelativitätsgedankens. Aber auch Leibniz steht der gleichen Grundvorstellung nicht fern. Denn sehr oberflächlich und mit seinen eigenen ausdrücklichen Erklärungen in Widerspruch würde man seine „prästabilierte Harmonie“ dahin verstehen, dass zwei von Haus aus einander fremde, getrennte Substanzen auf höheres Geheiß, durch eine von Gott zuvor verordnete Gesetzlichkeit der Zuordnung ihrer beiderseitigen Veränderungen miteinander in Einstimmung erst gebracht würden. Das Ausgedehnte ist ja für Leibniz nicht Substanz, sondern eine bloße „Erscheinung“, in der die innere Wechselbeziehung der wahren, rein intensiven Einheiten (Monaden) sich nach außen hin darstellt und gleichsam auseinanderbreitet. Im Grunde sind daher Gedanken in der Seele und Bewegungen im Körper bei Leibniz ganz wie bei Spinoza nur verschiedene Darstellungen einer und derselben Gesetzesordnung, nach der alle Veränderungen im Universum einander zugeordnet sind. Dass die „Substanz“ den Gesetzeszusammenhang und nichts anderes bedeutet, dass sie gar nicht von den „Phänomenen“ losgelöst gedacht werden, sondern nur eben die Einheit bedeuten soll, in die das Mannigfaltige der Erscheinungen
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sich unter dem Begriff zusammenfasst und in der es seine letzte Gegenständlichkeit erreicht, wird von Leibniz oft und nachdrücklich ausgesprochen. Aus den Phänomenen, erklärt er, müsse doch alles abgeleitet werden; es sei nach gar keinem Realen jenseits der Phänomene weiter zu fragen, sondern das Reale, die Einheit der Substanz, bedeute eben die den Phänomenen [142] zugrunde liegende, in ihnen selbst und nur | in ihnen sich darstellende, sich entwickelnde Einheit des Gesetzes, welche in der Folge derselben, nach Analogie einer algebraischen Reihe, „sich ausreihe“10. Der objektive Zusammenhang ist demnach überhaupt nichts anderes als die gedankliche Verknüpfung der Phänomene selbst unter ihrem Gesetz, und das Sinnliche der Phänomene weist nicht auf eine von dieser verschiedene zweite Gegenständlichkeit, sondern ist nur „verworrene“ Darstellung desselben, einzigen gegenständlichen Zusammenhanges, den als distinkten das Denken, immer auf der Grundlage der Phänomene, keiner andern, herauszuarbeiten hat. Damit ist im Grunde aller Dualismus überwunden; wie denn auch durch die „Harmonie“ unter den inneren Veränderungen der unbegrenzt vielen Monaden die durchgängige Einheit des Weltzusammenhanges nur in konkreterer Gestalt definiert, nicht an sich in eine etwa auch ohne inneren Zusammenhang denkbare Vielheit zerfällt sein soll. Leibnizens Monaden sind im Gründe weder ausgedehnte noch denkende „Dinge“ mehr, sondern, wie das Wort es besagt, nur die (engeren, rein intensiv zu verstehenden) „Einheiten“ von Sonderdarstellungen (Repräsentationen) des Weltgeschehens, die der letzten, allbefassenden, der Einheit aller Einheiten (Monas Monadum) sich schlechthin unter- und einordnen; nicht viel anders als bei Spinoza, bei dem11 die Bewusstseinskette je eines Individuums vertretende Sonderzusammenhang von Denkmodis unter dem einen Attribut der einen Substanz (dem Denken = Bewusstsein überhaupt) begriffen gedacht ist. Der entscheidende Fortschritt über Descartes und Spinoza aber liegt bei Leibniz darin, dass die Sonderstellung der „Ausdehnung“ als eines selbständigen, außergedanklichen Attributes, einer eigenen Bestimmungsweise des Gegenstands, überhaupt wegfällt. Auch die Ausdehnung soll vielmehr, wie es als Tendenz schon bei Descartes deutlich erkennbar war, sich in reines Denken lösen. Die Indistinktheit des Sinnlichen bleibt zwar, aber gerade sie weist zurück auf einen zugrundeliegenden tiefsten Zusammenhang, der unserem Denken sich rein (distinkt) zwar nicht darstellt, aber doch sich darstellen würde, wenn nicht die Unendlichkeit der Komplikationen für unser mühsam von Schritt zu Schritt sich weiterarbeitendes Denken schließlich undurchdringlich bliebe. So wird das Sinnliche, Empirische zur freilich unendlichen – [143] Aufgabe für das Denken, und zwar das reine | Denken (es gibt kein anderes). Diese Unendlichkeit aber gewinnt zugleich für Leibniz einen streng und ganz 10 11
Besonders klar in Briefen an De Volder, S. 252 f., S. 258, S. 278, S. 282 f. Im Original „der“ statt „bei dem“. – Anm. d. Hrsg.
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positiven Sinn und Geltungswert; sie bezeichnet nicht mehr einen störenden Gegensatz zum rein Gedanklichen (als ob rein denklich nur Endliches sei), sondern gerade sie erst würde die Forderung des Denkens rein und ganz erfüllen. Denn die zur Infinitesimalmethode vertiefte Mathematik hatte ihn belehrt, dass die Unendlichkeit nicht (nach dem Vorurteil des Aristoteles und der Pythagoreer) die Bestimmtheit und Strenge der Begriffe ausschließt oder auch nur erschwert, sondern gerade für ihre letzte Bestimmtheit und Exaktheit vielmehr die unerlässliche Voraussetzung ist. Somit fehlt bei Leibniz eigentlich nichts als die reine, restlose Zurückführung der Seinsfragen auf die Methodenfragen der Erkenntnis, der Wissenschaft, das heißt das volle Durchdringen des prinzipiellen Gesichtspunktes der Erkenntniskritik, so hätte auch die letzte Klarheit in unserer Frage schon von ihm erreicht werden können. Dass er auch so dieser letzten Klarheit näher gekommen ist als irgendein anderer vor Kant, erklärt sich eben daraus, dass in Wahrheit der Gesichtspunkt der reinen Methodik seine Aufstellungen durchweg wenigstens mitbestimmt. Das volle Selbstbewusstsein der „Kritik“ bleibt bei ihm vielleicht nur deshalb unerreicht, weil, so sehr auch die Fragen der Wissenschaft ihm am Herzen liegen, doch neben ihnen und schließlich über sie hinaus die ganze Last der metaphysischen Tradition, im Hinblick zumal auf Ethik und Theologie, auf ihn drückt und für die Richtung seines Philosophierens ausschlaggebend bleibt, während er doch die Probleme dieser Ordnung in ihrer vollen Eigenart nicht erkennt und darum nicht bewältigt, sondern eigentlich nur mit den Mitteln des bloßen Intellekts sie, natürlich vergebens, zu zwingen sucht. §8. Der moderne Sensualismus und Positivismus. Während so bei den großen Rationalisten der Platonische Grundgedanke stetig weiter entwickelt wird und der schon bei seinem Urheber deutlich durchschimmernden Konsequenz sich zusehends nähert, zeigt sich bei den in der Richtung des Sensualismus fortarbeitenden Philosophen deutlich jene schon bei Protagoras unverkennbare Neigung, die Selbständigkeit der objektiven Beziehung zurückzudrängen und die Subjektivität, in der Verengung zur Sinnlichkeit, in den Vordergrund zu rücken. So sehr das, im Hinblick auf den Gesamtfortschritt der philosophischen Einsicht beurteilt, ein Fehlweg war, so war es doch in gewisser Weise | günstig für die Entwicklung gerade [144] des psychologischen Interesses in seiner Eigenart. Zwar beginnt der moderne Sensualismus, in Pierre Gassend, genau an dem Punkte, wo der antike geendet und, man muss wohl sagen, sich bankerott erklärt hatte: bei der naiven Gleichsetzung des sinnlich Erfahrenen mit dem an sich Gegenständlichen. Man glaubt den Körper, die Materie in sinnlicher Erfahrung zu haben und darin ohne Umstände die reine Objektivität zu erfassen. Aber selbst so stößt schon Gassend (der andererseits an Augustin gebildet war) auf die unvergleichliche Eigenheit der Tatsache des
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Bewusstseins, die ihm so zunächst freilich nur als ein empfindlich störendes Faktum entgegentreten musste. Auch der genaueste und vollständigste Nachweis der äußeren, physikalischen und physiologischen Bedingungen der Sinnesempfindung würde diese selbst, in der man den Ursprung des Bewusstseins zu erfassen vermeinte, würde besonders die Empfindung der sinnlichen Qualitäten unerklärt lassen; eine Schwierigkeit, die schon dieser Anführer des modernen Sensualismus als für menschlichen Verstand unauflöslich anerkennen muss. Bereits sein Freund Hobbes aber gibt dieser Bemerkung eine tiefere Wendung, indem er begreift, dass Empfindung überhaupt, das heißt, die Tatsache, dass überhaupt etwas erscheint, als das „Prinzip der Prinzipien“ der Erkenntnis, nicht selbst wieder eine Erklärung fordert; das heißt, indem er von der Tatsache der Bewusstheit, die bei Gassend lediglich als unauflösliches Restproblem stehen geblieben war, vielmehr den Ausgang nimmt und nun umgekehrt von ihr aus die Gegenständlichkeit, nämlich nach ihrer Darstellung in der Erkenntnis, psychologisch zu verstehen sucht. „Empfindung ist Bewegung“: das kann bei Hobbes nur besagen wollen: sie ist, als subjektives Phänomen, und zwar Urphänomen, auf Bewegung als Urgestalt des objektiv Realen zurückzudeuten, als ihr subjektiver Ausdruck zu verstehen. Aber sie bleibt dabei, als Phänomen letzter Instanz, selbst die subjektive Grundlage aller Objektsetzung, das Erkenntnisprinzip auch für Körper und Bewegung selbst, die dagegen als Realprinzipien des Seins angesehen werden12. Locke wiederholt die wunderliche Klage über die Unerklärbarkeit der Empfindung aus den Bewegungen der Materie, aber mehr im Sinne eines verflachten Descartes’schen Dualismus, der der Materie am Ende doch die [145] Fähigkeit zubilligen möchte, auch zu empfinden und zu denken, | wenngleich wir diese Fähigkeit an ihr nicht zu begreifen vermögen. Descartes würde nicht verfehlt haben einzuwenden, dass man damit zu den verborgenen Qualitäten der Scholastiker zurückkehre. Das Bedeutungsvolle in Locke aber ist, dass sich die ganze Philosophie ihm in Erkenntnispsychologie verwandelt; eine Psychologie, die trotz ihrer sensualistischen Grundanlage doch beim Rationalismus manche Anleihe zu machen genötigt wird und so zu keiner reinen Konsequenz gelangt, aber um so mehr zu weiteren Entwicklungen drängen musste. So kommt bereits sein nächster Nachfolger, Berkeley, indem er den schon von Locke intendierten reinen Psychologismus in besserer Konsequenz durchzuführen strebt, zur vollständigen Ausscheidung der materialistischen Voraussetzungen, die bei Locke, von Gassend her, noch stark mithineinspielten, und damit zu der berühmten Gleichsetzung von Sein und 12 Zu dieser Diskussion vgl. die Darstellung bei Ernst Cassirer in Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, II, S. 29–70. – Anm. d. Hrsg.
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Perzipiertwerden, das heißt zur gänzlichen Aufhebung der Objektivität (des Esse) in die reine Subjektivität (des Percipi). Dabei vermag dann freilich schon er selbst nicht stehen zu bleiben; er ist bekanntlich in einer späteren Wendung zu einem wenigstens halb Platonischen Idealismus fortgeschritten. Von Anfang an war es für einen strengeren Sensualismus nichts als eine unerträgliche Inkonsequenz, die denkende Substanz stehen zu lassen. Diese Inkonsequenz beseitigt Hume, der denn wenigstens folgerichtig vom erscheinenden Sinnlichen aus die doppelseitige Beziehung auf das Ich und auf den Gegenstand zu verstehen sucht; freilich mit dem aus seinen Voraussetzungen nur zu begreiflichen Resultat, dass die eine wie die andere nicht zu verstehen, also ein bloßer Gedankenbetrug sei. So müsste er versuchen, einen ganz reinen Phänomenalismus durchzuführen. Das zeigt sich dann aber, aus ebenfalls sehr begreiflichem Grunde, nicht minder unmöglich. Aber bedeutsam bleibt hierbei die richtige Ahnung: dass weder im Ich noch im Gegenstand ein anderes „Ding“ hinter den erscheinenden Dingen, sondern eine reine Beziehung zu suchen ist; eine Beziehung (was ihm als merkwürdig auffällt) ohne angebbaren anderen Bezugspunkt (a relation without relative13). Die Lösung des Rätsels aber: dass eben nur der im Gedanken zu knüpfende Einheitsbezug der Phänomene, die Einheit des Gesetzes es ist, welche die Gegenstandsbeziehung einerseits, die Ichbeziehung andererseits begründet, entgeht ihm, musste nach seinem sensualistischen Ausgang, von dem er nirgends wieder loskommt, ihm entgehen, obgleich | eine Reihe scharfsinniger Bemerkungen ihn dieser [146] Einsicht überraschend nahe zeigt. Da aber eben eine wirkliche Aufhellung bei seinem grundsätzlichen Vorgehen nicht erreicht werden konnte, so war es wohl unvermeidlich, dass in letzter kritischer Erwägung beide Beziehungen ihm fast zu Illusionen wurden; während er andererseits doch zu viel gesunden Menschenverstand besaß, um ihre Wirklichkeit etwa im Ernst fraglich machen zu wollen; es ist wohl nur der Fehler unseres vorwitzigen Intellekts, dass er mit einer so unleugbaren Wirklichkeit doch so gar nicht fertig zu werden weiß, so wenig wie überhaupt mit irgendeiner der Grundfragen der Erkenntnis. Bedeutsam ist hierbei wiederum die Einsicht, dass die Ichheit als solche einer selbständigen Objektivierung überhaupt unfähig ist; ein „innerer Sinn“, wie Locke unter der Benennung der „Reflection“ ihn eingeführt hatte, der die bloßen reinen „Operationen“ des Geistes, im Unterschied von den auf den äußeren Gegenstand zu beziehenden sinnlichen Inhalten (ideas of sensation)14 wahrnehme, existiert 13 Vgl. David Hume, A Treatise of Human Nature, S. 241 („eine Beziehung ohne angebbaren Bezugspunkt“ ist Natorps freie Übersetzung der Hume’schen Phrase). – Anm. d. Hrsg. 14 Nach John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, Teil I, Kap. 1 („Of Ideas“). – Anm. d. Hrsg.
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für Hume nicht, sondern was überhaupt erscheint – es erscheint aber nur das Sinnliche –, ist in jedem Fall auf den äußeren Gegenstand zu beziehen; welche Beziehung denn freilich, da sie auf der Kausalität beruht, Kausalität aber für unseren Verstand nicht begründbar ist, selber unbegreiflich wird, darum aber doch nicht weniger wirklich und für uns zwingend bleibt. Er gewinnt damit wenigstens, dass die Unverständlichkeit des Bewusstseins aus einem kausalen Zusammenhange materieller Vorgänge aufhört ein besonderes Problem zu sein, denn verständlich ist überhaupt kein kausaler Zusammenhang, somit kein bestimmtes, empirisches Faktum, sei es der äußeren oder der inneren Welt. Die Tatsache muss zuletzt genügen. – Das war insoweit folgerichtig gedacht. Aber nur um so mehr vermisst man die innere Folgerichtigkeit darin, dass Hume nicht auch soweit fortgeht, die Verkehrtheit seiner ganzen Fragestellung sich zur Klarheit zu bringen. Nicht von einem objektiven Kausalzusammenhang aus (als hätte man den, als könnte man ihn überhaupt haben) galt es, das Phänomen Bewusstsein, als eines unter vielen andern, zu begreifen; sondern das Bewusstsein, das heißt, die Tatsache, dass überhaupt etwas erscheint – welche Tatsache doch nicht selbst wiederum bloß eine „Erscheinung“ ist –, war schlechthin zugrundezulegen und von ihr aus, womöglich, die Gegenstandsbeziehung der Erscheinung zu verstehen. Aber Humes Theorie leidet an diesem [147] verhängnisvollen Zirkel: die Phänomene sieht | sie als schlechthin gegeben, alle Gegenstandsbeziehung dagegen, da sie auf Kausalität beruhe, Kausalität aber Problem sei, als von Anfang an problematisch an: dennoch tritt sie an die Lösung des Problems heran unter der Voraussetzung eines kausalen Zusammenhanges des psychischen Geschehens (nach Gesetzen der Assoziation). Hume unternimmt ganz ernsthaft, Kausalität überhaupt zu erklären aus besonderen kausalen Zusammenhängen, und zwar mit dem Ergebnis, dass die so erklärte, nur so ihm erklärliche Kausalität, eben dieser Erklärung zufolge – eine Illusion ist. Also er erklärt die Kausalität mit der Kausalität, und zwar als eine Täuschung. Auch der jüngere Sensualismus, wie er seine reinste Ausprägung wohl durch John Stuart Mill (besonders in der „Examination of Sir William Hamiltons Philosophy“) und Ernst Laas (Positivismus und Idealismus) gefunden hat, vermochte von diesen fundamentalen Fehlern sich nicht wieder zu befreien. Er möchte alle Wirklichkeit (Objektivität) auf die (subjektive) Wahrnehmung zurückführen. Indessen er definiert sie doch nicht schlechthin als Wahrnehmung, sondern als Wahrnehmung und Wahrnehmungsmöglichkeit; in dieser „Möglichkeit“ aber ist, wie oben schon erinnert wurde, das Gesetz ungewollt doch anerkannt. Dieses begründet allerdings die Gegenständlichkeit, aber eben nicht im Sinne irgendwelcher Zurückführung auf die Subjektivität. Der Beziehungssinn des Gegenstands wie andererseits des Ich wird dabei klar erkannt; nur sollen damit beide eigentlich um ihre Realität gebracht sein und so das Phänomen allein, das heißt das Bezogene außer
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aller Beziehung, das Reale sein; das heißt, die Beziehung ist wirklich nicht begriffen als das im Grunde allbeherrschende Prinzip der Erkenntnis und damit als das, worin allein auch der letzte Sinn des „Seins“ (jeder Ordnung) sich fassen lässt. Allzu deutlich auch wäre damit das – Denken, das ja ganz und nur im Beziehen besteht, als das Prinzip des Erkennens bestätigt, das heißt der Sensualismus abermals bankerott erklärt. Aber wie könnte man der Beziehung denn entgehen? Wahrnehmung soll das ursprünglich Gegebene sein; wem denn gegeben? Und was soll darin gegeben sein? Doch wohl dem Subjekt das Objekt. – Aber mindestens das Objekt ist nicht gegeben, sondern gerade Problem. – Sehr wohl; aber dann ist das Gegebensein ebenso wohl Problem, und nichts weniger als fragloser Ausgang, da es doch das Gegenbensein – des Objekts besagen müsste! | [148] Bei allen diesen handgreiflichen und unheilbaren Fehlern hat der zum Positivismus durchgearbeitete Sensualismus dennoch ein nicht unbeträchtliches Verdienst um die Auflösung des Dualismus; ein Verdienst, welches auch Avenarius und den Seinen, wie andererseits Mach, Schuppe, Ziehen15 nicht bestritten werden soll; obgleich zum Beispiel bei Avenarius der sonst mehr latent bleibende ungeheure Zirkel wieder einmal in lehrreicher Offenheit zutage tritt: das Bewusstsein wird nach den Gesetzen der Biologie behandelt, das heißt, gewisse besondere Gesetze besonderer Wissenschaft werden zugrunde gelegt, indem man doch darauf ausgeht, zu Gesetz und Wissenschaft überhaupt erst den Grund zu legen. §9. Kants Auflösung des Dualismus. Den mächtigsten Schritt zur Klarheit bedeutet auch in allen diesen Fragen die endgültige Begründung der kritischen Methode der Philosophie durch Kant. Was selbst bei ihm die letzte Klärung dennoch verhindert, ist zumeist die auch von ihm noch nicht radikal genug überwundene Voraussetzung der Gegebenheit. Der Dualismus der Substanzen zwar wandelt sich bei Kant zunächst bloß in einen Dualismus der Erscheinungen, gegründet auf Lockes Unterscheidung des inneren vom äußeren Sinn. Aber in der tieferen Durchführung des kritischen Gedankens drängt alles auf die Auflösung auch dieses phänomenologischen Dualismus, der seinerseits den ontologischen auflöste. Erstens soll die „Materie“, nämlich die Empfindungen, für den äußeren und inneren Sinn eine und dieselbe und nur die „Form“, das heißt die Ordnungsweise, verschieden sein. Danach ist schon die Benennung: äußerer und innerer Sinn, unglücklieh gewählt, da sie durchaus die Vorstellung einer verschiedenen Materie nahelegt. Zweitens aber erweist sich, besonders in der „Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“, dass die Zeit- und Raumform, 15 Richard Avenarius (1843–1896), Ernst Mach (1838–1916), Wilhelm Schuppe (1836–1913), Theodor Ziehen (1862–1950). Natorp spezifiziert nicht, auf welche Werke er sich hier bezieht. – Anm. d. Hrsg.
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die in der „Transzendentalen Ästhetik“ fast ohne inneren Bezug getrennt nebeneinander standen, wirklich in unlöslicher korrelativer Einheit zusammenhängen; dass weder eine Zeitordnung ohne Raumordnung noch diese ohne jene überhaupt denkbar wäre. Die Zeitordnung entspringt – so darf man wohl, in immerhin freier Interpretation, es ausdrücken – in der „Apprehension“, die Raumordnung in der „Reproduktion“ des Mannigfaltigen; diese beiden unteren Stufen des synthetischen Prozesses aber sind erstens voneinander durchaus untrennbar; wo nichts apprehendiert würde, wäre [149] überhaupt nichts zu | reproduzieren da, ohne Reproduktion aber wüssten wir auch von keiner Apprehension – wie ferner von beiden nicht ohne die Rekognition im Begriff. In der Tat wäre ohne die Auseinanderhaltung und Aufreihung in der Zeit auch ein Beisammen im Raum (das doch ein Beisammen von Mehrerem, also zugleich Auseinanderzuhaltendem sein muss) – ohne Zusammennehmung (die mindestens die Grundlage des räumlichen Vorstellens enthält), aber auch ein bestimmtes Bewusstsein des Nacheinander (in welchem doch das Eine und Andere, wie sehr auch als Jetzt und Dann, und zwar mit dem Sinne gegenseitiger Verneinung, auseinandergestellt, doch eben beide mit- und im Gegenverhältnis zu-einander vorgestellt werden müssen) überhaupt nicht möglich. Dies kommt bei Kant zu klarem Ausdruck in den Sätzen: dass die Apprehension des Mannigfaltigen jederzeit sukzessiv, andererseits die Zeit, eben weil sie in sich nichts Beharrliches enthalte, auf die Raumvorstellung zwingend hingewiesen sei, um selbst überhaupt vorgestellt werden zu können. Nach diesen klaren Einsichten könnte es eine innere Anschauung überhaupt nicht geben ohne die äußere, wie natürlich auch keine äußere ohne die innere; das heißt aber: keine eigentümlich „psychischen“ Phänomene, keine Phänomene für den inneren Sinn allein, sondern nur einen doppelseitigen Bezug, gleichsam nach innen und nach außen, an einem und demselben Material, den „Empfindungen“. Ob der Innenbezug übrigens richtig als zeitliche Aufreihung definiert wird, ist mehr als fraglich. Damit, dass die Zeitbeziehung von der Raumbeziehung überhaupt unabtrennbar ist, fällt eigentlich jede Möglichkeit weg, Innen- und Außenbezug zu scheiden nach zeitlicher und räumlicher, oder richtiger: bloß zeitlicher und zeit-räumlicher Ordnung. Eine zeiträumliche Ordnung überhaupt wird auch dem Subjektivsten des Subjektiven so wenig abgesprochen werden können, wie dem Objektivsten, das nur unserer Erkenntnis erreichbar sein mag; vielmehr die durch die „Synthesis der Rekognition“ hergestellte Einheit (Einzigkeit) der Zeit- und Raumordnung, die als Ganzes überhaupt unzerleglich ist, unterscheidet, nach Kants eigenen Feststellungen, die Objektivität; es steht also wohl etwa eine subjektive Zeitund Raumbeziehung, verschieden und wechselnd für die verschiedenen Subjektsstandpunkte, einer objektiven Zeit- und Raumordnung gegenüber, nicht aber eine bloß zeitliche Ordnung des Subjektiven einer außerdem [150] auch räumlichen der Objektwelt. |
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§ 10. Durchführung des Monismus auf Kantischer Grundlage. Nach diesem allen hätten die gelegentlichen, mehr oder minder skeptischen Äußerungen Kants über die Möglichkeit einer Psychologie als Wissenschaft vielleicht noch um vieles radikaler ausfallen dürfen. Nicht bloß ist für ihn das reine Ich, wie schon für Hume, ja für Malebranche, kein eigener, für sich erforschlicher Gegenstand mehr, sondern auch die Reduktion der Zweiheit an sich seiender Substanzen auf eine bloße Zweiheit der Erscheinungsweise, wie sie namentlich in den „Paralogismen“ sich ergibt, hätte sich verschärfen müssen zur vollständigen Ablehnung der Annahme einer eigenen „Erscheinung“ vor dem inneren Sinn. Die bloße Ungleichartigkeit der Erscheinungen im äußeren und inneren Sinn und deren Verknüpfung nach beständigen Gesetzen, vermöge deren sie in der einen Erfahrung zusammenhängen, habe, so meint dort Kant „nichts Widersinnisches“16 an sich; „sobald wir aber die äußeren Erscheinungen hypostasieren, sie nicht mehr als Vorstellungen, sondern in derselben Qualität, wie sie in uns sind, auch als außer uns für sich bestehende Dinge (ansehen), ihre Handlungen aber17, die sie als Erscheinungen gegeneinander im Verhältnis zeigen, auf unser denkendes Subjekt beziehen, so haben wir einen Charakter der wirkenden Ursachen außer uns, der sich mit ihren Wirkungen in uns nicht zusammen reimen will, weil jener sich bloß auf äußere Sinne, diese aber auf den inneren Sinn beziehen, welche, ob sie zwar in einem Subjekte vereinigt, dennoch höchst ungleichartig sind. Da haben wir denn keine anderen äußeren Wirkungen, als Veränderungen des Orts, und keine Kräfte, als bloß Bestrebungen, welche auf Verhältnisse im Raume als ihre Wirkungen auslaufen. In uns aber sind die Wirkungen Gedanken, unter denen kein Verhältnis des Orts, Bewegung, Gestalt oder Raumesbestimmung überhaupt stattfindet, und wir verlieren den Leitfaden der Ursachen gänzlich an den Wirkungen, die sich davon in dem inneren Sinne zeigen sollten.“18 Aber Körper und Bewegung sind nichts an sich selbst, sondern Erscheinungen, ja bloße Vorstellungen in uns; und so laufe „die ganze selbstgemachte Schwierigkeit darauf hinaus, wie und durch welche Ursache die Vorstellungen unserer Sinn|lichkeit so untereinander in Verbindung [151] stehen, dass diejenigen, welche wir äußere Anschauungen nennen, nach empirischen Gesetzen als Gegenstände außer uns vorgestellt werden können …“19 16
Kritik der reinen Vernunft, A 386. Lockes (und schon Descartes’) „Operationen“ des Geistes. Es ist wenig bemerkt und doch sehr bemerkenswert, dass diese sich für Kant in ein bloßes „Verhältnis“ der Erscheinungen (die andererseits nach außen zu beziehen sind) gegeneinander auflösen. 18 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 386. 19 Natorp zitiert Kritik der reinen Vernunft, A 387. – Anm. d. Hrsg. 17
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Hier scheint allerdings immer noch eine Ungleichartigkeit der Erscheinungen im äußeren und inneren Sinn vorausgesetzt zu werden, indem von den Gedanken aller Raumbezug ausgeschlossen sein, der Zeitbezug aber natürlich ihnen bleiben soll. Es gibt aber gar nichts Erscheinendes am Bewusstsein, das von allem Raumbezug sich löste. Die Bewusstheit selbst ist freilich unräumlich, aber sie ist ebenso unzeitlich; in ihr ordnen sich die Erscheinungen nach Zeit und Raum, aber sie selbst kann sich nicht wiederum so ordnen, denn sie erscheint gar nicht; das Erscheinen selbst und überhaupt ist, wie oft gesagt, nicht wiederum Erscheinung, also auch nicht zeitlich oder räumlich zu ordnen. Diese Ordnungsweise sollte ja von Anfang an die „Materie“ betreffen, es gibt aber, nach Kant selbst, keine eigene Materie für den inneren Sinn. Es hätte also, nach der strengen Konsequenz der Kritizismus, jeder Gedanke einer doppelten Wirklichkeit, auch als bloß erscheinender, einer doppelten Wahrnehmung oder Erfahrung also, fallen müssen. „Wirklich“ im empirischen Sinn soll ja sein, was „mit einer Wahrnehmung nach empirischen“ (immer wieder an der Wahrnehmung zu bewahrheitenden) „Gesetzen zusammenhängt“, oder was „mit einer Wahrnehmung nach Gesetzen des empirischen Fortgangs in einem Kontext steht“20. Dieser „eine Kontext“ aber ist, wie Kant uns belehrt hat, im inneren Sinn allein, das heißt, unter der Form der Zeit, überhaupt nicht, sondern nur in der gleichermaßen zwingenden Beziehung auf den Raum: in der „Natur“, dem überhaupt seinem ganzen Begriff nach einzigen Gesetzeszusammenhange des zeit-räumlich Erscheinenden möglich. Also sollte von einer eigenen empirischen Wirklichkeit für den inneren Sinn ferner nicht die Rede sein. Und so bleibt eigentlich nirgends ein Platz im Kantischen System der „möglichen Erfahrung“ offen für eine Psychologie neben der Naturwissenschaft, wie sie gleichwohl an einer Reihe von Stellen immer noch angenommen zu werden scheint. Sondern alle fundamentalen Voraussetzungen der Erkenntniskritik Kants fordern gebieterisch die strenge Durchführung jenes reinen Monismus der Erfahrung, den Kant selbst formuliert hat in dem öfters schon angezogenen Wort: Es ist nur eine Erfahrung usw21. [152] Die strenge Korrelativität des objektiv-subjektiven Bezugs liegt | im Grunde schon eben hierin. Das Einzige, was die Einheit dieser Korrelation noch stört, ist die Doppelart der Beziehung auf den Gegenstand: als „unmittelbare“ aber „unbestimmte“ auf den „gegebenen“ Gegenstand 20
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 225 f., 376, 493. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 110. [Kant schreibt hier: „Es ist nur eine Erfahrung, in welcher alle Wahrnehmungen als im durchgängigen und gesetzmäßigen Zusammenhange vorgestellt werden: ebenso, wie nur ein Raum und Zeit ist, in welcher alle Formen der Erscheinungen und alles Verhältnis des Seins oder Nichtseins stattfinden.“ – Anm. d. Hrsg.] 21
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der Sinnlichkeit („Anschauung“ unter den „Formen“ Raum und Zeit) und als „mittelbare“ aber „bestimmte“ auf den „gedachten“ Gegenstand durch den „Verstand“ nach Maßgabe der Kategorien. Nach der klaren Konsequenz der transzendentalen Deduktion muss vielmehr alle und jede Beziehung auf den Gegenstand auf den Funktionen des Denkens beruhen, durch die auch die Zeit- und Raumbeziehung sich erst wirklich vollzieht, ohne die sie eine leere, abstrakte „Möglichkeit“ bleiben würde; das Gegebensein des Gegenstandes kann dann nichts weiter mehr bedeuten als die geforderte volle, konkrete Bestimmtheit dieser Beziehung, die nur möglich wäre durch eine letzte Vereinigung aller Denkfunktionen eben zur erreichbar vollständigen Gegenstandsbestimmung. Dann aber ist es überhaupt nie richtig zu sagen: der Gegenstand ist gegeben, sondern er wird es erst; vielmehr er wird es auch nicht, sondern er würde erst gegeben werden in der vollendeten Durchführung des Prozesses der Bestimmung – der aber in Wahrheit unvollendbar ist. Das Gegebensein in der Sinnlichkeit ist vielmehr nur Aufgegebensein; gegeben ist der Gegenstand nur im Sinne des wirklich gestellten Problems; das „Sinnliche“ bedeutet nicht mehr als die Frage, auf die das Denken Antwort zu geben hat. Diese Klarstellung fordert dann, gestattet aber auch die weitere Ausdehnung auf das Verhältnis des Sinnlichen und damit der Subjektivität zu den nicht minder objektivierenden Funktionen der praktischen, der ästhetischen und jeder anderen Erkenntnisart; wovon hier weiteres zu sagen gespart werden kann, weil in den nächsten beiden Kapiteln davon noch zu reden sein wird. §11. Ergebnis und weitere Aufgabe. Die somit auch bei Kant noch nicht voll erreichte, obwohl den Prämissen nach gegebene oder doch indizierte Grundvoraussetzung für die reinere Bestimmung der Aufgabe der Psychologie, die, wenn denn eine solche formelhafte Bezeichnung nicht umgangen zu werden braucht, als „korrelativistischer Monismus“ füglich zu benennen sein möchte, scheint in der Psychologie der Gegenwart sich deutlicher und deutlicher herauszuarbeiten, ist aber freilich zur vollen Klarheit bisher noch nirgends durchgedrungen. Auf der einen Seite wird kaum mehr ernstlich bestritten, dass nichts „Psy|chisches“ sei, das nicht auf den einheitlichen [153] Kausalzusammenhang der Natur zu beziehen und mehr oder weniger direkt in ihn einzugliedern wäre; auf der andern Seite ist es auch für das naivste Philosophieren heute kaum mehr möglich zu übersehen, dass es keine Form von Objektsetzung gibt, noch geben kann, die nicht Objektivierung eines Subjektiven, ja gerade als Objektivierung doch eben Bewusstsein (nämlich Objektsbewusstsein), Darstellung des Objekts, auf irgendeiner Stufe der Objektivierung, für ein Subjekt oder für einen gedachten, möglichen Standpunkt eines solchen wäre. Die Scheidung zwischen „Inhalt“ und „Gegenstand“ ist nichts als ein letzter Rettungsversuch des Dualismus und, wie wiederholt gezeigt worden, ein missglückter; denn so wenig wie
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das A und das X der Gleichung, lassen Bezogenes und Bezugspunkt in der Erkenntnis, Präsentation und Repräsentation, sich erst gesondert stellen, um dann nachträglich erst in Beziehung zu treten. Wird aber diese Beziehung, und zwar in ihrer notwendigen Wechselseitigkeit, als ursprünglich, allgemeingültig und unaufheblich anerkannt, so ist eine andere Fassung des Grundverhältnisses des Subjektiven und Objektiven als die hier vertretene nicht absehbar. Es bleibt dann nur noch die Einseitigkeit der Beziehung des Subjektiven als des „Psychischen“ auf das „Physische“, also die „Natur“, als das alleinige Objekt zu berichtigen. Das ist im Grunde ein Erbstück des Intellektualismus des 17. und 18. Jahrhunderts. Das Grundverhältnis des Subjektiven und Objektiven ist in Wahrheit kein anderes im praktischen, im ästhetischen Bewusstsein als im theoretischen. Wird auch dies jetzt mehr und mehr erkannt, so bedarf es fast dringlicher der bestimmten Hervorhebung, dass die schließliche Vereinigung aller Richtungen des Bewusstseins in der letzten subjektiven Grundlage des konkreten Erlebnisses gerade für die Psychologie mindestens ebenso wichtig ist wie ihre deutliche Auseinanderstellung. Diese war in der Richtung der Objektivierung gewiss das Erstnotwendige und das Schwierigere; sie, selbst in einer gewissen Schroffheit, durchgeführt zu haben, bleibt ein hohes Verdienst des Kritizismus; aber gerade diese abstrakten Scheidungen verlangen in einer letzten Betrachtung wiederaufgehoben zu werden, und sie heben eben dann sich auf, wenn die Frage auf den schließlich letzten subjektiven Grund aller Objektivierung, eben das unmittelbare „Leben“ der Psyche, gerichtet wird. Dadurch wird aber an der hier [154] vertretenen Grundauffassung in prinzipieller Hin|sicht nichts geändert; sie erfährt nur eine neue Verschärfung und Bereicherung, die sie dem vollen „Leben“ der Seele um so näher führt. Nachdem hiermit die strenge Einheit der korrelativen Grundbeziehung des Objektiven und Subjektiven als sicheres Fundament festgelegt ist, soll nun in zwei weiteren Kapiteln 1. die Richtung der Objektivierung, 2. die der Subjektivierung hinsichtlich der allgemeinen Gesetze der Methode ihrer Durchführung untersucht werden. Denn auf die Methode auch der Objektivierung bis zu einem gewissen Punkte einzugehen ist deswegen geboten, weil ja die der Subjektivierung, auf die eigentlich unsere Frage geht, nach allem Bewiesenen zu ihr in genauem Gegenverhältnis stehen, also durch eine Art Umkehrung sich aus ihr muss gewinnen lassen.
Siebentes Kapitel
Die Einheit der objektivierenden Erkenntnis §1. Objektivierung = Gesetzeserkenntnis. Erkenntnis, Wissenschaft geht als solche auf den Gegenstand, zuletzt auf die Einheit des Gegenstandes; die Erkenntnis des Gegenstandes beruht auf der Erkenntnis des Gesetzes, die der Einheit des Gegenstandes auf der der wiederum gesetzlichen Einheit des Zusammenhanges der besonderen Gesetze. Soll es nun eine Erkenntnis, eine Wissenschaft der Subjektivität überhaupt geben, so scheint es hiernach Gesetzeserkenntnis irgendwelcher Art sein und in das Ganze der Gesetzeserkenntnis sich irgendwie eingliedern zu müssen. Aber eben auf Grund dieser Voraussetzung kommt man, wie wir uns überzeugten, nicht zu einer Wissenschaft der Subjektivität, sondern zu den Objektwissenschaften jeder Art, zuletzt zu einer übergreifenden, selbst rein objektiven Theorie der Objekterkenntnis überhaupt: Logik, im umfassenden Sinne, oder Erkenntniskritik; die Subjektivität aber sollte die Gegenseite der Objektivität, nicht selbst in irgendeinem Sinne ihr zugehörig sein. Das ist durch alles Bisherige im Allgemeinen schon erwiesen; es soll im gegenwärtigen Kapitel aber nach der Richtung noch mehr im Besonderen ausgeführt und bestätigt werden, dass eine Gesetzeserkennt|nis des psychisch [155] Genannten nicht anders als im Sinne der Objektivierung möglich ist und wirklich erreicht wird, also zum Ziele einer eigentümlichen Wissenschaft des Subjektiven nicht führen kann. Aber doch nicht in diesem negativen Ergebnis wird der Gewinn dieser Betrachtung sich erschöpfen; wir wissen ja schon, dass die Objektivierung jeder Art gerade die Grundlage bilden muss auch für die zu ihr korrelative Subjektivierung, welche die wahre und positive Aufgabe der Psychologie ist. §2. Psychologie als Deskription. Es bedeutet schon eine gewisse Annäherung an die hier vertretene Auffassung, wenn man die Aufgabe der Psychologie nicht in einer Gesetzeserkenntnis irgendwelcher Art, sondern in der bloßen Beschreibung des psychischen Tatbestandes sieht, oder, was nicht in der Sache, sondern nur in der Benennung davon verschieden ist, unter Psychologie zwar die Erkenntnis des kausalen Zusammenhanges, sofern er unmittelbar das Auftreten der Erscheinungen im Bewusstsein betrifft (also, wie wir sagen würden, einen Zweig der Naturwissenschaft) versteht, hiervon
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aber eine reine, allein den Bestand der Bewusstseinstatsachen feststellende „Phänomenologie“ als eigentümliche, nicht objektivierende Wissenschaft unterscheidet. Unsere grundsätzlichen Voraussetzungen könnten leicht scheinen eben diese Stellungnahme nahezulegen, ja zwingend vorzuschreiben. Denn während alle sonstige wissenschaftliche Erkenntnis, eben weil auf Gesetze gerichtet, über die unmittelbare, ursprünglichste Tatsächlichkeit des Erscheinens mehr oder weniger weit hinausgehen muss, also sich in der Tat von ihr entfernt, soll Psychologie eben jenes letzte, ursprünglichste Faktum, das Faktum des Erscheinens selbst betreffen und es in seiner Reinheit darstellen, also (so meint man) es rein als Faktum sicher feststellen und beschreiben; was genau die Aufgabe ist, welche die bloß deskriptive Psychologie oder Phänomenologie sich stellt. Allein hierbei wird Eines übersehen. Es sollen doch Tatsachen sein, die man beschreibt. Der Anspruch der Tatsächlichkeit aber ist schon objektiver Erkenntnisanspruch; die Behauptung der Tatsächlichkeit schließt den Anspruch objektiver Gültigkeit in sich. Ja in gewissem Sinne deckt sich Tatsächlichkeit mit Objektivität, wenigstens mit der Objektivität der theoretischen Erkenntnis. Denn auch (theoretische) Gesetze sind Tatsachen, nur allgemeine, nicht einzelne. Allgemein übrigens, in irgendeinem Grade, [156] ist auch jede Beschreibung. Selbst wenn sie unmittelbar | das einzelne Erlebnis betreffen soll und zu betreffen scheint, beschreibt sie es doch so, wie es jederzeit wiederum eintreffen könnte; sie beschreibt es in allgemeinen Zügen. Wollte sie auch, so kann sie gar nicht es in seiner absoluten Individualität fassen; sondern eben damit, dass sie es beschreibt, subsumiert sie es unter Allgemeinbegriffe, generalisiert es also, sie mag wollen oder nicht. Sie macht das Einzelne zum Fall des Allgemeinen, und damit selbst zum Allgemeinen, denn der Fall ist Species, das heißt, auch ein Allgemeines, nur einem andern untergeordnet. Folglich aber ist die Beschreibung der Tatsache schon Objektivierung, nicht weniger als die Subsumption unter das Gesetz. Sie hat ihre wissenschaftliche Bedeutung und Funktion nur im Zusammenhange der Gesetzeserkenntnis, sei es nun, dass sie als Voraussetzung, als Vorbereitung zu ihr angesehen wird oder vielmehr als ihr eigentliches und letztes Ziel. Es ist unhaltbar, Tatsachen- und Gesetzeserkenntnis auseinanderreißen und verschiedenen Wissenschaften zuweisen zu wollen. Gesetzeserkenntnis ist Tatsachenerkenntnis, nämlich allgemeine; umgekehrt alle Sicherheit auch der singulären Tatsachenerkenntnis beruht auf dem Gesetz. Ich kann nicht auf Grund meiner Wahrnehmungen eine Tatsache behaupten, ohne eine Gesetzlichkeit jedenfalls, die der Wahrnehmungsprozesse selbst, in dieser aber im Grunde die ganze Naturgesetzlichkeit, wenigstens ihrem allgemeinen Bestande nach, vorauszusetzen. Unter der Gesetzeserkenntnis ist in Wahrheit das Ganze der Tatsachenerkenntnis mitbegriffen; eben darum
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kann man ohne Fehler auch umgekehrt die Gesetzeserkenntnis mitbegreifen unter der Tatsachenerkenntnis, da Gesetze, nämlich Naturgesetze (nur an diese ist bei der fraglichen Unterscheidung ja gedacht) nur aussagen, was tatsächlich allgemein stattfindet, d.h. was allgemein, in jedem Falle, der die angegebenen objektiven Bedingungen erfüllt, Tatsache ist. Unter der Gesetzeserkenntnis, welche als solche die Gegenstandserkenntnis sei, verstanden wir eben, sofern es sich um theoretische Erkenntnis vorerst nur handelt, und konnten wir insofern nur verstehen die Erkenntnis der Tatsachen unter Gesetzen, oder der Gesetze als Gesetze der Tatsachen, der Gesetze, sofern sie Tatsachen bestimmen. Zu dieser aber, eben als identisch mit der Erkenntnis des (theoretischen) Objekts, stellten wir die Psychologie in Gegensatz, da sie doch Erkenntnis nicht des Objekts, sondern der Subjektivität als solcher sein soll. | [157] Darin liegt freilich eine gewisse Paradoxie; daher ist es begreiflich, dass man sich einer so „widersinnischen“ Theorie nicht so leicht gefangen gibt. Sie kann auf den ersten Blick sogar widersinnig erscheinen. Gingen doch wir selbst von dem ersten Satze aus, dass Erkenntnis als solche auf den Gegenstand gehe; welchen Sinn hat also eine Erkenntnis, nicht des Gegenstandes, sondern des absolut Vorgegenständlichen, also Ungegenständlichen, als welches die Subjektivität, wofern sie der Objektivität schlechthin entgegengesetzt sein soll, notwendig erscheinen muss? Fällt sie nicht, wenn aus der Gegenständlichkeit, eben damit aus der Erkenntnis ganz heraus? Muss sie aber (so schließt man dann weiter), ohne selbst schon Gegenständlichkeit zu sein, doch irgendwie zur Gegenständlichkeit gehören, so wird sie dazu gehören müssen als Grundlage, als eben die Urgrundlage, auf der alle Erkenntnis (des Gegenstandes – es gibt keine andere) fußt. Als solche aber sieht eben die deskriptive Psychologie oder reine Phänomenologie sie an; also scheint sie die richtige, die berichtigte Konsequenz gerade unserer Prämissen zu sein. §3. Tatsachenerkenntnis abhängig von Gesetzeserkenntnis. Der Schein ist zuzugeben, er ist auch von Anfang an unsererseits zugegeben worden. Aber es wurde auch schon im Allgemeinen gezeigt, wie er sich auflöst. Das nächste Kapitel wird genaueren Aufschluss darüber geben; hier aber ist die Frage nach dem positiven Sinn einer nicht objektivierenden, sondern subjektivierenden Erkenntnis vorerst aufseite zu stellen, denn zunächst gilt es noch die negative These entscheidend durchzuführen: dass alle objektivierende Erkenntnis, welche, zunächst als theoretische, Gesetzesund Tatsachenerkenntnis in Einem ist, in sich ein geschlossenes Ganzes ausmacht; dass alles, was als Tatsache oder als Gesetz, im Sinne und mit dem Anspruch objektiver Gültigkeit behauptet wird, dieser einzigen Richtung eben der theoretischen Erkenntnis angehört, innerhalb welcher aber für eine Erkenntnis des Subjektiven als solchen kein Raum zu sein scheint. Und
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da ist es gerade das Erste, was festgestellt werden muss: dass nicht etwa erst das Gesetz, als allgemeines Urteil, sondern auch schon das Tatsachenurteil, als singuläres, der objektivierenden Richtung der Erkenntnis angehört, also nicht die Aufgabe der Psychologie (Erkenntnis der Subjektivität als solcher) definieren oder einen Bestandteil ihrer Definition ausmachen [158] kann. | Was Tatsache sei, sagten wir schon, ist selbst nur auf Grund von Gesetzen entscheidbar. Sei zweifelhaft, ob eine Wahrnehmung, die wir gemacht zu haben meinen, oder auch ein Traum, wirklich stattgefunden habe, so werden wir uns, ganz wie bei der Sicherstellung einer äußeren Naturtatsache, einerseits nach den Ursachen, andererseits nach den Wirkungen dieser angeblichen Tatsache umsehen und durch Schlüsse von der Ursache auf die Wirkung oder umgekehrt das unsichere Zeugnis unserer Erinnerung zu bestätigen oder aber zu berichtigen suchen. Wir werden den zeitlichen Verlauf unserer bewussten Erlebnisse, in deren Zusammenhang das fragliche Erlebnis sich einfügen soll, als ganzen, in sich zusammenhängenden zu restituieren versuchen, um vom Voraufgehenden aufs Folgende oder umgekehrt zu schließen. Dieser Zusammenhang wird aber offenbar nicht als bloß zeitlicher, sondern ursachlicher angenommen; denn eben dass sich vom Voraufgehenden aufs Nachfolgende und umgekehrt schließen lässt, dass die Folge als aus den Voraussetzungen notwendig angesehen wird, begründet den Unterschied des ursachliehen Zusammenhanges von der bloßen zeitlichen Folge. Es bedeutet ja eben, dass nicht nur ein Erlebnis dem andern zeitlich folgte, sondern eines das andere notwendig herbeiführte oder hervorrief, es zwingend nach sich zog. Der ganze simultane Bewusstseinszusammenhang im Momente 1 wird gedacht als bedingend und bestimmend für den ganzen momentanen Bewusstseinszusammenhang im Momente 2; mit einem Wort, Kausalität ist Voraussetzung, und auf Grund dieser Voraussetzung wird in jedem Zweifelsfalle über die Tatsächlichkeit des einzelnen Erlebnisses entschieden. Aber auch die gewöhnliche, frag- und prüfungslose Annahme der Tatsächlichkeit beruht stets auf der Sicherheit dieser allgemeinen Voraussetzung des Ursachzusammenhanges. Erleben kann man wohl ohne diese Voraussetzung, aber ein Erlebnis als Tatsache bei sich feststellen nur durch sie. In solchem Sinne hatte Kant sicher recht zu definieren: Wirklich ist, was mit Wahrnehmung nach empirischen Gesetzen zusammenhängt1. Das gilt für die mittelbaren Tatsachen der Naturwissenschaft; sollte es etwa nicht gelten für die unmittelbaren Tatsachen, die Tatsachen letzter Instanz, welche man die des Bewusstseins nennt? Zwar in jenem Kantischen Satze mag es noch scheinen, als werde wenigstens die Wahrnehmung als voraus, unabhängig vom Gesetzeszusammenhang feststehende, „gegebene“
1
Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 519–525. – Anm. d. Hrsg.
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Tatsache, und damit zugleich als letzter, absoluter, | selbst nicht erst [159] durchs Gesetz bedingter Zeuge der Wirklichkeit angenommen; und die Wahrnehmung eben möchte dann scheinen als unmittelbares, psychisches Erlebnis auf eine ganz unabhängige Gewissheit Anspruch zu haben. Aber auf diese „prima fides“ (diesen „ersten Verlass“) des Epikureismus2 sich zu stützen kann weder die Meinung Kants gewesen sein, noch wäre es sachlich begründet oder auch nur klar auszudenken, die Wahrnehmung aus dem empirischen Zusammenhang zu lösen und für sich als Wirklichkeit, wohl gar absolute Wirklichkeit aufzustellen. Wirklichkeit als Modalitätskategorie, als Urteilsart und zwar vom Gegenstande, unter dem Gesichtspunkte der Methode der Gegenstandsbestimmung, ist auf den Zusammenhang, nämlich unter dem Gesetz, schlechthin angewiesen und außer dem wesentlichen Bezug auf diesen gar kein mögliches Prädikat. Soll also die Wirklichkeit des Psychischen sich behaupten, soll solche Behauptung sich zumal als Wissenschaft sicherstellen lassen, so gilt die Forderung der Einordnung in den schließlich einheitlichen Zusammenhang kausaler Gesetze unweigerlich auch, ja zuletzt nur von ihr; gibt es doch zuletzt keine anderen Tatsachen als die des Bewusstseins. „Die“ Wirklichkeit ist ihrem ganzen Begriff nach eine, und sie bedeutet, ihrer letzten, notwendig logischen Begründung zufolge, nichts anders als „den“, seinem ganzen Begriff nach eben einzigen Gesetzeszusammenhang der Erfahrung oder Natur; „eine“ Wirklichkeit aber, die Wirklichkeit einer einzelnen Tatsache kann nur gültig ausgesagt werden im Sinne der Einordnung in diesen einzigen Zusammenhang, auf Grund des Gesetzes, das überhaupt nur diese Funktion hat, das Einzelne der sogenannten Tatsachen in einen einigen Zusammenhang zu ordnen. Es gibt also nicht eine doppelte Erkenntnis, der Tatsachen und der Gesetze, sondern die Tatsache wird als solche nur erkannt, indem sie durch das Gesetz eingeordnet wird in den Gesamtzusammenhang der Tatsachen: die Erfahrung oder Natur. § 4. Die Zeit- und Raumbestimmung der Tatsache. Wohl der kürzeste Weg, dies dem etwa noch Zweifelnden zur Gewissheit zu bringen, ist dieser. Zur Sicherstellung einer Tatsache, heiße sie nun physisch oder psychisch, gehört, nach Kants unumstößlicher Feststellung, auf jeden Fall die Fixierung
2 Nach dem von Lukrez formulierten Prinzip des Epikureismus, dass nur Sinnlichkeit das „erste Vertrauen“ sein kann, worauf man „irgendetwas bekräftigen“ kann. Vgl. De Rerum Natura, V. 423–425: „cui nisi prima fides fundata valebit / haut erit occultis de rebus quo referentes / confirmare animi quicquam ratione queamus.“ Übers.: „Wenn es nicht irgendeine erste verlässliche Grundlage gibt, dann wird es nichts geben, aufgrund dessen wir, auf verborgene Dinge uns beziehend, mit der Vernunft unseres Geistes irgendetwas bekräftigen können.“ – Anm. d. Hrsg.
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des Zeitpunktes ihres Eintritts. Der Zeitpunkt, desgleichen die Zeitdauer einer Tatsache kann aber mit objektiver Gültigkeit, mit dem Geltungswerte [160] der Wirklichkeit nur fest|gelegt werden in Beziehung auf die eine, allem wirklichen Geschehen gemeinsam zugrundeliegende Zeitordnung. Diese Einheit der Zeit des Wirklichen nun wird selbst erst konstituiert durch die Einheit des Kausalzusammenhanges des Geschehens. Die wirkliche, die objektiv gültige Zeitordnung der Ereignisse ist die, nach welcher sich diese ihre Zeitstellen wechselseitig auf einhellige Weise, mithin nach Gesetzen, welche die Zeitordnung des Geschehens eindeutig bestimmt machen, das heißt nach kausalen Gesetzen anweisen. Hieraus aber folgt unmittelbar die notwendige Einheit des Kausalzusammenhanges aller Tatsache. Wer für psychische und physische Tatsachen zweierlei Kausalordnungen annimmt, müsste folgerecht beide auch auf zweierlei Zeit beziehen. Wer die erstere außerhalb jedes Kausalzusammenhanges doch als Tatsache behaupten wollte, müsste aus der Aussage der Tatsächlichkeit die des Zeitpunktes der Tatsache streichen können; die eindeutige Bestimmtheit des Zeitpunktes der Tatsache fordert unweigerlich deren Einordnung in den einzigen Kausalzusammenhang, der eben die „Natur“ konstituiert. Für die Einzigkeit dieses Kausalzusammenhanges ist übrigens, nicht minder als die Einzigkeit der Zeitordnung, auch die der Raumordnung bedingend. Umso weniger könnte die psychisch genannte Tatsache, wenn sie überhaupt den Wert der Tatsache behaupten soll, sich der Einordnung in die „Natur“ entziehen, da die zugleich räumlich und zeitlich bestimmte Ordnung des Geschehens doch nur jene einzige sein kann, die unter dem Namen der Natur immer gemeint und gesucht wird. Auch diese notwendige Einheit der Zeitordnung mit der Raumordnung hat bereits Kant, wie wir meinen, über allen berechtigten Zweifel hinausgehoben. Objektive Zeitbestimmung ist gar nicht anders möglich als in gleichzeitiger Beziehung auf den Raum. Denn die Zeit ist schlechterdings nicht durch sich selbst bestimmbar. Man kann, grob gesprochen, nicht eine Zeitstrecke wie eine Raumstrecke aus ihrer Stelle rücken, um sie an einer anderen zu messen, sondern sie ist allein messbar, mithin bestimmbar, durch den Raum. Diese Redeweise ist, wie gesagt, ein wenig grob; auch schließt sie noch eine wesentliche Ungenauigkeit ein. Denn auch die reine Stellenordnung des Raumes, oder irgendwelche Stellen in ihr, lassen sich nicht aus der Stelle rücken, sondern allenfalls nur die Dinge in ihm; die Stellen stehen unverrückbar fest. Aber sie stehen wenigstens und [161] bleiben, und so kann doch unser Gedanke in | aller Freiheit zwischen ihnen hin und her gehen und dabei sie immer in ihrer Identität festhalten und rekognoszieren. Der einmal verlassene Zeitpunkt dagegen wäre für immer verschwunden, wenn er nicht im Raume gleichsam seine bleibende Spur hinterließe. Selbst das Bild der Zeit in unserer Vorstellung, das selber stehend und bleibend sein muss, da wir ja sonst das Vergangene, da nicht mehr ist, gar nicht vorstellen könnten, muss folglich ein Raumbild, eine Projektion
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gleichsam der Zeit in den Raum sein; durch räumliche Repräsentation allein kann das Vergangene, als vergangen, d.h. hinter uns liegend, dennoch in der Vorstellung festgehalten oder erneuert werden. Denn ich kann im Jetzt das Früher nur vorstellen, indem ich es wie jetzt gegenwärtig ansehe, also die zeitliche Aufeinanderfolge, die doch die Simultaneität an sich ausschließt, dennoch in eine Simultanordnung, die nur durch den Raum vorstellig zu machen ist, mir übertrage. Dies gilt von jeder, auch der „subjektivsten“ Zeitvorstellung; eine objektiv gültige Zeitbestimmung aber, nach der eben hier die Frage ist, ist vollends nur möglich in enger Verbindung mit der objektiv gültigen räumlichen Bestimmung. Es sind gleichförmige, als gleichförmig wenigstens vorausgesetzte Bewegungen, welche uns den gleichförmigen Verfluss der objektiven Zeit darstellen müssen; also ist Zeit objektiv allein bestimmbar an räumlichem Geschehen. Jede bestimmte Beziehung eines Ereignisses auf die eine, objektive Zeit ordnet also dieses unvermeidlich ein in den einheitlichen Zusammenhang der (nur in der Einzahl denkbaren) Natur, macht also es selbst zum Naturereignis. Zwar meint man wohl die Zeitfolge ganz unmittelbar, ohne jede Hilfe der Raumvorstellung, wenn etwa nicht exakt messen, doch näherungsweise, mehr oder minder zutreffend, schätzen zu können, da doch in der Erinnerung eine erlebte Folge z. B. von Tonempfindungen sich ziemlich getreu reproduziert; man denke etwa an das fein entwickelte rhythmische Gedächtnis des geübten Musikers. Allein, sieht man auch ganz ab von dem schon Gesagten: dass auch das subjektivste Zeitbild als Bild stets den Raum voraussetzt und zu Hilfe nimmt, so gilt erstens die subjektive Schätzung nicht ohne weiteres auch objektiv; nach objektiv gültiger Bestimmung aber war die Frage; zu solcher wird man stets räumlicher Maße bedürfen. Und dann meint auch die subjektivste Schätzung in Wahrheit doch die eine, objektive Zeit, und setzt sie überhaupt voraus; sie rät gleichsam auf die objektive Dauer, welche | sicher und haltbar zu bestimmen ihr nur die Mittel fehlen. Soll [162] nun diese erratene objektive Dauer etwa die wahre Dauer des subjektiven Erlebnisses sein? Manche Psychologen drücken sich fast so aus, als ob sie dergleichen im Sinne hätten. Aber wirklich meinen sie es schwerlich so, denn über den Tatverhalt besteht doch im Grunde gar kein Zweifel: wir erleben unmittelbar wohl ein Nacheinander von Eindrücken, aber nicht eine in sich schon für uns bestimmte oder bloß subjektiv, außer jedem Raumbezug, bestimmbare Zeit; sondern wir schätzen die objektive Zeit von unseren subjektiven Erlebnissen aus, so gut als diese es eben erlauben, nach gewissen allgemeinen Erfahrungen, welche, wenn man genauer zusieht, stets auf ein äußeres Geschehen zugleich Bezug nehmen und dessen Kontrolle gar nicht entbehren können; welche ohne sie nicht nur der vollen Sicherheit ermangeln, sondern überhaupt nicht möglich sein würden. Es gibt also keine besondere psychische Zeit, sondern nur eine mehr oder minder bestimmt
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auf ein äußeres Geschehen bezogene, demgemäß mehr oder minder exakte und folglich gültige Bestimmung der einen und identischen objektiven Zeit, der Zeit des Naturgeschehens. §5. Bestätigung. Indessen scheinen manche Psychologen zu glauben und überhaupt keine Schwierigkeit dabei zu finden, dass das psychische Geschehen, obgleich auf die eine, allem Geschehen gemeinsame Zeit mit Notwendigkeit zu beziehen, dennoch nicht in die einzige kausale Ordnung alles Geschehens, also die physische Ordnung notwendig einzubeziehen sei, sondern für sich mindestens als Tatsache bestehen, dann aber wohl auch in eine eigene Kausalordnung, analog der der äußeren Natur, aber verschieden von ihr, sich fügen könne und müsse. In der einen Zeit, denkt man, könne sehr wohl zweierlei Geschehen und zweierlei Ordnung des Geschehens Platz finden und finde wirklich Platz: äußere Veränderungen, insbesondere Ortsveränderungen, und innere Vorgänge in uns: Vorstellungen, Gedanken, Gefühle, Willensakte usw.; beide durch eine beständige Wechselbeziehung verknüpft, durch welche die Beziehung auf eine und dieselbe Zeitordnung hinlänglich gesichert sei; aber an sich unabhängig von einander, je für sich, sowohl in der Zeit geordnet als kausal zusammenhängend. Allein bei dieser Vorstellungsweise übersieht man gerade das, worauf es hier entscheidend ankommt, dass nämlich nichts anderes als die Einheit [163] des zeit-räumlich bestimmten Kausalzusammenhanges es ist, welche | eine objektiv gültige Bestimmung irgendwelches Geschehens überhaupt nur möglich macht und in der Tat vollzieht. Objektiv gültig kann doch nur die Zeitbestimmung sein, welche von vornherein auf die nur einmal vorhandene Zeit des eben damit notwendig in einem einzigen Kausalzusammenhang zu denkenden Geschehens bezogen ist. Die Eindeutigkeit der Zeitbestimmung irgendwelches Geschehens, welche die Bedingung der gültigen Bestimmung dieses Geschehens selbst ist, ist ja nie schlechthin gegeben, d.h. durch den bloßen, unmittelbaren Zusammenhang des subjektiven Erlebens garantiert. Dieser subjektive, bloß durch den gemeinsamen Bezug auf ein und dasselbe erlebende Ich definierte Zusammenhang ist vielmehr in sich durchaus fließend, unbestimmt und aus sich selbst gar nicht bestimmbar; er kann selbst nur bestimmt werden von einem objektiven, wenigstens als objektiv vorausgesetzten und konstruierten Zusammenhang aus, der, um den Zeitverlauf des subjektiv Erlebten bestimmbar zu machen, selbst zeitlich bestimmt gedacht sein muss, und zwar bestimmt in Hinsicht der einzigen, objektiven Zeit, die wiederum ohne die andere Bedingung objektiv gültiger Bestimmung, den Raum, nicht auch nur in Gedanken bestimmbar wäre. Denn die Einheit (Einzigkeit, Eindeutigkeit) irgendwelcher zeitlichen Bestimmung von Ereignissen kommt nur zustande als ein Moment, und zwar eines der grundwesentlichen Momente der Natureinheit; zu dieser aber gehört ebenso wohl der Raum, auch um der möglichen Einheit der
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Zeitbestimmung willen, die ohne sie zwar immer gefordert, aber nicht auch nur bedingt, auch nur in hypothetischer Konstruktion darstellbar wäre. Denn objektive Zeitbestimmung braucht, wie Kant recht gesehen hat, ein Beharrliches, welches in der bloßen Zeit (als worin „alles im Fluss“ ist) nicht gefunden wird3. Das sind Kantische Sätze, die aber unabhängig von Kant feststehen durch das Faktum der Wissenschaft. §6. Weiteres über die Einheit der Zeit- und Raumordnung. Den Psychologen ist es eine sehr geläufige Sache, dass der subjektive Raum unserer Vorstellung nicht der Raum des objektiven Geschehens sei. Wie könnten überhaupt beide identisch sein? Jener ist ja so vielfach wie die Vorstellenden, und bliebe es, auch wenn die Raumvorstellungen der vielen Vorstellenden übrigens dem Inhalt nach vollkommen gleich wären. Dieser dagegen, der Raum des objektiven Geschehens, ist seinem ganzen Begriff zufolge nur einer. Wie sollten also | beide anders als durch eine starke Unachtsamkeit miteinander [164] verwechselt werden können? Diese Darstellungsweise entspricht nicht unserer methodischen Grundauffassung; sie spricht die Sprache eben der Ansicht, gegen die wir streiten; indessen, was sie Sachliches ausdrücken will, ist zweifellos richtig. Jedenfalls aber, wenn diese Betrachtung irgend gelten soll, so muss sie völlig gleichsinnige Anwendung finden auf die Zeit. Die eine, identische Zeitordnung des Geschehens ist genau so wenig wie die eine, identische Raumordnung im subjektiven Erlebnis des Vorstellenden zu suchen; sie kann so wenig wie die letztere identisch sein mit der Ordnung, die der Vorstellende in seinen subjektiven Vorstellungen, sei es eines äußeren oder vollends eines (angeblich) rein inneren Geschehens, zugleich vorstellt. Die einzige, objektive Zeit aber kann aus den unbestimmt vielen subjektiven Zeitvorstellungen nicht anders gewonnen werden als durch eine Konstruktion; durch keine andere Konstruktion, als durch die überhaupt die Einheit des objektiven Geschehens für uns erst geschaffen wird. Zu dieser Konstruktion gehört aber nicht nur ebenso wesentlich die der einen, objektiven Raumordnung, sondern die Konstruktion der objektiven Zeit geht in der ganzen Folge ihrer Stadien genau mit der des objektiven Raumes zusammen und ist unabhängig von ihr gar nicht vollziehbar. Genauer wäre zu sagen: die einzige, objektive Zeit ist, wie der einzige, objektive Raum, überhaupt niemals gegeben noch in endgültiger, abschließender Weise darstellbar; beide sind, der Erfahrung gegenüber, Ideal. Ihr Begriff bleibt dennoch völlig sicher und rein, sozusagen als Grenzbegriff gegenüber der unendlichen Folge annähernder Zeit- und Raumbestimmungen, die allein empirisch möglich sind. Zu einer absoluten Zeit- und
3
Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 160 f. – Anm. d. Hrsg.
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Raumbestimmung bedürfte man absolut fester Standörter; ob aber auch nur zwei gegeneinander feste Örter im Universum zu finden sind, zweifelte schon Newton; heute besteht kein Zweifel mehr, dass solche nicht nur nicht gegeben sind, sondern auch nie gegeben werden könnten; auch nur hypothetisch solche anzunehmen, wäre unzulässig, weil eine solche Hypothese von vornherein jeder möglichen Verifikation entzogen wäre. Fällt darum aber die Wahrnehmung überhaupt aus dem Raume, aus der Zeit der Objekte heraus? Offenbar nein. Wir ordnen unsere Wahrnehmungen in Zeit und [165] Raum so, wie nur die Data es gestatten wollen, stets jedoch nach | Maßgabe der Forderung eines einzigen Kausalzusammenhanges des Geschehens in der einzigen Zeit, dem einzigen Raume; folglich kommen wir mit unseren Wahrnehmungen aus der einzigen Zeit; dem einzigen Raume nie heraus, das heißt, wir beziehen sie mit Notwendigkeit auf die geforderte Einheit des Geschehens in der einzigen Zeit, dem einzigen Raume, obgleich unsere zeitlichen wie räumlichen Bestimmungen, so genau sie auch werden mögen, die gedachten absoluten nie erreichen. Beide, Zeit- wie Raumvorstellung, sind, nach den unangreifbaren Feststellungen der Erkenntniskritik durch und seit Kant, nichts anderes als gesetzmäßige Verfahrungsweisen der Erkenntnis, welche eben auf deren Einheit zielen und sie hervorbringen helfen; und zwar sind beide unendliche, nie abgeschlossene Verfahrungsweisen. Die Einordnung in die eine, allbefassende Gesetzesordnung des Geschehens ist es, aus welcher der einzige Raum, die einzige Zeit für unsere Erkenntnis erst hervorgeht; denn die sämtlichen Verfahrungsweisen, welche zusammen die „Möglichkeit“, das heißt die konstitutiven Grundlagen der Erfahrung oder der Natur darstellen, müssen ein System bilden, wo eins ins andere greift und das Funktionieren jedes einzelnen Bestandstücks bedingt ist durch ein ihm genau entsprechendes Funktionieren aller übrigen. Dies Verhältnis besteht besonders deutlich zwischen Zeit- und Raumordnung, und wiederum zwischen diesen beiden in ihrer untrennbaren Einheit und der kausalen Ordnung des Geschehens; wie gerade die heutige Physik (im sogenannten Relativitätsprinzip) es überwältigend klar bestätigt4. §7. Gemeinsamkeit der Zeit-Raum-Welt. Kaum bedarf es noch des Zusatzes, dass zu dieser Konstruktion wir uns nicht bloß der eigenen Wahrnehmungen, sondern ebensowohl der Wahrnehmungen der Anderen, von denen wir Kunde erhalten, bedienen. Das ist aber wiederum nur möglich, indem die Wahrnehmungen sämtlicher Wahrnehmenden auf eine und dieselbe Zeit,
4 Vgl. die ausführlichere Darstellung hierzu in Natorps Logische Grundlagen der exakten Wissenschaften, S. 392–404, sowie – besonders bezüglich der Relativitätstheorie – Ernst Cassirers Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, worauf Natorp im Vorwort zur zweiten Auflage von 1921 (S. VII) verweist. – Anm. d. Hrsg.
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einen und denselben Raum der Objekte bezogen werden; sonst würden sie eben gar nicht zu einem übereinstimmenden Ergebnis führen, nicht gegeneinander verrechnet werden und sich gegenseitig zur Kontrolle dienen können. Zwar meine Wahrnehmung ist schlechterdings meine; ich kann von keinem Andern Belehrung darüber annehmen, was ich in meiner Wahrnehmung finde oder nicht finde; er kann es gar nicht wissen, ohne dass ich es ihm mitteile. Allein ich kann es ihm mitteilen, wir können | uns miteinander [166] über unsere Wahrnehmungen verständigen und die eine durch die andere korrigieren, ganz so wie eine eigene Wahrnehmung durch eine neue eigene Wahrnehmung. Diese Möglichkeit der Verständigung mit den Anderen aber ist, ganz so wie die der Verständigung mit mir selbst, z.B. über eine heutige und gestrige Wahrnehmung desselben Objekts, bedingt durch die Möglichkeit, die verglichenen Wahrnehmungen sei es desselben oder verschiedener Subjekte auf eine und dieselbe Zeit, auf einen und denselben Raum, in denen wir alle wahrnehmen, zu beziehen. Wollte man diese Möglichkeit für den einen Fall leugnen, so müsste man sie aus entsprechendem Grunde auch für den anderen Fall verneinen, also z.B. behaupten, dass auch meine gestrige und heutige Wahrnehmung sich nicht auf einen und denselben Raum, sondern je auf einen besonderen bezögen. Es hätte dann jedes wahrnehmende Subjekt nicht bloß einen, sondern unzählige eigene Wahrnehmungsräume, so viele als es von einander isolierbare räumliche Wahrnehmungen hätte. Und dasselbe gälte von der Zeit. Ist es wirklich nicht so, baut sich uns vielmehr aus der ganzen Folge unserer Wahrnehmungen die einzige Zeitordnung, die einzige Raumordnung in unserer Erkenntnis auf, in die wir diese sämtlichen Wahrnehmungen hineinstellen und eben indem wir sie hineinstellen – denn Zeit und Raum existieren ja in unserer Vorstellung gar nicht für sich, sondern nur als Ordnungen ihres Inhalts –, so ist es wiederum diese selbe, einige Zeit- und Raumordnung, in der wir die anderen Wahrnehmenden, so gut wie uns selbst, existierend denken, und in die wir auch deren Wahrnehmungen, so viel davon uns durch Mitteilung bekannt wird oder mit Sicherheit sich erschließen lässt, mit gleicher Notwendigkeit wie die eigenen hineinstellen. Sind doch uns unsere eigenen früheren Wahrnehmungen auch nicht unmittelbar gegenwärtig, sondern durch Erinnerung vergegenwärtigt, also auch nur gleichsam durch Mitteilung oder Schlussfolgerung uns bekannt. Die Differenz der auf dasselbe Objekt bezogenen Wahrnehmungen verschiedener Subjekte hindert diese einheitliche Beziehung so wenig, wie die Differenz der Wahrnehmungen eines und desselben Subjekts zu verschiedenen Zeiten sie hindert. So wenig ich z.B., wenn ich dasselbe Objekt mit dem rechten und mit dem linken Auge, oder das eine Mal mit bloßem Auge, das andere Mal durch eine die Dimensionen der Objekte für meine Wahrnehmung durchgängig verändernde Linse | betrachte, je in eine andere [167]
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Welt zu blicken glaube, vielmehr auf Grund geringer, doch beständiger und gleichmäßiger Erfahrungen leicht imstande bin, die eine Wahrnehmung mit der anderen zu vereinbaren und gleichsam zu verständigen, die eine durch die andere zu bewähren oder aber zu berichtigen, so wenig müssen meine und eines Anderen Wahrnehmungen sich deshalb auf verschiedene Räume beziehen, weil sie verschiedenen Erlebniszusammenhängen sich einfügen und auch inhaltlich niemals völlig kongruieren. Dadurch berichtigt sich die anfangs von uns noch zugelassene Voraussetzung, welche den vielen subjektiven Zeit- und Raumvorstellungen die einzige objektive als etwas völlig Fremdes und Getrenntes gegenüberstellte. Die vielen verschiedenen Vorstellungen, sei es verschiedener oder auch eines und desselben Subjekts können sehr wohl auf eine und dieselbe Zeit- und Raumordnung an sich bezogen sein; sie müssen es wohl sein können, denn sie sind es. §8. Vermeintliche Unräumlichkeit des Psychischen als des innerlich Wahrgenommenen. Man sollte denken, dass über diese Voraussetzungen mindestens seit Kant allgemeine Übereinstimmung herrschen müsse. Denn alles Wesentliche von dem hier Gesagten ist schon durch ihn aufgestellt und über allen Zweifel erhoben worden. Immerhin ist zum Teil sogar Kant selbst, nämlich durch die allzu missverständliche Fassung seiner Lehre vom äußeren und inneren Sinn5, einigermaßen daran schuld, dass das Vorurteil tief eingewurzelt ist, als ob die unmittelbaren oder Bewusstseinstatsachen an sich schlechthin unräumlich seien und mit den mittelbaren Tatsachen der Natur nur die Zeit gemein hätten. Dass die Zeit selbst nur durch den Raum vorstellig zu machen sei, hält man von diesem Standpunkt für eine Täuschung; die Repräsentation der Zeit durch ein räumliches Kontinuum von einer Dimension, meint man, sei höchstens eine Metapher, eine Fiktion, ein bloßer Kunstgriff der Wissenschaft, der allenfalls der Bequemlichkeit der Darstellung dienlich sei. Wäre das richtig, dann wäre es wohl ausgeschlossen, die „psychischen“ Erscheinungen mit den Erscheinungen der Natur in eine einzige Kausalordnung zu zwingen; mindestens dürfte diese Vereinigung nicht für notwendig, durch die Sache gefordert, sondern allenfalls für ein gewagtes Abenteuer der Metaphysik, für eine „Hypothese“ im schlechten Sinne gelten. [168] Aber in Wahrheit ist alles im eigentlichen Sinne Erscheinende, | auch das psychisch Genannte, selbst wenn man von der Bedingtheit der Zeitvorstellung durch die Raumvorstellung absieht, an sich und als solches ebenso wesentlich auf den Raum wie auf die Zeit zu beziehen. Das bedarf wohl, angesichts jenes tiefgewurzelten Vorurteils fast der Mehrzahl der Psychologen, auch einiger der besten, noch einer spezielleren Beleuchtung.
5
Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 67–69. – Anm. d. Hrsg.
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§9. Raumwahrnehmung notwendig bezogen auf den einen, objektiven Raum. Betrachten wir, um unsere für manchen, wie es scheint, befremdliche Ansicht uns erst etwas vertrauter zu machen, zunächst den einleuchtendsten Fall der gewöhnlichen Sinneswahrnehmung und zwar der Gesichts- und Tastwahrnehmung, das heißt derjenigen Wahrnehmung, welche den unmittelbarsten und deutlichsten, von keinem möglichen Standpunkte bestreitbaren Raumbezug einschließt: der Wahrnehmung des Räumlichen selbst. Wie wollte man denn leugnen, dass diese auf den Raum von Haus aus bezogen ist, und zwar nicht auf irgendeinen anderen, als den wir unserer gesamten Vorstellung von der Natur zugrunde legen, sondern auf eben diesen? Zwar ist zu besorgen, dass einige der Psychologen, deren Thesen damit in Frage gezogen werden, gleich hier über mich herfallen und mich einer argen, kaum verzeihlichen Verwechslung beschuldigen werden. Der Inhalt dieser Wahrnehmungen, werden sie sagen, werde freilich, eben durch den Akt des Wahrnehmens, auf den Raum bezogen (obgleich der Raum selbst damit nicht zum Inhalt meiner Wahrnehmung werde); allein nach dem Inhalt sei hier überhaupt nicht die Frage, sondern nach dem psychischen Erlebnis, nach dem Akte des Wahrnehmens selbst; dieser aber könne gar nicht auf den Raum auch nur bezogen, geschweige in ihn eingeordnet werden. Sei das Wahrgenommene im Raum, werde es vielmehr in ihn von uns erst hineingeordnet, so werde doch damit das Wahrnehmen selbst nicht zu einem räumlichen Vorgange. Soll etwa (wird man sagen) der Akt der Wahrnehmung das draußen Vorhandene buchstäblich in uns herüberholen? Soll es „hinüberwandern“ in mein Ich oder Bewusstsein? Ist das Bewusstsein ein Raum, und gar ein Raum im (äußeren) Raume? Indessen wir haben die in dieser beliebten Entgegnung zugrunde gelegte Unterscheidung von Akt und Inhalt des Bewusstseins schon längst abgelehnt und zugleich, wie wir denken, in ihrem verführenden | Scheine erklärt. Allem [169] Anschein nach reduziert sich das Wunder der unräumlichen Bewusstseinsakte auf das freilich unleugbar wirkliche Wunder der Bewusstheit. Das ist gewiss richtig: die Bewusstheit, die Ichbeziehung überhaupt, ist als solche nichts Räumliches. Allein hier ist die Rede von dem, was erscheint, die Bewusstheit aber erscheint nicht; da nun der Raum nichts als eine „Form der Erscheinung“, eine Ordnung des Inhalts ist, so kann gewiss die Bewusstheit nicht im Raume gegeben sein. Aber dann folgt auf gleiche Weise, dass sie auch nicht in der Zeit gegeben sein kann. In der Tat, nicht sie erscheint in der Zeit, sondern die Zeit in ihr. Die Zeit gehört eben, wie der Raum, zum Inhalt, als Form seiner Ordnung; sie ist, wie der Raum, für ein Ich da, schließt aber selbst das Ich nicht ein. Die Sukzession ist notwendig Sukzession von Inhaltsmomenten, natürlich allemal für ein Bewusstsein. Folgerecht müsste demnach, wer das Ich und die Beziehung auf es für unräumlich erklärt, beide auch für unzeitlich erklären; und Herbart wenigstens beweist den
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Mut dieser Konsequenz6. Er hat ganz recht, wenn jenes letzte Ich gemeint ist, welches, wie allem Inhalt, so auch der Ordnung desselben in Zeit und Raum schlechthin zugrunde liegt. Nur muss man sich dann auch darüber klar sein, dass dieses Ich, da es nicht erscheint, auch aus aller objektiven, ja aus aller wissenschaftlichen Betrachtung, aus aller Fragestellung auch der Psychologie entfällt. Lässt man aber dies unräumliche und unzeitliche Ich hier, wie billig, ganz aus dem Spiel, so bleibt von der Tatsache des Bewusstseins eben nichts übrig als der Inhalt, die Erscheinung. Auf die Frage, wo das Erscheinende erscheine, lässt sich dann nur antworten durch Angabe der Stelle im gedachten einzigen Raume, dem Raume der Objekte, in welche ich das Objekt meiner Wahrnehmung, durch den Akt dieser Wahrnehmung selbst, je nach den besonderen Bedingungen derselben, allemal wirklich verlege. Vielleicht verlege ich es an die unrechte Stelle; vielleicht ist, was ich da draußen zu sehen oder zu hören glaubte, in der Tat nur auf meiner Netzhaut, in meinem Ohr. Allein schon wenn ich frage, ob es da oder dort, drinnen oder draußen sei, vollends wenn ich den Bedingungen nachforsche, von denen die jeweilige Ortsbeziehung abhänge und unter denen sie objektiv oder nur subjektiv gültig sei, so rede ich offenbar von der „Natur“, von dem Verhältnisse meiner Wahrnehmung zur Objektivität, und es handelt [170] sich gar nicht mehr | darum, ob das Erscheinende überhaupt im Raume sei, sondern darum, ob seine Stelle im Raum richtig oder verkehrt, gültig oder ungültig bestimmt sei. Soll nun hier wiederum die ungültige Bestimmung der objektiven Raumordnung des Wahrgenommenen die gültige Bestimmung des subjektiven oder Vorstellungsraumes bedeuten? Das ist widersinnig; also bleibt es dabei, dass auch die subjektive Erscheinung als zum Raume gehörig zu betrachten ist, und nicht bloß überhaupt zu einem, sondern zu einem und demselben, auf den das Naturgeschehen bezogen wird. Hier haben wir also ein unzweifelhaft „psychisches“ Phänomen, welches ganz unmittelbar, ohne jede etwa künstliche Vermittlung oder Übertragung, dem Raume zugehört, folglich mit allem äußeren oder Naturgeschehen in einem gesetzlichen Zusammenhange begriffen werden muss. Mindestens hier, in der Raumwahrnehmung selbst, besteht also überhaupt von Anfang an nicht jene Scheidewand, die man zwischen dem physischen und psychischen Gebiet hat aufrichten wollen. Besteht sie aber hier nicht, so kann sie überhaupt nicht bestehen, denn wenn sie bestände, so müsste sie eben für alles Psychische gelten.
6 Johann Friedrich Herbart (1776–1841). Es ist nicht ersichtlich, auf welche Werke Herbarts sich Natorp hier und im Folgenden bezieht, möglicherweise Psychologie als Wissenschaft. – Anm. d. Hrsg.
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§10. Auch das Subjekt der Raumwahrnehmung im objektiven Raum. Man darf aber noch weitergehend behaupten: in der Raumwahrnehmung werde nicht das Wahrgenommene allein, sondern nicht minder der Wahrnehmende, und zwar unmittelbar, im Raum, im objektiven Raum gegenwärtig gedacht. Äußere (räumliche) Wahrnehmung wird unvermeidlich vorgestellt als ein äußeres, räumliches Verhältnis zwischen dem Objekt und dem Wahrnehmenden. Das Objekt steht vor mir, stellt sich mir dar; ich bin dabei im Raum und das Objekt ist im Raum, und zwar beide in demselben, einigen, umfassenden Raum, in dem ebenso die anderen räumlich wahrnehmenden Subjekte sind. Ich stelle das Objekt mir vor, vielmehr es selbst stellt sich mir vor, stellt sich vor mich hin, im buchstäblich räumlichen, durchaus keinem übertragenen Sinne. Zwar werden jene feinsinnigen Psychologen, mit denen wir schon oben zu tun hatten, diese Auffassung sicher sehr roh und grobkörnig finden. Auch ist ihnen vollauf zuzugeben, dass das Gesagte nicht gilt von jenem Ich, welches, gleich den Rittern von der Gemütlichkeit, erhaben ob Raum und Zeit schwebt7; sondern nur von dem, was hier im Leben, solange wir noch mit Raum und Zeit uns zu bemengen haben, | uns unser Ich, das [171] an sich unvorstellbare, vorstellen, das heißt repräsentieren muss. Dieses repräsentative Ich, wie man es nennen mag, ist jedenfalls im Raume ebenso wie in der Zeit. Jenes ursprüngliche Ich dagegen ist freilich über Raum und Zeit, aber eben damit auch über alle erfahrbare Tatsächlichkeit hinaus; es wird damit für empirische Wissenschaft zum mindesten uninteressant. Nach dem Erfahrbaren allein ist hier die Frage; da aber lässt sich nur sagen: die Tatsache, dass „ich“ etwas außer „mir“ wahrnehme, bedeutet unweigerlich ein räumliches Verhältnis zwischen diesem Ich, als dem Wahrnehmenden, und dem Wahrgenommenen. Nun gehört alles räumliche Verhältnis, wie allerseits zugestanden wird, zur äußeren Natur und ist im einheitlichen Zusammenhange derselben zu erklären, das ist kausal zu bestimmen; folglich ist auch mein Wahrnehmen, nämlich alles, was sich daran als Tatsache erfahren und feststellen und kausal begründen lässt, ein äußeres, mithin ein Naturgeschehen. §11. Schlussfolgerung. Man kann hiergegen jetzt nicht mehr einwenden: die Beziehung auf den einzigen, objektiven Raum wie auf die einzige, objektive Zeit sei erst ein Erwerb der Erfahrung; ursprünglich und unmittelbar aber sei die Wahrnehmung nicht auf den einen, objektiven, sondern auf einen eigenen Wahrnehmungsraum bezogen, der nicht ohne weiteres mit den Wahrnehmungsräumen Anderer identisch, ja auch für denselben 7 Nach dem Studentenlied „Ritter von der Gemütlichkeit“. Der Refrain lautet: „Es sind erhaben ob Raum und Zeit / die Ritter von der Gemütlichkeit.“ – Anm. d. Hrsg.
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Wahrnehmenden genau genommen wirklich in jeder neuen Wahrnehmung ein neuer sei; nur allmählich lernten wir diese verschiedenen subjektiven Räume auf den einen objektiven zurückbeziehen; und entsprechend bei der Zeit. Was daran Wahres ist, haben wir gesehen. Aber alles, worauf es im gegenwärtigen Zusammenhang ankommt, ist, dass das subjektiv Wahrgenommene auf die Einheit der Objektivität, hier wie überhaupt, stets zurückbezogen werden kann und notwendig zurückzubeziehen ist. Ob wir diese Zurückbeziehung im einzelnen Fall wirklich vollbringen, ob wir das Wahrgenommene in bestimmter und abschließender Weise in den einen, identischen Raum, die eine, identische Zeit wirklich einordnen, und ob dies richtig geschehe oder nicht, auf dies alles kommt im gegenwärtigen Zusammenhang überhaupt nichts an. Es genügt, dass 1. nichts anderes gegeben ist, was sich auf den objektiven Raum und die objektive Zeit deuten oder beziehen, oder wodurch sich diese Vorstellungen überhaupt nur vollziehen ließen, als [172] eben die zunächst | „subjektive“ Wahrnehmung; und dass 2. alles subjektiv, wenigstens als Wahrnehmung, Gegebene irgendwie und in irgendwelcher Entfernung auch als Phänomen, oder sei es nur als Symptom, als Hinweis irgendwelcher Art, auf die Einheit des objektiven Geschehens im einen objektiven Raum sowohl wie der einen objektiven Zeit zurückzudeuten ist, das heißt, an sich zurückgedeutet werden kann und wissenschaftlich zurückgedeutet werden muss; diese beiden Prämissen, will ich sagen, reichen hin zu der Konklusion: dass die Phänomene des Bewusstseins mit eben den Phänomenen, welche die Wissenschaft auf die objektive Einheit der Natur deutet und in ihr objektiviert, wenn nicht überhaupt einerlei, doch von derselben Ordnung, und dass mithin nicht zwei Kausalordnungen – weil gar nicht zwei toto genere verschiedene Reihen kausal zu ordnender Phänomene – gegeben sind, sondern nur eine. §12. Verallgemeinerung des Schlusses auf alles sinnliche Bewusstsein. Bewiesen wurde unsere These im vorigen zunächst für die Wahrnehmung des Räumlichen selbst, also im allgemeinen die Gesichts- und Tastwahrnehmung. Und im Grunde genügt es für das, worauf es hier ankommt, dass an dieser einzigen Stelle das Nichtvorhandensein der eingebildeten Kluft zwischen dem physischen und psychischen Reich klar herausgestellt ist. Denn wenn sie nicht durchweg die beiden Reiche trennt, so sind sie eben nicht getrennt, sondern eins. Übrigens wird man sich nunmehr leicht überzeugen, dass auch alle sonstige Wahrnehmung, desgleichen alles sinnliche Lust- und Schmerzgefühl sich, nur in unbestimmterer Art, auf den Raum beziehen muss. Auf den Grad der Bestimmtheit, gleichsam der Artikulation der Raumbeziehung kommt aber hier gar nichts an. Mit befremdlicher Unbefangenheit zwar haben manche Psychologen die bloß geringere Bestimmtheit der Raumbeziehung bei den übrigen
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Sinnen für ein gänzliches Fehlen derselben angesehen und sind so zu der merkwürdigen Meinung gekommen, dass wir in die raumlose Welt zwar nicht hineinsehen oder -tasten, wohl aber -horchen, -riechen oder -schmecken könnten; welches alles wenigstens mir bisher nicht hat gelingen wollen. Dass aber ferner die sinnliche „Vorstellung“ von der Wahrnehmung nicht der Art, auch nicht einmal durchweg dem Grade nach verschieden ist, ist in anderem Zusammenhange schon berührt worden. Gesichts- und Tastvorstellungen sind in gleichem Sinne räumlich wie die Wahrnehmungen, denen sie entsprechen, obgleich sie, ähnlich den Gehörs|wahrnehmungen [173] und -vorstellungen, im Raume nur gleichsam lose zu schweben scheinen. Sie sind aber darum weder überhaupt unräumlich, noch etwa auf einen andern als den einzigen, allbefassenden Raum bezogen, weil sie keine feste Stelle im Raume haben. Doch bedarf diese These jetzt kaum mehr einer ausführlichen Begründung, da schwerlich noch viele Psychologen sich finden dürften, welche über die durchgängige Raumbeziehung alles Sinnlichen am Bewusstsein noch im Zweifel sind. Wie sollten wohl Gehörsund Geruchsempfindungen der ursprünglichen Raumbeziehung ermangeln, da doch Tiere und Säuglinge sich durch Schall und Geruch ebenso wohl und vielleicht ursprünglicher als durch Gesichts- und Tastwahrnehmung im Raume zurechtfinden, der Mutter Nähe oder eine drohende Gefahr erkennen, ihre Nahrung finden usw.? Es bliebe also nur noch ein Zweifel übrig hinsichtlich des weiten Gebietes nicht- oder schwachsinnlicher Bewusstseinsinhalte. Aber wohl kein Inhalt des Bewusstseins ist überhaupt ohne sinnlichen, mithin auch keiner ganz ohne Raumbezug. Die Beziehung ist weniger direkt, aber darum nicht weniger wesentlich. Vom sinnlichen Lust-Unlust-Gefühl wird wohl allgemein zugestanden, dass es, als bloßer „Gefühlston“, von der Empfindung nicht trennbar sei. Damit aber ist es auch schon auf den Raum bezogen. Ist aber wohl irgendein Gefühl ganz ohne sinnliche Grundlage? Ist z.B. der Gefühlseindruck der Musik trennbar von dem bestimmten Erfassen des Tongebildes? Dieses aber ist sicher nie ohne Raumbezug, wenn auch unbestimmterer Art. Überhaupt sind wir im Gefühl und Streben sicher nicht von dieser Welt, vom Jetzt und Hier losgerissen, sondern gar sehr darin. Aber selbst der abstrakteste Gedanke bedarf, gerade je mehr er es ist, um so mehr wenigstens der Anlehnung an Sinnliches. Das alles ist aber „Beziehung“ aufs Sinnliche und somit auf den Raum, und zwar wesentliche, unerlässliche, wenngleich indirekte, in verschiedenen Graden der Entfernung vom unmittelbaren Bezug. Die Probe ist, dass alle diese Phänomene – wie heute wohl ebenfalls von keiner Seite mehr ernstlich bestritten wird – naturwissenschaftliche (gehirnphysiologische) Behandlung fordern.
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§ 13. Indirekter Raumbezug des Nichtsinnlichen im Bewusstsein. Allgemein ist es die Tatsache der Repräsentation, welche den Charakter des Nichtsinnlichen eigentlich ausmacht. Aber es gibt keine Repräsentation, die nicht [174] Präsentationen einschlösse. So falsch es ist, | dass „nichts im Verstande sei, das nicht zuvor in den Sinnen gewesen“8, so richtig ist es, dass es kein „Denken“ gibt ohne sinnliche Unterlage, das heißt keine Repräsentation ohne Präsentation; durch ihre präsentative Unterlage ist aber auch alle Repräsentation mittelbar auf den Raum ebenso notwendig wie auf die Zeit bezogen. Hierdurch fällt auch neues Licht auf die Repräsentation der Zeit selbst durch den Raum. Man wandte ein, dass diese nur eine fiktive, symbolische Bedeutung haben könne, da das Nacheinander selbst doch nicht zum Nebeneinander werden könne. Allein es handelt sich hier genau um den Tatbestand der Vorstellung. Können wir uns ein Nacheinander (sogar nur) so vorstellig machen, dass wir es uns in die Sprache des Nebeneinander gleichsam übersetzen, so folgt, dass die Raumvorstellung eine Grundvoraussetzung sogar der Zeitvorstellung selbst ist; dass es mithin ein aller Raumbeziehung entbehrendes, aber zeitlich geordnetes Vorstellen überhaupt nicht geben kann. Das Bewusstsein des Nacheinander selbst freilich ist weder durch das des Nebeneinander erklärbar oder darin auflösbar, noch überhaupt sinnlich zu nennen. Das Unterscheidende des Sinnlichen ist ja die unmittelbare Präsenz des Inhalts vor dem Bewusstsein; ein Nichtjetzt aber kann nicht dem Bewusstsein unmittelbar gegenwärtig, sondern durch ein Gegenwärtiges nur repräsentiert sein. Diese Vergegenwärtigung des Nichtgegenwärtigen, die wohlbekannte Tatsache eben der Repräsentation, geht über den Charakter des Sinnlichen ganz hinaus; es wirkt darin jene von der sinnlichen grundverschiedene Funktion der Einheit des Bewusstseins, von der oft schon gesagt worden ist, dass sie, als überhaupt nicht erscheinend, auch nicht Gegenstand der Erklärung sein kann. Jedenfalls aber bleibt es dabei, dass alles am Bewusstsein, was auf die Zeit, zugleich auf den Raum zu beziehen und also in die Einheit des Naturzusammenhanges einzubegreifen ist. §14. Vermeintliche Unabhängigkeit des Psychischen vom Kausalzusammenhang der Natur. Aber man scheut vor dieser Konsequenz zurück; man fürchtet die Eigenheit und Selbständigkeit der Psychologie preiszugeben, wenn man einräumt, dass alles Psychische in den einzigen Gesetzeszusammenhang der Natur, in stets zugleich räumlichem Bezug, einzuordnen sei. Und man meint dies nicht einräumen zu können, da doch einmal aus einem
8 Nach Lockes – dem Sinne nach schon bei Aristoteles und Thomas von Aquin formulierten – Diktum „Nihil est in intellectu quod non (prius) fuerit in sensibus.“ – Anm. d. Hrsg.
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bloß physischen Kausalzusammenhange das Psychische nicht resultieren, gleichsam als Rechnungs|ergebnis herausspringen könne. Selbst einsichtigere [175] Materialisten wie Gassend und Hobbes haben das nicht verkennen können (s. voriges Kap.). Es hat ebenso, in dualistischer Absicht, Descartes und dessen ganze Schule die Unerklärbarkeit des Bewusstseins überhaupt aus dem (gerade von ihm streng mechanistisch gedachten) Ursachenzusammenhange der Natur scharf betont; während doch die Beziehung zwischen den beiderseitigen Veränderungen immer als streng gesetzmäßige gedacht wurde, und andererseits eine steigende Neigung sich zu erkennen gibt, Raum, Materie, Bewegung und also den ganzen Mechanismus der Natur selbst als bloße Erscheinung im Bewusstsein anzusehen. In dieser Linie ging dann besonders Leibniz weiter. Dieser fordert auf der einen Seite die denkbar strengste, schlechthin uneingeschränkte Durchführung des Prinzips der mechanischen Erklärung, die nur zur dynamischen sich vertiefen müsse; dem aber, eben nach dieser Vertiefung, nicht nur die ganze organische Natur, sondern mit dieser zugleich Empfinden, Denken, Wollen nach ihrer physischen Grundlage sich fügen müssen; er behauptet auf der anderen Seite nicht weniger entschieden die absolute Unerklärbarkeit von Bewusstsein aus körperlichen Vorgängen. Alles zwar „geschieht im Körper so, als ob jene schlimme Lehre wahr sei, welche (mit Epikur und Hobbes) annimmt, die Seele sei materiell und der Mensch nichts als Körper oder Automat. Diese Materialisten haben wirklich gezeigt, dass alles, was der Mensch mit seiner Vernunft vollbringt, eine Folge mechanischer Vorgänge ist; man hat sich nur bloßgestellt, indem man das Gegenteil hat beweisen wollen, und hat damit nur dem Gegner einen Triumph bereitet“9. Nichtsdestoweniger wird nichts Psychisches aus mechanischen Ursachen wirklich verständlich. Man denke sich die Uhr oder Mühle, welche Gedanken produzieren soll, vergrößert, so dass man hineingehen und jeden einzelnen Teil untersuchen könnte: man würde nichts finden als Stücke, die sich gegenseitig stoßen; nichts, was die Perzeption (Bewusstheit überhaupt) zu erklären vermöchte; Zusammensetzung ins Unendliche; nirgends die Einheit in der Vielheit, die wir in jedem Bewusstseinsakte erleben. Man führt die „verborgenen Qualitäten“ wieder ein, wenn man der Materie eine Fähigkeit zu denken beilegt. Die Auflösung ist die uns schon bekannte: Raum, Materie, Bewegung sind nur Erscheinung, das wahrhaft zugrunde Liegende sind jene realen Einheiten, jene dynamischen Punkte, welche selbst bei Leibniz jener in | [176] jeder Perzeption erlebten Einheit in der Vielheit analog gedacht werden und
9 Natorp zitiert hier aus Leibnizens „Réponse aux réflexions contenues dans la seconde édition du Dictionnaire critique de M. Bayle, article Rorarius, sur le système de l’harmonie préétablie“ („Erwiderung auf die Betrachtungen Bayles über das System der prästabilierten Harmonie“), S. 561. – Anm. d. Hrsg.
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daher zugleich die Grundlagen des Bewusstseins bilden sollen. Damit ist der Dualismus zwar noch nicht radikal überwunden, aber seiner Überwindung schon äußerst nahe geführt. Dass aber selbst Kant in der Annahme der gänzlichen Ungleichartigkeit der Vorstellungen im äußeren und inneren Sinn einen Rest von Dualismus bewahrt hat, der mit den Grundvoraussetzungen seines Kritizismus schwerlich vereinbar ist, wurde im vorigen Kapitel ebenfalls schon berührt. Aus der nachkantischen Zeit ist immerhin hervorzuheben die energische Betonung der Selbständigkeit des Psychischen durch Lotze, und Langes eindringliche Kritik des Materialismus eben von der Seite der Unerklärbarkeit des Bewusstseins aus dem Mechanismus10. Der neuere Positivismus dagegen vermag, gleich Hume, dem er im ganzen folgt, in der Unbegreiflichkeit des Psychischen aus dem Physischen darum kein besonderes Problem mehr zu erkennen, weil ihm jedes Ursachverhältnis dieselbe Unbegreiflichkeit einschließt. Es gibt eben nur Zeitfolge; eine innere Notwendigkeit der Verknüpfung des Voraufgehenden und Nachfolgenden ist weder erweislich noch zu verlangen; das Erfolgen psychischer Veränderungen aus physischen Ursachen ist also zwar unbegreiflich, aber es ist dies in keinem anderen Sinne als jedes auch rein mechanische Kausalverhältnis. Folgerecht dürfte man auf diesem Standpunkt von Verursachung gar nicht mehr reden, sondern allein von Tatsachen und allenfalls gesetzmäßig bestimmter Zeitfolge von solchen. §15. Die Unerklärbarkeit des Psychischen aus dem Physischen. In der Tat ist es weder Zufall noch Willkür, dass die moderne Naturwissenschaft die großartigsten Anstrengungen gemacht hat, den Kausalzusammenhang des Geschehens auf der einheitlichen Grundlage der Mechanik oder überhaupt räumlicher Prozesse streng einheitlich zu konstruieren. Unter diesem Gesichtspunkt aber konnten dann – vielleicht schon die biologischen, sicher aber die Bewusstseinstatsachen scheinen aus dem allgemeinen Zusammenhange des Naturgeschehens herauszufallen. Diese Denkweise fand charakteristischen Ausdruck z.B. in Emil du Bois-Reymonds seinerzeit auch in philosophischen Kreisen viel beachtetem Vortrag „Über die Grenzen des Naturerkennens“. Es mögen daraus die folgenden Sätze, als immer noch wohlgeeignete Grundlage für die sachliche Auseinandersetzung mit [177] dieser ganzen | Denkrichtung, wiederholt werden: „Bewegung kann nur Bewegung erzeugen, oder in potentielle Energie zurück sich verwandeln, die wieder nur Bewegung erzeugt, statisches Gleichgewicht erhält, Druck oder Zug übt. Die Summe der Energie bleibt dabei stets dieselbe. Mehr
10 Möglicherweise bezieht sich Natorp hier auf das berühmte Kapitel „Die Ideenwelt“ von Rudolf Hermann Lotzes Logik, S. 31–49; vgl. ferner Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus. – Anm. d. Hrsg.
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als dies Gesetz bestimmt, kann in der Körperwelt nicht geschehen, auch nicht weniger; die mechanische Ursache geht rein auf in der mechanischen Wirkung. Die neben den materiellen Vorgängen einhergehenden geistigen Vorgänge entbehren also für unseren Verstand des zureichenden Grundes. Sie stehen außerhalb des Kausalgesetzes. […] Es besteht keine denkbare Verbindung zwischen Bewegungen von Gehirnatomen und Empfindung, überhaupt Bewusstsein.“11 Keine „denkbare“ Verbindung, das will offenbar besagen: keine begreifliche, keine aus „zureichendem Grunde“, als logisch notwendig einzusehende Verknüpfung. Dawider gälte Humes Einwand, dass eine logische Notwendigkeit in keinem Falle eines Ursachverhältnisses sich einsehen lasse; was für alle besonderen Kausalverhältnisse auch Kant und wohl jeder zugibt. Aber das würde nicht hindern, dass mit unverbrüchlicher Allgemeingültigkeit das Gesetz, welches an die bestimmten Vorgänge die bestimmten Folgen knüpft, erfüllt wird. Das Kausalgesetz, wie es z. B. von Kant formuliert wird: „Alles, was geschieht“ (genauer: alle Veränderung) „setzt etwas“ (verstehe: andere Veränderung) „voraus, worauf es nach einer Regel folgt“12, behauptet nicht mehr als dies. Das aber als Sinn des Kausalgesetzes verstanden, folgt nicht, dass, falls zwischen materiellem und geistigem Geschehen keine Notwendigkeit der Verknüpfung logisch einzusehen ist, das letztere darum „außerhalb des Kausalgesetzes“ stände. Was indessen wesentlich gemeint ist, spricht sich klarer in dem Satze aus, dass die mechanische Ursache in der mechanischen Wirkung „rein aufgehe“. Das ist gewiss: genau bestimmte mechanische Bedingungen werden mit genau bestimmten mechanischen Erfolgen, und nichts weiterem, gesetzmäßig verknüpft gedacht. Ist es nun auch ein Irrtum, dass diese Verknüpfung schlechthin logische Notwendigkeit habe – jedenfalls fügt sie sich unter Gesetze von einfacher Form und streng exakter Geltung, zuletzt unter das Gesetz von der Erhaltung der Energie. Nicht wesentlich anders verhält es sich auch, wenn die mechanistische Auffassung, welche du Bois-Reymond nach den da|mals herrschenden Anschauungen zugrunde legen durfte, [178] durch die energetische ersetzt wird. Der Ausdruck der „Notwendigkeit“ des Erfolgens brauchte dabei übrigens gar nicht angefochten zu werden; die eindeutige Bestimmtheit des gesetzlichen Zusammenhanges von Antecedens und Consequens ist im Grunde das Einzige und das Höchste, was die „Notwendigkeit“ der ursachlichen Verknüpfung kann bedeuten wollen. Notwendigkeit, das Nicht-anders-sein-Können, besagt positiv nichts weiter als die gesetzmäßige Bestimmtheit des So-seins, hier des Eintritts des
11 „Über die Grenzen des Naturerkennens“, S. 457f., Kursivierung stammt von Natorp – Anm. d. Hrsg. 12 Kritik der reinen Vernunft, A 189/B 232. – Anm. d. Hrsg.
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Consequens, wann und wo immer (und nur, wann und wo) das Antecedens gegeben ist. Warum nun diese Bestimmtheit gerade beim mechanischen Ursachverhältnis gilt, ist leicht zu sehen: Bedingungen und Folgen sind hier durchweg gleichartig, nämlich sie verhalten sich gleich, stehen unter gleichen allgemeinen Bedingungen hinsichtlich der Art ihrer Bestimmbarkeit; sie sind nach gleichem Maße messbar, daher auch unmittelbar gegeneinander zu verrechnen. Dieser Bedingung genügt aber, durch eine zulässige Erweiterung des Begriffs des gemeinsamen Maßes, auch die Energetik; auch sie gestattet Gleichungen aufzustellen, durch welche das in der Erscheinung Ungleichartige sozusagen unter einen gemeinsamen Nenner gebracht wird. Die „Ursache“ wird selbst gemessen durch die „Wirkung“, und wird dadurch allein zu einer genau bestimmten Größe; darum wissen wir nunmehr genau, welche exakt bemessene Leistung wir ihr zuschreiben dürfen, da ja eben diese exakt bemessene Leistung es ist, die uns überhaupt den Begriff von ihr gab. Mutet man den angenommenen „Ursachen“ neben diesen bekannten, exakt bemessenen Leistungen noch weitere, ganz „ungleichartige“, nämlich nicht im gleichen Sinne und nach gleichem Maße messbare Leistungen zu, so entsteht Gefahr, dass der scharf definierte Sinn des Ursachverhältnisses überhaupt ins Wanken gerät. Deshalb sind Naturforscher mit gutem Grunde bedenklich dagegen, psychische Effekte an physische Ursachen zu heften; sie scheuen, wie Leibniz, die Rückkehr zu den „verborgenen Qualitäten“ und erklären lieber noch, was in ihre Rechnung nicht restlos aufgeht, für einen dem wahren, objektiven Geschehen gleichsam anhängenden, unwahren „Schein“. Nun ist freilich eine Sache nicht damit aus der Welt geschafft, dass man sie für Schein erklärt; der Schein behauptet sich, ja er bildet, merkwürdigerweise, die letzte Grundlage auch unserer realsten Erkenntnisse. Von [179] Materie und Bewegung, | von Energie wissen wir ja gar nichts, außer sofern sie auf unsere Sinne so und so einwirkt. Dieselben Naturforscher, welche dem „Psychischen“ am Liebsten jede reale Bedeutung absprechen möchten, wissen andererseits nicht genug zu betonen, dass ihre ganze Wissenschaft auf Erfahrung, das heißt aber, auf der sinnlichen Erscheinung, also doch eben jenem „psychisch“ Genannten, beruht. Das Verhältnis muss also jedenfalls auf andere Weise bestimmt werden. Wie denn? § 16. Das Erkenntnisgesetz des Exakten. Wir wären gewiss die letzten, den Vorrang der quantitativen Bestimmung, zuletzt durch Raummaße, bei der Objektivierung des Erscheinenden zu verkennen. Das Erkenntnisgesetz des Exakten ist seit Kepler und Galilei ein Grundgesetz der modernen Naturwissenschaft. Allein es ist ein Erkenntnisgesetz, ein Gesetz unserer Begriffe, welches diesen Vorrang begründet. Exaktheit besteht überhaupt nur in Begriffen, sie ist überall erst eine Schöpfung der Erkenntnis. Gesetze können, müssen exakt sein, die Erscheinung ist es, abgesehen von ihrer Bestimmung im Gesetz, niemals. Die Erscheinung ist in sich fließend,
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grenzen- und bestimmungslos, der Begrenzung und Bestimmung erst bedürftig, welche der Begriff im Gesetz eben leistet. Wissenschaft ist es, die, „was in schwankender Erscheinung schwebt, befestiget mit dauernden Gedanken“13. Die dauernden Gedanken, es sind die Gesetze; in ihnen, aus ihrem Gesichtspunkt erst stellt die Erscheinung sich uns fest, begrenzt sie sich im Begriff. Und zwar stehen darin ursprünglich alle Erscheinungen auf gleicher Linie. Es gibt überhaupt keine andere Grundlage auch unserer objektivsten Erkenntnis als die in sich freilich „subjektive“ Erscheinung; andererseits kann und muss alles Erscheinende, Subjektive irgendwie auf ein Seiendes, Objektives zurückgedeutet werden. Bestimmung überhaupt, begriffliche Fixierung, Reduktion auf beharrliche Faktoren, nämlich im Begriff beharrende, auf „Einheiten“, identisch festzuhaltende, gedankliche Grundlagen, ist Forderung aller Wissenschaft, Voraussetzung alles Begreifens, Sinn aller Erklärung. In dem Maße als eine Erscheinung identisch bestimmbar ist, hat sie teil an der Objektivität. Die eindeutige Bestimmung dessen, was das Erscheinende „ist“, das ist die Erkenntnis des Gegenstandes. Das Erkenntnisgesetz des Exakten ist nichts weiter als die genauere Form, zu der das oberste Erkenntnisgesetz, das Gesetz der identischen | [180] Bestimmung, sich durch die Arbeit der Wissenschaft seit den Anfängen der Neuzeit hindurchgearbeitet hat; die aber gerade auch aus dem Gesichtspunkte der Logik, wie sie auf den Grundlagen Kants sich aufgebaut hat, sich als streng notwendig erweist. Auf der Forderung streng identisch festzuhaltender Grundfaktoren beruhte, durch die Erfüllung dieser Forderung allein legitimierte sich, für ihren begrenzteren Standpunkt, die mechanische Auffassung des Naturzusammenhanges, ihre nur allgemeinere und schließlich reinere Erfüllung ist es, welche dann der Energetik, die selbst mitten aus ihr heraus erwachsen war, das Übergewicht über sie geben musste. Für diese existiert zuletzt nichts Reales als „Energie“, der letzte unzerstörliche Faktor in allen Veränderungen der Natur, selbst nur charakterisiert eben als dieser Grundfaktor in der gesetzmäßigen Darstellung eben dieser Veränderungen in der, sie in ihrer Gesamtheit und ihrer durchgängigen Wechselbeziehung repräsentierenden, Rechnung der Naturwissenschaft. In dieser Rechnung ist nichts, das nicht genau bestimmt wäre, und zwar quantitativ, zuletzt durch Zeit- und Raummaße. Das sind in der Tat die einzigen Bestimmungen des Sinnlichen, welche ursprünglich exakt gegeben werden können. §17. Inexaktheit des Sinnlichen als solchen. Mittelbar aber, unter Zugrundelegung der so festgelegten ursachlichen Zusammenhänge exakt bestimmter Faktoren, wird auch das an der Erscheinung, was unmittelbar nicht unter
13
Nach Goethe, Faust, Prolog im Himmel (VV. 348 f.) – Anm. d. Hrsg.
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exakte Größenbegriffe fällt, wenigstens innerhalb gewisser Grenzen, in irgendeinem Grade der Näherung bestimmbar, und zwar zahlenmäßig, also in weiterem Sinne immerhin auch „exakt“ bestimmbar; so wie Farben und Töne bestimmt werden durch eine gewisse Zahl, Form und Weite periodischer Schwingungen. Unmittelbar durch sich selbst dagegen sind die „sinnlichen Qualitäten“ wie Farben und Töne einer strengen Identifikation überhaupt nicht fähig. Die Psychophysik zwar glaubte sie selbständig bestimmen zu können durch Feststellung der Zahl der eben empfindbaren Verschiedenheiten je zwischen gegebenen Reizgrenzen. Aber die mangelnde Eindeutigkeit solcher Bestimmung folgt zwingend gerade aus der Tatsache, welche die Psychophysik selbst erst ins hellste Licht gestellt hat: der Tatsache der Empfindungs-, insbesondere Unterschiedsschwelle. Der Reiz oder Reizunterschied muss, von Null an wachsend, erst eine bestimmte [181] Höhe erreicht haben, wenn eine Empfindung überhaupt, | oder die Empfindung einer Verschiedenheit, eintreten soll. Würde man nun die für die Empfindung nicht verschiedenen Farben oder Töne usw. gleich nennen, so ließe diese Gleichheit sich nicht mehr nach strengen Begriffen denken und daher nicht in gültiger Weise zu exaktem Ausdruck bringen; man käme mit den einfachsten Gesetzen der Rechnung in offenen Widerspruch. Man teile irgendeine Empfindungsreihe, z.B. die Tonreihe, so ab, dass jede Stufe von der nächstfolgenden für unser Gehör ununterscheidbar wird, während bei Überspringung einer oder einiger Stufen die Verschiedenheit merklich ist; bezeichnet man nun die sukzessiven Stufen mit a, b, c …, so ergibt sich, wenn das für die Empfindung Ununterscheidbare gleich gesetzt wird, der Widersinn, dass a = b, b = c, c = d usw. und doch nicht a = c oder = d usw. wäre. Diese Inexaktheit liegt aber nicht etwa daran, dass es Qualitäten sind, über die ausgesagt wird, sondern sie ist allgemein der Empfindungsschätzung der Identität oder Verschiedenheit des Empfundenen eigen; sie gilt genauso für sogenannte Intensitäten oder für räumliche und zeitliche Größen, sofern sie unmittelbar nach der Empfindung geschätzt werden. Plato hatte also recht, ganz allgemein das Sinnliche als inexakt, als „Unbegrenztes“, das im Begriff erst zu „begrenzen“ sei, zu definieren. Auf die Empfindungsschätzung von Raum- und Zeitgrößen, von Intensitäten findet die eben angestellte Betrachtung so gewiss Anwendung, als auch für sie das Schwellengesetz gilt. Es gibt eben, wie schon Demokrit gesehen und scharf formuliert hat14, eine untere Grenze, ein Minimum für jede sinnlich auffassbare Verschiedenheit, während es keine kleinsten, sondern ins Unendliche kleinere und kleinere Unterschiede der Raum- und Zeitgrößen, wie sie unter mathematischen
14 Zu dieser Diskussion Platons und Demokrits vgl. ausführlicher Platos Ideenlehre, S. 137–142. – Anm. d. Hrsg.
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Begriffen und zwar notwendig gedacht – dagegen nicht wie sie bloß sinnlich aufgefasst werden – gibt. Alle Exaktheit der Größenbegriffe nämlich beruht schließlich auf der Voraussetzung des Unendlichen und Stetigen. So gewiss also die sinnliche Unterscheidungsfähigkeit überhaupt in endliche Grenzen eingeschlossen ist, ist Empfindung als solche keiner Exaktheit fähig. Wie ist es denn zu verstehen, dass gleichwohl auch die exaktesten Sätze der Wissenschaft schließlich auf den Phänomenen, also auf Empfindung, nicht auf bloßen Begriffen der Mathematik und „reinen“ Naturwissenschaft beruhen? Dies erklärt sich leicht durch ein hypothetisches, abstraktives, reduktives Verfahren. Wir legen der Erschei|nung abstrakte, doch genau [182] bestimmte, mathematisch definierbare Beziehungen in Gedanken zugrunde. Diese ergeben den Ausdruck des reinen Gesetzes; die wahrnehmbaren Abweichungen bedürfen dann erst weiterer Repräsentation, durch fernere mitwirkende Faktoren, von denen im Ausdruck des reinen Gesetzes nur vorerst abstrahiert wurde. Diese Reduktion führt weiter und weiter; sie führt prinzipiell zu keinem Abschluss; denn wenn auch die bis dahin bekannten Erscheinungen in den angenommenen Ursachen (bestimmenden Faktoren) restlos repräsentiert sind, so muss doch immer offengehalten werden, dass bei genauerer Wahrnehmung, etwa für eine schärfere Sinnesorganisation, oder bei besserer äußerer Unterstützung, z.B. durch feinere Mikroskope, eine fernere Abweichung sich auch der Wahrnehmung kundgeben würde. Daher kann weder das Naturgesetz jemals in den Phänomenen, noch die möglichen Phänomene je im Gesetz rest- und bedingungslos repräsentiert sein. Gesetze sind notwendig exakt, oder müssen Exaktheit wenigstens anstreben; die letzte erfahrbare Tatsache kann es niemals sein. Dennoch bleibt die Tatsache immer das Fundament der Gesetzeserkenntnis, und will das Gesetz nichts anders als sie repräsentieren. Beide beziehen sich notwendig aufeinander, wollen sich entsprechen, suchen gleichsam diese Entsprechung, können aber nie völlig zur Deckung gebracht werden. §18. Unterschied und Gleichartigkeit des Verhaltens in Hinsicht der Quantität und der Qualität der Erscheinungen. Stehen aber alle Erscheinungen sich darin wesentlich gleich, dass sie nicht unmittelbar, so wie sie erscheinen, schon bestimmte, feststehende, sondern erst zu bestimmende, festzustellende Größen – ein X, nicht ein A – sind, so werden sie auch darin sich gleichstehen müssen, dass sie durch jenes reduktive Verfahren alle in irgendwelchem Maße auf identische Bestimmungen gebracht, mithin zu objektiver Gültigkeit müssen erhoben werden können. Wie verfährt man denn bei aller empirischen Raummessung? Jede der Empfindung sich kundgebende Verschiedenheit muss in den objektiven, physikalischen und physiologischen Ursachen repräsentiert sein; wo dagegen eine Verschiedenheit für die Empfindung nicht mehr auffassbar ist, da ist in
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den objektiven Ursachen ein Unterschied doch möglich, der nur eben zu klein ist, sich der Empfindung noch zu verraten. Das gilt zunächst für die [183] quantitativen Bestimmungen selbst; | nach derselben Voraussetzung aber wird man auch für alle irgend empfindbaren Qualitätsunterschiede notwendig irgendwelche Unterschiede in den objektiven Ursachen annehmen müssen und nachzuweisen versuchen, nicht aber, wo keine qualitative Verschiedenheit mehr empfunden wird, den Schluss wagen, dass auch objektiv keine Verschiedenheit vorhanden sei. Hierbei macht es keinen wesentlichen Unterschied, dass wir der Unsicherheit der empirischen Schätzung der Raumgrößen durch künstliche Mittel, z.B. Mikroskope, bis zu gewissem Grade aushelfen können, während es an einem entsprechenden Mittel, Unterschiede der Qualität, die für unsere Sinne nicht mehr auffassbar sind, für sie auffassbar zu machen, offenbar fehlt, die Grenze unserer Auffassungsfähigkeit vielmehr durch die Einrichtung unserer Organe in dieser Beziehung für uns unabänderlich besteht, allenfalls erst in langen Perioden einer weiteren Entwicklung abänderlich gedacht werden dürfte. In der Tat ändert doch auch das Mikroskop nicht die Sehfähigkeit, sondern ändert nur die äußeren Bedingungen, unter denen das Objekt sich uns zur Wahrnehmung darbietet. Tiefergreifend scheint ein anderer Unterschied zwischen Qualität und Quantität. Es kostet uns nichts, jenseits des fernsten, durch Beobachtung und Berechnung erreichbaren Gestirns noch Welten und Welten von Welten wie die unsere existierend zu denken; oder auch im Kleinsten, das wir mit Hilfe des schärfsten Mikroskops noch wahrnehmen mögen, noch Welten und Welten von Welten eingeschlossen zu denken; wir können uns die Folge sinnlicher Wahrnehmungen annähernd konstruieren, die wir von diesen, jetzt unserer Wahrnehmung ganz unzugänglichen Objekten unter irgendwelchen fiktiven Voraussetzungen (z.B. mit noch schärferen Mikroskopen oder weiter tragenden Teleskopen) erhalten würden. Dagegen vermögen wir zwar ebenso wohl uns zu denken, dass es Farben oder Töne gebe, die nur für uns nicht mehr auffassbar seien, aber wir vermöchten nicht den sinnlichen Eindruck einer jenseits der Grenzen unserer Seh- oder Hörfähigkeit gelegenen Farben- oder Tonbestimmtheit uns irgendwie auszudenken. Der Grund liegt in der Gleichartigkeit, mithin Vertauschbarkeit der Relationen unter bloßen Größen, welche gestattet, z.B. ein Vielfaches beliebig wieder als Einheit, eine Einheit als Vielfaches zu betrachten, wogegen die Qualitäten der Empfindung absolute Data in dem Sinne zu sein scheinen, dass [184] keine die Stelle der andern vertreten könnte, auch kein | Verhältnis zweier unter ihnen identisch wiederkehrt als Verhältnis irgendwelcher zwei andern. So tiefgreifend aber dieser Unterschied immer sein mag, so sicher eben darin der Vorrang der objektiven Gültigkeit begründet ist, der den durch exakte Begriffe darstellbaren Relationen der Zeit und des Raumes zufällt, so beruht doch dieser Vorzug nicht auf den
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Empfindungen, durch die wir die Zeit- und Raumgrößen abschätzen; diese verhalten sich vielmehr in jeder Hinsicht gleich den Empfindungen etwa der Farben oder Töne; auch diese Empfindungen sind als solche, einzeln genommen wie in ihren wechselseitigen Verhältnissen, unvertauschbar. Sondern jener Vorzug beruht einzig auf der Natur und Gesetzlichkeit der quantitativen Relationen überhaupt, auf ihrer Begriffsgemäßheit, ja reinen Konstruierbarkeit durch Begriffe. Nun gibt es zwar reine Begriffe auch der Qualität, sogar ist es eigentlich die Qualität, welche den Begriff ursprünglich konstituiert; denn im Begriff ist es der Inhalt, welcher den Umfang bestimmt, nicht umgekehrt. Aber wiederum braucht die exakte Definition der Qualität quantitative Bestimmungen; Qualitäten werden objektiv definiert durch Funktionalbeziehungen unter Veränderlichen, das heißt durch ein-eindeutige Zuordnung von Wertreihen zueinander, in welche durchweg nur quantitative Bestimmungen eingehen. Aber von dieser reinen Qualität verrät die empfundene Qualität unmittelbar nichts, während die quantitativen Bestimmungen, allerdings immer mit der bekannten, durch das Gesetz der Schwelle definierten Ungenauigkeit, sich in der Empfindung unmittelbar darstellen. Doch aber verhalten sich Qualitäten und Quantitäten darin völlig gleich, dass niemals die objektiven Unterschiede in der Empfindung sich rein ausdrücken, ja die Beziehung zwischen beiden auch nicht durch ein reines Gesetz, etwa als stetige Funktion, definiert werden kann. Die allein in unserer jetzigen Frage entscheidende Ungleichartigkeit besteht also nicht zwischen Qualitäten und Quantitäten, sondern allein zwischen Empfindung und reinem, insbesondere exaktem Begriff. Diese Ungleichartigkeit aber ist in der Tat auf keine Weise wegzuschaffen; sie hindert indessen nicht eine begriffliche, eine exakte Darstellung des Vorgangs, welche „die Erscheinungen wahrt“, sie hindert nur eine bedingungslose Erkenntnis des Empirischen, und zwar alles Empirischen. Die Einheit der Erfahrung fordert, dass alles, was erscheint, auf eine einheitliche Ansicht des objektiven Verhalts sich zurückbeziehen lässt, sie fordert nicht, | dass die Erscheinung in die Konstruktion der Objektivität, [185] oder diese in jene, rein und restlos aufgehen müsse. Das ist vielmehr der unaufhebliche Charakter der Erscheinung, dass sie einer fortschreitenden Reduktion auf begriffliche Bestimmungen nach Gesetzen fähig ist, zwar ohne Grenzen, aber eben damit auch ohne Abschluss. Die Objektivierung der Erscheinung ist eine unendliche Aufgabe, der Gegenstand bleibt immer das Gesuchte = X. §19. Die sinnliche Qualität nicht Eröffnung einer Eigenwelt des Psychischen. Ist man sich hierüber aber einmal klar, so vermag man überhaupt kein Problem mehr darin zu erkennen, dass aus der naturwissenschaftlichen Konstruktion der Objektivität nicht nur das Bewusstsein überhaupt, sondern auch dessen besondere Gestaltungen, zunächst also, sofern es sich ums
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Sinnliche an ihm handelt, die sinnlichen Qualitäten sich nicht „erklären“, das heißt nicht als logische Folgen resultieren wollen. Das erstere ist für uns selbstverständlich: Bewusstheit überhaupt, „Perzeption“ als solche, jenes seltsame „Phänomen“, dass überhaupt etwas erscheint, kann freilich weder aus einem Mechanismus noch aus sonst einer begrifflichen Konstruktion welcher Art immer logisch resultieren; aus dem einfachen Grunde, weil es selbst in allem, woraus man es erst hervorgehen lassen möchte, schon als erste Voraussetzung zugrunde liegen würde. Es kann sich für uns niemals darum handeln, Bewusstsein aus Nichtbewusstsein zu erklären, sondern nur umgekehrt, zu zeigen, wie, nach welchen Gesetzen Erscheinungen, die als solche nur in einem Bewusstsein gegeben sein können, sich auf einen Gegenstand beziehen, in dessen Begriff von dem Merkmal der Bewusstheit abstrahiert werden kann und muss. Setzt man aber, wie es notwendig [ist], die Bewusstheit überhaupt schlechthin voraus, so stößt man ferner auf keine andere Ungleichartigkeit mehr als die in jenem letzten Dualismus der Erkenntnisbedingungen begründet ist, auf welchen, wie wir uns überzeugt haben, der vermeintliche Dualismus des Geschehens sich restlos reduziert, der aber mit dem Monismus der Erfahrung nicht streitet, sondern als Voraussetzung in ihm eingeschlossen liegt. Wir haben es dann gar nicht mehr zu tun mit einem doppelten Geschehen, sondern allein mit dem Unterschied der bloß subjektiven Gültigkeit des Erscheinenden als solchen und der objektiven des empirisch Realen. Dieser Gegensatz, der zuletzt auf den des [186] in sich Bestimmungslosen und dessen Bestimmung im Begriff | zurückkommt, ist unter den Bedingungen unserer Erkenntnis freilich unaufheblich, da er nur deren fundamentalste Bedingtheit ausdrückt. Statt dessen haben einige neuere, um die Unabhängigkeit des Psychischen besorgte Philosophen (z.B. H. Lotze15) in den sinnlichen Qualitäten einen besonders schlagenden Beweis für die selbständige Bedeutung des seelischen Innenlebens sehen wollen; eine vordem nicht bekannte halbsinnliche Abart des Spiritualismus. In ähnlichem Sinne wird bisweilen die Unräumlichkeit der Sinnesqualitäten betont. Aber zweifellos sind die sinnlichen Qualitäten, ohne Ausnahme, auf den Raum zu beziehen; davon ist schon oben genug gesagt. Auch hat die Behauptung ihrer Subjektivität gar nicht ihre ursprünglich unräumliche Natur oder irgend eine besonders enge Beziehung zum reinen, unräumlichen Ich besagen wollen. Sondern sie bedeutete zunächst negativ ihre Unbrauchbarkeit zu einer eindeutigen Bestimmung des Objekts, nämlich des Naturobjekts. Die sinnlichen Qualitäten sind subjektiv zunächst in keinem anderen Sinne, als in dem auch die Empfindungsschätzung der räumlichen Verhältnisse subjektiv ist, das heißt, erst der Korrektur bedarf, um die objektive Bestimmung zu ergeben. Ließe die Farbenwahrnehmung
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S.o., Anm. 10, S. 162. – Anm. d. Hrsg.
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in gleichem Sinne eine fortschreitende Berichtigung zu, gäbe es überhaupt einen Begriff exakter Farbenwahrnehmung, gäbe es eine Mathematik der Farbe als solcher, wie es eine Mathematik der Größe, Lage, Bewegung im Raume gibt, so wäre die Farbe objektiv, so gut wie die Raumbestimmungen es sind; weil sie vielmehr, wie Leibniz es ausdrückt, „konfus“16, das heißt, exakter Bestimmung unfähig ist, darum und allein darum ist sie subjektiv zu nennen: Diesen Unterschied des mathematisch bestimmten vom sinnlichen Sein hat schon Demokrit gekannt und in seinen Sätzen von der echten und Bastard-Erkenntnis17, vom bloß dem Herkommen nach, nicht mit Wahrheit zu behauptenden „Sein“ der Sinnesqualitäten formuliert, und, wie schon bemerkt, war es genau der im Schwellengesetz strenger bestimmte Tatverhalt, der ihn zu dieser Unterscheidung führte: die Wahrnehmung hat stets ein Minimum, Mathematik kennt kein Minimum, darf keines kennen. Daher gewährt die Mathematik die Möglichkeit unbegrenzt genauerer, wenngleich nie abschließender, damit aber objektiv, obgleich nie absolut gültiger Bestimmungen, wo die sinnliche Wahrnehmung nur eine subjektive Darstellung – nicht aber eines anderen, sondern dieses selben objektiven Verhalts liefert und je liefern kann. Denn zum wahr|haften Sein gehört [187] eine Einheit, eine Identität der Bestimmung, wie sie von Gegenständen der Sinne nur auf Grundlage der Mathematik möglich ist. Von einer Eigenwelt aber, in der das Subjekt sich eingeschlossen fände und aus der es nur durch Schlüsse sich in das unerfahrbare, transsubjektive Reich gleichsam die Brücke schlagen könnte, ist bei dem allen nicht die Rede. Was für Schlüsse könnten das sein? Wer liefert die Bausteine zu der Gedankenbrücke, die zum Objekt hinüberführen soll? Erfahrung müsste sie liefern; Erfahrung, das heißt aber: die Verknüpfung der Wahrnehmungen; denn eine Vielheit von Wahrnehmungen bildet allemal eine Erfahrung, nach Aristoteles18. Gerade so könnte aber der Schluss auf ein transsubjektives – das hieße ja, unerfahrbares – Sein niemals führen. Zwar hat der Verstand recht, nicht die vom Verstand unbelehrte Sinneswahrnehmung; aber der Verstand hat nur recht in der Erfahrung, nicht ohne, geschweige gegen sie. Würde er nicht die Aussage der Wahrnehmung, je unter ihren bestimmten Voraussetzungen, bestehen lassen und an sie sich binden, so könnte er ja nicht aus ihren vereinten Aussagen die verlässliche Erkenntnis des objektiven Verhalts herausarbeiten. Er muss sie wiederum „beglaubigen“, sonst findet er selbst keinen Glauben. „Elender Verstand, der, nachdem er von uns die Beglaubigung empfangen, uns stürzen will! Stürzest du
16 17 18
Vgl. „Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis“, S. 422f. – Anm. d. Hrsg. Nach Platons Timaios, 52b. – Anm. d. Hrsg. Vgl. De Anima, III.1 (424b–425b). – Anm. d. Hrsg.
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uns, so stürzest du selbst!“19 So lässt die Sinne zum Verstande der alte Demokritos sprechen – der Entdecker der Subjektivität der Sinnesqualitäten, der mathematischen Grundgestalt der Natur. Ebenso, der Sache nach, ihre modernen Wiedererwecker; ihre Errungenschaft ist es, die wir mit diesem allen verteidigen. §20. Naturwissenschaftliche und rekonstruktive Psychologie. Aber was wird denn nun aus der Psychologie? – Sofern es sich um die kausale Gesetzlichkeit des psychisch genannten Geschehens handelt, wird daraus nichts als besonnene, methodisch fortschreitende, durch kein metaphysisches Vorurteil ferner beirrte, naturwissenschaftliche, insbesondere sinnes- und gehirnphysiologische Untersuchung. Dieser Naturalisierung der Psychologie, die etwa seit Lotzes Zeit unermessliche Fortschritte gemacht hat, braucht man gar nicht zu wehren, darf man gar nicht wehren wollen. Ihr muss die Bahn unbedingt frei gehalten werden. Um die Benennung zu streiten wäre töricht. Einfacher freilich und unmissverständlicher wäre es, Physiologie [188] auch | Physiologie zu nennen. Der Zusatz „psychologisch“ kann doch daran nichts ändern, dass Physiologie eben Physiologie, das heißt, ein Zweig der Naturwissenschaft ist. Besonders dann aber wird man vorziehen, Physiologie nicht Psychologie zu nennen, wenn man erkannt hat, dass es noch eine andere Art der Erforschung des Psychischen gibt als die Untersuchung seiner physiologischen Bedingungen. Dies behaupten wir, und werden es im folgenden Kapitel eingehend begründen. Aber dadurch wird nichts daran geändert, dass die Darstellung des psychisch genannten Geschehens in ursachlichem Zusammenhang ganz und rein eine Aufgabe der Naturwissenschaft ist. Diese liegt aber eben ganz in der Richtung der Objektivierung. Naturwissenschaft ist andererseits nicht die einzige Art der Objektivierung des Subjektiven. Das bedarf, bevor wir zur Untersuchung des Sinns und Verfahrens der „Subjektivierung“ übergehen, und eben in Richtung auf diese, hier nochmals wenigstens einer kurzen Erinnerung. Naturwissenschaft ist eine Art der Objektivierung: die zum zeitbestimmten Sein. Und wir haben die Meinung als irrig erkannt, dass das Psychische als das Subjektive etwa überhaupt unzeitlich sei. Indessen gibt es auch ein „Sein“, das über die zeitliche Bestimmtheit hinausgeht, und darum doch nicht weniger, sondern noch mehr objektiv ist als das zeitbestimmte Sein. Schon das Bewusstsein der Zeit selbst fordert eine Erhebung über die Zeit, die Einnahme eines Standpunktes, der selbst nicht zeitlich bestimmt ist. Also kann auch der Gehalt des Bewusstseins nicht erschöpfend objektiviert sein in der Naturwissenschaft, auch in deren höchster denkbarer
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Vgl. Fragment 125 (Diels/Kranz). – Anm. d. Hrsg.
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Ausdehnung oder Vertiefung. Findet also die Durchführbarkeit der naturgesetzlichen Darstellung des Psychischen allerdings eine Grenze, so findet sie sie nicht im Begriff eines psychischen Geschehens, das nicht dem Naturgesetz unterläge, sondern in solchen anderen Objektivierungsarten, die überhaupt nicht das Bewusstsein als Geschehen oder die zeitliche Bestimmtheit der Bewusstseinsauftritte betrifft, sondern in überzeitlichen Objektsetzungen den überzeitlichen Gehalt des Bewusstseins zu bergen und in gesetzlichem Zusammenhang darzustellen die Aufgabe haben. Ursachlichkeit ist nicht die einzige Art von Gesetzlichkeit. Es ist vor allem die Objectivierung zum Seinsollenden, welche über den Zeitbezug hinausweist. Denn im Soll liegt der Begriff der Richtung, Richtung aber schließt | einen Bezug ins Unendli- [189] che ein, der nur möglich ist durch ein solches Bewusstsein, das die zeitliche Sonderung übersteigt, indem es ihr ursprünglich zugrunde liegt. Es sind anscheinend noch darüber hinaus die eigenartigen Objektivierungen des ästhetischen und vielleicht des religiösen Bewusstseins; es ist über das alles die zuletzt noch zu fordernde zentrale Vereinigung aller Objektivierungsrichtungen in dem obersten Gesetze aller Objektivierung, dem Gesetze der „Methode“. Sie bildet die Aufgabe der Logik im umfassendsten Sinne, die ebenso wohl Logik des Sollens wie des Seins, Logik auch des künstlerischen, ja des religiösen Vorstellens ist; oder der „Kritik“ der Erkenntnis, diese in gleicher Umfassung verstanden. Erst darin wird die Grundlage endgültig gesichert, auf der eine zulängliche Rekonstruktion des ganzen Gehaltes des Bewusstseins in seiner Unmittelbarkeit zu einer möglichen Aufgabe wird. Worin aber nun diese Rekonstruktion besteht, warum sie gefordert, wie sie möglich, und was damit zu leisten ist, das bleibt jetzt, als das eigentliche Ziel dieser ganzen Voruntersuchung, aufzuweisen und zu erläutern übrig.
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Die Methode der Rekonstruktion § 1. Unzulänglichkeit der Auffassung der Psychologie als „Beschreibung“. Der Gedankengang, der zur Forderung der rekonstruktiven Methode der Psychologie führt, ist fast ganz schon durch die bis dahin bewiesenen Sätze vorgezeichnet. Psychologie ist keine Gesetzeswissenschaft. Die nächste Auskunft scheint zu sein, dass sie eine reine Tatsachenwissenschaft sei; nach gewöhnlichem Ausdruck: keine erklärende, sondern eine bloß beschreibende Wissenschaft. Diese Auskunft aber erwies sich trüglich: Tatsache und Gesetz, Beschreibung und Erklärung gehören unweigerlich zusammen. Die Tatsache ist nicht anders zu sichern als im Gesetz. Und Beschreibung ist Subsumption unter Allgemeinbegriffe; die Allgemeinbegriffe, durch die beschrieben wird, bedürfen aber der Rechtfertigung, und sie sind nicht anders zu rechtfertigen als aus gesetzlichem Zusammenhange. Ohnehin hat in aller Wissenschaft die Beschreibung nur einen vorbereitenden Wert | eben für die Gesetzeserkenntnis, welche die allein zulängliche Art, [190] der allein klar verständliche Sinn der „Erklärung“ ist. Also ist es nicht angängig, die Beschreibung und die Erklärung eines und desselben Objekts verschiedenen Wissenschaften zuzuweisen. Eines und desselben Objekts: damit ist schon ausgesprochen, dass Beschreibung so gut wie Erklärung Objektivierung bedeutet; Psychologie aber soll doch die Wissenschaft des Subjektiven sein. Beschreibung ist Analyse, Abstraktion; sie hebt Einzelmomente heraus aus der Totalität des Erlebniszusammenhanges, nach dem in der Psychologie aber gerade die Frage ist. Mit dem allen schlägt sie offenbar dieselbe Richtung des Erkennens ein, welche die Erklärung nur folgerecht weiter verfolgt. Gibt man statt Erklärung bloß Beschreibung, so bedeutet das, dass man den Weg der Objektivierung zwar einschlägt, aber dann im Stich lässt und nicht weiter, bis zum erreichbaren Ziele, verfolgt. Man könnte versucht sein zu entgegnen: man beschreibe allerdings durch Subsumption unter Allgemeinbegriffe; aber diese Subsumption werde eben tatsächlich immer vollzogen; und die Oberbegriffe fänden sich im Erlebniszusammenhang selbst vor, nicht weniger wie das, was darunter subsumiert wird; z.B. Farbe so gut wie Grün oder Rot; man verlasse also damit nicht das Gebiet des unmittelbar Erlebten, Subjektiven. Nach der Gültigkeit, nach der Rechtfertigung der Allgemeinbegriffe, unter die subsumiert wird, werde dabei gar nicht gefragt; diese Frage gehe allerdings allein die objektivierende Wissenschaft an, nicht aber die bloße Tatsache,
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dass in Allgemeinbegriffen gedacht, dass subsumiert wird. Diese beschreibe man nur wie jede andere erlebte Tatsache; also verlasse man wirklich, nicht den Standpunkt der reinen Subjektivität. Der Einwand beantwortet sich so leicht, dass seiner selbst wegen die Antwort kaum nötig sein möchte. Indessen ist er geeignet zu einer Vertiefung unserer Auffassung zu führen, die für unsere weitere Absicht nicht ohne Wichtigkeit ist. Es ist in der Tat nicht alles, nicht das Letzte damit gesagt, Beschreibung sei Subsumption unter Allgemeinbegriffe. Beschreibung ist Abstraktion: das führt der Sache schon einen Schritt näher; Beschreibung ist Vermittlung: das trifft vielleicht am genauesten den Kern des Problems. Also ist es Entfernung von dem Unmittelbaren des Erlebnisses. Und damit hängt noch ein weiteres zusammen: es ist Stillstellung des Stromes des Erlebens, [191] also Ertötung | des Bewusstseins, welches in seiner Unmittelbarkeit und Konkretheit vielmehr ewig flutendes Leben, niemals Stillstand ist. Ist man darauf einmal aufmerksam geworden, so wird man beim Lesen fast aller Bücher über Psychologie einen Eindruck nicht los wie beim Durchwandern von Seziersälen: man sieht Leiche an Leiche, und hundert Hände beschäftigt, das schon Tote nur immer weiter auch des letzten Scheines von Lebendigkeit, auch der fernsten Erinnerung an sie zu entkleiden, die bei der unzerstückten Leiche, im Zusammenbleiben der Glieder nach ihrer natürlichen Verbindung, immer noch, erhalten blieb. Man subsumiert eben nicht den lebendigen Organismus der Psyche, sondern subsumiert die ihm entrissenen toten Einzelglieder unter vollends tote, starre, bewegungslose – Begriffe. Ist es nicht das seltsamste Beginnen? Man glaubt offenbar das Psychische in seiner Integrität fertig vor sich zu haben; warum in aller Welt bedürfte es aber dann erst der Erforschung? Es ist klar: man erforscht wirklich nicht das Psychische, sondern erforscht, von ihm ausgehend, als hätte man es, etwas das jenseits seiner liegt. So tut alle objektivierende Wissenschaft, und sie tut recht daran. Nur ist dies Tun nicht Psychologie, sondern etwas ihr gerade Entgegengesetztes, eben Objektivierung. § 2. Grundgedanke der „Rekonstruktion“ des Unmittelbaren im Bewusstsein. Indessen, nur um so problematischer mag dann die Aufgabe der Psychologie erscheinen. Sie sucht das Subjektive des Bewusstseins, diesseits aller Objektivierung: also – scheint es – das schlechthin Unbestimmte, diesseits aller Bestimmung; denn alle und jede Bestimmung ist Objektivierung. Wie aber könnte man das in sich durchaus Bestimmungslose fassen, ohne es eben damit zu bestimmen – also zu objektivieren? So viel ist klar: unmittelbar lässt sich dem letzten Subjektiven des Bewusstseins nicht beikommen. Das Unmittelbare des Bewusstseins lässt sich nicht auch unmittelbar fassen und beobachten. Mit gutem Grunde bezeichnet man daher die Art, in der wir das Subjektive des Bewusstseins uns allein selbst zum Bewusstsein bringen können, als „Reflexion“,
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das heißt gleichsam Spiegelung. Aber als in der „Selbstbeobachtung“ reflektiert, ist das Unmittelbare schon nicht mehr das Unmittelbare. Eben diese Reflexion übt auf das Erlebte notwendig eine analysierende, gleichsam sezierende oder chemisch zersetzende Wirkung, und zwar um so mehr, je schärfer, je absichtlicher sie an|gestellt wird. Um aus dem [192] Reflex in unserer Selbstbeobachtung das unmittelbare Erlebnis in seiner Reinheit zu restituieren, müssten wir diese Eigenheit, die von der reflektierenden Betrachtung offenbar unabtrennbar ist, erst gleichsam wieder unschädlich machen, wir müssten das Werk dieser Analyse, die sich zumeist ganz unvermerkt vollzieht, wieder ungeschehen machen können. Dies ist aber in der Tat in gewisser Weise möglich. Gerade nachdem durch die Analyse die Einzelbestandteile der Komplexion deutlich herausgestellt sind, lässt sich die Komplexion selbst, so wie sie vor der Analyse gegeben war, nunmehr ihrem Inhalt nach mehr oder weniger adäquat bestimmen. Nachdem die hervorstechenden Punkte gleichsam bezeichnet und festgelegt sind, lassen auch die Verbindungslinien sich ziehen; lässt mit der Fülle der Wechselbeziehungen etwas, und dann mehr und mehr, von dem ursprünglichen Leben des Bewusstseins sich theoretisch wiedergewinnen; lässt sich das Endliche aufs Unendliche, das Diskrete aufs Kontinuierliche, aus dem es herausgehoben war, wieder zurückleiten und so der konkrete Zusammenhang des ursprünglich Erlebten sich bis zu einem gewissen Grade wiederherstellen. Gerade je reiner und bewusster die Abstraktion durchgeführt war, um so deutlicher musste es sich dabei herausstellen, dass die Elemente in Wahrheit nie verbindungslos da waren, sondern nur durch eine, in der Regel aber unbewusst bleibende Analyse aus der ursprünglichen Komplexion gelöst wurden. Also ist die Abstraktion freilich der unerlässliche Weg, um das Konkrete des Bewusstseinslebens sich überhaupt irgendwie zu Begriff zu bringen oder dem Begriff wenigstens anzunähern. Nur ist sie nicht selbst das Ziel, sondern eben nur das Mittel. Nicht die Abstraktion also ist es, welche die eigentümliche Forschungsweise der Psychologie bezeichnet, sondern gerade die Konkretisierung, die freilich die Abstraktion zur Voraussetzung hat. So wird zugleich klar, dass das Ergebnis nicht Unbestimmtheit, sondern die höchste erreichbare Bestimmtheit der Darstellung des unmittelbar Erlebten ist. Hiermit ergibt sich als die durchaus spezifische, von der der Naturwissenschaft wie aller objektivierenden Erkenntnis überhaupt grundverschiedene Methode der psychologischen Forschung die „Rekonstruktion“ des Unmittelbaren im Bewusstsein aus dem, was daraus gestaltet worden: aus den Objektivierungen, wie sie die Wissenschaft, und vor aller Wissenschaft, ohne jede bewusste Absicht, die alltägliche | Vorstellungsweise der [193] Dinge vollzieht. Sie besteht, dem Gesagten zufolge, darin: dass man die
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Objektivierung, insofern sie Zerlegung und damit Zerstörung des Vollerlebnisses wäre, in Gedanken wieder ungeschehen macht, das durch Abstraktion Geschiedene in die ursprünglichen Verbindungen wieder hineinstellt, den starren Begriffen die Bewegung zurückgibt, sie damit dem flutenden Leben des Bewusstseins wieder nähert, und durch dies alles das Vergegenständlichte auf die Stufe des subjektiven Gegebenseins wieder zurückleitet. Es ist, wie man sieht, eine völlige und reine Umkehrung des Verfahrens der objektivierenden Erkenntnis, wissenschaftlicher wie vorwissenschaftlicher Art: während diese aus Erscheinungen Gegenstände macht, rekonstruiert die Psychologie aus den Gegenständen, als ob sie das Gegebene seien, die Erscheinungen. Das Verhältnis von Erscheinung und Gegenstand kehrt sich für sie geradezu um: was Objekt war, ist zu erklärendes Phänomen geworden; was das Phänomen war, aus dem das Objekt erst erkannt werden sollte, ist jetzt das wahre zu erkennende Objekt geworden. §3. Wieso die Rekonstruktion eine Aufgabe ist. Dass nun diese Rekonstruktion eine wirkliche und nicht ganz leichte Aufgabe ist, wird gerade dann besonders klar, wenn man sich vergegenwärtigt, wie unmittelbar und unvermerkt die Objektivierung alles Subjektiven sich zu vollziehen pflegt. Schon jede Benennung, jede Fixierung des Blicks, man möchte sagen jeder Fingerzeig, jede noch so entfernt auf ein Erkennen gerichtete Funktion schließt wenigstens den Ansatz, den Versuch einer Objektivierung ein. Ohne eine eigens auf die Subjektivität des Erscheinens gerichtete Reflexion achten wir überhaupt nur auf Gegenstände, das heißt, wir objektivieren, wir suchen zu erkennen. Es ist eine ganz neue Zumutung, welche die Psychologie stellt, einmal gar nicht erkennen, nicht ein bestimmtes Was, das heißt ein Objekt, aus der Erscheinung herauskennen zu wollen, sondern das Erscheinende festzuhalten, so wie es vor aller Erkenntnis, auch vor aller Absicht des Erkennens, gegeben war. Diese Zumutung erscheint zunächst nicht nur befremdend, sondern geradezu widersinnig, denn sie scheint zu besagen, dass man erkennen solle, ohne doch zu erkennen. Wirklich ist die Aufgabe nur als eine solche der Rekonstruktion, der Umkehrung des Verfahrens verständlich: aus dem irgendwie (im objektiven Sinne) schon Erkannten allein lässt sich die Erscheinung, als subjektive Grundlage dieser Erkenntnis, [194] durch Rückschluss wiedergewinnen. | Dem natürlichen Bewusstsein gilt es, wie schon oft gesagt, als selbstverständlich, dass die Gegenstände zuerst da und gegeben, das Wahrgenommenwerden oder Erscheinen sekundär sei. Es hat ganz recht, in dem Sinne, dass die Reflexion auf die Subjektivität des Erscheinens das Nachfolgende und Abhängige, die Richtung des Bewusstseins auf den Gegenstand die näherliegende und natürliche, ja die an sich erste und unabhängige ist. Auf das Erscheinen selbst, als merkwürdigste aller Erscheinungen, zu achten, wird man allenfalls veranlasst, wenn der Versuch der Objektivierung fehlschlug,
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oder eine Täuschung sich nachträglich herausstellt. Dann geht uns zuerst der Begriff von einem eigenen Sein der Erscheinung auf, das vom Sein des darin erscheinenden Gegenstandes verschieden und wohl gar das früher, das zuerst Gegebene, Ursprüngliche sei. Fortan wird, besonders in wissenschaftlicher Absicht, zwischen Erscheinung und Gegenstand unterschieden, ja vielleicht schon als Prinzip zugrunde gelegt, dass nur Erscheinungen gegeben, der Gegenstand in jedem Falle erst Problem, erst wissenschaftlich festzustellen sei. Wirklich kann aber gerade die reine Erscheinung am wenigsten „gegeben“ heißen. Hätte man selbst recht, sie als das „an sich“ Erste anzusehen: für den Begriff ist sie jedenfalls das Letzte, Fernste. Nicht ohne Absicht haben wir oben (Kap. I) die überaus langsame Entwicklung einer eigentümlichen, auf die Subjektivität als solche gerichteten Reflexion historisch verfolgt. Wir sehen jetzt klar den Grund der zunächst auffallenden Tatsache. Es geht sehr natürlich zu, dass zunächst die Objektivität als schlechthin gegeben gilt und allenfalls nur darüber Zweifel ist, wie sie genauer zu bestimmen sei; dass dagegen die Subjektivität des Erscheinens entweder ganz übersehen oder naiv von der Objektivität abgeleitet, ja in sie eingerechnet wird. Es muss erst ein Protagoras aufstehen, mit keckem Radikalismus das Verhältnis von Subjekt und Objekt auf den Kopf stellen und die Paradoxie wagen, dass vielmehr die Subjektivität, das Erscheinen, das Erste, die Gegenständlichkeit, das Sein, entweder überhaupt nichts oder nur aus der Subjektivität abgeleitet sei: der Dinge, nämlich der Gegenstände, ihres Seins und Nichtseins, Maß und Richtschnur sei der Mensch, das heißt, das Subjekt. Mit der Anerkenntnis des Eigenrechtes der Subjektivität beginnt die Psychologie; für sie bleibt jene protagoreische Umkehrung in gewissem Sinne voll geltend. Für Wissenschaft, für eigent|liche „Erkenntnis“ [195] gilt durchaus nur das Objektive, für die Psychologie hat im Gegenteil nur das Subjektive Bedeutung; auch der Anspruch objektiver Geltung kommt für sie allein in Frage als subjektiver Anspruch, nicht hinsichtlich seines Rechtes oder Unrechts. § 4. Genauerer Sinn der Rekonstruktion. Hiernach lässt sich das allgemeine Verhältnis der Psychologie zur objektiven Wissenschaft schon präziser bestimmen. Die objektivierende Wissenschaft verfährt durchaus konstruktiv, sie schafft die Einheiten der Auffassung, die Instrumente des Begreifens, die „Begriffe“. Sie gibt dem in sich Bestimmungslosen die Bestimmtheit des Was, und damit der Erscheinung den Gegenstand. Diese ganze Leistung ist von einerlei Charakter, sozusagen aus einem Guss. Wissenschaft, auf Erkenntnis der Objektivität gerichtet, bildet dadurch eine unteilbare Einheit. Fällt somit die ganze eigentlich schöpferische Arbeit der Erkenntnis der objektivierenden Wissenschaft zu, so muss man sich dann doch besinnen, dass diese Schöpfung nicht eine Schöpfung aus Nichts, sondern schlechterdings aus Gegebenem ist. So entsteht die ganz neue und eigentümliche Aufgabe, das
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ursprünglichst Gegebene aus den Schöpfungen der Wissenschaft gedanklich wiederzuerzeugen. Dies wird offenbar um so reiner gelingen, je klarer die einzelnen Stufen des Prozesses der objektivierenden Erkenntnis vor Augen liegen, das heißt, je bewusster und besonnener die Objektivierung vollzogen wurde. Darum hat die Psychologie ihre bestimmteste Aufgabe, zugleich die gesichertste Basis für ihre eigene Leistung in den eigentlichsten, reinsten und bewusstesten Objektivierungen, denen der Wissenschaft. Zwar pflegt in dem Ausdrucke der abgeschlossenen wissenschaftlichen Erkenntnis jede direkte Erinnerung gerade an die ersten Schritte des objektivierenden Prozesses, die der Psychologie die wichtigsten sein müssen, verloren zu gehen. So legt die Mathematik sofort, ohne jede Vorrede, solche höchste Abstraktionen wie die des Punktes, der Linie, der Fläche, der reinen Zahlen und Zahloperationen, des Gleich, Größer, Kleiner usw., oder noch weit leerere Abstraktionen als diese, wie erste Data zugrunde. Darin hat sie, was sie bedarf: festbestimmte Einheiten der Auffassung. Auf solchen Grundlagen führt sie den ganzen Bau ihrer Erkenntnisse mit vollkommener Sicherheit auf. Für die Psychologie enthalten dagegen gerade diese scheinbar unmittelbarsten Data der objektiven Wissenschaft vielleicht [196] die allerschwersten Probleme; sie können ihr | keineswegs als absolute Voraussetzungen dienen, sondern sind gar sehr der Erklärung bedürftige, vielleicht von allen zuletzt erst erklärbare Phänomene. Denn man darf wohl von „Erklärung“ auch im subjektiven Sinne reden, da, wie gesagt, das psychisch Unmittelbare, auf welches alle bereits vollzogene Objektivierung zurückzuleiten ist, nicht ein unmittelbar zutage Liegendes, sondern eben durch die psychologische Rekonstruktion erst wieder aufzudecken, also klarzulegen, zu erklären ist. Übrigens ist die Aufgabe der Psychologie keine wesentlich andere in Bezug auf die nur weniger einheitlich und folgerecht durchgeführten Objektivierungen der nichtwissenschaftlichen Vorstellung. Die gesamte auch nichtwissenschaftliche Vorstellung der Dinge ist in der Tat das Ergebnis einer oft schon weitgehenden Objektivierung. Ein nicht unbeträchtlicher Teil unserer Gemeinbegriffe, wie sie in den Wörtern der Sprache und deren mannigfachen Bedeutungen gleichsam registriert sind, entstammt geradezu der Wissenschaft. Jede Benennung besiegelt gleichsam eine vollzogene Objektivierung; jede Auffassung eines Erscheinungskomplexes als ein Ding, als ein Vorgang, jede Identitätssetzung überhaupt, kurz jede Bildung irgendwelcher Einheit der Vorstellung schließt die objektivierende Funktion in sich. Jede einigermaßen entwickelte Technik verfügt über ein System fertiger Begriffe oft von einer Bestimmtheit der Ausprägung, welche gegen die der wissenschaftlichen Begriffe kaum zurücksteht. Also sind die „Dinge“ der gemeinen Vorstellung gedankliche Einheiten wesentlich gleicher Art, wenn auch meist von minder strengen und sicheren Konturen, als die eigentlichen, scharf umrissenen „Objekte“ der Wissenschaft.
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Auch die Tendenz auf eine einheitliche Vorstellung der Gesamtobjektivität fehlt nicht durchaus; wir meinen doch, von wissenschaftlicher Aufklärung abgesehen, nicht bloß etwas wie Gegenstände, sondern geradezu die Gegenstände, die wirklich und an sich vorhandenen, vorzustellen und zu benennen; darin liegt offenbar die Voraussetzung der Einheit der Objektivität. Dass die gemeine Vorstellung allerdings wirklich einheitlich nicht ist, dass die Wissenschaft sie eben darum nicht anerkennt, ist ja kein Geheimnis; allein nach dem Rechte oder Unrecht des Anspruchs der objektiven Geltung ist für die Psychologie überhaupt nicht die Frage; für sie steht die nichtwissenschaftliche Vorstellung, sofern sie die wirklichen Dinge doch treffen will und zu treffen meint, mit der wissenschaft|lichen völlig auf [197] einer Linie. Jene ist in der Tat ganz wie diese eine Konstruktion; also gilt es auch sie durch die psychologische Rekonstruktion auf die ursprüngliche Gegebenheit zurückzuleiten. Übrigens ist auch die wissenschaftliche Objektivierung ja nicht auf einmal fertig, sondern bei aller Festigkeit ihrer formalen Grundlagen, ihrer ganzen gesetzmäßigen Verfassung, in der Tat eine nie vollendete Arbeit. Der wesentliche Vorzug der Wissenschaft, in Rücksicht auf die Aufgabe der Psychologie, ist nur der besagte: dass die Wissenschaft sich jedes Schrittes, den sie tut, genau bewusst ist; dadurch macht sie es leichter, nun auch jeden Schritt gleichsam wieder zurück zu tun, um so bis zum ursprünglichsten Ausgangspunkt wieder zu gelangen. §5. Weitere Ausdehnung: des Bereiches der Rekonstruktion. Aber selbst die freiesten Vorstellungen der Phantasie sind nicht wesentlich anderer Natur. Obgleich sie nicht, auch nur der allgemeinsten Tendenz nach, gerichtet sind auf eine allbefassende Einheit der Objektwelt, auf Erkenntnis der Dinge, wie sie „sind“, so wollen sie dennoch Dinge vorstellen, nämlich wie sie sein könnten. Die Phantasievorstellung kommt dem naiv Phantasierenden gar nicht als ein bloßes subjektives Spiel seiner Gedanken zum Bewusstsein, sondern er schaut seine Phantasiewelt an und lebt in ihr wie in einer vorhandenen Welt. Nicht bloß bei Kindern kann man das beobachten, auch der Künstler phantasiert so, und wir alle im Traum. Phantasie „dichtet“, das heißt, erdenkt Gegenstände. Man nennt sie gestaltend, formend, schöpferisch; man schreibt ihr Lebendigkeit zu; sie ist lebengebend, lebenschaffend, das ist ihre Lebendigkeit. Mit einem Wort, sie ist objektivierend, wie in der Kunst nur am Sichtbarsten ist. Sie steht der Wissenschaft darin durchaus parallel und bildet daher ganz im gleichen Sinne wie diese ein Problem der Psychologie; wie andererseits die kunstlose, kunstwidrige, in ihren Gestaltungen fehlgreifende Phantasie den missglückten Objektivierungen, den wissenschaftlichen oder unwissenschaftlichen Irrungen oder grundlosen Annahmen über die Wahrheit der Dinge entspricht.
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Schon die gemeine nichtwissenschaftliche Vorstellung der Dinge, vollends die freie Tätigkeit der Phantasie ist aber nicht bloß theoretisch, weder in der Tat noch auch nur der Absicht nach; sie ist tausendfach mitbestimmt durch die ganze, ja besonders als subjektiv geltende Anteilnahme an den [198] Dingen, wie sie durch Strebungs- und Gefühls|momente, durch sittliche, durch ästhetische Interessen weit mehr als durch das Interesse der Erkenntnis im bloß theoretischen Sinne regiert wird. Dies führt auf die Frage, welche Aufgabe der Psychologie in Bezug auf alle diese weiteren Gebiete der Objektivierung: das ethische, ästhetische, religiöse zufällt. Zunächst hat man sich hier zu erinnern, dass nichts von dem allen von wissenschaftlicher Bearbeitung, von der Zurückbeziehung auf objektiv gültige Normen und Gesetze ausgenommen ist. In allen höher entwickelten Kulturen zeigt sich zum wenigsten ein Bestreben, auch alle diese Gebiete des Bewusstseins der Herrschaft des Gesetzes, das heißt allgemeingültiger, somit objektiver Bestimmung zu unterwerfen. Die bloßen Titel der Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie sind dafür hinreichende Zeugen. Mindestens als Desiderate bestehen diese Wissenschaften; mindestens gesucht, nachgefragt ist die objektivgültige Norm des Guten, des Schönen, des Heiligen. Wer immer diese Prädikate austeilt, denkt und fordert ein objektiv gültiges Gesetz, setzt es an sich voraus, wenngleich er mit ein wenig sokratischer Selbstbesinnung bald dahinter kommen wird, wie wenig er diese Voraussetzung eigentlich zu rechtfertigen und wirklich zu erfüllen imstande ist. Auch hier handelt es sich aber für die Psychologie zunächst nicht um das Recht oder Unrecht dieses Objektivitätsanspruchs; es genügt, dass er in der Tat erhoben wird. Damit aber besteht sofort auch hier die Aufgabe, zu den subjektiven Quellen solcher mindestens dem Anspruch nach objektiv gültigen Begriffe zurückzugehen. Freilich lässt sich voraussehen, dass die Lösung der Aufgabe in diesen Gebieten auf eigentümliche Schwierigkeiten stoßen wird. §6. Objektivierung selbst als Problem der rekonstruktiven Psychologie. Endlich aber auch die Okjektivierung selbst, in ihren verschiedenen Arten und Richtungen und auf ihren verschiedenen Stufen, fällt, so sehr sie in einem Sinne der Aufgabe der Psychologie entgegengesetzt ist, dennoch nicht aus ihrem Forschungsbereich etwa gänzlich heraus. Sie vollzieht sich doch ohne Zweifel selbst im Bewusstsein, als Bewusstsein; der Nachweis aber der Gestalt, in der sie im Bewusstsein sich vollzieht, die psychologische Charakteristik also der objektivierenden Funktion selbst, gehört sicherlich zu ihrer Aufgabe. Nur muss man sich der Grenzen genau bewusst bleiben, innerhalb welcher hier eine psychologische „Erklärung“ noch mit Sinn [199] gefordert werden | kann. Die „Einheit des Mannigfaltigen“, welche den Begriff, insbesondere den Begriff vom Gegenstande begründet, ist derart ursprünglich, dass es vergebliches Mühen wäre, sie irgend auf etwas
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anderes zurückführen oder davon ableiten zu wollen. Nur aufzeigen lässt sich, dass sie in allem, was wir erkennen oder zu erkennen auch nur versuchen mögen, schon zugrunde liegt. Sagt man etwa, sie bestehe, subjektiv angesehen, in der Einheit des „Gesichtspunkts“, unter dem ein Mannigfaltiges im Blicke des Geistes zusammengeschaut werde, so ist eben diese Einheit des geistigen Blicks nicht weiter psychologisch reduzierbar, sondern höchstens analogisch zu beschreiben. Die Einheit des Bewusstseins erscheint eben nicht. Auch die Verbindung der Vorstellungen, die man, sofern sie der Regel der Bewusstseinseinheit gemäß ist, immerhin deren Erscheinung nennen mag, auch die gleichartige in vielen Einzelvorstellungen, ist nicht die Denkeinheit selbst, sondern gleichsam nur deren Spiegelung in der Vorstellung. Gerade an ihr wird klar, dass die Bewusstseinseinheit selbst unvorstellbar, also in sich auch unbeschreiblich und nur durch den Gegensatz der Vorstellung, oder eben durch Analogien wie die der Einheit des Blicks, beschreiblieh ist. Sie bildet, wie früher schon festgestellt wurde, nicht sowohl eine eigentümliche Aufgabe der Psychologie, als vielmehr nur ihre äußerste Grenze. Bis dahin muss sie kommen; zur Rekonstruktion des Unmittelbaren im Bewusstsein gehört noch der Hinweis auf dies Letzte, in der Tat Unmittelbarste, aber eben darum durch alle unendlichen Vermittlungen doch nie erschöpfend Darstellbare. Also dies Letzte bezeichnet, gleichsam als der „unendlich ferne Punkt“, vielmehr nur die Richtung, in der alle subjektivierende Betrachtung schließlich zusammenstrebt, als einen Punkt, der auf dem Wege der rekonstruktiven Psychologie selbst anzutreffen wäre. Sie entspricht genau dem letzten, idealen Zielpunkte der objektivierenden Erkenntnis: nicht dem Gesetze bloß, sondern dem Gesetze der Gesetzlichkeit selbst, als dem Urgesetze ihrer Methode überhaupt. Ja man darf vielleicht sagen, dass in diesem äußersten Zielpunkte beide Betrachtungen koinzidieren, in analogem Sinne wie in der Mathematik der „unendlich ferne Punkt“ nicht ein doppelter, sondern ein und derselbe ist für den Fortgang in der Plus- und in der Minusrichtung einer und derselben Geraden. Das Wesentliche bleibt immer: einerseits die genaue Korrespondenz beider Aufgaben, der Objektivierung und der Subjektivierung, anderer|seits [200] der grundlegende Charakter der Objektivierung für die Subjektivierung. Der zweifache, gleichsam Plus- und Minussinn des Erkenntnisweges, vom Subjektiven zum Objektiven und zurück, entspricht der zweiseitigen Bedingtheit der Erkenntnis, durch die Erscheinung einerseits, den „Gesichtspunkt“ der Einheit des Mannigfaltigen andererseits. Die subjektivierende Erkenntnis deckt sich demnach mit der objektivierenden nach dem ganzen Umfang des zu Erforschenden, aber ist der Richtung nach ihr diametral entgegengesetzt. So wird die Meinung immerhin verständlich, dass Psychologie eigentlich alle anderen Wissenschaften umspanne, oder wenigstens den Grund zu ihnen lege. Grundlegend ist aber vielmehr die objektivierende Erkenntnis für die
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subjektivierende. Andere wissenschaftliche Gründe, als die objektivierende Wissenschaft und zuletzt deren logische Grundlegung sie liefert, kann auch Psychologie nicht aufdecken. Sie ist vielmehr auf die vorausgegangene Leistung der objektivierenden Erkenntnis jeder Art und Stufe für jeden einzelnen ihrer Schritte angewiesen; sie kann durchaus nichts rekonstruieren, wo nicht jene zuvor konstruiert hat. Dennoch bleibt ihre Aufgabe eine durchaus natürliche und notwendige. Denn an der Erkenntnis interessiert nicht bloß ihr Verhältnis zum Gegenstande, sondern auch ihr Verhältnis zu unserer Subjektivität. Vollständig gelöst wäre die Gesamtaufgabe der Erkenntnis erst, wenn beides geleistet wäre: das objektive Verständnis der Phänomene aus dem Gesetz, und das subjektive Verständnis der Gesetze und aller durch sie geleisteten Objektivierung der Phänomene aus dem Unmittelbaren des Bewusstseins. Gerade in der vollendeten Lösung dieser Doppelaufgabe der Erkenntnis würde es am Klarsten zutage treten, dass die Subjektivität, ganz wie die gemeine Vorstellung es annimmt, nur der Reflex der Objektivität, diese die eigentlich allein „seiende“ Grundlage des subjektiv Erscheinenden ist. §7. Objektiver und subjektiver Sinn der „Begründung“. Hierdurch aber löst sich nun der Schein völlig in nichts auf, als ob Logik, Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie selbst auf Psychologie zu gründen seien. Aber indem der Schein sich aufhebt, erklärt er sich zugleich. Es ist ganz richtig, dass jene philosophischen Grundwissenschaften, also überhaupt die Philosophie der objektiven Erkenntnis, einer psychologischen Begründung sowohl fähig als bedürftig sind. Nur ist diese „Begründung“ von eigener [201] Art, und sie ist nicht die primäre, | sondern erst sekundär. Sie ist erst möglich, nachdem und insoweit die eigentliche, nämlich objektive Begründung zuvor geleistet ist. Aber man wirrt beides ineinander und gelangt so zu dem schiefen Begriff einer „Erkenntnistheorie“, welche, so wie sie verstanden zu werden pflegt, eine subjektive Theorie der Objektivität als solcher sein müsste. Selbst Kants Kritizismus hat diese Begriffsverwirrung begünstigen können, indem es mitunter den Anschein hat, als solle in subjektiven Erkenntnisfunktionen die objektive Gültigkeit der Erkenntnis begründet werden. Es gibt allerdings eine subjektive Begründung, aber sie ist radikal verschieden von der objektiven, ja ihr Gegenteil, und sie hängt von ihr gänzlich ab, nicht aber diese von ihr. So hat Kant1 zwischen subjektiver und objektiver „Deduktion“ grundsätzlich klar unterschieden, freilich in der Ausführung selbst beides nicht scharf genug getrennt und dadurch zum Missverständnis wohl einigen Anlass gegeben. Es kann und muss in der Tat die „Begründung“ in diesem zweifachen Sinne verstanden werden:
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In der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft, A X, XI.
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als Zurückleitung auf das „an sich“ und auf das „für uns“ Erste. Wer die streng objektive, daher von Psychologie unabhängige Begründung fordert, übersieht gewöhnlich ganz die eigentümliche Aufgabe einer subjektiven Deduktion; oder er übersieht sie vielleicht nicht, möchte sie nur nicht „Begründung“ genannt wissen. Das ist sie auch nicht, im eigentlichen, nämlich objektiven Sinne. Wir erkennen beide Aufgaben an, im bestimmtesten Gegensatz, aber zugleich in genauester Wechselbeziehung zu einander. Im objektiven Sinn sind es die Gesetze, welche die Phänomene begründen, im subjektiven Sinne begründen vielmehr die Phänomene die Gesetze. Man kann auch sagen: für jene sind die Phänomene das Erklärungsbedürftige, die Gesetze das „an sich Frühere“, worauf alle Erklärung fußen muss; die aber selbst durch die Objektivierung der Phänomene erst herausgestellt, erst aufgedeckt werden müssen, also „für uns“ das Spätere sind. Für die subjektive Begründung ist im Gegenteil das, woraus alles andere erklärt, worauf es reduziert und was eben damit selbst erst erkenntnisgemäß festgestellt wird, das Unmittelbare des Bewusstseins; die Gesetze, die erklärenden Gründe der objektiven Erkenntnis sind für sie das Erklärungsbedürftige, nämlich auf den subjektiven Grund des Unmittelbaren, des Erlebnisses erst Zurückzuführende. Nach den letzten objek|tiven Gründen der Erkenntnis [202] fragen heißt, die Reduktion der Phänomene auf Gesetze aufs Höchste treiben, den Prozess der Objektivierung vollenden wollen bis zu den Gesetzen, welche die Objektivität der Erkenntnis überhaupt in letzter Linie, nämlich aus letztem objektivem Grunde bestimmen. Nach der subjektiven Erklärung nicht sowohl der Wahrheit als des Wahrheitsbewusstseins forschen heißt im Gegenteil, den Prozess der Objektivierung durch alle Stufen rückwärts verfolgen bis zu dem, was aller Objektivierung voraus das im Bewusstsein Lebendige war. Beide Aufgaben stehen sich also diametral gegenüber. Die eine setzt die Objektivierungen der Wissenschaft wie aller eigentlichen, aufs Objekt gerichteten Erkenntnis voraus und will die Objektivierung zum Abschluss bringen in einer letzten, höchst objektiven Gesetzgebung der objektiven Wahrheit selbst und überhaupt; die andere will im Gegenteil alle vollzogene Objektivierung gleichsam wieder ungeschehen machen und so zu den ersten vorwissenschaftlichen, ja aller Objektserkenntnis vorausliegenden Keimen des wissenschaftlichen und überhaupt des Objektsbewusstseins zurückleiten. §8. Der Schein des Subjektivismus. Dieses Verhältnis ist so lange klar und einfach, als der Gegensatz der Objektivität und Subjektivität, als der der objektiven und subjektiven Beziehung der Erscheinung, in unserem Sinne feststeht. Er steht fest, solange man sich darüber klar ist, dass es ein Gegensatz nicht zweier nebeneinander stehender Seinsweisen oder Tatsachenreihen, sondern zweier Richtungen des Erkenntnisweges: vom Phänomen zum Gesetz und vom Gesetz zum Phänomen ist. Anderenfalls
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aber scheint entweder die Objektivität die Subjektivität, oder – und dies mit weit verführenderem Scheine – die Subjektivität die Objektivität ganz zu verschlingen und gleichsam in sich aufzusaugen. Das erstere, das gänzliche Übersehen der Subjektivität, ist dem naiven Bewusstsein sehr geläufig, dem einmal zur Selbstbesinnung erwachten dagegen fast unmöglich. Besonders der neueren Philosophie seit Descartes ist die selbständige Bedeutung der Subjektivität so lebendig geworden, dass es allenfalls nur einem ganz naiven Materialismus noch gelingt, sie gänzlich zu ignorieren. Dagegen haftet der umgekehrten Täuschung, die dem gemeinen Bewusstsein ganz fern liegt, für den, der einmal moderne Philosophie gekostet hat, ein kaum überwindlicher Schein an. Sie ist unter [203] dem Namen des „Idealismus“ überall bekannt, | wo nur die mindeste Kunde von neuerer, besonders Kantischer und neukantischer Philosophie hingedrungen ist. Man versteht darunter, in der unbestimmtesten Bedeutung, die im Grunde triviale Besinnung, dass ein Gegenstand doch nicht anders als im Bewusstsein gegeben sei. Gegenstände mögen an sich, das heißt, abgesehen von unserer Erkenntnis oder Vorstellung derselben, kurz unseres Bewusstseins von ihnen, sein, was sie wollen; jedenfalls für uns sind und bedeuten sie allein, was wir darunter vorstellen oder daran erkennen, allgemein, wessen wir uns in Bezug auf sie bewusst sind. Denkt man sich ein Ansichsein im Unterschied von unserer Erkenntnis oder Vorstellung oder sonst einer Art des Bewusstseins vom Gegenstand, so kann es nur etwa ein solches Sein bedeuten, wie es unserer Erkenntnis, unserer Vorstellung, unserem Bewusstsein sich darstellen würde, wenn es in deren Bereich überhaupt kommen könnte; ein Begriff, der wohl dazu dienen mag, die Grenze der uns möglichen Erkenntnis (oder Vorstellung, allgemein unseres Bewusstseins) zu bezeichnen, dem aber sonst eine angebbare, nämlich positive Bedeutung für uns nicht zukommt. In dieser Unbestimmtheit verstanden, erscheint der Grundgedanke des Idealismus freilich einleuchtend, aber beinahe trivial; er fördert das Verständnis in keiner Richtung. Auch ist er in die Philosophie wohl nur geraten, indem er sich, in mehr oder minder populären Darstellungen, einem anderen, etwas inhaltvolleren Gedanken unterschob. Es ist in der Tat wenig damit gesagt, dass der Gegenstand notwendig Gegenstand für ein Bewusstsein sei. Vielmehr, da doch dies sich von selbst versteht, so fragt es sich dann erst, was es denn sei am Bewusstsein, das die Gegenständlichkeit ausmache, und was demgemäß diese Gegenständlichkeit bedeute. Es kann auch nicht genügen, festzustellen, dass das Unterscheidende des gegenständlichen Bewusstseins wiederum ein Moment des Bewusstseins sein müsse, sondern es handelt sich darum, dies Moment in seiner Bestimmtheit aufzuweisen und zu kennzeichnen. Wir bezeichneten es hier vorzugsweise, immer noch allgemein und unbestimmt genug, durch den Begriff des
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Gesetzes, oder durch die in diesem gedachte „Einheit eines Mannigfaltigen“. Aber nicht bloß aufs Gesetz überhaupt, sondern auf die allbefassende Einheit des gesetzlichen Zusammenhanges der Erscheinungen kommt es an. Diese sucht alle Wissenschaft, darin glaubt sie die Objektivität des Seins im Unterschied von der Subjektivität des Erscheinens zu begründen. So ergibt sich eine | schon tiefere, sozusagen vornehmere Gestalt des [204] Idealismus. Nicht das „Bewusstsein“ so schlechtweg (dass uns überhaupt etwas bewusst ist), sondern die Einheit des Bewusstseins ist es, welche in der Einheit des Gesetzes die Einheit des Gegenstandes konstituiert; so etwa ließe die Grundformel dieses Idealismus sich aussprechen. In so verbesserter Gestalt gewinnt die idealistische Ansicht wenigstens doch einen ernsteren Sinn; sie wird namentlich eines engen Bündnisses mit den konkreten Objektwissenschaften fähig; einer Bundesgenossenschaft, die ihr ja nur zum inneren Vorteil und zur äußeren Empfehlung gereichen kann. Das ist es ungefähr, was man unter Kritizismus, kritischem Idealismus gemeinhin versteht. Aber gerade nach dieser Auffassung kann nun doch die Objektivität der Erkenntnis in die Subjektivität gänzlich aufzugehen scheinen. Der die Erscheinung objektivierende Gedanke ist ja selbst nur eine Form des Bewusstseins, mithin die vorgeblich objektive Begründung der Erkenntnis in Wahrheit eine subjektive. Der gesetzmäßige Zusammenhang der Erscheinungen in einer „Natur“ (Erscheinungswelt), welche allein den Geltungsanspruch der Objektivität stützt und berechtigt – erscheint er nicht, weil im Gedanken allein bestehend, vom Gesetz des Bewusstseins ganz und gar abhängig? Wer setzt diesen Unterschied objektiver und bloß subjektiver Geltung, wer ordnet die Erscheinungen unter Gesetze, wer bestimmt die dabei leitenden Gesichtspunkte, vor allem jenen höchsten Gesichtspunkt, das Gesetz aller Gesetze, wonach das Gesetz es ist, welches die Objektivität bestimmt – wer, wenn nicht wir, die Denkenden? Wir mögen dabei unter dem Zwange einer Notwendigkeit stehen, die für keine subjektive Willkür Spielraum lässt; wir mögen darin zuletzt abhängig sein von irgendeiner uns unbekannten, fremden Macht; nach dem allen ist hier nicht die Frage, kann vielleicht ernsthaft gar nicht die Frage sein, weil wir über letztgültige Gesetze unserer Erkenntnis nicht mit Sinn hinausfragen oder etwas außerhalb unserer Erkenntnis dürfen bestimmen wollen, wovon unsere Erkenntnis abhänge; sondern davon allein ist die Rede, davor aber gibt es, wie es jetzt scheint, kein Entrinnen: dass auch der Gedanke der Objektivität, auch die Konstitution des Gegenstandes auf Grund des gesetzlichen Zusammenhanges der Erscheinungen zuletzt bloß „in uns“, im Denken, richtiger, im Erkennen, jedenfalls aber im Bewusstsein – also in unserer Subjektivität gegeben sei. | [205] Mit dem so verstandenen „Idealismus“ uns auseinanderzusetzen dürfen wir um so weniger uns weigern, je näher unsere eigene grundsätzliche
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Stellungnahme ihm zu kommen scheint; je weniger wir jenem Kantischen Grundsatze selbst beizupflichten umhin können, den wir kurz so formulierten: dass die Einheit des Bewusstseins es sei, welche in der Einheit des Gesetzes die Einheit des Gegenstandes konstituiere2. §9. Auflösung des Scheines des Subjektivismus. Es hat für die Philosophie, welche nach der letzten Einheit der Erkenntnis forscht, immer etwas Verführerisches, mit einer einzigen letzten, vielleicht großartig wahren Synthese auch gleich alle lösbaren Rätsel gelöst, alle beantwortbaren Fragen beantwortet zu glauben. Für eine solche fundamentale Synthese darf gewiss die Kantische zwischen den Begriffen: Gesetz, Gegenstand, Bewusstsein gelten. Wir halten wirklich den soeben formulierten Fundamentalgedanken durch Kant dermaßen bewiesen und von seinen Nachfolgern weiter geklärt und in der Durchführung allseitig bewährt, dass wir von einer Diskussion darüber mit solchen, die nach allem, was darüber wohl hundertfach gesagt ist, sich immer noch gegen seine Wahrheit verschließen würden, uns wenig Nutzen versprechen könnten. Indessen lässt gerade die Frage, deren Auflösung wir suchen, es deutlich erkennen, wie sehr man irrt, wenn man glaubt, dass durch diese einzige Aufklärung nun mit einem Schlage alle Schwierigkeiten gelöst seien. Versteht man in jener Formel, die man etwa die Fundamentalgleichung der Erkenntnis nennen könnte, das „Bewusstsein“ im Sinne der Psychologie, das heißt als Subjektivität, so ist unvermeidlich das Gesetz, das in seiner Einheit die des Gegenstandes begründet, ein Gesetz unserer Subjektivität, also ein psychologisches Gesetz, und die vermeintlich objektive Begründung der Wahrheitsgesetze der Erkenntnis wird vielmehr zu einer subjektiven, psychologischen; der von uns behauptete Unterschied objektiver von subjektiver Begründung fällt dahin, und der kritische Idealismus wird, wofür die meisten seiner Gegner, aber auch nicht wenige seiner Verfechter ihn angesehen haben, reinster, uneingeschränktester Subjektivismus, mit dem Idealismus Berkeleys annähernd identisch, allenfalls vor ihm ausgezeichnet durch die bestimmtere Heraushebung derjenigen Momente des subjektiven Bewusstseins, welche die Geltung der Objektivität – immer aber im [206] subjektiven Sinne der „Begründung“ – begründen. | Indessen so tiefe Wurzeln jene Kantische Grundgleichung in der Geschichte der Philosophie und Wissenschaft hat, so mächtig anregend und fördernd schon durch sie allein Kant auf beide eingewirkt hat – wir können dennoch nicht in ihr, bloß als solcher, seine entscheidende Leistung erkennen. Auf die Durchführung, und um der Durchführung willen auf die schärfste Präzisierung des Prinzipalgedankens selbst kommt es an;
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Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 105. – Anm. d. Hrsg.
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durch diese aber wird, wie wir behaupten, aller Schein des Subjektivismus gründlichst aufgehoben. Die Begründung der Einheit des Gegenstandes in der Einheit des Bewusstseins und zwar in Gestalt des Gesetzes dürfte kaum als originelle Entdeckung Kants bezeichnet werden. Sie ist dem Prinzip nach schon sehr klar enthalten in Platos Begriff der „Idee“, welche gegenüber der fließenden Mannigfaltigkeit der Erscheinungen die bestimmende, begrenzende Einheit des Gesetzes und in ihr das gegenständliche „Sein“ repräsentiert, andererseits zu ihrer subjektiven Wurzel das Verstehen hat, welches vom beliebigen Vorstellen unterschieden wird durch das „Zusammenfassen zur Einheit“ (ξυλλαβεÂν ε¸σ ¦ν3), das heißt ziemlich genau: Kants „synthetische Einheit“. Man findet bei Descartes, deutlicher noch und ausgeprägter bei Leibniz dieselbe Grundvoraussetzung; bei diesem bisweilen in so überraschend scharfer Formulierung, dass für den, der Kants fundamentale Leistung in diesem einzigen Grundgedanken sähe, die Originalität dieser Leistung sehr zweifelhaft erscheinen müsste. Leibniz selbst dachte dabei übrigens nur die „perennis philosophia“, die von je, seit es Philosophie gibt, vorhandene, mehr oder weniger bewusst allen gemeinsame, in den einzelnen Systemen allerdings nur unklar und stückweise zur Geltung gekommene philosophische Grundwahrheit allenfalls zum deutlichsten Ausdruck und zur allseitigen Entfaltung zu bringen. Nicht mehr als eben dies hätte Kant, wenn schon in wiederum verbesserter, haltbarerer Form, geleistet, wäre in jenem Satze wirklich die Summe seiner Philosophie enthalten. Der Unterschied wird jedoch klar, sobald man die Ausführung des gemeinsamen Leitgedankens bei Kant mit der bei Plato oder Leibniz vergleicht. Dass das Gesetz es sei, welches in der Erkenntnis das Sein oder den Gegenstand begründe, wusste Plato, wusste Leibniz. Aber schon der grundverschiedene Charakter der besonderen Probleme der Philosophie, welche in dieser einzigen Fundamentalgleichung nur das letzte gemeinsame Prinzip ihrer Auflösung zu suchen haben, und | die daraus fließende sehr [207] verschiedene Geltung und Bedeutung der Grundbegriffe „Gesetz“ und „Gegenstand“ selbst je nach ihrer Anwendung in den verschiedenen Richtungen philosophischer Fragestellung, blieb beiden verborgen. Der Unterschied zwischen mathematischem und Naturgesetz und dessen Grund ist von beiden zwar bis zu einem gewissen Punkte vorgeahnt, aber schließlich doch unzureichend bestimmt worden; noch weit unsicherer sind beide in der Abgrenzung der konstitutiven Erkenntnisgesetze gegen das bloß regulative Prinzip des Zwecks, vollends in der Unterscheidung des Geltungswertes des Zweckgedankens in Natur und Kunst und andererseits im Sittlichen, wodurch beiden die wahrhaft objektive Begründung gerade derjenigen
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Nach Platon, Theaitetos 147d. – Anm. d. Hrsg.
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„Ideen“ und Wahrheiten entgehen musste, an welchen ihnen beiden zuletzt mehr gelegen war als an der philosophischen Grundlegung zur mathematischen Naturwissenschaft bloß ihrer selbst wegen. Sicher berühren alle diese Fragen auf entferntere Weise auch Interessen der Psychologie; in ganz fundamentaler Weise aber geht eine Frage sie an, welche direkt gegen die letzte Wurzel und Angel dieser ganzen, Kant mit Plato und Leibniz gemeinsamen Grundstellung sich richtet; gegen den Begriff des „Bewusstseins“ selbst, in dessen Einheit die Einheit des Gesetzes und damit des Gegenstandes zu begründen sei. §10. Der Schein des Subjektivismus bei Kant. Was nun dies betrifft, so muss zugestanden werden, dass Kant selbst zu einer subjektivistischen Deutung durch den Ausdruck, den er dem Fundamentalgedanken gab, reichlich Anlass gegeben hat. Er forscht nach dem Grunde derjenigen Einheit, welche im Begriff des Gegenstandes gedacht wird, und findet sie in der Einheit des Bewusstseins. Nur das Bewusstsein könne dem Mannigfaltigen der Erscheinung die Einheit „verschaffen“, durch welche allein sie Beziehung auf den Gegenstand habe. Zwar wird dieses Bewusstsein vom „jederzeit wandelbaren“ empirischen Bewusstsein (dem inneren Sinn) unterschieden als reines, ursprüngliches, unwandelbares; aber es bleibt eben Bewusstsein, „Apperzeption“. Das ursprüngliche und notwendige Bewusstsein der Identität „seiner selbst“ sei zugleich ein Bewusstsein einer ebenso notwendigen Einheit der Synthesis aller Erscheinungen nach Begriffen, mithin der Grund der Einheit des Gegenstandes. „Es ist schlechthin notwendig, dass in meinem Erkenntnisse alles Bewusstsein zu einem Bewusstsein (meiner selbst) [208] gehöre“, oder in einem einzigen Selbstbewusstsein verbunden sei; | dies sei der schlechthin erste Grundsatz unseres Denkens überhaupt. Das „transzendentale Bewusstsein“ sei „die bloße Vorstellung Ich in Beziehung auf alle anderen“. Die Einheit des Gegenstandes habe „subjektive Gründe“ in den „ursprünglichen Erkenntnisquellen unseres Gemüts“, welche „zugleich objektiv gültig sind, indem sie die Gründe der Möglichkeit sind, überhaupt ein Objekt in der Erfahrung zu erkennen“4. So nach der „transzendenta-
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Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 125 f. Kant schreibt hier: „Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt. Denn diese Natureinheit soll eine notwendige, d.i. a priori gewisse Einheit der Verknüpfung der Erscheinung sein. Wie sollten wir aber wohl a priori eine synthetische Einheit auf die Bahn bringen können, wären nicht in den ursprünglichen Erkenntnisquellen unseres Gemüts subjektive Gründe solcher Einheit a priori enthalten, und wären diese subjektiven Bedingungen nicht zugleich objektiv gültig, indem sie die Gründe der Möglichkeit sind, überhaupt ein Objekt in der Erfahrung zu erkennen.“ – Anm. d. Hrsg.
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len Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“ in der ersten Darstellung. Die zweite aber, welche sonst den objektiven Sinn der „transzendentalen Apperzeption“ viel schärfer herausarbeitet, geht dennoch ganz direkt aus von dem „Ich denke“, dem Descartes’schen Cogito, welches „alle meine Vorstellungen muss begleiten können“, weil sie sonst nicht meine, sondern „für mich nichts“ sein würden; oder von der „Einheit des Selbstbewusstseins“5. Zwar wird diese dann, entschiedener als schon in der ersten Darstellung, als „objektive“ Einheit von einer bloß subjektiven unterschieden und ihr eine notwendige und allgemeine Geltung beigelegt; aber es bleibt immer Einheit der Apperzeption, Einheit des Selbstbewusstseins. Ist das denn nicht Subjektivität? Scheint nicht eine „objektive“ Einheit des Selbstbewusstseins – also eine objektive Einheit des subjektiven Bewusstseins – entweder ein Nonsens oder der denkbar bestimmteste Ausdruck der gänzlichen Aufhebung der Objektivität in die Subjektivität zu sein – die wir doch von Kant gerade abwehren wollten? Allein wir entsinnen uns, dass die Einheit, die im Gesetz den Gegenstand konstituiert, Einheit der Bestimmung ist. Zwar erscheint auch eben diese, und gerade damit die Setzung des Gegenstandes, bei Kant als subjektiver Akt, als Tat des bestimmenden Ich, des Subjekts oder des Bewusstseins. In diesem Ausdruck besonders und den gleichbedeutenden: Akt, Tätigkeit, Handlung, Funktion, liegt von Neuem und erst recht die Gefahr einer subjektivistischen Wendung. Und Kant hat dieser Gefahr durch die Wahl seiner Ausdrücke zum wenigsten nicht genügend vorgebeugt, wenn er eben die Bestimmung des „Mannigfaltigen“ zur „Einheit“, auf der alle Gegenstandserkenntnis beruhe, als „Handlung des Gemüts“ beschreibt, oder sie einer „Spontaneität“, einer „Selbsttätigkeit“ des „Verstandes“ zuschreibt. An solche Wendungen des Ausdrucks klammerte sich der titanische Subjektivismus Fichtes; ihm war das höchst sympathisch, dass die gesamte | Objektivität auf Handlung, „Tathandlung“, auf „Setzung“ seitens [209] des Ich beruhen sollte6. §11. Endgültige Überwindung des Subjektivismus. Indessen haben wir uns schon früher, rein unter dem Gesichtspunkte der Methodologie der Psychologie, darüber erklärt, was von solchen „Handlungen“ des Ich, des Subjekts oder des Bewusstseins zu halten sei. Wir haben den Akt des Wahrnehmens, Denkens usw., den Akt des Verbindens abgelehnt, wir werden auch den Akt des Bestimmens ablehnen und uns, wie dort an das Bewusst-sein des Inhalts, der Einzelinhalte wie ihrer Verbindungen, so hier an das Bewusst-sein der Inhaltsbestimmtheit ausschließlich halten 5
Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 132, Kursivierung von Natorp. – Anm. d. Hrsg. Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), S. 11–21 (Erster, schlechthin unbedingter Grundsatz). – Anm. d. Hrsg. 6
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müssen. Wäre eine bestimmende „Tätigkeit“ anzusetzen, sie wäre doch nur durch Rückschluss aus ihrem Ergebnis, der Bestimmtheit im Inhalte des Bewusstseins, zu erreichen, nicht aber primär gegeben. Zwar haben wir selbst dem ähnliche Ausdrücke, namentlich den Ausdruck der „Konstruktion“ nicht gemieden, der immer noch auf etwas wie eine spontane Handlung des Subjekts hinzudeuten scheinen kann; wir sagten, die objektivierende Erkenntnis, insbesondere die Erkenntnis der Wissenschaft, sei es, welche aus dem Gegebenen die begrifflichen Einheiten schaffe, dem in sich Bestimmungslosen die Festigkeit der Bestimmung und damit der Erscheinung den Gegenstand gebe7. Aber schon wenn gesagt wird, die objektive Erkenntnis, die Wissenschaft vollbringe das alles, so ist von spontanen Handlungen des Subjekts ja nicht die Rede. Nähme man selbst solche an, so wäre das eben nur der psychologische Ausdruck der Sache; es könnte von solchen Handlungen, wenn überhaupt, dann nur in jener durchaus sekundären, nur uneigentlich so benannten „Erklärung“ des Erkenntnisresultats aus seinen subjektiven Voraussetzungen die Rede sein, die wir zur Aufgabe der Psychologie allerdings rechnen, die aber der Gefahr einer Psychologisierung der Logik durchaus nicht unterliegt, da uns eben die Aufgabe der Psychologie überhaupt als sekundär gegenüber der der objektiven Grundlegung der Erkenntnis gilt. Aber immerhin, auch wenn von der Annahme einer bestimmenden Tätigkeit, einer Kausalität des Subjekts gänzlich abgesehen wird, scheint doch das bestehen zu bleiben, dass die Einheit der Bestimmung allein [210] bestehe in der Einheit des Bewusstseins, also in der Subjektivität. | Nun ist es ganz richtig, dass die Einheit der Bestimmung, also auch die des Gegenstandes, insofern Einheit des Bewusstseins ist, als sie allemal für ein Bewusstsein besteht; sonst gäbe es ja kein Bewusstsein vom Gegenstande. Damit ist aber nicht gesagt, dass die objektive Beziehung der Erscheinung in die subjektive verschwände, sondern nur, dass der objektiven Beziehung, zufolge des korrelativen Grundverhältnisses zwischen Bewusstsein und Gegenstand, jederzeit eine subjektive entspricht. Es ist doch zweierlei, ob man behauptet, beide Beziehungen finden statt, und zwar in unaufheblichem Wechselverhältnis zueinander, oder, nur die eine finde statt, die andere sei überhaupt keine eigene Beziehung, sondern nur eine Spezifikation der ersteren. Hat man sich diesen Unterschied einmal klar gemacht, so wird man nicht leicht mehr über das wahre Verhältnis sich täuschen lassen. Die Einheit des Gegenstandes wird sich allerdings jederzeit auch als Einheit des Bewusstseins
7 Vgl. Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, § 13, „Reconstruction der Subjectivität als eigenthümliche Aufgabe der Psychologie“ (S. 88–103). – Anm. d. Hrsg.
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ausdrücken lassen, sofern eben der objektiven Beziehung dies subjektive immer gegenübersteht und entspricht. Aber die objektive Beziehung bleibt dabei von der subjektiven nicht nur deutlich unterschieden, sondern ihr geradezu entgegengesetzt. Soll der Inhalt des Bewusstseins überhaupt ein irgendwie bestimmter sein, so ist er notwendig auch schon in irgendeinem Grade objektiviert; nennen wir ihn dennoch Inhalt des „Bewusstseins“, so besagt dies nur, dass die bestimmte Stufe der Objektivierung sich in der Umkehrung auch als bestimmte Stufe der Subjektivierung ansehen lässt. Dass das erst nur subjektiv Gegebene dann zur Objektivität emporgehoben werde: dieser genetische Ausdruck hat nur ein sehr bedingtes Recht, nämlich eben für jene Betrachtungsart, die wir „Erklärung“ im subjektiven Sinne nannten. Doch bleibt dabei immer fest, dass die Einheit der Objektivität für die Erkenntnis wirklich das Primäre, die des subjektiven Bewusstseins erst aus ihr zu rekonstruieren ist, und nur dasselbe in subjektivem Ausdruck, oder von der Seite der Subjektivität gesehen, bezeichnet. Jedenfalls der Erkenntnis nach ist vielmehr die subjektive Beziehung durch die objektive bedingt, als diese durch jene. §12. Korrelativität der Methoden der Objektivierung und der Subjektivierung. Aber „an sich“ ist es vielleicht anders? Wer das behaupten will, wird erst erklären müssen, wie dies Ansichsein überhaupt zu verstehen und wie ihm beizukommen sei, anders als eben durch die Erkenntnis. Nur in der Erkenntnis sind Subjektivität und Ob|jektivität, vielmehr Subjektivierung [211] und Objektivierung, als zwei verschiedene Richtungen des Erkenntnisweges zu unterscheiden. Oder man mag die Erscheinung, bloß als solche, unterscheiden von ihrer doppelseitigen Betrachtung, einerseits als Erscheinung für ein Bewusstsein, andererseits als Erscheinung des Gegenstandes. Dann gilt eben das früher Festgestellte: dass überhaupt nicht zwei Reihen von Tatsachen vorliegen, die dann erst untereinander in Beziehung zu setzen wären, sondern von Haus aus nur eine. Etwas, ein Gegenstand, erscheint mir, und: Ich habe davon ein Bewusstsein, dies ist in der Sache eins und nicht zweierlei. Weder darf ich sagen: der Gegenstand erscheint mir so, z.B. als Einheit, weil ich mich so vorstellend zu ihm verhalte, z.B. vereinigend; noch auch: ich verhalte mich so zum Gegenstande, weil er mir so erscheint; keines ist vom andern abhängig, weil beides vielmehr wirklich Eines ist. Wo überhaupt nicht zwei Tatsachen vorliegen, kann auch von Abhängigkeit, nach der Art wie Tatsache von Tatsache abhängt, nicht die Rede sein. Der Gegensatz ist vielmehr ein Gegensatz zweier Beziehungen; das in sich bestimmungslos Gegebene wird in der objektivierenden Erkenntnis bezogen auf die Einheiten der Bestimmung; diese werden in der rekonstruktiven Psychologie wieder zurückbezogen auf den ursprünglich bestimmungslosen, nunmehr aber seinem Gehalt nach bestimmbar gewordenen, unmittelbaren Inhalt des Bewusstseins. Hier allein, in dieser doppelten Beziehung, die der
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Erscheinung, nämlich in der einerseits objektivierenden, andererseits subjektivierenden Erkenntnis, gegeben wird, kann von Abhängigkeit gesprochen werden; und zwar ist uns längst ausgemacht, dass die subjektive Beziehung von der objektiven abhängig ist, nicht umgekehrt. Darum stehen doch beide Richtungen des Erkennens sich, eben als Richtungen, selbständig gegenüber und korrespondieren sich zugleich aufs Genaueste. Jede objektive Beziehung muss sich zugleich in einer subjektiven ausdrücken und umgekehrt: die Einheit des Gegenstandes in der des Bewusstseins, und diese in jener. Daher scheint dann, je nachdem man die eine oder die andere Erkenntnisrichtung folgerecht bis zu Ende verfolgt, sehr begreiflich bald die Objektivität die Subjektivität, bald die Subjektivität die Objektivität ganz in sich aufzusaugen; es stellt sich bald das Erscheinen (des Objekts) als Wirkung der Vorstellung (des Subjekts), bald die Vorstellung (des Subjekts) als Wirkung des Erschei[212] nens (des Objekts) dar. Freilich, wenn beides verschiedene | Tatsachen und dabei doch immer miteinander gegeben wären, so müsste man wohl fragen, welche von beiden der andern, oder welches Dritte etwa beiden zugleich als Ursache zugrunde liege. Und diese verschiedenen Möglichkeiten sind denn auch alle der Reihe nach in der Philosophie versucht worden. Uns löste sich diese ganze scheinbare Dualität auf, nämlich in die Doppelrichtung des dabei immer doch einen Erkenntnisweges. Indem derselbe Punkt einer Strecke einmal betrachtet werden kann als Durchgangspunkt in der Bewegung von A nach B, ein andermal als Durchgangspunkt in der Bewegung von B nach A, so erscheint es, als ob es vielmehr zwei Punkte seien, die von entgegengesetzten Richtungen herkämen und sich nur eben jetzt begegneten. Wirklich kommt die Erscheinung weder aus dem Innern, noch aus dem Dasein draußen, sondern nur unsere Betrachtung kommt von der einen oder andern Seite her, und zwar kann sie auf jede Erscheinung von beiden Seiten her kommen. Sage ich: der Gegenstand erscheint mir, so denke ich stillschweigend dahinter den ganzen Zusammenhang der Objektivität, aus welchem diese einzelne Erscheinung nur eben jetzt hervortrete. Sage ich umgekehrt: ich stelle ihn vor, so denke ich dahinter den Zusammenhang des Bewusstseinslebens, und nun scheint diese Einzelerscheinung vielmehr aus dem verborgenen Grunde der Subjektivität nur eben jetzt hervorzutreten. Komme ich endlich dahinter, dass in jedem Falle beide Auffassungen gleich zulässig sind, so meine ich vielleicht etwas recht Kluges zu sagen, wenn ich behaupte, eine jede Erscheinung sei eben doppelseitig, objektiv und subjektiv zugleich, bedingt. In Wahrheit bedingt nicht die Objektivität die Subjektivität, noch die Subjektivität die Objektivität, noch beide als Drittes die Erscheinung, sondern die Richtung unserer Betrachtung bedingt die Auffassung der Erscheinung im objektiven oder im subjektiven Zusammenhange, die Verknüpfung beider Betrachtungsweisen ihre Auffassung als zugleich beiden Zusammenhängen angehörig. Im ersteren Falle wird das Bedingen kausal verstanden; für uns aber kann von einem kausalen
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Verhältnis hier gar nicht die Rede sein, da es überhaupt nicht zwei Tatsachen sind, um die es sich handelt: das Erscheinen von Seiten des Objekts, das Vorstellen von Seiten des Subjekts; oder gar drei: die Erscheinung als Resultante gleichsam aus zwei zusammentreffenden Bewegungen, einer objektiven und einer subjektiven; sondern die Auffassung der Erscheinung unter dem einen oder andern Gesichtspunkte | oder unter beiden im Verein [213] ist logisch bedingt durch die Absicht der jedesmaligen Betrachtung. §13. Nochmaliger Rückblick auf Kant. Werfen wir von hier aus nun nochmals einen Blick auf die Kantischen Formulierungen, so begreift sich jetzt freilich, wie Kant die Einheit der Bestimmung, welche das Gesetz und in ihm den Gegenstand konstituiert, als Einheit des Bewusstseins bezeichnen konnte. Sie ist Einheit für das Bewusstsein, ja das Bewusstsein eignet sie sich vollständig selber an. Sogar, da kein bestimmtes Bewusstsein möglich ist ohne die Einheit der Bestimmung, so ist das Bewusstsein im eigentlichen Verstande nur durch die Einheit der Bestimmung zu charakterisieren. Das in sich bestimmungslos Gegebene, welches wir das Unmittelbare des Bewusstseins nannten, mag in der Psychologie als Untergrund des Bewusstseins hervorgehoben und innerhalb der Psychologie auch „Bewusstsein“ genannt werden; in Bezug auf Erkenntnis im eigentlichen Sinne dagegen kann „Bewusstsein“ nur bestimmtes Bewusstsein, mithin Objektsbewusstsein bedeuten. Aber wie spricht denn Kant vielmehr von Einheit des Selbstbewusstseins? Und wie heißt diese dann doch wieder objektive, transzendentale Einheit, da doch transzendentale und psychologische Betrachtung für ihn entgegengesetzt sind eben als Betrachtung aus objektivem und aus subjektivem Gesichtspunkt? Ist diese objektive, transzendentale Einheit, die dennoch Einheit des Selbstbewusstseins sein soll, nicht so zu verstehen, dass die objektive Einheit, als erkannt, zugleich dem Bewusstsein angeeignet, und fortan freilich auch Einheit des Bewusstseins ist, so ist sie gar nicht zu verstehen. Indessen, mag es nun Kant so oder anders „gemeint“ haben, jedenfalls nur auf Grund einer solchen, sei es nun Auslegung oder Berichtigung würden wir seinen Idealismus als „kritischen“, als „transzendentalen“ und nicht psychologischen anerkennen können. Ein solcher Idealismus aber wäre dann nicht mehr „subjektiver“ Idealismus; er hätte eher Anspruch auf den Titel eines „objektiven“ Idealismus, da er vielmehr die subjektive Beziehung von der objektiven abhängig sein lässt als diese von jener. Besser jedoch wird man beide Bezeichnungen vermeiden, da eben die Entgegensetzung des subjektiven und objektiven Idealismus auf dem missverständlichen Dualismus zu beruhen scheint und ihn nahelegt, von dem wir durch die rein methodische Entgegensetzung der „Subjektivierung“ gegen die „Objektivierung“ nun befreit sind. | [214]
Neuntes Kapitel
Beantwortung von Einwänden §1. Haupteinwände gegen die Idee der rekonstruktiven Psychologie. Die im vorigen Kapitel entwickelte Idee der rekonstruktiven Psychologie ist wesentlich gleichsinnig bereits vor 25 Jahren in der Einleitung zur Psychologie nach kritischer Methode dargelegt worden. Sie ist gleichwohl für die Mehrzahl der Psychologen noch heute so neu und mit allen bisher gangbaren Begriffen in Widerspruch, dass sie schwerlich hoffen darf, durch eine einfache, geradlinige Darlegung, wie sie hier gegeben wurde, sofort überzeugend zu wirken. Man muss auf Einwendungen gerüstet sein und, wenn möglich, sie schon vorweg beantworten. Es sollen darum in diesem Kapitel die beachtenswertesten der Einwürfe zusammengestellt und geprüft werden, welche bisher laut geworden sind, oder von den allgemeinen Voraussetzungen aus, auf denen unsere Deduktion fußt, sich voraussehen lassen1. (A) Das letzte Unmittelbare und Ursprüngliche im Bewusstsein kann nicht das Subjektive sein; das wäre psychologischer Idealismus. Sollte es das absolut Konkrete, also schlechthin Undifferenzierte sein, so müsste es auch diesseits der Differenzierung in die beiden Grundbeziehungen der Erkenntnis: Objekts- und Subjektsbeziehung, liegen. Ein Subjektives besteht ja überhaupt nur im Gegensatz zu einem Objektiven, also nicht vor aller Differenzierung überhaupt. (B) Objektivierung soll Konstruktion, Subjektivierung Rekonstruktion sein. Aber Konstruktion ist jederzeit zugleich Rekonstruktion. Die Bestimmung des X zum A hebt doch das X nicht auf; eben das X wird bestimmt, das Undifferenzierte differenziert; was darin konkret enthalten, nur nicht deutlich herausgestellt war, wird herausgestellt und eben damit dem Bewusstsein erhalten; wieso bedarf es also dann noch erst der Rekonstruktion? | [215] (C) Wissenschaft geht nicht bloß auf Abstraktion aus; vielmehr braucht sie die Abstraktion zuletzt nur, um das Konkrete der Tatsachen zur Erkenntnis zu bringen. Sie entfaltet sich, etwa von der Logik, Mathematik und reinen Naturwissenschaft zur empirischen Physik, Chemie, Biologie usf., immer mehr ins Konkrete; Psychologie tut nur den 1 Großenteils sind diese Einwendungen aus Aufzeichnungen über unsere Marburger Seminarübungen (bes. im Wintersemester 1909/10) entnommen.
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letzten Schritt der Konkretisierung, den die Wissenschaft in gerader Fortsetzung ihrer von Anfang an eingeschlagenen Bahn zu tun übrig gelassen hat. Und natürlich kann auch sie gar nicht anders als in einem System von Abstraktionen das letzte Konkrete zu erfassen suchen; sie definiert daher auch immer nur allgemeine Grundbestimmungen des Psychischen; sie stellt oberste Begriffe, gleichsam Kategorien des Psychischen auf, wie Empfindung, Vorstellung usw. Und wenn in bestimmtem Sinne Subjekts- und Objektsbeziehung einander entgegengesetzt sind, so sind sie es, indem in der ersteren vom objektiven, in der letzteren vom subjektiven Zusammenhang eben abstrahiert wird. Abstrakt ist somit die eine Betrachtung so gut wie die andere. Das letzte, absolut Konkrete enthielte zu beiden die Grundlage; es wäre in seiner Totalität erst dargestellt durch eine letzte Synthese der objektiven und subjektiven Betrachtung, nicht im einseitigen Verfolg der einzigen Richtung der Subjektivierung. Durch die objektive Bestimmung wird das Subjektive nicht anders als negativ bestimmt, nämlich sofern sie es hinter sich lässt. Allenfalls kann man sagen, sie führe auf die Untersuchung auch der Subjektivität als ihre notwendig geforderte Ergänzung hin; aber sie ermöglicht nicht aus sich die positive Bestimmung des Subjektiven, da wir ja das Objektive nur erhielten durch den Ausschluss des Subjektiven. (D) Problem der Psychologie ist nicht die reine Bewusstheit. Diese ist im Grunde nur ein anderer Ausdruck jener objektiven Einheit, welche gerade die Grundlage der Gegenstandsbeziehung ist. Sie hat, als überindividuelle, gerade einen höchst objektiven, rein logischen Charakter; es ist nichts anderes als Kants „transzendentale“ oder „objektive Einheit der Apperzeption“. Das Problem der Psychologie ist vielmehr, gerade nach den Thesen meiner Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, das inhaltlich bestimmte, und zwar engst bestimmte, das auf den individuellen Organismus eingeschränkte Bewusstsein. Alle Inhaltsbestimmung aber liegt in der Richtung der Objektivierung. Also ist Psychologie notwendig Objektivierung, ebenso wie alle eigentliche Wissenschaft; nur bezeichnet | sie, den übrigen empirischen Wissenschaften gegenüber, noch einen Schritt weiter ins Konkrete hinein. Die Stufenfolge der Konkretisierungen steht unter der obersten Leitidee der Systemeinheit. Man erhält der Reihe nach etwa: Zahl- und Größensystem, Energiesystem, chemisches Verwandtschaftssystem, biologisches System; nur die letzte Stufe dieser Fortschreitung bezeichnet das System des psychischen Organismus, die Lebenseinheit des Individuums, sofern sie bewusst ist. Dieser neue, letzte Systembegriff setzt alle vorigen voraus, enthält aber noch etwas über sie alle hinaus: eben das Bewusstsein, nicht als abstrakte Einheit, sondern als die
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konkrete des jeweiligen, an den bestimmten körperlichen Organismus gebundenen, individuellen Erlebniszusammenhanges. So bleibt besonders das Nachbarschaftsverhältnis zwischen Physiologie und Psychologie gewahrt. Die unleugbar enge Beziehung zwischen beiden wird so und nur so verständlich. So wird aber die Subjektivierung, aus einem absoluten Gegensatz, zu einer bloßen Fortsetzung, einer bloßen besonderen, vielleicht letzten Spezifikation der Objektivierung. Bewusstsein freilich ist alles. Auch in den abstrakten Objektivierungen der Logik, Mathematik, Physik, Biologie liegt doch immer die Beziehung auf das Ich; aber es kann davon ganz abstrahiert werden, und es wird davon abstrahiert in der ganzen konkreten Arbeit der bezüglichen Forschung. Auch besagt das „Bewusstsein“ etwas anderes für jene als für die Psychologie; das logische Bewusstsein zum Beispiel ist vorzeitliches, das psychologische durchaus zeitbestimmtes Bewusstsein; es setzt die logische Konstruktion der Zeit selbst schlechthin voraus und erklärt unter ihrer Voraussetzung das sehr beschränkte Zeitbewusstsein des Individuums. So sind die schon konkreteren Gesetzlichkeiten der Physik, Chemie, Biologie für die Psychologie bereits gegebene Voraussetzungen; aber sie gehen sie allein an, sofern sie im jeweiligen individuellen Bewusstsein sich irgendwie ausdrücken, das heißt, als Grundlagen zu weitergehender Konkretisierung, nicht an sich, in ihrer Abstraktheit. – Auf diese Einwände einzugehen ist gerade deshalb geboten, weil sie nicht von einem fremden Standpunkt an unsere Thesen herantreten, sondern auf deren eigene Voraussetzungen eingehen und aus eben diesen Voraussetzungen beantwortet sein möchten. Unsere Antwort wird daher auch eben von den Voraussetzungen den Ausgang nehmen müssen, welche diesen Einwendungen mit unseren Aufstellungen gemeinsam sind. | [217] §2. Beantwortung des ersten Einwands. Gemeinsam ist den vorgeführten Einwendungen mit unserer Ansicht der Sache erstens die Voraussetzung einer höchsten abstrakten Einheit (Systemeinheit als Idee) auf der einen Seite, einer Entfaltung, immer unter der Leitung dieser letzten Idee, ins Konkretere durch reichere und reichere Bestimmung auf der andern, bis zum erreichbar Letzt-Konkreten: dem Unmittelbaren des Erlebnisses. Gemeinsam ist zweitens auch die Voraussetzung, dass dies alles unter den letzten Oberbegriff „Bewusstsein“ falle. Als etwas Neues kann also auch auf jener letzten Stufe nicht das Bewusstsein überhaupt hinzutreten, sondern neu ist nur die Konkretisierung des Bewusstseins, in der allerdings der Vollgehalt und damit das eigentliche, aktuelle Leben des Bewusstseins erst erreicht und, soweit dies überhaupt möglich, wissenschaftlich dargestellt sein würde. Von diesen beiden letzten Voraussetzungen aus lassen sich aber, wie
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gezeigt werden soll, die vorstehenden Einwendungen – soweit es wirklich solche sind, das heißt, insofern dadurch unsere Thesen wirklich verneint würden – vollständig in nichts auflösen. (A) Das letzte zu Erkennende mag allerdings, von einer Seite angesehen, sich darstellen als das absolut Indifferente, das letzte X der Gleichung der Erkenntnis diesseits aller Bestimmung. Aber das wäre der Strenge nach ein absolut „Nichtseiendes“, die gänzliche Verneinung, Aufhebung ebenso wohl des Subjektiven wie des Objektiven, da doch jenes wie dieses ein Erkanntes, oder doch Erkennbares sein soll; ein Begriff, der in irgendeiner letzten metaphysischen Erwägung – doch immer nur als letzter Ausdruck der Aufgabe der Erkenntnis, nämlich der Forderung der Bestimmung überhaupt – seine Bedeutung haben mag, aber jedenfalls nicht das Ziel der Psychologie bezeichnen könnte. Ihr Ziel ist im Gegenteil, gerade den Vollgehalt des Erlebten genau so weit zu bestimmen, wissenschaftlich darzustellen, als er bestimmbar, wissenschaftlich darstellbar ist. Einige Wendungen meiner Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode waren in diesem Punkte (wie schon oben bemerkt wurde) nicht genau genug und konnten zu Missverständnissen allenfalls Anlass geben; sie sind in gegenwärtiger Darstellung durchweg berichtigt worden. Zum Erlebnisgehalt gehört in der Tat alles noch so objektiv zu Bestimmende, sofern es doch alles „Bewusstsein“ ist. Gegen den Verdacht des psychologischen Idealismus aber ist unsere [218] Ansicht dadurch hinreichend geschützt, dass sie die subjektive Be|ziehung durchaus als sekundär gegenüber der Objektsbeziehung, von ihr logisch abhängig, nicht ihr logisch vorhergehend betrachtet. Allerdings von der Seite der Subjektivität gesehen erscheint das unmittelbar Erlebte als Grundlage, worin die Beziehungen alle, aus denen die Gegenstandserkenntnis im Denken sich aufbaut, von Haus aus enthalten waren, und woraus sie durch die objektivierende Erkenntnis nur herausgelöst wurden. Aber logisch ist vielmehr das Subjektive zu erklären durch das Objektive: als seine Gegenseite, seine Innenwendung, gleichsam Zurückbiegung, „Reflexion“. § 3. Beantwortung des zweiten Einwands. Die Konstruktion ist bedingend für die Rekonstruktion; aber sie enthält sie keineswegs. Sie gibt höchstens die Regel für sie, aber sie gibt nicht die Rekonstruktion selbst. Objektive Bestimmung ist sie ja gerade, sofern sie unterschiedslos für jedes Subjekt und jeden möglichen subjektiven Standort „Seiendes“ herausstellt, also sofern sie allgemein und abstrakt ist im Verhältnis zum jedesmaligen, einzelnen und konkreten Erlebnis des Subjekts. Die Zurückbeziehung auf das letztere bleibt immer eine eigene Aufgabe. Aus einer Vielzahl von Beobachtungen, von ebenso vielen verschiedenen Standorten aus, sei der Verlauf eines bestimmten objektiven Sachverhalts, etwa der Drehung der Erde um die Sonne bei gleichzeitiger Achsendrehung der Erde, festgestellt. Nun ist es
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nicht noch eine fernere objektive Tatsache, dass der so festgestellte objektive Verhalt sich einem so und so postierten Beobachter so und so darstellen muss, einem anders postierten anders, je nach der Lage des Standorts zum Objekt usw. Wohl aber ist diese Vielzahl besonderer subjektiver Ansichten aus dem einen, identisch bestimmten Vorgang, unter Beachtung der sonstigen, objektiv feststellbaren Umstände, die auf die Gestaltung dieser Ansichten Einfluss haben können, rückwärts herleitbar, „rekonstruierbar“, nachdem erst vorwärts, für die Konstruktion des objektiven Vorgangs selbst, eben die subjektiven Ansichten der vielen Beobachtenden das Fundament gebildet hatten, von deren besonderer Bedingtheit dabei aber mehr und mehr in Abzug kam. So wird klar, inwiefern jeder solche objektive Ansatz eine „Regel“ bedeutet, nach der nicht bloß die zufällige Reihe subjektiver Ansichten, aus denen er gerade gewonnen wurde, sondern im Idealfall die Allheit der möglichen Ansichten der Sache sich bestimmen lassen müsste. Also kann man nicht sagen, die Konstruktion sei zugleich die Rekonstruktion, | sondern nur (wie wir gesagt haben): sie enthalte [219] das Fundament für sie, sie ermögliche sie, und zwar in unbeschränkter Erweiterung. Dies Beispiel repräsentiert aber den allgemeinen Verhalt der Sache nur sehr unvollständig, einseitig und schematisch, weil eben bloß unter dem Gesichtspunkte des Allgemeinen (der „Regel“) und des Einzelnen (der Darstellung für das jeweilige Subjekt). Weit ersichtlicher wird die selbständige Bedeutung der Rekonstruktion des Erlebten an dem anderen, im übrigen noch unter (C) besonders zu betrachtenden Gegensatze des Abstrakten und Konkreten. Die individuelle Ansicht ist „meine“, oder sie ist individuell, nicht bloß, sofern sie einzeln und nicht allgemein ist, sondern sofern sie in einen ganz bestimmten Zusammenhang sich einfügt, den Zusammenhang eben meines Erlebens. Diesen Zusammenhang, nicht bloß die jedesmalige Einzelansicht dieses einzelnen objektiven Vorgangs zu rekonstruieren ist die wesentliche Aufgabe. Nun ist gewiss jedes Einzelmoment irgend eines individuellen Erlebniszusammenhanges nur Fall eines Allgemeinen, und als solcher aus diesem Allgemeinen (dessen Bestimmung immer in der Richtung der Objektivierung liegt) zu erkennen. Aber die eigentliche Durchführung der Rekonstruktion liegt erst in der konkreten Vereinigung aller solcher Einzelmomente, durch die erst der komplexe Gehalt des bestimmten Erlebnisses des einzelnen Erlebenden, soweit und in der Art wie allein dies möglich ist, für die Betrachtung wiederhergestellt oder wenigstens an sich wiederherstellbar wird. Die allgemeine Psychologie enthält aber freilich nicht diese geforderte letzte Durchführung, sondern nur die Übersicht der vorliegenden Materialien und der möglichen Verbindungsweisen überhaupt, und damit allenfalls die allgemeine Regel und gleichsam den Grundplan für die verlangte letzte Konkretisierung. Daher mag sie immerhin noch als bloßes in der Umkehrung kongruentes Gegenbild der Objektivierung
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erscheinen. Aber sie beansprucht für das Ganze der Psychologie auch nur die Rolle der methodologischen Grundlage, der Bereitstellung der Werkzeugs, gleichsam eines psychologischen Organon. Möchte es also für sie sogar richtig sein, dass sie gegenüber dem ganzen System der Objektivierungen nichts in materialer Hinsicht gänzlich Neues erbringe, so gilt das gleiche darum nicht für die rekonstruktive Psychologie als Ganzes. Übrigens auch in ihrer notwendig abstrakten Gestalt ist selbst die allgemeine Psychologie doch neu [220] genug wenigstens nach dem Gesichtspunkte, nach der Fragerich|tung und daher nach der Art der Prägung und Verknüpfung der Fundamentalbegriffe. §4. Auflösung des dritten Einwands. (C) Wohl am tiefsten in den Kern der Sache dringt der dritte Einwand. Doch ist hier vor allem streng auseinanderzuhalten: diejenige Konkretisierung, welche noch innerhalb der objektivierenden Richtung der Erkenntnis verbleibt, und die davon ganz verschiedene, in welcher erst der Überschritt zur Subjektivierung vollzogen wird: die Wiedereinstellung in die Totalität des Erlebniszusammenhanges. Jene bildet für diese, wie fort und fort betont wurde, allerdings die Voraussetzung, aber sie enthält sie nicht. Die Konkretisierung auf der objektiven Seite besteht sozusagen nur in der Addition weiterer und weiterer, je für sich abstrakt begrifflicher Momente, und die wesentliche Leistung der objektivierenden Erkenntnis jeder Art und Stufe besteht nur in der Herausarbeitung immer neuer solcher abstrakter Momente. Nicht das Konkrete als Konkretes ist ihr Interesse, obgleich sie mit ihrer Abstraktionsarbeit wirklich tiefer und tiefer ins Konkrete hineindringt und so es ermöglicht, dieses immer vollständiger zur Erkenntnis zu bringen. Der Psychologie dagegen kommt es auf die Konkretisierung selbst und als solche an. Zu ihr braucht sie alle Stufen der Abstraktion, welche die objektivierende Erkenntnis durchlaufen hat. Wurde gesagt: Bewusstsein sei alles, das Abstrakte wie das Konkrete, so heißt das eben, dass wirklich aus der Totalität des Erlebten nichts von allem herausfällt. So mag man den Gang der aufs Objektive gerichteten Erkenntnis darstellen als Gang vom Konkreten zum Abstrakten oder vom Abstrakten zum Konkreten; beides hat guten Sinn; in der Psychologie aber ist in jedem Fall auch der Rückgang zu beschreiben. Fasst man die objektivierende Erkenntnis nach Seiten der immer höheren Verallgemeinerung (Induktion), also Erhebung zum Abstrakteren ins Auge (und das ist jedenfalls die nächstliegende Ansicht der Sache, da doch die Systemeinheit der objektiven Erkenntnis nicht gegeben, sondern gerade ihre vornehmste Aufgabe und zwar ewige Aufgabe ist), so muss man von den höheren Stufen (den übergeordneten Gesetzlichkeiten) durch alle niederen (z.B. von den logischen, mathematischen, physikalischen, chemischen zu den biologischen und andererseits den geisteswissenschaftlichen Gesetzen) herabsteigen, um beim konkret Erlebten endlich anzulangen. Man muss andererseits, nämlich wenn man sich das System vollendet, das „an [221] sich“ | Erste auch in der Betrachtung an die Spitze gestellt und von ihm aus
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den Gang der Deduktion bis zum letzterreichbaren (objektiv) Konkreten, Einzelnen der Tatsache beschrieben denkt, auch wieder umgekehrt, um den Vollgehalt des Erlebten zum reflektierten Bewusstsein zu bringen, in dem Konkreteren immer auch das Allgemeinere bis zum höchst Allgemeinen zurück als Grundlage festhalten. „Bewusstsein“ ist eben nicht bloß das Individuelle. Schon der Zusammenhang der individuellen Erlebnisse selbst besteht ja nicht in einer bloßen Aufreihung und Summierung absoluter Punkte des Erlebens, sondern fordert ein übergreifendes Bewusstsein (Erinnerung), durch welches das Ich-Individuum (Individual-Ich) erst aufgebaut wird. Aber das Bewusstsein eines Individuums bleibt auch gegen das der anderen nicht absolut zu- und abgeschlossen; es gibt doch eine Gemeinschaft von Bewusstsein und Bewusstsein, durch welche wiederum ein über beide übergreifendes, ein Gemeinbewusstsein sich herstellt2. So prägt – um das hier nächstliegende Beispiel zu wählen – die Sprache, die doch gewiss zu den vornehmsten Problemen der Psychologie gehört, stets Gemeinansichten der Dinge aus; individuelle nur durch allgemeine. Vom Standpunkt objektiver Erkenntnis sind das nichts als „unvollkommene Objektivierungen“; für den Gesichtspunkt der Psychologie aber repräsentieren sie eigene und sehr gewichtige Stufen subjektiven Erlebens. Auch der bisherigen Psychologie hat sich das ja nicht ganz verbergen können. Sie ist zunächst einmal „allgemeine“; dieser gegenüber nimmt die Völkerpsychologie schon einen spezielleren Standpunkt ein; weiter folgt etwa die Psychologie bestimmter Volksklassen, sozialer Ordnungen, der Geschlechter, der Lebensalter usf., und so kommt man in fortschreitender Differenzierung erst ganz zuletzt zur Psychologie des Individuums, die überdies nur vom Generellen her, differenzierend, daher als „differenzielle Psychologie“ ihrem Ziele sich Schritt um Schritt zu nähern versuchen kann. Andererseits stellt auch die höchst objektive Ansicht, die der Wissenschaft, für den Gesichtspunkt der Psychologie auch eben nur eine Ansicht eines bestimmt orientierten, auf bestimmter Stufe stehenden, eben des wissenschaftlichen Bewusstseins dar. Sie darf und muss um so mehr so angesehen werden, als sie ja niemals auf absolute Objektivität Anspruch erheben kann, sondern allenfalls nur die höchste bis dahin erreichte Stufe der Objektivierung vertritt. § 5. Grund des Einwands. Letzte Einheit des Objektiven und | Subjektiven. [222] Bei dem allen bleibt zwar bestehen, was früher gesagt wurde: dass im letzten, idealen Ziel die objektive und die subjektive Ansicht sich decken würden. Aber wir sind eben nicht am Ziel, sondern stets auf dem Wege; also bleibt die subjektive Richtung der Erkenntnis von der objektiven stets verschieden.
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Vgl. oben Kap. V, §16.
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Im Ideal der Subjektivierung würden eben auch die vielen möglichen Subjektsstandpunkte und für solche sich darstellenden subjektiven Ansichten nicht gegeneinander abgeschlossen bleiben, sondern sie würden alle in einem letzten, übergreifenden Bewusstsein in ähnlicher Weise sich vereinigen müssen, wie im jeweiligen, noch so begrenzten Bewusstsein des Individuums viele, nur durch Abstraktion isolierbare Einzelmomente (die doch eben immer Bewusstseinsmomente bleiben) vereinigt sind. So in der Tat dachten etwa Geulincx, Malebranche, Spinoza sich ein jedes individuelle Bewusstsein als bloße Modifikation unter dem Attribute des „Denkens“ der göttlichen Substanz mitbegriffen3, und sahen daher in diesem die letzte, konkrete Gestalt des „Denkens“ überhaupt, während jeder individuell beschränkte, oder, wenn schon generelle, doch nicht allbefassende, nicht aus dem höchsten, sondern noch aus irgendeinem beschränkteren Gesichtspunkte orientierte Bewusstseinszusammenhang jenem gegenüber eine bloße Abstraktion, also sicher nicht das letzte Subjektive bedeutete. Und im letzten Grunde nicht anders dachte sich wohl Leibniz die „Monade der Monaden“4, da die intensive Einheit der Monade ja Bewusstseinseinheit, und gerade in ihrer höchsten Form die schlechthin aktuelle und nicht mehr, wie in ihren endlichen Beschränkungen, eine in vieler Hinsicht auf niederer Stufe der Aktualität verbleibende Einheit des Bewusstseins bedeuten sollte. Diese ideal letzte Vereinigung entspricht in der Tat als genaues Gegenstück der höchsten Abstraktion des schlechthin „Seienden“, Absoluten, und sie verbleibt, so als bloßer Idealbegriff, in Wahrheit ganz auf dieser höchsten Stufe der Abstraktion; sie möchte nur (aber eben vergeblich) das allbefassende Bewusstsein zugleich in höchster Erfüllung, sie möchte das Leben des AllEinen in seiner absoluten, unzerstückten Totalität begreifen. Dass man mit diesem Versuch scheitert und wirklich in der Leere der Abstraktion stecken bleibt, konnte einer schärfer eindringenden Kritik sich nicht lange verbergen. Aber doch behält diese, für unsere immer vom Endlichen zum Endlichen [223] fortschreitende Erkenntnis freilich unerfüllbare Idee ihren vollen Wert | als Bezeichnung der Richtung der subjektivierenden Erkenntnis gleichsam durch ihren unendlichfernen Punkt. Aber selbst wenn man für einen Augenblick diese Idealansicht, wäre es auch nur im Sinne einer nützlichen Fiktion, gelten lässt, so ist doch immer und wird so erst recht klar, dass für jede erreichbare Stufe der Erkenntnis die subjektivierende Erkenntnisrichtung der objektivierenden entgegengesetzt bleibt. Das Ziel der ersteren wäre ein letzter abstrakter Satz, wie Fichtes A =
3 Vgl. hierzu die Darstellung bei Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, I, S. 532–543, 553–585, und II, S. 73– 125. – Anm. d. Hrsg. 4 Vgl. Monadologie, 47 – Anm. d. Hrsg.
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A5, der allerdings schlechthin allgemein auf alles sich erstrecken, auch es dem Keime, der Potenz nach einschließen soll (das Allgemeinste ist ja zugleich das Potenzreichste), aber von der Besonderheit und Unterschiedlichkeit des unendlichen unter ihm enthaltenen Mannigfaltigen in seinem Begriff selbst in der Tat nichts enthält. Denn der Aufstieg zu den höchsten, umfassendsten Begriffen bedeutet unzweifelhaft zugleich ihre äußerste Entleerung von konkretem Gehalt. Andererseits ist das Konkreteste, was in der objektivierenden Richtung der Erkenntnis erreicht werden mag – der bestimmte einzelne, jetzt und hier sich ereignende Vorgang – unter dem Gesichtspunkte der Subjektivierung gerade das Abstrakteste. Denn ihm entspräche offenbar das absolut isolierte Augenblickserlebnis oder Einzelmoment eines solches (Empfindung), welches in dieser gedachten Sonderung gewiss nicht den erfüllten Begriff des aktuellen Erlebnisses, sondern allenfalls nur die leere Potentialität desselben darstellt. Die Vorstellung, der Begriff, die Idee bezeichnen für den Gesichtspunkt der Subjektivierung ebenso viele höhere Stufen der Aktualisierung des in der Empfindung nur potentiell Gegebenen, obwohl immer noch hohe Grade der Abstraktheit und also Potentialität; z.B. Empfindung ist auf die Zeit, auf den Raum zwar der Forderung und der Möglichkeit nach bezogen, aber erst in der Zeit- und Raumvorstellung realisiert sich der Bezug; die Empfindung repräsentiert ebenso zwar das der Zahl nach Eine in der Potenz, aber erst das Zahldenken realisiert wiederum diese bloße Möglichkeit usf. Jene Kategorien: Empfindung, Vorstellung, Begriff, Idee, vertreten also in der Psychologie in der Tat immer gehaltreichere, intensiv höhere Stufen der Vereinigung oder Verwebung, „Komplexion“; auf der ideell höchsten Stufe wäre nichts mehr vom andern gesondert, alles mit allem kompliziert. Aber diese ideell höchste Stufe bleibt für unsere Erkenntnis transzendent; in empirischer Psychologie ist stets zu scheiden nach Unter- und Über|ordnung der Standpunkte der Betrachtung und [224] demgemäß engerem oder weiterem Umkreis derselben, nach zeitlicher und örtlicher Auseinanderlegung, bis herunter zum engst begrenzten Einzelakt und wiederum dessen nur noch als Potenz fassbaren, in ihrer Isolierung des Aktcharakters gänzlich entbehrenden Grundmomenten wie etwa dem rein objektivierbaren Empfindungsinhalt, andererseits den Lust- und Unlust- sowie Strebensmomenten an diesem, und so fort; andererseits ihren möglichen, immer dichteren Verwebungen; in welchen allen die durch Abstraktion scheidbaren Momente in der Wirklichkeit des Bewusstseinslebens durchaus ineinander, nicht äußerlich nebeneinander sind.
5 Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), S. 12–15. – Anm. d. Hrsg.
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§6. Auflösung des vierten Einwands. Hierdurch ist, mit dem dritten, im Grunde auch der vierte Einwand der Sache nach erledigt. Doch lohnt es wohl, noch besonders auf ihn einzugehen. (D) Es ist richtig unter dem objektiven, aber eben nicht unter dem subjektiven Aspekt, dass die übergreifende Einheit des Bewusstseins bloß logische, also abstrakte, nicht konkrete Einheit sei, dass mithin die Aufgabe der Psychologie bloß im Individuellen liege. In objektiver Richtung würde jene übergreifende Einheit etwa zu denken sein in Gestalt einer abstrakten Weltformel, aus der alles Einzelgeschehen bis zum letzten zurück ableitbar, nicht aber in ihr selbst unmittelbar ausgedrückt wäre; in subjektiver Richtung dagegen als universelles Erleben. Laplace brauchte für seine universelle Formel doch immerhin einen universellen „Geist“, obwohl einen höchst abstrakten, lediglich rechnenden6. Platos Weltseele rechnet auch und treibt Geometrie, aber konkret wirkend und schaffend, nicht „diskursiv“, mühselig von Posten zu Posten kalkulierend wie ein Universalweltbuchführer. Sie sollte freilich das Rechnen überhaupt nicht nötig haben; man braucht nicht erst nachzurechnen und in künstlichem Nachdenken sich gleichsam wiederzuerzählen, was man im unmittelbaren Erlebnis schlechthin ursprünglich hatte, indem man es zeugte. Die Rechnung, und so alle wissenschaftliche Kalkulation und Konstruktion, dient nur uns, unserem „diskursiven“ Verstand, die Beziehungen künstlich für die Theorie erst zu knüpfen, die wir eben nicht im unmittelbaren Erlebnis schon haben, oder allenfalls nur der Potenz nach, aber nicht im aktuellen Bewusstsein haben. Im Begriff des „Lebens“ denkt man aber alle die Beziehungen, welche die Wissenschaft in abstrakter Form mühsam herausarbeitet, ursprünglich [225] aktuell wirkend und bewusst. Und eben|so denkt man sich in jenem Ideal ein universelles, schlechthin konkretes „Bewusstsein“. Das mag sonst die denkbar müßigste Fiktion sein, so kann sie uns, wie gesagt, doch dienen, das Problem und die Methode, die Wegrichtung der Psychologie zu versinnlichen und zu verlebendigen. Diese „Fiktion“ hat ihre berechtigte Stelle, nicht in der Psychologie als Psychologie, aber wohl in der Methodologie der Psychologie. Was der Einwand positiv Richtiges im Auge hat, bleibt hierbei vollkommen bestehen; nämlich dass die objektivierende Erkenntnis, je mehr sie ins Konkrete dringt, um so näher dem Probleme der Psychologie rückt; dass sie als Biologie, als Physiologie, insbesondere Physiologie des Zentralnervensystems, in ihre nächste Nachbarschaft zu stehen kommt. Aber es ist dennoch kein gleichartiger Fortgang, der von der Physiologie zur Psychologie hinüberführt. Nicht durch eine wiederum höhere Stufe der Konkretisierung nur 6 „Laplaces Geist“ (auch „Dämon“) ist laut dem Mathematiker Pierre-Simon Laplace (1749–1827) die Annahme eines universellen Verstandes, der eine Weltformel aufzustellen vermag, nach der „nichts ungewiss“ ist. – Anm. d. Hrsg.
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wird aus Objektivem Subjektives, aus Nervenprozess Empfindung, sondern es tritt hier, wie man doch auch immer mehr oder weniger empfunden und anerkannt hat, eine radikale Wendung der Problemrichtung ein. Auch nicht von einem bloßen Übergang in eine neue „Dimension“ der Betrachtung lässt sich hier zutreffend reden. Das wäre noch immer bloße Erweiterung in einem übrigens doch gleichartigen Fortgange konstruktiver Entwicklung. Nicht bloß aus dem physiologischen Vorgang ist nimmermehr Empfindung herauszuklauben, sondern auch nicht als ein bloßer Zusatz, ein bloßes Phänomen mehr zu den vorigen, tritt sie hinzu, und etwa zugleich mit jenem physischen Vorgang in innige Verbindung. Sondern indem man sich besinnt, dass der physiologische Vorgang nur das letzte Glied in der langen Kette der Abstraktionen war, die, vom unmittelbaren Erlebnis (dessen Urbestandteil ja die Empfindung darstellen soll) ausgehend, das Erlebte zur objektiven, d.h. gesetzlich bestimmten Gestalt dieses und dieses „äußeren“, im Raume sich abspielenden Vorganges herauszuarbeiten hatten, hat man nun die der ganzen Richtung nach davon verschiedene Frage zu erheben: Was ist oder vielmehr war nun, gegenüber diesem allem, was in objektivierender Richtung an diesem subjektiven Erlebnis sich zur Erkenntnis bringen ließ, und auf Grund aller dieser objektiven Feststellungen an ihm, es selbst, das Erlebnis? Und man gelangt zu diesem nicht etwa durch irgendeine gleichartige Fortführung der objektivierenden Erkenntnis, nicht durch Hinzufügung wiederum neuer Glieder zu jener ganzen Kette von Abstraktionen; | weitere [226] Objektivierung, über den physiologischen Vorgang hinaus, ist in der Tat weder gefordert noch möglich; sondern nur, indem man alles, was durch die objektivierende Erkenntnis von Stufe zu Stufe stückweis herausgebracht wurde, nunmehr zusammennimmt; indem man die einzeln herausgelösten und gesondert verfolgten, also abstrakten Beziehungen selbst wieder in den durchgängigen, konkreten Wechselbezug zurückbringt, aus dem sie gelöst wurden; indem man die Einzelfäden des Gewebes zum Ganzen desselben wiederum verschlungen denkt: so und nur so gelangt man zum Unmittelbaren des Erlebnisses; man gelangt zu ihm zurück, nachdem man ursprünglich von ihm ausgegangen war, aber durch alle die abstrakten Sonderbestimmungen, die zum Behufe der Objektivierung des Erlebten notwendig waren, sich von ihm zunächst nur weiter und weiter entfernt hatte. §7. Nochmals die ideale Einheit des Objektiven und Subjektiven. An sich schließt gewiss das eine, objektive „Sein“ die unendlich vielen subjektiven Darstellungen ein; die Unendlichkeit der möglichen subjektiven Ansichten wäre also im Ideal freilich mitbegriffen in der vollendeten Konstruktion der Objektivität. Auch jeder Zusammenhang eines individuellen Erlebnisverlaufs, auch der Zusammenhang wiederum der Erlebnisse vieler Einzelsubjekte in einem übergreifenden Bewusstsein, ist ja sicher zugleich irgendwie objektiv begründet zu denken; jedes Phänomen also resultierend
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aus dem Noumenon des objektiven Verhalts. Aber eben nur im Idealfall würde beides so koinzidieren, dass überhaupt die Scheidung wegfiele; dass das ideale Universum des „Seienden“ zugleich das Universum des idealen „Bewusstseins“ darstellte. Dagegen im Schrittgange der Erfahrung bleibt stets zu unterscheiden, wie für den jeweiligen subjektiven Standpunkt das Objekt sich darstellt, und wie es, in stets nur hypothetischer Konstruktion, als an sich Gegenständliches zu denken ist. Dabei lässt sich zwar immer auch die wissenschaftliche Ansicht, in subjektivierender Wendung, also eben psychologisch, als „Ansicht“ des so und so gerichteten, eben wissenschaftlichen Bewusstseins betrachten. Für diesen Standpunkt wird die „Episteme“ wieder zur „Doxa“; aber die Frage der Wissenschaft geht als solche auf den objektiven Bestand; sie strebt immer wieder die Episteme über die bloße Doxa, das Sein über das Erscheinen, das Objektive über das bloß Subjektive zu erheben; und bleibt auch das reine, scheinlose Sein [227] ein bloßes Ideal, als Ideal bezeichnet es doch klar und unzweideutig | die Richtung, welche die objektivierende Erkenntnis nicht aus Willkür, sondern aus strikter Notwendigkeit immer innezuhalten hat. Und wiederum, eben weil die reine Objektivität ein schließlich unerfüllbares Ideal, weil in wirklicher Erkenntnis erreichbar nur der Fortgang von Stufe zu Stufe der Objektivierung ist, so bleibt auch immer die Gegenrichtung der Subjektivierung bestehen. Es bleiben also immer der Fragerichtung nach verschieden die Aussageweisen: „Es ist so“, und: „Mir stellt sich’s so vor“, oder: „Mir ist so und so dabei zumute“, „Ich erlebe es so“; z.B. Erfahrung strebt zur Einheit, und: „Ich, der Erfahrende, strebe zur Einheit meiner (objektivierenden) Erkenntnis“: dies sind und bleiben immer grundverschiedene Aussageweisen, Ausdrücke verschiedener, ja entgegengesetzter Vergleichungsrichtungen; wie unsere Benennungen: Objektivierung, Subjektivierung, sie bezeichnen. Lässt gewiss jede Aussage: „Es ist so“, sich auch subjektiv wenden: Dem so und so postierten und disponierten Subjekt stellt es sich so dar, so bleiben eben doch beide Aussagen dem ganzen Sinn, der ganzen Intention, d.i. der Beziehungsrichtung nach verschieden. Diese Zweiseitigkeit der Erkenntnis kann nicht wohl weggeredet oder weggedeutet werden. Der letztbestimmende Gesichtspunkt aber bleibt immer, dort die Einheit des Gesetzes, hier die Einheit des Erlebens, welches beides zwar im letzten Ideal, nicht aber auch im Schrittgange der Erfahrung zur Deckung kommt. Auch da korrespondieren sich beide, aber ihre Korrespondenz bedeutet zugleich ihre diametrale Gegenstellung gegeneinander. Ganz gewiss ist somit die Subjektivität nicht eine bloße Modifikation oder Weiterführung der Objektivität. Viel eher kann der umgekehrte Schein entstehen; die logische Einheitsbeziehung kann scheinen in der Einheit zumal eines universellen Lebensbezugs als bloßer Bestandteil eingeschlossen zu liegen; der universelle Geist brauchte freilich die logische
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Formel nicht, aber er könnte sie aufstellen, sobald er wollte. Allein dies Enthaltensein läge eben nur dann vor, wenn einerseits der Erlebnisgehalt in absoluter Konkretheit, andererseits das logische, und so weiter das mathematische, das Naturgesetz, das ethische, das ästhetische, in absoluter, abschließender Gestalt vorläge. Das empirische Gesetz, ja auch jede besondere Formulierung selbst der logischen Grundgesetze, ist indessen stets nur ein Versuch, stellt also die Objektivierung allemal nur für die gerade erreichte Stufe der Betrachtung dar, ebenso wie andererseits die Subjektivierung auf keinem Punkte voll|endet sein kann. So lange aber [228] gibt es auch immer beide Richtungen des Erkennens und zergeht die objektive Betrachtung so wenig in die subjektive, dass vielmehr diese nur durch jene möglich, also, wissenschaftlich angesehen, die objektive die erste ist. §8. Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit des Bewusstseins. Noch eine Einzelfrage, die im vierten Einwand mitberührt wurde, sei, wenn auch etwas vorgreifend, schon hier in aller Kürze beantwortet. Das logische Bewusstsein, sagte der Einwand, sei überzeitlich, das psychologische durchaus zeitbestimmt, wie der physiologische Vorgang, und in notwendiger Beziehung auf diesen. Für die Psychologie sei also die objektive Zeit, und so wohl folgerecht auch die objektive Verursachung, und jeder objektive Gesetzesbezug überhaupt, schon vorauszusetzen. – Aber im ganzen und letzten Zusammenhange der psychologischen Erwägung ist die Zeit nicht von Anfang an zugrunde zu legen, sondern, als Zeitbewusstsein, an bestimmter Stelle erst einzuführen. Die Subjektivität überhaupt, die doch die Frage der Psychologie jedenfalls ist, umfasst ohne Zweifel das überzeitliche Bewusstsein eben so wesentlich wie das zeitbestimmte; so das logische, das ethische Bewusstsein; ja das Bewusstsein von der Zeit selbst muss doch seinen Standpunkt über der Zeit nehmen; ich kann ein Nichtjetzt, also überhaupt eine Folge von Zeitmomenten, nur denken, indem ich in diesem Denken selbst nicht an das Jetzt gebunden bin oder bleibe, sondern das zeitlich Nichtgegenwärtige vor meinem Bewusstsein gegenwärtig habe oder vergegenwärtige. Jener Einwand würde in der Konsequenz nur präsentatives, nicht repräsentatives Bewusstsein in der Psychologie gelten lassen dürfen; das aber würde sich in der Durchführung sofort unmöglich zeigen, da (wie früher schon bemerkt wurde) die Präsentation selbst anders als durch Repräsentation nicht zum Bewusstsein gebracht werden kann, und überhaupt die scheinbar feste Grenze zwischen beiden sich wirklich fortwährend verschiebt. Dazu kommt die fernere Erwägung, dass Bewusstsein nicht bloß Individualbewusstsein ist; reicht es aber hinüber sogar von Individuum zu Individuum, so doch gewiss auch von Moment zu Moment der Zeit. Es wird demnach das zeitbestimmte Bewusstsein wohl überhaupt nur vom zeitlosen aus psychologisch zur Definition gebracht werden können.
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Neuntes Kapitel
Es wurde früher gesagt: Psychologie sei nicht bloß empirische Wissen[229] schaft, sondern die Wissenschaft des Empirischen. Jene An|sicht macht
sie zur bloßen empirischen Wissenschaft, in einer Reihe mit den Naturwissenschaften. Als Wissenschaft des Empirischen gerade schließt sie das Überempirische nicht von sich aus, denn es liegt vielmehr von Haus aus als Grundlage im Bewusstsein des Empirischen selbst eingeschlossen. Das wird besonders klar, wenn man die Psychologie nicht, in alter, nur allzu tief eingewurzelter Einseitigkeit, immer allein mit der Naturwissenschaft (die es als solche freilich nur mit zeitbestimmtem Sein zu tun hat), sondern ganz so direkt, wenn nicht fundamentaler noch, mit den Geisteswissenschaften in Beziehung setzt, welche ohne die Hinzunahme des Sollens zum Sein überhaupt nicht bestehen könnten. Dass in jeder Aussage des Sollens der überzeitliche Bezug liegt, wurde in anderem Zusammenhange schon ausgeführt und sollte ohnedies klar sein; wie denn im Besonderen namentlich Historie, selbst ganz roh als Vergegenwärtigung vergangenen Geschehens verstanden, des überzeitlichen Bezugs nicht entbehren kann. So scheint unsere Auffassung von der Aufgabe der Psychologie auch in jeder Sonderrichtung sich zu bewähren – was erschöpfend freilich nur die Durchführung selbst zeigen kann. Um zu dieser den Übergang machen zu dürfen, fehlt nur noch eines: die Feststellung der natürlichen Disposition der psychologischen Untersuchung; zu welcher Aufgabe wir nun schreiten.
Zehntes Kapitel
Die Disposition der Psychologie § 1. Die Aufgabe der Disposition der Psychologie. Es ist nichts weniger als selbstverständlich, dass man sich die Aufgabe einer erschöpfenden Disposition des Gehaltes des im Bewusstsein Erlebbaren überhaupt stellen kann. Wäre die Psychologie lediglich darauf angewiesen, die Auftritte des Bewusstseins einzeln und dann auch gruppenweise zu beobachten, das Beobachtete zu vergleichen, Ähnliches zusammen-, Unähnliches auseinanderzustellen, so könnte daraus nur durch glücklichen Zufall etwas wie eine Systemeinheit hervorgehen; jeder Versuch einer Disposition, die etwas mehr bedeutete als eine bloße Übersicht über die bis dahin bearbeiteten Gebiete, müsste als ein unberechtigter | Vorgriff, ja als offenbare Voreingenommenheit erscheinen. [230] Auf der anderen Seite ist es beinahe trivial, zu erinnern, dass man überhaupt nichts erforschen kann anders als unter dem Gesichtspunkte einer bestimmten Fragestellung, die stets einen gewissen, meist aber sehr beträchtlichen Umfang positiver Voraussetzungen über das zu erforschende Objekt schon einschließt. Die Vorwegnahme scheint also in gewisser Weise unvermeidlich zu sein. Indes wissen wir ja nun, dass es sich um ein unmittelbares Erfahren bei der Psychologie überhaupt nicht handeln kann; dass das Problem des Psychischen als des Subjektiven überhaupt erst auftritt, nachdem die weitverzweigte Arbeit der objektiven Erkenntnis bereits lange im Gang ist und zu sicheren, vielumfassenden Ergebnissen und mindestens zu dem Wagnis eines Systems – mag es noch so sehr beim Wagnis geblieben sein – schon geführt hat. Wirklich geht alle primitive psychologische Klassifikation von objektiven Scheidungen unbefangen aus und kommt über solche nirgends hinaus. Aber auch noch die psychologischen Klassifikationen höher entwickelter Stufen lassen die objektive Herkunft nirgends verkennen. Besonders gerade die letzten Scheidungen (etwa in theoretisches, poietisches und praktisches Bewusstsein, nach Aristoteles1) wiederholen offenbar nur, in der Sprache der Subjektivierung, die sichtlichsten Scheidungen, die in den weiten Bereichen der Objektgestaltung (als die der „Welten“ der Wissenschaft, des technischen und künstlerischen Schaffens und der Gemeinschaftsorganisation) offen zutage liegen. In diesen, also in den Kulturschöpfungen jeder Richtung und Stufe, liegt, nach Platos Gleichnis, in
1
Nach Aristoteles’ Metaphysik, 1025b (VI.1). – Anm. d. Hrsg.
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großer Schrift, darum deutlich lesbar vor, was im Einzelbewusstsein weniger kenntlich, weil ins Engste zusammengezogen, zugleich mit nicht Zugehörigem tausendfältig untermischt, wiederkehrt2. Aber auch die in irgendeiner Form sich überall wiederholenden allgemeinen Stufenunterschiede, die auf die verschiedenen Gebiete des Bewusstseins sich gemeinsam erstrecken (etwa Empfindung, Vorstellung, Begriff im theoretischen, entsprechend Trieb, Wille überhaupt und Vernunftwille im praktischen Gebiet usf., oder welche anderen Benennungen man bevorzugen mag), beruhen ersichtlich auf Abstraktionen höchster Ordnung, die unmöglich aus dem Konkreten des unmittelbaren Bewusstseinslebens einfach abgelesen werden konnten, sondern an die Beobachtung und Klassifikation desselben offenbar schon [231] herangebracht wurden, selbst aber ihre eigent|liche Begründung nur in einem solchen Verfahren suchen können, welches vielmehr objektivierend als subjektivierend ist. So unterschied man auch im einzelnen z.B. die Empfindungen der Farben, der Töne usw. stets, indem man von den Unterscheidungen der objektivierenden Erkenntnis (hier: den Abstufungen des Reizes) ausging, oft unter auffallender Vernachlässigung der Grundverschiedenheit der Aufgaben der Subjektivierung und der Objektivierung; wie wenn man zum Beispiel darum, weil allerdings die Physik in den Schallschwingungen, und die Physiologie in den diesen zugeordneten Nervenprozessen, stetige Übergänge, infinitesimale Änderungen anzuerkennen hat, die Voraussetzung des stetigen Übergangs ohne Weiteres auf den psychologischen Begriff der Tonempfindung übertrug und für die Intervalle der Empfindung ebenso wie für die des (äußeren oder inneren) Reizes unendliche Zwischenstufen, in direktem Widerspruch mit der klaren Aussage des Schwellengesetzes, postulierte. Aber vielleicht wird man uns fragen, mit welchem Rechte gerade wir hier die Subjektivierung des Objektiven ablehnen dürfen, nachdem doch unsere Methodologie der Psychologie als allgemeinen Satz aufgestellt hat, dass es überhaupt anders gar nicht möglich sie, dem Psychischen wissenschaftlich beizukommen, als durch den Rückgang von den objektiven Gestaltungen jeder Art, die ja samt und sonders aus der Psyche hervorgegangen sind und nichts anderes als subjektiv Gegebenes zu objektiver Darstellung zu bringen die Aufgabe haben? – Der Unterschied liegt hier nicht bloß darin, dass wir mit vollem methodischen Bewusstsein tun wollen, was sonst ohne dies Bewusstsein, daher ungleichmäßig und ohne die Sicherheit und Bestimmtheit der Begründung geschah, die allein einer solchen Aufstellung wissenschaftlichen Charakter geben könnte. Sondern der hier ausschlaggebende Unterschied ist vielmehr, dass unsere Methode die objektiven Gestaltungen zwar zugrunde legt, aber von diesen auf ihre subjektive Grundlage doch erst, als auf etwas Anderes, zurückgeht. Worin besteht dieser Rückgang? 2
Nach Platons „Sonnengleichnis“, vgl. Politeia, 507c–508b. – Anm. d. Hrsg.
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Das wurde aufgeklärt. Es gibt nicht ein absolut Subjektives, und ihm gegenüber ein absolut Objektives; sondern es gibt eine Stufenfolge relativer Objektivierungen, der im Rückgang wiederum eine Stufenfolge relativer Subjektivierungen entspricht. Die Forderung des Rückgangs besagte demnach: dass von der allemal höheren Stufe der Objektivierung – d.h., da allgemein das Gesetz es ist, welches den Gegen|stand konstituiert: von der [232] höheren Gesetzlichkeit – zur niederen, daher dem Konkreten näherliegenden, der Rückweg erst zu suchen sei; so von den physikalischen Qualitäten zu den unmittelbaren Qualitäten der Empfindung: Farben, Tönen usf. Aber dies betrifft erst das Besondere der Durchführung der psychologischen Rekonstruktion; es hat weniger ersichtliche Bedeutung für das, wonach hier vorerst die Frage ist: für die Aufstellung der obersten Grundbegriffe, die zugleich die oberste Disposition des Psychischen überhaupt enthalten oder begründen müssen; der psychologischen Grundkategorien. Worin also besteht für diese der geforderte Rückgang? §2. Der Begriff der Potenz als disponierender Grundbegriff der Psychologie. Die untere Grenze des Bewusstseins. Der Rückgang besteht zunächst darin, dass an die Stelle der Aktualität der objektivierenden Setzung die bloße Potentialität derselben gesetzt wird. Der Begriff der Potenz, der Aristotelischen Dynamis, der für die objektivierende Erkenntnis wenig oder nichts leistet, hat dagegen seine eigentliche Stätte im Rückgang von der objektivierenden Setzung zu den Grundlagen, welche von subjektiver Seite diese eben „möglich machen“ sollen. Der Begriff der Potenz ist ein eigentümlicher, fast darf man sagen, der eigentlich systembildende Begriff der Psychologie. Als solcher grenzt er sich sehr bestimmt ab gegen den objektiven Begriff der Bedingung, mag diese nun logisch oder mathematisch oder physikalisch oder physiologisch oder im weitesten Umfang teleologisch verstanden werden. Das deutlich unterscheidende Merkmal ist, dass im objektiven Sinne immer etwas für etwas dem entscheidenden Begriff nach Anderes bedingend ist, hier aber die Bedingung durch nichts Anderes als eben das, was durch sie bedingt wird, definiert, und nur das Stadium der Möglichkeit von dem des wirklichen Stattfindens des bezüglichen „Aktes“ unterschieden wird. Der letzte Sinn und Grund dieser fundamentalen Unterscheidung aber vom Akt und Potenz ist kein anderer als das Urverhältnis der Bestimmung jeder Art zu dem allemal im entsprechenden Bezug erst zu Bestimmenden, in sich also noch nicht Bestimmten, welches eben damit doch gedacht werden muss als der Bestimmung fähig, als bestimmbar. Die Möglichkeit, von der die psychologischen Begriffe – alle Urbegriffe, alle Grundkategorien der Psychologie ohne Unterschied – reden, ist somit allgemein: Möglichkeit der Bestimmung; der gegenüber|stehende Akt: der Akt (die Aktualität) der [233] Bestimmung selbst und in ihr – der objektivierenden Setzung.
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Zehntes Kapitel
Dieses alle Möglichkeit einer Psychologie, als der Wissenschaft der Subjektivität, begründende allgemeinste Wechselverhältnis des Bestimmbaren und seiner Bestimmung gilt nun eben in dem ganzen Stufengange der Objektivierung, also auch der dieser entsprechenden Subjektivierung: für jede höhere Stufe der Objektivierung bedeutet die niedere die Potenz, für jede niedere die höhere die entsprechende Aktualisierung. Aber eben indem dieses Wechselverhältnis für die ganze Stufenfolge der Objektivierung, also wieder und wieder gilt, solange als irgend noch etwas von Bestimmtheit erreichbar, d.h. soweit überhaupt irgendetwas noch mit Sinn aussagbar ist, so findet dieser Stufengang, also auch der Rückgang zu den subjektiven Grundlagen, seine ideale Grenze in dem Ansatz eines letzten noch schlechterdings nicht Bestimmten, aber aller Bestimmung Fähigen, somit allseitig Bestimmbaren und zu Bestimmenden, einer Aristotelischen Urmaterie (πρâτη Ôλη) oder eines Chaos, aus dem die ganze Weltschöpfung des Bewusstseins hervorgehe, wenigstens in letzter, in allerletzter Betrachtung hervorgehend zu denken sei. Denn ein solches Letztes in wirklichem Erleben antreffen zu wollen wäre offenbar widersinnig; antreffen lässt sich freilich nichts, das nicht in irgendeinem Grade bestimmt wäre. Dennoch wird mit unzweifelhafter Notwendigkeit auf ein solches Letztes, ein gleichsam „seiendes Nichtsein“ des Bewusstseins, zurückgeschlossen, das alles Sein desselben aus sich gleichsam gebäre; einfach zufolge des Sinnes der rekonstruktiven Methode; eigentlich nur als ein anderer Ausdruck dieser geforderten Methode selbst; daher ebenso ohne Bedürfnis wie offenbar ohne Möglichkeit eines faktischen Aufweises; aber eben auch in gar keinem anderen Sinne als dem der Fixierung der letzten idealen Grenze (unteren Grenze) aller psychologischen Fragestellung. Worin anders denn könnte diese sich begrenzen, als in der schöpferischen Methode der Psychologie überhaupt? Es kann also unter diesem Letzten nicht ein irgendwann in der Zeit gegebenes Stadium des Lebens der Psyche verstanden werden; sondern nur gleichsam der dunkle Untergrund, von dem alles bewusste Leben, zeitliches wie überzeitliches, sich abhebt und aus dem es als hervortretend nicht etwa aufgezeigt, sondern allein gedacht werden kann. Alle Unterschiedlichkeiten [234] des Erlebbaren müssen daher in ihm aus|gelöscht, dies Erlebbare also in noch gänzlich ungeschiedener, ungelöster Komplexion gedacht werden; als Grund, aber eigentlich nur negativer Grund aller Unterscheidbarkeit, muss es selbst schlechthin unterschiedslos, undifferenziert gedacht werden; ein echtes, das allein echte anaximandrische Apeiron3, das in die „Gegensätzlichkeiten“ erst auseinandertreten will, aber nicht schon nicht auseinandergetreten ist4. 3
Vgl. Anaximander, Fragment 2 (Diels/Kranz). – Anm. d. Hrsg. Streng in diesem Sinne, als noch in keiner Hinsicht differenziert, stellt Hermann Cohen in Kants Begründung der Ästhetik seine psychologische Kategorie des „Fühlens“ auf: als „Urbewusstsein“ (S. 156), gleichbedeutend: als „allgemeine 4
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Jenseits dieser Grenze – oder richtiger diesseits, da ja immer nur von dem irgendwie differenzierten Bewusstsein auf diesen Indifferenzpunkt, rein gedanklich, nicht in faktischem Aufweis, zurückgegangen werden kann – gibt es dagegen nur Scheidung, Unterscheidung, und Wiedervereinigung nur in wiederum höheren Scheidungen und Unterscheidungen, und so in nie abzubrechender Stufenordnung weiter, bis hinauf zu den Ur-scheidungen und -unterscheidungen, auf deren reine Herausarbeitung es für das, worauf wir zielen: die ursprüngliche Disposition alles psychischen Inhalts, offenbar besonders ankommt. Damit also treten wir nun erst der eigentlichen Aufgabe der Grunddisposition des Psychischen näher. §3. Bewusstseinsstufen und Bewusstseinsrichtungen. Hier ist nun die nächstliegende Scheidung zweifach, ohne dass sich sagen ließe, dass eine von beiden Differenzierungsrichtungen notwendig voranstände. Es ist einmal der Grundunterschied von Bewusstseinsstufen, die sich, wie schon gesagt, immer wiederum, jede zur folgenden, relativ wie Potenz und Akt verhalten. Als oberste Scheidung dieser Art pflegt, zunächst nach der bloß theoretischen Seite, allgemein die von Sinnlichkeit und Denken genannt zu werden, zu welcher die Analoga auch im Gebiete des Strebens und des Gefühls nicht fehlen. Die andere Grundunterscheidung ist eben diese, des „theoretisch“ und des „praktisch“ gerichteten Bewusstseins: „Vorstellung“ und „Wille“, und welche weiter etwa als gleich fundamental neben diesen angesetzt werden mögen. | [235] Die erstere Unterscheidung findet sich seit Plato und Aristoteles (dem Keime nach schon weit früher) in aller nur zu wünschenden Schärfe, ganz unserer Forderung gemäß ausgeprägt; am reinsten bei dem letzteren, der damit gerade zum eigentlichen Begründer einer Psychologie als eigener Wissenschaft wurde; so nämlich, dass Sinnlichkeit (α»σqησισ) die Scheidungsmöglichkeit, also die Potenz jeglicher Scheidung (die κριτικ δÒναµισ), Denken (νÊησισ) die reine Aktualisierung dieser selben Potenz, nämlich die Bestimmung des auf jener Vorstufe immer unbestimmt Bleibenden, bedeutet5. Die Potenz aber ist hierbei sofort zweiseitig: Potenz der Sonderung, als Sonderung, also als gerichtet auf die wenigstens gedankliche Isolierung der Einzelmomente; wofür, zunächst in theoretischer Richtung, „Empfindung“ der auch noch der heutigen Psychologie feststehende Terminus ist; Disposition des Bewusstwerdens“ (S. 155), als „Ausdruck der Tatsache, dass wir Bewusstsein haben, ohne die Angabe aber, in welchem Inhalte sich dieses Bewusstsein bestimme“ (S. 154). Schwerlich ist es hiermit vereinbar, wenn in der Ästhetik des reinen Gefühls (I, S. 136) das Fühlen zugleich Fühlen der Temperatur sein soll. 5 Nach De Anima, 412a–413a (II.1). – Anm. d. Hrsg.
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andererseits Potenz der Verbindung, die ja zu aller und jeder Sonderung immer das notwendige Korrelat bleibt. Soll Eines vom Andern sich sondern, so müssen ja beide wiederum auch ursprünglich verbunden sein; sonst hätte man Eines allein, oder das Andere allein, aber nicht Eines als vom Andern (seinem Andern), oder das Andere als vom Einen (zu dem es das Andere sei) geschieden. Das wird vollends klar, wenn wir die (selbst noch sinnlich gedachte) Scheidung ersetzen durch die (klar begriffliche) Unterscheidung; denn diese ist erst recht nur Scheidung unter einer als ursprünglich vorausgesetzten Einheit, nämlich der Einheit der nächst höheren „Gattung“, aus der allemal, durch die Differenz, die Arten hervorgehend gedacht werden. Der Verbindung aber, als Verbindung (zunächst immer in theoretischer Hinsicht), entspricht der psychologische Terminus „Vorstellung“. So ergeben sich als die fundamentalen Stufen zunächst des theoretischen Bewusstseins mit Notwendigkeit diese drei: Empfindung, Vorstellung, Denken. Im „Denken“ geht aber jene Zweiseitigkeit, welche auf der Stufe der Sinnlichkeit als die von Empfindung und Vorstellung sich ausdrückt, nicht gänzlich unter; nur, indem eben im denkenden Bewusstsein die strenge, ursprüngliche und unaufhebliche Korrelativität von Sonderung und Vereinigung zur Klarheit kommt, so kann sie eben nur so: als Wechselbezüglichkeit und nur im Wechselbezug bestehende Zweiseitigkeit an einer einzigen Bewusstseinsgestalt, nicht wiederum als höhere Zweiheit von Bewusstseinsgestalten verstanden werden. Das „Einzelne“ bedeutet daher jetzt [236] nicht mehr ein auf sich Stehendes, | einen gleichsam für sich verlautenden Einzellaut der seelischen Sprache, sondern es vertritt nur den Begriff der (möglichen und geforderten) Diskretion; einer Diskretion, die durchaus nur als Diskretion des Kontinuierlichen gedacht werden darf, wie andererseits die Kontinuität nur als Kontinuation des Diskreten. Das ist die „Einheit“ des Mannigfaltigen, durch die man von je das Unterscheidende des Denkens und damit der eigentlichen Aktualität des (zunächst noch immer bloß theoretisch gemeinten) Bewusstseins ausgedrückt hat; wogegen im Stadium der Potenz beides (Eines und Mannigfaltiges) als geschieden gedacht werden kann und muss. Die andere, nicht minder tiefgehende und allgemeine Scheidung wird sich offenbar stützen müssen auf den Grundunterschied der Objektivierungsrichtungen; zuoberst den des Seins- und Sollensbezugs; welche Scheidung und Unterscheidung in der Tat in aller und jeder Objektivierung des Subjektiven als letzte und radikalste von allen sich beweist. Nach seiner subjektiven Grundlage mag der fragliche Unterschied ausgedrückt werden als der der beiden fundamentalen Beziehungsarten des Bewusstseins, die also den Grundarten der Beziehung in der objektivierenden Richtung entsprechen und diese nur eben ihrem subjektiven Grunde nach, das heißt als Potenz, bezeichnen müssen.
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§4. Seins- und Sollensbezug auf den drei Hauptstufen des Bewusstseins. Welche Beziehungsart nun soll man als erste ansetzen? In letztem Betracht ist keine von beiden früher als die andere, denn weder ist ein Sollensbezug definierbar ohne die Zurückbeziehung auf irgendwelche, mindestens zugleich damit notwendig zu setzende Distinktionen des Seins: als von einem Denkpunkt gleichsam nach einem andern hin (wiewohl dann auch über ihn hinaus) gerichtet; noch sind die Seinsdistinktionen selber zu treffen, ohne dass mindestens zugleich damit ein Richtungsbezug gesetzt wird; ist doch schon das Distinguieren selbst nie richtungslos, auch vielleicht nie einseitig, sondern sogleich doppelt gerichtet. Man könnte etwa sagen: der Sache nach liege zugrunde das Kontinuum der Richtung, der Definition aber zugrunde zu legen sei vielmehr die Diskretion der Seinspunkte. Natürlich: denn die Definition betrifft eben das Distinguieren, während die Frage nach dem Sachgrunde eins ist mit der nach dem letzten Zusammenhange. In dieser Umschreibung: durch die Distinktion, also Diskretion, einerseits, die Kontinuität des Zusammenhangs andererseits, spricht | sich übrigens [237] schon aus, dass die Scheidung von Seins- und Sollensbezug in gewisser Weise analog ist der von Empfindung und Vorstellung, und wiederum der wenigstens abstraktiven Unterscheidung der Richtung auf das Mannigfaltige als Mannigfaltiges und auf die Einheit als Einheit im Denken, welche Unterscheidung doch immer notwendig bleibt, so sehr auch das „Denken“ die unaufhebliche Korrelation beider Momente bezeichnen will. Fügt die „Vorstellung“ zur „Empfindung“ vor allem den zeit-räumlichen Zusammenhang hinzu, durch den die im Abstraktionsbegriff der Empfindung noch wie ruhend, starr betrachteten Seinsdiskretionen in den Fluss der Bewegung, in einen durchgängigen Fort- und Übergang eintreten, so löst ganz analog unter dem Sollensbezug die im Seinsbezug für die Abstraktion isolierte, fixierte und in der Isolierung und Fixierung festgehaltene „Setzung“ des Denkens sich in lebendigen Fort- und Übergang. Daher stellt, unter der Form der Vorstellung, selbst der Sollensbezug sich notwendig dar als gerichtet (wie wir der Analogie nach es schon immer ausgedrückt haben) von einem Punkte des Seins nach einem andern hin – in Zeit und Raum. Denn die Forderung, das Soll, geht stets auf das nicht Gegebene, also nicht jetzt und hier sich Darstellende, sondern dann und dort Vorgestellte; auf Zukunft nicht bloß im Zeitsinn, sondern auch im Raumsinn des draußen Liegenden aber heran Kommenden, vielmehr dessen, was kommen müsse, was fern ist, und in die Nähe rücken soll; wobei es nicht hindert, wenn etwa die Ferne, also auch die Näherung, eine ewige, unendliche ist und bleibt: Bezeichnungen, welche offenbar selbst von den Eigenheiten des Raumes und der Zeit entlehnt sind, also das Streben selbst (welches als subjektivierender Ausdruck dem objektiven „Sollen“ entspricht) wiederum unter der Form der Vorstellung ausdrücken.
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Zehntes Kapitel
Diese Erwägung hat den Nutzen, zu zeigen, dass „Vorstellung“, als Zeitund Raumordnung der Empfindung, als Potenz nicht bloß der Seinssetzung, sondern ebenso wohl der Sollenssetzung, also selbst ursprünglich und zugleich als Strebung anzusetzen ist; was sich dann folgeweise und mit der gleichen Notwendigkeit auf die Empfindung überträgt. Diese wird demnach ebenfalls das Urmoment des Strebens gleich von Anfang an in ihren Begriff aufnehmen müssen. Andererseits aber führt die analoge Vergleichung des Verhältnisses der Sollens- und Seinsbeziehung mit dem der Einheits- und Differenzierungs[238] richtung im Denken sofort darauf, dass der Seinsbezug selbst, | unter der Form des Denkens, sich als Denken der Diskretion, der Sollensbezug als Denken der Kontinuität darstellen muss, und dass dies letztere Denken im Grunde den Sollensbezug ebenso wesentlich involviert, wie das erstere den Seinsbezug schon beinahe direkt ausdrückt. Aber doch bleibt dabei der abstraktive Unterschied immer unverwischbar bestehen: Empfindung und Vorstellung, und so auch Diskretion und Kontinuität als Denkmomente, drücken reine Inhaltsverhältnisse, als gleichsam an sich, im Sachgrund bestehend, also statisch aus; Seinsbezug dagegen und Sollensbezug sind diesen gegenüber etwas durchaus Neues und Eigenes, das man wohl als Akt und Inhalt gegenübergestellt hat und unter gehörigem Vorbehalt (der strengen Vermeidung einer falschen Objektivierung zu zeitlich verlaufenden Tätigkeiten) immerhin so bezeichnen mag. Es ist der Unterschied der Beziehung als wiederum in sich ruhender Bezogenheit, und andererseits als Beziehen, das heißt als ausgehend vom Einen und gerichtet auf das Andere, mithin im Procedere, in der Bewegung, d. h. dynamisch vorgestellt. Darum können wir, sobald wir die Einheitsbeziehung des Denkens uns im Vollzug, in der „Energie“ der Verwirklichung denken, gar nicht umhin, das Denken selbst als Tat, mindestens Strebung, mithin im Sollensbezug zu denken; umgekehrt, sobald wir den Sollensbezug nach der strengen Eigenart des Denkens uns vergegenwärtigen wollen, so verschwindet die Bewegung als solche; das Fernziel, selbst die Beziehung vom gegebenen Punkte auf es hin erscheint als ruhender Bestand, und die Bewegung erstarrt uns gleichsam zum bloßen Begriff (des jetzt da, jetzt da Seins usf.). Zugleich überträgt sich damit die Stufenordnung, die zunächst für den Seinsbezug galt, mit gleicher Notwendigkeit auf den Sollensbezug, also auf die Strebung. Diese ist also auf unterster Stufe, entsprechend der Empfindung, wie in einem Punkt konzentriert zu denken: Strebung als momentaner Antrieb; nenne man es nun Empfindungsstreben oder Strebensempfindung. Diese Stufe des Strebens hat folglich, im gleichen Sinne wie die Empfindung überhaupt, nur Potenzbedeutung. Im zweiten Stadium wird die Strebung, analog der Vorstellung, von Moment zu Moment sich erstreckend, in dieser Bestimmtheit ihrer Erstreckung aber auch beschränkt gedacht; im dritten dagegen die Kontinuität der Erstreckung, obwohl immer von Punkt zu Punkt
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gehend, doch bei keinem Punkte als letztem stillstehend, sondern weiter und weiter reichend, mithin unendlich; welche Freiheit und Uni|versalität des [239] Strebens der Freiheit und Universalität des Denkens völlig entspricht und in dieser zugleich liegt. Denn wie auf den unteren Stufen Empfindung und Empfindungsantrieb (Sachempfindung und Antriebsempfindung), Vorstellung und Vorstellungsbestreben (Sachvorstellung und Bestrebungsvorstellung) eins sind, so auf der oberen Denken und Denkrichtung (Sachdenken und Richtungsdenken). Was hier absichtlich durch die Abwandlung des Ausdrucks: Antrieb, Bestreben und Richtung, unterschieden wurde, ist in der Tat dem Kerne nach immer eins und dasselbe, nämlich die Strebung 1. in ihrem punktuellen Ausgang, 2. im Fortgang zum bestimmt vorgesetzten, insoweit beschränkten und beschränkenden „Ziel“ (das Bestrebtsein oder Anstreben des bestimmten Zieles), 3. als in sich unbeschränkter, unendlicher Fortgang, in welchem die Haltpunkte nicht vernichtet, aber zu bloßen Durchgangspunkten herabgesetzt sind. §5. Obere Grenze des Bewusstseins. Hiermit ist nun ein Grundschema schon gewonnen für eine grenzenlose Entwicklung des Bewusstseins, seinem Inhalt nach; ein Schema, welchem, eben dieses seines höchst generellen und schlechthin fundamentalen Charakters wegen, schwerlich irgend eine Art von Bewusstseinsinhalt sich wird entziehen können, und welches nach dem Typus seines Aufbaus eben diese Entwicklung, und zwar als unbeschränkte, nicht bloß zulässt, sondern fordert und als notwendig begründet. Es liegt dann aber nahe, auch nach einer, wenngleich nur ideellen, oberen Grenze dieser Entwicklung zu fragen; so wie ihre untere, ebenfalls bloß ideelle Grenze in der letzten, leeren Potentialität des Bewusstseins überhaupt anzusetzen war. Eine solche obere Grenze gibt es in der Tat, aber eben nur als ideelle. In dieser dürfte, wie in der unteren Grenze noch keine, so jetzt keine Gegenstandsbeziehung mehr gesetzt werden; nämlich kein Gegensatz mehr von Bewusstsein und Gegenstand, keine Gegenstellung des Gegenstandes gegen das Bewusstsein, d. h. aktualisierter gegen erst zu aktualisierende Bestimmung. Es ergibt sich dann, dieser rein begrifflichen Forderung gemäß, genau das Aristotelische „Denken des Denkens“, Bewusstsein des Bewusstseins, oder reine Bewusstsein „seiner selbst“6. In der Aufstellung dieses Grenzbegriffs, den er nur leider nicht als bloße Begriffsgrenze erkennt, sondern metaphysisch, als notwendigerweise existierenden letzten Seinsgrund zu setzen wagt, bewährt sich Aristoteles immerhin, wie überhaupt | durchweg, als tiefen Psychologen; [240] ebenso wie in der Aufstellung des Gegenbegriffs zu diesem, des Begriffs jener letzten Urmaterie als des „Unbestimmten vor aller Bestimmung“
6
Vgl. Aristoteles, Metaphysik XII, 9, 1074b. – Anm. d. Hrsg.
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(Êριστον πρ½ν Éρισq²ναι) und damit der letzten, leeren Potenz zu aller Aktualisierung, in Vergleich mit welcher dann das gegenstandsfreie „Denken des Denkens“ zugleich zum reinen, potenzfreien Akt wird. Sogar in dem Beweise des notwendigen Daseins dieses Urseins (dem weltgeschichtlichen Quellpunkt des „ontologischen Arguments“7) – gestützt darauf, dass sonst alles Sein zufällig, grundlos würde – liegt ein Moment des Richtigen, welches auch Kants übrigens siegreiche Kritik stehen lassen musste und ausdrücklich als positiven Reinertrag daraus herausschälen durfte: die Notwendigkeit der Setzung eben jener ideellen Begriffsgrenze, die nur nicht eine erkannte existierende Wesenheit darf bedeuten wollen. Jedenfalls für die Psychologie kann dieser Begriff keine andere als diese Grenzbedeutung haben; um so weniger braucht er, in dieser vorsichtigen Fassung, Anstoß zu erregen. Er bleibt also stehen, obwohl nicht eigentlich als ein Begriff der Psychologie, sondern nur ihrer Begrenzung. So hatten wir schon in einigen unserer früheren, aber immer rein methodologischen Erwägungen Gebrauch gemacht von dieser Grenzkategorie des Überbewussten, die der des Unterbewussten, als des dunklen Untergrundes der Bewusstheit, genau und notwendig entspricht. Ein bestimmterer Gebrauch, der sich von beiden Grenzkategorien machen lässt, wird sich noch weiterhin ergeben. §6. Allgemeine Beschreibung der Bewusstseinsarten – Phänomenologie des Bewusstseins – als erste Provinz der Psychologie. Was nun bis dahin, als allererste Vorzeichnung einer Disposition des Psychischen, sich herausgestellt hat, umfasst das schon das Ganze des Bewusstseinsbestandes, so dass auch das Ganze der Aufgabe der Psychologie damit umschrieben wäre? Ja und Nein. Es ist das Ganze, sofern die Frage sich richtet eben auf den Bewusstseinsbestand, seiner Art nach. Aber diese ganze Betrachtungsweise kann in der Psychologie, so sicher sie grundlegende Bedeutung in ihr beanspruchen darf, doch nicht das Letzte und das Ganze sein wollen. Denn sie verbleibt noch ganz im Allgemeinen und Abstrakten. Auch die weitere Spezifikation unterhalb jener höchsten Kategorien, sofern sie durch nichts als eben diese allgemeinen Begriffsschemata selbst und die in diesen [241] schon angelegten und angezeigten | weiteren Entwicklungsmöglichkeiten geschehen soll, bleibt immer nur Spezifikation, das heißt, sie bleibt stehen in dem immer noch Allgemeinen und Abstrakten der Bewusstseinsart, kommt also noch nicht zu dem letzten Konkreten, in dem doch das Psychische als solches erst besteht. Man erreicht auf dem bis dahin aufgewiesenen Wege subjektive Grundlagen für jede Sonderart der Objektivierung, aber eben nur subjektive Grundlagen überhaupt für Objektivierungen überhaupt, nicht bestimmte für die bestimmten Objektivierungen nicht bloß der
7
Aristoteles, Metaphysik XII, 7 (1072a–1073a); IX, 8 (1049b–1051a).
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Wissenschaft, der Sittlichkeit, der Kunstgestaltung überhaupt, sondern der bestimmten, und weiterhin auch der nicht streng gesetzmäßigen Bildungen des nichtwissenschaftlichen Bewusstseins. Man erhält, mit andern Worten, nur erst psychologische Grundkategorien, wie Sinnlichkeit überhaupt, Zeit- und Raumordnung überhaupt, Begriffsfügung überhaupt, Strebung überhaupt, und was sonst von diesem Typus ist; aber man sieht noch nicht ab, wie in diesen eine zulängliche Basis gegeben sei für eine Methode, die wirklich bis zum Unmittelbaren de Erlebnisses heranzureichen vermöchte. Dieses scheint so noch immer bloß rubriziert, also zerteilt, ja auseinandergerissen, nicht aber in seiner Integrität erfasst oder auch nur erfassbar zu werden. Man verbleibt in derselben Region der Allgemeinheit auch noch dann, wenn man in der weiteren Entwicklung und allseitigen Zusammenführung dieser Grundkategorien bis zu einer zulänglichen subjektiven Beschreibung der theoretischen, der ethischen, ästhetischen, religiösen Erkenntnis etwa wirklich käme; also zu einer grundlegenden Psychologie der Wissenschaft, einer grundlegenden Psychologie der Gemeinschaftsgestaltung, der Kunstgestaltung, der Religionsgestaltung; und weiter hinauf etwa zu einer Psychologie der Logik, der Ethik, der Ästhetik, der Religionsphilosophie; zu dem, was wohl am Ehesten mit dem sonst wenig klaren Titel „Erkenntnistheorie“ sich bezeichnen lässt; man hat auch von „Transzendentalpsychologie“ gesprochen. Aber mit dem allen bliebe man noch immer weit diesseits des vollen, unmittelbaren Lebens des Bewusstseins. Es ist in der Tat mit allem bisher Berührten erst eine, allerdings mächtige und zentrale Provinz der Psychologie abgegrenzt. Wir mögen sie etwa als Phänomenologie des Bewusstseins benennen; wenigstens annähernd entspricht sie wohl dem, was Husserl mit diesem Namen bezeichnet: der bloßen Beschreibung der Bewusstseinsgestaltungen | ihrer Art nach; welche [242] natürlich nicht auf die reinen Erkenntnis-, Willens- und Kunstgestaltungen, die reinen Grundlagen auch des religiösen Bewusstseins sich zu beschränken braucht, sondern auf das weite Gebiet des Empirischen, und auch auf die unvollkommenen Objektivierungen (des Meinens, Glaubens, Phantasierens, ohne Rücksicht auf Gesetzes- und Wahrheitscharakter und ohne Beschränkung auf diesen) sich ausdehnen lässt. Der Charakter des Abstrakten und Allgemeinen wird auch durch solche Erweiterung nicht wirklich überwunden, wenn auch die Abstraktion sich immer tiefer ins Konkrete hineinarbeitet und es unter die allgemeinen Begriffsschemata zu zwingen bemüht ist, daher auch viel Irrationales – Unlogisches, Unethisches, Unästhetisches, Irreligiöses – in sich aufnimmt, überhaupt nichts Menschliches sich fremd sein lässt, und auch Unter- und Übermenschliches, sofern irgend es sich vom Menschlichen aus will fassen und zum Verständnis bringen lassen, nicht etwa grundsätzlich ausschließt; denn zuletzt ist Psychologie nicht bloß Psychologie des menschlichen, sondern alles Bewusstseins, von dem wir uns irgend noch einen Begriff machen können. Auch alles noch so vage Meinen, Wähnen,
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Schwanken, alle natürlichen Dogmatismen, Illusionismen, Skeptizismen mag die Psychologie in ihre Untersuchungen aufnehmen; sie sind ja für ihren eigentümlichen Gesichtspunkt im letzten Betracht völlig gleichwertig den reinen, den bleibend gültigen Gestaltungen des Bewusstseins. Nur das bleibt von dem auszeichnenden Charakter des „Reinen“ selbst für sie bestehen: dass nur vom Reinen, als dem Gesetzmäßigen, aus, nur im Rückbezug auf es, gleichsam durch Messung des Abstands von ihm, das Nichtreine insoweit zu Begriff gebracht wird, als es dessen überhaupt fähig ist. Auch das unverantwortlichste Meinen, der wirrste Aberglaube, die unbändigste Phantasie gebraucht doch überhaupt noch die Kategorien der objektiven Erkenntnis; es ist immer noch Objektivierung, nur mit unzureichenden Mitteln oder in unreiner Durchführung des Verfahrens; es fügt sich daher immer noch den allgemeinen dispositionellen Kategorien der Psychologie, die aus den reinen Objektivierungen zunächst abgeleitet waren; nur dass eben in keiner Richtung Haltbares, Gültiges erreicht wird, daher tatsächlich alles im Fluss bleibt und bleiben will. Somit wird auch dieses alles, aber eben nur der allgemeinen Art nach, durch die aufgestellten psychologischen Grundkategorien und die aus diesen weiter abzuleitenden, denselben Typus [243] bewahrenden | psychologischen Begriffe sich beschreiben lassen. Ist es aber etwa möglich, und wie ist es möglich, über diesen ganzen Standpunkt der allgemeinen Beschreibung des Bewusstseinsinhalts, seiner Art nach, hinaus zu dem bestimmten, konkreten Erlebnis vor- oder doch näher an es heran zu dringen? Jene allgemeinen Kategorien begrenzen allenfalls das Gebiet des überhaupt Erlebbaren, seinen allgemeinen Möglichkeiten nach, aber erreichen doch nicht den Akt, die Aktualität des Erlebens selbst. In dieser Richtung offenbar müsste die weitergehende Konkretisierung angestrebt werden. Aber auch für diese gilt es zunächst wiederum erst die allgemeinen Begriffsgrundlagen zu gewinnen. §7. Die Stufenfolge der Erlebniseinheiten, als zweite Hauptaufgabe der Psychologie. Es scheint hier wesentlich anzukommen auf die Zurückbeziehung des Erlebnisinhalts auf das erlebende Ich. Allein diese Festsetzung fordert sofort eine Berichtigung oder wenigstens genauere Präzisierung. Diese hergebrachte, durch die Rücksicht auf die Sprache sich nahelegende Unterscheidung von Inhaltsbeziehung und Ichbeziehung weist auf das, was wir suchen, erst ganz von weitem hin, aber gibt nicht selbst schon die Antwort auf unsere Frage. Wir haben ja nicht voraus ein erlebendes Ich, sondern es gilt jetzt erst ein solches, und zwar in der denkbar größten Weite dieses Problemausdrucks, seinem psychologischen Begriff nach zu konstituieren. Es bedeutet schon einen nicht geringen, ja vielleicht den entscheidenden Schritt zur Klärung der Sache, dass überhaupt erst an dieser Stelle die Frage nach dem erlebenden Ich auftritt und in methodisch gerechtfertigter
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Weise gestellt werden kann. Die Frage nach dem Ich ist in der Psychologie keineswegs die erste, obwohl (wie schon wiederholt angedeutet wurde) auch wiederum nicht die letzte. Sondern erst nachdem über den möglichen Inhalt des Bewusstseins, seinen Grundunterschieden und Verbindungen nach, Klarheit gewonnen, ist als zweite Hauptfrage der Psychologie zu stellen die nach der Distinktion der Erlebniseinheiten, auf welche das Wörtchen „Ich“ oder die Unterscheidung des Erlebnisaktes vom Erlebnisinhalt eben, als auf ein noch zu lösendes Problem der Psychologie, hinweist. Nach der Distinktion der Erlebniseinheiten, sagen wir, sei zu fragen; nicht der Erlebniseinheit, als ob diese von Anfang an oder überhaupt nur im Singular zu denken wäre. Zwar das „Ich denke“ muss alle „meine“ Vorstellungen begleiten können, nach Kant; und | dies, nicht sowohl immer [244] begleitende, als begleiten könnende „Ich denke“ begründet wirklich jene „numerische Einheit“, von der Kant spricht und, im Zusammenhang und nach der Absicht seiner Untersuchung, nur zu sprechen hatte8. An diesen Sätzen, so wie sie in seiner transzendentalen Kritik nur gemeint sein durften, ist also keineswegs zu rütteln. Aber „muss begleiten können“ heißt nicht „begleitet“. Mit der „transzendentalen Einheit der Apperzeption“ hat die objektive, logische (wie weiterhin auch ethische, ästhetische) Kritik der Erkenntnis zu tun, Psychologie dagegen hat zu fragen nach den empirischen „Subjekten“, also den empirischen „Einheiten der Apperzeption“, nicht nach „der“ abstrakten, bloß gedachten, gewiss notwendig zu denkenden, allbefassenden Bewusstseinseinheit. Folglich hat sie, um die Mehrheit dieser Bewusstseinseinheiten zu begründen, zuerst zu fragen nach der Distinktion, aus der diese Mehrheit erst hervorgehend zu denken sei. Nachdem so die Frage erst zur erforderlichen Präzision gebracht ist, liegt die Antwort schon nicht mehr fern. Die verlangte Distinktion nämlich vollzieht sich notwendig in einer analogen, ja dem Kern nach derselben Stufenfolge, welche auch die Distinktion der Arten des Bewusstseinsinhalts ergab, da ja auch sie sich ergeben muss durch Rekonstruktion aus den Grundarten und Richtungen der Objektivierung. So wenigstens muss es sein, wenn unsere methodische Grundvoraussetzung sich rein und allgemein durchführen soll. Denn alle Objektivierung vollzieht sich allein in Rückbeziehung allemal auf ein Subjekt; also müssen den Stufen und Richtungen der Objektbeziehung auch solche der Subjektbeziehung irgendwie entsprechen. Diese Entsprechung führt sich nun auch in der Tat in völliger Reinheit durch. Dem Stadium der Empfindung entspricht offenbar der absolut einzelne Erlebnismoment; der konkreten, allemal bestimmt begrenzten
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Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 113. – Anm. d. Hrsg.
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Verbindung in der Vorstellung der konkrete, bestimmt begrenzte Erlebniszusammenhang, der dem jedes Mal erlebenden Ich in jedesmaliger relativer Erlebenseinheit sich abgrenzt; der übergreifenden, ideellen Einheit des Begriffsdenkens die übergreifende, ideelle Bewusstseinseinheit, die Kant’sche „Apperzeption“; insbesondere der reinen Denkeinheit die reine Apperzeption oder das reine „Ich“. Und wie nun Empfindung und Vorstellung zum Denken sich als Potenzstadium zum Aktstadium verhalten, [245] aber auch die Empfindung wieder|um Potenz ist für die Vorstellung, so ist deutlich das engst begrenzte Ich des Momenterlebnisses überhaupt nur als Potenz zu verstehen, während das Ich des begrenzten Erlebniszusammenhanges jenem gegenüber vergleichungsweise schon einen Aktcharakter besitzt, aber in seiner offenbaren Dehnbarkeit und Verschiebbarkeit allerdings keine endgültige Aktualisierung bedeuten kann, daher wieder nur als Potenz erscheint gegenüber der strengeren Aktualisierung, die erst im übergreifenden Bewusstsein des Denkens erreicht wird. Die Vorstellung hat ein Ich, so wie man auch umgekehrt sagt, das Ich habe die Vorstellung; aber im Denken allein wird das Ich als solches bewusst, wird es somit, als Bewusstseinssubjekt, in der Tat erst aktuell, und jenes „Haben“ bedeutet (genau wie das Aristotelische £χειν, ¦ξισ) vielmehr nur die Potenz zu jenem Akt. Dabei aber zeigt sich nun dies Merkwürdige, dass das Ich, in dieser seiner vollen Aktualisierung, gar nicht mehr individuelles, sondern mindestens der Möglichkeit nach Gemeinbewusstsein, ja der letzten Tendenz nach schon Universalbewusstsein ist. Das begreift sich so: im Denken wird eben das Objekt gesetzt, wohl als Objekt für ein Subjekt, aber, sofern wenigstens es volles Denken und nicht mehr bloßes Vorstellen ist, nicht für dieses, unterschiedlich von jedem andern, sondern bereits für ein ideales Subjekt „überhaupt“. Als unterschiedliches besteht also das Ich im Grunde nur auf der Stufe der Vorstellung, eben damit nie in voller Aktualität, sondern in einem Potenzstadium, dem als Akt vielmehr das übergreifende, das Objektbewusstsein entspricht; zwar immer in Beziehung zu einem Subjekt, aber jetzt nicht mehr, wenigstens nie in ausschließendem Sinne, zu einem im Unterschied von einem andern, sondern zu einem Subjekt überhaupt. Wie die weiteren Einteilungen des Bewusstseinsinhalts, wie insbesondere die andere Hauptunterscheidung nach Seins- und Sollensbezug sich entsprechend auf das Ichbewusstsein, als Erkenntnis-Ich und Willens-Ich, überträgt und wie dann diese Unterscheidung sich mit der der Bewusstseinsstufen kombiniert, ist leicht zu ersehen und bedarf hier keiner näheren Ausführung; desgleichen, wie den Unterstufen der unvollkommenen Objektivierungen analoge Stufen unvollkommener Ichbeziehung gegenüberstehen, von deren Sonderart man sich leicht an dem sehr deutlichen Typus des Traum-Ich in seinem Schweben und Schwanken einen vorläufigen Begriff machen [246] kann. |
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§ 8. Das Gemein-Ich. Obere und untere Grenze auch der Erlebniseinheit. Besondere Aufmerksamkeit beansprucht hier das Entstehen und die mannigfachen Abstufungen des Gemeinbewusstseins. Direkt von einem Gemein-Ich (Moi commun) spricht, in besonderem Bezug auf sein Problem des „Gesellschaftsvertrags“, Rousseau. Der Begriff verträgt aber und fordert eine sehr weite Verallgemeinerung. Auf einer Art „Contrat social“ beruht ja schon die Gemeinschaft der Sprache, beruht überhaupt alle und jede Gemeinschaft zwischen Bewusstsein und Bewusstsein. Es gibt aber wirklich gar kein absolut isoliertes Ichbewusstsein, sondern nur Diskretionen in unendlicher Abstufung, deren jede, ohne Ausnahme, auf das Bewusstseinskontinuum, dessen Diskretion sie ist, zurückweist. Werde ich doch meines Ich, als des meinen und keines andern, mir selbst nur bewusst, indem es sich scheidet von einem Du. In dieser dualen Gegenüberstellung zweier Ich ist stets Vereinigung sowohl als Scheidung. Das Du ist mein Du, und Ich bin auch ihm wiederum ein Du. Und dieser Beziehungswechsel, dies Sichsondern und wieder Sichvereinen wiederholt sich, wie gesagt, in an sich unbeschränkter Stufenfolge. Dieser Begriff der Gemeinschaft ist nicht etwa bloß ethisch und von daher abgeleiteterweise für die Psychologie des Willens von besonderer Bedeutung, sondern er erstreckt sich genau gleichsinnig auch auf das Gebiet des Seinsbewusstseins, da ja Zeit und Raum, die Grundformen des Seinsbewusstseins, überall von Bewusstsein zu Bewusstsein die Brücke schlagen, und zwar nach Koexistenz und Sukzession zugleich; ebenso auch nach der Prozession: treten wir doch durch eine „Erziehung“, die ebenso wohl Erziehung, d.h. Hinaufentwicklung der Vorstellung wie des Willens ist, in eine Gemeinschaft ein, die ebenso, ja deutlicher fast, rückwärts zu den fernsten Geschlechtern wie vorwärts in die erst zu gründende Zukunft der kommenden Geschlechter hinüberreicht. So ist es selbst im Kunstleben, wo zwar der Individualitätswert sich zum höchsten steigert, dieser aber andererseits nur ideal ist, real den Boden der Gemeinschaft nimmer aufgibt, aufgeben kann oder gar soll. Am geringsten (vergleichsweise) ist das Gewicht der Individualität in der Erkenntnis; eben darum ist es hier besonders augenfällig, dass die Individualisierung in der Tat sekundär, das Gemeinsame, das Heraklitische ξυνÊν9, wesentliche Grundlage ist. Weder die Existenz der Sonderungen des Bewusstseins noch die Möglichkeit, sie in den Begriff eines „gemeinsamen Ich“ wieder zurück|zunehmen, [247] ist in dem allen irgend schwerer oder überhaupt anders zu verstehen als das Zusammenbestehen von Sonderung und Vereinigung in der bloßen abstrakten Betrachtung des Bewusstseinsinhalts. Diskretion und Kontinuität verhalten sich auf beiden Seiten, in Inhalts- und Ichbeziehung, nicht nur
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Nach Heraklit, Fragment 2 (Diels/Kranz). – Anm. d. Hrsg.
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durchweg gleichartig, sondern die Diskretion und Kontinuität der Erlebniseinheit geht mit der des Inhalts genau und durchgängig zusammen. Der „Solipsismus“ ist daher kein ernsteres Problem in der Betrachtung der Ichbeziehung, als es etwa eine absolute Isolierung des Erlebnismoments (etwas wie „Solomomentanismus“) in der Inhaltsbetrachtung wäre. Hier wie dort werden Abstraktionen verdinglicht, begriffliche Abgrenzungen in sozusagen körperliche Barrieren verwandelt, die Tatsachen des Lebens durch leere gedankliche Fiktionen vergewaltigt, denen als gesunder Kern nichts zugrunde liegt als gewisse methodologische „Grenzkategorien“, die für Dingbegriffe zu nehmen anders nichts als die philosophische Naivität des eingenommenen Standpunkts beweist. Im Sinne solcher methodologischer Grenzsetzung übrigens wird der schon berührten unteren Grenze auch eine obere in der Ichbeziehung ebenso wie in der Inhaltsbeziehung entsprechen. Wird nun die eine mit Fug und Recht als Urstadium der reinen Potenz für alle, also diesseits aller begrenzten und begrenzbaren Erlebniseinheit gesetzt, die dann ebenso gut Potenz zur Ichheit jeder Stufe wie zum Inhalt jeder Art ist, so die andere jenseits aller Abgrenzung, als ebenso reine, alle bloße Potentialität von sich ausschließende Aktualität. Und wie jene, ihrem Begriff zufolge, unterhalb jedes Gemeinschaftsbewusstseins liegt, so diese oberhalb jeder noch irgend beschränkten Gemeinschaft; nicht indem alle Sonderung in ihr vernichtet wird, sondern so, dass sie in der Vereinigung sich zugleich erhält, also ganz im Sinne der Leibniz’schen „Monade der Monaden“ (Einheit der Einheiten)10. Wenn aber diese idealen „Grenzkategorien“ einen eigenen Erkenntniswert so wenig für die Psychologie wie für die objektive Erkenntnis, sei es Theoretik, Ethik oder Ästhetik, oder für eine diesen allen sich überordnende letzte reine Seinslehre (Metaphysik als „Ontologie“) beanspruchen können, so sind sie darum doch nicht ohne alle positive Bedeutung. Auch dienen sie nicht bloß jener allgemeinsten methodologischen Klärung, zu deren Behuf sie hier zunächst eingeführt wurden; sondern das Verhältnis des [248] positiven Bewusstseins jeder Art und Stufe | zu diesen idealen Grenzen, vor- wie rückwärts, die Bestimmung gleichsam des Abstands von diesen beiden Enden, ja sogar das Bewusstsein dieses Abstands, gehört zur vollen Charakteristik des positiven Erlebnisses, mag dieses nun als Icherlebnis ins Auge gefasst werden, oder nur hinsichtlich seines Inhalts. Besonders zur psychologischen Verständlichung der Eigenheit des religiösen Bewusstseins kann diese doppelseitige letzte Grenzbeziehung nicht wohl entbehrt werden. In ihm gerade werden wir uns bewusst des „Gebundenseins“ in diesen Grenzen: zwischen dem ewigen Nichts und dem ewigen Ichts11; dem ewigen 10
Nach Leibniz, Monadologie, 47 – Anm. d. Hrsg. Mittelhochdeutsch „iht[s]“ bedeutet „etwas“ (vgl. auch „ihten“: „zu etwas werden/entstehen lassen“); dementsprechend „nihten“ („zunichte machen“). 11
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Tod und dem ewigen Leben; teilhabend an beiden, stets uns losringend von dem einen, uns hinaufringend zum andern. §9. Probe auf die Vollständigkeit der Einteilung. Ontische und genetische Betrachtung. Sollen nun hiermit die zulänglichen Grundlagen einer Disposition alles Psychischen gewonnen sein, so ist es zur Erprobung der Richtigkeit dieser Aufstellungen der gewiesene Weg: zu forschen, ob denn nun wirklich alle förderlichen Untersuchungen der Psychologie unter diesem Einteilungsschema Raum finden. Wohl die umfassendste und gründlichste Arbeit wird in der Psychologie bisher gewendet an die Erforschung der allgemeinen Grundlagen des seelischen Lebens: Empfindung, Vorstellung, Streben usw., ihre unterscheidenden Charaktere, ihre vielfältig ineinandergreifenden Beziehungen, die Bedingungen ihres Auftretens, ihren Ablauf, ihre Einordnung in den Zusammenhang eines individuellen psychischen Lebens überhaupt. Mitbeachtet werden dabei wohl die auffallenderen typischen Verschiedenheiten unter den Individuen (z. B. Temperamente); doch in der Regel so, dass die Frage nach dem gesetzmäßig Allgemeinen im Vordergrund des Interesses bleibt, die Verschiedenheiten nur als Abwandlungen eines durchgehenden Grundtypus erscheinen. So entspricht es ganz der vorwiegend objektivistischen Richtung der bisherigen Psychologie; sie war ja und wollte immer Gesetzesforschung sein. Auch das Interesse der psychologischen Begründung der Wissenschaft, Sittlichkeit, Kunst, Religion musste stark in der Richtung wirken, die Erforschung allgemeinerer Gesetzlichkeiten des Bewusstseins vor der der individuellen Besonderheiten zu bevorzugen. Dabei glaubte man indes immer, es mit dem Individuum zu tun zu haben. Die Behandlung der Völkerpsychologie, der Psychologie der Gemeinschaften überhaupt erschien dann erst wie eine nachträgliche Erweite|rung des erst auf das [249] Individuum begrenzten Forschungsbereichs dieser Wissenschaft. In Wahrheit aber trägt jene vermeintliche Individualpsychologie vielmehr höchst generellen Charakter, und erst in sukzessiver Differenzierung ergibt sich dann eine Psychologie der Völkertypen, der sozialen Klassen und Berufe, der Geschlechter usf. bis schließlich zu einer solchen „differentiellen“ Psychologie, die wirklich an das Individuum heranreicht. So wird, ohne dass die objektivistische Richtung der Forschung etwa grundsätzlich verlassen würde, doch reichliches Material herbeigeschafft für eine psychologische Forschung, wie wir sie fordern, die nämlich auf die Subjektivität rein als solche und zuletzt auf das Individuellste des Subjektiven zu richten wäre. Was
„Zwischen Ichts und Nichts“ war eine gebräuchliche Redewendung unter den deutschen Mystikern, u. a. Meister Eckhart. – Anm. d. Hrsg.
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aber von den beschriebenen Forschungen in dieser Umwendung besteht und Wert behält, wird sich offenbar unserem Einteilungsschema zwanglos fügen. Nicht im gleichen Maße gepflegt, aber doch in letzter Zeit eingehender beachtet ist die andere Art der psychologischen Forschung, welche das Schwergewicht nicht auf die unwandelbaren Gesetze und bleibenden Typen des Seelenlebens, sondern gerade auf den Wandel, die Entwicklung, den genetischen Aufbau desselben legt. Zwar verlässt man dabei den allgemeinen Standpunkt der Gesetzesforschung nicht; aber wenigstens sind es Gesetze des Werdens, der Fortschreitung, denen man nachspürt, nicht mehr eines ruhenden, gleichmäßig verharrenden Seins, welches es auf dem ganzen Gebiete psychischen Lebens in der Tat gar nicht gibt. Dadurch aber wird man von selbst genötigt auf die Differenzierungen jeder Art das Hauptgewicht zu legen, da eben alle Entwicklung sich in Differenzierung vollzieht. Zwar ist die Differenzierung selbst nur vom Generellen aus zu Begriff zu bringen, und so kann dieses gewiss nie ganz außer Betracht kommen; aber man sieht in ihm fortan nur die notwendige Voraussetzung der Forschung, nicht ihr wesentliches Ziel. Indessen liegt der eigentliche Kern im Gedanken der Entwicklung nicht in der Differenzierung bloß als solcher, sondern in der stufenmäßigen Erhöhung des Standpunktes des Bewusstseins, die sich einerseits als wachsende Ausbreitung, andererseits, und wohl in beherrschender Weise, als wachsende Konzentration desselben ausdrückt. Mit dieser geht aber freilich die Differenzierung immer Hand in Hand, indem einerseits die wachsende [250] Differenzierung eine um so straffere zentrale | Vereinheitlichung fordert, andererseits mit der wachsenden Vereinheitlichung immer wieder neue Möglichkeiten der Differenzierung sich auftun. Die Differenzierung ist also nicht sowohl Grund als Folge der Erhöhung des Bewusstseinsstandpunkts; oder nur, insofern sie sie fordert, wird sie auch wieder zum Grunde, so aber, dass der teleologische Schwerpunkt nicht in ihr, sondern in der Erhöhung des Bewusstseins liegt. Hierbei nun bedingen sich zugleich gegenseitig die Entwicklung der Individualität und die Entwicklung der Gemeinschaft. Durch Vertiefung der Gemeinschaft vertieft sich zugleich das Bewusstsein der Individualität des Einzelnen, um dann wieder durch seine in gewisser Selbständigkeit fortwirkende Vertiefung zurückzuwirken auf die Vertiefung der Gemeinschaft; eine Wechselwirkung, auf der nicht nur die Idee der sozialen Pädagogik, sondern überhaupt das teleologische Grundgesetz der Geschichte beruht. Es fragt sich nun für uns: ob denn alle diese, die genetische Grundrichtung innehaltenden Untersuchungen der Psychologie sich in gleicher Weise, wie die mehr ontisch gerichteten, unseren allgemeinen Gesichtspunkten fügen. Die Frage ist ohne Weiteres zu bejahen; allerdings mit dem gleichen Vorbehalt, der auch bezüglich der ontisch gerichteten Untersuchung nötig war; dass nämlich die Umwendung
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im Sinne der reinen Subjektivierung erst zu fordern ist. Übrigens liegen für diese Umwendung die Voraussetzungen hier noch günstiger als dort; denn die genetische Betrachtung des Bewusstseins liegt offenbar der Methode der Subjektivierung von Anfang an näher als die ontische; der Aufstieg sowohl in der reinen Inhaltsbetrachtung, von Empfindung zu Vorstellung zu Begriff zu Idee, wie in der Ichbetrachtung, von der engsten Einschränkung des Individualbewusstseins zu höheren und höheren Formen der Gemeinschaft, lässt sich schon kaum anders als in zugleich genetischer Wendung des Ausdrucks beschreiben. §10. Psychologische Betrachtung nicht als solche zeitlich. Eines indessen bedarf hierbei noch einer besonderen Erwägung, die auch schon an früherer Stelle hätte angestellt werden können, aber wohl hier am Passendsten sich einfügt und klärend sein kann. Auch die genetische Psychologie bisherigen Zuschnitts bleibt der objektivistischen Richtung treu; sie betrachtet die Entwicklung des Bewusstseins, wie wenn das gar nicht anders sein könnte, unter dem Gesichtspunkte der Verursachung, allenfalls daneben auch des Zwecksbezugs, jedenfalls | aber, auch wenn von Kausal- und Zweckzusam- [251] menhang gleicherweise abgesehen werden soll, in Hinsicht der Zeitordnung. Unsere Disposition aber und unsere ganze Beschreibung der Aufgabe der Psychologie sieht von der Zeitordnung grundsätzlich ab. Sie kann eben damit leicht scheinen den ontischen Standpunkt in äußerster Schärfe zu behaupten, die Genesis geradezu auszuschließen. Denn was wäre eine Genesis ohne die Grundlage der Zeit? Oder wie vermag unsere „rekonstruktive“ Psychologie etwa dennoch auch dem Gesichtspunkte der Genese gerecht zu werden? Die Frage der Zeitbeziehung des Psychischen scheint aber auch aus anderen Rücksichten einer besonderen Untersuchung noch bedürftig. Namentlich liegt hier eine der auffallendsten Differenzen unserer Auffassung der Psychologie gegenüber der Kants, der in diesem Punkte der bisher fast allgemein herrschenden Ansicht bedeutend näher steht als wir. Für ihn war die Zeit, als „Form des innern Sinnes“, offenbar die Grundvoraussetzung psychologischer Betrachtung. Lockes Erkenntnispsychologie, zu der Kants transzendentale Methode sich in Gegensatz stellt, wird von ihm wesentlich aufgefasst als genetische Psychologie, als Beschreibung des zeitlichen Hergangs der Erkenntnisentwicklung; als solche aber lässt Kant sie durchaus gelten, nur mit dem Beding, dass sie von seiner transzendentalen Kritik streng geschieden und ihr logisch nachgeordnet bleibe, nicht aber sie beherrschen und bestimmen wolle. So stellt Kant schon im ersten Satze seiner „Kritik“12 bestimmt auseinander die beiden Fragen nach dem zeitlichen Anfang und nach dem rein sachlichen, somit überzeitlich gemeinten Ursprung
12
Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 1. – Anm. d. Hrsg.
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der Erkenntnis. Wo daher Kant in seinem, dem transzendentalen Sinne, von „Ursprung“ der Erkenntnis, von „Erzeugung“, von „Spontaneität“, von „Handlungen“, von „Funktionen“ spricht, hat man nicht zeitliche Vorgänge zu verstehen, sondern es muss sich dabei wohl um eine rein logische Genesis handeln, die von Zeitordnung jedenfalls unmittelbar nichts in sich schließt. Die durchgeführte Konsequenz eben dieser gründlichen Scheidung aber des logischen vom psychologischen Gesichtspunkt wäre offenbar, dass die Zeitordnung selbst aus den logischen, an sich zeitlosen Beziehungen des reinen Denkens, in denen überhaupt die Gesetzlichkeit der Erkenntnis nur wurzeln kann, erst im transzendentalen Sinne „entspringend“ gedacht würde. Dann aber kann man schon gar nicht mehr die zeitliche [252] neben der überzeitlichen | (transzendentalen) Betrachtung als gleichwertiges Gegenstück einhergehend denken, sondern wird sie ihr gänzlich unterordnen müssen und allenfalls nur als eine Seite an ihr ansehen dürfen. Meine Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode blieb in dieser Frage noch bei einer schließlich unhaltbaren Mittelstellung stehen. Sie suchte von der Kantischen Position noch so viel zu halten, dass die Zeitordnung, als Urform der Verbindung im Bewusstsein, wenigstens gleich beim Eintritt in die Psychologie eingeführt werden und fortan für alle psychologische Erwägung selbstverständliche Voraussetzung sein sollte. Damit hing es auch zusammen, dass die Rekonstruktion des Unmittelbaren im Bewusstsein einseitig als Rekonstruktion des Augenblickserlebnisses verstanden wurde (vgl. oben Kap. IV, 2). Aber „unmittelbar“ und „Erlebnis“ ist durchaus nicht weniger das zeitlose als das zeitlich bestimmte Bewusstsein. Das erstere muss vielmehr gerade in letzter psychologischer Erwägung als das fundamentalere festgehalten werden. Der Übertritt von der Logik zur Psychologie, von der objektivierenden Betrachtung überhaupt zur subjektivierenden, kann an diesem Grundverhältnis des Zeitlosen und des Zeitlichen durchaus nichts ändern. Nur so führt der doch auch schon in der Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode scharf betonte Satz sich einwandfrei durch: dass ursprünglich (und zwar „ursprünglich“ gerade im psychologischen Sinne) die Zeit im Bewusstsein, nicht das Bewusstsein in der Zeit gegeben sei13. Auch in Kant kann man dies zum wenigsten angedeutet finden. In der leider äußerst knappen Skizze einer „subjektiven“ Begründung der Erkenntnis, die Kant bei Gelegenheit seiner übrigens rein objektiv gemeinten und verständlichen „Deduktion“ der reinen Verstandesbegriffe gibt, entspringt in der Tat die Zeit erst in der „Synthesis der Apprehension“14; diese erscheint in der psychologischen Einkleidung seiner Sätze allerdings selbst fast wie
13
Vgl. Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, S. 102 f. – Anm. d.
Hrsg. 14
Kritik der reinen Vernunft, A 99–100. – Anm. d. Hrsg.
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ein zeitlich voraufgehender, in gewisser Weise selbständiger, psychischer Akt; aber doch hat Kant nicht übersehen können, dass sie von den beiden weiteren Stufen, der „Reproduktion“ und der „Rekognition“, wirklich nicht trennbar, sondern im Vollerlebnis des Erkenntnisbewusstseins notwendig in sie eingeschlossen ist. Das sind nun aber genau dieselben drei Stufen, die wir oben als Empfindung, Vorstellung und Begriff unterschieden haben. In dieser Stufenordnung geht die Zeit wie der Raum aus den zeit- wie raumfreien Abhängigkeitsbeziehungen des Logischen überhaupt erst | [253] hervor, indem nämlich die Bezugspunkte für diese Beziehungen sich dem Bewusstsein erst auseinanderlegen und nur dann auch wieder verbinden, um im übergreifenden, zeitlosen Bewusstsein der „Rekognition“ (die den „Begriff“ und damit den „Gegenstand“ in subjektiver Richtung bezeichnet) erst ihre letzte Vereinigung zu erreichen. So wird durch die „Form“, indem sie als Formung, als Eroberung der Form sich rekonstruiert, erst die zu formende „Materie“ zu Begriff gebracht, nämlich als Potenz zu jener. Ganz ausgeschlossen ist es dagegen, sie unabhängig zu definieren oder zeitlich zu disponieren. Zu dieser zeitlichen Disposition müsste eben die Zeit selbst schon zugrunde liegen; woher aber könnte man sie hier nehmen? Ist sie doch vielmehr selbst erst ab ovo zu erzeugen! Wäre sie etwa zu erzeugen, indem man den Zeitzusammenhang aufbaute aus absoluten isolierten Zeitpunkten, etwa wie der Eleate Zeno es – fingiert15, aber eben bloß fingiert, nämlich um die Unmöglichkeit der Sache gleichsam durchs Experiment zu beweisen? Also vielmehr das Kontinuum muss, hier wie überhaupt, zugrunde liegen; es muss, als Kontinuität der Zeitpunkte selbst, der Diskretion, die sie als Punkte erst erzeugt, logisch vorausliegen. Folglich kann es selbst nur überzeitlich gedacht werden. §11. Die zeitliche Disposition der Erlebnisse sekundäres Problem. Der verführende Schein der genetischen Betrachtung als zeitlicher hat in der Tat seinen Grund einzig in der objektivistischen Richtung der bisherigen Psychologie, welche radikal zu überwinden unser Hauptbestreben bisher immer war und auf Schritt und Tritt bleiben muss. Freilich, sobald das Bewusstseinsleben dem Naturlauf sich einordnen, sobald seine wissenschaftliche Betrachtung der Biologie sich nicht bloß anschließen, sondern unterordnen soll, kann die Zeit nur einfach, als längst voraus gegeben (oder heiße es auch: konstituiert), zugrundegelegt werden. Aber das ist nur die Folge des objektivistischen Standpunkts, der, wenn irgendwo, dann in der Psychologie rechtlos ist; soll sie doch, im Gegensatz zu aller Objektsbeziehung, die Subjektivität rein als solche zum Problem haben.
15
Vgl. Fragment 27 seiner Lehre (Diels/Kranz). – Anm. d. Hrsg.
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In dieser Tendenz aber ist nun vor allem zu beachten, was Kant nur gelegentlich angemerkt, aber nicht weiter in seine Konsequenzen entwickelt hat: dass in demselben Augenblick, wo man die Zeit einführt, auch den Raum einzuführen notwendig würde. Zwar hat in dieser Hinsicht gerade Kant [254] irreleitend gewirkt, indem er durch seine Lehre vom | „inneren Sinn“ die Meinung von einem Psychischen, das auf die Zeit, aber nicht auf den Raum bezogen sei, Vorschub getan hat. Aber man hätte vielmehr an die „Allgemeine Anmerkung“ zu den Grundsätzen sich halten sollen, welche in aller Klarheit die Untrennbarkeit der Zeitbeziehung von der Raumbeziehung ausspricht und damit die „Schranken der Möglichkeit“ einer „Selbsterkenntnis aus dem bloßen inneren Bewusstsein und der Bestimmung unserer Natur ohne Beihilfe äußerer empirischer Anschauungen“ – man hätte denken sollen, für immer – festsetzt16. Die Zeit behält dabei übrigens ihre volle Bedeutung für die Auseinanderlegung des Psychischen, die die Voraussetzung ist auch für eine reine Darstellung seiner Zusammenhänge. Sie bleibt also immer fundamental genug; nur keinesfalls fundamentaler als eben der Zusammenhang. Sie ist nicht sowohl die „Urform“ der Verbindung, als vielmehr ihre Gegenseite, keinesfalls logisch ihr vorauszusetzen. Somit ist sie, gerade psychologisch betrachtet, keineswegs ursprünglicher als der Raum, überhaupt im Apparate des Bewusstseins in keiner Hinsicht anders gestellt als dieser. So wenig also wie das Bewusstsein ursprünglich in den Raum einzuordnen ist, so wenig ist es ursprünglich einzustellen in die Zeit; sondern die zeitliche wie die räumliche Einordnung hat erst da ihre Stelle, wo es sich um die Kausalordnung des Geschehens, das heißt um den physiologischen Unterbau des Bewusstseins handelt. Rein psychologisch ist nicht die Darstellung des Bewusstseins im zeitlichen Verlauf, sondern seine Darstellung als Erweiterung und Differenzierung 1. des Bewusstseinsinhalts, 2. des Bewusstseinsumfangs, das heißt der Ausdehnung des Ichbezugs. Die ganze zeitliche Disposition der Erlebnisse findet erst unterhalb dieser in sich nichtzeitlichen „Entwicklung“ des Bewusstseins ihre Stelle. Also soll der Aufbau des Bewusstseins in der Psychologie allerdings genetisch sein, aber diese Genese ist, wie in der Logik und Mathematik, mindestens primär als rein inhaltliche Entwicklung von Beziehungen in Beziehungen unter Beziehungen usf., nicht aber, oder erst folgeweise, als zeitliche Entwicklung zu verstehen. Denn, wie alle Sonderung im Bewusstsein, ist auch die zeitliche Sonderung nur als Abstraktion zu denken, die gerade in der letzten, streng konkreten Betrachtung des Bewusstseinslebens sich wieder aufheben muss.
16
Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 288–294, insbes. 291f. – Anm. d. Hrsg.
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§ 12. Günstiger Schein der zeitlich-genetischen Betrachtungs|weise. Begreif- [255] lich allerdings ist das Aufkommen der Meinung von der absoluten Ursprünglichkeit der Zeitform für die psychologische Betrachtung. Nach rohem Vergleich liegt der Schein darin, dass man meint die Buchstaben oder Laute des Bewusstseins früher kennen zu müssen und in ihrer Isolierung leichter auffassen zu können als die Silben und Wörter. Zwar wird man bei einigem Besinnen wohl einräumen müssen, dass in gewisser Weise die Silben, die Wörter, die Sätze sogar in ihrer vielfältigen Zusammensetzung uns, den Redenden und Hörenden, früher bekannt sind als die Buchstaben. Aber an sich, wird man sagen, liegen doch diese zugrunde; und wenigstens die Grammatik des Bewusstseins habe mit ihnen, oder richtiger: den Einzellauten, zu beginnen. Als solche denkt man sich die „Empfindungen“; alle ihre Zusammensetzung aber scheint dann, gleich der der Laute zu den Silben, Wörtern und Sätzen der Sprache, nach der Ordnung der Zeit geschehen zu müssen, ja überhaupt zeitlich hinterher zu kommen. Allein sobald man nun daran geht, diese angeblichen Einzellaute auch nur in ihrer Identität zu fixieren (dass sie sich nicht definieren lassen, gibt ja jeder zu), so erweist sich ihre beabsichtigte reine Aussonderung alsbald untunlich. Fixierbar wird die Empfindung immer nur durch Diskretion innerhalb eines Kontinuums; dieses also geht sachlich vorher, und nicht die isolierte Einzelempfindung, die überhaupt, näher zugesehen, eine bloße Fiktion, nichts im psychischen Leben selbständig Bestehendes oder Bestandfähiges ist. Erst in und mit der Diskretion aber, die den Begriff der Empfindung überhaupt erst gibt, entspringt die Zeitunterscheidung. Und in ihr liegt wiederum das Kontinuum zugrunde, und kann nicht aus diskreten Punkten sich erst aufbauen. Das Bewusstsein des Zeitunterschieds entdeckt damit sich selbst als – überzeitliches Bewusstsein. Nur nachträglich erscheint das Erlebnis der Zeitordnung vielmehr als Zeitordnung der Erlebnisse. Das Verführende dieses Scheins aber liegt offenbar darin, dass so das Bewusstsein als Tätigkeit, als Energie sich darstellt. Die auf dies Moment der Aktion gerichtete Betrachtung scheint methodisch wertvoller als die abstrakte Inhaltsanalyse. Man glaubt der konkreten Lebendigkeit des Psychischen näher zu kommen, wenn man auf die gestaltenden Prozesse und nicht bloß auf die aus diesen resultierenden fertigen Gestaltungen die Untersuchung richtet. Überall ja gilt es in den Wissenschaften vom fertigen | Erzeugnis auf den Prozess der Erzeugung [256] zurückzugehen. So strebt Naturwissenschaft überall die ruhenden „Formen“, die dem oberflächlichen Blick als Erstes, unwandelbar Festes sich darboten, in lebendigen Prozess, in Handlung umzusetzen; die bloße Analyse der fertigen Gebilde hat dann höchstens noch den Wert einer Vorarbeit zur Erforschung des Werdeprozesses. Die ruhende Form ist überhaupt nur Fiktion, allenfalls Abstraktion, während wirklich alles im Fluss der Veränderung begriffen bleibt, in dem zuletzt nichts beharrt als das Gesetz der Veränderung.
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Zehntes Kapitel
Darum gilt Bewegung als das Grundphänomen der Natur, Energie als Hauptinstrument ihrer Erklärung. Sollte nun an dieser Lebendigkeit und Regsamkeit des Geschehens etwa das Bewusstsein allein keinen Anteil haben? Ist nicht vielmehr ihm zu allererst und zu allermeist solche ewige Regsamkeit zuzutrauen? Kann doch auch alles Leben und Regen der Natur sich uns nur darstellen im Leben und Regen des Bewusstseins, da wir anders von keiner Natur wissen als in dem Bewusstsein, welches wir von ihr haben! So scheint denn nichts gerechtfertigter, nichts wissenschaftlicher, als dass man auch hier in den scheinbar starren Formen, den fertigen Gestaltungen des Bewusstseins nichts als willkürliche Abstraktionen sieht, die in Handlung und Entwicklung, in kontinuierlichen Prozess, in Energie umzusetzen die eigentliche Aufgabe sei. Davon war schon Aristoteles durchdrungen, dass Leben Energie bedeute. Und nur entschiedener noch verfolgt die gleiche Richtung unter den neueren Psychologen der einflussreichste, Herbart, welcher die nur noch viel zu starr gebliebenen Aristotelischen „Vermögen“ erst durchweg in Prozesse aufzulösen bemüht ist17. Gerade damit schien Aristoteles an Konsequenz zwar überboten, gerade die Grundrichtung seines psychologischen Forschens aber erst recht zur Geltung gebracht. Die Vorstellung des Bewusstseins als Energie, als lebendigen Prozesses, hat kaum ein zweiter so entschieden wie Herbart als das Palladium der Psychologie behauptet; und wohl durch nichts hat er so stark auf die Folgezeit, weit über die Grenzen seiner unmittelbaren Gefolgschaft hinaus, gewirkt, wie eben hierdurch. §13. Grundfehler in der Annahme psychischer Kräfte. Und wie ließe sich wohl die hohe Berechtigung dieser Auffassung verkennen? Sicherlich bedeutet Bewusstsein Leben, also Bewegung; Entwicklung und nicht Stillstand. Aber es ist doch wohl nicht der richtige Weg, das eigentümliche [257] Leben des Bewusstseins zur Darstellung zu bringen, wenn | man es unternimmt, die Vorgänge des Bewusstseins, parallel den Naturvorgängen und in einer immer rätselhaft bleibenden Verknüpfung mit diesen, in die Zeit, als sei diese irgendwie unabhängig vom Bewusstsein voraus gegeben, hineinzuordnen. Damit verkennt man ganz die Ursprünglichkeit des Bewusstseins. Man macht ja so aus dem Bewusstsein eine besondere Erscheinungsart, neben einer andern, der physischen, während es doch vielmehr der Allgemeinausdruck des Erscheinens überhaupt, welcher Art auch immer, sein sollte. Man vollzieht mit solcher Einordnung eine ganz unhaltbare Verobjektivierung der Subjektivität selbst, die dann sofort die Konsequenz nach sich zieht, dass man erstens den Bewusstseinsvorgängen
17 „Vorstellung“ ist bei Herbart der Grundbegriff zur Bezeichnung des Psychischen, vgl. Psychologie als Wissenschaft. – Anm. d. Hrsg.
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ein eigenes Subjekt, und zweitens diesem Subjekt einen eigenen Anteil an der Verursachung des Geschehens zuweisen muss. So werden für Herbart die „Vorstellungen“ selbst zu einer Art Substanzen, die gegen einander Aktionen ausüben; während andere Psychologen, im Grunde nur unklarer, von Aktionen des Gesamt-Ich reden. Heißt das das Leben des Bewusstseins in seiner Unmittelbarkeit darstellen? Von dem allen ließe sich (wie in der Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode ausführlicher gezeigt worden ist18) sogar dann nichts als tatsächlich gegeben behaupten, wenn der Zeitverlauf des Bewusstseins als tatsächlich gegeben zweifellos vorläge. Aber auch diese, dort von mir noch bedingungsweise zugelassene Voraussetzung ist ja, wie sich gezeigt hat, wenn überhaupt zulässig, doch keinesfalls letztgültig. Sie bedeutet schon eine Objektivierung des Psychischen, und keineswegs seine unmittelbare, adäquate Darstellung; sie bedeutet schon ein Heraustreten aus der allseitigen Wechseldurchdringung, die eigentlich das „Leben“ des Bewusstseins ausmacht und definiert. Wird auch die jedenfalls ungerechtfertigte Voraussetzung beharrender Einzelinhalte, der Herbart’schen „Vorstellungen“ oder irgendwelcher diesen vergleichbarer psychischer Elemente, ganz aufgegeben; wird z.B. die Tatsache der Reproduktion nicht als Wiederkehr numerisch derselben, sondern bloß als Auftreten inhaltlich gleicher Erlebnismomente interpretiert, grundsätzlich also jeder Inhalt eines neuen Bewusstseinsauftritts als neuer Inhalt anerkannt, der einem früheren seiner Beschaffenheit nach nur mehr oder weniger gleiche und durch das Band der Erinnerung mit ihm verknüpft sei, so bleibt es immer noch unrichtig, die Zeitordnung als voraus gegeben und zugrundeliegend, und nicht, | eben durch den Akt der Erinnerung, [258] allemal erst neu entstehend anzusetzen. Eine den Inhalt im Bewusstsein festhaltende Kraft, oder eine Kraft des Inhalts selbst, sich im Bewusstsein zu behaupten, ist in keinem Falle tatsächlich gegeben, sondern diese ganze gleichsam personale Identität der Einzelinhalte des Bewusstseins, wie dann weiter auch der höheren und höheren Komplexionen von solchen, ist rein der Theorie zuliebe erdichtet. Das Bleiben und Wiederkehren „desselben“ Inhalts ist, wenn nicht etwa „derselbe“ bloß besagen will „ein gleicher“, nicht gegeben, sondern gratis angenommen; eine nicht nur nicht notwendige, sondern in letzter Erwägung nicht einmal verständliche Annahme. Auch war wenigstens Herbart ein viel zu guter psychologischer Beobachter, als dass er diese gleichsam personale Identität, die er seinen „Vorstellungen“ andichtete, als gegebenen Tatbestand im Bewusstsein vorzufinden geglaubt hätte, sondern sie war ihm aufs bestimmteste als rein theoretische Supposition bewusst. Also ist sie gewiss nichts weniger als eine adäquate Wiedergabe
18
Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, S. 37 ff.
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des im Bewusstsein Vorfindbaren. Nicht anders aber verhält es sich, wenn man die Einzelinhalte oder deren Komplexionen ihre Kräfte aus einem gemeinsamen Kraftfonds des Bewusstseins erst beziehen lässt; wenn man das Ganze der psychischen Prozesse zu erklären unternimmt nach der Analogie der Erhaltung der Gesamtenergie in einem (mechanischen oder sonstigen) System. Was solche Annahmen als Theorie etwa zu leisten vermöchten, ist hier gar nicht erst zu fragen nötig, da uns längst feststeht, dass es eine psychologische Theorie solcher Art überhaupt nicht geben kann; da von Anfang an keinerlei psychische Ursachen oder Kräfte, sei es gegeben, oder als theoretische Supposition zulässig sind. Allenfalls könnten solche Annahmen, wiefern und in welcher Gestalt immer sie sich durchführen lassen möchten, bloße Verkleidungen sein für eine rein naturalistische, für eine biologische Auffassung nicht sowohl der Bewusstseinsprozesse, als der zu ihnen in gesetzmäßigen Beziehungen stehenden Veränderungen des Nervensystems. Dieser biologischen Betrachtungsart soll gewiss ihr voller Wert verbleiben, nämlich eben als Naturwissenschaft, nicht aber als Psychologie. Für diese bedeutet jede solche Behandlungsweise der Bewusstseinsprobleme eine vollständige Abirrung von ihrer Aufgabe, eine prinzipiell abzulehnende Verobjektivierung des Subjektiven, durch welche dieses seinem ganzen Begriff nach vielmehr zunichte gemacht als, wie man wollte und vermeinte, [259] erklärt wird. | §14. Der gleiche Fehler in der Annahme psychischer „Vorgänge“. Diese unzulässige Verobjektivierung beginnt aber, wie wir behaupten, nicht erst mit der Einführung psychischer Kräfte oder Energien, sondern schon mit der Auffassung irgend einer bestimmten Sukzession von Inhaltselementen als eines psychischen Vorgangs. Und zwar liegt der radikale Fehler nicht sowohl in der stets mehr oder minder willkürlichen Abgrenzung solcher Einheiten, als vielmehr schon in der Annahme einer Sukzession von Inhalten überhaupt. Nicht der Inhalt des Bewusstseins ist in der Zeit zu ordnen, sondern im Bewusstsein erst entspringt, für das Bewusstsein selbst, die Zeit, zugleich mit der Disposition des Inhalts. Wie sollte wohl die Einheit des „Mannigfaltigen“ im Bewusstsein aus der Diskretion der Bewusstseinsmomente nachträglich hervorgehen? Oder sollte sie von außen erst hinzukommen? Gibt es denn überhaupt ein solches Außen? Würde das Grundphänomen der Erinnerung etwa dadurch verständlicher, dass der jetzt in der Erinnerung wiedererlebte Vorgang die bloße gleichartige Wiederholung, ja Wiederkehr eines früher erlebten sei? Wäre diese Selbständigkeit der Existenz, diese Subsistenzfähigkeit des zu verschiedenen Zeiten allemal in einem faktischen „Vorgang“ des Bewusstseins auftretenden, übrigens gleichen Inhalts überhaupt eine zulässige oder auch nur klar verständliche Annahme; wäre nicht auch schon sie eine ungerechtfertigte, ja verworrene Verobjektivierung des Subjektiven: so wäre damit immer noch nicht erklärt, weshalb der an sich
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mit einem früheren nicht bloß inhaltsgleiche, sondern, wenn man will, sogar „identische“ Vorgang auch uns als mit jenem identisch bewusst ist. Also muss wohl vielmehr die Kontinuität des Bewusstseins von Haus aus zugrundeliegen. Gerade die Eigenheit des Zeitbewusstseins besteht ja darin, dass eine Mehrheit durch die Zeit unterscheidbarer Momente des Bewusstseins dennoch in einem übergreifenden Bewusstsein (eben des vom einen zum andern hinüberreichenden zeitlichen Zusammenhanges) vereinigt ist. Was als vergangen bewusst, muss doch, um bewusst zu sein, diesem Bewusstsein selbst gegenwärtig sein. Es liegt, indem es bewusst ist, doch sicher nicht diesem Bewusstsein selbst in der Zeit voraus. Das ist freilich, wenn man so will, ein Wunder; aber dieses selbe Wunder liegt auch in jeder bewussten Unterscheidung: um A und B von einander zu unterscheiden, muss ich doch ein Bewusstsein ihrer beider, als von einander unterschieden, mithin beide, trotz ihrer Verschiedenheit, | doch in einem identischen Bewusstsein [260] zusammen haben. Wie das nun zugehe, dass verschiedenes Bewusstsein dennoch eines, eines dennoch verschiedenes sei, das ist freilich nicht weiter zu „erklären“; es ist eben das „Wunder“, das heißt, es ist die mit nichts anderem vergleichliche, auf nichts anderes reduzierbare Eigentümlichkeit des Bewusstseins. Alle versuchte Erklärung verläuft hier notwendig in einem fehlerhaften Zirkel, da, was man auch zur Erklärung herbeiholen mag, notwendig immer ein Moment des Bewusstseins sein, also eben dieses Wunder der „Einheit des Mannigfaltigen“ wiederum einschließen, das heißt aber: das zu Erklärende selbst voraussetzen wird. §15. Zurückführung der zeitlichen Auseinanderlegung auf die ursprüngliche Kontinuität des Bewusstseins. Ergebnis für die Disposition der Psychologie. Was bei der Betonung des Aktcharakters des Psychischen Richtiges vorschwebte, ist aber gerade die durchgängige Kontinuität und Wechselbezüglichkeit des Bewusstseins. Die Objektivierung tötet, bringt zur Erstarrung; das Leben soll dann künstlich wieder zurückgeführt werden; so verfiel man auf die Akte, die aber nun dem in sich toten, objektiv konstruierten Nacheinander bloß äußerlich hinzugefügt, nur künstlich untergelegt, ihm die geraubte Lebendigkeit unmöglich wieder zuführen können. Man fühlt, dass man der Forderung des Werdens, der Genesis nicht gerecht geworden ist, und vermeint sie nachträglich zu befriedigen, indem man das Bewusstsein selbst in zeitlicher Entwicklung vorführt. Aber in der zeitlichen Disposition, solange sie objektiv verstanden wird, geht der echte Aktcharakter des Bewusstseins gerade verloren; man behält nur das Getane, das „Actum“, während man das Tun selbst, die wahre „Energie“ (das ν £ργíω εÃναι, „im Werk sein“19) sich
19 Natorp spielt auf die mutmaßliche Etymologie von ν¢ργεια an: wörtlich „im Werk sein“ – Anm. d. Hrsg.
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Zehntes Kapitel
entgehen lässt. Man hat in Wahrheit den Bewusstseinsbestand voraus fertig, und fügt ihn in den ebenfalls voraus fertigen Zeitrahmen nur nachträglich ein. Alles Fertige aber ist tot. Die echte „Energie“, das echte Leben der Psyche kann nur im überzeitlichen Zusammenhang liegen, während die zeitliche Einordnung den Zusammenhang zwar nicht zunichte macht (ihn wirklich zu vernichten ist gottlob unmöglich), aber wenigstens verflacht und veräußerlicht. Das Sichobjektivieren ist der „Akt“; aber gerade dieser kommt in der Psychologie des geschilderten Typus nirgends zutage, weil man das Psychische von vornherein als ein Objektives zu haben und es dann nur in die Zeit, als ein wiederum objektiv Vorhandenes, Gegebenes, [261] Fertiges, nachträg|lich einordnen zu müssen glaubt. Vielmehr müsste, mit allem andern, was zum Bewusstsein gehört, auch die Zeitordnung selbst aufgezeigt werden als erst hervorgehend, nie fertig und feststehend, sondern stets werdend, „entwerdend“ und wieder neu werdend. Dies Werden der Zeit gehört selbst zum Prozesse der Objektivierung, den es, eben als Prozess, zu beschreiben gilt. Um so weniger dürfte dieser ganze Prozess als zeitlicher beschrieben werden. Der Aktcharakter drückt sich besonders im Streben aus; daher auch der Aktstandpunkt der Psychologie eigentlich immer mehr oder minder deutlich teleologische Färbung annimmt. Gerade das Streben aber weist besonders ersichtlich auf die ursprüngliche Kontinuität des Bewusstseins zurück. In ihm ist die zeitliche Auseinandersetzung überwunden; erst die vorstellungsmäßige Repräsentation des Strebens führt sie wieder zurück; denn vorstellungsmäßig freilich lässt das Streben selbst sich nur repräsentieren als von Seiendem auf Nichtseiendes, von Nichtseiendem auf Seiendes gehend; welche beiden Bezugspunkte dann, eben als Seinspunkte, durch die Zeit auseinandergehalten werden zu müssen scheinen. Aber im Streben selbst ist gerade ein ursprüngliches Einssein von Sein und Nichtsein zu denken, welches als solches nicht zeitlich fassbar ist. Also greift das Streben seinem eigensten Begriff nach, in seinem schärfsten Unterschied vom bloßen Vorstellen (dem die Zeitordnung ausschließlich angehört) über die Zeit hinaus und hinüber. Streben heißt Richtung, eine Richtung aber lässt sich niemals auf Punkte festlegen, sondern sie geht ursprünglich stets aus dem Unendlichen ins Unendliche, und vielmehr der endliche Bezug ist für sie sekundär. So wird es verständlich, warum Herbart, da er, als Konzeptualist, das Streben nur vorstellungsmäßig zu repräsentieren, nicht in seiner reinen Eigenheit zu fassen weiß, es nur, als Akt, an die Vorstellungen selbst (die er auch deswegen zu etwas wie selbständigen Wesen machen muss) zu heften vermag. Das ist derselbe Fehler, wie wenn die Geometrie die Richtungen von den Punkten abhängen ließe, während doch ein Punkt in Beziehung zu einem andern nur gedacht werden kann, indem der Gedanke vom einen zum andern hin die Richtung nimmt. Der Punkt liegt, von irgend einem andern Punkte aus, in der und der Richtung, aber nicht
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die Richtung in den Punkten. Richtung aber ist, selbst rein mathematisch angesehen, unendlich und nur Punktbestimmung endlich; dies Unendliche liegt, als Bestimmungsmöglichkeit, Richtung | auf Bestimmung, zugrunde [262] aller endlichen Bestimmung, nicht umgekehrt. Folglich ist das Streben übergreifend, und erst die nur durch Abstraktion fixierbaren, nicht in sich fixen Stationen, die im Streben allemal erreicht werden (erreicht nur, um wieder überschritten zu werden), sind die „Vorstellungen“. Vorstellung ist Actum, Streben Actio. So und nur so ist der Aktcharakter des Bewusstseins verständlich und begründet. So aber liegt in ihm gerade die gründlichste Überwindung der zeitlichen Konstruktion des Bewusstseinsverlaufs. In Hinsicht unseres jetzigen Themas aber, der Disposition der Psychologie, ergibt sich aus dieser Betrachtung: dass aus dem Gesichtspunkte der Genesis nicht eine neue Provinz der Psychologie abzugrenzen ist. Was an der genetischen Betrachtung Richtiges ist, ist in unserer ursprünglichen Disposition vollständig mitenthalten und in ihr vertreten; und zwar vertritt die allgemeine Phänomenologie die ontische, die Stufenordnung der Erlebniszusammenhänge die genetische Seite der psychologischen Aufgabe, nach ihrem berichtigten Sinn. Unsere Disposition darf somit, als das Ganze der psychologischen Probleme erschöpfend, dem Systeme der Allgemeinen Psychologie unbedenklich zugrunde gelegt werden.
Elftes Kapitel
Kritische Übersicht über sonstige Theorien: Wundt, Lipps, Husserl, Dilthey §1. Wundts scheinbare Wendung zum Monismus. Nachdem das Ziel dieser Grundlegung erreicht ist, gebührt es sich wohl, Umschau zu halten über die Arbeit anderer Forscher an den hier behandelten Problemen grundsätzlicher Art. Zeigt sich auch wenig unmittelbare, bis zum Grunde zurückreichende Übereinstimmung, darf man auf wirkliche Verständigung nur im seltensten Falle hoffen, so möchte man doch beweisen, dass man den ernsten Sachgründen auch Andersdenkender nach Vermögen gerecht zu werden und von ihnen zu lernen bemüht war. Namentlich aber hat diese kritische Übersicht für uns den Wert, zu zeigen, dass, so sehr die hier vertretene Auffassung von den bisher | herrschenden Anschauungen [263] abweicht, doch nicht wenige und nicht die unbedeutendsten Forscher sich ihr mehr oder minder sichtlich genähert haben, dass also eine Entwicklung in der Richtung ebendieser Auffassung schon seit geraumer Zeit sich unverkennbar angebahnt hat. Einen unumwundenen Dualismus, wie er vor etwa einem halben Jahrhundert noch weithin herrschend war, vertritt unter den lebenden Psychologen mit ernstzunehmender Begründung allenfalls nur Rehmke1; und selbst sein Dualismus ist, wie sich leicht zeigen ließe, kein ganz ungetrübter. Von einer schroff dualistischen Position haben zwar auch die beiden gegenwärtig in Deutschland wohl einflussreichsten Psychologen: Wundt und Lipps ursprünglich ihren Ausgang genommen; aber beide haben dann ihre anfänglichen Thesen einer gründlichen Revision unterzogen und dem Monismus beträchtliche Zugeständnisse gemacht, ohne freilich vom Dualismus wirklich und ganz loszukommen.
1 Johannes Rehmke (1848–1930), Professor für Philosophie in Greifswald und ab 1921 in Marburg – Anm. d. Hrsg.
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Elftes Kapitel
I. Wilhelm Wundt Wundt betrachtet noch in der [Grundzüge der] Physiologischen Psychologie von 1874, ohne Vorbehalt und ohne Andeutung eines möglichen Zweifels, äußere und innere Erfahrung, äußeres und inneres Geschehen als völlig, nach Umfang und Inhalt verschiedene, nur aneinandergrenzende Gebiete. Ihre „Berührungspunkte“ oder die Wege, die vom einen zum anderen führen, hat die Physiologische Psychologie zum Problem, die insofern eigentlich weder Physiologie noch Psychologie ist; nur weil ihre „Ausblicke“ immerhin „vorzugsweise“ nach der psychologischen Seite gerichtet sind, heißt sie Physiologische Psychologie, nicht Psychologische Physiologie. Ganz anders aber äußert sich Wundt im Grundriss der Psychologie (1896), und schon ein Jahr früher in der Abhandlung „Über die Definition der Psychologie“, welcher dann auch die späteren Auflagen der [Grundzüge der] Physiologischen Psychologie2 sowie der Logik3 entsprechen. Im Grundriss der Psychologie erklärt Wundt die Definition der Psychologie als „Wissenschaft der inneren Erfahrung“ deshalb für unzulänglich, weil sie das Missverständnis erwecken könne, als seien innere und äußere Erfahrung dem Gegenstand nach durchaus verschieden, während es doch [264] keine einzige Naturerscheinung gebe, die nicht zugleich, als Vor|stellung, Gegenstand der Psychologie wäre. „Einen inneren Sinn, der als Organ der psychischen Wahrnehmung den äußeren Sinnen als den Organen der Naturerkenntnis gegenübergestellt werden könnte, gibt es demnach überhaupt nicht“4; die Ausdrücke „äußere und innere Erfahrung“ bedeuten „nicht verschiedene Objekte, sondern verschiedene Gesichtspunkte, die wir bei der Auffassung und wissenschaftlichen Bearbeitung der an sich einheitlichen Erfahrung anwenden.“5 Nämlich Naturwissenschaft „betrachtet die Objekte der Erfahrung in ihrer von dem Subjekt unabhängig gedachten Beschaffenheit“6; Psychologie dagegen „untersucht den gesamten Inhalt der Erfahrung in seinen Beziehungen zum Subjekt und in den ihm von diesem unmittelbar beigelegten Eigenschaften.“7 Wundt bezeichnet demgemäß den Standpunkt der Naturwissenschaft als den der mittelbaren – nämlich erst 2 Wilhelm Wundts Grundzüge der physiologischen Psychologie erfuhr mehrere Auflagen, zuletzt die 7. Auflage im Jahr 1923. – Anm. d. Hrsg. 3 Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntniss und der Methoden Wissenschaftlicher Forschung. Erster Band: Erkenntnislehre. Zweiter Band. Methodenlehre, mehrere Auflagen zwischen 1880 und 1921 – Anm. d. Hrsg. 4 Grundriss der Psychologie, S. 1 (§ 1.1). 5 Ebd., S. 3. (§1.2). 6 Ebd. 7 Ebd.
Wundt, Lipps, Husserl, Dilthey
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durch „Abstraktion von dem in jeder wirklichen Erfahrung enthaltenen subjektiven Faktor“ zu gewinnenden – den der Psychologie dagegen, der „diese Abstraktion und alle aus ihr entspringenden Folgen wieder aufhebt“, als den der unmittelbaren Erfahrung8. Hiernach könnte es scheinen, als habe Wundt jetzt, im vollen Gegensatz zu seiner eigenen früheren Aufstellung, sich eine Ansicht zu Eigen gemacht, fast ganz der entsprechend, welche ich in meiner Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode (1888) vertrat, damals in der gewiss begründeten Meinung, damit eine der herrschenden und ganz besonders der Wundts schroff entgegenstehende These aufzustellen. §2. Der Dualismus nicht überwunden. Dass dies indessen ein bloßer Schein ist, zeigt sofort der zweite Paragraph, in welchem die im ersten vorläufig formulierte Ansicht eingehender begründet wird, dabei aber ihren eigentlichen Sinn erst enthüllt. „Die Auffassung der Psychologie als einer Erfahrungswissenschaft, die es nicht mit einem spezifischen Erfahrungsinhalt, sondern mit dem unmittelbaren Inhalt aller Erfahrung zu tun hat, ist neueren Ursprungs,“9 heißt es da. Er sagt nicht, woher sie stamme. In den Philosophischen Studien aber10 bezeichnet er es als eine „notwendige Rückwirkung der neueren kritischen Erkenntnistheorie“ auf die Psychologie, dass man die „ursprüngliche Einheit aller Erfahrung“ betone und daher äußere und innere Erfahrung nicht nach dem Gegenstand, sondern bloß nach der Betrachtungsrichtung unterscheide; zum Belege führt er11 den Satz aus | Lipps Grundtatsachen des Seelenlebens an: „Vorstellungen bilden am [265] Ende das Material der Naturwissenschaft wie der Geisteswissenschaft. Aber Vorstellungen treten für uns in ein doppeltes System von Beziehungen, das der objektiven, vom Subjekt unabhängig gedachten Beziehungen des Vorgestellten unter sich, und das System der Beziehungen, in das die Vorstellungen unserer subjektiven Zustände zu einander und zu dem ganzen seelischen Wesen treten. Mit jenen hat es die äußere, mit diesen die innere Beobachtung zu tun.“12 Dieser letzte Satz ist allerdings nichts weniger als klar: entweder man bleibt bei den Vorstellungen, so wie sie sich in uns vorfinden; dann mag man von Beobachtung reden; oder aber man fasst einerseits die vom Subjekt unabhängigen, andererseits die durch dieses bedingten Beziehungen ins Auge; dann handelt es sich nicht mehr um Beobachtung, sondern um theoretische Erwägung, um Denken: Allem
8
Ebd. Ebd. 10 „Über die Definition der Psychologie“, S. 9. 11 Ebd., S. 10. 12 Ebd. 9
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Anschein nach hat Wundt bei Lipps eine größere Annäherung an den Monismus zu finden geglaubt, als wirklich vorliegt. Das soll weiter unten zur Sprache kommen. Doch zeigt sich alsbald, dass auch Wundt selbst die Einheit der Erfahrung keineswegs in dem bestimmten Sinne versteht, wie meine Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode sie definierte: dass es nämlich „in jeder Hinsicht, numerisch wie inhaltlich, dieselbe Erscheinung“ ist, welche „zugleich in subjektiver, psychologischer Hinsicht als ein Moment des Bewusstseins erwogen, und in objektiv-wissenschaftlicher Betrachtung auf den in ihr erscheinenden Gegenstand bezogen wird“13. sondern die Erfahrung ist ihm zwar „einheitlich“, d.h. in sich zusammenhängend, aber jede Erfahrung enthält gleichwohl als zwei, nur in Wirklichkeit untrennbar verbundene Faktoren: die Erfahrungsobjekte und das erfahrende Subjekt. „Die Naturwissenschaft sucht die Eigenschaften und wechselseitigen Beziehungen der Objekte zu bestimmen; sie abstrahiert daher durchgängig … von dem Subjekt“14; ihre Erkenntnisweise ist daher eine mittelbare, abstrakt begriffliche. Die Psychologie hebt diese Abstraktion wieder auf; sie betrachtet die subjektiven und objektiven Faktoren der unmittelbaren Erfahrung in ihren Wechselbeziehungen; ihre Erkenntnisweise ist daher eine unmittelbare, konkret anschauliche“15. Und noch deutlicher heißt es weiterhin (16): die unmittelbaren Erfahrungsinhalte, welche die Psychologie als die vor ihr Forum gehörigen ansieht, zerfallen in solche, die auf Erfahrungsobjekte, [266] und solche andere, | die auf das erfahrende Subjekt selbst bezogen werden. Die Tatsache dieser Zerlegung gehört selbst der unmittelbaren Erfahrung an; also würde man die Aufgabe der Psychologie zu eng bestimmen, wenn man ihr bloß die subjektive Erfahrung zuweisen wollte. Nur „vorzugsweise“ hat sie die Vorstellungen mit Rücksicht auf ihre Entstehungsweise in Subjekte und nicht „nach ihrer objektiven Beschaffenheit“ zu betrachten. In diesen Bestimmungen wird die „Einheit“ der Erfahrung immer fraglicher. Nicht alles unmittelbar Erfahrene ist objektiv, nicht alles subjektiv zu beziehen, wenn auch die objektiven und subjektiven (genauer: die objektiv und die subjektiv zu beziehenden) Faktoren in der wirklichen Erfahrung nicht getrennt, sondern nur durch Abstraktion von einander zu scheiden sind. Noch besonders schwierig ist, dass die unmittelbare Erfahrung auch die objektiven Erfahrungen, die Vorstellungen sogar „nach ihrer objektiven Beschaffenheit“ einschließen soll. Das Objekt selbst kann wohl nicht darin eingeschlossen sein, denn der Gegenstand ist doch nicht gegeben,
13
Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, §8, vgl. §11 u. ö. „Über die Definition der Psychologie“, S. 11. 15 Ebd., S. 11f. 16 Ebd., S. 23. Natorp paraphrasiert Wundts Ausführung hier sinngemäß. – Anm. d. Hrsg. 14
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sondern erst eine Konstruktion; er ist nach anderen Darlegungen Wundts17 überhaupt außer der Erfahrung, transzendent; der Begriff von ihm ist „im eigentlichsten Sinne metaphysisch“, kann in keiner Erfahrung vorkommen, geht somit die Psychologie nichts an. Daneben heißt es freilich auch hier, dass andererseits „alle Objekte (der Naturwissenschaft) zugleich Vorstellungen des erkennenden Subjekts und nur als solche der unmittelbaren Auffassung desselben zugänglich sind.“ Allein das will vielleicht bloß sagen, dass die Objektsbeziehung, die Objektivierung der Vorstellungen selbst zum unmittelbar Erfahrenen gehöre“18. Für jetzt aber interessiert uns besonders, dass es nach Wundt in der Tat nicht dasselbe ist, was objektiv und was subjektiv zu beziehen ist. So wird19 ganz bestimmt erklärt: das was, als Vorstellung, aufs Objekt, und was andererseits aufs Subjekt bezogen wird, sei zweierlei, obwohl es nicht wirklich getrennt sei, sondern nur zwei verschiedene „Seiten“ an jedem psychischen Erlebnisse darstelle. Nämlich die „Vorstellung“ ist aufs Objekt zu beziehen, während „der mit ihr verbundene sonstige Inhalt der psychischen Erlebnisse“ (Gefühle und Willensregungen) „als ein subjektiver aufgefasst wird“20. Es sind demnach wirklich verschiedene Inhaltsbestandteile, obwohl allemal an einem und demselben „psy|chischen Erlebnis“, welche aufs Objekt und welche aufs [267] Subjekt bezogen werden. §3. Die Methode der Psychologie nicht wesentlich verschieden von der der Naturwissenschaften. Anders wäre es auch nicht zu verstehen, dass die Methode der Psychologie mit der der Naturwissenschaft wesentlich identisch sein soll. Gerade weil äußere und innere Erfahrung nicht verschiedene „Teile“, sondern nur verschiedene „Betrachtungsweisen“ einer und derselben Erfahrung seien, könne die Methode der Psychologie von der der Naturwissenschaft nicht prinzipiell verschieden sein21. Von einer der unsrigen irgend vergleichbaren Grundauffassung aus wäre eine solche Folgerung ganz unverständlich. Ist einerseits das Untersuchungsobjekt, andererseits das Verfahren d.h. die Untersuchungsrichtung für Psychologie
17 Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntniss und der Methoden Wissenschaftlicher Forschung. Erster Band: Erkenntnislehre. Zweiter Band. Methodenlehre. II.1: Allgemeine Methodenlehre; Logik der Mathematik und der Naturwissenschaften. II.2.: Logik der Geisteswissenschaften, II.2, S. 249 [Natorp zitiert ausschließlich aus dem 3. Band, also II.2., hier in der 3. Auflage von 1906 – Anm. d. Hrsg.]. 18 Ebd., S. 264f. 19 Ebd., S. 255, S. 258 u. bes. S. 265. 20 Ebd., S. 265. 21 Grundriss der Psychologie, § 2, 3, S. 11 [Natorp zitiert aus der 3. Auflage von 1898 – Anm. d. Hrsg.].
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und Naturwissenschaft wesentlich identisch, woher sollten überhaupt zwei verschiedene Wissenschaften kommen? Aber das Untersuchungsobjekt ist nach Wundts Auffassung eben nicht dasselbe. Ausdrücklich verwirft er22 die Auffassung, dass Naturwissenschaft die Aufgabe habe, „den Inhalt aller Erfahrung in allgemeingültiger Weise festzustellen“. Also hat in Wahrheit die Naturwissenschaft nur einen Teil der Erfahrung, die Psychologie den übrigbleibenden Teil „in allgemeingültiger Weise festzustellen“, d.h. in gesetzmäßigem Zusammenhang darzustellen. Die Identität des Gegenstandes beider ist nur so zu verstehen, wie man z.B. auch sagen kann, dass Physik und Chemie sich mit denselben Gegenständen beschäftigen und nur nach dem Standpunkte der Betrachtung sich unterscheiden23. So erklärt er auch geradezu24: die Koexistenz des Physischen und Psychischen schließe nicht aus, dass es „ebenso wohl auf physischer Seite Erscheinungen gibt, denen keine psychischen Elemente entsprechen, wie umgekehrt auf psychischer Seite Eigenschaften existieren können, zu denen physische Begleiterscheinungen weder nachzuweisen noch mit irgend einer Wahrscheinlichkeit vorauszusetzen sind“; womit nicht nur die Identität, sondern auch die durchgängige untrennbare Verknüpfung des physisch und des psychisch zu Beziehenden offenbar aufgegeben ist. Es ist denn auch gleich danach25 von „Erfahrungsinhalten“ die Rede, die „nicht auf von uns unabhängige Objekte, sondern nur auf unser eigenes Verhalten gegenüber den Objekten bezogen werden [268] können“. Und so kann es weiter nicht | verwundern, dass die Psychologie einen von der Naturwissenschaft „durchgängig verschiedenen Inhalt“ hat26. §4. Die psychische Kausalität. Aber auch bis soweit kehrt Wundt zum Dualismus zurück, dass nicht einmal der Satz stehen bleibt, nach welchem Psychologie, im Unterschied von Naturwissenschaft, es schlechterdings mit der unmittelbaren Erfahrung zu tun und deren Boden nicht zu verlassen habe. Natürlich: soll das Verfahren der Psychologie von dem der Naturwissenschaft nicht grundsätzlich verschieden sein, so muss es wohl, gleich diesem, auch konstruktiv sein. Es besteht in Beobachtung und Experiment; die nacheinander zu lösenden Aufgaben der Psychologie sind: die Analyse der zusammengesetzten Vorgänge, die Nachweisung der Verbindungen, und die Erforschung der Gesetze, die bei der Entstehung solcher Verbindungen wirksam sind. Mit „Analyse“ und „Verbindung“ brauchte der Boden der „unmittelbaren Erfahrung“ nicht verlassen zu werden. Aber
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Ebd., §2, 10a; S. 20. So ausdrücklich in „Über die Definition der Psychologie“, S. 27. Logik, II.2, S. 254. Ebd., S. 225. Ebd.
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Gesetzeserkenntnis jedenfalls ist theoretische Konstruktion, und ohne Abstraktion, die sich vom unmittelbar Erfahrenen entfernt, nicht möglich. Die anfänglich scheinbar radikale Unterscheidung des Psychischen, als des unmittelbar Erfahrenen, vom mittelbar Erfahrenen wird damit gänzlich hinfällig. Vor allem steht die Einführung einer eigenen psychischen Kausalität in offenem Widerspruch mit der sonst so nachdrücklich eingeschärften Forderung des Verzichts auf jede hypothetische Konstruktion. Psychologie sollte mit der letzten Wirklichkeit des Geschehens zu tun haben. Aber reines Geschehen ist einmal nicht Verursachung; Ursachen sind nie gegeben, das sollte man seit Hume und Kant endlich wissen. Wundt indessen ist, in diesem Stadium seiner Erwägung, auch hierüber anderer Ansicht: in unmittelbarer Erfahrung wird die psychische Kausalität – erlebt! Hier mag man nun lange vergebens streiten. Hume und Kant, fürchte ich, würden mit der beiden eigenen Ironie versichern, dass sie nicht so glücklich gewesen seien, bei sich ein solches Erlebnis zu entdecken; wer will sie – wer will andererseits Wundt widerlegen, wenn er bei sich diese Entdeckung gemacht zu haben behauptet? Da wir kein Mittel haben, die inneren Erlebnisse der so verschieden aussagenden Forscher einer direkten Kontrolle zu unterwerfen, so bleibt uns nichts übrig, als ihnen zu glauben und uns an die Beschreibungen zu halten, die sie von ihren Erlebnissen zu geben versucht haben. Indessen, was uns Wundt als die von ihm unmittelbar erlebte psychische | Kausalität beschreibt27, ist vielleicht sonst etwas, aber [269] sicher nicht Kausalität; jedenfalls nichts von dem, was man sonst unter dieser Benennung verstanden hat. Kausalität nach sonst angenommenem Begriff ist Gesetzlichkeit des zeitlichen Auftretens; in der psychischen Kausalität Wundts spielt die Zeitordnung keine Rolle, zeitlich Fernstes wird als wirkend angenommen auf gleicher Linie mit dem Nächsten. Kausalität verlangt, wie zeitliche, so auch räumliche Kontinuität; Wundts psychische Kausalität emanzipiert sich natürlich auch von dieser Forderung. Kausalität involviert drittens Identität: Erhaltung eines Grundbestandes im Wechsel der Erscheinungen (z. B. Energie); Wundts psychische Kausalität bedeutet bald Gleichbleiben, bald Wachstum, oder auch Abnehmen. Kausalität im Sinne der Naturwissenschaft fordert viertens quantitative Bestimmung der Ursachen wie der Wirkungen; Wundts psychische Kausalität arbeitet ausschließlich mit „qualitativen Wertgrößen“28, d. h. Werten, die bloß mit Rücksicht auf ihre qualitative Beschaffenheit nach Graden abgestuft werden können; wobei für jetzt ununtersucht bleiben mag, ob selbst solche Gradabstufungen möglich wären ohne jede Vermittlung durch
27 Grundriss der Psychologie, V, bes. § 23; und „Ueber psychische Causalität und das Princip des psychophysischen Parallelismus“, S. 1 ff. 28 Vgl. Grundriss der Psychologie, S. 400. – Anm. d. Hrsg.
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quantitative Bestimmungen. Endlich und hauptsächlich: Kausalität hat stets ausnahmslose Gesetzlichkeit bedeuten sollen; Wundts psychische Kausalität ist nicht ausnahmslose Gesetzlichkeit, sondern sie tritt ein oder auch nicht. Kurz, sie erfüllt kein einziges Merkmal der echten Kausalität. Vorschweben mag dabei etwas wie Kants „Idee“ oder „regulatives Prinzip“; jedenfalls fehlt es diesem Begriff an derjenigen logischen Präzision, ohne die sich irgend ein wissenschaftlicher Gebrauch von ihm nicht machen lässt. Im Hintergrund stehen schließlich – metaphysische Voraussetzungen, denen wir bei der Grundlegung empirischer Psychologie kein Stimmrecht verstatten können. Das beste an dieser psychischen Kausalität ist, dass – Wundt selbst in seiner Psychologie von ihr nur sehr wenig Gebrauch macht, vielmehr sich, seinem gesünderen wissenschaftlichen Instinkte folgend, auf „Analyse“ und „Synthese“ größtenteils beschränkt. So bleibt seine wissenschaftliche Arbeit für uns nutzbar, ohne dass wir dadurch in seine Metaphysizismen uns zu [270] verlieren in Gefahr kämen. |
II. Theodor Lipps §5. Lipps’ ursprünglicher Standpunkt. Wundt berief sich auf Lipps, und zwar auf dessen erstes zusammenfassendes Werk, die Grundtatsachen des Seelenlebens (1883) für die These, dass Psychologie und Naturwissenschaft sich nicht nach dem Gegenstande, sondern nur nach dem Standpunkte der Betrachtung unterschieden. Das trifft freilich für Lipps gerade in diesem seinem Erstlingswerke kaum zu; dieses vertritt vielmehr noch einen ganz fraglosen Dualismus: Die Wissenschaften der äußeren und der inneren Erfahrung, Naturwissenschaft und Philosophie (deren Grundwissenschaft die Psychologie ist) sind gänzlich, dem Objekt und der Art des Verfahrens nach, nicht bloß verschiedene, sondern auseinanderfallende, getrennte Wissenschaften. „Eine Scheidewand steht zwischen Physischem und Psychischem, die so beschaffen ist, dass von keinem Standpunkt aus gleichzeitig die Vorgänge auf der einen und die auf der anderen (Seite) gesehen werden können.“29 Wie kann man schroffer das Bekenntnis zum Dualismus formulieren? Eher mag man eine gewisse Annäherung an Wundts Standpunkt finden in der Abhandlung von 1901: „Psychische Vorgänge und psychische Kausalität.“ Da heißt es: „Das ursprünglich Psychische (hernach: Subjektive) sind die Bewusstseinsinhalte als solche, d.h. die Bewusstseinsinhalte, die oder sofern sie als ‚mein‘, als mir zugehörig, als durch mich bedingt von mir unmittelbar erlebt werden“; das ursprünglich Physische dagegen diejenigen Bewusstseinsinhalte, „die und sofern sie als objektiv wirklich, d.h. hinsichtlich
29
Grundtatsachen des Seelenlebens, S. 7.
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ihres Daseins und ihrer Beschaffenheit als nicht durch mich bedingt, als von mir unabhängig, als ‚ohne mich‘, kurz als ‚Nicht-Ich‘, mir unmittelbar sich darstellen. Diese Scheidung des Psychischen und des Physischen ist die ursprüngliche, d.h. sie ist die rein phänomenologische“30; verschieden von ihr ist die reale Scheidung des beiderseits (von der Physik und der Psychologie) theoretisch zu Grunde gelegten, also einerseits physischen, andererseits psychischen Kausalzusammenhanges. Also wie früher: ein doppelter, phänomenaler und realer Dualismus; aber dennoch bildet der „Bewusstseinsinhalt“ beiderseits den Ausgangspunkt, und in dem „sofern“ mag man etwas wie den Wundt’schen Standpunktsunterschied angedeutet finden. Aber gerade auch darin | stimmt Lipps mit Wundt ganz überein, [271] dass es eben nicht bloß diesen Standpunktsunterschied gibt, sondern dass es zuletzt doch verschiedene Bewusstseinsinhalte sind, „die“ und nicht bloß „sofern sie“ aufs Subjekt einerseits, aufs Objekt andererseits, und zwar ursprünglich und unmittelbar, bezogen werden. §6. Schwierigkeit dieses Standpunkts. Wir anderen freilich finden dies schwierig. „Unmittelbar erlebt“, würden wir denken, sind die Bewusstseinsinhalte nur rein in sich, nicht „als“ abhängig von etwas anderem, eben nicht unmittelbar Erlebtem. Die Abhängigkeit kann hier nur Kausalbeziehung besagen; wird denn aber Kausalität unmittelbar erlebt? So müssten wir Lipps wie Wundt fragen. Aber wenigstens Lipps ist doch sonst dieser Meinung nicht. Hier erkennt er wenigstens soviel an, dass ein lückenloser gesetzmäßiger Zusammenhang weder nach der physischen noch nach der psychischen Seite gegeben oder vorfindbar ist; also müsse er ergänzend hinzugedacht, konstruiert werden. „Es steht fest“, sagt er, „und zwar, ich betone dies, unbedingt und für jedermann, dass die Psychologie dieser Ergänzung nicht überhaupt entraten kann“31. Fraglich sei nur – die Frage wird aber nach längerer Untersuchung von Lipps bejahend entschieden – ob die Psychologie auch, wie die Naturwissenschaft, bis dahin fortschreiten müsse, „an die Stelle“ des ihr gegebenen Bewusstseinsinhalts etwas „durchaus Anderes“, eine „in sich gesetzmäßige reale Welt“ zu setzen, „für welche die Bewusstseinsinhalte und ihr (unmittelbarer) Zusammenhang nur Zeichen oder Symptome sind.“32 – Dies alles steht indessen wohl nicht so „unbedingt und für jedermann“ fest. Vielmehr, wenn einmal anerkannt wird, dass der Kausalzusammenhang nicht gegeben, sondern hinzugedacht ist, so ist damit schon gesagt, dass man ihn hinzuzudenken etwa auch unterlassen kann. Freilich die Lipps’sche Psychologie kann dies Hinzudenken nicht unterlassen: weil sie sich von Anfang an die Aufgabe gestellt hat, das 30 31 32
„Psychische Vorgänge und psychische Kausalität“, S. 161. – Anm. d. Hrsg. Ebd., S. 163. Ebd. – Anm. d. Hrsg.
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Gegebene in „lückenlosem Kausalzusammenhang“33 darzustellen. Auch ist nach dem Kausalzusammenhang ganz gewiss zu fragen. Allein da, wie Lipps klarer als Andere sieht, schließlich aller Kausalzusammenhang doch erst herzustellen, „hinzuzudenken“, theoretisch zu konstruieren, mithin allzeit bloß hypothetisch ist: sollte es durchaus zweier grundverschiedener Systeme von Hypothesen, naturwissenschaftlicher und psychologischer, bedürfen, oder genügt nicht am Ende ein einziger? Ist es am Ende – nach Kant – genau [272] die | Kausalität, der seinem Begriff nach notwendig einzige Ursachzusammenhang, welcher die „Natur“ als solche konstituiert? Fordert am Ende, wer Zusammenhang fordert, damit schon notwendig Einheit des Zusammenhanges? Und wenn der Hypothesenbildung, den hinzuzudenkenden Voraussetzungen, der theoretischen Konstruktion ein so weiter Spielraum einmal verstattet wird, wie Lipps ihn für die Psychologie in Anspruch nimmt, sollte es nicht am Ende dann auch möglich sein, den, seinem Begriff, d.h. der hier maßgeblichen Erkenntnisforderung zufolge, notwendig einen Ursachzusammenhang so zu konstruieren, dass alles Gegebene, das „physisch“ wie das „psychisch“ Genannte, dadurch gedeckt wird? Dafür dass es, neben der physischen, völlig getrennt von ihr, einer eigenen psychischen Kausalität bedürfe, gibt Lipps durchaus keinen anderen Grund an, als den: man lege doch tatsächlich den psychisch genannten Bewusstseinsinhalten stets ein eigenes Substrat, die „Seele“, unter; also müsse man folgerecht auch eigene psychische Vorgänge und einen eigenen Kausalzusammenhang unter diesen zugrunde legen. Vielleicht möge einem „draußen stehenden Beobachter“ das, was tatsächlich in uns geschieht, sich unter dem Bilde räumlicher, mechanischer Vorgänge darstellen; vielleicht mögen die psychischen Vorgänge mit den mechanischen Gehirnvorgängen sogar wirklich identisch sein: so sind doch jene für uns nicht diese, „aus dem gleichen Grunde, aus dem das Substrat der Bewusstseinserscheinungen, in welchem sie stattfinden, für uns nicht Gehirn, sondern Psyche oder Seele ist. Der Grund ist einfach der, dass Psychologie – Psychologie ist und nicht Physiologie34. Das heißt: der Grund ist, dass Lipps die Psychologie nun einmal so definiert hat. Wir vermögen aber eben die Notwendigkeit dieser Definition der Psychologie nicht zu erkennen. Fragt man nach kausalem Zusammenhang, so stellt man sich (scheint uns) damit schon auf objektiven Standpunkt, auf den Standpunkt der Einheit der Erfahrung im Kantischen Sinne. Das ist es, was uns nötigt, überall, wo nach Kausalität die Frage ist, den Standpunkt jenes einheitlichen Zusammenhanges, den wir „Natur“ nennen, ohne Vorbehalt und ohne Abstrich einzunehmen und die vollen Konsequenzen daraus zu ziehen.
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Ebd. – Anm. d. Hrsg. Ebd., S. 164f.
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Was Lipps hindert, auf den gleichen Weg zu kommen, ist, wie es scheint, hauptsächlich die Voraussetzung, dass das Psychische als solches aller Raumbeziehung entzogen sei. Gewiss umfasst das Psychische Un|räumliches wie [273] Räumliches, Unzeitliches wie Zeitliches; aber Unräumliches und Unzeitliches sind nie ohne Zurückbeziehung auf Räumlich-Zeitliches. „RäumlichZeitliches“: so sagen wir, weil, wie ebenfalls Kant schon klar gesehen hat, das Räumliche mit dem Zeitlichen und dieses mit jenem in schlechthin unaufheblichem Bezug steht und beide überhaupt nicht dem Material, sondern nur der Beziehung oder Ordnungsweise nach verschieden sind. Lipps selbst findet in dem „Überzeitlichen“ des Bewusstseins kein Hindernis für die Konstruktion eines zeitlich bestimmten Kausalzusammenhanges; weshalb also sollte das Überräumliche im Bewusstsein die Konstruktion eines nicht bloß zeitlichen, sondern zeit-räumlichen Zusammenhanges verhindern? Anders allerdings als hinsichtlich ihres zeit-räumlichen Bezugs kann der zeit-räumliche Kausalzusammenhang die Bewusstseinserscheinungen nicht repräsentieren; darum erschöpft der zeit-räumliche Kausalzusammenhang in der Tat nicht die Aufgabe der Objektivierung des Subjektiven, sondern gibt es noch andere Objektivierungen: die praktische, die ästhetische, schließlich die religiöse. In diesem Sinne lehnen auch wir die Naturalisierung der Psychologie ab, aber nicht als absolut falsch, sondern als nur einseitig richtig; falsch nur, sofern die eine Seite das Ganze sein will. §7. Ankündigung eines veränderten Standpunkts im Leitfaden von 1903. Soweit die Abhandlung von 1901. Lipps hat aber in rastloser Fortarbeit seine Auffassung mehr und mehr vertieft und sie dabei, wie wir glauben, nicht unbeträchtlich einem phänomenologischen Monismus genähert. Schon der Leitfaden der Psychologie in seiner ursprünglichen Fassung (1903) sucht zwar wesentlich den in der Abhandlung von 1901 gewonnenen Standpunkt festzuhalten, aber zeigt doch bereits eine ungleich entschiedenere Wendung zum Unmittelbaren des Bewusstseins. Eben darin erkennen wir die Näherung zum Monismus, die freilich nie bis zur völligen Koinzidenz gelangt. „Die Psychologie“, so beginnt er hier, „ist die Lehre von den Bewusstseinsinhalten oder Bewusstseinserlebnissen als solchen.“ Diese sind, eben als solche, charakterisiert durch das Vorgefundensein, d.h. durch die „mit jedem (erlebten) Inhalt zugleich miterlebte oder mitvorgefundene … Beziehung der Inhalte zu dem Zentralpunkte des Bewusstseinslebens, Ich genannt.“ „Dies Bezogensein auf das Ich eignet allen Bewusstseinsinhalten oder Bewusstseinsphänomenen als solchen; | es ist ein Teilphänomen derselben.“ Dagegen [274] „leistet“ das Bewusstsein nichts, es „funktioniert“ nicht usw. Das „Ich“ ist aber nicht bloß für einen Erlebnismoment, sondern für die verschiedenen Momente eines Erlebniszusammenhanges identisch, und zwar unmittelbar
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als für sie identisch gegeben35. Durch diese Grundbestimmungen ist die Psychologie klar geschieden von der Naturwissenschaft: sie ist die „Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung (Wundt)“36. – Dass sie nach Wundt dies nur sehr bedingter Weise ist, haben wir gesehen; für Lipps aber gilt diese Bestimmung, wie sich schon jetzt zeigt, in ernsterem Sinne. Aber allerdings nur auf einer ersten Stufe der Betrachtung. Weiter nämlich hat die Psychologie allerdings die Aufgabe der Einordnung in einen Kausalzusammenhang, mit dessen Aufstellung sie den Standpunkt der „unmittelbaren Erfahrung“ ja notwendig verlässt. Schärfer als in der Abhandlung von 1901 wird jetzt ausgesprochen, dass in den Bewusstseinserlebnissen, so wie sie unmittelbar vorgefunden werden, schlechterdings keine Kausalbeziehung sich erkennen lässt. Diese ist somit ganz und nur gedankliche Schöpfung. Dies entspricht wieder durchaus unserer Auffassung; es ist die wesentlichste Voraussetzung zur weiteren Klärung der Sachlage – zu der es indessen dennoch hier noch nicht kommt. §8. Die 2. und 3. Auflage des Leitfadens. Vollends verlassen aber sind die alten Grundannahmen in der zweiten Auflage des Leitfadens (1906); wie auch schon in zwei vorausgegangenen Abhandlungen vom Jahre 1905: „Bewusstsein und Gegenstände“; und „Inhalt und Gegenstand; Psychologie und Logik“. Da aber die Formulierungen der zweiten Auflage schon wieder verändert erscheinen in der dritten (1909), so halten wir uns hauptsächlich an diese. Der Kern der neuen Position, die Lipps hier einnimmt, liegt wohl darin, dass die Notwendigkeit des Hinzudenkens des realen Zusammenhanges nicht mehr bloß, als zum Behufe der Erklärung unerlässlich, gefordert, sondern direkt begründet wird, nämlich durch die fundamentale Unterscheidung von „Inhalt“ und „Gegenstand“, die von einer Reihe von Forschern (Brentano, Meinong und deren ganzer Schule, besonders aber Husserl) betont worden war. [275] In allen Erlebnissen wird das erlebende Ich miterlebt. Dieses lässt | sich nicht definieren, nicht durch Vergleich mit etwas anderem beschreiben, noch weniger darauf zurückführen; es ist das absolut Erste und Letzte37: aber man erlebt es eben und zwar als numerisch identisch; identisch (dies wird besonders betont) nicht bloß in jedem momentanen Erlebnis, sondern auch in der Folge der Erlebnisse eines und desselben Ich. Ihm gegenüber steht – einmal der Bewusstseinsinhalt, den ich unmittelbar in meinem Bewusstsein „habe“; dann aber der Gegenstand, den ich nicht habe, sondern
35 Leitfaden der Psychologie (1. Auflage), S. 1–3. [Natorp fasst diese Seiten sinngemäß zusammen – Anm. d. Hrsg.] 36 Ebd., S. 5. 37 Leitfaden der Psychologie, 3. Aufl., S. 6.
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nur „meine“. Der stärkste Unterschied zwischen beiden ist, dass die Inhalte für die verschiedenen Ich mindestens numerisch verschieden, die Welt der Gegenstände dagegen eine ist, unberührt von der Vielheit der Inhalte und der auf diese gerichteten Akte38. Gleichwohl ist die Welt der Gegenstände allen ihren Elementen nach aus der der Inhalte gewoben; nichts ist in der von uns gedachten Außenwelt, das nicht vorher in unseren sinnlichen Bildern von der Welt gewesen wäre. Ursprünglich deckt sich sogar die Welt der Gegenstände mit der Welt der Bilder ihrem ganzen Bestande nach. In der 2. Auflage lautete es noch etwas schärfer: „Dennoch ist der Gegenstand aus dem Inhalt genommen. Er lag also von vornherein darin … so liegen in allen Empfindungs- und sinnlichen Wahrnehmungsinhalten implicite objektive Gegenstände. Sie explizieren sich im Akte des Denkens. Dieser Akt besteht eben in solcher Explikation“39. In diesem Denken greift das Bewusstsein über sich selbst hinaus; insofern ist es nicht bloß Seele, sondern Geist; und so kann der in Rede stehende Sachverhalt auch so ausgedrückt werden: „In dem Empfindungsinhalte, den ich, das seelische Auge, habe, sehe ich, das geistige Auge, d. h. denke ich, den Gegenstand“40. Insoweit ist der Gegenstand auch, obgleich einer völlig anderen Welt angehörig, seinem „Was“ nach zunächst gar nicht von dem Inhalt verschieden; erst im Fortgange der Objektivierung entfernt er sich von ihm weiter und weiter. Und zwar sind die Gesetze des Denkens, da dieses erst die Gegenstände für uns schafft, eben als solche zugleich Gesetze der Gegenstände41. Die Beziehung aber zwischen Inhalt und Gegenstand ist eine „symbolische Beziehung oder Relation“: der Inhalt repräsentiert den Gegenstand; dies Repräsentieren ist nichts anderes als die durchaus eigenartige Relation, in der der Gegenstand zum Inhalt steht. Es kann auch, was jetzt für mich Inhalt ist, im nächsten Augenblick Gegenstand sein; der Unterschied liegt also nicht an | sich in dem, was als Inhalt oder [276] Gegenstand vor mir steht, sondern – in der Funktion des Ich. „Indem das Bewusstsein Gegenstände – nicht in sich hat, sondern sich gegenüber setzt, greift es über das, was in ihm ist, und insofern [!] über sich selbst, hinaus in eine ihm selbst transzendente Welt. Und dies ist seine eigentliche Funktion. Das (Gegenstands-) Bewusstsein ist in seinem eigentlichsten Wesen dies Springen über seinen Schatten“42. Die Schwierigkeit in diesem Sich-SelbstTranszendieren ist in anderem Zusammenhang (Kap. IV, §3) schon von uns berührt worden; hier interessiert uns nur das klare Anerkenntnis, dass die Objektivierung jeder Art – ebenso wie andererseits das „Haben“ des
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Ebd., S. 10. Leitfaden der Psychologie, 2. Aufl., S. 8. Ebd., S. 9. Leitfaden der Psychologie, 3. Aufl., S. 11. Ebd., S. 12.
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Inhalts im Bewusstsein – allein auf dem Unterschied der „Funktion“ des Bewusstseins beruht und, jedenfalls unter psychologischem Aspekt, für es allein besteht43. Das Auftreten der Inhalte in mir und das Gegenübertreten der Gegenstände: dieses beides nach seinem unmittelbar erlebten Zusammenhange – der als solcher kein kausaler Zusammenhang ist – bildet also wenigstens den nächsten Gegenstand der Psychologie; darüber hinaus freilich bleibt ihr nach Lipps dann noch die fernere Aufgabe der Erklärung, d. h. Herstellung eines Kausalzusammenhanges44. Darüber ist oben schon das Notwendige gesagt worden. §9. Kritik. Nach den mitgeteilten Bestimmungen fällt auf das Unmittelbare des Erlebnisses offenbar ein ganz anderes Gewicht als nach den früheren Fassungen. In der Ausführung der Lipps’schen Psychologie überwiegt freilich immer noch weit die „Erklärung“; aber nicht in ihr, sondern in der Weise, wie das Unmittelbare des Bewusstseins dabei gedacht und dargestellt wird, sehen wir das größte Verdienst dieser Psychologie, das, was an ihr auch für den hohen Wert behält, der ihre Erklärungen, die in Wahrheit nicht ins wirkliche Leben des Bewusstseins tiefer hinein-, sondern ganz aus ihm herausführen, sich nicht anzueignen weiß. Damit ist übrigens nicht gesagt, dass nicht auch in der Art, wie das Unmittelbare des Bewusstseins von Lipps beschrieben wird, noch Schwierigkeiten genug lägen. Der „Inhalt“ ist „im“ Bewusstsein; aber ich „habe“ ihn nur, ich bin nicht er selbst. Sondern nur mein Haben des Inhalts ist mein Selbsterlebnis, meine eigene „Funktion“; das Habende allein bin ich selbst. Ist [277] dann aber nicht auch der Inhalt schon | gewissermaßen Außersubjektives? Gewiss steht er in einem näheren Verhältnis zu mir als der Gegenstand, den ich nur „meine“; aber immer doch, als ein Anderes, im Verhältnis zu mir, der ich selbst nicht dieser Inhalt bin. Andererseits bin auch ich es, der den Gegenstand „meint“, d. h. denkend sich gegenüberstellt – ja aus seinem Inhalt, mit dem er ursprünglich eins war, oder „in“ dem er ursprünglich „lag“, ihn erst herausstellt, oder richtiger, durch eine Umarbeitung erst herausschafft. Also sollte am Ende weder der Inhalt noch der Gegenstand der Psychologie angehören, sondern nur das Haben des Inhalts, das Meinen des Gegenstands. Indessen wie sollte sie dann dieses beschreiben? Beides ist in sich selbst, absehend von dem gehabten Inhalt, dem gemeinten Gegenstand, absehend von aller der Bestimmung, die an diesem und nur an ihm aufzeigbar ist, durchaus unbeschreiblich; es lässt sich von ihm als solchem durchaus nichts weiter aussagen, als dass es eben stattfindet. Was also wird 43 Das Ich oder Bewusstsein „funktioniert eben in dieser doppelten Weise“, heißt es ebd., S. 13, Mitte. 44 Ebd., S. 43.
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die Psychologie tun? Sie wird vom Inhalt und Gegenstand reden, nur allemal beim Inhalt das „Haben“, beim Gegenstand das „Meinen“ gleichsam in Parenthese mitdenken, ohne doch von diesem irgend etwas Besonderes aussagen zu können; aber alle Identifikation und alle Unterscheidung der Bewusstseinserlebnisse, aller Aufweis eines Zusammenhanges unter diesen, auch und gerade des unmittelbar erlebten Zusammenhanges, wird am Inhalt oder am Gegenstand aufgezeigt werden müssen; d. h. es wird sich ungefähr so verhalten, wie unsere Methodologie es ergab. Sodann: das Gehabte ist nicht mein Haben, bin nicht Ich; muss man nicht daraus schließen: also ist es schon Objektivierung, wiewohl auf unterster Stufe? Soll doch alle Objektivierung von ihm ausgehen, ja auf unterster Stufe der Gegenstand in ihm liegen, Inhalt und Gegenstand dem „Was“ nach völlig eins und dasselbe sein. Es wäre wohl dann nur ein wenig bedeutender Unterschied der Terminologie, wenn man statt „Inhalt“ etwa sagte „Gegenstand unterster Stufe“, da doch auch Lipps eine Stufenfolge der Objektivierungen, und zwar so, dass, was für ein Stadium der Betrachtung Inhalt, für ein anderes Gegenstand sein kann, ausdrücklich anerkennt. Lipps denkt jedenfalls schon den „Inhalt“ nach seinem „Was“ ebenso bestimmt, wie den Gegenstand; nicht einmal die Unbestimmtheit des Empfindungsinhalts zufolge des Schwellengesetzes wird berührt. In dieser Bestimmtheit aber kann er jedenfalls nur gedacht, „gemeint“ werden; Bestimmen ist | schon [278] Meinen, Denken, also – Objektivieren. Allein diese Schlussfolgerung wird uns Lipps schwerlich gelten lassen; ihm ist das Sinnliche in sich bestimmt, vor allem bestimmenden Akt, allem Denken; es ist ihm schlechthin, als bestimmt, „gegeben“; das gerade bedeutet ihm: wir „haben“ es. Das Vorurteil des Gegebenen ist es, welches ihn hier nicht hat weiterkommen lassen. Auch dürfen wir nicht versuchen, unsere gegenteilige Auffassung ihm aufzuzwingen oder aus seinen Worten etwa als unfreiwilliges Zugeständnis irgendwie herauszuklauben. Sondern hier scheiden sich in der Tat die Grundüberzeugungen: Lipps ist von Anfang und bleibt bis zuletzt, insoweit, Empirist. Nichts existiert im Verstande, was nicht vorher im Sinn gewesen wäre: dies alte Schibboleth des Sensualismus übersetzt er nur in seine Sprache: „Nichts ist im (gedachten) Gegenstande, was nicht zuvor im (gegebenen) Inhalt gewesen wäre.“45 §10. Näherung zu unserem Standpunkt in der Abhandlung „Inhalt und Gegenstand“. Indessen gibt es einen Punkt, wo die Übereinstimmung zwischen Lipps und uns sich dennoch in geradezu überraschender Weise herstellt. Von den beiden Abhandlungen des Jahres 1905 hat die zweite: „Inhalt und Gegenstand. Psychologie und Logik“ für uns das besondere 45 Freie Abwandlung des „Nihil est in intellectu …“. (s.o., Anm. 8, S. 160). – Anm. d. Hrsg.
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Interesse, dass hier eine eigene Wissenschaft anerkannt wird, „für welche das unmittelbar Gegebene nicht Zeichen oder Symbol eines ihm Transzendenten ist; die nicht das sucht, was hinter demselben, sondern was in ihm liegt“46. Hat diese nun nicht objektiv Erfahrbares zum Gegenstand, sondern die Icherfahrung oder die Icherlebnisse, so ist sie Psychologie, und doch grundverschieden von dem, was gewöhnlich (nämlich von Lipps!) darunter verstanden wird, der „empirischen“, d.h. der (ursachlich erklärenden, konstruktiven) Psychologie des individuellen Bewusstseins. Das IndividualIch gehört, da es als solches nicht ohne Ortsbestimmtheit unterscheidbar ist, überhaupt nicht zum unmittelbar Erfahrbaren, sondern gehört ganz erst der mittelbaren Erfahrung an47! Psychologie als Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung weiß nichts von individuellem Bewusstsein, sondern nur vom Bewusstsein und den Bewusstseinserlebnissen schlechtweg; nicht von „einem“, sondern nur von „dem“ Ich, vom Ich überhaupt48. Auch die Psychologie der unmittelbaren Erfahrung aber kennt Gesetzmäßigkeiten, ganz verschieden von denen der individuellen Bewusstseinserlebnisse und [279] von diesen völlig absehend: die logische, die ethische, die ästhetische49. | Dies entspricht nicht unserer Auffassung, aber nähert sich ihr in mehr als einem Sinne. Nur aus den objektiven Gesetzlichkeiten, und zwar zuletzt eben der logischen, ethischen und ästhetischen, kann das Unmittelbare des Bewusstseins, unserer Behauptung nach, zur Erkenntnis gebracht werden, daher in der Tat insoweit nicht als individuelles, sondern nur als „Bewusstsein überhaupt“. Aber nicht Logik, Ethik, Ästhetik sind darum Psychologie, oder sind selbst durch Psychologie, als Psychologie zu begründen, sondern umgekehrt: erst von ihnen aus ist, durch Rückgang vom Gesetz auf das in ihm objektivierte Unmittelbare des Bewusstseins, die Psychologie – nämlich die grundlegende allgemeine – zu begründen. Andererseits macht die Rekonstruktion nicht Halt beim Bewusstsein überhaupt, sondern hat von diesem aus dann den Weg auch zum individuellen Bewusstsein zu suchen (die Individuation selbst kann ja nur vom Allgemeinen ausgehen); nur bildet das individuelle Bewusstsein für die Psychologie nicht den Ausgangspunkt, sondern ist einer ihrer Zielpunkte, und zwar nicht der letzte; das letzte, freilich bloß ideelle Ziel wäre vielmehr – auch darauf kommt gerade Lipps in dieser Abhandlung50 hinaus – das Weltbewusstsein oder der „Geist“. In ihm aber schwände (wie Lipps es hier in der Tat bestimmt) der Gegensatz sowohl zwischen physikalischer und psychologischer Betrachtung wie zwischen
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„Inhalt und Gegenstand. Psychologie und Logik“, S. 561. Ebd., S. 565f. Ebd., S. 566. Ebd., S. 601. Siehe ebd., S. 667.
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empirischer Psychologie und Psychologie des Bewusstseins überhaupt; es schwände auch der Begriff der psychischen Substanz; ihre Substantialität löste sich gänzlich auf in Aktualität51; das reine Bewusstsein würde eins mit der Welt der Gegenstände52. Übrigens auch in dem Vorbehalt stimmen wir ganz überein, dass allerdings höchstens bis zur Frage nach diesem Letzten die Psychologie der unmittelbaren Erfahrung oder die Wissenschaft vom reinen Bewusstsein führen kann. Sie würde damit zur Grundlage wie aller Wissenschaft, so insbesondere auch – der empirischen Psychologie. „Auch diese ist doch eben Wissenschaft von den Bewusstseinstatsachen; und das individuelle Bewusstsein ist es, in dem das reine gefunden wird.“53 – Hier ist gewiss auch nicht durchgängige Übereinstimmung mit unserem Standpunkt, wohl aber eine bemerkenswerte Koinzidenz. Und es ist wohl keine schlechte Probe auf die Notwendigkeit dieser Wendung, dass wir, bei aller gründlichen Verschiedenheit unseres Vorgehens, gerade in diesem letzten Zielpunkte uns so nahe wieder beisammen finden. | [280]
III. Edmund Husserl § 11. Subjektivität und Objektivität nach Husserls Logischen Untersuchungen. Die starke Fortentwicklung, welche Lipps in seiner Auffassung des Begriffs und der Methode der Psychologie seit dem Jahre 1905 erkennen lässt, ist an sich gewiss eine ganz innere und selbständige; aber sie ist ebenso gewiss mitveranlasst durch den Eindruck von Edmund Husserls Bekämpfung des „Psychologismus“ und dessen Hinweis auf den neuen Forschungsweg der „Phänomenologie“ (Logische Untersuchungen I, 1900; II, 190154). Auch für uns ist eine Auseinandersetzung gerade mit diesem Forscher eine unabweisliche Pflicht. Über den ersten Punkt braucht hier nichts weiter gesagt zu werden, denn darüber fand ich mich mit Husserl von Anfang an auf gleicher Linie55. Überraschend aber musste es gerade dem, der mit Husserl die
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Ebd., S. 667. Ebd., S. 669. 53 Ebd. – Anm. d. Hrsg. 54 Die Logischen Untersuchungen erschienen 1900 und 1901 in 2 Teilen. Teil I von 1900, mit dem Titel Prolegomena zur reinen Logik, war im Wesentlichen der Widerlegung des Psychologismus gewidmet; Teil II von 1901, mit dem Titel Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, bestand aus den 6 Einzeluntersuchungen und führte konkrete Untersuchungen zur Phänomenologie des logischen Bewusstseins durch. – Anm. d. Hrsg. 55 Siehe z.B. Sozialpädagogik, 1898, §5, und schon den Aufsatz von 1887, „Über objektive und subjektive Begründung der Erkenntnis“. 52
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streng objektive Begründung der Logik und der Gegenstandserkenntnis überhaupt fordert, sein, dass als Fortsetzung logischer Untersuchungen, statt der im ersten Teil nur erst geforderten und verheißenen objektiven, eine „phänomenologische“ Begründung der Erkenntnis erfolgte, die jedenfalls nach unseren Begriffen psychologisch, nicht logisch zu nennen wäre. Eine subjektive, psychologische Begründung der Erkenntnis fordern zwar auch wir, aber diese kann der objektiven nicht vorhergehen, sondern nur folgen. Husserl will seine Phänomenologie deshalb nicht Psychologie genannt wissen, weil sie bloß Beschreibung, nicht Theorie geben will. Aber Beschreibung und Theorie gehören unweigerlich zusammen; Beschreibung ist Objektivierung nicht weniger als Theorie. Wie könnte man das rein Subjektive beschreiben, ohne es eben damit zu objektivieren? Allein wie ist es dann noch – das Subjektive? Husserl selbst berührt die Schwierigkeit56. Die sekundäre Reflexion auf das psychische Erlebnis macht dieses allerdings zum „Gegenstand“, aber in einem neuen, von jedem sonstigen grundverschiedenen Sinne. Es „ist eine Denkrichtung, die den allerfestesten, von Anbeginn unserer psychischen Entwicklung sich immerfort steigernden Gewohnheiten zuwider ist. Daher [281] die fast unausrottbare Neigung, immer wieder von der phänomenologischen | Denkhaltung in die schlicht-objektive zurückzufallen, Bestimmtheiten der primär erscheinenden Gegenstände den Erscheinungen selbst, also den faktischen psychischen Erlebnissen, zu unterschieben, ja die intentionalen Gegenstände überhaupt als phänomenologische Bestandstücke ihrer Vorstellungen anzusehen“57. Die subjektiven Erlebnisse lassen sich direkt nur durch vieldeutige Worte wie Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung und dergl. bezeichnen; daneben muss man sich mit Ausdrücken behelfen, die nicht diese Akte selbst, sondern das Gegenständliche, worauf sie sich richten, benennen. „Es ist schlechterdings nicht möglich, die meinenden Akte zu beschreiben, ohne im Ausdruck auf die gemeinten Sachen zu rekurrieren“58 – worin aber nur sehr indirekte Hindeutungen auf die Akte selbst liegen. Das kommt meinen eigenen Aufstellungen recht nahe. Der wesentliche Unterschied aber ist, dass Husserl hier doch nicht mehr als eben eine besondere Schwierigkeit der Aufgabe der reinen Deskription des Psychischen sieht. Mir scheint es mehr zu sein. Nach Husserl ist die Subjektivität offenbar eine zweite Objektivität, der ersten, gewöhnlich gemeinten gleichartig und koordiniert. Das aber ist es gerade, was ich nicht als richtig erkennen kann.
56 Husserliana XIX/1, Einleitung, § 3, S. 13 [der Paragraph trägt den Titel „Die Schwierigkeiten der rein phänomenologischen Analyse“ – Anm. d. Hrsg.]. 57 Ebd., S. 14f. [Natorp zitiert aus der ersten Auflage – Anm. d. Hrsg.]. 58 Ebd., S. 16 – Anm. d. Hrsg.
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Es gibt die Objektivität, und es gibt, als ihre Gegenseite, die Subjektivität; nicht aber noch eine zweite Objektivität: die der Bewusstseinsakte. Die Rekonstruktion der Subjektivität, eben als des Gegenbildes, gleichsam des Negativs der Objektivität, scheint aber zunächst wirklich nur darin bestehen zu können, dass man auf die vollzogene Objektivierung hinweist und aussagt, dass sie eben habe vollzogen werden, dass sie allemal einem Bewusstsein sich habe vollziehen müssen, und zwar einem Bewusstsein. Einen anderen als diesen indirekten Weg, das Subjektive zu „beschreiben“, d. h. zu rekonstruieren und damit für die Reflexion überhaupt erst darzustellen, sieht man zunächst nicht ab. Es ist aber begreiflich, dass man sich dabei nicht sogleich beruhigt; die Leistung der Psychologie scheint auf diese Weise leicht allzu ärmlich und bedeutungsleer. Husserl betrachtet, wie die obigen Sätze zeigen, gleich mir die Reflexion auf das Subjektive als sekundär gegenüber dem primären Akte der Setzung des Gegenstandes. Das ist eine beträchtliche Näherung zu meiner Auffassung, da sonst die Meinung war und bei der großen Mehrzahl der Psychologen immer noch ist, dass wir das Subjektive voraus hätten und also auch müssten darstellen können, ohne notwendige | Bezugnahme auf das Objektive, ja [282] ohne dass eine Objektivierung überhaupt zuvor vollzogen sein müsste. Aber Husserl sträubt sich – begreiflich – dagegen, diesen sekundären Akt, diese durchaus künstliche Objektivierung des Subjektiven als solchen, als ganz und gar abhängig zu erkennen von dem primären Akt der eigentlichen, ursprünglich alleinigen Objektivierung. Vielmehr wird nach seiner Meinung die Reflexion auf das Subjektive nur erschwert durch die eingewurzelte Gewohnheit, die primären objektivierenden Akte nur einfach zu vollziehen und dabei nicht auch auf diese Akte selbst zu reflektieren. Die primären Objektivierungen, als die uns geläufigen, drängen sich in die sekundären Objektivierungen (der Akte der primären Objektivierungen) gleichsam ein und drohen sie zu verfälschen; es fordert eine besondere Anstrengung, solcher Verfälschungen sich zu erwehren; aber dies sei doch an sich möglich, meint Husserl; also müsse es auch möglich sein, das Subjektive (jene Akte) rein in sich zu erfassen. Das ist es, was mir bisher nicht hat gelingen wollen. Gelingt es etwa Husserl59? Das wird zu prüfen sein. §12. Wesentliche Verschiedenheit meiner Auffassung von der Husserls. Ich finde mich mit Husserl von vornherein auf einem Wege, wenn er die reine Objektivität jedes „Bedeuteten“, jedes Urteilsinhalts betont und diese Objektivität offenbar in der Identität begründet sein lässt60; wenn er 59 Vgl. hierzu Erste Philosophie, Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion (Husserliana VIII), S. 86–97 (zur Lehre von der Ichspaltung). – Anm. d. Hrsg. 60 Husserliana XIX/1, S. 48 f. und S. 98–101.
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demgemäß an der ganzen sensualistischen Theorie des Begriffs61, desgleichen an der Abbild- und Zeichen-Theorie62 vernichtende Kritik übt. Auch die scheinbaren Differenzen zwischen uns über Bewusstheit, Erscheinung, Bewusstseinsakte u.a. beruhen (wie oben II, §6 u. V, § 9 gezeigt worden) größtenteils auf Missverständnissen oder bloßen Differenzen der Terminologie. Die einzige ernste sachliche Meinungsverschiedenheit zwischen uns betrifft dieselbe Frage, mit der wir uns vorher schon mit Bezug auf Lipps zu beschäftigen hatten: die nach dem Verhältnis von „deskriptivem“ Inhalt und „intentionalem“ Gegenstand der Erkenntnis; eine Unterscheidung, die für Husserl allerdings nichts Geringeres als das Fundament der wissenschaftlichen Erkenntnistheorie und Psychologie überhaupt bedeutet63. Ohne Zweifel ist ein radikaler Unterschied zwischen „Haben“ und [283] „Meinen“, und steht dieser Unterschied in genauer Beziehung zu dem | des subjektiv Erlebten, Unmittelbaren, und des Gegenständlichen, das für uns stets nur ein mittelbar Bekanntes, ja vielmehr zunächst Unbekanntes, erst zu Erkennendes ist. Aber dieser Unterschied und Gegensatz löste sich uns auf, vielmehr vertiefte sich, zu dem Unterschied und Gegensatz zweier, eben damit aber genau sich korrespondierender und reziproker Beziehungsrichtungen; und zwar handelt es sich hierbei nicht um ein- für allemal feststehende, immer gleiche Beziehungen an einem feststehenden, immer sich gleichbleibenden Substrat, der „Erscheinung“; sondern um Beziehungen, die in ununterbrochener Stufenfolge nach der einen wie anderen Seite ins Unbestimmte, ja der Möglichkeit nach ins Unendliche, derart sich fortsetzen, dass, was auf der einen Stufe der Betrachtung Inhalt oder Phänomen (Subjektives), auf einer folgenden Gegenstand (Objektives), und so auch in umgekehrter Richtung, was Gegenstand, wiederum Inhalt wird, beide also, Inhalt wie Gegenstand, das, was diese Worte besagen wollen, nicht ein für allemal sind, sondern je auf der erreichten Stufe der Erkenntnis werden, auf weiterer Stufe wiederum zu sein aufhören. Husserl aber, wie sozusagen alle, die sonst meinem Gedanken sich mehr oder weniger nähern mögen, verkennen, so scheint es, auf der einen Seite diesen Prozesscharakter des „Seins“, im objektiven und folglich auch im subjektiven Sinne, andererseits, was damit im Grunde schon gegeben ist, die gedachte Koinzidenz des so zweiseitig (objektiv wie subjektiv) zu Beziehenden in dem Begriff „Erscheinung“. Der letzte Grund dieser fundamentalen Verschiedenheit in der Grundauffassung der Sache ist wohl 61
Lockes Abstraktions-, Berkeley-Humes Repräsentationstheorie, Abschn. II. [Natorp bezieht sich hier auf die 2. Logische Untersuchung, „Die ideale Einheit der Spezies und die neueren Abstraktionstheorien“, hier insbes. Kap. 2–5. – Anm. d. Hrsg.] 62 Ebd., S. 436–440. 63 Ebd., S. 371.
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dieser: meine Psychologie hat – gleich meiner Erkenntniskritik, von der sie den Ausgang nimmt und die für sie immer richtungweisend bleibt64 – nie bloß das bestimmte einzelne Erkenntnisstadium vor Augen, sondern blickt auf das Ganze der menschlichen, der menschheitlichen Erkenntnis in der ununterbrochenen Folge ihrer Entwicklung von der niedersten noch rekonstruierbaren zur höchsten bisher erreichten oder absehbaren Stufe. Da tritt dann überzeugend zutage, was im Hinblick auf das einzelne Erkenntniserlebnis sich leicht verbirgt: dass es überhaupt kein Subjektives und kein Objektives an sich gibt, sondern in dem fortwirkenden Prozesse der Objektivierung und beziehungsweise Subjektivierung der Charakter des Subjektiven und des Objektiven sich von Stufe zu Stufe auf andere und andere Glieder überträgt, Subjektives zu Objektivem, Objektives wieder zu Subjektivem wird. Das typische Bild dieses | Fortgangs gibt die Entwicklung [284] einer Gleichung oder besser eines unendlichen Systems von Gleichungen, die also nicht auf abschließende Lösungen, sondern auf eine ins Unendliche fortgehende Rechnung führen. Betrachtet man nun hierbei die sukzessiven, nämlich partiellen, von Stufe zu Stufe aber fortschreitenden Lösungen, so sind zwar die Größen a, b, c … einerseits, die Größen x, y, z … andererseits, der ganzen Bedeutung und Funktion nach, die ihnen eben in der Gleichung und zwar nur in ihr und kraft ihrer zukommt, auf jeder erreichten Stufe nicht bloß verschieden, sondern zueinander gegensätzlich, indem eben die ersteren Bekanntes, als bestimmt Angesehenes, nicht weiter zu Bestimmendes, die letzteren Unbekanntes, erst noch zu Bestimmendes bedeuten. Gleichwohl: was auf einer Stufe der Rechnung noch nicht bestimmt war, wird auf einer folgenden bestimmt und dient fortan mit zur Bestimmung weiterer, auch auf dieser Stufe eben nicht bestimmter, also „unbekannter“ Größen. Auf jeder Stufe der Rechnung also hat das Bekannte wie das Unbekannte eben diesen Charakter (des Bekannten bzw. Unbekannten) allein für diese Rechnung und zwar für dies bestimmte Stadium derselben, nicht abgesehen von ihr; es ist, was es ist (Bekanntes oder Unbekanntes), nur in dieser genau umgrenzten Beziehung. Eben darum bedeutet auch das noch nicht Bestimmte, erst zu Bestimmende nie ein gänzlich außerhalb der Rechnung Gelegenes, ihr gegenüber überhaupt Transzendentes, dem etwa jeder beliebige Rechnungswert, oder auch gar keiner, zukommen könnte; sondern es wird durch die Gesamtheit der in der Rechnung selbst ausgedrückten Beziehungen an sich bestimmt gedacht, in dem Sinne, dass es eben bestimmte Forderungen, geforderte Beziehungen, erfüllen müsse. Ja man kann sagen: durch diese Forderungen sei es, im Zusammenhange der Rechnung; obwohl als x (oder y, z), nicht als a (b, c …), bestimmt. So also sagen wir, dass allgemein in der Erkenntnis jeder Art und Richtung der „Gegenstand“,
64
Vgl. Natorps Logische Grundlagen der exakten Wissenschaften. – Anm. d. Hrsg.
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auch als noch nicht bestimmter, sondern erst zu bestimmender, eben hinsichtlich dieser für ihn geforderten Bestimmung, eine „Funktion der Erkenntnis“ sei, und nichts außer Bezug zu ihr, „an sich“ bedeuten könne; ein angebbarer Sinn desselben kann sich ja nur von dem positiven Gehalt der Erkenntnis aus und in bestimmter Beziehung auf diesen ergeben. Hierbei wird unter „Erkenntnis“ aber nicht das einzelne Stadium der Rechnung allein, sondern das Ganze jener Rechnung verstanden, in der überhaupt, der [285] Voraussetzung | nach, Erkenntnis besteht und innerhalb welcher allein auch das einzelne Stadium seine stets nur begrenzte, transitorische Bedeutung hat. Anderenfalls käme man zu dem Unbegriff eines „Dings an sich“ als Gegenstandes für keine Erkenntnis. Auf diese Weise bleibt für unsere Auffassung zwar stets der radikale begriffliche Unterschied des Erkannten und des erst zu Erkennenden (oder von „Inhalt“ und „Gegenstand“); nur relativiert er sich in der Anwendung zu dem Unterschiede dessen, was für die bestimmte Stufe der Erkenntnis Erkanntes und erst zu Erkennendes (Inhalt und Gegenstand) ist. Nicht mehr durch dasselbe Bild der Gleichung repräsentierbar ist aber die Kehrseite dieses Sachverhalts, die uns hier vornehmlich angeht: dass nämlich der Prozess der Erkenntnis gleichermaßen in beiden Richtungen, der der Subjektivierung wie der Objektivierung, ins Unbestimmte, ja ins Unendliche verläuft; denn nicht nur die Reihe der x, y, z …, sondern ebenso auch die Reihe der a, b, c … ist nicht als in sich geschlossene, auch nicht bloß nach einer, sondern nach beiden Seiten offen zu denken. Wie in den fortschreitenden Lösungen der gedachten Gleichung (oder des Systems von Gleichungen) immer neue bekannte Werte, etwa b = f0 (a), c = f 1 (a, b), d = f 2 (a, b, c) usf. sich sukzessiv ergeben, so kann auch der Wert a wieder als Funktion weiter zurückliegender Bestimmungsstücke vom Typus der a, b, c … sich herausstellen; es gibt in dieser Reihe kein absolut Erstes, sondern es wird ganz allgemein, was auf gegebener Stufe als vollständig bestimmt galt, in dieser auf immer primitivere Stufen zurückgehenden Betrachtung sich wieder als erst zu Bestimmendes herausstellen, d.h. der Weg der Subjektivierung verläuft ebenso wie der der Objektivierung ins Unbestimmte, der Möglichkeit nach ins Unendliche. Das also verstehe ich unter der „genetischen“ Ansicht der Erkenntnis gegenüber der „ontischen“, oder der „dynamischen“ gegenüber der „statischen“; unter dem Standpunkt der „Methode“ gegenüber dem des starren „Resultats“, oder des „Fieri“ gegenüber dem „Factum“. Nur der ersteren Ansicht gemäß, nie also im Sinne einer „gegebenen“, starren Lage, verstehe ich auch und ist überhaupt nur verständlich die Koinzidenz des Subjektiven und Objektiven in der Erscheinung, und deren beiderseitige, subjektive und objektive Beziehung; was alles freilich sofort anfechtbar, ja absurd erscheinen muss, wenn man sich dabei eine starre Lage der Erkenntnis [286] denkt. Der | Ausdruck der Gegenstandsbeziehung als „Intention“ ist gerade
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für diese Auffassung sehr passend, denn der Gegenstand ist ja so in der Tat auf keiner Stufe gegeben, sondern stets nur „intendiert“. Aber ebenso wenig gibt es für diese Auffassung ein starres Gegebensein des „Inhalts“, und also die Möglichkeit einer direkten „Deskription“ desselben, was ja nur der Korrelatbegriff des Gegebenseins ist; sondern an ihre Stelle tritt die „Rekonstruktion“, welche nur die Gegenansicht der Konstruktion des Objekts ist und mit ihr den genetischen oder Methodencharakter, also auch den Sinn der „Intention“, und zwar der nie schlechthin sich erfüllenden Intention gemein hat. §13. Ergebnis der Vergleichung. Schon oben (S. 109f.) wurde gegenüber Husserl betont, dass der „Gegenstand“, da doch jedenfalls die Beziehung auf ihn bewusst sein soll, auch selbst, als der andere Terminus dieser Beziehung, nicht schlechthin außer dem Bewusstsein, sondern irgendwie uns bewusst sein muss; Husserl selbst sagt, er sei „intentional gegenwärtig“65, oder er spricht von „Gegenwärtigen“ (Präsentieren), ja endgültiger Präsentation66. Der unentrinnbare Zwang dieses Arguments dürfte nach dem soeben Ausgeführten nicht leicht mehr verkannt werden können. Der Gegenstand ist darum nicht weniger bewusst, weil er als x, nicht als a bewusst ist. Der x-Charakter des Gegenstands aber ist zu betonen, gerade weil es dadurch ausgeschlossen wird, dass von ihm je als fertigem die Rede sein dürfte, und klar wird, dass es sich vielmehr stets um den Stufengang eines unendlichen Prozesses der Objektivierung nur handeln kann. Und zwar ist hierbei der Gegenstand, je nach dem Gesichtspunkt, als endlich- oder unendlich-fern zu betrachten; endlich-fern ist der relative, durch bestimmt begrenzte Forderungen definierte Gegenstand der einzelnen Erkenntnisstufe, unendlichfern „der“ Gegenstand „der“ Erkenntnis überhaupt. Selbst dieser Begriff – gerade er – ist, als reiner Methodenbegriff der Erkenntnistheorie, nicht außer Beziehung zur Erkenntnis zu verstehen; aber er ist allerdings nur in allgemeinem Bezug zur Erkenntnis überhaupt, der erstere in bestimmtem zur bestimmten Erkenntnisstufe zu denken. Dagegen, wenn man den unendlichen Fortgang der Erkenntnis vernachlässigt, so erscheint der Gegenstand nicht bloß starr, sondern auch an sich getrennt von der Erkenntnis (χωριστÊσ67); nicht bloß stehend, | sondern draußen stehend und nun nie erreichbar. Die Kluft, [287] einmal gesetzt, bleibt ewig unüberbrückt, zumal dann ja folgerecht auch die Gegenseite: das „Gegebene“, Subjektive, starr und abgetrennt gedacht
65 Logische Untersuchungen II [Husserliana XIX/1], S. 386; Brentanos „intentionale Inexistenz“, S. 380. 66 Ebd. [Husserliana XIX/2], S. 645f., worüber weiterhin noch ein Wort zu sagen sein wird. 67 „Getrennt“. Anspielung auf Platon. – Anm. d. Hrsg.
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werden muss. Von diesem allerdings fundamentalen Unterschied abgesehen, fasst Husserl das Verhältnis von Inhalt und Gegenstand, als das von Präsentation und Repräsentation, kaum wesentlich anders auf als wir. Wenigstens als Idealfall wird von ihm (wie schon angedeutet wurde) auch ein völliges Einswerden von Bedeutungsintention und „Erfüllung“ zugegeben, so dass der Gegenstand selbst im „phänomenologischen Inhalt“ beschlossen ist68. Wir gehen über diese Aufstellung nur darin hinaus, dass solche „Erfüllung“ nicht bloß einmal, sondern von Stufe zu Stufe wiederum stattfindet, andererseits freilich auch niemals absolute Erfüllung ist oder werden kann. Die vielleicht nächste Annäherung an den Idealismus aber erkennen wir darin, dass nach Husserl der Wahrnehmungsinhalt vom Denken, die „Erfüllung“ von der „Intention“, die Präsentation von der Repräsentation abhängig und wesentlich von ihr aus erst bestimmt wird; nur mit der Einschränkung: die Identifikation werde „vollzogen“, aber nicht auch „gemeint“69. Mir scheint, sie werde sogar nach anderen Äußerungen bei Husserl selbst auch „gemeint“; doch mag ein Unterschied vorschweben wie der der synthetischen Erzeugung der Erkenntnis und des analytischen Bewusstseins derselben. Dies und unzähliges Andere muss hier ununtersucht bleiben; im Einzelnen wird auf die Logischen Untersuchungen wohl noch des Öfteren zurückzugreifen sein. §14. Husserls neuer Standpunkt. Auch Husserl gehört indessen nicht zu den Denkern, die bei einer einmal erreichten Position dann stillstehen; sondern der erst gewonnene Standpunkt dient ihm nur als Ausgang, um rastlos und mit wachsender Kraft darüber hinaus zu streben. Der Programmaufsatz „Philosophie als strenge Wissenschaft“ (1911) lässt wenigstens die Richtung seines neuen Strebens klar erkennen. In unnachgiebiger Strenge wird jetzt die reine wissenschaftliche Darstellung des Psychischen geschieden von aller und jeder Objektivierung im Natursinn. In der psychischen Sphäre gilt kein Unterschied von Erscheinen und Sein, das Psychische ist nicht selbst wieder ein Sein, das durch dahinterliegende Erscheinungen erscheint. Es [288] ist also nicht eine zweite Natur, sondern es gibt nur eine, die Natur; | das Psychische aber ist Phänomen und nicht Natur70. Was es ist, lehrt uns daher nicht eine Erfahrung, so wie wir das Physische „erfahren“; das Psychische ist nicht Erfahrungsgegenstand, sondern „Erlebnis“, „in der Reflexion erschaut“; in wiederholten Erinnerungen freilich auch identifizierbar und sofern „erfahren“, und weiter sich einordnend in einen Zusammenhang, eine „monadische“ Einheit des Bewusstseins, „eine Einheit, die in sich gar
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Logische Untersuchungen II [Husserliana XIX/2], S. 608, S. 654–648. Ebd., S. 678f. „Philosophie als strenge Wissenschaft“, S. 28f.
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nichts mit Natur, mit Raum und Zeit, Substantialität und Kausalität zu tun hat“; ihr Index ist „die Linie der anfangs- und endlosen immanenten „Zeit“, einer Zeit, die keine Chronometer ermessen“71. Hier ist vor allem klar erkannt, dass ursprünglich die Zeit im Bewusstsein, nicht das Bewusstsein in der Zeit ist. Und in aller Schärfe wird daraus die weitestgehende Konsequenz gezogen: dass es überhaupt nicht Dasein ist, was unter rein psychischem Aspekt erkannt werden kann72; es handelt sich hier gar nicht um Matter-of-fact-Erkenntnis, sondern um reine „Relations of Ideas“ – „Ideas“ aber nicht in Humes Sinn, als Gegensatz zu „Impressions“, sondern im alten, echten Sinne der Idee als οÐσºα: der Wesenserkenntnis; schon die Logischen Untersuchungen gebrauchten den Ausdruck „Ideation“73. So gibt er denn folgerecht auch die Bezeichnung der Methode der Psychologie als „Deskription“ jetzt auf. Es ist sehr merkwürdig, dass hiermit Husserl fast genau auf demselben Punkte anlangt, den wir in letzter Erwägung auch Lipps erreichen sahen: bei der Forderung nämlich einer Psychologie, die über den ganzen Standpunkt einer zweiten Natur und folglich auch einer zweiten Erfahrung, ja über alles bloß Faktische sich erhebt und so eigentlich – Philosophie: Logik, Ethik, Ästhetik, kurz Wesens-, nicht Daseinslehre wird. Dieser Schritt war wohl notwendig, um über die tausend Irrungen und selbstgemachten Schwierigkeiten der bisherigen Psychologie endgültig hinauszukommen. Aber ein sicher gangbarer Weg psychologischer Forschung ist freilich noch nicht erreicht, wenn man auf dieser Stufe nun stehen bleibt. Sondern erreicht ist – der Platonismus, und zwar der Platonismus in seiner ersten Phase, der der ruhenden Wesenheiten. Wie aber Plato selbst über diese dann hinausgeschritten ist zu der tieferen Ansicht von der „Kinesis“ der Ideen, der Erkenntnis als „Begrenzung eines Unbegrenzten“ und somit als ewigen Prozesses, so werden Lipps und Husserl ihre starre Wesenswelt erst | wieder in den Fluss der Bewegung zurückbringen müssen, wenn sie [289] zu einer wahren Psychologie gelangen wollen. Nur diese, die „genetische“ Ansicht gibt endgültige Klarheit über das Grundverhältnis des Subjektiven und Objektiven und wird dem ganzen Umfange der in dieser Urkorrelation sich zusammendrängenden Probleme gerecht. Husserl kommt aber auch diesem letzten Schritt immerhin ein gutes Stück näher als Lipps, da wenigstens die Objektivität sich ihm ganz in einen Prozess der Objektivierung aufzulösen strebt. Nur erscheint immer noch demgegenüber das Subjektive als starr und absolut, gleich den platonischen Ideen der ersten Phase: „dastehend in dem was ist“, und daher in einer
71 72 73
Ebd., S. 29f. Ebd., S. 33f. Vgl. Husserliana XIX/1, S. 108. – Anm. d. Hrsg.
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unmittelbaren „Schau“ auf einmal zu erfassen. So kann er schreiben: „Aber alles kommt darauf an, dass man sieht und es sich ganz zu eigen macht, dass man genau so unmittelbar wie einen Ton hören, so ein Wesen … schauen und im Schauen Wesensurteile fällen kann“74. Man darf ihn indes hier nur ganz beim Worte nehmen: ist denn das, was ich höre, unmittelbar – Ton? Wahrlich nicht dem Neugeborenen; aber auch nicht mir selbst, wenn ich, im Moment mir gleichsam neugeboren, „unmittelbar“ dem Erlebten hingegeben bin, diesseits aller Reflexion. Sagt doch Husserl selbst: erst in der Reflexion, in der wiederholten Wiederholung (der Erinnerung) identifiziert sich der erlebte Inhalt; wie wäre es aber „Ton“, wenn nicht identifiziert? Wie wäre „Wesen“ (οÐσºα), was nicht als Identisches gesetzt, was nicht definiert, d.h. ganz in Platos Sinne: aus dem „Unbegrenzten“ heraus erst abgegrenzt wäre? Das erlebte Unmittelbare ist nicht mit dem Erleben auch unmittelbar erkannt, oder auch nur gedacht; nur erkannt aber, oder wenigstens gedacht, wäre es das „Wesen“ z. B. „Ton“, vollends das Wesen „Dingerscheinung“, und was Husserl sonst als unmittelbar erschaute Wesenheiten angibt. Man hört nicht (oder sieht, fühlt, schmeckt, riecht) Abstraktionen; das Konkrete aber, das man „erlebt“, ist allerdings nur durch die Abstraktionen, die es in der Tat doch nie ausschöpfen, also stets nur näherungsweise, nie abschließend – mittelbar, nie unmittelbar – zur Erkenntnis zu bringen. Die „Wesenheiten“: „Ton“, vollends „Dingerlebnis“ usf., sind Abstraktionen, Herauslösungen aus den ursprünglich ungelösten Komplexen, und damit – Objektivierungen verschiedener Stufe; das Urerlebnis ist, diesen gegenüber, erst Problem, durch sie näher und näher, aber nie abschließend zu bestimmen, [290] d. h. zu „rekon|struieren“. In den Logischen Untersuchungen kam Husserl selbst bereits so weit, das Präsentsein des Inhalts (das Lipps’sche „Haben“ desselben) zu ersetzen durch einen Akt des Präsentierens75. Diesen Aktsinn der Erkenntnis – jeder Art Erkenntnis, Präsentation wie Repräsentation – durchdenke man nur recht und mache vollen Ernst mit ihm, so wird die „Deskription“ notwendig zur „Rekonstruktion“. Das gilt aber nicht bloß vom letzten Konkreten, vom Urerlebnis, sondern auch die reinsten „Wesenheiten“ können nun nicht mehr starr verbleiben, ihre „Schau“ wird vielmehr zum Erschauen, zum Erschaffen im Gedanken, zum Erdenken, weil vielmehr Ausdruck eines fortwaltenden Prozesses, als eines einmaligen Resultats. Der Begriff des „Ursprungs“ erhält damit seinen präzisen, nicht mehr anfechtbaren Sinn; er bedeutet das Schöpfen aus dem unerschöpflichen Grunde, aus jenen mit keinem Senkblei der Abstraktion je auszumessenden „Tiefen“ nicht der Psyche, sondern des Logos der Psyche, von welchen schon
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„Philosophie als strenge Wissenschaft“, S. 36. Vgl. Husserliana XIX/2, S. 613 – Anm. d. Hrsg.
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Heraklit zu sagen wusste76. So wandelte sich für Plato die unmittelbare „Schau“ der Ideen in den Prozess einer „Grundlegung“77, die bei keinem zunächst gelegten Grunde halt macht, sondern zu jedem Grunde immer wieder tieferen Grund zu legen als Aufgabe erkennt. Dem unendlichen Prozesse der „Ideation“ entspricht dann notwendig, und zwar als reine Umkehrung, ein ebenso wenig endlich abgeschlossener Prozess der Rekonstruktion des ursprünglich „Erscheinenden“, d. i. des Subjektiven. Denn zwar das in der Erscheinung Erscheinende ist die Idee; aber nicht die Idee ist darum die Erscheinung. Das sollte selbstverständlich sein, aber durch diese Selbstverständlichkeit ändert sich in der Tat der ganze Sinn der Erkenntnis des Subjektiven als des reinen Phänomens. Es ist nicht zu erkennen in der Ideation, aber allerdings aus ihr, durch sie, auf ihrer Grundlage; das heißt: es ist nicht zu konstruieren, aber zu rekonstruieren.
IV. Wilhelm Dilthey §15. Diltheys „beschreibende und zergliedernde“ Psychologie. Einen Standpunkt, einigermaßen ähnlich dem Husserls gerade in dessen letzter Phase, hatte schon früher, freilich ohne die gleiche Schärfe der Durchdringung und Konsequenz der Ausführung, Wilhelm Dilthey erreicht in der Abhandlung Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. | Auch er [291] scheidet die Psychologie gänzlich von aller kausal erklärenden, also konstruktiven, hypothetischen Wissenschaft. Der Versuch einer solchen scheint ihm endgültig gescheitert. Man macht damit entweder Psychologie direkt zur Naturwissenschaft (Physiologie), oder man setzt, im schlimmeren Falle, ein unechtes Gegenstück von Naturwissenschaft der echten zur Seite; wie wenn z.B. Wundt in der Aufstellung einer eigenen psychischen Kausalität das Grundprinzip der erklärenden Wissenschaft, das „Causa aequat effectum“78 aufzugeben genötigt wird. Also bleibt für die Psychologie nur der Weg der Beschreibung und Analyse. Gerade dieser aber ist in der Tat ihrer Aufgabe allein angemessen; denn ihre Aufgabe ist, das unmittelbar Erlebte, den ganzen unverstümmelten Befund des seelischen Lebens79 nach seinem unmittelbar gegebenen, nicht erst zu konstruierenden Zusammenhang darzustellen. Der Zusammenhang ist hier das Erste, von ihm aus nur kann das
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Vgl. das Motto dieses Buches – Anm. d. Hrsg. Vgl. hierzu auch Natorps Platoninterpretation, Platons Ideenlehre, v. a. Kap. 9–10. – Anm. d. Hrsg. 78 „Die Ursache entspricht der Wirkung“ (Scholastische Formel). – Anm. d. Hrsg. 79 Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, S. 13f. 77
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Einzelne „verstanden“ (nicht „erklärt“) werden; das psychologische Denken artikuliert und distinguiert von dem gegebenen Zusammenhang aus80; die logische Analyse dient nur zur Wiederherstellung des ursprünglichen Zusammenhanges. – Von dieser Seite erscheint die Darstellung des Zusammenhanges als die eigentliche Aufgabe, die indessen nur lösbar ist durch Zergliederung81. Das braucht kein absoluter Widerspruch zur anfänglichen These zu sein: der Zusammenhang liegt an sich zugrunde, aber ihn „nachzukonstruieren“82 ist doch erst Aufgabe der Psychologie, und dazu dient die Analyse, die wirklich immer auf diesen zugrunde liegenden Zusammenhang bezogen bleibt83; denn auch „das Unterscheiden und Trennen bringt Verhältnisse hervor und dient somit der Verbindung“84. Und zwar ist bei diesem unmittelbaren Zusammenhang nicht an die Erlebnisfolge des Individuums allein gedacht, sondern auch an den interindividuellen Zusammenhang, zuletzt aber an die „großen Formen“ der menschlichen Kultur, in welchen „der konstante und gleichförmige Wille sich objektiviert“85. Ausdrücklich werden die Kulturgestaltungen jeder Art als „Objektivationen“ gleicher Art wie die der Welterkenntnis anerkannt und für die Psychologie zum Problem gemacht. Sie bilden gleich dieser einen hervorragenden Gegenstand psychologischer Analyse, welcher auf die Elemente und Verbindungen, hier des Wollens wie dort des Wahrnehmens, Vorstellens und Denkens, gerichtet [292] ist86. | Aber höchstens gelegentlich gestreift wird der Gedanke, dass das Unmittelbare des seelischen Lebens, wie sehr immer unmittelbar erlebt, doch darum nicht auch unmittelbar bekannt, sondern gerade erst zur Erkenntnis zu bringen sei. Weit überwiegend erscheint es vielmehr so, als liege das seelische Leben offen zutage und warte nur des Psychologen, der es gleichsam abschreibt. Psychologie „erzählt, was sie findet“, heißt es in dieser Hinsicht sehr bezeichnend87. Und so sieht Dilthey auch in den typischen Kulturgestaltungen: Wirtschaft, Recht, Religion, Kunst, Wissenschaft, nicht Grundlagen, Ausgangspunkte für die Rekonstruktion der Subjekterlebnisse, sondern sie selbst sollen in der Psychologie ihre Begründung finden, wie er insbesondere auch die Erkenntnistheorie psychologisch, nicht die Psychologie erkenntnistheoretisch (oder erkenntniskritisch) begründen will. Mit der Verkennung der selbständigen, psychologiefreien, rein objektiven Begründung 80 81 82 83 84 85 86 87
Ebd., S. 36. Ebd., S. 36. Ebd., S. 34. Ebd., S. 37. Ebd., S. 39. Ebd., S. 52. Ebd. Ebd., S. 84.
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der Gegenstandswissenschaft jeder Art hängt es auch wohl zusammen, dass er den methodischen Sinn und Wert der physiologischen Erforschung des Kausalzusammenhanges des Psychischen auffallend unterschätzt und in unhaltbarer Weise teleologische Erklärungsweisen da einführen will, wo rein kausale Betrachtung allein am Platze ist.
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Kritische Übersicht über sonstige Theorien: Münsterberg, Bergson V. Hugo Münsterberg §1. Grundanlage der Psychologie Münsterbergs. Gewisse Analogien mit Diltheys Grundansicht zeigt Hugo Münsterberg, in den Grundzügen der Psychologie, I. Allgemeiner Teil: Die Prinzipien der Psychologie (1900), der aber im Ganzen unserer Auffassung sehr viel näher steht. Weit verschieden zwar von der unsrigen ist seine Grunddisposition der philosophischen Probleme. Er geht aus von einer etwa Fichte’schen Entgegensetzung des Ich als des wertenden, „stellungnehmenden“ Subjekts zum Nicht-Ich als „vorgefundenem“ Objekt, als „Gegenwurf“ der zweckgerichteten Tätigkeit des Ich. Auf die letztere | Seite aber fällt ihm, mit dem „Physischen“, auch [293] das „Psychische“, welches ihm damit, paradox genug, zum „Objektiven“ wird. Die Wiederherstellung des unmittelbaren Zusammenhanges der seelischen Erlebnisse, die „Subjektivierung“ des Objektiven erkennt er als eine eigentümliche Aufgabe zwar an, aber macht sie, nach seiner abweichenden, von vornherein teleologischen Deutung des Begriffs des Ich oder des Subjekts, zur Aufgabe nicht der Psychologie, sondern der „Normwissenschaften“ Logik, Ethik, Ästhetik, und in erweitertem Sinne der Geisteswissenschaften, besonders der Geschichtswissenschaften. Das ist nun zum mindesten eine nicht gerade notwendige Abänderung des Sprachgebrauchs. Vorstellung ist nicht weniger subjektiv als Streben; andererseits unterliegt das Streben nicht weniger als die Vorstellung der Objektivierung. Das Unmittelbare des Erlebnisses aber ist so wenig teleologisch wie in Münsterbergs Sinne „objektiv“, d. h. ateleologisch, sondern enthält in ungeschiedener Einheit den subjektiven Grund der doppelten Objektivierung zum Seienden (im bloß theoretischen Sinne, des „Vorgefundenen“ nach Münsterberg) und zum Seinsollenden. Schon die Scheidung des rein „Vorgefundenen“ von allein teleologischen Beisatz ist Entfernung vom Unmittelbaren des Erlebnisses. Somit reicht Münsterbergs Psychologie an das letzte Subjektive, also nach sonst allgemeinem Sprachgebrauch „Psychische“, gar nicht heran. Man empfindet es daher bei ihm geradezu als Inkonsequenz, wenn er bisweilen dieser weiteren Fassung der Aufgabe
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einer Rekonstruktion des Unmittelbaren sich dennoch nähert. So sind1 seine beiden Wissenschaftsgruppen doch Bearbeitung des schließlich einen Gegebenen; „herausgelöst“ ist, wie er jetzt anerkennt, auch schon jener letzte Gegensatz des Teleologischen und Ateleologischen aus „einem einzigen unteilbaren Lebensinhalt“2, der durch diese begriffliche Sonderung doch nicht wirklich zersprengt, sondern vielmehr vertieft und bereichert wird3. Die unmittelbare, „reine Erfahrung“ enthält vielmehr in ungeschiedener Einheit, was der Begriff freilich scheiden muss. Auch dass diese „ursprüngliche Wirklichkeit“ des rein Erfahrenen nicht „gegeben“ ist im Sinne des von Haus aus Bekannten, sondern vielmehr gesucht, kommt gelegentlich4 zum Vorschein, ohne indessen weitere Beachtung zu finden. Also die Aufgabe, die wir der Psychologie stellen, besteht jedenfalls; [294] Münsterbergs Psychologie aber hat sie sich zu stellen versäumt. Das | seltsame Ergebnis ist, dass die ganze aktive Seite des Seelenlebens aus seiner Psychologie eigentlich entfällt; er braucht die künstlichsten Umwege, um für sie doch wieder einen Platz in ihr zu erübrigen. Und doch muss er anerkennen5: das überindividuelle Wollen (= Sollen), obwohl begrifflich abgelöst vom individuellen Subjekt6 liegt dennoch im individuellen Wollen, nämlich in dem Wollen von mehr als individueller Tendenz7. „Akt“ und „Objekt“ sind also ganz im gleichen Sinne überindividuell und individuell; das Verhältnis des Gesollten zum Gewollten entspricht genau dem des Physischen zum Psychischen8. Vielmehr es müsste hiernach offenbar das individuell Gewollte ebenso gut wie das individuell Vorgestellte – aber auch das überindividuell Gewollte wie Gedachte, sofern es doch, der „Tendenz“ nach, im Individuellen „liegt“ –, oder zum wenigsten diese Tendenz müsste zum Psychischen gerechnet werden, da doch das Individuelle sonst, nach Münsterberg, das Psychische ist. Warum lehnt Münsterberg dennoch die rekonstruktive Psychologie (die er kennt9) völlig ab? Weil sie – beschreibend sein wolle, Beschreibung aber prinzipiell der konstruktiven Psychologie zugehöre und von der Erklärung nicht getrennt werden dürfe10! Der unmittelbare Zusammenhang des Erlebten, den darzulegen allerdings eine wissenschaftliche Aufgabe
1
Grundzüge der Psychologie, nach S. 62. Ebd., S. 63. 3 Ebd., S. 64. 4 Ebd., S. 51, Z. 11 v. u. 5 Ebd., S. 107. 6 Ebd., S. 107, Z. 9; d.h. aber: vom „psychologisch“ Vorhandenen, Z. 17. 7 Ebd., S. 107, Z. 12. 8 Ebd., S. 107, Z. 9. v. u. 9 Ebd., S. 29. 10 Ebd., S. 30. 2
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sei, lasse sich überhaupt nicht beschreiben; sondern nur „verstehen“11, „nachfühlen, nachempfinden, erleben“12; Beschreibung setze – Objektivation voraus; Beschreiben heiße Bestimmen, Bestimmen aber heiße schon – Objektivieren13: alles, was ich selbst, fast in denselben Worten, behauptet hatte14. Die Schwierigkeit löst sich mir durch den Begriff der Rekonstruktion als indirekter Beschreibung, nämlich auf dem Umwege über das Objekt. Wir werden aber weiter unten sehen, wie Münsterberg selbst genau auf diesen Weg geführt wird. § 2. Begriff des Psychischen als des „Nichtidentifizierbaren“. Nachdem er nämlich das Psychische vom Subjektiven als dem Teleologischen gänzlich geschieden hat, vermag er es nur noch zu bestimmen als Gegenseite des Physischen; im Verhältnis zu diesem aber wenigstens bestimmt er es nun in ganz ähnlichem Sinne, wie es sich uns, nur eben allgemeiner: als Gegenseite der Objektivationen jeder Richtung und Stufe, teleologischer so gut wie ateleologischer, ergab. Das Psychische | ist ihm, wie wir sahen, nicht das [295] Subjektive; es ist nicht zu charakterisieren durch die Zugehörigkeit zum „beziehenden“ (= stellungnehmenden) Ich, denn diesem steht gleicherweise das Physische wie das Psychische gegenüber als das Objektive, das jenem (stellungnehmenden) Ich bloß zum „Gegenwurf“ dient. Aber auch nicht die Beziehung auf das bloß „vorfindende“ Ich kann etwa das Psychische definieren; denn vorfindbar für ein Ich, d.h. erfahrbar, ist auch das Physische15. Aber allerdings das nur einem Subjekt Vorfindbare ist das Psychische16. Damit scheint Münsterberg zunächst ganz auf denselben Weg zu kommen, den Wilhelm Schuppe einschlug17: diesem ist das Psychische das dem individuellen Bewusstsein, das Physische das einem „Bewusstsein überhaupt“ Gegebene. Nur unterscheidet Münsterberg genauer: das Physische im Unterschied vom Psychischen ist nicht das von mehreren vorfindenden Subjekten gemeinsam Vorgefundene, sondern es ist das für mehrere aktuelle Subjekte gemeinsam Gültige, gedacht als Vorfindbares, also losgelöst von der Aktualität; es ist vorfindbar für das Bewusstsein überhaupt, eben deshalb nicht für ein einzelnes Subjekt18. Es ist das, was in einer Mehrheit von Erfahrungen
11
Ebd. Ebd., S. 31. 13 Ebd. 14 Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, §13, bes. S. 92. 15 Ebd., S. 71f. 16 Ebd., S. 72. 17 Vgl. darüber [Natorps] „Bericht über deutsche Schriften zur Erkenntnistheorie aus den Jahren 1894–1895“, S. 108ff., und „Bericht über deutsche Schriften zur Erkenntnistheorie aus den Jahren 1896–1898“, S. 219 ff. 18 Grundzüge der Psychologie, S. 74. 12
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wiedergefunden und identifiziert werden kann (S. 83). Die Identifikation vollzieht sich als Ursachenzusammenhang, und schafft damit die Physis, die Natur; das Psychische als das Nichtidentifizierbare wird so zunächst zu dem „Rest, der übrig bleibt, wenn das in verschiedenen Erfahrungen Identifizierbare, und somit das kausal Zusammenhängende, herausgearbeitet und abgezogen ist“ (S. 88). Das Psychische wird identisch mit dem Nichtobjektivierbaren: „Die Objektivierung hat ihre Aufgabe erfüllt, wenn sie zur Physik hinführt und das Psychische als unberechenbaren Rest“ übrig lässt, dem so zunächst kein selbständiges Interesse zuzukommen scheint. Indessen lässt doch das Psychische, das so zunächst aus dem Zusammenhange des Objektiven überhaupt herausfällt, sich mittelbar doch wieder in diesen Zusammenhang einstellen, nämlich dadurch, dass man es in logische Beziehung zu kausal zusammenhängenden physischen Prozessen (nach der Vorstellung des Parallelismus) bringt. So wird es allerdings ganz „im Physischen verankert“ (S. 89); aber die psychische Seite des psychophysischen Zusammenhanges bleibt dabei doch die uns vertrautere, zugänglichere, sodass sie, mindestens solange die Zusammenhänge auf der physischen Seite [296] nicht bekannt | sind, ersatzweise statt dieser eintreten kann und muss (S. 90). Aber nachdem so das Psychische einmal begrifflich gesichert ist, muss es allerdings auch abgesehen von diesem Ersatzwert für das Physische, an sich selbst zum Objekt wissenschaftlicher Theorie gemacht, beschrieben, geordnet, vereinfacht, erklärt, kurz nach jeder Richtung erforscht (S. 91, 92), d. h. es muss auch rein „um der Wahrheit willen“ Psychologie getrieben werden (S. 92). §3. Übereinstimmungen in Münsterbergs und unserer Auffassung des Psychischen. Diese Auffassung steht – immer abgesehen von der harten Einseitigkeit der Beziehung des Psychischen, als Gegenseite, auf das Physische allein, statt auf die Objektivierung jeder Art und Richtung – der unsrigen offenbar nahe, näher vielleicht als die irgend eines anderen Psychologen. Die Übereinstimmung erstreckt sich denn auch auf eine lange Reihe von Einzelbestimmungen, ja beinahe auf alle entscheidenden und unterscheidenden Hauptsätze meiner „Einleitung“. Ich stelle nur die wichtigsten dieser Übereinstimmungen hier in knapper Übersicht zusammen: 1. Das psychologische Subjekt oder Ich wird rein und ausschließlich charakterisiert durch die unveränderliche Beziehung des „reinen Vorfindens“19; es bezeichnet die „lediglich formale Zugehörigkeit des Objekts zum Subjekt“, das vorfindende Bewusstsein wird zum bloßen „logischen Beziehungszentrum“. Alle Mannigfaltigkeit und
19
Ebd., S. 204.
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2.
3.
4.
5.
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Veränderlichkeit des Bewusstseins dagegen betrifft allein den Bewusstseinsinhalt; das Subjekt ist nur die absolute Voraussetzung für dessen Existenz20, seine Funktion bleibt allein die des Vorfindens, „oder, wie man es auch genannt hat, der Bewusstheit“21 (so hatte ich es genannt). Auch irgendwelche bewirkende Kräfte, irgend eine psychische Kausalität darf dem vorfindenden Ich nicht beigelegt werden22; es steht völlig einflusslos seinem Inhalt gegenüber; „die mechanische und die psychologische Welt, wie sie sich dem vorfindenden Subjekt darbieten, müssen somit beide nicht nur die (materialen) Inhalte, sondern auch die Formen möglicher Inhalte, die Beziehungen, in sich selber tragen“23. Auch die Kategorien dürfen nicht dem psychologischen Bewusstsein zugeschoben werden; auch die „Synthesis des Mannigfaltigen“ ist nicht Funktion des psychologischen Subjekts24. | [297] Es repräsentiert daher, für sich genommen, weder eine kausale, noch eine teleologische, ja auch nicht eine zeitliche Einheit; das psychologische Subjekt von heute und das von gestern ist nicht dasselbe, als hätte es überdauert, und ist doch auch nicht ein anderes; die Frage nach der zeitlichen Erhaltung hat für es überhaupt keinen Sinn, da es niemals Objekt werden und niemals aktiv sein kann25. Die Bewusstheit hat keine verschiedenen Grade26; es gibt ebenso keine Enge und keine Weite des Bewusstseins, sondern nur Begrenztheit und Erweiterung des Bewusstseinsinhalts27. Desgleichen lehnt Münsterberg, mit mir, alles Operieren mit unbewussten und doch psychischen Vermittlungen des Bewusstseins so entschieden wie wenige andere Psychologen ab. Auch mit der Annahme unbewusster „Dispositionen“28 wird der Begriff des Psychischen unberechtigter Weise über die Bewusstseinsvorgänge hinaus erweitert; wo soll dann aber die Grenze sein? Dann sind auch der Mond und die Sterne psychisch, da sie Lichtempfindungen im Bewusstsein hervorrufen29. „Das unbewusste Geschehen als seelisches zu bezeichnen,
Ebd., S. 205. Ebd., S. 206. 22 Ebd., S. 208. 23 Ebd., S. 208f. 24 Ebd., S. 209. 25 Ebd., S. 211. 26 So auch Lipps, „Psychische Vorgänge und psychische Causalität“, S. 184; vgl. meine Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, S. 19f. 27 Grundzüge der Psychologie, S. 213–215. 28 Vgl. hierzu besonders meine an Lipps geübte Kritik, [Natorps Rezension zu Lipps’ Grundthatsachen des Seelenlebens], S. 197., 205 ff., 209., 211ff. 29 Grundzüge der Psychologie, S. 223. 21
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solange wir dahingestellt sein lassen, ob es materiell oder immateriell sei, erscheint daher unzulässig. Auch die unbewussten Vorstellungsdispositionen gelten uns als seelisch nur, weil sie zunächst gar nicht körperlich gedacht werden. Nun erschlossen wir sie aus dem Entstehen der reproduzierten Vorstellungen. Verlangen denn aber die neu produzierten Wahrnehmungsvorstellungen nicht in gleicher Weise eine vorangehende Disposition?“ Hier soll der Reiz genügen, oder vielmehr die Gehirnerregung: aber gerade solche werden doch auch als Bedingungen der reproduzierten Vorstellungen vorausgesetzt. Die Dispositionen werden dann molekulare Einstellungen des Gehirns, und die Hypothese unbewusster seelischer Dispositionen wird überflüssig30, sie wird ein „methodologischer Luxus“31. Übrigens wird man mit der Annahme der unbewussten psychischen Dispositionen den Materialismus doch nicht los; es ist selbst nur ein verschämter Materialismus, der sich darin ausdrückt: „das Prinzip der Erhaltung des Stoffs wird von der naturwissenschaftlichen Materie da unberechtigt auf den Bewusstseinsinhalt übertragen“32. | Man denkt sich im Grunde einen „nicht wahrgenommenen, aber als Wahrnehmungsmöglichkeit fortdauernden Körper“ der Vorstellung33. Kurz, „das psychische Unbewusste, das seiend ist und doch nicht im Bewusstsein vorkommt, kann in keinem Schlupfwinkel mehr verborgen sein. Es ist ein unmögliches Gebilde, das unvereinbare Begriffsmomente vereinigen will … Jedes wirklich Psychische muss also in dem System enthalten sein, das der Bewusstseinsinhalt und das Bewusstsein bilden, und da wir erkannten, dass das vorfindende Bewusstsein selbst ohne mögliche Variation und Funktionsverschiebung gedacht. werden muss, so muss alles psychische Geschehen im Bewusstseinsinhalt vor sich gehen. Psychologie ist also nur die Lehre vom Bewusstseinsinhalt“34.
[298]
§4. Verhältnis des Psychischen zu Zeit, Raum und Messbarkeit. Das Einzige, was hier noch von meinen Aufstellungen abweichend scheint, ist die Rede von Bewusstseinsvorgängen. Das erweckt die Vorstellung, als denke Münsterberg das Bewusstsein von Anfang an und grundsätzlich in die Zeit eingeordnet. Indessen belehrt uns das nächste (7.) Kapitel, dass Münsterberg (6.) auch inbetreff des Verhältnisses des Bewusstseinsinhalts zur Zeit und
30 31 32 33 34
Ebd., S. 223. Ebd., S. 224. Ebd., S. 224. Ebd., S. 225. Ebd., S. 230.
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ferner (735.) zum Raume ganz und gar mit meinen Aufstellungen übereinstimmt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass „auf psychischer Seite erstens unseren Vorstellungen“ (das gilt aber nicht auch von den Empfindungen) „Raum- und Zeitgestalt ebenso zukommt, wie Qualität, und zweitens auch unter den objektivierten Selbststellungen ein Raum- und Zeitfaktor als zeitliches und räumliches Richtungsgefühl vorhanden sein muss“36. Dass die Vorstellung selbst keine räumliche Ausdehnung hat, streitet damit nicht37; wenn unsere Vorstellungen räumlichen und zeitlichen Inhalt haben, so sind darum nicht sie selbst in Raum und Zeit zu ordnen; in der Zeit so wenig wie im Raum. Man sage mit Recht, dass das Nacheinander der Vorstellungen noch keine Vorstellung des Nacheinander ergibt; aber ebenso gilt in der Umkehrung: die Vorstellung vom Nacheinander enthält durchaus nicht notwendigerweise ein Nacheinander, eine zeitliche Dauer oder Folge der Vorstellungen38. Unsere Vorstellungen enthalten zeitliche Gestaltbestimmungen, so wie sie qualitative Bestimmungen enthalten; aber die Vorstellungen selbst als psychologische Bewusstseinstatsachen sind so wenig langdauernd oder kurzdauernd, als sie | viereckig oder sternförmig sind, [299] und so wenig zeitlich vor- oder nach einander, als sie räumlich ineinander geschachtelt oder übereinander aufgestapelt sind. Hier scheine in der Tat ein Vorurteil der Philosophie, auch der kritischen, vorzuliegen; „die Zeitverhältnisse des Geisteslebens haben kein Anrecht auf andere Behandlung als die Raumverhältnisse; die Probleme entwickeln sich durchgehends parallel“39. Von zeitlicher Ordnung und Dauer der psychischen Prozesse sei allerdings zu reden, aber dabei handle es sich nicht mehr um die rein psychologischen Inhalte für sich allein, sondern eigentlich immer schon um die physiologischen Vorgänge; alle Zeitmessung des Psychischen sei im letzten Grunde Messung der Dauer jener körperlichen Vorgänge, welche die psychischen Prozesse begleiten. Genau in demselben Sinne aber sei dann auch die Raumlage der psychologischen Vorgänge zu bestimmen; es sei für jedes Geschehen genau so ein bestimmter Platz in dem einen physischen Raum wie in der einen physischen Zeit in Anspruch zu nehmen. „Kurz, in dem Sinne, in dem die Vorstellungen unräumlich sind, müssen sie auch als unzeitlich anerkannt werden; in ganz anderem Sinn aber sind sie nicht nur in der Zeit, sondern ebenso auch im Raume“40; wie dann noch weiter 35
Das 6. Kapitel trägt den Titel „Die Beziehung zum Bewußtsein“, das 7. den Titel „Die Beziehung zu Raum und Zeit“ – Anm. d. Hrsg. 36 Ebd., S. 244. 37 Ebd., S. 246. 38 Ebd., S. 247; vgl. meine Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, S. 36. 39 Ebd. 40 Ebd., S. 248.
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eingehend begründet wird. – Die Klarheit dieser Darlegung verdient gewiss jedes Lob; aber wenn Münsterberg hiermit ein „Vorurteil der Philosophie, auch der kritischen“ zu berichtigen glaubt, so darf ich wohl bescheidentlich daran erinnern, dass zu den charakteristischen Lehren meiner Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode genau diese gehörte, die ich wohl mit Grund damals (1888) als eine der ganzen bisherigen Psychologie fremde und entgegengesetzte empfinden musste41. Nicht minder treffen wir zusammen in der Stellungnahme zu der großen Frage der Messbarkeit des Psychischen (Münsterberg, Kap. 842). Das Psychische ist von Haus aus ohne Quantität; psychische Objekte sind niemals teilbar, niemals messbar, niemals quantitativ bestimmbar43. Ein Psychisches ist niemals Multiplum oder Bruchteil eines andern44, wie ja in immer weiteren psychologischen Kreisen „endlich“ anerkannt werde. „Die Gramme sind in den Kilogrammen enthalten, in der starken Druckempfindung ist die schwache Druckempfindung niemals eingeschlossen, beide sind völlig verschiedene [300] einfache Empfindungen“45. Dies wird allgemein so begründet |: „Wenn die räumliche und zeitliche Bestimmung von vornherein ausgeschlossen ist und kein Objekt auch nur für zwei Subjektakte identisch ist, so fehlt offenbar jede Möglichkeit, nach Analogie der Körpermessung auch für das Psychische direkte Beschreibungen durch Zählung von Einheiten vorzunehmen“46. Somit ist Mathematik auf Psychisches überhaupt unanwendbar47; das Ideal der mathematischen Physik, das „prinzipiell überhaupt das einzige Ideal der Naturwissenschaft ist“, ist auf die Psychologie nicht zu übertragen. – Man kann noch einfacher sagen: Messen heißt Identifizieren, Identifizieren heißt Objektivieren. Das Psychische dagegen als das Subjektive ist das Nichtidentifizierbare. Also kann es als solches nicht messbar sein. Diese der Münsterberg’schen äquivalente Schlussfolgerung steht der Sache nach in meiner Einleitung48. Hinzuzusetzen ist nur noch, dass ebenso wenig wie Quantität auch Qualität oder Intensität dem Bewusstseinsinhalt (z.B. der Empfindung) als solcher zugeschrieben werden darf. Empfindung verschiedener Qualität oder Intensität ist ebenso wenig qualitativ oder intensiv 41 S. Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, § 7, bes. S. 35–42, ferner §10, 3–5, S. 64–72; [Natorps] „Zu den Vorfragen der Psychologie“. 42 Kap. 8 trägt den Titel „Die psychische Mannigfaltigkeit“. – Anm. d. Hrsg. 43 Grundzüge der Psychologie, S. 263. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 264. 46 Ebd., S. 269. Kursivierung von Natorp – Anm. d. Hrsg. 47 Ebd., S. 280. 48 Ebd., S. 82ff.; vgl. ferner die Ausführung gegen Lipps [in der Rezension von 1885], S. 199ff., und gegen Stumpf [in der Rezension von 1886], S. 149f., 154, 173; 1891, S. 782; [Natorps] Allgemeine Psychologie in Leitsätzen zu akademischen Vorlesungen, §14 u.ö.
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verschiedene Empfindung, wie Empfindung verschiedener extensiver Größe verschieden ausgedehnte Empfindung49. Diese einfache Erwägung beseitigt mit einem Schlage zahlreiche Unklarheiten und begriffliche Verwirrungen der bisherigen Psychologie. §5. „Indirekte Beschreibung“ des Psychischen. Aus dem allen ergibt sich nun ohne weiteres, dass für Münsterberg ebenso wie für mich von einer „Beschreibung“ des Psychischen, wenn überhaupt, dann keinesfalls im gleichen Sinne wie im physischen Gebiet die Rede sein kann. Münsterberg stellt zwar der Psychologie zunächst die Aufgabe der Beschreibung der psychischen Objekte, d.h. Fixierung der Bestandteile und ihrer Beziehungen (= Analyse und Synthese50), ohne hierbei zunächst eine Schwierigkeit zu empfinden. Aber er stößt dann doch bald auf diese Schwierigkeit, indem er sich besinnt, dass Beschreibung nicht bloß Erkenntnis, sondern Mitteilung bedeutet; wie wäre aber das Psychische mitteilbar, wenn es das nur einem Subjekt Erfahrbare bedeuten soll51? Das Psychische ist das „notwendig Unmitteilbare“, eine direkte Beschreibung des Psychischen also un|möglich52. [301] Indessen bleibt eine mittelbare Beschreibung möglich; z.B. ich kann zwar keinem meine Farbenempfindung mitteilen, so wenig wie er mir die seine; aber, sofern Grund vorliegt zu der Voraussetzung, dass er dasselbe physische Objekt unter wesentlich gleichen Bedingungen wie ich sieht, kann ich durch Hinweis auf dies physische, d.h. für uns beide identische Objekt ihn zugleich auf das psychische Objekt (die Farbenempfindung) in seinem eigenen Bewusstsein hinweisen, das dem meinen entspricht. So ist eine Identifikation indirekt möglich. Die Beschreibung des Psychischen braucht somit notwendig den Umweg über das Physische. Das Psychische ist allein beschreiblieh durch das Physische, welches es „meint“53. Dies Verfahren der „indirekten Beschreibung“ trifft nun zunächst nur auf den Inhalt der Wahrnehmung zu. Daraus folgert Münsterberg: also müsse das Element des Wahrnehmbaren, die Empfindung notwendig den Ausgangspunkt der psychologischen Beschreibung bilden. Der ganze Begriff der Empfindung als des letzten Elementes des Psychischen entspringt überhaupt allein diesem logischen Bedürfnis; nicht aber ist die Empfindung als solches Element etwa vorfindbar, noch dient sie etwa dem genetischen Verständnis, als ob die Elemente erst für sich da wären und aus ihrem sukzessiven Zusammentreten dann die Vorstellung als Ganzes sich bildete,
49 50 51 52 53
Allgemeine Psychologie in Leitsätzen zu akademischen Vorlesungen, §15. Grundzüge der Psychologie, S. 298. Ebd., S. 301f. Ebd., S. 303. Ebd., S. 308f.
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wie „ein Gewebe aus Fäden“54. Die Empfindung als Element beansprucht durchaus keine selbständige Existenz. Auch Nichtvorstellungen sind aus Empfindungen zwar nicht wirklich zusammenzusetzen, aber sie sind nur soweit wissenschaftlich beschreibbar, als sie es sind. Die wissenschaftliche Psychologie soll es wenigstens „als ihr Ideal betrachten, den gesamten Bewusstseinsinhalt als Kombination von Elementen aufzufassen, welche in Wahrnehmungsvorstellungen“ auf die physische Welt bezogen und dadurch vollkommen fixierbar sind55. – Auch hiermit ist wohl etwas Richtiges getroffen, nämlich die allerdings unerlässliche Zurückbeziehung auch des Gefühls und Strebens auf die Vorstellung; aber das Eigene dieser Bewusstseinsgestalten kann allerdings auf diesem Wege unmöglich zur Erkenntnis gebracht werden. Für uns löst sich die Schwierigkeit dadurch, dass wir eine eigene Objektivierung der Strebung kennen, nämlich in der eigenen Welt des Praktischen; durch den Bezug auf diese wird das Subjektive [302] des Strebens ganz im gleichen Sinne „indirekt“ | beschreiblich, wie durch den Bezug auf die Welt der theoretischen Erkenntnis das Subjektive der Vorstellung. Abgesehen von dieser allerdings wesentlichen Differenz, die mit der Verschiedenheit unserer Grunddisposition der philosophischen Probleme zusammenhängt und aus ihr notwendig fließt, entspricht aber Münsterbergs Methode der „indirekten Beschreibung“56 mindestens dem Prinzip nach durchaus unserer Methode der „Rekonstruktion“. Der Umweg der Begründung über das Problem der Mitteilbarkeit aber ist durchaus unnötig; es genügt zu sagen: das Psychische ist das Nichtidentifizierbare; es ist nichtidentifizierbar, nicht bloß sofern es verschiedenen Subjekten, sondern auch, sofern es einem und demselben Subjekt in verschiedenen getrennt gedachten Erlebnismomenten identisch gegeben sein soll. Identifizieren heißt ja schon Objektivieren, mit jeder Identifikation wird ein Objekt gesetzt. Also wäre die „Beschreibung“ des Psychischen Identifikation des Nichtzuidentifizierenden, Bestimmung des Nichtzubestimmenden. Diese ist, als direkte verstanden, ein Widerspruch in sich selbst; sie wird verständlich und möglich allein als indirekte, als „Rekonstruktion“, d.h. als Rückgang von der vorgängigen Konstruktion des Objekts auf dessen Dynamis. §6. Indirekte Erklärung; Ablehnung psychischer Kausalität. Diese Begründung aber gibt erst dem Verfahren der Rekonstruktion die Allgemeinheit, ohne die es als das Verfahren der Psychologie nicht behauptet werden dürfte. Die Rückbeziehung auf den physischen Zusammenhang ist nur eine einseitige Anwendung des allgemeinen Verfahrens. Münsterberg kommt eben 54 55 56
Ebd., S. 313. Ebd., S. 309. Vgl. ebd., S. 303–309 (Kap. 9.2., „Die indirekte Beschreibung“). – Anm. d. Hrsg.
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von der experimentellen Psychologie her; daher ist seine methodologische Grundlegung der Psychologie einseitig auf diese zugeschnitten. Das verrät sich besonders auch darin, dass er, über die Beschreibung hinaus, die „Erklärung“ des Psychischen seiner Psychologie zur Aufgabe stellt. Diese kann nach seinen Voraussetzungen natürlich nur physiologisch ausfallen, da zuletzt und direkt nur Physisches mit Physischem in Kausalzusammenhang gedacht werden darf. Das bedürfe gar nicht empirischer Begründung, sagt er mit Recht; es sei hinreichend gegründet in den logischen Voraussetzungen der Naturwissenschaft, in jenen Grundannahmen, „durch deren Setzung der Verstand das physische Objekt aus der gegebenen (d.h. „psychischen“) Wirklichkeit herausarbeitet“57. Der Weg aber, den Zusammenhang des Psychischen begreiflich zu machen, be|steht darin: „alles Psychische dem Physischen so [303] zuzuordnen, dass, wenigstens theoretisch, der gesamte Bewusstseinsinhalt durch die Berechnung mechanischer Vorgänge vorausbestimmt werden kann“58. Also eine indirekte Erklärung, wie vorher indirekte Beschreibung! Nun bestand die Beschreibung zunächst der Vorstellung in ihrer eindeutigen Zuordnung zu dem Objekt, welches sie „meint“. Damit war dem Bedürfnis der Beschreibung genügt, aber nicht auch dem der Erklärung. Denn der Kausalzusammenhang fordert beiderseits bestimmte, örtlich und zeitlich, nicht bloß inhaltlich fixierte Existenzen. Durch jene Beschreibung aber wurde noch keine Existenz fixiert. Münsterberg sagt ganz schroff: Erklärung zielt aufs Einzelne (nämlich das Faktum), Beschreibung aufs Allgemeine. Das mag anfechtbar sein, aber es wirft helles Licht darauf, dass mit der „Beschreibung“ in der Tat gar nicht tatsächliche Feststellung gemeint war, sondern rein der gedankliche Wiederaufbau des unmittelbaren, an sich ja nicht zeitlich zu bestimmenden Bewusstseinsbestandes, zuletzt der vollen Konkretion des Erlebten. Wir ziehen auch deshalb vor, nicht von „Beschreibung“ zu reden, denn die Beschreibung, deren Komplement die Erklärung ist, müsste doch wenigstens bestehen in dem Aufweis des zu erklärenden Tatbestandes; wir sehen aber jetzt, dass Münsterberg das gar nicht gemeint hat; mit gutem Grunde nicht, denn diese Beschreibung läge offenbar völlig in der Richtung der Objektivierung, sie zielt auf sie, gehört ganz ihr zu, während doch das Ziel der Psychologie das Subjektive abseits aller Objektivierung sein soll. Dann aber ist es die unabweisliche Konsequenz, dass man die „Erklärung“ ganz und rein der Naturwissenschaft zuweist, und zwar der ganzen: alle Naturwissenschaft tut ja überhaupt nichts anderes als Gegebenes, Erfahrenes, welches als solches doch psychisch, das Psychische ist, in einheitlichem – notwendig einheitlichem Zusammenhang unter Gesetzen darstellen. Die
57 58
Ebd., S. 412. Ebd., S. 415.
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nähere Beziehung des Erlebten zur Physiologie stellt ja auch die nur fernere, aber darum nicht weniger zwingende Beziehung zur ganzen Naturwissenschaft faktisch her, da Physiologie auf der ganzen Naturwissenschaft, bis zur Mechanik zurück, beruht, und nur den Kreis der „Erklärung“, d.h. der (theoretischen) Objektivierung des Subjektiven schließt. Statt dieser einfachen, sogleich das Ganze umfassenden Begründung gibt Münsterberg [304] eine sehr künstliche und wunderliche, durch die spezielle Erwägung: die | Gehirnprozesse müssten deshalb die notwendige Bezugsgrundlage für die Erklärung des Psychischen sein, weil sie – uns selbst niemals Objekt werden können. Aber ganz gewiss sind sie uns selbst Objekt. Vom Nordpol und Südpol der Erde hat bis vor kurzem kein Mensch aus Autopsie berichten können, und doch stand ihre Existenz wahrlich „objektiv“ fest; nicht weniger objektiv stehen mir meine Gehirnvorgänge fest. Für eine so gesuchte und unglückliche Begründung liegt aber gar kein Bedürfnis vor. Die ganze „Natur“ – auch Mond und Sterne59 – ist Objektivierung von Bewusstseinsinhalt. Diese Objektivierung ist einesteils physikalisch; die Objektivierungen der Physik ergeben sich aus dem Teil meiner Erfahrungen, die einer Identifizierung mit den Erfahrungen Anderer direkt fähig sind; nun bleibt ein Rest des Individuellen, nicht mit den Erfahrungen Anderer direkt Identifizierbaren; die logische Grundlage für die wissenschaftliche Bearbeitung dieses Restes bleibt die gleiche: die Kausalität des Physischen; aber die physischen Prozesse müssen sich jetzt spezifizieren in Richtung auf die Sondererfahrungen der verschiedenen Individuen; für diese Spezifikation aber findet sehr bald selbst die gemeine Erfahrung, genauer dann die Wissenschaft, als physische Grundlage den Zentralnervenapparat. Also sind die Objektivierungen der Physik zu ergänzen durch die, welche durch die Physiologie des Zentralnervensystems geleistet werden. Ich sehe nicht, welcher weiteren Begründung es hier noch bedürfte, wozu hier das negative Argument dienen sollte, dass die Prozesse meines Gehirns, allein von allem, was in der Natur vorgeht, mir nicht „objektiv“ werden könnten – was überdies offenbar nicht zutrifft. Die weitere Durchführung des Münsterberg’schen Standpunkts bietet noch eine Reihe von Punkten, die für unsere Grundauffassung bestätigend sind; ich berühre nur kurz die Kritik der Wundt’schen Vorstellung vom „Wachstum der psychischen Energie“, desgleichen der Apperzeptionstheorie desselben Forschers, sowie auch der gewöhnlichen Form der Assoziationspsychologie, die allein von der sensorischen Funktion ausgeht; Münsterberg stellt dieser gegenüber eine „Akttheorie“60, welche gleichmäßig mit den sensorischen die motorischen Prozesse berücksichtigt. Dadurch glaubt er die gewöhnlich durch den unklaren Begriff der Apperzeption 59
S.o., S. 275f. Bei Münsterberg „Aktionstheorie“, vgl. Die Grundzüge der Psychologie, Kap. 15, S. 525–562. – Anm. d. Hrsg. 60
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interpretierten Erscheinungen besser erklären zu können. Ich stehe hier ganz auf der Seite Münsterbergs; doch könnte hier nur die Ausführung entscheiden, die uns Münster|berg leider bisher nicht vorgelegt hat. Nachdem [305] wir indessen diese ganze Aufgabe der Naturwissenschaft zugewiesen haben, berührt diese Frage nicht weiter unser augenblickliches Interesse.
VI. Henri Bergson §7. Bergsons „Unmittelbare Gegebenheiten“; seine Kritik der Psychophysik. Wie Lipps, Husserl, Münsterberg und ich, von sehr verschiedenen letzten Voraussetzungen ausgehend und von nicht minder verschiedenen wissenschaftlichen Interessen geleitet, dennoch in zwar nicht identischen, aber nahe verwandten Ergebnissen hinsichtlich der Aufgabe der Psychologie zusammentreffen, so und vielleicht noch merkwürdiger begegnen wir alle uns in wesentlichen Stücken mit einem Forscher, dessen Philosophie eine uns allen fernliegende, nämlich mystische Tendenz verfolgt und daher eine geradezu revolutionäre Haltung gegen die ganze bisherige Philosophie einnimmt – oder einzunehmen sich den Anschein gibt: Henri Bergson. Schon seine Doktorthese: Essai sur les données immédiates de la conscience61 (Paris 1889) richtet die Untersuchung auf die „unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins“. Diese stellen sich ihm in schroffstem Gegensatz dar zu dem, was die Wissenschaft daraus macht. So scheint er zunächst einem extremen Dualismus zu verfallen – der aber vielleicht gerade den Antrieb zu seiner eigenen Überwindung in sich schloss, denn die folgenden Werke streben offenbar einem sehr entschiedenen Monismus zu. An dem Problem der Psychophysik zunächst, mit deren scharfsinniger Kritik seine Forschung einsetzt, wird ihm klar, wie gänzlich in der bisherigen Psychologie das Subjektive in seiner Eigenheit verkannt und ins Objektive verschoben war. Ausgehend von der bis dahin fast allgemein geltenden, oberflächlich Kantischen Scheidung des Inneren (Psychischen), als des Zeitlichen, vom Äußeren (Physischen) als dem Räumlichen, nimmt er mit gutem Grunde Anstoß an der Hineintragung von Begriffen handgreiflich räumlichen Gepräges in die Auffassung des Psychischen; zunächst an der Größenbestimmung der Empfindung in der Psychophysik Fechners62. Die eben merkliche Verschiedenheit ist keine Größe; gegeben sind die Empfindungen E und E’, aber nicht die Intervallgröße (E’–E); die 61 Dt. Zeit und Freiheit. Versuch über die unmittelbaren Bewusstseinstatsachen. – Anm. d. Hrsg. 62 Gustav Theodor Fechner (1801–1887), deutscher Naturforscher, Psychologe und Philosoph, der auch unter dem Pseudonym „Dr. Mises“ veröffentlichte. – Anm. d. Hrsg.
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Größenauffassung ist eine innerlich nicht begründete Hineintragung, eine [306] petitio principii. | Weiter fällt ihm auf, dass genau mit ebenso wenig Recht
die Zeitauffassung des Physischen, die durchaus auf der Grundlage des Raumes beruht, auf das Psychische übertragen wird. Die „Zeit“ der Naturwissenschaft ist etwas gänzlich anderes, als was wir in uns als „Dauer“ erleben. Jene wird nicht bloß durch den Raum gemessen, sondern ist ganz nach der Analogie des Raumes gedacht, im Grunde nichts als eine vierte Dimension desselben, während die wahre „Dauer“ des Psychischen mit dem Raume nichts gemein hat. Auf räumlicher Vorstellung beruht aber, nach Bergson, überhaupt alle Quantitätsauffassung, schon von der Zahl an. Die ganze Vorstellung der Zeit als des „Nacheinander“ aber ist zahlmäßig, folglich räumlich. Demnach ist jede Annahme einer Aufeinanderfolge (Ablösung) der Bewusstseinszustände, als eine falsche Exteriorisierung des rein Innerlichen, als ein bloßer Widerschein jener objektiven d.h. in den Raum übertragenen Zeit, nach der wir die äußeren Vorgänge bestimmen, aus der reinen Vorstellung des Psychischen auszuscheiden. Die wahre, erlebte „Dauer“ (durée) kennt kein Außereinander, sondern nur absolute gegenseitige Durchdringung ihrer Momente, unlöslichen Zusammenhalt (solidarité), „Organisation“; eine durchgängige Wechselbeziehung wie der Noten in der Melodie. Da gilt kein Vor und Nach (das sind wieder Nachbildungen räumlicher Vorstellungen), also keine „Ordnung der Aufeinanderfolge“; sondern jeder Moment repräsentiert das Ganze. Ebenso gilt für die Dauer des Psychischen keine Homogeneität (Gleichwertigkeit, daher Vertauschbarkeit der Momente) wie im Raum, sondern durchgängige Heterogeneität, grenzenlose ungeschiedene Mannigfaltigkeit (multiplicité indistincte). Nicht Distinktion, sondern absolute Kontinuität des Übergangs ist ihr Wesen, d.h. das Wesen des Psychischen. Der Verlauf des seelischen Lebens wird zu dem Paradoxon eines „ausdehnungslosen Prozesses“. – Bergson ist sich natürlich völlig klar darüber, dass dies alles keinen Begriff gibt; die „radikale“ Heterogeneität schließt mit jeder Möglichkeit einer Identifizierung offenbar überhaupt die einer begrifflichen Bestimmung aus. Jede Identifizierung objektiviert in der Tat schon das ursprünglich Subjektive; jeder Ausdruck überhaupt isoliert und fixiert das an sich schlechthin nicht Isolierbare, nicht Fixierbare; also wird das rein Subjektive zum schlechthin Unausdrückbaren (inexprimable); jede Bezeichnung, auch die vielleicht tref[307] fendste: die Zurückführung der Statik, die in jeder be|grifflichen Festsetzung liegt, auf reine Dynamik, kann bestenfalls nur Gleichniswert beanspruchen63.
63 Natorp fasst Kap. 1, „De l’Intensité des états psychologiques“ („Von der Intensität der psychologischen Zustände“), sinngemäß zusammen. – Anm. d. Hrsg.
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§8. Analogie mit meiner Auffassung des Psychischen als des „Unmittelbaren“. Hier sehen wir uns nun schon fast unmittelbar vor unserer Konsequenz: das letzte Subjektive ist in sich („als es selbst“, isoliert von allem Äußeren, Objektiven) schlechthin unbeschreiblich. Aber vielleicht ist es wenigstens indirekter Beschreibung zugänglich. Bergson beschreibt es doch fortwährend, freilich fast nur durch Verneinung der Prädikate des Objektiven; also in der Tat durch Rückgängigmachung der die Objektivierung eben vollbringenden Leistung des Begriffs, wie sie gemäß den Grundkategorien des „Verstandes“ sich in der „Wissenschaft“ vollzieht. Dabei aber gilt ihm das so bloß negativ Beschreibliehe doch für das ursprünglich und wahrhaft Positive und vielmehr die Prädikate des Objektiven eigentlich für Verneinungen; denn „Omnis determinatio est negatio“64. Was könnte auch ursprünglicheren, positiveren Wirklichkeitswert beanspruchen als das unmittelbar Erlebte? Alle Objektivierung dagegen ist ja Entfernung vom Unmittelbaren des Erlebnisses! Allein – dies wirklich Mittelbare ist dennoch für den Begriff, für die Erkenntnis der Wissenschaft das Näherliegende; das wirklich Unmittelbare, das „Erlebnis“ dagegen lässt sich nur mittelbar, auf dem Umweg über das Objektive, zu Begriff bringen. Also war jene „Exteriorisierung“ des Inneren ja wohl notwendig. Auch ist es nicht richtig zu sagen, dass sie das innerlich Erlebte unvermeidlich verfälsche; sondern sie will in Wahrheit es selbst zu Begriff bringen, obgleich sie es immer nur sozusagen im Extrakt darstellt. Der „Verstand“ verfährt eben „diskursiv“, Schritt um Schritt fortgehend; er braucht die Stillstände, die „Stationen“ des Denkens, gerade um weiter zu kommen; sie sind also in Wahrheit nicht Stillstände, sondern Durchgangspunkte. Der Verstand muss zerlegen, was in sich freilich unzerleglich, unzerstückt ist und bleiben soll; die Zerlegung gerade dient der Erkenntnis des Zusammenhanges, sie scheidet nur innerhalb eines Zusammenhanges, setzt ihn also voraus; die letzte Absicht ist nicht Scheidung, sondern Erkenntnis des Zusammenhanges. Identifizierung ist das erste, aber nicht darum das einzige Instrument des Intellekts; sondern der Prozess geht von ihr weiter durch die Differenzierung zur Kontinuität. Objektivierung ist daher allerdings zuerst Identifizierung, damit zugleich Scheidung, insofern Auf|lösung des Zusammenhanges; aber [308] diese Auflösung setzt nicht nur den Zusammenhang selbst als ursprünglich voraus, sondern verfolgt überhaupt kein anderes Ziel als seine schließliche Wiederherstellung. So würde das ideale Ziel der objektivierenden Erkenntnis – das rein Objektive – mit ihrem idealen (in der Tat nur idealen, in sich durchaus unfassbaren) Ausgangspunkt – dem rein Subjektiven – sich dem ganzen Inhalt nach (nur nicht auch in der Form, nämlich der Art der
64 Nach einer von Hegel Spinoza zugeschriebenen Sentenz („Jede Bestimmung ist gleichzeitig Negation.“). – Anm. d. Hrsg.
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Bestimmtheit des Bewusstseins) decken; die ganze Arbeit der Erkenntnis aber liegt in der Mitte zwischen diesen idealen Grenzen, gleich weit entfernt von beiden. Schließlich aber liegt in dem mühsamen Ringen dieser Arbeit das wahre Leben des menschlichen Bewusstseins, menschlicher Erkenntnis wie menschlichen Wirkens, auch menschlicher Phantasiegestaltung, menschlicher Religion. Dem Mystizismus, der sich der Mühsal dieser Arbeit entschlagen, das Ziel wie im Fluge erhaschen oder (was im Grunde auf dasselbe hinauskommt) gleich beim Anfang bleiben möchte, entgeht in der Tat das echteste, menschlichste Leben, das noch stets, wenn es köstlich gewesen, Mühe und Arbeit gewesen ist. Der Mystizismus endet, wie je, im Quietismus. §9. Bergsons Ablehnung des Mechanismus. So fremd indessen und ohne jeden verführenden Reiz für uns ein solch arbeitsfeindlicher Mystizismus ist, so werden wir darum nicht weniger anerkennen, was in den Erwägungen unseres Mystikers von richtiger Kennzeichnung der Sachlage gleichwohl enthalten ist. So ist er in weitem Umfange im Recht auch in dem zweiten Hauptpunkte seiner grundlegenden Schrift: der Ablehnung des universalen Mechanismus zumal als Metaphysik und nicht bloßer Methodik der Forschungsarbeit. Diese Folgerung ergibt sich ja absolut zwingend aus den bis dahin berührten Voraussetzungen: der Mechanismus ruht auf der Grundvoraussetzung der Erhaltung identischer Faktoren, die im Begriff der Kausalität unzweifelhaft liegt; eine solche Erhaltung ist aber für das Gebiet des Psychischen, nach dem vorher aufgestellten Begriff desselben, offenbar ausgeschlossen. Zwar ist es ein bei der sonstigen Feinheit Bergsons doppelt auffälliger Irrtum, dass der Gehalt der Kausalität sich erschöpfe in dem Satze: „Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen“; deshalb kann er glauben, die Kausalität für die Innenwelt einfach durch die Erwägung ausschließen zu dürfen, dass gleiche Lagen in ihr überhaupt nicht vorkommen. Kausalität hat vielmehr von [309] jeher ebenso wohl bedeutet: „Ungleiche Ur|sachen, ungleiche Wirkungen“. Kein etwas nachdenkender Naturforscher kann je angenommen haben, dass es irgendwo oder irgendwann in der Natur durchaus gleichliegende Fälle gäbe. Der Fall der Gleichheit hat stets nur ideal, hypothetisch verstanden sein wollen: unsere Rechnung braucht den Ausgang vom Idealfall der Gleichheit, weil ein Plus und Minus nur in Beziehung auf irgend einen Nullpunkt bestimmbar ist; die Null nämlich vertritt überall den Idealfall der Gleichheit, z.B. Gleichgewicht. Indessen bleibt richtig, dass in der Voraussetzung der Kausalität die Voraussetzung eines identisch bleibenden Grundfaktors in den Veränderungen selbst liegt, den man dann, etwa als „Energie“, zu bestimmen sucht; d.h. die Methode der Kausalität schließt in sich die Methode der Substantialität, oder die Kausalität bedeutet, wie Bergson es ausdrückt, eine „asymptotische Annäherung an die Identität“. Aber eben nur
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asymptotische Annäherung; niemals also ihre starre Behauptung. Bergson hat offenbar sich nicht klar gemacht, dass Kategorien überhaupt Methoden eines ins Unendliche fortgehenden Prozesses, nicht starre Festlegungen bedeuten wollen. Erhaltung der Energie hat überhaupt nur Sinn unter Voraussetzung eines geschlossenen Systems: d.h. wir brauchen einen solchen Abschluss, um überhaupt eine Rechnung ansetzen zu können. Aber es ist eben darum nicht mehr als ein Rechnungsabschluss, über den dann die Rechnung doch weitergehen wird. Die „Identität“ ist notwendig für den Ansatz der Rechnung, aber stets wird vorbehalten, diesen Ansatz in einem neuen zu überschreiten, sobald es sich möglich und notwendig zeigt; und zwar immer wieder, an sich ohne Ende, wie es Bergson selbst in dem (ja Kantischen65) Wort der „asymptotischen Annäherung“ dem Prinzip nach anerkennt. Vielleicht würde er uns antworten, dass auch so die Wissenschaft im Ganzen ihres Ganges wie in jedem einzelnen Schritt „kinematographisch“ verfahre, d.h. nur durch Aneinanderreihung ruhender, statischer Bilder den dynamischen Bezug, die Bewegung, zu Begriff zu bringen strebe, und zwar vergeblich strebe. Allein, wir werden ihn selbst hernach die Antwort geben hören: dass in der Infinitesimalmethode das Mittel gefunden ist, auch die Kontinuität, freilich nicht ohne den Umweg über die Diskretion, begrifflich zu bewältigen. Kausalität ist Identität, aber sie ist ebenso wohl Differenzierung, und sie ist zuletzt Kontinuität; wie überhaupt alle Identifizierung und Differenzierung | zuletzt auf Kontinuität zielt und in ihr [310] erst ihren eigenen Sinn erschließt. Der Fehler Bergsons lässt sich aufgrund dieser Erwägung besonders deutlich darin fassen, dass er in seiner Auffassung des wissenschaftlichen Prozesses eigensinnig auf der Stufe der Identität und allenfalls der Differenzierung verharrt und eben nicht bis zur Kontinuität durchdringt. Sonst müsste er die Methode der Wissenschaft als Ganzes voll angemessen finden eben dem, was sie zu bearbeiten hat: dem „Phänomen“, d.h. zuletzt dem unmittelbar Erlebten; obgleich sie, als Bearbeitung, d.i. als Methode, als „Weg“, gewiss immer verschieden bleibt sowohl von dem schließlich zu bearbeitenden Material wie von dem idealen (wirklich nie erreichten) Ziele ihrer Arbeit; sie bleibt als Arbeit, wie gesagt, stets in der Mitte zwischen dem idealen Anfang und dem idealen Ende der Bahn, welche beide, vergleichsweise, unendlich fern liegen, im Unendlichfernen übrigens zusammenfallen. Nun aber will doch auch Psychologie schließlich Wissenschaft sein: mithin kann sie selbst sich, mindestens in ihrem Ausgang, nur auf den Boden der Arbeit stellen, nicht aber, sei es jenen idealen Anfangspunkt, oder – was nach dem Gesagten auf eins hinauskäme – diesen idealen Endpunkt von vornherein einnehmen und in ihm verharren wollen.
65
Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 691. – Anm. d. Hrsg.
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Nur der Richtung nach also ist zu unterscheiden zwischen dem Wege der Objektivierung und dem Wege der Subjektivierung; sofern aber beide als Richtungen einander entgegengesetzt sind, wird auch die Charakteristik des Subjektiven der des Objektiven entgegengesetzt, aber eben in der Entgegensetzung zugleich zu ihr reziprok ausfallen müssen. Für diese zweiseitige, zuletzt aber dennoch einheitliche Charakteristik der Erkenntnis: in der Tat, ganz nach Bergson, als „Wissenschaft“ und als „Bewusstsein“, lässt sich gewiss manches aus ihm entnehmen; ja beinahe alles, was er aufstellt, liegt in der Richtung einet solchen Kennzeichnung, obgleich er sich über diese Bedeutung seiner Funde niemals klar wird. Was zunächst die Ablehnung des Mechanismus betrifft, so ist es durchaus zutreffend, dass jede Voraussetzung beharrender psychischer Elemente, wie sie in besonders lehrreicher Weise der konstruktiven Psychologie Herbarts, in viel loseren Formen der gewöhnlichen Assoziationspsychologie oder auch der Lipps’schen Dispositionspsychologie zugrunde liegt, eine Objektivierung des Psychischen bedeutet, die das Subjektive als Subjektives gänzlich [311] verfehlen muss. Vortrefflich zeigt | Bergson, dass es die inhaltlich und numerisch gleichen psychischen Elemente, welche jene Theorie voraussetzt, überhaupt nicht gibt noch geben kann, weil schon die bloße Fortdauer genügt, den psychischen Inhalt stetig zu ändern. Sei eine Folge von Erlebnissen angeblich gleichen Inhalts bezeichnet durch eine Reihe A0, A1, A2 …, so werden die einzelnen Glieder dieser Reihe, auch abgesehen von jeder sonstigen Änderung, allein dadurch von einander wesensverschieden, dass in A1 A0, in A2 A0 und A1 usw. fortwirkt und gewissermaßen eingeschlossen bleibt. Doch liegt hier die Frage außerordentlich nahe: ob denn nicht in gewisser Weise dasselbe vom Physischen gilt. Gibt es da wirklich jene absolute Beharrung in gleicher Lage? Muss es sie geben? Auch da beruht vielmehr alle Voraussetzung unverändert beharrender Elemente letzten Endes auf Abstraktion, die nie beanspruchen darf, der volle, deckende Ausdruck der Wirklichkeit zu sein. Die Wirklichkeit schließt stets irrationale Faktoren ein, die durch keine rationale Darstellung erschöpfbar sind. Diese aber braucht unerlässlich die Voraussetzung der Gleichheit, sie braucht sie – für den Ansatz der Rechnung; und für die jedesmalige Rechnung müssen die einmal angesetzten Rechnungsgrößen freilich auch unverändert festgehalten werden; nichts aber hindert, vielmehr der beständige Fortgang der Erkenntnis nötigt auf Schritt und Tritt, über jeden solchen Ansatz dann wieder hinauszugehen und für eine neue Rechnung neue Ansätze zu machen. Doch hat Bergson durchaus Richtiges im Sinn: nämlich diese ganze Methode ist eben die der Objektivierung, daher freilich da nicht mehr anwendbar, wo nach dem Subjektiven als solchem und nicht nach seiner Objektivierung die Frage ist. Die Assoziationspsychologie, die ganze konstruktive Psychologie war also nicht an sich ein verfehltes Tun, sie war sich nur nicht klar darüber, was sie tat.
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§10. Das Problem der Freiheit. Alle diese Betrachtungen gipfeln nun bei Bergson in der Anwendung, die er von ihrem Ergebnis macht auf das Problem der Freiheit66. Beide streitenden Parteien: der Determinismus wie der Indeterminismus, verfehlen es dadurch, dass sie von Anfang an die Frage unter den Gesichtspunkt der mechanischen Kausalität bringen. Da triumphiert dann natürlich der Determinismus, der mit dem Mechanismus wenigstens Ernst macht. Aber überhaupt jede Betrachtung unter dem Gesichtspunkte der Kausalität verwandelt schon das Psychische ins Physische; man denkt sich die | Folge der Erlebnisse der Psyche etwa nach [312] Analogie einer Kurve und fragt, ob ihr weiterer Verlauf bestimmt sei oder nicht durch das aus dem vorliegenden Kurvenstück berechnete Gesetz der Kurve. Aber damit hat man schon den wirklich „dynamischen“ Zusammenhang der Erlebnisse in die „statische“ Ansicht übertragen, für welche dann freilich der Mechanismus volle Geltung beanspruchen dürfte. Wahre Kausalität, besser Aktion, darf nicht Identität, sondern muss Schöpfung sein; da hat jede „Ursache“ (wenn man den Ausdruck hier überhaupt noch gebrauchen darf) ihre „Wirkung“ nur einmal und nicht wieder. Wahre Aktion ist Fortschreitung, nicht Wiederholung; diese Bedeutung der Aktion kennen wir allein im Bewusstsein; sie weiß nichts von Determination, sie hat nichts gemein mit der Identität des Gesetzes. Man darf Freiheit überhaupt nicht definieren wollen; damit macht man sie zu einer Sache; dann verfällt sie unvermeidlich dem Mechanismus. An diesen Erwägungen ist soviel richtig, dass die mechanische Kausalität, da sie bloß für den jeweiligen Rechnungsansatz gilt und gelten will, stets ein unendliches Gebiet unbestimmt, also für den Willen das Feld stets offen lässt, die Bestimmung seinerseits zu treffen. Allein die „freie“ (vom Mechanismus freie) Willensbestimmung erfolgt darum nicht überhaupt gesetzlos; sie erfolgt nur nicht nach dem Gesetze mechanischer Kausalität, sondern nach dem praktischen Gesetze des Seinsollenden, nach Zweckgesetz. Nicht Gesetz und Gesetzlosigkeit ist der Gegensatz, auf den es im Problem der Freiheit ankommt, sondern der Fremdgesetzlichkeit des Mechanismus tritt gegenüber die Selbstgesetzgebung der Zwecke. Gemeinsam ist beiden gerade der Begriff des Gesetzes, d.i. der durchgängigen Übereinstimmung, die nicht bloß Übereinstimmung des Seins, sondern auch des Sollens, der Zielrichtung sein kann, ja ursprünglicher Richtungseinheit als Einheit punktueller Bestimmung ist. Für das Zweckgesetz aber fällt eben die fixe, abgeschlossene Beziehung auf den Punkt des Geschehens und dann die Folge der Punkte, d. h. die Zeitordnung, und damit die Beschränkung auf diese aus. Daher ist nach Tatsächlichkeit unter diesem Gesichtspunkte überhaupt nicht zu fragen,
66 Vgl. Kap. III, „De l’Organisation des états de conscience: la liberté“ („Von der Organisation der Bewusstseinszustände: Die Freiheit“). – Anm. d. Hrsg.
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allgemeiner so wenig wie singulärer. Bergson aber denkt beim „Gesetz“ allein an Allgemeinbestimmungen von Tatsachen. §11. Materie und Gedächtnis. Wahrnehmung und Vorstellung und ihre [313] Beziehung zur Aktivität. Das erste Werk Bergsons | ist das grundlegende
geblieben; aber schon das nächste: Materie und Gedächtnis (Matière et Mémoire, 1896) lässt eine veränderte Gedankenrichtung insofern erkennen, als nicht mehr der Dualismus des Physischen und Psychischen das letzte Wort behält, sondern die Entscheidung mehr und mehr zugunsten eines allerdings stark metaphysisch gefärbten Monismus fällt. Besonders wichtig aber ist dies Werk für uns deshalb, weil es eigentlich die Psychologie Bergsons, wenn auch nur in wenigen Hauptzügen, enthält. Nicht der Nervenprozess kann das Bild der Außenwelt in uns erzeugen, er gehört ja selbst zu diesem Bilde; man hat das, was er erst hervorbringen soll, schon vorausgesetzt, indem man ihn selbst voraussetzte. Der Nervenapparat leistet nichts, als dass er, wie jeder andere Körper, Bewegungseinwirkungen empfängt und zurückgibt; er ist ein Aktionszentrum, weiter nichts, vor allem nicht eine Vorstellungsfabrik. Zwar hängt von seinem Funktionieren das Auftreten der Sinneseindrücke (perceptions) ab, etwa so, wie durch das Drehen des Kaleidoskops dessen Bilder sich ändern; nicht aber als ob er die Bilder (d.h. die reinen Phänomene) produzierte; ein solches Produzieren ist weder gegeben noch auf irgend eine mögliche Weise verständlich. Ob das Universum in uns ist oder draußen, ist eine sinnlose Frage, denn ein Innen und Außen gibt es nur in den Bildern; vom Ganzen dieser Bilder zu sagen, es sei innen oder außen, hat keinen Sinn. Und erklären ließe sich weder das Innere aus dem Äußeren, noch umgekehrt. Sondern man muss auf den gemeinsamen Boden zurücktreten, den jede Theorie anerkennen muss, nämlich dass die Bilder der Dinge uns gegeben sind, die aber in zwei verschiedene Systeme sich einordnen: das System der „Wissenschaft“, wo jedes Bild (Ding), nur auf sich selbst bezogen, seinen absoluten Wert behält, und das System des „Bewusstseins“, wo alle Bilder sich beziehen auf ein zentrales, nämlich das unseres eigenen Körpers, und mit dessen Veränderungen sich verändern. Diese doppelte Einordnung bedarf der Erklärung, nicht das Gegebensein der Bilder überhaupt. Unternimmt man dies zu erklären, so ist man genötigt, mag man nun vom Objekt ausgehen oder vom Subjekt, irgendwo den deus ex machina einzuführen, der die Verdoppelung, sei es des Objekts in der Vorstellung oder der Vorstellung im Objekt, bewirken soll. Der gemeinsame Irrtum beider Theorien besteht in der falschen Voraussetzung, dass die Perzeption (d.h. das, was unmittelbar [314] vom Nerven|vorgang abhängt) irgend eine Form von Erkenntnis sei. Aber die Leistung des Nervenprozesses betrifft vielmehr rein und ausschließlich die Aktion. Das Gehirn ist ein reines Kommunikationszentrum für den Austausch von Bewegungen, eine Stätte der Umsetzung empfangener
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Bewegungen in ausgeübte; seine Leistung ist wesentlich selektiv, auswählend, und zwar nach den Bedürfnissen des Lebens; sie besteht im „discernement“67, in welchem aber gerade der Geist sich ankündigt68. Statt dessen lässt man, nachdem man die Bewegungsprozesse bis zu den Gehirnzentren verfolgt hat, sie hier plötzlich verschwinden und an ihrer Statt als etwas absolut Neues die Vorstellung auftreten. Diese weist man aus dem Raume hinaus, ohne doch den Raum wirklich loszuwerden; wenigstens sein Phantom behält man zurück, nur möchte man es der sinnlichen Qualitäten entkleiden. Natürlich aber vermag man dann weder zu erklären, woher die verschwundene Räumlichkeit des Vorgestellten wiederersteht, noch woher die sinnlichen Qualitäten überhaupt kommen. Was der Erklärung bedarf, ist indessen gar nicht, wie das Bild in der Wahrnehmung entsteht, sondern wie es sich begrenzt. Von Rechts wegen nämlich sollte die Wahrnehmung das Ganze darstellen, während sie sich wirklich genau auf das beschränkt, was uns im Hinblick auf unser Wirken interessiert. Diese verlangte Erklärung aber ergibt sich eben aus der Voraussetzung, dass der Nervenprozess unmittelbar überhaupt nur dem Wirken dient; darum schaltet er aus den Vorstellungen alles das aus, was nicht im Interesse des Wirkens erforderlich ist. Also hat die naive Ansicht ganz recht, dass wir, in der reinen Wahrnehmung, selbst ins Objekt eintreten, es in sich selbst und nicht „in uns“ erfassen. Die ursprüngliche, reine Perzeption ist absolut unpersönlich (ohne besonderen und ausschließlichen Bezug auf das individuelle Ich); sie ist also ohne weiteres objektiv, nicht von innen nach außen erst projiziert. Die Erklärung unserer Wahrnehmungen hat nicht vom Zentrum (dem Subjektiven) zur Peripherie (dem Objektiven), sondern von der Peripherie zum Zentrum zu gehen. Nur liegt uns freilich niemals diese rein objektive Perzeption vor, sondern diese ist stets unlöslich verwoben mit Momenten der Vorstellung. Diese ist von der Wahrnehmung nicht bloß graduell, sondern wesentlich dadurch unterschieden, dass sie, unmittelbar und in sich selbst, keinen Bezug zur Aktion hat. Wahrnehmung ist Vollerlebnis des Wirklichen, nicht bloß Konstruktion oder Rekonstruktion desselben; in ihr fällt | also die Scheidung [315] des Subjektiven und Objektiven weg; aber zugleich beschränkt sich in ihr das Erfassen des Wirklichen genau auf die „Relation“ zur augenblicklich erforderlichen Aktion. Das „Wirkliche“ (Aktuelle) ist genau nach dem Wortsinn das Wirksame; es ist zugleich das Gegenwärtige; welche zweite Bedeutung des Ausdrucks (das „Aktuelle“) sich ebenfalls rechtfertigt durch die Beziehung auf die Aktion. Dagegen ist das Vorgestellte das Vergangene, d.h. nicht mehr Wirksame. In dem Anteil der Vorstellung allein liegt das Moment des „Subjektiven“ auch in der Wahrnehmung; und freilich nur,
67 68
Unterscheidungsvermögen. – Anm. d. Hrsg. Matière et Memoire, S. 26.
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sofern dieses gänzlich ausgeschaltet werden könnte, würde die Wahrnehmung jenen Charakter absoluter Wirklichkeit haben. §12. Gedächtnis und Erinnerung. Die Tatsachen des Gedächtnisses nun, auf die Bergsons Untersuchung zunächst zielt, repräsentieren sich unter diesen Voraussetzungen in großer Einfachheit. Das Nervensystem bewahrt die Wirkungen der Vergangenheit nur, wie jeder andere Körper, in Gestalt motorischer Dispositionen. Die Wiedererinnerung dagegen ist zwar hinsichtlich ihrer Aktualisierung, aber keineswegs hinsichtlich ihres Bestandes überhaupt vom Gehirnprozess abhängig. „Gedächtnis“ als bloße Wiederholung des früheren Vorgangs ist durch Gehirntätigkeit repräsentierbar, ja es ist die eigentliche Funktion des Nervenapparates; aber diese Funktion ist rein motorisch. Dagegen der in der „Erinnerung“ eingeschlossene Akt der Wiedererkenntnis ist rein psychisch, durch Gehirnprozesse absolut unrepräsentierbar. Eine Gehirnverletzung zerstört nicht die Erinnerungen (die Möglichkeiten des Erinnerns), sondern hebt nur die Bedingungen ihrer Aktualisierung auf; es sind schlechthin nur die motorischen Dispositionen, welche von den Gehirnprozessen abhängen. Die schroffe Scheidung der Perzeption von der Vorstellung und ihre ausschließliche Beziehung auf die Aktivität führt nun allerdings im einzelnen zu einer etwas künstlichen und schwierigen Konstruktion der psychischen Prozesse im Ganzen. Bewusstsein soll durchaus nur Merkmal des aktuell Erlebten, also der Tätigkeit sein (es sei gleich hier bemerkt, dass Bergson diese Voraussetzung später aufgibt), die Vorstellung also an sich unbewusst. Die Annahme unbewusster Vorstellungen scheint Bergson nicht schwieriger als die nichtwahrgenommener Materie; da glauben wir doch alle an eine [316] Existenz außer dem Bewusstsein; weshalb also nicht auch | im ersteren Falle? Bergson erklärt das Verhältnis näher auf folgende Weise69: C
A
I
B
Es stelle die Linie AB die Momente des räumlich zugleich Wirklichen (also Wahrnehmbaren) dar, IC die Momente der Erinnerung, je nach dem zeitlichen Abstand vom erlebten Moment; so repräsentiert der Durchschnittspunkt I das einzige aktuell Bewusste; doch zweifeln wir nie an der gleichzeitigen Realität der ganzen Linie AB, während wir von der Linie IC genau nur den Punkt I als wirklich gelten lassen wollen. Daher erscheint 69
Vgl. Matière et Memoire, S. 159. – Anm. d. Hrsg.
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uns der Raum, obgleich zum kleinsten Teil bewusst, dennoch immer aktuell gegeben, dagegen das Vergangene nicht mehr da. Warum? Weil die Linie AB uns interessiert, dagegen, was außer ihr liegt, nur, sofern es sich mit ihr schneidet. Der Zusammenhang im Raume erscheint uns notwendig; diese Notwendigkeit hypostasieren wir, indem wir dem Gegenstande außerhalb des Bewusstseins Existenz zuschreiben; die Erinnerungen dagegen erscheinen uns zufällig, ordnungslos; deshalb trauen wir ihnen keine Wirklichkeit zu. Und doch sind die Erinnerungen in sich betrachtet genau so zusammenhängend, haben also den gleichen Anspruch auf Existenz. Man fragt mit Unrecht, wo sie denn existieren? Freilich nicht im Raume, dem Substrat unserer Wirksamkeit. Aber dieser selbst existiert eigentlich nur im jedesmaligen Zeitdurchschnitt; er gerade besteht an sich nicht fort, sondern wir dichten ihm die Fortexistenz an, die wirklich unseren psychischen Zuständen eignet; aber den Fortbestand des Vergangenen überhaupt erkennt man ja eben damit an, dass man den Raum fortexistieren lässt! – Ist es indes nicht ein Widerspruch, dass, was aufgehört hat zu sein, dennoch sei? Antwort: es hat nicht aufgehört zu sein, sondern nur, nützlich zu sein. Nicht die Gegenwart „ist“ am meisten, im Grunde „ist“ nichts so wenig wie sie; im unteilbaren Punkte könnte sie ja nicht existieren. Die wirklich erlebte Gegenwart aber schließt stets ein Stück Vergangenheit – also Erinnerung ein; praktisch nehmen wir sogar nur Vergangenheit wahr, deren ideale Grenze nur die Gegenwart ist. Es ist also nur folgerecht, der Vergangenheit überhaupt volle Existenz zuzu|sprechen. Das aktuell [317] bewusste Leben freilich beruht stets auf einem Zusammenwirken beider Momente. §13. Monistische Konsequenz. Damit aber kommt nun Bergson endlich darauf hinaus – und in dieser Richtung besonders interessiert uns diese Betrachtung –, dass die schroff dualistische Gegeneinanderstellung von Bewusstsein und Materie nicht begründet ist; gerade die strengste Durchführung der Scheidung führt am Sichtlichsten zur Wiedervereinigung70. Die Zerreißung der Welt in die (ausdehnungslose) Einheit des Geistes und die (ausgedehnte) Vielheit des Materiellen, in die unbestimmbare Heterogeneität reiner Qualitäten und die berechenbare Homogeneität des Quantitativen, ist wirklich nicht haltbar. Keins von beiden könnte das andere schaffen; aber keines besteht wirklich ohne das andere, beide durchdringen sich vielmehr vollständig. Die räumliche Wahrnehmung ist nicht darum wirklich diskontinuierlich, weil wir zu praktischen Zwecken sie uns allerdings zerlegen müssen. Was man gemeinhin eine „Tatsache“ nennt, ist entfernt nicht das letzte Reale, wie es einer unmittelbaren Intuition sich darstellen
70
Ebd., S. 200.
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würde, sondern eine spezielle Anpassung desselben an die Interessen der Praxis und die Forderungen des sozialen Lebens. Die reine Intuition, äußere wie innere, würde vielmehr eine ungeteilte Kontinuität erkennen lassen. Gerade weil man die Einheit der ursprünglichen Anschauung künstlich zerbrochen hat, sieht man sich genötigt, zwischen den von einander gelösten Enden nachträglich ein Band künstlich herzustellen. Der Empirismus fühlt unbestimmt die Oberflächlichkeit dieser nachträglichen Verbindung und legt darum das ganze Gewicht auf die Bezugspunkte, mit Vernachlässigung der Beziehungen. Sein Fehler ist nicht, dass er auf die Erfahrung zu viel Wert legt, sondern dass er an die Stelle der echten Erfahrung eine unartikulierte, entstellte setzt. Die dogmatische Metaphysik geht nicht minder von der falschen Voraussetzung der Diskontinuität des ursprünglich Erscheinenden aus und müht sich, diese Diskontinuität durch eine Synthese, die aber nun willkürlich erscheinen muss, zu überwinden. Die kritische Philosophie entdeckt leicht die Willkürlichkeit dieser hinterher kommenden Synthese und gelangt so zu dem traurigen Geständnis der Relativität unserer Erkenntnis, der Unzugänglichkeit des letzten Grundes der Dinge für sie. Aber diese angebliche Ohnmacht der spekulativen Vernunft ist im Grunde nur die [318] Ohnmacht | des Verstandes, der sich den Notwendigkeiten des körperlichen Lebens dienstbar gemacht hat. Befreit man die Erkenntnis von dieser Dienstbarkeit der Praxis, so stellt die Intuition in ihrer ursprünglichen Reinheit und damit der Kontakt mit dem Realen sich wieder her71. Dieser liegt unmittelbar vor wenigstens in dem freilich ausdehnungslosen Punkte der reinen Perzeption; es handelt sich nur darum, gleichsam aus dem unendlich kleinen Stück, das so von der reellen Kurve uns gegeben ist, die Gestalt der ganzen Kurve durch Integration wiederherzustellen. Die Punkte sind fix, aber darum nicht die Bewegung von Punkt zu Punkt. Wirklich aber haben die Punkte nur Realität in der Linie, das Kontinuum liegt in Wahrheit zugrunde; gegeben ist nur die bewegte Kontinuität (continuité mouvante72); auch wissenschaftlich begründet ist nicht eine definitive Trennung, sondern die universelle Kontinuität. Wissenschaft und Bewusstsein sind also im Grunde doch miteinander im Einklang, vorausgesetzt nur, dass man das Bewusstsein in seinen unmittelbarsten Gegebenheiten, die Wissenschaft nach ihren letzten Tendenzen versteht73. Dazwischen liegt die diskontinuierliche materielle Welt. Aber diese ist eine Supposition lediglich für die Notwendigkeiten des Handelns. Das „Leben“ bringt erst die Spaltung hervor mit dem Dualismus des Bedürfnisses und dessen, was dient, das Bedürfnis zu befriedigen.
71 72 73
Ebd., S. 203. Ebd., S. 219. Ebd.
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Bergson hat es natürlich nicht ganz übersehen können, wie die moderne Wissenschaft selbst von allen Seiten auf die Anerkennung der durchgängigen und ursprünglichen Kontinuität sich gedrängt findet: die Diskontinuität der Atomwelt löst sich auf in Faradays Kraftlinien oder sonstige Konstruktionen, welche eben durchgängige Kontinuität und wechselseitige Durchdringung herstellen74. Vor allem aber die Infinitesimalmethode überwindet wirklich alle Einseitigkeiten der Diskretion; wie Bergson noch nicht in dieser, aber in der nächsten Schrift selbst hervorhebt. Damit nähern sich einander aber auch Empfindung und Bewegung, und ferner Quantität und Qualität: die Quantität „skandiert“ nur die Qualität. Sogar die scheinbaren Heterogeneitäten der Empfindung selbst weisen auf einen homogenen Zusammenhang zurück, der eben in der Qualität sich ausdrückt. Zeit und Raum, anfangs von Bergson schroff auseinandergerissen, vereinigen sich jetzt wieder als zwei Faktoren einer gemeinsamen „Arbeit“ des Geistes, der | „über sein eigenes Wesen [319] spekuliert“75. Mit dem allen nähern sich von allen Seiten Geist und Körper, gleich Eisenbahnschienen, die erst senkrecht gegeneinander gerichtet, durch unmerkliche Umbiegung schließlich ineinanderlaufen. § 14. Die Kritik von Victor Delbos. Dies, in vielleicht nur zu dichter Zusammendrängung, die uns hauptsächlich angehenden Gedankengänge des inhaltreichen Buches. Dass aber nicht bloß eine parteiliche Voreingenommenheit für meine eigenen Aufstellungen mich in dieser Lehre gewisse Analogien mit dem Grundgedanken der rekonstruktiven Psychologie erkennen lässt, dafür darf ich als objektivsten Beleg die eingehende Analyse anführen, welche ein mit meinen Thesen offenbar unbekannter Kritiker, Victor Delbos76 dem Werke gewidmet hat. Er charakterisiert das Vorgehen Bergsons in folgenden Sätzen: Philosophie ist (für Bergson) nichts weiter als „bewusste und reflektierte Rückkehr zu den Gegebenheiten der Intuition“77. Nicht scheiden sich mehr von den Dingen die Bilder der Dinge; beide werden vielmehr völlig eins, nicht indem die Dinge drinnen in uns, sondern indem die Bilder selbst die Dinge sind. Nicht, wie die von Haus aus subjektiven Perzeptionen sich objektivieren, sondern wie die von Haus aus objektive Perzeption subjektiv wird, ist für Bergson die Frage78; und zwar handelt es sich dabei nicht bloß um eine logische Beziehung zwischen dem Objektiven und Subjektiven, sondern darum, den Übergang von jenem zu diesem gleichsam auf der Tat zu betreffen. – Hierin ist das Verhältnis von 74
Ebd., S. 223. Ebd., S. 246. 76 „Matière et mémoire: Essai sur la relation du corps a l’esprit: par Henri Bergson“. 77 Ebd., S. 354. 78 Ebd., S. 356. 75
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Bergsons Ansicht zu meiner ziemlich genau getroffen: ich will gleich ihm den Rückgang von der Objektivität, als dem wissenschaftlich Früheren, auf die Subjektivität; die Subjektivierung des Objektiven, statt der Objektivierung des Subjektiven. Aber ich verstehe diesen Rückgang im Sinne einer logischen Beziehung beider. Das „auf der Tat Betreffen“ ist ja offenbar unmöglich, wenn doch (nach Bergson selbst) nicht die reine Subjektivität, sondern gerade die Objektivität das für die Wissenschaft Erstgegebene, Unmittelbare ist. – Durchaus zutreffend charakterisiert Delbos die Methode, deren Bergson sich bedient, als „Gebrauch der Analyse gegen die Analyse selbst“79, d.h. nicht in dem Sinne, auf letzte Elemente zu kommen, die durch Vervielfältigung und Wiederzusammenstellung dann die Wirklichkeit [320] wiederergeben sollen, sondern | gerade zurückzuleiten auf die ursprünglich ungeteilte und unteilbare Einheit, vor den sondernden Bestimmungen, die sie zerstücken; diese lässt sich allerdings nicht, wie manche Metaphysiker es gewollt haben, in „intellektueller Anschauung“ auf einmal ergreifen, aber sie lässt sich „wiederfinden“, wiederherstellen (reconstituer) durch jenes der Integration des Mathematikers verglichene Verfahren, das uns Bergson selbst80 beschreibt. Diese Beschreibung trifft, wie kaum noch gesagt zu werden braucht, genau zu auf meine Methode der „Rekonstruktion“. Nur der wesentliche Unterschied bleibt bestehen, dass für Bergson die rekonstruktive Psychologie ohne weiteres selbst Metaphysik wird, d.h. die letzte Realität der Dinge enthüllen will. Aber diese Meinung ist offenbar nicht aufrechtzuhalten, wenn doch (wie wir uns überzeugten) von ihm selbst anerkannt werden muss, dass die gedachte reine Wirklichkeit unendlichfern diesseits wie jenseits unserer Erfahrung liegen bleibt, so dass die von uns erreichbare Erkenntnis von der der Idee nach freilich geforderten Koinzidenz des rein Objektiven mit dem rein Subjektiven immer unendlich weit entfernt bleiben muss. Und so können wir der Kritik von Delbos in der Hauptsache nur beistimmen, wenn er findet, dass es am Ende nicht nötig war, die Welt erst in Stücke zu schlagen, um sie hinterher doch zusammenhängend zu finden. Besonders stellt Bergson sich ohne Not in Gegensatz zum Intellektualismus; als ob dieser durchaus verurteilt sei, alles zu zerstückeln. Er hat im Gegenteil stets Kontinuität angestrebt und in der Analyse und Auseinanderstellung nur die Vorstufe zur Synthese gesehen. Und schließlich: haben wir denn überhaupt jene unmittelbare, intuitive Erkenntnis, von der Bergson spricht? Vom Unmittelbaren des Bewusstseins gibt es, jedenfalls unmittelbar, keine Wissenschaft; es findet niemals seinen adäquaten Ausdruck unmittelbar durch sich selbst, sondern, was sich irgend bestimmt von ihm aussagen lässt, 79
Ebd., S. 373. An der von uns oben mitgeteilten Stelle, S. 204. [Natorps Angabe bezieht sich auf Matière et Mémoire. – Anm. d. Hrsg.] 80
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beruht ganz und gar auf objektiver Erfahrung81; es selbst liegt immer diesseits oder unterhalb des wissenschaftlich Erkennbaren, zwischen dem „Traum“ des Gedächtnisses und dem „Spiel“ der Handlung82; jede Aussage darüber aber unterliegt schließlich der Gerichtsbarkeit des Denkens. Im Grunde projiziert Bergson selbst außerhalb jedes Einzelsubjekts ein unpersönliches Bewusstsein, durchdrungen vom Denken. In diesem Resultate, in welchem seine Philosophie sich voll|endet, widerspricht sie sich zugleich83. Sie ergibt, [321] dass Erfahrung nur subjektiv ist, weil wir sie dazu gemacht haben; dass sie im Grunde vielmehr objektiv ist, dass sie sich als wahr enthüllt in dem Augenblick, wo sie vollendet ist; dass Wissenschaft nur die ganze (totale) Erfahrung ist. Mit diesem allen aber bestätigt sie nur – ganz gegen ihre Absicht – die Behauptung der Immanenz des Denkens, d.h. den echten – Intellektualismus84. – Indem ich diesem Urteil ganz beistimme, finde ich dadurch doch den Kerngedanken des Rückgangs von der Objektivität der „Wissenschaft“ zur Subjektivität des „Bewusstseins“ – der Subjektivierung des Objektiven, statt Objektivierung des Subjektiven – aber eben als Methode, nicht als Metaphysik, unwiderlegt. §15. Die Einleitung in die Metaphysik. Ohnmacht des Begriffs. Bergson hat sich indessen auch durch solche ihn scharf treffende Kritik von seinem Wege nicht abwendig machen lassen. Vielmehr tritt seine Lehre, fast trotzig, schon im Titel seiner nächsten Schrift als „Metaphysik“ und nicht etwa bloße Methodologie der Psychologie auf. Es ist die kürzeste, zugleich abgeklärteste und durchsichtigste Darlegung seiner in der Substanz wesentlich sich gleich gebliebenen Grundlehre: Introduction à la Métaphysique (1903). Schroff stehen sich hier gegenüber: die absolute, schlechthin unmittelbare „Intuition“, als völliges sich Hineinversetzen, Hineinversenken (s’insérer) in den Gegenstand in seiner Einzigkeit, folglich Unausdrückbarkeit, oder vielmehr als absolutes, ursprüngliches Eins-sein mit ihm, und andererseits die relativierende Analyse, die in einem Fortgang ins Unendliche wie in unendlichen Übersetzungen das Original nie erreicht; so wie tausend Ansichten einer Stadt nicht das Selbst-in-ihr-Sein ersetzen können. Wir kennen intuitiv wenigstens Eines: uns selbst. Alles zwar, was wir im Erlebten als Wahrnehmung, Erinnerung, usw. unterscheiden, unterscheiden wir schon damit von uns selbst. Im unmittelbaren Erlebnis aber ist es alles ursprünglich eins; volle gegenseitige Durchdringung, intensive Einheit, durchaus kein Auseinander. Indessen sind auch dies alles zuletzt ja nur 81 Delbos, „Matière et mémoire: Essai sur la relation du corps a l’esprit: Par Henri Bergson“, S. 386. 82 Ebd., S. 386f. 83 Ebd., S. 388. 84 Ebd., S. 389.
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bildliche Umschreibungen; kein Bild, vollends kein Begriff erfasst jemals ganz das, was jenseits alles Abbildens und nachträglichen Begreifens liegt; [322] möglichst wechselnde Vergleiche aber halten uns wenigstens im Konkreten | fest und geben dem Bewusstsein die Richtung auf den Punkt hin, wo die Intuition einsetzen soll85. Begriffe wie Einheit, Mannigfaltigkeit usw. sind nur fälschende Verallgemeinerungen; soll es mit der Metaphysik Ernst sein, so muss sie den Begriff transzendieren, um zur Intuition vorzudringen86. – Aber Bergson empfindet offenbar selbst die absolute Unerfüllbarkeit dieser Forderung; denn unmittelbar darauf erklärt er: den Begriff könne die Metaphysik freilich nicht entbehren, da sie den Zusammenhang mit der Wissenschaft nicht preisgeben dürfe. Dann heißt es, besser noch: sie muss sich von den starren Begriffen befreien, muss neuartige, nämlich schmiegsame, bewegliche, fast fließende Begriffe schaffen, die nach der entfliehenden Gestalt der Intuition sich formen87. Psychologie zwar kann nicht anders als analytisch verfahren; sie substituiert der kontinuierlichen Einheit des Bewusstseins eine Reihe von Elementen, die doch nicht zusammensetzende Teile des Bewusstseins sind, sondern höchstens wie rohe Umrisszeichnungen zur Wiederherstellung der Intuition behilflich sein können. Wer Paris gesehen hat, kann mit Hilfe einer Reihe partieller Aufnahmen die ursprüngliche Anschauung bis zu einem gewissen Grade in sich wiederherstellen, aber keiner könnte durch solche partielle Aufnahmen die lebendige Anschauung ursprünglich gewinnen. Es wäre, wie wenn man die Ilias aus ihren Buchstaben erkennen sollte. Die Idee eines solchen „Wiederaufbauens“ (Réconstituer) ist absurd88, gleichviel ob man (wie der Empirismus) von den Einzelheiten, oder (wie der Rationalismus) von dem „Faden“ aus das Ganze rekonstruieren will. Die Analyse entdeckt freilich nichts als Einzelheiten; eben das ist ihre Funktion, ihr ganzer Begriff. Mill, Taine u.a. aber wollen nicht Psychologen bleiben, sondern verlangen von der Analyse die Intuition, die doch geradezu ihre Verneinung ist89. So wird ihnen das Ich selbst zum Phantom, wie die Ilias dazu würde, wenn man bloß auf die Zusammenstellung der Buchstaben achtete90. Die Rationalisten vollends behalten in ihren „Formen“ statt der Schatten des Ich (der „Bewusstseinszustände“) etwas noch weniger Reelles: den bloßen Ort der Schatten91, das Leere, in dem sie sich bewegen. Ein echter Empirismus muss dem Original so nahe wie möglich zu kommen suchen; das aber gelingt nicht durch Allgemeinbegriffe, die wie der Rock 85 86 87 88 89 90 91
Introduction à la Métaphysique, S. 7. Ebd., S. 8f. Ebd., S. 9. Ebd., S. 12. Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14.
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im Kaufladen gleichgut für Peter und Paul passen, sondern – zwar durch Begriffe, aber singuläre; die | freilich kaum noch Begriffe heißen können92. [323] Auch durch keine Mischung voraus gegebener Allgemeinbegriffe kommt man zum Ziel; z.B. ist die Persönlichkeit gewiss eine „Einheit“ und auch eine „Mannigfaltigkeit“; aber das unterscheidet sie ja nicht; was für eine Einheit, was für eine Mannigfaltigkeit, vielmehr welche beiden übergeordnete Realität, darauf käme es an; das aber versteht man nur von der Intuition des Ich aus. Ein Kegel läuft in einen Punkt aus und dehnt sich zu einem ins Unbestimmte wachsenden Kreise; aber weder der Punkt noch der Kreis noch die bloße Zusammenstellung beider gibt die geringste Idee eines Kegels: so verhält es sich mit dem Zero, auf das der Empirismus hinauskommt, indem er die Analyse bis aufs Letzte treibt, und dem leeren Unendlichen, in das für den Rationalismus das Bewusstsein sich auflöst, indem er von aller Unterscheidung abstrahiert und bloß den Ort für sie zurückbehält. §16. Die Umkehrung der Wissenschaft und die Integration. So sinnfällig der Vergleich den Gedanken Bergsons ausdrückt, so nahe liegt die Antwort. Der wahre wissenschaftliche Begriff ist eben nicht Dingbegriff, sondern Gesetzesbegriff. Gewiss, weder der Punkt definiert den Kegel noch der Kreis, noch eine bloße äußere Nebeneinanderstellung beider; aber das Gesetz, nach welchem der Punkt sich zum Kreise dehnt, umfasst, und zwar in strenger begrifflicher Kontinuität, die Allheit nicht der einzelnen, unteilbaren Punkte allein oder Durchschnittslinien oder -flächen, sondern auch alle die unendlichen Beziehungen, in welche die Punkte und Schnittlinien und -flächen nur als Termini eingehen. – „Mit Gesichtspunkten, zumal entgegengesetzten, macht man keine Sache,“93 sagt Bergson; wohl aber mag, wer die Sache hat, leicht die Sonderansicht, die sich unter dem oder dem Gesichtspunkt darbieten muss, sich ableiten, und erkennt dann zugleich, wieso diese Sonderansichten alle sich voneinander unterscheiden, aber auch, wie sie sich wieder vereinigen. – Ganz richtig; aber diese „Sache“ – „hat“ man nicht anders als in dem Gesetze der Erzeugung des Gegenstandes. Die letzte Wurzel dieser ganzen seltsamen Auseinanderreißung von Begriff und Erkenntnis ist, wie man sieht, der Grundirrtum, dass Begriffe als solche absolut starr, unbeweglich sein müssten, während das Wirkliche, Erlebte, Konkrete das unendlich Variable sei94. Die Reihe der sukzessiven Lagen, auch die unendliche, gibt | nicht die Bewegung; das Bewegliche ist [324] nie in einem Punkte, der Durchgang durch den Punkt hat nichts gemein mit Stillstand; geht man von den Punkten aus, so wird der Übergang zum undurchdringlichen Geheimnis: aber nur, weil man sich eingebildet hat, der 92 93 94
Ebd., S. 15. Ebd., S. 18. – Anm. d. Hrsg. Ebd., S. 19.
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Stillstand sei klarer95. Vielmehr von der Bewegung ist auszugehen; dann macht der Stillstand keine Schwierigkeit, er wird zur bloß gedachten Grenze der Bewegung, welche Grenze wirklich gar nicht zu existieren braucht. Nur solche in Gedanken gesetzte Stillstände, mit denen wir die Straße des Werdens gleichsam abstecken, sind die fertigen Begriffe96. Aber der Verstand muss den umgekehrten Weg einschlagen97; er muss „alle seine Kategorien umkehren“ oder vielmehr völlig neu gründen (refonder), so gelangt er zu flüssigen Begriffen, fähig, der Realität in allen ihren Biegungen zu folgen und die Bewegung des inneren Lebens der Dinge selbst sich zu eigen zu machen. Diese Umkehr der gewöhnlichen Richtung der Denkarbeit ist die Philosophie. Sie ist in methodischer Weise zwar noch nie ausgeführt worden; wohl aber ist gerade das Größte in den Wissenschaften geleistet worden durch partielle Anwendung eben dieses Verfahrens. Das größte Beispiel bietet die Infinitesimalanalysis98; sie setzt an die Stelle des Fertigen, des „Factum“ (le tout fait) das Werdende, das „Fieri“ (le se faisant99), um die Bewegung nicht mehr von außen, in ihrem zutage liegenden Ergebnis, sondern von innen, in ihrer Änderungstendenz zu erfassen; um die bewegliche Kontinuität der Umrisszeichnung der Dinge zu erreichen. Freilich bleibt sie immer bloße Umrisszeichnung, da sie eben nur Größenwissenschaft ist; aber Quantität ist stets nur Qualität im Ursprungsstadium (de la qualité à l’état naissant), nur ihr Grenzfall; um auch die Qualität und damit die Realität überhaupt zu fassen, hat die Metaphysik nur die erzeugende Idee der Mathematik des Infinitesimalen zu übernehmen100, sie hat eine qualitative Differentiation und Integration zu vollführen. Freilich kann sie dabei der Haltpunkte als fester Stützen nicht entbehren, nur so erreicht sie die Strenge und Genauigkeit der Begriffe; aber man darf nicht das logische Gerüst der Wissenschaft für die Wissenschaft selbst nehmen. Relativ ist nur die symbolische Erkenntnis durch voraus feststehende Begriffe, die vom Festen zum Bewegten geht, aber nicht die intuitive Erkenntnis, die mitten im [325] Bewegten ihren Standpunkt nimmt und das Leben der Dinge selbst sich | zu eigen macht. So werden in der Intuition Wissenschaft und Metaphysik eins; sie wandelt zugleich die Metaphysik in positive, d.h. fortschreitende, unendlicher Vervollkommnung fähige Wissenschaft, und klärt die positiven Wissenschaften erst auf über ihre wahre Tragweite, die sehr viel größer ist, als sie sich gewöhnlich einbilden101. 95
Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. 97 Ebd., S. 27, Satz VI. 98 Ebd., S. 28, Satz VII. 99 Ebd., S. 28. 100 Ebd., S. 28. 101 Ebd., S. 29, Satz VIII. 96
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Das hat die Philosophie freilich immer gewollt; aber sie fing es auf dem verkehrten Wege an, indem sie stets darauf ausging, die Veränderung auf Unveränderliches zurückzuführen. Damit machte sie aus der Aktion eine abgeschwächte Kontemplation, aus der Dauer ein trügliches, bewegliches Bild der unbeweglichen Ewigkeit, aus der Seele einen Sturz der Idee. Das war der Grundfehler namentlich der alten Philosophie von Plato bis Plotin. Die moderne Wissenschaft begann (bei Galilei) mit der Anerkennung der Bewegung als unabhängiger Realität. Aber die Bewegung selbst erstarrt und gerinnt gleichsam unter den Sonnenstrahlen des Verstandes wieder zu fixen Begriffen102; indessen wenigstens die Tendenz der modernen Philosophie geht fortan dahin, die (bewegliche) „Seele“ wieder über die (starre) „Idee“ zu erheben; ganz im Gegensatz zum Denken der Alten103. Sie bleibt noch bei dem Verfahren der Feststellung, aber sie sucht wenigstens die Beharrung nicht mehr in Dingen, sondern in reinen Beziehungen. Kein Wunder, dass Kant zu dem Ergebnis kommt, dass unsere Wissenschaft durch und durch relativ und unsere Metaphysik gekünstelt sei. Seine Kritik trifft völlig zu auf eine Wissenschaft und Philosophie im Stile des Altertums: auf eine Wissenschaft, die nichts ist als eine Art Universalmathematik; auf eine Philosophie, die allenfalls nur eine Umformung des Platonismus ist104. Diese Universalmathematik ist eben das, was aus Platos Ideenwelt wird, sobald man voraussetzt, dass die Ideen Relationen oder Gesetze, nicht Dinge bedeuten. Und ganz recht hat ja Kant, wenn er behauptet, dass alle für uns „mögliche“ Erfahrung nur so sich dem starren, fertig konstituierten Rahmen unseres Verstandes notwendig fügen müsste, wenn unser Verstand selbst es wäre, der diese Natur organisiert und also in ihr nur sein eigenes Spiegelbild wiederfindet. Die Kritik der reinen Vernunft kommt also darauf hinaus, festzustellen, dass der Platonismus, der unrecht hat, wenn die Ideen Dinge sind, gerechtfertigt werde, wenn die Ideen Beziehungen sind und die Idee, einmal vom Himmel auf die Erde herabgekommen, in der Tat, wie Plato es wollte, der gemeinsame | Grund des Denkens und der Natur ist. [326] Diese ganze „Kritik der reinen Vernunft“ beruht aber demnach auf dem Postulat, dass unser Verstand nichts anderes könne als platonisieren, d.h. alle „mögliche Erfahrung“ hindurchgehen lassen durch voraus feststehende Formen. Allein auf die moderne Wissenschaft und Metaphysik als Ganzes will diese Voraussetzung nicht so recht mehr passen; sie bleibt nicht in den starren Thesen und Antithesen befangen, zwischen denen Kant uns stehen lässt, sondern sie umfasst These und Gegenthese in einem lebendigen
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Ebd., S. 30. Ebd., S. 31. Ebd., S. 33.
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Strome des Denkens und versteht beide als Ergebnis nachträglicher Analyse von dem Einheitsgrunde der Intuition aus, die nicht eine Verallgemeinerung der Erfahrung darstellen will, aber ihre Integration (l’expérience intégrale105). §17. Kritik. Statik und Dynamik. Unsere Antwort kann nicht zweifelhaft sein. Bergson ist es, der in der Vorstellung, die er sich von der Wissenschaft und der Philosophie gemacht hat, in einem halben Platonismus, nämlich im Platonismus der ersten Phase stecken geblieben ist. Plato hat allerdings seine Ideen anfangs starr, unbeweglich gedacht; das war das Erbteil des Eleatismus. Aber er hat ihnen die Bewegung zurückgegeben, ihre Wechselbezüglichkeit als das Ursprüngliche, die starre Auseinander- und Gegeneinanderstellung als sekundär erkannt, und damit Leben, Seele, Kraft, Gottheit den Dingen zurückgegeben. Wahr ist, dass die antike Wissenschaft und Philosophie, auch die platonische selbst, diese befreiende Ansicht nicht wirklich durchgeführt hat; durch den Sieg des Aristoteles über Plato war vollends für Jahrhunderte, mit dem geschlossenen äußeren Universum, zugleich das geschlossene Universum der Begriffe zur Herrschaft gebracht. Aber die Wissenschaft und Philosophie der Neuzeit ist schon seit ihren Anfängen auf Plato zurückgegangen und hat seinen entscheidenden Gedanken eigentlich erst wahr gemacht. Sie ist nicht dabei stehen geblieben, die starren Dinge in ebenso starre Relationen umzusetzen, sondern gerade der Schritt von den Dingen zu den Relationen bedeutete ihr zugleich den von der Erstarrung des Finitismus zum unbegrenzten Fluss unendlicher, damit zugleich unendlich beweglicher Wechselbeziehungen; wie es bei dem Begründer der Infinitesimalanalysis, bei Leibniz, besonders deutlich und vielseitig klärend zutage tritt. Auch in Kant liegt dieser Zug, obwohl er einer oberflächlichen Ansicht sich leicht verbergen kann. Seine Zeichnung der [327] Erfahrung als | unendlichen, „asymptotischen“ Prozesses, als Durchdringung der Generalisation und Spezifikation in der Kontinuität ist himmelweit verschieden von dem grotesken Bilde aus der Bäckerstube vom Einschütten des Teigs in die festen Kuchenformen. Und wenn in dem etwas schulmäßig steifen Aufbau seiner Urteils- und Kategorientafeln noch etwas von der alten Starrheit der „fertigen“ Begriffe anscheinend geblieben ist, so hat doch schon Hegel aus dem Kantischen Dreischritt der These, Antithese und Synthese durchaus zutreffend das Denken als unendlichen Prozess entwickelt, und hat Hermann Cohen, indem er mit Kant den in der Tiefe gefassten Platonismus und die dieser entsprechende tiefere Deutung der Infinitesimalmethode nach dem Kontinuitätsprinzip Leibnizens verband, eine Wendung des kritischen Grundgedankens vollbracht, auf die der Vorwurf des Festhängens in fertigen Begriffen ganz und gar nicht mehr zutrifft. Das ist genau die von Bergson
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Ebd., S. 36.
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geforderte Wendung vom „tout fait“ zum „se faisant“; vom Factum zum Fieri, wie ich zu sagen pflege. Allein – dies alles ist doch Denken, ist Intellekt; und so kommt Philosophie nicht mehr hinaus auf eine „Vergewaltigung“ des Intellekts, wie Bergson in einem jener überanschaulichen und hyperbolischen Ausdrücke, in denen er sich und seinen Lesern so gefällt, zu sagen genötigt wird. Für den eben gekennzeichneten Standpunkt ist die Infinitesimalmethode nicht mehr eine zufällige Einzelheit, sondern das typische Symbol des allgemeinen Verfahrens der neuen Wissenschaft. Nur auf dem Grunde der Wissenschaft aber wird auch die Rekonstruktion des „Unmittelbaren“ zu einer klar verständlichen Aufgabe. So wird sie allerdings nicht Metaphysik, im Sinne absoluten Einswerdens, vielmehr Einsseins von Haus aus, mit der „Wirklichkeit“, sondern sie bedeutet einfach das inverse Verfahren zu dem Verfahren aller objektivierenden Wissenschaft: in der Tat die Ergänzung der „Differentiation“ durch die „Integration“, die Zurückführung der „Statik“ der Begriffe auf die „Dynamik“, welche der echte Sinn des Begriffs selbst ist. So, nur so, auch nur in dieser Begrenzung erreicht Psychologie etwas vom ursprünglichen „Leben“, von der „Seele“ und der „Kraft“ (δÒναµισ), ja von „Gottheit“: wie Plato es genau vorausgesagt hat, eben als die Konsequenz des entscheidenden Schrittes, der im „Sophisten“ vollbracht war: von der Statik der Begriffe zur Dynamik106. § 18. Ergebnis. Es lautet wohl verlockend: wir sollen der ganzen | endlosen [328] Mühe des Intelligierens uns entschlagen und zur reinen Unmittelbarkeit der Intuition zurückkehren. Die Analyse kann nur auf die starren Denkpunkte führen, sagt Bergson, „denn das ist ihr Begriff“107. Man könnte darauf antworten mit der genauen Umkehrung der Melodie: die Intuition würde uns in den lebendigen Fluss der Bewegung wieder versetzen, „denn das ist ihre Definition“. Aber haben wir denn dies wunderbare Vermögen der Intuition? Haben wir also, voraus fertig (tout fait), das ursprünglich und absolut Wirkliche? Braucht es, um sich in seinen Besitz zu setzen, wirklich nichts weiter, als dass man – das Denken lässt? Dann ließen wir es gewiss! Haben es die, die es unterlassen? Hatten wir es als Kinder? Oder unsere Urahnen vor allem menschlichen Denken? Ist uns dies Paradies nur verloren durch den Sündenfall des Denkens? Wäre es selbst so – was hülfe uns wohl diese Einsicht? Das Paradies ist verloren und ist nicht wiederzufinden. Oder sollte es dazu wirklich genügen, dass man sich des Denkens enthält? Ist das etwa Bergsons eigener Weg? Nein, er selbst geht den Weg der Analyse und Synthese, durchaus keinen anderen. Er
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S.o., Anm. 7, S. 73 f. – Anm. d. Hrsg. Introduction à la Métaphysique, S. 34. – Anm. d. Hrsg.
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spricht zwar viel von der Schwierigkeit, sich unmittelbar in die Realität auch nur des eigenen Bewusstseinslebens ganz zu versetzen. Aber offenbar handelt es sich da nicht um eine bloße Schwierigkeit, sondern um die völlige Unmöglichkeit der Lösung einer falsch gestellten, in sich unverständlichen Aufgabe. Unser Erleben zu – erleben könnte doch kein Problem sein. Es ist selbstverständliche Voraussetzung, dass wir erleben. Aber dies Erleben begrifflich darzustellen, ist die Schwierigkeit. Mit dieser Schwierigkeit sehen wir Bergson von Anfang bis zuletzt ringen – und darin gerade erkennen wir sein Verdienst. Er bestätigt damit gerade unsere Behauptung: dass das Unmittelbare nicht auch unmittelbar bekannt ist. Wäre es das, so wäre diese ganze gewaltige, immer erneute Anstrengung des Denkens ja verschwendet. Und er bestätigt gerade, dass das Unmittelbare des Bewusstseins nicht anders bekannt wird, als im Rückgang von den Analysen des wissenschaftlichen Verstandes auf das, was freilich ursprünglich aller Analyse voraus gegeben sein musste, aber doch anders als durch sie hindurch, nämlich durch Rekonstruktion der durch sie zunächst aufgehobenen oder wenigstens aufgelockerten Zusammenhänge und Wiedereinstellung der herausgelösten Bestandstücke in die ursprünglich durchgängige Korrelation, [329] für die Erkenntnis schlechterdings unerreichbar bliebe. In der letzten | Idee, im unendlich fernen Ziele der Erkenntnis freilich wird alles Seele, Seele alles – die Wirklichkeit Erlebnis, das Erlebnis Wirklichkeit. Das soll die Überwindung des Platonismus sein; es ist vielmehr die letzte Konsequenz des Platonismus selbst, der doch in der Idee der Weltseele und schließlich der Gottheit als des Alllebendigen gipfelt. Aber das ist „Idee“ im genauen Sinn der „unendlichen Aufgabe“; der ihr voller Wert zwar bleibt, aber nur als Richtmaß der Erfahrung, nicht selbst als Erfahrung. Man hat den religiösen Zug in Bergson hervorgehoben, obgleich er selbst wenig Aufhebens davon macht. Sofern eine Religion in ihm liegt, ist es die Religion des Mystizismus, und zwar des Mystizismus in fragwürdigster Bedeutung: der Verachtung der Aktion zugunsten müßiger Kontemplation. Aber er ist hierüber offenbar nicht mit sich selbst einig; es gibt Stellen genug, wo er im Gegenteil mit seiner ganzen Sympathie bei der Aktion zu sein scheint, insbesondere für die Arbeit der Wissenschaft mit ganzer Wärme eintritt. Und seine Grundansicht von der „Dynamik“, von dem ewig lebendigen Fließen als dem Wesen der Psyche liegt eigentlich jedem Quietismus (der theoretisch stets im Platonismus nicht nur, sondern im Eleatismus endet) diametral gegenüber. Jedenfalls uns bleibt, indem wir jene absolute Unmittelbarkeit der Wechseldurchdringung als Forderung, als unendlich fernes Ziel voll anerkennen, immer nur das ewige Streben zur Gottheit; während wir verzichten auf jeden Anspruch, auf diesem Dornenund Distelfeld der menschlichen Arbeit und Forschung etwas wie eine mystische „Vergottung“ als Menschen erreicht zu haben oder je erreichen [330] zu können oder zu sollen. |
Literaturverzeichnis Anm. d. Hrsg.: Es werden alle von Natorp zitierten Werke aufgelistet. Sofern es Neuausgaben derselben gibt, werden die jeweils aktuellen Editionen angegeben und es wird nach deren Paginierung zitiert. Texte, die im Original nicht auf deutsch erschienen, werden nach Möglichkeit nach der maßgeblichen deutschen Übersetzung zitiert. Sofern Natorp aus einer bestimmten Auflage eines mehrfach aufgelegten Werkes zitiert, werden die von Natorp verwendete Auflage und deren Paginierung angegeben sowie die jeweils erste und letzte Auflage. Aristoteles: Aristoteles Graece. Hg. I. Bekker. Berlin 1831. Bergson, Henri: Essai sur les donées immédiates de la conscience, Paris 1888. [Übers.: Zeit und Freiheit. Versuch über die unmittelbaren Bewusstseinstatsachen. Jena 1911.] : Introduction à la Métaphysique, in: Révue de Métaphysique et de Morale XII, 1903, S. 1–36. [Übers.: Einführung in die Metaphysik. Jena 1909.] : Matière et Mémoire. Essai sur la rélation du corps à l’esprit, Paris 71946 [1. Aufl. 1896]. [Übers.: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Übers. v. J. Frankenberger. Hamburg 1991.] Cassirer, Ernst: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (4 Bände). Darmstadt 1994 [1. Aufl. 1906 {Bd. 1}, 1907 {Bd. 2}, 1920 {Bd. 3}, 1950 {Bd. 4}]. : Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen. Hamburg 2001 [1. Aufl. 1921]. Cohen, Hermann: Kants Begründung der Ästhetik. Hildesheim/New York 2009 [1. Aufl. 1889]. : Ethik des reinen Willens. Hildesheim/New York 1981 [1. Aufl. 1907]. : Logik der reinen Erkenntnis. Hildesheim/New York 1977 [1. Aufl. 1902]. : Ästhetik des reinen Gefühls. Hildesheim/New York 1982 [1. Aufl. 1912]. Delbos, Victor: „Matière et mémoire: Essai sur la relation du corps a l’esprit: Par Henri Bergson“, in: Revue de Métaphysique et de Morale V, 1897, S. 353–389. Descartes, René: Meditationes de Prima Philosophia, in: Oeuvres de Descartes, Vol. 9 (Hg.v. Ch. Adam & P. Tannery). Paris 1996. [Übers.:
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Register Dieser Index wurde von Natorp selbst erstellt und wird hier übernommen. Die Pagination bezieht sich auf die Seitenzählung der Originalausgabe, die am Rande des Textes zu sehen ist. – Anm. d. Hrsg. Absolutes 132. 222. Abstraktion u. Konkretes 21. 38f. 77f. 81f. 110. 128. 135. 192. 214ff. 219. 220ff. 223f. 289. (Wundt) 265. Lockes A.-stheorie des Begriffs 282. Ästhetik. Ästhetisches Bewusstsein als dritte Art der Objektsetzung 19. 61. 72f. 93ff. 127f. 198. 200f. Nicht auf Psychologie zu gründen, dagegen Aufgabe für Psychologie 93ff. 200f. Welches die subjektive Grundlage? 127. Individualitätscharakter des Ästhetischen 72f. 246. Falsche Naturalisierung 18. Objektive Gesetzlichkeit anerkannt von Lipps 278f., vgl. Husserl 288, Münsterberg 293. Akademiker, skeptische 11. Akt. 1. Akt g. Potenz: Aristoteles 83. (Seele als A.) 5. (Denken des Denkens als reiner A.) 239f. A. = Bestimmung 232f. Relativierung des Gegensatzes von A. u. Potenz 223. 233. – 2. Akt g. Inhalt: A. als „Tat“ (se faire) 38. Schein des Subjektivismus darin 208; Auflösung dieses Scheins 209. – Insbesondere: a) Bewusstheit als A.: A. als Ichbeziehung einerseits, Inhaltsbeziehung andererseits 26, vgl. 54. 56. 58. Echter A.-Charakter des Bewusstseins 260. Spez. das Sichobjektivieren als A. ebenda. Gliederung des Bewusstseins in AA. u. Auftritte 59. 63. AA. im Sinne konkreter Vereinigungen
34 m. Anm.; 47. Solche nicht starr vorzustellen 37. Ob AA. sich wieder auf AA. richten können 34. – b) Ob eine Mehrheit von AA. des Bewusstseins anzunehmen nach der Verschiedenheit des Inhalts (vgl. Tätigkeit) 42ff. 47. 49. 168. 209. 260. – A. u. Inhalt nach Lipps 275; nach Husserl (insbes. meinende AA.) 281f. 290. A. u. Objekt nach Münsterberg 294. Dessen A.-theorie der Vorstellungsassoziation 304. Aktion (= Wirken) vgl. Tätigkeit. Wahre (psychische) A. nicht Kausalität nach Bergson 312. A. gegen Kontemplation 325. 329. Nervenprozess u. Wahrnehmung gerichtet auf A., nicht auf Erkenntnis nach demselben 314 f. Aktivität s. Tätigkeit. Aktualisierung. Objektivierung, Subjektivierung, wiefern A. 84 f. 239 f. Aktualität des Bewusstseins 39. Substantialität u. A. nach Lipps 279. Aktuell (wirklich d. i. wirksam, nach Bergson) 315 ff. All-Eines 222. Allgemeines g. Einzelnes 74f. 103. 156. 218 f. Analyse, Auseinanderlegung der Bewusstseinsmomente g. Synthese 59f. 192. Vgl. Wundt 289f. Dilthey 291. Verstand: A., doch in Absicht auf Erkenntnis des Zusammenhangs 307. 320; Objektivierung A. 92. Anders Bergson 321f. 328. Sein
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Verfahren als „Gebrauch der A. gegen die A.“ 319. Anaximanders Apeiron 234. Anschauung. Erkenntnisart des Psychischen anschaulich nach Wundt 265. Wesensschau nach Husserl 289, vielmehr „Erschauen“ 290. Ursprüngliche A. nach Bergson 317 (vgl. Intuition). „Intellektuelle A.“ 320. Ansichsein 203. 210. 284 f. Apperzeption in gew. Auffassung okkulte Qualität 17. Wundts A.stheorie u. Münsterbergs Kritik ders. 304. Kants transzendentale A., Schein des Subjektivismus 207f. Transz. u. empirische A. 244. A. g. Perzeption (= Repräsentation) 53. Weshalb sie als Akt erscheint 54. Wechselbedingtheit beider 57. Apprehension, Kants Synthesis der A. 252. Archimedes 139. Aristoteles tiefer Psychologe 239f. Orientierung an den Wortbegriffen 99. Ablehnung der Unendlichkeiten 143; geschlossenes Universum 326. Akt u. Potenz 83. 232. Reine Potenz 233. Êριστον πρ½ν Éρισq²ναι 240. £χειν, ¦ξισ 245. Form u. Materie 36. Stoff u. Form usw. ungetrennt 3f. Urmaterie 233. 240. Seele als Lebensfunktion des Organismus 4. A. Psychologie eigentlich Biologie 4f.; ihre Methode naturwissenschaftlich 5; also Naturalisierung der Psychologie 19. Einfluss auf die Folgezeit 6. 15. Bewusstsein als etwas Eigenes kaum hervorgehoben 4 (daher kein Verständnis für die Entdeckung des Protagoras 11); doch in einigem Maße beachtet 11. Leben als Energie 256. Entdeckung des Begriffs des Organischen 4. Bewusstsein an den Organismus gebunden, mit ihm sich entwickelnd 5. Definition der Seele 5. Theoretisches, poietisches, praktisches Bewusst-
sein 230. Sinnlichkeit u. Denken 235. Wahrnehmung als κριτικ δÒναµισ 235. Wahrnehmung u. Erfahrung 187. Reine stofflose Energie des Denkens 5. 14. Denken des Denkens 239 f. Gottheit 13. 132. 240. Vgl. Descartes 13 f. Assoziation als okkulte Qualität 17. A-spsychologie Humes 15f. Münsterbergs Kritik der Aspsychologie 304; desgl. Bergsons 310 f. Auffassung zurückgeführt auf Repräsentation 53. Augustinus Bewusstseinsbegriff 12. Einfluss auf Gassend 144. Ausdehnung g. Denken bei Descartes 13 f. 139; Spinoza u. a. 14. Aussage als Material für Psychologie 97ff.; als Objektivierung 98ff.; als Urteil 101. Außen u. Innen, erklärt 70. Vgl. Bergson 313; falsche Exteriorisierung des Inneren 306 f. Avenarius 148. Bedeutetes = Urteilsinhalt (Husserl) 282. Bedingen, logisches u. kausales 212. Bedingung nicht = Potenz 232. Begriff als Instrument der Objektivierung 195. Wiefern abstrakt u. konkret 223. Ding- u. GesetzesBB. 323. Statische u. dynamische Auffassung des Begriffs 323f. 327. Sensualistische B-stheorie, Husserls Kritik ders. 282. B. inadäquat allem unmittelbar Erlebten nach Bergson 321f. Flüssige BB. 322. 324; singuläre 322; gegen „fertige“ BB. 324; symbolische g. intuitive Erkenntnis 324. Begriffsgrund u. Seinsgrund 32. 39. Begründung im objektiven u. subjektiven Sinn 200 f. 280. Beneke 16. Beobachtung, äußere u. innere nach Lipps 265.
Register Bergson 305ff. Dualismus u. Monismus 305. 313. 317. 320. Mystische Tendenz 305. 308. 329. „Die Unmittelbaren Gegebenheiten“ 305 bis 312. Kritik der Psychophysik 305f. Zeit u. Dauer 306. Ungeschiedene Heterogeneität, Unidentifizierbarkeit, Unausdrückbarkeit des Psychischen 306. Ablehnung des Mechanismus 308ff.; jeder Erhaltung, jeder Kausalität des Psychischen 308ff.; der Assoziations- u. Dispositionstheorien 310. Wahres Wirken = Freiheit 312. – „Materie u. Gedächtnis“ 312–319. Nervenapparat u. Wahrnehmung (Perzeption) gerichtet auf Aktion, nicht Erkenntnis 313f. Das Aktuelle das „Wirksame“ 315. Discernement 314. Irrige Meinung der Entstehung des Bewusstseins im Gehirn 314. Verwebung von Wahrnehmung u. Vorstellung 314. Gedächtnis u. Erinnerung 315. Bewusstsein nur Merkmal der Tätigkeit, Vorstellung unbewusst 315. Verhältnis von Zeit und Raum zu Bewusstsein u. Wirklichkeit 316. Dualismus unhaltbar 317. Intuition als unmittelbare Erfahrung der Wirklichkeit; Kontinuität 317. Fehler des Empirismus u. Rationalismus wie auch des Kritizismus 317f. vgl. 322. 325. Integration 318. Einklang von „Wissenschaft“ und „Bewusstsein“, Spaltung nur im „Leben“ 318. Bedeutung der Infinitesimalmethode 318. 324. Kritik von Delbos 319–321. – „Einleitung in die Metaphysik“ 321–326. Intuition g. Begriff 321f. Psychologie analytisch 322. Rekonstruktion ebenda. Verflüssigung der Begriffe 322. 324. Umkehrung der Kategorien 324. Le se faisant und le tout fait 324, vgl. 38. Quantität u. Qualität, qualitative Differentiation u. Integration 324. Integrale Erfahrung 326. Veränderung u. Unver-
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änderliches 325. – Zur Kritik bes. 326 ff. Berkeley. Esse = percipi 15. 19. 145; dennoch nicht reine Psychologie der Subjektivität, sondern Ontologie 15; Idealismus 205. Repräsentationstheorie des Begriffs 282. Beschreibung. Psychologie als B.? 155 ff. 189f. Jede B. allgemein 155f. 189; Objektivierung 156. 190 cf. 280; nicht trennbar von Gesetzeserkenntnis 156. 190; Analyse, Abstraktion, Stillstellung, also Entfernung vom Unmittelbaren 190f. Indirekte B. = Rekonstruktion 28. 294 cf. 302; besser nicht B. zu nennen 303. Allgemeine B. der Bewusstseinsarten (Phänomenologie) nur erste Provinz, gleichsam Kategorienlehre der Psychologie 240ff. – Husserls Phänomenologie B., nicht Theorie 280. Akte nur beschreiblich durch die Gegenstände, auf die sie sich richten 281. Preisgabe der B. 288. – Diltheys Psychologie als B. u. Zergliederung 290ff. – Münsterberg gegen Psychologie als B., weil B. schon Bestimmung, Objektivierung sei 294. B. Mitteilung, das Psychische das notwendig Unmitteilbare; also direkt unbeschreiblich 300f.; indirekte B. 301f. B. zielt aufs Allgemeine 303; meint nicht Tatbestand, sondern Bewusstseinsbestand ebenda. – Bergson: das letzte Subjektive an sich unbeschreiblich; wie beschreibt er es dennoch? 307. Bestimmung. Das Psychische das Unbestimmte, aber zu Bestimmende 80f. Daher auf unterster Stufe schlechthin bestimmungslos zu denken 81, vgl. 211. 232f. B. schon Objektivierung (vgl. 179), aber eben durch diese das Subjektive bestimmbar 82. 180ff. Daher das Subjektive vor aller Objektivierung bloße Potenz der B. 82; doch nicht bloß negativ, sondern posi-
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tiv im Sinne des „Grundes“ 83; als Richtung auf B. 261f. Indirekte B. (= Rekonstruktion) 192ff. 195ff. cf. 211. Zweiseitigkeit der B. (des Objektiven – des Subjektiven) erklärt durch die Analogie der Gleichung 284f. – „Inhalt“ wie „Gegenstand“ B., also schon Objektivierung? (gegen Lipps) 277. Bestimmen schon „Meinen“, Objektivieren 277f. Bewegung das Ursprüngliche gegenüber allem Stillstand 256. B. als „Handlung des Subjekts“ nach Kant 127. Beziehung als B. g. ruhende Bezogenheit 238. – „Kinematographische“ Darstellung der B. nach Bergson 309f. B. u. Festpunkte 318. Insbesondere B. der Begriffe 323f. 325. Bewusstheit 24. Beziehung zwischen Ich u. Inhalt, Bewusst-sein des Inhalts 26. Rechtfertigung des Ausdrucks 27. Ein unreduzierbar Letztes 27ff. Nicht selbst Bewusstes o. Erscheinendes 30f. Nicht räumlich noch zeitlich bestimmbar 169. Nicht aus einem Mechanismus (oder sonst wie) zu erklären 185. Nicht Datum 40. Nicht Problem, aber Problemgrund 33. 35. 39. 40. cf. 215. Nicht zu qualifizieren 47f. Nicht nach Graden abgestuft 48, bes. Klarheitsgraden 49. In abstracto = Tätigkeit überhaupt, in concreto bestimmte Tätigkeit? 41. Inhaltseinheit ihr konkreter Ausdruck 34f. 47; aber nicht restlos ihr gleichzusetzen (g. Husserl) 35. Verhältnis zur Tendenz 51. Vgl. Münsterberg Vorfinden 296; Leibnizens Perzeption 175. 185. Bewusstsein umfassendstes, darum letztes Problem der Philosophie 10 f.; daher auch zuletzt erkannt; Urbegriff der Psychologie 19, zentrales Problem 22f. Nicht in seiner Eigenheit erkannt von Aristoteles 4f. B. u. bewusstloses Haben von Vorstellungen unterschieden durch Aristoteles
u. Neuplatoniker 11f. Priorität des B.s erkannt durch Augustin 12. B. als inneres Erleben nach Descartes 13. Vermeinte Naturgesetze des B.s 17. Anerkennung der Priorität des B.s im Psychologismus 18. Erweiterung des B.sbegriffs aufs ethische u. ästhetische Gebiet 19. Gegenseite zur Objektivierung jeder Art 20f. vgl. 127ff. Aufgabe der Wiederherstellung der Ureinheit des B.s in der Reflexion 20. Universalität des B.s 21. 245. Drei Momente der B.statsache 24ff. B. als die Gesamttatsache „Etwas ist mir bewusst“, im Unterschied vom abstrakten Moment der Bewusstheit 27. Als Relation zwischen zwei Terminis 30. B. Beziehung, Beziehung B. 27f. 56f. 58. 88. Totalität des B.s Totalität der Beziehungen 78. Bewusstsein (Einem-bewusst-sein, Bewussthaben) = Bewusstheit 24. 31. 35. 39. 40. 41. 45. 46. 47. 49. 51. Bewusstsein des Inhalts u. Bewusst-sein dieses Bewusst-seins; Regress ins Unendliche 45. B. als Tätigkeit? 41. Hauptscheidung: präsentatives u. repräsentatives B. 53ff.; repräsentatives B. das Ursprünglichere 56f. Übergreifendes, transzendentales B. 55f. (cf. Lipps 275 f.). 120. 174. Insbesondere übergreifend über das Sonderbewusstsein; „B. überhaupt“ 123. 133. 221. 222. 224f. Letzte Einheit auch gegenüber den verschiedenen Objektivierungsrichtungen 128; bes. Korrelation von Sein u. Sollen 126. Mannigfaltigkeit von n Dimensionen 59. B. alles, das subjektiv und objektiv Genannte 67, Form wie Materie 68f., niedere wie höhere Stufen 70, Präsentation wie Repräsentation, das X wie das A 87, Abstraktes wie Konkretes 217, Empirisches wie Überempirisches 228f. Ob der Gegenstand im B. 207; Einheit des Gegenstands Einheit des B.s
Register 204. Schein des Subjektivismus 205, bes. bei Kant 207ff. Aufhebung des Scheins 210ff. Objektive u. subjektive Einheit 213. 244. Verschiedene Bedeutung in Logik, Ethik usw. u. Psychologie 216. Zeitliches u. überzeitliches B. 216. 228f. 252. Letzte ideale Einheit von Sein u. B. 226. Untere Grenze 233f., obere 239f. 247. cf. 279. Doppelte Frage nach dem B.sbestand seiner Art nach 240ff., u. nach der Stufenfolge der Erlebniseinheiten 243ff. – Verschiedene Funktion des B.s nach Lipps (Haben u. Meinen) 276. B. überhaupt, reines B. gegen individuales 278; Unterschied gegen unsere Auffassung 279. Weltbewusstsein 279. Husserl: ursprünglich Zeit im B., nicht B. in der Zeit; B. nicht Dasein 288. B. überhaupt g. individuelles nach Münsterberg u. Schuppe 295. B. Grenze des Psychischen nach Münsterberg 297f. Bergson: B. g. Wissenschaft 307. 310. 313; letzter Einklang beider 318. B. nur Merkmal des aktuell Erlebten? 315. Dualismus von Materie u. B. unhaltbar 317. Unpersönliches u. persönliches B. 320. Beziehung (vgl. Relation) ein Letztes, Grundcharakter des Bewusstseins 27f. (vgl. Bewusstsein). B.seinheit 38f. 61. Gesetz als B. stellt Kontinuität her 323. B. von X und A 54. Tendenzmoment in der B. 54. B. nur im beziehenden Bewusstsein 55; nur in der Gleichung der Erkenntnis 284f. Ansichbestehen der B. u. B. als Akt? 56. B. als Bezogenheit u. als Richtung 238. B. = Form 57. 58; Verbindung, Inhalt 58. 59. Totalität der B. 78. B. auf den Gegenstand = Repräsentation 55. Zweiseitige, Objekts- u. Subjekts-B. 130. 211. Stufenfolge derselben 283, erläutert durch die Analogie der Gleichung 284f. – Objektivierung B. ohne
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Bezogenes nach Hume 145. B. = Denken nach Mill 147. B. auf den Gegenstand nach Lipps 275. Beziehendes = stellungnehmendes Bewusstsein nach Münsterberg 295. Bilder = reine Phänomene n. Bergson 313. Die B. selbst die Dinge 319. Biologie u. Psychologie 4f. (Aristoteles). 63. 216. 258. Bois-Reymond, E. du, über die Grenzen des Naturerkennens 176ff. Brentano, Inhalt u. Gegenstand 274. 286. Cambridge, Schule von, 18. Christentum, Einfluss auf Entdeckung der Subjektivität 12. Cogitatio (Descartes u. Nachf.) 13f. 19. 139. Cogito (Descartes) 12f. 139. 208; cf. 243 f. Cohen, H., verbindet Kant mit Plato u. Leibniz 327. Bewegung der Begriffe 327. Fühlen 234 Anm. Gefühl als Erfühlen 127. Dasein s. Existenz. Datum = Problem 40. (Vgl. Gegebenes.) Dauer (durée, Bergson) 306. Beharrung des Vergangenen 316. Nicht trügliches, bewegliches Bild der unbewegten Ewigkeit 325. Delbos, V., Kritik Bergsons 319ff. Demokrit, Subjektivität der Sinnesqualitäten 80. 181. 186. Sinnlichkeit u. Verstand 186. 187. Denken g. Sinnlichkeit 120ff. 234ff. D. als Repräsentation 120 vgl. 173f. Raumbezug des D.s ebenda. Strebensmoment im D., D. wiefern Akt 238. D. als Richtung, Sachdenken u. Richtungsdenken 239. D. des D.s 239. Das „Ich denke“, D. g. Ausdehnung s. u. Cogito u. Cogitatio. Reine Denkseele (Aristoteles, Descartes) 14. Gesetze des D.s Gesetze des Gegenstands nach Lipps 275. Imma-
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nenz des D.s (Delbos g. Bergson) 321. D. als Sündenfall? (g. Bergson) 328. Descartes Erkenntniskritiker 6. Ursprünglichkeit des Bewusstseins, Cogito 12f. vgl. 139. 202. 206. 208. Entdecker des Bewusstseins als inneres Erleben 13 (m. Anm.). Cogitatio 13. 19. 139. Intellektualismus 19. Standpunkt der Bewegung 16. Gottesbegriff 13. Reine Denkseele 13f. Dualismus von Denken u. Ausdehnung 14f. 107. 114. 144f. 175. Annäherung an den Monismus 139f. Rolle der Ausdehnung 139f. Auflockerung des Dualismus 140f. Deskription (vgl. Beschreibung) 155ff. Korrelatbegriff des Gegebenseins 286. Husserls deskriptive Psychologie 280ff. Korrektur dieses Begriffs 288. Auflösung in die Rekonstruktion 290. Determinismus. Bergson über D. u. Indeterminismus 311 f. Differentiation u. Integration 133f. 327. Qualitative D. u. I. nach Bergson 324. Differenzierung des Bewusstseins 133f. 249f. Differentielle Psychologie 221. 249. Dilthey. Beschreibende u. zergliedernde Psychologie 290ff. Ding. D-begriff u. Gesetzesbegriff 323. D-begriffe u. Beziehungsbegriffe 325f. „Ding an sich“ 87. 285. „Dingerscheinung“ (Husserl) 289. Discernement (Bergson) 314. Diskretion g. Kontinuität 39. 77. 134f. 235f. 247. 255. 259f. 309. Verhältnis zu Sein u. Sollen 237 f. Disposition. Allgemeine D. des Bewusstwerdens (Cohen) 234 Anm. Nervensystem als Aufbewahrung motorischer DD. (Bergson) 315. Psychologie der DD. (Beneke, Lipps) 16. 17; bekämpft durch Husserl 297, durch Bergson 310. – D. der Psychologie 229ff.
Doxa g. Episteme 101. 226 f. Dualismus der natürliche Standpunkt 107. Plato 89. 138f. Descartes 14f. 107. 114. 139f. (D. u. Locke 144f.) 175. Rest von D. in Kant 176. D. durch den Kritizismus prinzipiell erledigt 112 vgl. 129f. Erklärung 135. D. der Erkenntnisbedingungen, nicht des Geschehens 185 vgl. 213. – Rehmke 263. Wundt 263ff. Lipps 270 ff. Bergson 305. 313. 317. 320. Dynamis s. Potenz. Dynamisch. D-e Verknüpfung 74. D-e gegen statische Auffassung des Bewusstseins 37ff. 82. 190f. 238. 285. (Bergson) 306 f. 312. 327. 329. Ebenmerkliches keiner Größenbestimmung fähig 305. Einheit des Mannigfaltigen im Bewusstsein 25. Inhalts-E. konkreter Ausdruck der Bewusstheit 33f. E. als Form g. Inhalt in E. 35f. E.sidee u. Erlebnis-E. 38. Ich als E.sgrund 35. 38f. Andererseits relative EE. 40. E. des Bewusstseins als Beziehung 57. 72ff. Wiefern erscheinend u. nicht 120f. Absolut ursprünglich, unvorstellbar, unbeschreiblich 199. E. des Bewusstseins zugleich E. des Gesetzes u. damit des Gegenstands 130; der Methode, der Beziehung 132; Richtungs-E. 133. E. des Gesetzes, des Gegenstands gegründet in der des Bewusstseins 203ff. Schein des Subjektivismus 205ff. Plato, Descartes, Leibniz, Kant 206; insbes. E. der Apperzeption 207ff.; erklärt als E. der Bestimmung 208. Auflösung des subjektivistischen Scheins: E. des Bewusstseins als E. für das Bewusstsein zugleich objektiv u. subjektiv 210. 213. Doppelseitigkeit der E. 224. Letzte E. u. engere Einheiten des Bewusstseins 243ff.; diese in jener eingeschlossen 259f. – „Monadische“ E. des Bewusstseins nach Husserl 288. E. des Mannigfaltigen nicht
Register hinreichend unterscheidend nach Münsterberg 323. Einzelnes u. Allgemeines (s. d.). E. nur Terminus der Relation 75 vgl. 235 f. Eleaten 76. 88f. 135 f. Elemente des Bewusstseins 122. 255. 301. Bergson gegen Annahme solcher 322. Empfindung spezifiziert sich nur durch den Inhalt, nicht nach der Art des Bewusst-seins 48. Keine Akte der E., keine E. des Empfindens selbst 43. E. nicht gegeben im Sinne des voraus Bekannten 83, sondern nur im Sinne der Potenz 83 vgl. 223, Potenz der Sonderung 235. Nicht gegeben, sondern gesucht 123; erst zu erschließen aus der Aussage 98. Bezogen auf den Erlebnismoment 244; aber nicht selbständiges Element 255. Andererseits objektiv zu beziehen 114. Strebensmoment an der E. 237. E. u. E.santrieb; Sach-E. u. Antriebs-E. 239. – E. nicht messbar nach Münsterberg 299. Wiefern Element 301. Nicht vorfindbar, ohne selbständige Existenz ebenda. Bergson gegen Größenbestimmung der E. 305. Quantität u. Qualität der E. nach B. 318. Empirie, psychologische, befreit durch die dynamische Auffassung des Bewusstseins 39. Empirisch. Psychologie nicht bloß e-e Wissenschaft, sondern Wissenschaft des E-en 103f. 229. Empirismus. Grundfehler des E. nach Bergson 317. 322f. Energetik 178. 180. Energie g. Bewegung 16. 180. 256. 309. Seele als E. nach Aristoteles 4f. 256. Reine stofflose E. 5. Psychische EE. 42. 256. Echte Energie des Psychischen, ν £ργíω εÃναι 260. Wundts psychische E. 269. Enge u. Weite des Bewusstseins 297 . Entelechie. Seele als E. (Aristoteles) 5. Entwicklung (Aristoteles) 4. E. des
315
Bewusstseins, als zweiseitiger Prozess der Objektivierung u. Subjektivierung 70f. 134f. 239; erläutert durch die E. der Gleichung 284 f. Epikur 175. Epikureismus 6. 15. 159. Episteme g. Doxa 101. 226 f. Erfahrung. Vielheit von Wahrnehmungen nach Aristoteles 187; also objektiv gerichtet. E. = Natur (Kant). 19. 159. Einheit (Monismus) der E. 130. 132. 151. 185. 265. 272. Psychologie möchte das Erfahren selbst in E. bringen, daher objektiviert sie es 104. Idee Richtmaß der E., nicht selbst E. 329. – Äußere u. innere E. nach Wundt 263f.; mittelbare u. unmittelbare 264. Ursprünglich eine 264, aber aus zwei Faktoren (obj. u. subj.) zusammengesetzt 265; zwei „Seiten“ der E. 266. Äußere u. innere E. nach Lipps 270, beide unmittelbar 270f. Anders 278. Das Psychische nicht E. im sonstigen Sinn nach Husserl 288. Reine E. nach Münsterberg 293. E. an sich objektiv (Delbos gegen Bergson) 321. Wissenschaft nur totale E., ebenda. Erhaltung. Keine E. im Psychischen nach Bergson 309. 311. Ob im Physischen? 311. Erinnerung 123. 257f. 259. 289. E. u. Gedächtnis nach Bergson 315; durch Nervenprozess nicht repräsentierbar ebenda. Existieren die EE.? 316. Erkenntnis g. Meinung 101. 226f. Objektivität u. Subjektivität der E. 204. Fundamentalgleichung der E. 205f. Auflösung des Scheins der Subjektivität der E. durch die Doppelrichtung des E.-weges 211f. (vgl. Prozess). Wiefern der Gegenstand Funktion der E. 284 ff. – Symbolische u. intuitive E. nach Bergson 324. Erkenntniskritik 19. 21. 94f. 112. 134. 143. 189. Nicht Psychologie 21. 94f.; aber richtungweisend für sie 283.
316
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Schein des Subjektivismus bei Kant noch nicht vollständig überwunden 201. 205. Erkenntnistheorie schiefer Begriff 201; = Transzendentalpsychologie 241. Erklärung in jedem Fall Objektivierung 104. Wiefern E. des Psychischen aus dem Physischen möglich 185ff. Beschreibung und E. nicht trennbar 189f. vgl. 156. E. im subjektiven Sinn 196. 202. 209. 210. – E. des Psychischen nach Lipps 276; nach Münsterberg 302; insbes. indirekte E. 303; geht aufs Einzelne, Beschreibung aufs Allgemeine 303. E. rein naturwissenschaftlich 303. Der E. bedarf nicht das Gegebensein der Phänomene, nur ihre doppelte Einordnung, nach Bergson 313f. Erleben Ausdruck der Subjektivität des Bewusstseins 12f. Konzentration auf das erlebende Bewusstsein 20. Selbständigkeit 23. Ursprünglichkeit 32. Das E. nicht wiederum zu erleben (das ginge ins Unendliche) 36 vgl. 328. Unmittelbarkeit, Kontinuität des E. 38. Urerlebnis 39. 78. 289f. Totalität des E.s 20. 70. 78. 85. 87. 128. Erlebnis – Wirklichkeit, Wirklichkeit – Erlebnis nur im unendlichfernen Ziel 226f. 329. Streben im Urerlebnis wurzelnd 50. Ursprüngliches E. umfasst Teleologisches wie Ateleologisches (gegen Münsterberg) 293. Frage nach dem letzten E. 225. E. nicht mit dem E. auch schon erkannt, sondern erst Problem 289 vgl. 292 (g. Dilthey), 328 (g. Bergson). Aufgabe der Rekonstruktion des E. 192, insbes. des Einzelerlebnisses 218. – Erleben und Ich nach Lipps 273ff. 276. Psychisches E. nicht Erfahrung nach Husserl 288. Das unmittelbar Erlebte nach Bergson 305ff., jenseits alles Begreifens, doch intuitiv gegeben 321.
Erlebniszusammenhang 52. Nicht bloß der jeweilige Erlebnisakt [Erlebniszusammenhang 85f.] Problem der Psychologie 63. Einordnung derselben Tatsache in verschiedene EE. 167 cf. 114. Stufenfolge u. Distinktion der Erlebniseinheiten 243ff. 122. Komplexer E. u. Augenblickserlebnis 122. 244. Vgl. 262 (genetische Psychologie zu gründen auf diese Stufenfolge). „Mein“ Erleben, d. h. individueller E. 219; übergreifender E., Gemeinschaftsbewusstsein 221. 226. – Vgl. Leben. Erscheinung (vgl. Phänomen) = Subjektivität 9; in primitiver Auffassung = Schein ebenda, vgl. 88. E. bestimmend für Sein nach Protagoras 88. E. vielmehr ins Sein erst hinaufzuheben nach Plato 89f. Erscheinen = Einem bewusst sein; das Erscheinen erscheint nicht 29. 32. 39. 109. Andererseits E. stets E. eines Objekts 42f.; das Erscheinen selbst nicht hinzutretendes Faktum 43. Somit doppelseitige Beziehung der E.; einerseits = Bewusstsein; nicht zweierlei EE., EE. des Bewusstseins u. die es nicht wären 106. E. nicht zusammengesetzt aus zwei Erscheinungen, aber zweiseitig zu beziehen 108 (Verteidigung g. Husserl ebenda); ferner 113ff. E. also objektiv u. subjektiv zugleich 115ff. 118ff. 129f. Nicht doppelte Tatsache, aber doppelte Beziehung 211. Koinzidenz beider Beziehungen in der E. 283, verständlich in genetischer, nicht ontischer Auffassung 285. EE. „retten“ 73. 117. Frage nach dem Wo und Wann der E. 169f. E. in sich fließend, grenzen- u. bestimmungslos, doch Grundlage der Bestimmung 179. Reflexion auf die E. sekundär 193f. Eignes Sein der E. 194. Reine E. nicht gegeben, sondern erst zu rekonstruieren ebenda, vgl. 290. Erziehung 246.
Register Ethik sucht das Gesetz, ist also Objektivierung 61. 72f. 93ff. 131f. 198. Doppelseitige Begründung 200f. Naturalisierung u. Logisierung der E. 18. E. als Gesetzmäßigkeit überzeitlicher, überindividueller Erfahrung nach Lipps 278, vgl. Husserl 288. Normwissenschaft, „Subjektivierung“ nach Münsterberg 293. Euklid, Euklidische Mathematik 131. Exaktheit. Erkenntnisgesetz des Exakten 179. Existenz nicht Oberbegriff für Bewusstsein 29. 32; vgl. Husserl 288. Ideale E. (Husserl) 111. Exner, Siegm. 14. Exteriorisierung. Falsche E. des Innern (Bergson) 306f. Faktum der Wissenschaft 131. F. u. Fieri 38. 285. 327. Vgl. Bergson (le tout fait, le se faisant) 38. 324. 327. Faraday 318. Farbenempfindung, wiefern subjektiv u. objektiv 67. 99f. 116f. 186. Beschreiblich nur vom Objektiven aus 231; nur im Kontinuum 123. Keine Mathematik der F. 183f. Schwellengesetz 80. 181. – Nur indirekt beschreiblich nach Münsterberg 301. Fechner 305. Fichte. „Tathandlung“ 208f. A = A 223. Subjekt und Objekt 292. Fieri g. Faktum 38. 285. 324. 327. Finitismus des Aristoteles u. der Pythagoreer 143. 326. Form u. Materie des Bewusstseins 36. 40f. 46. 47f. 60. 69. bes. 72ff. 121. 253. Entspr. Repräsentation u. Präsentation 57; Beziehung u. Bezogenes 58. 72. Freiheit des Strebens wie des Denkens. 238f. F. nach Bergson 311ff. Fühlen (Cohen) 234 Anm. Funktion (Kant) 54. Verschiedene FF. des Bewusstseins nach Lipps 276. F. im mathematischen Sinn als
317 Ausdruck dynamischer Verknüpfung 74.
Galilei 179. 325. Gassend 15. 144 f. 175. Gedächtnis u. Erinnerung nach Bergson 315 f. Gefühl eignes Verhalten des Subjekts, oder eigner Inhalt? 50. G-smomente mit Empfindung u. Vorstellung kompliziert 48. 49. 52. In Tendenz wurzelnd 51; in konkreter Einheit mit Vorstellung u. Streben 126. Verhältnis zum ästhetischen Bewusstsein 127. Auf Nervenvorgänge zu beziehen 117f. 120. Nicht ohne Raumbezug 173. – Ähnlich Münsterberg 298. 301. Gegebenes = Problem 40. 122. G. Einem gegeben 40. Bewusstheit nicht G., aber Grund aller Gegebenheit 32. 40. Objekt aus G. zu bestimmen 66. G. nicht voraus Bekanntes, sondern als solches erst aufzustellen 83 vgl. 56. 86f. = Potenz 83. 84. Gegensatz von G. u. Erkanntem relativ 85. – Vorurteil des G. bei Lipps 278. Weder „Inhalt“ noch „Gegenstand“ schlechthin gegeben (g. Husserl); Gegebenheit Korrelatbegriff der „Deskription“ 286. Bergsons „unmittelbare Gegebenheiten“ 305ff. Gegebenheit nicht zu erklären 313. Gegenstand (vgl. Objekt). G. u. Inhalt (Terminol.) 25. Bewusst-sein heißt G.-sein, ist selbst nicht zum G. zu machen 28f. Das Ich nicht ursprünglich G. ebenda. 31. (Verteidigung g. Husserl 34.) Inhalt u. G. = Präsentes u. Repräsentiertes 53. Relativierung dieses Gegensatzes 54f. 85ff. 110f. 283ff. Inhalt G. unterster Stufe 277. Wiefern „Funktion der Erkenntnis“ 284. G.sbeziehung beruht auf dem Gesetz, zuletzt dem Gesetz der Gesetzlichkeit selbst 60f. Stufen der Gegenständlichkeit 121 vgl. 286.
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Wiefern endlich- und unendlichfern 286. Woher der Schein des Draußenstehens 286f. Erscheinung als solche auf den G. bezogen, Gegenständlichkeit nicht hinzutretendes Faktum 129. Nicht zweierlei G. ebenda. Schein des Subjektivismus 203ff.; bes. bei Kant 207f. Aufhebung des Scheins 209ff. – Transzendenz des G.s nach Wundt 266. Inhalt u. G. nach Lipps 274ff.; nach Husserl 282ff. Intention u. Erfüllung 286f. Gegenüberliegen oder -stehen von Ich u. Inhalt 44; von Inhalt u. Gegenstand 66; aufgelöst in die Doppelrichtung des Prozesses der Objektivierung u. Subjektivierung 69. 71. Gegenwart als Aktualität nach Bergson 315. Nicht sie „ist“ am meisten, sondern eigentlich gar nicht, erlebte G. vielmehr Vergangenheit, G. nur ideale Grenze 316. Gehirn, selektive Leistung nach Bergson 314. Geist u. Seele nach Lipps 275. G. = Weltbewusstsein 279. G. als discernement nach Bergson 314. G. u. Körper 319. Geisteswissenschaften u. Psychologie 229. (Dilthey) 292. Münsterberg 293. Gemeinschaftsbewusstsein 123. 221. 246. 249. 250. Genetische gegen ontische Ansicht der Erkenntnis (in subjektiver wie objektiver Richtung) 249f. (Verh. zur Zeit 251. 254). 285. 288f. Geräusch- Empfindung und Vorstellung 119. Geschichte auch Objektivierung 112. Nicht ohne überzeitlichen Bezug 229. Teleologisches Grundgesetz der G. 250. Geschichtswissenschaften (Münsterberg) 293. Gesetz. Dingbegriffe u. G.esbegriffe 323. G. u. Konkretes 38. G. u. Gegenstand 60f. 69. 72f. 92f. 125. 154ff. G. u. Fall 74. 75. G. u. Tatsache 155ff. 189f. G. u. Erscheinung 109.
117. 179. 182. („Retten“ der Erscheinungen 73. 117). Wechselbegründung 201. Aufgabe der Psychologie nicht G.eserkenntnis 79. 92ff. 103ff. – Gesetzlichkeit des Psychischen nach Wundt 268f. Freiheit g. Gesetzlichkeit n. Bergson 312. Gesetzeswissenschaft. Reine GG. g. konkrete Objektwissenschaften 94. Konkrete GG. 97. Psychologie nicht G. 189. Gesichtspunkt der Betrachtung bedingt Auffassung als Subjektives oder Objektives 212 vgl. 116. 199f. Vgl. Wundt 264; Lipps 270f. G. u. Sache (Bergson) 323. Geulincx 222. Gleichheit nur Idealfall 309. 311. Gottheit (Plato) 19. 329. (Aristoteles) 13. 132. 240. (Descartes) 13. (Geulincx, Malebranche, Spinoza, Leibniz) 222. (Kant) 240. Grad. Keine GG. der Bewusstheit 48. 297. Haben g. Meinen (Lipps) 275ff. (Husserl) 282. Vgl. auch Plato 89. Aristoteles 245. Halluzination 119. Hamilton, W. 147. Hegel 327. Heraklit. Logos der Psyche 1. 2. 290. ξυνÊν 246. Heraklitismus 76. Herbart. Unräumliches u. unzeitliches Ich 169. Bewusstsein Energie, Vorstellungen Substanzen mit Kräften 256ff.; Strebungen 261. Konstruktive Psychologie 310. Heterogeneïtät des Psychischen, Homogeneïtät des Psychischen (Bergson) 306. Aufhebung des Gegensatzes 317. Hobbes. Objektivistische Psychologie 15. Naturalisierung der Ethik 18. Materialismus 175. Ursprünglichkeit des φαºνεσqαι 29. 109. 144. Hören u. Ton 42 ff. 48 f.
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Homogeneïtät des Physischen g. noch zeitlich zu bestimmen 169. Heterogeneïtät des Psychischen Nicht Problem 32f. 40, aber Pro(Bergson) 306. Aufhebung des blemgrund, Grund aller Tatsache Gegensatzes 317. etc.; insbes. Einheitsgrund für den Hume. Beabsichtigter reiner PhänomeInhalt 35f. Als unmittelbares jedoch nalismus, wirklicher Naturalismus von höchster Konkretheit; Vergleich 15. Doppelte Beziehung der Erdes Zentrums 37. Ichbeziehung scheinung; Objektsbeziehung Relaallbefassend 39. Ursprüngliches tion without Relative 145. Ichheit u. repräsentatives I. 30f. Repräkeiner selbständigen Objektivierung sentatives Ich im Raume 170f. fähig, kein „innerer Sinn“ 146 vgl. Verschiedene Ich 27. Sonder-Ich, 150. Ich nur „Bündel von Vorstelkonstituiert durch den besondelungen“ 37. Ideen und Impressionen ren Erlebniszusammenhang 52. 122. Ausdruck für Distinktion der 288; vgl. 119. Repräsentationstheorie des Begriffs 282. Kausalitätsproblem, Erlebniseinheiten 243f. Reines u. bes. Zirkel in seiner Behandlung empirisches I. 244f. Traum-Ich 245. desselben 16. 146 f. 176 f. 268. Ich u. Du, Gemein-Ich 246. Untere u. obere Grenze der I.-beziehung Husserl, E. Der Bewusstheit entspricht 247. – Herbarts raum- u. zeitloses I. kein eigner phänomenologischer 169f. I. u. Erlebnis nach Lipps 273ff. Befund 33f. = Inhaltsgesamtheit Icherfahrung u. Icherlebnis, reines 35. Keine psychischen Tätigkeiten u. Individual-Ich 278. Stellungneh42. Einwand g. die doppelseitige mendes I. n. Münsterberg 292f.; Beziehung der Erscheinung 108. Phänomenologie; Beschreibung vorfindendes 295, = Bewusstheit 296; des Psychischen, Schwierigkeit ohne Kausalität 296, ohne zeitliche ders. 280f. Was er bearbeitet, sind Einheit 297. Absolute Erkenntnis nicht Phänomene letzter Instanz 98. des I. in der Intuition n. Bergson 321. Gegen sensualistische BegriffstheoIdealismus im Sinne des Subjektivismus rie, Abbild u. Zeichentheorie 282. Inhalt u. Gegenstand 110. 274. 282ff. abgewehrt 202ff. 205. 213; psycholobes. 286f. Intention u. Erfüllung 110. gischer I. 214. 217f. Näherung zum I. 287. Neuer Standpunkt: keine dopbei Husserl 287. pelte Erfahrung 287f. Näherung Ideation (Husserl) 288. 290. zum Platonismus 288. AblehIdee (Plato) bes. des Guten 18f. Weltnung des Psychologismus 33. seele, Gottheit 329. I. u. Teilhaben280. des 36. Sein der I. unser Sein 89. I. Hylozoismus natürlicher Standpunkt 3. als Gesetz 89. 325. Ideen, anfangs eleatisch starr, dann als beweglich Hypothese im schlechten Sinn 167. Veranerkannt 89. 288f. 326. Grundlefahren der Psychologie hypothetisch nach Lipps 271f. gungen 290. – I. nach Kant unendliche Aufgabe 131. 329. Kant u. Plato Ich: dem etwas bewusst 24. Letztes verglichen 206f. Bewusstseinseinheit Beziehungszentrum 28. Nicht Subals I. 39. Systemeinheit 217. Allstanz 26. Nicht Gegenstand, Dasein, Eines als I. 222f. I. wiefern höchst Tatsache etc. 29ff. 32. Supposition, konkret 223. – I. als Repräsentation nicht phänomenologischer Befund des Gegenstands n. Descartes 139. 38f. 85. Dasein für ein Ich nicht Ideen u. Impressionen nach Hume neues Faktum 129; nicht räumlich 288 vgl. 119.
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Identifikation = Objektivierung 68. 196. 289. (Münsterberg) 295. I., Differenzierung, Kontinuität 307f. Identität nur Rechnungsansatz 309. 311. Immanenz des Denkens (Delbos) 321. Indeterminismus (Bergson) 311f. Individualität 246. I. u. Gemeinschaft 250. Individualisierung, Individuation sekundär 246. 279. Individuelles, Psychologie des I. 103f. 224. 248f. I. u. überindividuelles Bewusstsein 221. 245 (weiteres s. Bewusstsein). – Individual-Ich nicht unmittelbar erfahrbar nach Lipps 278f. I. u. überindividuelles Bewusstsein n. Münsterberg 294. Perzeption als solche ohne i. Bezug n. Bergson 314. Infinitesimalmethode 309f. 318. 324. 327. Der infinitesimalen Änderung des Reizes entspricht nicht eine solche der Empfindung 231. Inhalt das Einem Bewusste 24f. Inbegriff, Mannigfaltiges in Einheit, Materie in Form 25. 33. 40f. I. u. Ich 28. I.seinheit konkreter Ausdruck der Bewusstheit 34f. 47, doch nicht schlechthin ihr gleichzusetzen (g. Husserl) 35. I. u. Akt, Tätigkeit 41ff. Dasein des I. u. Verhalten zum Ich nur abstrakt zu scheiden 43. Haltbarer Sinn der Tätigkeiten: Art der Einfügung in die Inhaltseinheit 46ff. Einzel-I. u. Verbindung 49f. Gefühl u. Streben auch I.? 50ff. I. umfasst auch Repräsentation, Beziehung 53ff., daher Scheidung von I. u. Tätigkeit nicht begründet 57f. Weite Fassung des Begriffs 59, = Konzentration, Beziehung, Bestand 60. I. nie ohne Bestimmung 81. I. u. Akt erklärt 238. I. allein Gegenstand der Psychologie auch n. Münsterberg 298. – I. u. Gegenstand 25, = Präsentes u. Repräsentiertes 53. Relativierung des Gegensatzes 54f. 85ff. 110f. 283ff. I. = Gegenstand
unterster Stufe 277. I. (= Präsentes) „gegeben“ nur als Problem 86. Entgegensetzung von I. u. G. letzte Form des Dualismus 153. I. u. Gegenstand n. Brentano, Meinong, Husserl 274, n. Lipps 274ff. „Nichts im Gegenstand, das nicht zuvor im I.“ 278. I. u. Gegenstand n. Husserl; deskriptiver I. 282 ff. Innen u. Außen, s. Außen. Integration 133f. (Bergson) 318. 320. 324. 326. 327. Intellektualismus 17ff. 153. Überspannung des Gegensatzes zum I. bei Bergson 320; „Vergewaltigung“ des Intellekts 327. Echter I.: Immanenz des Denkens (Delbos) 327. Intensitätsunterschied des Bewusstseins, bes. des Empfindens. 48. 300. Intention (vgl. Meinen) 54. 286. I. u. Erfüllung (Husserl) 110. 287. Intentionaler Gegenstand (Husserl) 282ff. I.e Gegenwart (Inexistenz) des Gegenstands 286. Intuition (Bergson) 317ff. s’insérer, Einssein mit dem Gegenstand 321. I. g. Begriff 323f. In ihr Wissenschaft u. Metaphysik eins 325. Integrale Erfahrung 326. Kritik 328. Irrationales im Bewusstsein 96 vgl. 242. I. in der Wirklichkeit n. Bergson 311. Irrtum psychologisch wichtig 102 vgl. 96. Isolierung, keine I. im Bewusstsein 59. 78 f. 86 f. Jetzt u. Nichtjetzt 174. 228. Kant. Bedeutung seiner Erkenntniskritik für die Psychologie 19. 21. 143. Transzendentalphilosophie 61. Anschauung u. Verstand 152. Handlung, Funktion, Spontaneität 54, nicht zeitlich zu verstehen 251. Einheit der Apperzeption, des Selbstbewusstseins scheinbar subjektiv 207f., wirklich objektiv gemeint 215; vgl. „Bewusstsein überhaupt“
Register 133. Transzendentale u. empirische Apperzeption 243f. Bewegung im Bewusstsein 55; produktive Einbildungskraft 127. Objekt das Rekognoszible 100. Gesetz der identischen Bestimmung 180. Dreischritt des synthetischen Verfahrens 327. Kategorien 68. 74f. Kausalität 177. Ursachen nicht gegeben 268. Kaus. konstituiert Natur 271f. Wirklichkeit auf Kaus. beruhend 158 f., insbes. wegen der Einheit der Zeitbestimmung 159 f. Auflösung des Dualismus der Substanzen in einen Dualismus der Erscheinungen im innern u. äußern Sinn 148. 167. 176. 305. Auflösung auch des letztern durch die enge Einheit von Zeit- u. Raumbeziehung 148f. vgl. 251ff. 273. Einheit von Zeit- u. Raumordnung 160f. 163. 253f. Möglichkeit der Psychologie hiernach 150f. Monismus der Erfahrung 6. 130. 151. 272. Noch zu sehr als fertig vorgestellt 131 (vgl. Kategorien 327). Gleichwohl Schein des Subjektivismus 201. 207. Subjektive u. objektive Deduktion 201. „Idealismus“ 205. Synthese der Begriffe Gesetz, Gegenstand, Bewusstsein 205. Nicht seine Entdeckung 206. Auflösung des subjektivistischen Scheins 213. Kritik des ontologischen Arguments 240. Idee als regulatives Prinzip 269. Asymptotische Annäherung 309. 327. Drei Welten 19f. Reich der Zwecke, Sein u. Sollen 131f. 207. – Bergson über K. 325. vgl. 317. Cohen verbindet K. mit Plato u. Leibniz 327. Kategorien, Kants 68. 74f. Methoden, nicht starre Festlegungen 309. 326. 327. Psychologische K. 223. 232. 240f. 242f. Grenzkategorien 240. 247. K. nicht dem psychologischen Bewusstsein angehörig nach Münsterberg 296. Umkehrung der K. gefordert von Bergson 324. Kausalität begründet Natur; daher Psy-
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chologie als Ursachenforschung notwendig naturalistisch 6f. So Hume 15f. Zirkel in s. Behandlung des K.sproblems ebenda u. 146f. Kant 177. 268. 271f. K. Voraussetzung des Tatsachenurteils, bes. hinsichtlich der Einheit des Raum- u. Zeitbezugs 164f. Einzigkeit der Kausalordnung 172. Zweifel wegen der spezifischen Verschiedenheit des Psychischen u. Physischen 177. Vermissen der „denkbaren Verbindung“ ebenda; „Notwendigkeit“ 178. Keine K. des Ich 209. Zwischen Erscheinung u. Gegenstand nicht kausale Beziehung 212. Psychische K. nach Wundt 268f., n. Lipps 272. K. nicht erlebt 268. 271 vgl. Lipps 274. Causa aequat effectum (Dilthey g. Wundt) 291, Münsterberg gegen psychische K. 296. Bergson: K. u. Identität 308f. K. u. Aktion 312. Keppler 73. 75. 179. Klassifikation des Bewusstseinsinhalts 230 ff. Komplexion der psychischen Momente 38f. 48. 52. 59. 223. Zu rekonstruieren auf Grund der Analyse 192. Konkretes vgl. Abstraktion. Konkretion, ursprüngliche, des Bewusstseins 21. 38. 39. 78. 82. 110. 128. 134f. 192. 214. 216. 219ff. 223f. 289 f. Konkretisierung 216 f. 220. Konstruktion = Objektivierung 45f. 94. 164. 195; auch die nichtwissenschaftliche 196f. Daher Psychologie nicht K. 45. Erscheinung Grundlage der K. 117. Das Psychische auf Grund der K. zu rekonstruieren 124. 195, aber nicht logisch resultierend 185. Schein des Subjektivismus 209; Auflösung durch die Korrelativität von K. und Rekonstruktion 211. Einwand: K. stets zugleich Rekonstruktion 214; beantwortet 218f. Wundts Psychologie K. 208; desgl. Lipps 271, vgl. 274. Dilthey gegen
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psychologische K. 291. Konstruktive Psychologie verfehlt das Subjektive als solches 310f. Kontinuität u. Diskretion (s. d.). Ursprüngliche K. des Erlebens 38f. 82. – Absolute K. des Psychischen nach Bergson 306; durch Intuition erkennbar 317. Continuité mouvante 318. Wissenschaft zielt auf K. 319. Identifikation, Differenzierung, K. 307 f. K. nur darstellbar über die Diskretion 309. – K. u. Sollen 237 f. Kontinuum der Gattung 74 cf. 38. K. der Objektdarstellungen, analog dem der Farben, der Töne 123. Konzentration auf das erlebende Bewusstsein Aufgabe der Psychologie 20. Ausdruck der „Verbindung“, des „Inhalts“ 59. Logische K. begründet die Gattung 74. Differenzierung u. K. korrelativ, bezeichnen die Erhöhung des Standpunkts des Bewusstseins 249f. Kopernikus 115. 117. Korrelativität der Prozesse der Objektivierung u. Subjektivierung 69ff. 114. 125. Bes. Kap. VI (Protagoras, Plato 136). 210ff. K. von Sollens- u. Seinsbewusstsein 126. Kraft. Annahme psychischer KK. 42. 257ff. Kritische Philosophie (Methode) s. Erkenntniskritik. Kultur. K.gestaltungen als Objektivierungen n. Dilthey 291. K.wissenschaft u. Naturwissenschaft 22. 77. 93. Kynismus 18 f. Kyrenaiker 11. 64. Laas, E. 109. 137. 147. Lange, F.A. 176. Laplace 224. Leben, ursprüngliche Lebendigkeit des Bewusstseins (vgl. Erleben, Konkretion) 57. 76f. 81f. 134. 191. 224f. 308. 327. L. Zusammenwirken von Vergangenheit u. Gegenwart
nach Bergson 317; andererseits Spaltung 318. Leder 12, Anm. Leibniz. Parallelismus 14. Mögliche Subjektsstandpunkte, vorgestellt nach Analogie der verschiedenen Ansichten desselben Stadtplans 124. Harmonie von Kausalität und Teleologie 132. Prästabilierte Harmonie; Substanz u. Phänomene; Monaden u. Monade der Monaden 141f. 222. 247. Unendlichkeit; Näherung zu Kant 143 vgl. 206. Überwindung der Starrheit der Begriffe 326f. Infinitesimalmethode ebenda. Unableitbarkeit des Psychischen aus mechanischem Zusammenhang 175 vgl. 178. Farbenempfindung „konfus“ 186. Lipps, Th. Seine Psychologie erklärend, also objektivierend 104f. Dispositionen 16 vgl. 297. 310. Messbarkeit des Psychischen 300. Psychische Tätigkeiten 42. Ausgang schon von Objektivierungen 98. Dualismus der „Grundtatsachen“ 270 vgl. 265. Näherung zum Monismus 273f. Inhalt u. Gegenstand 275ff. vgl. 65. 110. Psychologie Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung 278ff. Beziehung zu Husserl 280. 288f. Ichbeziehung in Gefühl u. Streben wurzelnd 51. Locke, J. Naturalistische Psychologie 15. Verflachter Dualismus 144. Innerer Sinn (Reflection) 146. 148. Erkenntnispsychologie 145. 251. Logik i. e. S. als reine Gesetzeswissenschaft, nicht auf Psychologie zu gründen 94 (insbes. formalistische L. ebenda); subjektive Begründung 200f. L. i. w. S. 61. 95. 189. – Gesetzmäßigkeit unmittelbarer, überzeitlicher u. überindividueller Erfahrung n. Lipps 278; vgl. Husserl 288. Normwissenschaft n. Münsterberg 293.
Register Logisierung. Gefahr der L. der Psychologie 60ff. Logos der Psyche 1. 2. 59. 78. 98. 135. 290. Lotze, H. Selbständigkeit des Psychischen 176. 186 f. Lust-Unlust-Gefühl nicht ohne Raumbezug 173. Mach, E. 148. Malebranche 14. 141. 150. 222. Mannigfaltiges u. dessen Einheit im Bewusstsein 25. 33f. 72ff. 120f. Vermannigfaltigung 133. Materialismus 5 f. 15. 297. Materie g. Form (s. d.). Urmaterie 233. 240. – Dualismus von M. u. Bewusstsein unhaltbar nach Bergson 317. Mathematik, methodischer Ausdruck der Unendlichkeit des Erkenntnisprozesses 77. Mehrdimensionale Betrachtung fundamentaler 113. Logik u. M., mathematische Logik 94f. M. u. Naturwissenschaft 181f. Psychologische Probleme der M. 195f. M. u. Empfindung 181. 186. M. aufs Psychische unanwendbar n. Münsterberg 300, n. Bergson 305 f. Mechanismus u. Psychisches 175ff. M. u. Energetik 178. 180. Ablehnung des M. durch Bergson 308. 310. M. u. Freiheit 312. Meinen (vgl. Intention, Repräsentation) 53. 56. 66. 84. 110f. Haben u. M. nach Lipps 275ff., n. Husserl 281ff. M. u. Vollzug 287. Münsterberg 301. Meinong, A. 274. Meinung 101f. Mensch als Ausdruck des Subjekts (Protagoras, Plato) 9. 88f. Sittliche Eigenwelt des M. (Sokrates, Plato) 18. Menschheit als Idee 18. Menschliches, Unter- u. Über-M. 242. Messen, Messbarkeit des Psychischen bestritten von Münsterberg 299f. Bergson 305f.
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Metaphysik u. Psychologie 6f. 13. 16f. 65. 79. 167. 217. 247. Begriff des Gegenstands metaphysisch n. Wundt 266; metaphysische Voraussetzungen überhaupt 269. Fehler der dogmatischen M. nach Bergson 31f. Einswerden von Wissenschaft u. M. 325. Überwindung des Platonismus 326. B.s eigne Lehre M. 320f. 327. Transzendieren des Begriffs 322. Methode = Gesetz der Gesetzlichkeit, oberster Gesichtspunkt 61. 134. 189. 285; insbes. Gegenstand Methodenbegriff 286. Kategorien MM. 309. Weg u. Ziel 134. 310. Methodischer Monismus 132. Methodische Bedeutung der Potenz 232f. M. der Psychologie 91ff. Nach Wundt 267. Rekonstruktion M., nicht Metaphysik 321. Mill, J. Stuart 147. Mitteilung 165f. Das Psychische das Unmitteilbare n. Münsterberg 300f. Modalität 75. 159. Möglichkeit, zweifache Bedeutung 232. Monade (Leibniz) 141f. 222. 247. Monadische Einheit des Bewusstseins (Husserl) 288. Monismus, naiver 2f.; vermeintlich kritischer 18. M. im Sinne der idealen Koinzidenz von Objektivierung und Subjektivierung 107. 111f. Aufhebung der Alternative M. oder Dualismus 112. Korrelativistischer M. 152. M. der Erfahrung (s. d.). Psychologischer M. u. Dualismus (s. d.). Münsterberg, H., 292ff. Grunddisposition der philosophischen Probleme 292f. Teleologie und Ateleologisches 293. Individuelles u. Überindividuelles 293f. Ablehnung der Rekonstruktion 294. Das Psychische als das Nichtidentifizierbare 294f. Verankerung im Physischen 295. Übereinstimmungen mit unserer Auffassung 296ff.; insbes. Verhältnis des Psychischen zu Raum u. Zeit 298f. Keine Messbarkeit des Psychi-
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schen 299f. Indirekte Beschreibung 300ff. Indirekte Erklärung, Ablehnung psychischer Kausalität 302f. Weitere Durchführung des Standpunkts 304f. Musik 161. 173. Mystizismus, Tendenz zum M. bei Bergson 305. 308. 329. Natur = Objektivität = Erfahrung 16. 19. 113. 159ff.; daher teilnehmend an der Bedingtheit der letzteren 116, abhängig vom Gesetz des Bewusstseins 204. Psychisches fälschlich zur zweiten Natur gemacht 16f. 20. 45. (dagegen Husserl 287f.). N. als Bewegung, Energie 256. Naturalisierung, Naturalismus der Psychologie 6ff. 14ff. 19. 273. N. der Ethik, Ästhetik, Religionsphilosophie 18. Erbteil des Intellektualismus 153. Naturgesetz 75. 93. Naturwissenschaft = Gesetzeserkenntnis 72, u. zw. zeitbestimmten Seins 93. Hat zum Problem alles Erscheinende, aber nicht das Bewusstsein selbst 42; vgl. 115. 303. N. wiefern mathematisch 181f.; genetisch 256f. N. nicht einzige Art der Objektivierung 188. NN. u. Kulturwissenschaften 22. 77. 93. Kollision der Psychologie mit der N. 97. 104. 105. Psychologie u. N. n. Wundt 264ff. 267f. Nervenprozess, Nervensystem 304. Funktion dess. n. Bergson 313ff. Neuplatoniker, Begriff des Bewusstseins bei den N.n 11 f. 21. Newton 15. 131. 164. Normwissenschaften (Münsterberg) 293. Notwendigkeit der Verursachung 178. Noumenon 226. Objekt (vgl. auch Gegenstand). O. der Psychologie (i. S. des Problems) 1, vgl. 25. – O. erstes Interesse der
Erkenntnis 2. 9. 23. O. u. Subjekt 22ff. O. Gegenseite der Subjektivität 25. Identität des O.s im Wechsel der Betrachtung (Beziehung) 55. Draußensein (Gegenüberstehen) des O.s wie zu verstehen 65ff. O. als Gegenwurf, vielmehr Vorwurf 66. 67. Wiefern präsent (Objizieren) 86. Relativierung des O.-begriffs 67f. O. = Selbiges 67. O.-setzung Identifikation 68; Bestimmung 80. O. das Rekognoszible (Kant) 100. Gemeinschaftlich für verschiedene Subjekte; ideale O.-darstellung im „Bewusstsein überhaupt“ 123. Nie erfüllte Intention 286. Umkehrung des Verhältnisses von O. u. Phänomen in der Psychologie 193; für sie das O. das früher Gegebene 194. – O. u. Subjekt zwei Bestandteile einer Erfahrung n. Wundt 265. Andererseits das O. transzendent 266. O. = Vorgefundenes, Gegenwurf zweckbestimmter Tätigkeit n. Münsterberg 292 f. Objektives. Kein O. u. Subjektives an sich 283. Ideale Koinzidenz des O. u. Subjektiven 308. 320. Objektivierung Vereinheitlichung 72. 195. Identifikation 68. 196. 289, aber nicht bloß dies 307f. Gesetzeserkenntnis 154. Einheit der objektivierenden Erkenntnis Kap. VII. O. des Psychischen notwendig Naturwissenschaft, auch n. Münsterberg 304. Verschiedene Richtungen der O. 188f. 198. 273; vgl. Dilthey 291. 293. O. unendliche Aufgabe 62. 227f. Stufengang, Prozess der O. 67ff. 71. 123ff. 231f. 283ff. 286. Plusrichtung des Erkenntnisweges 68, vgl. 86f. 107. 112. 133f. 200. 211. 310. O. u. Subjektivierung würden in ihrer Vollendung zusammenfallen 69. 199. Welche Aufgabe verbleibt der Psychologie? 60ff. O. als beständig sich erweiternde Subjektivität 67. Mittel für Erkenntnis der letz-
Register teren 70. Psychologie nicht O. 91ff. Fälschliche, oder uneigentliche O. der Subjektivität selbst 30. 282. Bisheriges Verfahren der Psychologie O. 103ff. Auch „Beschreibung“ schon O. 156. 190. 280, vgl. Münsterberg 294. Vielmehr Rekonstruktion auf Grund der O. 193f. Auch O. selbst Aufgabe für rekonstruktive Psychologie 198f. Unvollkommene OO. 67ff. 195f. 245. Aussage 98ff. Vorurteil, Meinung 101ff. Phantasie 197. Jedes „Bedeutete“ 282. O. Grundlage auch für Rekonstruktion der Erlebniseinheiten 244f. – O. als Transzendenz nach Lipps 276. 65f. (vgl. Wundt 266). „Inhalt“ schon O. 277f. Primäre u. sekundäre OO. nach Husserl 282. Das Psychische das Nichtobjektivierbare n. Münsterberg 295; Auflösung des Problems 302. Exteriorisierung des Innern n. Bergson 307. vgl. 311. Subjektivierung statt O. die Aufgabe 321. Objektivismus, naiver, der Psychologie 15. 101. Objektivität = Natur 8. Dreifache O. 19. Einheit der O. g. Vielheit der Subjekte 62. Nullgrad der O. nur ideale Grenze 68 vgl. 84f. O. u. Subjektivität zueinander reziprok 106ff. 110ff. O. an sich nur eine; reine O. u. Subjektivität würden sich decken 124f. Tendenz auf Einheit der O. auch in der nichtwissenschaftlichen Vorstellung 196. Einheit der O. primär g. die der Subjektivität 210. Schein des Aufgehens der O. in die Subjektivität u. umgekehrt 211f. O. u. Subjektivität sich ausschließend u. ergänzend? 215 (Einwand C). Antwort: nur im Idealfall würden beide koinzidieren, wirklich bleibt immer die Korrelation beider 226f. Nicht zweifache O. (g. Husserl) 281. Ontische g. genetische Ansicht (s. d.). Operationen des Geistes (Descartes, Locke, Kant) 150 Anm.
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Organisation. Begriff des Organischen entdeckt durch Aristoteles 4f. O. bei Bergson 306. Pädagogik, soziale 250. Parallelismus 140 f. Parmenides 135 f. Passivität. Keine P. des Bewusstseins 51. 56 f. Perzeption g. Apperzeption (= Präsentation g. Repräsentation) 53ff. P. nur Supposition, nicht selbständiges Datum 57. P. = Bewusstheit überhaupt (Leibniz) 175. 185. Berkeleys percipi 15. 19. 145. P. bei Bergson 313f.; nicht auf Erkenntnis, sondern auf Aktion gerichtet 314; unpersönlich ebenda; gleichsam ausdehnungsloser Punkt 318. Von Haus aus objektiv 319. Phänomen (vgl. Erscheinung). Das φαºνεσqαι selbst nicht Ph. 29. Ph. nicht Gattungsbegriff für Bewusstsein ebenda. Ph. u. Gesetz, Wechselbegründung 201. „Retten“ der Phänomene im Gesetz 73. 117. Ph.e des Bewusstseins u. des Objekts identisch 172. Umkehrung des Verhältnisses von Ph. u. Objekt in der Psychologie 193. Substanz u. Ph. n. Leibniz 141f. Ph. u. Noumenon 226. Reines Ph. n. Bergson 310. Phänomenalismus. Reiner Ph. angestrebt durch Hume 15. 145. Phänomenologie. Allgemeine Ph. des Bewusstseins erste Provinz der Psychologie 240ff. Ontische Seite derselben 262. – Ph. = deskriptive Psychologie 155ff.; insbes. n. Husserl 33 f. 241. 280 f. Phantasie 119. 197. 242. Philosophie u. Psychologie 1f. 7. 11. 21. 22. 23. 61. 288. (Husserl) vgl. 278f. (Lipps). Kritische, s. Erkenntniskritik. Transzendentalphilosophie 61f. – Ph. als Umkehr des sonstigen Denkverfahrens n. Bergson 324; Vergewaltigung des Intellekts 327.
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Gewöhnliche Ph. nur Umformung des Platonismus 325. Physik u. Physiologie 216. 304. Physiologie u. Psychologie 118ff. 216. 225f. 303f. Physiologische Psychologie 187f. 263. Kritik Diltheys 291. Dessen Unterschätzung der Ph. 304. Physisches u. Psychisches 7. 64f. 100. 112f. Das Ph. auch psychisch 114ff., das Psychische stets auch ph. zu beziehen. 116ff. Nicht starre Zweiheit 122ff. – Ph. u. Psychisches nur teilweise sich deckend n. Wundt 267. Dualistische Auffassung, dann einem Monismus sich nähernd bei Lipps 270ff. Ph. u. Ps. n. Münsterberg 295; n. Bergson 306. Plato. Grundlegung der Philosophie nach ihren wesentlichen Problemen 11. Einerseits Dualismus 3. 89. 138f.; andererseits Ansätze zum Monismus: Verständnis für die Entdeckung der Subjektivität durch Protagoras 10. 62. 63f. 88. (Korrelativismus) 136. Doch als eignes Problem nicht klar erreicht 10 f. Psyche gerade Ausdruck der Idee 9 Anm.; 89. Einheit der Psyche, Idee Grundlage auch zur Psychologie 136f. Idee u. Teilhabe 36. Sinnlichkeit u. Verstand 235. Sinnliches inexakt 181. χâρα vgl. Descartes’ extensio 140. Sein des Sollens 18f. 93. Zwei Phasen der Ideenlehre: Ruhe u. Bewegung der Ideen 76. 288f. 326f. Prozess der Entwicklung der Ideen Grundlage für Leben u. Seele 89f. Letzte Einheit des Subjektiven und Objektiven vorgeahnt 130. 137f. Erscheinung nicht absoluter Gegensatz gegen Sein, Sein nur jeweiliges Resultat des Werdens 138. Sein aus dem Unbegrenzten sich begrenzend 289. Schau der Ideen wandelt sich in den Prozess der Grundlegung 290. Ideen, Relationen, Gesetze 325. Tendenz zum korrelativen Monismus 139. Individualbewusstsein u. Kulturbe-
wusstsein 230. Weltseele u. Gottheit 19. 224. 329. Vergleichung mit Leibniz u. Kant 206 f. Plotin 325. Positives des Bewusstseins 57. Positivismus 176. Potenz des Bewusstseins u. dessen Aktualisierung 57f. 78. 82f. 84f. 223 f. 232. 235. 239f. 245. 247. 253. Präsentation s. Repräsentation. Problem (Vorwurf) 66 f. Protagoras. Entdeckung der Subjektivität 9ff. 62ff. 76. 88. 143. 194. Korrelativismus 136 ff. Prozess. Unendlicher P. der Erkenntnis u. dessen Doppelrichtung 68. 71. 77. 111f. 133f. 211f. 283. 285. 288f. 309. „Ausdehnungsloser P.“ (Bergson) 306. Prozession 246. Psyche. Logos der P. (s. Logos). P. = Bewusstsein 8. 21. 89. Psychisches. Frage nach dem Begriff des P. 1. 8. In letzter Instanz keiner Absonderung fähig 3. Irrige Vorstellung des P. als zweiter Objektwelt 16, zweiter Natur 17. 20 (dagegen Husserl 287). Angebliche Unräumlichkeit des P. als des innerlich Wahrgenommenen 167ff. (vgl. Lipps 272f.) Vermeinte Unabhängigkeit vom Kausalzusammenhang der Natur 174ff.; Unableitbarkeit aus dem physischen Zusammenhang n. Leibniz 175. Rekonstruktion des P. Kap. VIII pass. (vgl. Subjektivität, Subjektivierung). Untere u. obere Grenze 233. 239 f. 247. – Nicht Erfahrung, sondern Erlebnis n. Husserl 288. Objektiv (i. S. des Vorgefundenen) n. Münsterberg 293; das nur einem Subjekt Vorfindbare (vgl. Schuppe) 295; das Nichtidentifizierbare 295 vgl. 302. Bewusstsein u. Bewusstseinsinhalt 298. Ohne Zeit- u. Raumbezug 298. Unmessbar 299. Nur beschreiblieh auf dem Umweg über das Physische 301.
Register Erklärung des P. nur durch Naturwissenschaft möglich 303. Das rein P. nicht zeitlich aufeinanderfolgend, sondern zeitlos dauernd n. Bergson 306; „ausdehnungsloser Prozess“; kontinuierlicher Zusammenhang (solidarité); unbestimmte Heterogeneität; nicht identifizierbar (vgl. 311), daher unausdrückbar 306; ohne Erhaltung 308. Psychologie. Name 4 (vgl. Logos der Psyche). Frage nach Objekt u. Methode 1. I. Objekt der P. – Bewusstsein, Urbegriff der P. 19. 22ff. Bewusstheit nicht Problem der P., sondern nur der Inhalt (Bestand) des Bewusstseins 33. 40. 60. Gefahr der Logisierung 60f. Wahre Aufgabe: Wiederherstellung der Totalität des Erlebens, nicht auf dem Wege der Objektivierung, aber auf Grund derselben, durch eine Umkehrung des Verfahrens 78ff. Also nicht Rückgängigmachung der Objektivierung, sofern sie Bestimmung ist, sondern Überbietung derselben, sofern sie nur abstrakte Bestimmung ist 80f. II. Methode. – Frage der Methode 91ff. P. nicht Objektivierung (V) 91ff. Bisherige P. zwar Näherung zur Erkenntnis der reinen Subjektivität 95ff., aber wirklich objektivistisch, naturalistisch 4ff. 14ff. 63. 97f. 102f. 225f. 257ff. Grund des Fehlgehens: wirklich strenge Korrelation des Psychischen u. Physischen 105ff.; das Psychische daher stets physisch zu repräsentieren 116ff. Aber eben auf Grund dieser Korrelation die Aufgabe der P., als „Subjektivierung“, der Objektivierung entgegengesetzt 152ff. Gesetzeserkenntnis des Psychischen nur in objektivierender Richtung möglich (VII) 154ff. Naturwissenschaftliche P. insofern im Recht 187ff. Auch „Beschreibung“ schon Objektivierung 155ff. 189ff.
327 Demgegenüber eigene Aufgabe der Rekonstruktion des. Subjektiven (VIII) 192ff. Genauerer Sinn 195ff. Ausdehnung der Aufgabe 197ff. bes. auf die Objektivierung selbst 198f. P. nicht im objektiven, wohl aber im subjektiven Sinne begründend für Logik, Ethik, Ästhetik, Religionsphilosophie 199f. P. abstrakt oder konkret? 215. Allgemeine P. abstrakt, aber hat nur die Bedeutung des psychologischen Organon 219. Psychologische Kategorienlehre 223. 232. 240 f. 242 f. Grenzkategorien 240. 247. Wesentliche Aufgabe vielmehr Konkretisierung 220ff. Nicht aber bloß individuelles Bewusstsein, sondern auch Gemeinbewusstsein bis hinauf zum Allbewusstsein 224f. III. Disposition der P. (X) 229ff. Untere u. obere Grenze 232ff. 239ff. 246ff. Bewusstseinsstufen und Bewusstseinsrichtungen 234ff. Darstellung des Bewusstseinsbestandes, seiner Art nach, (allg. Phänomenologie des Bewusstseins) erste Provinz der P. 240ff.; bis hinauf zur P. der Logik, Ethik, Ästhetik, Religionsphilosophie (Transzendentalpsychologie) 241. Stufenfolge der Erlebniseinheiten zweite Provinz 243ff. Ontische und genetische Seite der P. 248, o. Darstellung der Erweiterung und Differenzierung des Bewusstseins nach Inhalt u. Umfang 254. Soziale (Völker-) P., differentielle P. 249 vgl. 221. Ob psychologische (gegenüber transzendentaler) Methode zeitlich? 251f. Zeitliche Disposition sekundäres Problem 253 ff. IV. Sonstige Theorien (XI. XII.) Wundt: Physiologische P. u. psychologische Physiologie 263. P. u. Naturwissenschaft 264. Objekt verschieden, Methode dieselbe 267. Konstruktives Vorgehen, psychische Kausalität 268f. – Lipps: Seine P.
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Register
ebenfalls konstruktiv 271f., obgleich nicht Physiologie 272. Andererseits (der Absicht nach) „Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung“ 274. Als solche nicht P. des individuellen, sondern des überindividuellen Bewusstseins 278. Reine u. empirische P. 279. – Husserl: Phänomenologie = Deskription 280ff. Doch (der Absicht nach) radikal verschieden von Objektivierung 287f.; daher Deskription nachträglich preisgegeben 288. P. wird Wesens- nicht Daseinslehre, d. h. (wie bei. Lipps) reine Philosophie. – Diltheys beschreibende u. zergliedernde P. 291f. – Münsterberg: P. Lehre vom Bewusstseinsinhalt 298. Indirekte Beschreibung u. Erklärung 300. 302; radikal verschieden von Naturwissenschaft 303f. – Bergson: P. notwendig analytisch 322; aber Philosophie (Metaphysik) des Bewusstseins „integral“ auf Grund der Intuition 326. Psychologismus 18. 33. 94. 280. Psychophysik. Irrtum der Messung der Empfindungen 299f. 305f. (Vgl. auch Schwellengesetz.) Psychophysischer Zusammenhang (Münsterberg) 295. Ptolemäus 115. Pyrrhoneer 11. Pythagoreer 143.
Q.-sbestimmung 180ff. (vgl. Messbarkeit). Keine Q. des Psychischen n. Münsterberg 299; n. Bergson 305f. Q. nur Grenzfall der Qualität 318. 324.
Rationalismus. Grundfehler des R. n. Bergson 322 f. Raum. R.- u. Zeitbeziehung voneinander untrennbar 149. 160ff. 253f. 273. Nicht als Außen- und Innenbeziehung (physisch u. psychisch) zu unterscheiden 149. Subjektiver u. objektiver R. 163; absoluter 164f. Gemeinsamkeit der Zeit-R.Welt 165ff. Empirische R.-messung 182f. R.-beziehung nicht auf die Bewusstheit bezüglich 31. 168f. Art der Inhaltsverbindung 49f. Räumliche u. r.-freie Verbindung 58. Vermeinte Unräumlichkeit des Psychischen 167 ff. R.-Wahrnehmung jedenfalls auf den objektiven R. bezogen 168f. Auch das Subjekt der R.-Wahrnehmung im R. 170f. Alles Sinnliche auf den R. bezogen 172ff. Indirekte R.-Beziehung auch des Nichtsinnlichen 173f. Subjektivität der Sinnesqualitäten nicht Beweis für Unräumlichkeit des Psychischen 186. R.-beziehung auch des Strebens 237. – Lipps: das Psychische aller R.-beziehung entzogen 272f. Münsterberg: R.-Beziehung alles Psychischen 298. Zeit u. R. gleich Qualität, logische 74. 184. Keine verzu behandeln 299. Bergson: Vereischiedene Q. der Bewusstheit 48. nigung von Zeit u. R. 306. 316. 318f. Verhalten hinsichtlich der MessRäumlichkeit d. Vorstellung 314. R. barkeit 182ff. Q.-sbestimmung auf existiert nur im Zeitdurchschnitt 316. Quantität angewiesen 184. SinnliR. Substrat der Wirksamkeit ebd. che QQ. wiefern subjektiv 67. 80. Reales in unmittelbarer Intuition zu 95 f. 100. 116 f. 181f. 186. Sinnliche Q. erfassen n. Bergson 318. nicht Eröffnung einer psychischen Reflexion. Bewusstsein als Reflexakt Eigenwelt 185f. – Keine Q. des Psy(Neuplat.) 12. Lockes Reflection 146. chischen als solchen n. Münsterberg Aufgabe, die Totalität des Erlebten 300. Quantität u. Q. n. Bergson 318. in der R. wiederherzustellen 20. 324. Okkulte QQ. 17. 178. Gleichsam Spiegelung 31. 191. Quantität, logisch 74. Empirische R. notwendig analytisch 59 (vgl.
Register 38); wirkt als solche analysierend, ermöglicht aber eben dadurch die Synthese 191f. R. die eigentümliche Erkenntnisart der Psychologie (= Rekonstruktion) 83. 218. 281. – R. nach Husserl 288 f. Rehmke 263. Reines, d. i. Gesetzmäßiges 242. R. u. empirisches Bewusstsein n. Lipps 278f. vgl. Husserl 288. Rekognition (Kant) 252f. Objekt das Rekognoszible 100. Rekonstruktion 83. 124; bes. (VIII) 189ff. 192f. 195. 231f. 279. Umwendung der Fragestellung auch 86. Nicht Beschreibung 281. 286. Rückgang auf Grund logischer Beziehung, nicht „auf der Tat Betreffen“ 319. Methode, nicht Metaphysik 320. 321. 327. 328. Einwand: Konstruktion u. R. sei eins 214. Antwort 218f. R. nicht bloß aufs Augenblickserlebnis bezüglich 252. – Vgl. Diltheys Nachkonstruieren 291. Münsterbergs Kritik 294. Seine „indirekte Beschreibung“ R.? 302. Bergsons Näherung zum Verfahren der R. 307f. Unterschied 319f. Réconstituer 320. 322. Relation vor den Relata 75. RR. von RR. 35. 39. Relation without Relative (Hume) 145. R. als Repräsentation (Lipps) 275. Relativitätsprinzip 165. Religion 329. Religiöses Bewusstsein 127. Religionsphilosophie 18. 93ff. 198. 200f. 248. Repräsentation u. Präsentation 53ff. bes. 56. 173f. 228. Relativierung des Gegensatzes 85ff. 110f. 153. R. = Denken 120, selbst nicht erscheinend 121. Erklärt Unendlichkeitsbewusstsein 59. R. der Zeit durch den Raum 161. 167. 174. Raumbezug der R. selbst 173f. Repräsentatives Ich 171 vgl. 30f. – Berkeley-Humes R.stheorie des Begriffs 282. R. bei Lipps 275f.; Husserl 286f. 290.
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Reproduktion (Kant) 252. R. nicht Wiederkehr „derselben“ Vorstellungen 257. Reproduktive Vorstellungen nicht wesentlich von Wahrnehmung verschieden 119. Resultat g. Methode 285. Rezeptivität (Kant) 54. Richtung. Doppelrichtung des Erkenntnisweges, s. Prozess. Beziehung als Richtung 238; R. auf Bestimmung 261. R.seinheit im Sollen 312. Rousseau 246. Schein ein Ausdruck der Subjektivität 9. 88. 102. 178. Schopenhauer 107. Schuppe, W. 148. 295. Schwellengesetz 100. 180 f. 183. 186. 231. 277. Seele (Aristoteles) 4f. (Plato) 9 Anm. 76. 89f. 136ff. 327. (Lipps) 272. 275. (Bergson) 325. Sein g. Erscheinung, Schein, S. an sich u. für uns 8f. 88ff. 93. Relativierung des Gegensatzes 90. „Werden zum Sein“ 138. S. u. Bewusstsein 226. Esse = percipi (Berkeley) 15. 19. 145. S. u. Sollen, S. des Sollens s. Sollen. Überzeitliches S. 188. Ursein als ideale Begriffsgrenze 240. Begriffsgrund u. S.sgrund 32. Reine S.slehre 247. Selbstbeobachtung 191. Selbstbewusstsein 30. 239. Schein des Subjektivismus 207 f. 213. Sensualismus. Psychologie des S. 15. 19. 143ff. 278. Sensualistische Begriffstheorie 282. Siebeck 11 Anm. Sinn, äußerer u. innerer 70. 176. 264. (S. auch Locke, Kant). Sinneseindruck u. Nervenprozess n. Bergson 313. Sinneswahrnehmung s. Wahrnehmung. Sinnliches = Positives, Präsentes 57. 120. 174. Raumbezug alles S-n 172f. S. u. Exaktes 180 f. Sinnlichkeit u. Denken 120 ff. 234ff.
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Skeptiker 11. 109. Sokrates 3. 18. 38. Solipsismus 247. Sollen g. Sein 17f. 61. 93. 112. 125ff. 188. 229. 236ff. 312. Sein des S.s. 18f. 93. Sonderbewusstsein, Sonder-Ich 52. 63. 133. (Vgl. Ich.) Sonderung u. Vereinigung 51. 59. 235. 246f. (vgl. Diskretion). Spinoza 14. 140ff. 222. Spontaneität (Kant) 54 f. 208. Sprache als unvollkommene Objektivierung 96. 99. 196. Auf Gemeinbewusstsein beruhend 246. Statische g. dynamische Auffassung des Bewusstseins, s. Dynamisch. Stellungnahme (Münsterberg) 292. 295. Streben Inhalt, nicht Verhalten des Ich 50ff. Kontinuität, Richtung, überzeitlich 261f. Beziehung, Tendenz 54. S.smomente mit Empfindung u. Vorstellung kompliziert 48. 49. 52. 126. 237f. Stufen des S. 238f. Als sinnliches nicht ohne Beziehung zu objektiven (Nerven-)Vorgängen 117f. 120; nicht ohne Raumbezug 173. Objektivierung des S. im Praktischen 301f. – Zeit- und Raumbezug des S.s nach Münsterberg (Richtungsgefühl) 298. Indirekte Zurückbeziehung aufs Physische 301. Stufen. Keine S. der Bewusstheit 48. S. des Bewusstseins 230f. 234ff. S. der Subjektivierung u. Objektivierung einander entsprechend 231 ff. 283ff. Stumpf 300. Subjekt Maß für das Objekt n. Protagoras 9. S. = Ich 26. Nicht unterschiedliches Verhalten des S.s zum Inhalt 42ff., bes. in Gefühl u. Streben 50. Verschiedene SS. nicht gegeben 62ff. 122ff., sondern erst zu rekonstruieren als Erlebniszusammenhang 244f. Vgl. Ich. Subjektives = Psychisches 8, das Erscheinen überhaupt 106. Rela-
tivierung der Begriffe des S.-n u. Objektiven 67ff. 122. 125. 283ff. Kein S. u. Objektives an sich 283. Rückfrage nach dem S-n von der erreichten Objektivierung aus 69. Logische Beziehung des S-n u. Objektiven 319. Fälschliche Behandlung des S-n nach den Denkschematen des Objektiven 16. Das S. nicht das Unbestimmte vor aller Bestimmung 80. 82. 87. 217. Das S., sofern erscheinend, stets schon ein Objektives irgendwelcher Stufe 96f. 102f. Das S. als das Unmittelbare, zu Objektivierende Problem der Psychologie 84f. Nicht unmittelbar erkennbar 191. Das rein S-e nicht wirklich darstellbar 87. 103. Ideale Koinzidenz des letzten S-n u. Objektiven 199f. 308. 320. – Vorstellung das S-e n. Bergson 315. Subjektivierung (s. auch Objektivierung). S. nicht bloß fernere Stufe oder neue Dimension der Objektivierung 216. 225. Genetische Betrachtung der S. näherliegend 250. – S. nach Münsterberg 293. S. bei Bergson (n. Delbos) 319. Subjektivismus, Schein des S. 202 ff. Subjektivität (vgl. Objektivität). Erste Entdeckung der S. 2f. 8ff. 194. Letztes Problem 10f. 22f. Scheinbares Verschwinden der S. in die Objektivität 62ff. Umgekehrt Objektivität als beständig sich erweiternde S. 67; keine absolute S. oder Objektivität 68. S. als Negativ der Objektivität 9. 69. Andererseits als das Konkrete gerade bedingt durch die Objektivierung; ideale Koinzidenz 85. 107. Korrelation (Reziprozität) von S. u. Objektivität 106ff. 110. 126. 210ff. 226f. Einwand, dass beide sich ergänzen, also sich ausschließen mussten 215; Antwort 220ff. Falsche Verobjektivierungen der S. 257. S. zweite Objektivität nach Husserl 281.
Register Substanz- Frage 13ff. 140 ff. S. u. Phänomene (Leibniz) 141. Substantialität u. Aktualität (Lipps) 279. Keine Substantialität im reinen Bewusstsein n. Bergson 309. Synthese u. Analyse 59f. 320. (Wundt) 268f. S. des Mannigfaltigen nicht Funktion des psychologischen Subjekts n. Münsterberg 296. Falsche Annahme einer nachträglichen S. n. Bergson 317. Systemeinheit als Idee, Leitbegriff für die Konkretisierung 216 f.
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Transzendieren. Sich-selbst-T. des Bewusstseins n. Lipps 65 f. 276. Traum 49. 119. 158. 245. Trendelenburg 55.
Überbewusstes als Grenzkategorie 240. Unausdrückbarkeit des letzten Psychischen n. Bergson 306. 321. Unbestimmtes u. dessen Bestimmung 80 ff. (vgl. Bestimmung). Unbewusstes, bestritten von Münsterberg 297f. Vorstellung an sich unbewusst n. Bergson 815. Unendlichkeit. U.sBewusstsein erklärt Tätigkeit. Bewusstsein als T. 41ff. 255. durch Repräsentation 59. UnendHaltbarer Sinn 46. Ursprung im Tenlichkeit des Erkenntnisprozesses 68. denzbewusstsein 51. T. als Beziehung 111f. 133f. 284f. 326. Unendlichfer56. Scheidung vom Inhalt hinfällig ner Gegenstand 133. 286. Vorurteil 57. Handlungen des Gemüts, Selbstg. das Unendliche (Aristoteles u. tätigkeit, Tathandlung 208f. Vgl. Pythagoreer) 143. 326. Akt, Aktivität. Unmittelbares. Psychisches als U. (PräTatsache nicht Gattungsbegriff für sentes) 78f. 83. 84. 92. 97. Nicht auch Bewusstheit 29. 32. T. u. Gesetz unmittelbar bekannt, sondern für 155ff. 189f. T.nurteil in jedem Fall die Psychologie erst Problem 84. objektiv gerichtet 157ff.; bedingt 191f. Das letzte U. unendlichfern durch Zeit- u. Raumbestimmung 199. Einwand, das letzte U. als das 159ff. Nicht zwei Reihen von TT. Ursprüngliche würde psychologi211. Tatsächlichkeit nicht der Frageschen Idealismus bedeuten 214. punkt im Problem der Freiheit 312. Antwort 217f. – Psychische KauT. spezielle Anpassung an Interesse salität nicht unmittelbar (g. Lipps) nach Bergson 317. 271. Näherung zum Standpunkt der Technik. Begriffe der T. unvollkomunmittelbaren Erfahrung bei Lipps mene Objektivierungen 196. 273. 278f.; Husserl 288; Dilthey 291; Tendenz (vgl. Strebung) 50 f. 54. Münsterberg 293. Bergsons unm. Ton u. Hören 42ff. 48f. T.-empfindung Gegebenheiten 305ff. Doch das U. wiefern subjektiv 80. 99f. 116f. eben nicht auch unm. bekannt 320. T.-empfindung u. -vorstellung 119. 328. T.-empfindung nur bestimmbar im Unterbewusstes als Grenzkategorie 240. Kontinuum 123; vom Reiz aus 100. Urerlebnis 39. 50. 78. 289f. vgl. 293. Ursache. Psychische UU. 42. Vgl. 231. Inexaktheit (Schwellengesetz) Kausalität 181. 183f. 231. T. nicht „Wesen“, Ursprung 290. wenn nicht identifiziert (g. Husserl) 289. Urteil u. Vorurteil 101. U.sinhalt Transsubjektiv. T.er Gegenstand 25. (Bedeutetes) n. Husserl stets objek187. tiv 282. Transzendentalphilosophie 61 f. 251. Variables u. Invariables im Bewusstsein Transzendentalpsychologie 241. 82. Vgl. Plato 76. Unendliche VariaTranszendentes. Wiefern kein T. 284.
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bilität des wirklichen n. Bergson 323. Nicht auf Invariables zurückzuführen 325. Verbindung im Bewusstsein 49. 51f. 57ff. 81. 120. 199. Vorstellung als Potenz der V. 235. Analyse u. VV. nach Wundt 268. Analyse nur Mittel der Erkenntnis der VV. n. Dilthey 291. Vergangenheit. Existenz der V. n. Bergson 316. Verhalten des Ich zum Inhalt u. umgekehrt 43. 57. 211. (Vgl. Tätigkeit.) Verstand (Intellektualismus) 17. V. u. Erfahrung (Demokrit) 187. Verstehen g. Erklären (Dilthey) 291; g. Beschreiben (Münsterberg) 294. V. n. Bergson statisch 307; platonisiert 326. Ohnmacht des V.es 317f. Muss der V. alles zerstücken? 320. Umkehr des V.es 324, Vergewaltigung 327. Völkerpsychologie 221. 248. Volder, de, 142 Anm. Volkelt 41 Anm. Vorfinden. Vorfindendes Ich u. Vorgefundenes (= Objekt) n. Münsterberg 293. 296. Vorgänge des Bewusstseins 259ff. (Lipps) 104. 272. (Münsterberg) 298. Vgl. Bergson 306. Vorstellung u. Gegenstand 28f. Korrelatbegriff zu Erscheinung 211. Doppelte Beziehung an der V. 114. Unterschied: Präsentation o. Repräsentation 53; Vorstellung als A o. als X 56. V Potenz der Verbindung 235. Erlebniszusammenhang 244. V. u. Ich 245. Empfindung. V., Begriff, Idee Konkretionsstufen 223. Wahrnehmung u. (reproduktive) V. 119. 172f. 197. Nichtwissenschaftliche Objektsvorstellung 196. V., Gefühl, Streben 50f. 126. 173, bes. 236 ff. V. u. V.sstreben (Sach-V. u. BestrebungsV.) 239. V. Actum, Streben Actio 262. Herbarts VV. 258; Strebungen ders. 261. V. objektiv zu beziehen
(Gefühl u. Streben nicht) n. Wundt 266. Münsterberg g. unbewusste V.sdispositionen 297. Verhältnis zu Zeit u. Raum 298f. Assoziation, Akttheorie 304. Angebliche Produktion der VV. im Gehirn (Bergson) 313f. Angebliche Unräumlichkeit ders. 314. V. u. Wahrnehmung 314f. V. an sich unbewusst 315. Waches Bewusstsein g. träumendes 49. Wahres = Sein (Protagoras) 9. Wahrheit u. Schein W. u. Wsbewusstsein 202. Wahrnehmung, zweiseitiger Bezug 114. 118ff. W., sofern sie Wirklichkeit einschließt, nicht gegeben 158f. Raumbezug der W. 168f. Auch der Wahrnehmende im Raum, also zur Natur gehörig 170f. Unbewusste W.s-dispositionen? (Münsterberg) 297. Nicht Entstehung, sondern Begrenzung der W. erklärungsbedürftig (Bergson) 314. W. u. Vorstellung nach dems. 314f. W. Vollerlebnis des Wirklichen, bezüglich auf Aktion ebda. VorstellungsMomente das Subjektive in der W. 315. Welt, verschiedene WW. des Bewusstseins 20. 125. Weltbewusstsein 279. Weltformel 224. Weltseele (Plato) 19. 224. 329. Werden = Kontinuität 39. W. u. Sein, Sein des W.s (Plato) 76. 138. Wesen. Reine Psychologie W.s-, nicht Daseinslehre n. Husserl 288ff. Wille (Vgl. Streben). Frage der Willensfreiheit (Bergson) 312. „Wir“, Ausdruck der Subjektivität (Protagoras, Plato); „Sein für uns“ 9. 89. Wirken s. Aktion. Wirklichkeit. W.surteil 158f. W. erklärt als Aktualität (Bergson) 315. Das Wirkliche das unendlich Variable
Register 323. W. u. Erlebnis eins nur im Unendlichfernen 329. Wissenschaft stets objektivierend 92. 103. 195. Gesetzes-WW. u. konkrete Objekt-WW. 94 vgl. 97. 189. W. = Verstand (Objektivierung) n. Bergson 307. W. u. Bewusstsein 307. 310. 313. Einklang beider 318. W. totale Erfahrung 321. Falsche W. nur Universalmathematik 325. W. u. Metaphysik vereinigen sich in der Intuition 325f. Wundt 262ff. Einheit der Erfahrung 263f., dennoch Verschiedenheit des Objekts von Psychologie n. Naturwissenschaft 264ff. Dagegen Einerleiheit des Verfahrens 267f. Psychische Kausalität 268f. Vorstellung allein aufs Objekt zu beziehen 266; Gefühl u. Streben aufs Ich 51. Beziehung zu Lipps 265. 270f. 279. Diltheys Kritik 291. Münsterbergs Kritik (Wachstum der Energie) 304. (Apperzeptionstheorie) ebda. X und A (Repräsentation und Präsentation) 54. 56. 58. 66. 86f. 110f. 182. 185. 214. 217. 284ff. Xenophanes 88. Zeit. Zeitliche Verbindung 49f. Zeitliche u. zeitlose 58. 228. Insbes. Streben über Z. hinausgehend als Richtung 261. Z -Bewusstsein schließt Repräsentation ein 54, vgl. 174; fordert Erhebung über die Z. 121. 188. 253. 255. Also nicht Bewusstsein in der Z. 58. 251ff., sondern Z. im Bewusstsein 252. Zeitliche Disposition der Erlebnisse sekundäres Problem 253; mitbedingt durch den Raum 254. Erlebnis d. Z.-ordnung erscheint als Z.-ordnung der Erlebnisse 255. Also Bewusstsein an sich nicht Vorgang in der Z. 259, sondern das Kontinuum der Z. liegt zugrunde 259ff. Z.- u. Raumordnung voneinander untrennbar 148ff. (Kant);
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im Subjektiven wie im Objektiven 149. Z.- u. Raumbeziehung auch des Strebens 237. Z-beziehung bedingend für Tatsachenurteil, selbst bedingt durch den Raum 159ff. vgl. 167f. 174. Subjektive u. objektive Z.-bestimmung 161ff. Insbes. Einzigkeit der Z, bedingt durch Einheit des (zugleich räumlich zu konstruierenden) Kausalzusammenhangs 113. Absolute Z.-bestimmung Ideal 164. Gemeinsamkeit der Z.Raum-Welt 165ff. Meinung vom unräumlich-unzeitlichen Ich 168f. Überzeitliches Bewusstsein 188f. 216. 228f. – Z.- u. Raumbeziehung n. Lipps 273. Zweierlei Z. n. Husserl 288; ursprünglich Z. im Bewusstsein, nicht Bewusstsein in der Z. 288. Ebenso Münsterberg 297. Andererseits zeit-räumlicher Bezug der Vorstellungen wie der „Selbststellungen“ (durch „Richtungsgefühl“) 298. Z.-messung aber letzten Grundes nur aufs Physische zu beziehen 299. Z. u. „Dauer“ n. Bergson 306. Fälschliche Übertragung der zeitlichen Aufeinanderfolge aufs Psychische 306. Seine Erklärung des Verhältnisses von Raum u. Z. 316f. Schließliche Wiedervereinigung beider 318. Zeno der Eleat 253. Zentrum u. Peripherie als Gleichnis für Ich u. Inhalt 37. 71. Ziehen, Th. 148. Zusammenhang u. Einzelnes n. Dilthey 291. – Psychophysischer Z. nach Münsterberg 295. Ursprünglicher Z. (solidarité) des Psychischen n. Bergson 306. Vgl. Erlebniszusammenhang. Zweck. Reich der ZZ. (Kant) 131. Z. regulatives Prinzip 207. Selbstgesetzgebung der ZZ. 312. Zweifel. Ausgang der Entdeckung der Subjektivität (Augustin u. Descartes) 12 f. vgl. 69.
Informationen Zum Buch Paul Natorp (1854–1924) war einer der angesehensten Philosophen der Jahrhundertwende. Seine ›Allgemeine Psychologie‹ gehört zu den wichtigsten wissenschaftlichen Werken des frühen 20. Jahrhunderts. Mit dieser Arbeit gelang es Natorp, eine Psychologie nach kritischer Methode zu begründen und gleichzeitig den Weg für die Phänomenologie zu bereiten.