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German Pages [243] Year 2011
Françoise Hauser
Alles Mythos! 20 populäre Irrtümer über China
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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© 2011 Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Ulrike Burgi, Köln Satz und Gestaltung: Satz & mehr, R. Günl, Besigheim Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm ISBN 978-3-8062-2390-3 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-2556-3 eBook (EPUB): ISBN 978-3-8062-2557-0 Besuchen Sie uns im Internet: www.theiss.de
Inhalt MYTHOS 1:
Alle Chinesen essen Hunde und Katzen . . . . . . .
MYTHOS 2:
Alle Chinesen essen täglich Reis . . . . . . . . . . . . . 17
MYTHOS 3:
Chinesen sehen alle gleich aus . . . . . . . . . . . . . . 27
MYTHOS 4:
Die chinesische Mauer kann man sogar vom Mond aus sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
MYTHOS 5:
China existiert seit 5 000 Jahren . . . . . . . . . . . . 51
MYTHOS 6:
Die einzige Wiege der chinesischen Kultur steht am Gelben Fluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
MYTHOS 7:
China war bis zum Ende des Opiumkrieges 1842 völlig abgeschottet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
MYTHOS 8:
Marco Polo war in China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
MYTHOS 9:
Der Lange Marsch war ein glorreicher Militärstreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
M Y T H O S 10 :
Die Kommunistische Partei regiert China . . . . . 109
M Y T H O S 11 :
China ist ein armes, sozialistisches Land . . . . . . 123
M Y T H O S 12 :
Alle Chinesen träumen von der westlichen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
M Y T H O S 13 :
Chinesen dürfen nur ein Kind haben . . . . . . . . . 149
M Y T H O S 14 :
Chinesen dürfen das Land nicht verlassen. . . . . 159
M Y T H O S 15 :
Die Chinesen schreiben mit Bildern . . . . . . . . . . 169
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I N H A LT
M Y T H O S 16 :
China kann nur kopieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
M Y T H O S 17 :
Alle Chinesen sind entweder Buddhisten oder Daoisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
M Y T H O S 18 :
Der Konfuzianismus ist eine Religion. . . . . . . . . 205
M Y T H O S 19 :
Die Traditionelle Chinesische Medizin ist sanfter als westliche Medizin . . . . . . . . . . . . . 213
MY THOS 20:
Chongqing ist die größte Stadt der Welt – und andere Superlative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
Vorwort Zum Schicksal einer Sinologin gehört es, jeden Geburtstag von phantasievollen Menschen ein Paar Stäbchen geschenkt zu bekommen. Oder einen Band der „Gesammelten Weisheiten des Konfuzius“. Ein weiterer lebenslanger Begleiter sind die zahllosen Fragen über China, die jeden Sinologen von Herzen erfreuen – wer redet nicht gerne über sein Spezialgebiet? – aber oft nur verteufelt schwer zu beantworten sind. „Essen die Chinesen Hunde?“ heißt es dann zwischen Häppchen und Prosecco auf einer Party oder beim Gespräch mit einer Zufallsbekanntschaft im Schwimmbad. Ja, Nein. Naja, manche Chinesen. Von welchen der 1,3 Milliarden sprechen wir? Auch die Fragen, ob man in China mit Bildern schreibt, alle Chinesen Einzelkinder sind oder China die längste Geschichte der Welt hat, lassen sich nicht einfach aus dem Stegreif beantworten. Es sei denn, man holt weit aus, erläutert die Feinheiten – und schaut verdutzt zu, wie der Gesprächspartner einen glasigen Blick bekommt. Oft zielen die Fragen so weit an der chinesischen Realität vorbei, dass es mehr als einmal tief Luftholen braucht, um sie zu beantworten: Ist China eigentlich noch ein Entwicklungsland? Ist die chinesische Medizin eine Art Homöopathie? Und sehen die Chinesen nicht wirklich, mal ehrlich, alle gleich aus? Die westliche Welt ist voller Mythen und Halbwahrheiten, Verklärungen und Verteufelungen über China, von denen manche schon so lange durch die Medien gereicht werden, dass einfach niemand mehr einen Gedanken daran verschwendet, sie zu überprüfen. Auch China macht es dem ausländischen Betrachter nicht gerade einfach, seine Kultur, Politik und Geschichte in einigen
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VORWORT
wenigen Sätzen zusammenzufassen – so groß und vielseitig ist das Land, so schnelllebig und gleichzeitig unglaublich traditionsbewusst, manchmal unlogisch aus westlicher Sicht und doch absolut schlüssig aus östlichem Blickwinkel. Kurzum, China ist intellektuell und emotional nur schwer zu fassen. An einigen der hartnäckigsten Mythen über das Reich der Mitte möchte ich dennoch rütteln, genau deshalb habe ich dieses Buch geschrieben. Heilbronn, im September 2011
MYTHOS 1:
Alle Chinesen essen Hunde und Katzen Wo ist der Hund versteckt? Sind es die kleinen Spießchen in der Vorspeisenrunde oder das dunkle Fleisch beim zweiten Gang? Ist die Textur nicht ein ganz klein bisschen anders, als man es vom Rind erwarten würde? Keine noch so leckere Küchen-Kreation fasziniert den westlichen Besucher so sehr wie das berühmt-berüchtigte Hundefleisch. Verwerflich ist es, den besten Freund des Menschen auf dem Teller zu servieren, ja fast schon verschlagen! Und so kursieren Geschichten von Reisenden – meist die Kusine des Freundes eines Freundes oder Ähnliches – die den mitgebrachten Schoßhund ahnungslos (und lebendig) mit ins Restaurant nahmen, nur um ihm als Nächstes in süß-saurer Soße wieder zu begegnen. Auch wenn diese Geschichten eindeutig ins Reich der modernen Fabeln gehören – wer nimmt schon seinen Hund mit auf eine ChinaReise? – ein wenig furchterregend sind sie schon. Denn es bleibt der nagende Gedanke: Was, wenn es stimmt? Sicher ist: Der Tourist freut sich, wenn ihm der Schnappschuss eines schlachtreifen Hundes am Markt gelingt. Zum Schaudern, zu Hause. Das ist der Beweis, sie tun es wirklich! Auch Katzen, Gürteltiere, Ratten und zahllose andere Braten in spe sind beliebte Fotomotive. Wer sie sucht, muss allerdings nach Südchina fahren, oder genauer gesagt, in die Provinz Kanton (Guangdong). Denn vor allem dort greifen die Köche zu all den spektakulären Zutaten. Der Rest des Landes schüttelt derweil den Kopf. So wie
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MYTHOS 1
sich die Deutschen Nase rümpfend abwenden, wenn der Franzose sich einen leckeren Kuheuter brät oder Froschschenkel goutiert, so finden es auch viele Nordchinesen, gelinde gesagt, zweifelhaft, was in Kanton alles auf den Teller wandert. Doch warum tun die Kantonesen das? Die Antwort ist simpel: Weil sie können! Der chinesische Religionenmix aus Buddhismus, Daoismus und Ahnenverehrung kennt keine unüberwindbaren Nahrungsmitteltabus. Auch der Einwand, Buddhisten seien doch naturgemäß eher der vegetarischen Nahrung zugetan, ist in China dank einer buchstabengetreuen Auslegung schnell abgewiesen: Buddhisten dürfen keine Tiere töten – das lässt man andere erledigen – essen darf man sie wohl. Über den religiösen Wahrheitsgehalt ließe sich vielleicht streiten, praktisch ist diese Auslegung, wie man sie auch in der Mongolei und anderen buddhistischen Ländern mit fleischlastigem Speisezettel findet, aber allemal. Eine große Auswahl an geeigneter Fauna hat der subtropische und tropische Süden ohnehin, denn er ist mit vielen Gebirgsflächen und anderen, landwirtschaftlich schwer bebaubaren Gebieten mit großer Artenvielfalt gesegnet. Die Versuchung auf Wildtiere zurückzugreifen war für Nordchinesen wahrscheinlich nie so groß wie für ihre südlichen Landsleute, zumal der Norden schon zu Beginn unserer Zeitrechnung unter der Abholzung zu leiden hatte und der Wildtierbestand daher schon früh zurückging. Gründe, auch unkonventionelle Zutaten zu testen, gab es im ganzen Land genug: Seit jeher wurde das chinesische Kaiserreich immer wieder von Katastrophen heimgesucht. Von verheerenden Überschwemmungen, über die auch heute noch oft in den Medien berichtet wird, bis zu Taifunen, Erdbeben, Insektenplagen. Fehlernten sorgten dafür, dass die Landbevölkerung immer wieder Hunger litt. Gerade im Süden war der Bevölkerungsdruck besonders groß, da fiel es schon in guten Zeiten schwer, alle Menschen zu ernähren. Kein Wunder, dass die Kantonesen nie besonders empfindlich waren, wenn es darum ging, den Speisezettel um neue Zutaten zu erweitern. Dies galt übrigens nicht nur für die heimische
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Tierwelt, sondern auch für neue Ackerprodukte, wie Mais, Kartoffel, Paprika und Süßkartoffel, die im 16. Jahrhundert mit europäischen Händlern nach China gelangten – sogar die Chilischote, heute aus der Küche von Sichuan kaum mehr wegzudenken, ist ein portugiesischer Import aus Südamerika. Um das chinesische Faible für ungewöhnliche Speisen zu verstehen, muss man Folgendes wissen: Die Grenze zwischen Nahrung und Medizin ist in China fließend. Jede Zutat ist auch Wirkstoff, jede Mahlzeit hat Auswirkungen auf den aktuellen Gesundheitszustand. Besonders begehrt ist alles, was in die Kategorie „stärkend“ fällt. Oft sind diese Mittel und Zutaten aus seltenen Tieren hergestellt, frei nach dem Motto „was selten und teuer ist, muss auch gut helfen“. Die Auswahl basiert im Grunde auf dem simplen Prinzip „Du bist, wen du isst“. So versprechen Schildkrötengerichte, wen wunderts, ein langes Leben, während Haifische die Haut stärken, Skorpione wiederum gegen Taubheitsgefühle nach dem Schlaganfall helfen. Andere Lebensmittel überzeugen eher optisch, so sollen Walnüsse die Denkkraft fördern, weil ihre wulstigen Formen an ein menschliches Hirn erinnern. Kein Wunder also, dass gerade kraftvolle Tiere hoch im Kurs stehen, allen voran der Tiger. Seine Augen sollen gegen Epilepsie helfen, die Galle gegen Krämpfe, die Schnurbarthaare gegen Zahnschmerzen. Reptilien, Schlangen, Seepferdchen, Hirsche oder Insekten, die Liste der medizinisch interessanten Tiere ist lang. Und leider voller „Zutaten“, die mit der Roten Liste der bedrohten Tierarten erstaunlich deckungsgleich sind. In Sachen Artenschutz steht China ohnehin nicht gerade an der Weltspitze. Spätestens, wenn es um die Potenz geht, verstehen viele Chinesen keinen Spaß (und dies nicht nur im Süden!), egal wie offen sie sich sonst in Umweltfragen zeigen. Hohe Summen gehen über den Ladentisch für Bärenhoden oder Schlangenblut, Seegurke, Tigerpenis – sie alle versprechen Ausdauer in der Liebe. Während die einen das Heilmittel gegen die schwindende Manneskraft suchen, quasi das natürliche Viagra, geht es anderen
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MYTHOS 1
ganz schnöde um sozialen Status. Fleischkonsum ist in China seit jeher eine Frage des Geldes. Und daher auch des Prestiges. Für Bauern entlegener und daher armer Regionen ist Fleisch bis heute ein echter Luxus, der vor allem an Feiertagen auf den Tisch kommt. Dann schlägt die Stunde des Schweins. Aus einfachem Grund: Es ernährt sich quasi nebenbei von Küchenabfällen und braucht keine Weidefläche. Wer sich Zibetkatze oder Pangolin zum Abendessen leisten kann, zeigt ganz nebenbei: Ich bin reich. Und so machtvoll, dass es mir egal sein kann, ob es sich um legales Fleisch handelt oder nicht. Erst mit der Lungenkrankheit SARS im Jahre 2002 wurde China wachgerüttelt und bekam vor Augen geführt: Artenschutz ist nicht nur ein Hobby weinerlicher Westler, sondern auch eine Frage des Überlebens. Des eigenen! Wahrscheinlich wurde der Erreger von einer Zibetkatze auf den Menschen übertragen. Und der einzige Ort, wo dieses Wildtier dem Menschen, wenn auch unfreiwillig, nahekommt, ist die Küche. Heute wacht man in China daher erheblich gründlicher über die Artenschutzbestimmungen. Zumindest, wenn es nach dem Willen Beijings geht. Ob sich dergleichen jedoch auch in abgelegenen Orten durchsetzen lässt, ist fraglich. Da mag der Reisende mit Erleichterung feststellen, dass die meisten „medizinisch wertvollen“ Gerichte überaus teuer sind – und damit garantiert nicht aus Versehen oder gar Spaß auf dem Teller eines Europäers landen. Andererseits lässt sich mit seltenem Bratund Kochgut in schneller Zeit viel Geld verdienen. Hinter den kulinarischen Extravaganzen steckt eine regelrechte, länderübergreifende Industrie, die die chinesische Oberschicht mit seltenen Zutaten versorgt. So kann eine Flasche „Tigerschnaps“ mit eingelegten Knochen der Großkatze durchaus tausend Euro kosten. Auch Bärengalle wird oft auf Schleichwegen aus dem Ausland importiert. Reptilien, Leoparden, Dachse, Pangoline, ja sogar Affen... Hauptsache selten und nicht giftig lautet die unausgesprochene Devise. Denn es ist fraglich, ob Leopard süß-sauer wirklich so außergewöhnlich gut schmeckt. Problematisch ist in diesem
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Zusammenhang: China ist ein Land im Wirtschaftswunder. Die Zahl der Neureichen, die sich ein derart exotisches Menü leisten können, ist in den letzten 20 Jahren enorm gestiegen. Ein Spaziergang über den Qingping-Markt von Kanton führt die Auswirkungen des Potenz- und Prestigewahns aus nächster Nähe vor: Säckeweise klein geschnittene Hirschgeweihe, getrocknete oder in Alkohol eingelegte Schlangen, wie Drachen aufgespannte, getrocknete Reptilien, Seepferdchen... Hunderte von Marktständen buhlen um die Gunst der Kunden. So groß ist die Auswahl, dass sich der Besucher insgeheim fragen muss: Läuft in den Wäldern überhaupt noch ein Tier herum? Und das sind nur die legalen Angebote auf dem städtischen Marktareal. Geradezu zwangsläufig stößt der Besucher auf den Zugangswegen auf Impromptustände mit Tigertatzen und anderen verbotenen Waren, so offensichtlich werden sie angeboten. Artenschutz scheint in Kanton nicht einmal zweitrangig. Während auf Gesetze offensichtlich wenig Verlass ist, könnte ein anderer Trend vielleicht irgendwann einmal die Wende bringen: Das Tier als Haustier und Freund. Schon heute steigt die Zahl der Hunde auf dem Qingping-Markt mit jedem Jahr. Anders als noch vor wenigen Jahren werden sie als Schoßhunde verkauft! Jahrhundertelang zeichnete sich China durch eine sehr unsentimentale Haltung zu Tieren aus. „Bewegliche Dinge“ sind sie auf Chinesisch, übersetzt man den Begriff dongwu (ࡼ⠽) wörtlich. Wer arm ist, erliegt eben selten der Versuchung, zur nächsten Mahlzeit ein emotionales Verhältnis zu entwickeln. Oder anders herum: Dort, wo die Menschen reicher werden, also vor allem in den Städten der Küstenprovinzen, gibt es zunehmend echte Schoßhunde, verhätschelte Kreaturen, deren Ausstattung aus schicken Hundeboutiquen stammt, und deren Futterration die Mahlzeiten manch einer armen Bauernfamilie mühelos in den Schatten stellt. Der Hund als Kindersatz für Doppelverdienerpaare, die einfach keine Zeit mehr für eine echte Familie finden, als modisches
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MYTHOS 1
Accessoire in der passenden Farbe zur Handtasche. Notfalls wird umgefärbt. Die Welpen begehrter Rassen können durchaus einige tausend Euro kosten! Keine schlechte Karriere für ein Tier, das noch vor wenigen Jahren als Symbol bourgeoiser Verwerflichkeit gehandelt wurde. Als die Kommunisten 1949 die Macht übernahmen, wurde die Hundehaltung in den Städten grundsätzlich verboten. Erst zu Beginn des neuen Millenniums wurden die Vorschriften gelockert. Schlagartig wuchs die Zahl der Hunde allein in Beijing von nahezu null auf mehr als eine halbe Million, in Shanghai sogar auf 700 000, so eine Zählung aus dem Jahr 2006. Mittlerweile dürfte sich die Zahl vervielfacht haben. Wie viele es genau sind, lässt sich kaum mehr feststellen, denn nicht alle Hundebesitzer lassen ihr Tier registrieren und sparen sich so Hundesteuer und Impfungen. Einige Städte haben mittlerweile eine Ein-Hund-Regel erlassen, um die Zahl der Tiere zu begrenzen. Wer dagegen verstößt, muss beispielsweise in Kanton 2 000 Yuan (rund 200 Euro) berappen. Dennoch ist die Tierhaltung ein Wirtschaftszweig mit enormen Wachstumsraten: Tierfutterhersteller, Hundesalonbesitzer und Zoohändler reiben sich Anbetracht steigender Umsätze freudig die Hände. Glitzerhalsbänder, Hundeleckerli und Hundehaarfarben, sogar Laufbänder für allzu fettleibige Hunde – all dies gibt es mittlerweile auch in China. Laut der chinesischen Pet Animal Protection Association geben die Einwohner Beijings pro Jahr rund 50 Millionen Euro für Tierpflege aus. Mit dem Begriff dongwu (ࡼ⠽) macht der Volksmund mittlerweile das Wortspiel chongwu (ᅴ⠽) – nicht bewegliches Ding also, sondern verhätscheltes Ding. Kein Wunder, dass die Hundefleischlobby in China immer kleiner wird. Mittlerweile zeigt China erstmals offizielles Einsehen in Sachen Hundefleisch. Bereits während der Olympiade 2008 waren umstrittene Fleischsorten aus der Stadt verbannt worden, um ausländische Gäste nicht zu brüskieren. Das klang gut und fiel nicht weiter schwer, denn Hundefleisch gilt als wärmend und ist somit ein traditionelles Winteressen, das im heißen Beijinger
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Sommer ohnehin nur selten angeboten wird. Sehr viel weitreichender war daher die offizielle Meldung Anfang 2010, China plane im Rahmen eines Tierschutzgesetzes das Verbot von Hundeund Katzenfleisch bei offizieller Strafe. Immerhin 5 000 Yuan, also rund 500 Euro, soll es kosten, wenn der Gourmet die Finger nicht von Fiffi lassen kann. Wer dem neuen Trend zum Hund bei allen eindrucksvollen Zahlen nicht so recht Glauben schenken mag, wirft seine Zweifel im Coolbaby Dog Theme Park von Beijing über Bord. Zehn Yuan kostet der Eintritt in die Anlage, inklusive Plastiktütchen für den Hundekot. Für diesen stolzen Preis stehen dem kleinen Liebling ein Hindernisparcours, Spielwiese, Schwimmteich und Hundesnack-Verkäufer zur Verfügung. Coolbaby ist in der Tat ein Spielplatz. Nur nicht für Kinder. Und Coolbaby ist beileibe nicht die einzige Anlage Beijings. Hundebesitzer, die ihrem „größten Schatz“ (so die offizielle Werbung) etwas Gutes tun wollen, schauen hinterher noch im Hunderestaurant im nahe gelegenen Sportkomplex vorbei. Hier liegt der Hund dann nicht mehr auf, sondern vor dem Teller.
Speisekarten lesen: Die Wahrheit zwischen den Zeilen Wer bis zum offiziellen Verbot von Hund und Katze kulinarische Experimente scheut, muss lesen können: zwischen den Zeilen! Chinesische Köche sind wahre Poeten, denen es zuwider scheint, ihren Gast vollständig über die Inhaltsstoffe aufzuklären. Stattdessen verklausulieren sie selbst harmlose Gerichte mit Furcht erregenden Namen. Selbst abgebrühte Gourmets erschrecken bei Namen wie „Ameisen krabbeln auf den Baum“. Doch während sich die „Ameisen“ bei näherer Untersuchung als schlichte Hackfleischstückchen erweisen, wird das verruchte Wild- und Schoßtierfleisch oft hinter blumigen Ausdrücken versteckt. Wer ahnt schon, dass das „Feldhuhn“ keine Vogelart
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MYTHOS 1
ist, sondern ein Frosch? Dass sich hinter dem „Tiger“ eine Katze verbirgt und die Schlange zum „Drachen“ aufgewertet wird? Auch der „Wasserfisch“ (Schildkröte) mundet dem ausländischen Gast selten. Wenn Gerichte wie „Drachen und Tiger kämpfen miteinander“ oder „Phönix und Tiger treffen sich“ auf der Karte auftauchen, steckt dahinter immer ein Ragout aus zweifelhaften Zutaten. Steht das Gericht schon auf dem Tisch, trudelt im Suppentopf eine tote Schildkröte, lautet das rettende Mantra des Europäers „wo chi su“: Ich bin Vegetarier. Denn so buddhistisch ist China allemal: Wer Fleisch aus gesundheitlichen oder religiösen Gründen ablehnt, dem sei verziehen, wenn er Hund und Katze vorüberziehen lässt. 佭㙝
xiāngròu
Duftfleisch (Hund)
㰢
hԃ
Tiger (Katze)
啭
lóng
Drache (Schlange)
⬄叵
tiánjī
Feldhuhn (Frosch)
∈剐
shuƱyԃ
Wasserfisch (Schildkröte)
㗕⣿㗕叵♪ ϝ㲛
lăomāo lăojī dùn sān shé
Suppe mit Katze, Huhn und Schlange
⊍⊵⬄叵ᠷ
yóupào tiánjī kòu
Gebratener Froschmagen
啭㰢Ӯ
lóng hԃ fèng dàhuì
Die große Versammlung von Drachen, Tiger und Phönix (Ragout aus Schlange, Katze und Huhn
MYTHOS 2:
Alle Chinesen essen täglich Reis Was essen die Chinesen täglich? Reis natürlich, in rauen Mengen! Zumindest im Westen sind wir fest davon überzeugt: Keine Beilage ist „chinesischer“ als der weiße Duftreis (baifan, ⱑ佁). Vor Ort in China wartet auf manch einen Reisenden die große kulinarische Überraschung. Sicher, Reis gibt es theoretisch überall. Doch in vielen Regionen ist er keineswegs ein Grundnahrungsmittel, das jeden Tag auf dem Tisch steht.
Reis kommt aus China Kulinarisch und klimatisch lässt sich China in zwei große Gebiete teilen: Reisland und Nudelland. Nördlich des Yangzi-Flusses sind Reisfelder eine echte Seltenheit. Viel zu trocken ist es hier. Vor allem aber zu kalt. Bis auf minus 30 Grad kann das Thermometer im Winter fallen. Anstelle grüner Reisterrassen wiegen sich im Norden die endlosen Getreidefelder im Wind – auf rund 24 Millionen Hektar werden derzeit zirka 115 Millionen Tonnen Weizen (xiaomai, ᇣ呺) pro Jahr geerntet. Damit führt China die internationalen Statistiken an. Erst weit abgeschlagen folgen Indien und andere Weizenproduzenten. Kein Wunder, dass die Menschen im Norden ein ganz anderes Repertoire an Grundnahrungsmitteln kennen als die Köche im Süden. Wer in Shenyang oder Xi’an im Restaurant ein Menü bestellt, bekommt nicht selten dazu Mantou (佦༈) aus Weizenmehl
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MYTHOS 2
gereicht. Die weißen, lockeren Teigklöße erinnern ein wenig an die schwäbischen Dampfnudeln. Auf der Straße werden sie meist als Baozi (ࣙᄤ) verkauft: Mit vielen verschiedenen Füllungen aus Fleisch und Gemüse, meterhoch in Bambuskörben gestapelt, in denen die Baozi auch gedämpft werden. Einige Meter weiter brutzeln wahrscheinlich luftige Youtiao (⊍ᴵ) in einer Tonne mit heißem Fett: Die ausgebackenen Teigstreifen sind den deutschen Krapfen nicht unähnlich. Auch Fladenbrot mit und ohne Füllung, Pfannkuchen und salziges Gebäck in allen Variationen sind typisch für Nord- und Westchina. Der klassische Imbiss schlechthin sind die kleinen Jiaozi-Teigtaschen (低ᄤ). Mit Hackfleisch und vielen anderen Zutaten gefüllt werden sie gedämpft oder als Guotie („Pfannenkleber“, 䫙䌈) gebraten verkauft. Ihre Eierteigkollegen, die Hundun (⏋≠) (hierzulande unter dem kantonesischen Ausdruck Wantan bekannt), trudeln derweil in der Suppe oder werden knusprig ausgebraten. Ganz besonders typisch ist jedoch die Nudelsuppe (䴶∸), quasi die Butterbrotstulle Chinas, das schnelle Gericht schlechthin. Millionen von kleinen Nudelständen (so scheint es zumindest dem Reisenden nach einiger Zeit) bieten auf wackeligen Stühlchen und in angestoßenen Tonschalen an jeder Ecke den leckeren Imbiss an: Ein Schöpflöffel heiße Brühe, ein bisschen Gemüse, ein paar Rindfleischstreifen und eine Handvoll per Hand gezogener Weizennudeln sind das kulinarische Pendant zur südlichen Schale Reis. Bei so viel Liebe zur Nudel wundert es nicht, dass sich Chinesen und Italiener seit Langem erbitterte Diskussionen liefern, wer die Nudel nun letztlich erfunden hat. Brachte Marco Polo sie nach China? Oder hatte er sie eher umgekehrt auf der Heimreise im Gepäck? Oder stammt sie gar aus Arabien (eine Variante, die, wenig überraschend, weder bei Chinesen noch Italienern viel Anklang findet)? Ist es am Ende Zufall, dass sich italienische Spaghetti und chinesische Miantiao (䴶ᴵ) so ähnlich sehen? Dass beide Völker die Nudel in so vielen Formen und Varianten herstellen?
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1:0 für die chinesische Nudel Erst im Jahre 2005 fand die italienisch-chinesische Streitfrage ein vorläufiges Ende, denn nun ist es amtlich, verbrieft und wissenschaftlich erwiesen: Die erste Nudel war eine Chinesin. Quasi. Schuld daran ist der Geologe Lu Houyuan des Beijing Instituts für Geologie und Geophysik. Während einer jungsteinzeitlichen Ausgrabung in Lajia am Gelben Fluss stieß er am Boden einer Hütte zufällig auf eine umgedrehte Tonschüssel, die rund 4 000 Jahre lang in dieser Position unter einer Löss-Schicht gelegenen hatte. Als Lu die Schüssel umdrehte, kam eine Portion gelber Nudeln zutage. Geistesgegenwärtig knipste Lu ein paar Fotos, bevor die gelben Nudeln vor seinen Augen zu Staub zerfielen. Radiokarbondatierungen der Überreste bestätigten später das Alter der Steinzeitmahlzeit: Viertausend Jahre hatten die 50 cm langen Nudeln überdauert. Offensichtlich war die Siedlung Lajia durch ein Erdbeben zerstört und dann von einer Schlammlawine überflutet worden. Die Bewohner hatten keine Chance, wie die zahlreichen Skelette bezeugen. Und einem von ihnen fiel dabei der Nudeltopf aus der Hand. Vor allem aber versiegelte der Löss-Schlamm blitzschnell den Boden. Nur dem Vakuum war also zu verdanken, dass sich hier eine Portion Hirsenudeln wie frisch serviert erhalten konnte. Unter dem Einfluss des Sauerstoffs zerfielen die Nudeln. Dennoch, der Beweis ist erbracht, zum großen Jubel der chinesischen Medien, die die Nudelkunde mit viel Trara verbreiteten. Anders als bei der italienischen Konkurrenz bestanden die steinzeitlichen, chinesischen Vorfahren der Nudel nicht aus Weizen sondern aus Hirse. Denn erst vor 5 000 Jahren wurde der Weizen allmählich in China eingeführt. Bis heute ist die robuste und agrartechnisch anspruchslose Hirse in China weit verbreitet, wenn auch als „Armenessen“ fast schon verpönt. Doch in den entlegenen Dörfern Nord- und Westchinas ist selbst der Weizen noch ein Luxusprodukt (von poliertem Reis gar nicht zu reden) und die Hirse wie schon seit dem Neolithikum noch immer ein
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MYTHOS 2
Hauptnahrungslieferant – und natürlich Grundlage des berüchtigten und hochprozentigen Rachenputzers Gaoliang (催㊅䜦), einer wahrhaft durchschlagenden Schnapssorte. Auch Gerste und Buchweizen ergänzen bis heute den Speisezettel auf dem Lande. Blickt man auf die Anbaustatistiken, fällt die immense Maisernte ins Auge: Mit rund 160 Millionen Tonnen pro Jahr liegt China auch hier an der Weltspitze. Doch kulinarisch hat sich der Mais (yumi, ⥝㉇) nie so recht durchsetzen können. Ein chinesisches Pendant der Polenta gibt es jedenfalls bisher nicht, auch wenn er in Südchina als Gemüse in der einen oder anderen Suppe trudelt. Vielleicht liegt es daran, dass er erst recht spät eingeführt wurde: Im 16. Jahrhundert kamen mit den ersten portugiesischen Kaufleuten über die Kolonie Macau unter anderem neue Lebensmittel und Ackerpflanzen ins Land. Neben so vermeintlich chinesischen Zutaten wie Erdnüssen und Chili war auch der Mais dabei. Dennoch ist der Mais von enormer Bedeutung: Er wandert meist in die Futtertröge der Schweine- und Rindermastbetriebe. Damit wird er einer weiteren Entwicklung gerecht, die den ProKopf-Reis-Konsum Chinas jährlich ein wenig senkt: In der wachsenden Mittel- und Oberschicht wird heute weitaus mehr Fleisch gegessen als jemals zuvor in der Geschichte Chinas. Einst ein Luxus, der sich auf wenige Feiertage im Jahr beschränkte, sind Schweine-, Hühner- und zunehmend auch Rindfleisch Teil des täglichen Familienmenüs geworden. Für die chinesische Landwirtschaft ein eher bedenklicher Trend: Mit der Fläche, die ein Rind braucht, um einen Menschen zu ernähren, lassen sich beim Getreideanbau sieben Menschen versorgen.
Im Süden liegt das Reich des Reis Um den Reis bangen muss man trotzdem nicht. Südlich des Yangzi-Flusses, in der Provinz Sichuan und im Yangzi-Delta ist China in der Tat von Reisfeldern und oft auch Terrassenlandschaf-
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ten geprägt, hier gibt sich das Reich der Mitte Mühe, allen kulinarischen Reis-Stereotypen gerecht zu werden. In dieser Region werden derzeit pro Jahr rund 200 Millionen Tonnen Reis produziert. Weltweit steht China damit an erster Stelle. Kein Wunder, denn die chinesischen Bauern haben allemal Erfahrung mit dem „weißen Gold“: Wahrscheinlich wurde der Reis sogar erstmals in Südchina domestiziert. Archäologische Ausgrabungen zeigen, dass bereits die jungsteinzeitlichen Kulturen im Gebiet des Yangzi-Flusses Reis kultivierten. Sowohl die Menschen der Daxi-Kultur (⑾᭛࣪), die im fünften bis dritten Jahrtausend v. Chr. am Dongting-See lebten, als auch die Hemudu-Kultur (4200–3000 v. Chr.) am Hangzhou River und die zeitgleich lebenden Siedler von Luojiajiao in der heutigen Provinz Zhejiang lebten vom Reisanbau. Wahrscheinlich trifft dies auch für die Menschen der Pengtoushan-Kultur ᕁ༈ቅ᭛࣪) in der Provinz Hunan zu. Sie wird auf die Zeit von 9000–5500 v. Chr. datiert. Ackergeräte fand man hier zwar nicht, wohl aber Körner domestizierten Reis. Auch andere Forschungsergebnisse stützen die These, dass der Reis aus China stammt – oder zumindest hier zum ersten Mal angebaut wurde. Vergleichsweise neuen Erkenntnissen nach sind einige der Funde sogar noch bedeutend älter: Fossile Phytolithen, also versteinerte organische Pflanzenreste, aus Ablagerungen der späten Eiszeit und dem Holozän in der ostchinesischen See wurden wahrscheinlich vom Yangzi ins Meer gespült1. Übersetzt bedeutet dies: Die ersten Spuren von domestiziertem Reis stammen aus dem 14. Jahrtausend v. Chr.! Auch an der Yuchanyan-Ausgrabungsstätte in der Provinz Hunan wurden Reiskörner gefunden, die wahrscheinlich von einer frühen domestizierten Form abstammen und auf dieselbe Zeitspanne datiert wurden. Aus der Zeit vom 13. – 11. Jahrtausend v. Chr. konnten keine Phytolithen nachgewiesen werden – wahrscheinlich war es schlicht zu kalt. Erst rund 10 000 v. Chr. wurde es wieder warm genug in Südchina, so dass abermals Pflanzenreste von Reis in den Sedimenten auftauchen. Unter anderem auch in den Höhlen von Diaotonghuan nahe dem Poyang-See am Mittellauf des Yangzi.
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MYTHOS 2
Schon dies zeigt, dass China nicht nur als ältestes Reisanbaugebiet gelten darf, sondern auch, welch schwieriger Geselle der Reis ist – nicht nur klimatisch gesehen!
Die Getreide-Diva Sicher ist: Damals wie heute ist der Reisanbau kompliziert, mühsam, bis ins kleinste Details geregelt und im Alleingang kaum zu bewältigen. Die kleinen Setzlinge müssen nicht nur separat gezogen werden, sondern auch per Hand in das geflutete Beet gesetzt werden. Wehe die Temperatur bleibt die nächsten 100–250 Tage (je nach Sorte) nicht konstant zwischen 30 und 35° Grad! Auch darf das Wasser nicht verdunsten oder zu sehr steigen und muss in der richtigen Geschwindigkeit abfließen, so dass weder die Nährstoffe weggespült werden, noch sich Algen bilden können. Bis zu 5 000 Liter Wasser braucht der Bauer, um ein Kilo Reis zu produzieren! Erst zur Ernte wird das Wasser abgelassen. Gemäht wird meist noch per Hand – der Einsatz von Maschinen ist auch heute oft nicht möglich. Zum einen könnten sich nur die wenigsten Bauern einen derartigen Luxus leisten, zum anderen wird Reis häufig auf Terrassenfeldern angebaut, die ein Mähdrescher nicht erklimmen könnte. Ist die Ernte erst einmal eingefahren, muss man den Reis nicht nur trocknen, dreschen und schälen, sondern auch noch sortieren und polieren, um ihn wirklich schmackhaft zu machen. Das Silberhäutchen mag nahrhaft und gesund sein, „fein“ war es nie! Ohnehin galt und gilt Reis als klassische „Sättigungsbeilage“, als Mittel, den Magen zu füllen. Doch während in Deutschland um das Grundnahrungsmittel Brot ein wahrer Kult betrieben wird und sich die Bäcker selbst in Zeiten industrieller Großproduktion immer wieder neuen Kreationen hingeben, während die Italiener ihre Nudeln in Hunderten von Varianten herstellen und füllen, blieb der Reis in China – nun, Reis. Gekocht „weiß“ (baifan, ⱑ佁) oder gebraten (chaofan, ♦佁) lautet bis heute die Alternative. So sehr
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sich Chinesen kulinarischen Diskussionen hingeben, die Frage nach den verschiedenen Reissorten erübrigt sich. Da es immerhin mehrere tausend Sorten gibt, sind sie nicht gerade einfach zu unterscheiden. Oryza sativa indica, Oryza sativa japonica und Oryza sativa glutinosa kann auch der Laie noch auseinanderhalten – dahinter verstecken sich Langkorn-, Rundkorn- und Klebereis. Darüber hinaus braucht es schon ein wenig Erfahrung. Denn geschmacklich sind sich die Sorten erstaunlich ähnlich. Nur der Jasmin- und Basmatireis bestechen durch einen leichten Hauch von Eigengeschmack. Vielleicht ist der Reis an sich daher kaum Beachtung wert. Nur klebrig muss er sein, damit er an den Stäbchen haftet und die Soße gut aufnimmt. Die berühmte Uncle Bens Variante (So locker! Rieselt von der Gabel!) hätte in China wenig Chancen. Reis ist die Grundlage, geschmacklich neutral, die klassische Sättigungsbeilage, die erst am Ende des Menüs serviert wird und keine weitere Beachtung verdient. Wer zu viel Reis in die Schüssel schaufelt, lässt den Gastgeber geizig erscheinen – offensichtlich hat er nicht genug serviert, um die Gäste mit feinen Gerichten zu sättigen. Je teurer das Gelage, desto weniger Reis kommt auf den Tisch, und wer ganz auf ihn verzichten kann, ist ein wahrlich reicher Mensch. Wohl auch deshalb geht in China der Reiskonsum pro Kopf zurück. Denn je praller der Geldbeutel, desto eher greifen auch Chinesen zu Gemüse und Fleisch. Auch findet man immer wieder in der Presse den Aufschrei, Chinas Bauern wendeten sich scharenweise vom Reisbau ab, um sich lukrativeren Tätigkeiten zu widmen – zum Beispiel, sich in der Stadt als Wanderarbeiter zu verdingen oder Weizen anzubauen, um den man sich erheblich weniger kümmern muss. Was durchaus stimmt. Sind die Tage des Reis in China also gezählt? Natürlich nicht. Denn obwohl die Anbaufläche leicht rückläufig ist, erntet China jedes Jahr ein wenig mehr des weißen Getreides.
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MYTHOS 2
Muss es auch, denn noch wächst die Bevölkerung, gilt es jedes Jahr ein wenig mehr Menschen mit weniger Anbaufläche zu ernähren. Betrachtet man das Verhältnis von bebaubarer Fläche zu Bevölkerung, steht China ohnehin ziemlich schlecht da. Auf rund 7 % der global verfügbaren müssen mehr als 22 % aller Menschen versorgt werden.
Von Superreis und Gentechnik Kein Wunder, dass sich China ganz besonders in der Agrarforschung engagiert und viel Geld in die Entwicklung neuer, ertragreicher Reissorten investiert. Den entscheidenden Schritt der letzten Jahrzehnte verdankt China dem Agrarwissenschaftler Yuan Longping: Er entwickelte in den 1970ern ganz ohne Gentechnik den ersten Hybridreis. Diese Kreuzung aus Kurz- und Langhalmreis bringt bis zu 30 % mehr Ertrag als herkömmliche Sorten. Nicht minder wichtig ist, dass das Saatgut auf traditionelle Weise erzeugt wird. Die Bauern behalten einen kleinen Teil der Ernte als Aussaat zurück und müssen kein Saatgut kaufen2. Mehr als die Hälfte der südchinesischen Reisanbauflächen werden mit Hybridreis bepflanzt. Diese Technik wird im staatlichen Yuan Longping High Tech Agriculture Training Center von Changsha, Provinz Hunan, seit 1999 auch Agrarwissenschaftlern anderer Entwicklungsländer gelehrt. Mittlerweile forscht der „Herr der Körner“ nach dem „Superreis“, ein mit produktionssteigernden Wildreisgenen hybridisierten Hochertragsreis. Jedoch verlässt sich China nicht nur auf die Hybrid-Kreuzungen. Schon Ende 2009 genehmigte das Komitee für Biosicherheit des chinesischen Landwirtschaftsministeriums den Großanbau der neuen schädlingsresistenten Sorte „Bt-Reis“. Der Genreis soll nun einen rund acht Prozent höheren Ertrag bringen und zudem den Einsatz von Pestiziden erheblich senken. Wirklich neu ist der Einsatz von gentechnisch verändertem Saatgut ohnehin nicht: Sowohl Mais als auch Gentomaten, -papaya, -pfeffer und -baumwolle
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werden bereits regulär angebaut, veränderter Weizen steht auf der Wunschliste ganz oben und soll in den nächsten Jahren entwickelt werden. Die Wahrheit lautet daher: China ist das Land des Reis. Und der Nudel, der Dampfnudel, des Fladens, des Brotes und der Hirse. Wenn in den Ausländerrestaurants Beijings trotzdem nur Reis serviert wird, dann aus einem simplen Grund: Die westlichen Gäste erwarten es so. Und wer zahlt, hat recht.
MYTHOS 3:
Chinesen sehen alle gleich aus Welcher Kellner war denn nun „unserer“? Kenne ich die Chinesin, die mir so freundlich zuwinkt? Und wenn ja – wie heißt sie? Wer von den Herren im Anzug ist nochmal mein zukünftiger Geschäftspartner? Fast alle westlichen Chinabesucher kennen diese peinlichen Szenen. Und die klamme Frage: Wie zum Teufel soll ich die Chinesen nur unterscheiden? Man mag es ungern zugeben, aber in der Tat scheinen sich viele Asiaten auf den ersten Blick erstaunlich ähnlich zu sehen. Sogar die Unterscheidung zwischen Japanern, Vietnamesen, Kambodschanern und Chinesen ist dem westlichen Asienneuling unmöglich, während Asiaten keine Probleme haben, die verschiedenen fernöstlichen Nationalitäten auseinanderzuhalten.
Ein Meer von Fremden Chinesen nehmen diese westliche Wiedererkennungsschwäche meist gelassen – denn auch ihnen geht es nicht anders. Wer wenig Kontakt mit dem Ausland hat, tut sich nicht minder schwer, die langnasigen Europäer und Amerikaner auseinanderzuhalten. Insgeheim lächeln beide Seiten über einander – wie kann man nur so blind sein! Sind denn die Unterschiede nicht offensichtlich? Schämen müssen sich dafür weder Europäer noch Chinesen, denn es trifft den erfahrenen Reisenden genauso wie den Aus-
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landsneuling. Auch ist das Wiedererkennungsproblem keine Frage von Intelligenz oder Dummheit, sondern schlicht eine Manifestation mangelnder „optischer“ Erfahrung mit der jeweiligen Ethnie: Mit steigendem Kontakt gewöhnt sich der Mensch an die kleinen Unterschiede anderer Ethnien und kann sich nach einigen Wochen gar nicht mehr vorstellen, dass sie alle einmal gleich ausgesehen haben sollen. Sogar einen wissenschaftlichen Begriff gibt es für das Phänomen der vermeintlichen Gleichartigkeit anderer Rassen: „Cross Race Bias“, „Other Race Bias“ oder „Cross Race Effect“. Wie der Name schon andeutet, beschreibt er eine schlechtere Wiedererkennungsleistung von Gesichtern, die nicht der eigenen Rasse entstammen im Vergleich zu Gesichtern der eigenen Rasse. Da das Wort „Rasse“ im Deutschen historisch negativ belegt ist, ist es für Wissenschaftler nicht immer einfach, ihre Überlegungen in wissenschaftlich korrekte Worte zu fassen. Meist behilft man sich mit dem Ausdruck „Ethnie“, der im Grunde aber nicht völlig korrekt ist, denn er beinhaltet auch eine kulturelle Komponente, während sich Rasse lediglich auf die äußeren Merkmale eines Menschen bezieht. Um falsche oder abwertende Zwischentöne zu vermeiden, sei auch hier dennoch der Begriff Ethnie verwendet. Der Inhalt der Theorie vom „Other Race Bias“ ist im Grunde einfach: Menschen haben generell eine Tendenz, andere Menschen in die zwei Kategorien „eigene Gruppe“ und „fremde Gruppe“ einzuteilen. Dies muss nicht zwangsläufig entlang ethnischer Grenzen geschehen, sondern kann auch auf andere Gemeinsamkeiten basieren: Hobbys, Herkunft, Sprache, im Grunde ist jedes Merkmal ein mögliches Einteilungskriterium. Optisch bietet sich eine Einteilung entlang ethnischer Unterscheidungsmerkmale aber allemal an, denn sie ist auf den ersten Blick ersichtlich. Im Umgang mit anderen Ethnien tappen die meisten Menschen erst einmal in die klassische Falle: Sie achten vor allem auf die Unterschiede zur eigenen Ethnie. Beim Kontakt mit Afrikanern wäre dies beispielsweise die dunkle Hautfarbe, bei Chinesen wiederum die andere Augenform oder das schwarze Haar. Dummer-
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weise sind dies jedoch genau die Merkmale, die alle Mitglieder der anderen Ethnie gemeinsam haben. Zur Unterscheidung von der eigenen Gruppe mögen sie noch taugen, nicht aber, um Menschen einer fremden Ethnie untereinander zu differenzieren. Fremde Menschen werden daher erst einmal nach den ihnen gemeinsamen Merkmalen kategorisiert und weniger gut als Individuen wahrgenommen. Da wundert es nicht, dass dem ungeübten chinesischen Betrachter alle Europäer gleichermaßen großnasig und blass erscheinen, während Europäer ratlos vor der schwarzhaarigen Masse stehen. Erst nach einiger Zeit gewöhnt sich der Mensch daran, die unterscheidenden Merkmale als solche wahrzunehmen. So sind bei Europäern Haar- und Augenfarbe sehr unterschiedlich sowie die Konsistenz des Haares – glatt, gelockt, gekräuselt, dick oder dünn – sind relevante Kriterien. Bei der Beschreibung von Chinesen wiederum sind Nasengröße und Form, Ohren und Gesichtsform besonders informativ. Auch die asiatischen Augen unterscheiden sich je nach Größe, Breite und einer eventuell vorhandenen Lidfalte. Eine Fahndungsmeldung der chinesischen Polizei hält sich daher selten mit Haarfarbe und Haarstruktur auf, sondern beschreibt eher die Breite der Nase, Augengröße und das runde, eckige oder herzförmige Gesicht. Genau diese Fähigkeit, bei der jeweiligen Ethnie auf die unterscheidungsrelevanten Kriterien umzuschalten, lässt sich lernen. Der deutsche Psychologe Ansgar Bittermann hat sich mit dieser Problematik ausführlich befasst und verschiedene Programme entwickelt, die Europäern helfen sollen, asiatische Gesichter nicht nur leichter zu unterscheiden, sondern auch die Feinheiten der Mimik besser zu erkennen und damit die Vertrauenswürdigkeit potentieller chinesischer Partner besser einzuschätzen3.
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Gleiche Mimik, andere Bedeutung Denn auch dies ist ein Problem, dem sich der Reisende in China stellen muss: Allein die Fähigkeit, Menschen zu unterscheiden, reicht nicht aus – auch die Dekodierung der Mimik muss der Neuling noch einmal lernen. Zwar sind die mimischen Grundelemente, die „Instrumente“ wie Lächeln, Weinen oder Stirnrunzeln trügerischerweise dieselben. Die Situationen, in denen sie verwendet werden (und damit ihre Bedeutung), sind in Ost und West freilich oft völlig unterschiedlich. Wir Westler sehen das asiatische Gesicht, „lesen“ es aber nicht. So wie man einen fremdsprachigen Text zwar annähernd vorlesen kann, ihn damit aber noch nicht zwingend versteht. Vielleicht rührt daher das China-Stereotyp, das sich vom Comic bis zum Bonanza-Koch Hop Sing durch die Medienwelt zieht: Chinesen haben eigentlich immer ein Grinsen im Gesicht. Natürlich entspricht dies keineswegs der Realität. Wer je in einem staatlichen Restaurantbetrieb im Beijing der 1990er-Jahre eine Bestellung aufgegeben hat, wird dem aufs Heftigste widersprechen wollen. Überhaupt scheinen Chinesen vor Ort sehr viel weniger zu lächeln als man glaubt. Wichtiger ist jedoch: Sie tun es zu anderen Gelegenheiten. Lächeln kann freundlich sein, eine Aufforderung zum Gespräch, kann gute Laune bedeuten, eine wohlwollende Haltung – oder, und hier scheitert der westliche Betrachter – genau das Gegenteil. Neben dem im Westen üblichen Schema steht Lächeln auch für Scham, Unwohlsein und Unsicherheit. „In Europa doch auch!“, mag da manch einer einwerfen. Doch die Häufigkeit, mit der das ostasiatische Lächeln in negativen Situationen verwendet wird, ist ungleich höher. Oder andersherum formuliert: In Europa ist Lachen meist ein Zeichen von Offenheit, in Asien jedoch oft ein Ausdruck von Verlegenheit oder Peinlichkeit. Wer sich in einem teuren chinesischen Hotel über die kaputte Heizung beschwert, hat gute Chancen ein ausgiebiges Lächeln zu ernten. Nicht um den Gast zu beschwichtigen, sondern weil die Angestellte ganz recht ahnt: Hier präsentiert sich ein kapitales Problem. Eine kaputte Heizung in einem teuren Gästezimmer? Das könnte peinlich werden. Weil sonntags garan-
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tiert kein Klempner aufzutreiben ist. Oder der Klempner bereits da war und den Fehler bisher nicht finden konnte, oder, oder, oder... Auch der Kellner, der gerade den Kaffee versehentlich über die noch ungelesene Zeitschrift des westlichen Kunden geschüttet hat, erbost den Kunden mit einem strahlenden Lächeln. Freilich findet er die Situation nicht lustig, sondern höchst peinlich. Die Unterschiede zwischen Ost und West gehen jedoch weiter. Forschungen der Universität von Glasgow aus dem Jahre 2009 ergaben, dass Europäer und Asiaten die Gesichter ihrer Gesprächspartner völlig anders betrachten! Während Europäer meist auf Augen und Mund achten, sind Ostasiaten fast ausschließlich auf die Augen fixiert. Mit weitreichenden Folgen: Ostasiaten tun sich erheblich schwerer, zwischen Angst und Abscheu zu unterscheiden und verwechseln sie leichter mit Überraschung und Ärger4. Auch tendieren Ostasiaten eher dazu, angenehme Emotionen zu erkennen, also z. B. Überraschung, anstatt Angst zu lesen. Die Gründe für diese Ergebnisse liegen noch im Dunkeln – überhaupt ist Emotionsforschung und ihr interkultureller Vergleich ein recht neues Gebiet. Die nächsten Jahre und Jahrzehnte werden in dieser Hinsicht noch viele neue Erkenntnisse bringen. Genauso sicher ist: Für den Erfolg von internationalen Projekten werden diese Erkenntnisse weitreichend sein. Je mehr sich die Weltwirtschaft verzahnt, je mehr sich Menschen unterschiedlicher Kulturen und Ethnien begegnen, desto wichtiger wird es, trotz unterschiedlichen Aussehens, andere Menschen auf den ersten Blick zu verstehen. Die Auswirkungen des gegenseitigen Fehlverständnisses sind in einer globalen Gesellschaft enorm: Zum einen fällt es schwer, Mitgefühl für einen Menschen zu empfinden, dessen Emotionen man nicht erkennen oder verstehen kann. Zum anderen ist dies der ideale Nistgrund für grundlegende Missverständnisse. Da ist der nächste Schritt nicht weit, den anderen, Fremden, als „dumm“ oder „verschlagen“ abzustempeln – wohl
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auch, weil diese Zuordnung das eigene Unverständnis wunderbar vertuscht. Dass dies nicht der Weg zum erfolgreichen Austausch mit Personen anderer ethnischer Herkunft ist, wird auch beratungsresistenten Menschen schnell klar.
Gefühle sind Privatsache Selbst geschulte Asienkenner haben es nicht immer einfach, die Emotionen des Gegenübers zu erkennen. Ein Schicksal, das sie mit allen anderen Chinesen teilen! Denn anders als in Europa, wo impulsiven Menschen eine gewisse Anziehungskraft und Energie oder Stärke unterstellt wird, gilt in China noch immer die Regel: Es schickt sich nicht, Emotionen allzu deutlich zur Schau zu stellen. Vor allem negative Gefühle wie Angst, Ekel oder Unwillen sind nicht wirklich sozial kompatibel. Die übertriebene Darstellung von Gefühlen könnte auf andere abstoßend wirken, oder sie, im Falle von negativen Gefühlen, seelisch belasten – ein Aspekt, den wir im Westen durchaus auch kennen, aber eben mit einer weitaus höheren Toleranzschwelle. Heftige Gefühlsausbrüche sind „bu hao yisi“ (ϡདᛣᗱ) – und damit nicht akzeptabel. Dieser Ausdruck ist einer der Grundpfeiler der chinesischen Gesellschaft, und dennoch nicht einmal in jedem Wörterbuch zu finden! Er umfasst alles von „peinlich“ bis „unpassend“, ein Verhalten, das sowohl den Agierenden als auch den Beobachter oder Empfänger unangenehm berührt. Das britische, abwertende „embarrassing“ trifft es in den europäischen Sprachen noch am ehesten. An der Supermarktkasse laut zu schimpfen, weil das Wechselgeld nicht stimmt, ist genauso bu hao yisi, wie dem Chef wiederholt vor versammelter Mannschaft zu widersprechen (egal ob man recht hat oder nicht). Dies entspräche, um es einmal drastisch zu sagen, der Peinlichkeit, sich am Hintern (unter der Hose wohlgemerkt) zu kratzen und dann in der Kantine in den Besteckkasten zu greifen.
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Geborgenheit in der Masse Warum sich Ostasiaten so scheuen, ihre Gefühle offen zu zeigen, hat viele Gründe. So ist die chinesische Gesellschaft stark gruppenorientiert. Der einzelne Mensch wird, verallgemeinert gesprochen, an dem gemessen, was er zur Gemeinschaft beiträgt und weniger an sich selbst. Die Grenzen zwischen dem Ich und den anderen Mitgliedern der Gruppe oder Familie sind verschwommen. Dies geht vor allem auf Kosten der Privatsphäre: Ein Liebesbrief? Wie spannend! Da kann es vorkommen, dass sich Freundinnen das Papier aus der Hand reißen, um selbst einen gründlichen Blick darauf zu werfen. Um die Position in der Gruppe (und letztlich in der gesamten Gesellschaft) zu stärken, gilt es, möglichst viele Verpflichtungen aufzubauen, Gefallen zu leisten, die natürlich irgendwann einmal zurückgezahlt werden müssen. Das klingt berechnender als es ist – auch die europäischen Netzwerke basieren auf diesem Prinzip, nur nehmen sie eine weniger wichtige Stellung ein. Schon in der konfuzianischen Gesellschaft des Alten China hatte jeder seinen festen Platz, und die Verpflichtung, ihn angemessen auszufüllen. Die Gesellschaft wiederum muss dem Individuum die Rahmenbedingungen schaffen, seine Aufgaben erfüllen zu können. Kein Wunder, dass es „Abweichler“, die den ihnen zugewiesenen Platz ganz offensichtlich gar nicht ausfüllen wollen, schwer haben. Minderheiten wie Homosexuelle und Menschen, die sich nicht an die Konventionen halten, tun sich schwer in China. „Anderssein“ an sich ist keine Tugend, sondern ein Fehler. Während deutsche Kinder schon früh ihre Einzigartigkeit betonen, ist es asiatischen Kindern oft auffallend unangenehm, sich von der Menge abzuheben. Wie in so vieler Hinsicht, ist China auch in Sachen Individualismus im Umbruch. Die Stellung des Einzelnen hat sich in den letzten Jahren massiv erhöht. Vor allem in den Städten der Küste besinnen sich junge Chinesen zunehmend auf sich selbst und lassen sich bei Berufs-, Partner- und Freundeswahl längst nicht mehr so sehr von
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der Familie reinreden. Auch optisch hat sich einiges geändert: Extravagante Modekreationen und ausgefallene Frisuren gibt es in Shanghai genügend. Unterschwellig jedoch bleibt das Grundideal: Anpassung statt Durchsetzung. Schon der Besuch einer nicht ganz so weltoffenen Millionenstadt im Hinterland mutet wie eine Zeitreise in die 1980er an, individueller Stil ist selten. All dies ist natürlich keine Frage der Ethnie oder Genetik, sondern der Erziehung. Sprichwörter, wie „Der Nagel, der heraussteht, wird eingeschlagen“ oder „wer den Kopf herausstreckt, braucht sich nicht zu wundern, wenn er abgeschlagen wird“ zeigen, dass die Gesellschaft Andersartigen gegenüber bestenfalls gleichgültig gegenübersteht. Generell ist Stabilität gefragt, wilde Gefühle sind „chaotisch“ und damit nicht positiv. Nicht zuletzt spielt auch die gesellschaftliche Harmonie eine große Rolle. Je „gleicher“ die Menschen, desto einfacher gestaltet sich das konfliktfreie Zusammenleben. Westliche Ansichten wie „ein Gewitter reinigt die Luft“ oder „gut, dass mal alles gesagt wurde“ treffen in China auf Kopfschütteln. Je weniger Reibung, desto besser. Schon aus diesem Grund sind Menschen, die sich über die Masse erheben oder gar auf Kosten anderer profilieren wollen, wenig beliebt. Dies gilt auch in der Geschäftswelt! Was nicht heißt, dass es nicht auch in China Angeber und Aufschneider gibt, Profiteure, die sich die Ergebnisse anderer ans Revers heften. Sie mögen erfolgreich sein, gelten aber sicher nicht als kultiviert. Oder sie agieren einfach diskreter. Vielleicht beherrschen daher viele Chinesen taktische Spiele weitaus besser als wir Westler? Direkte Konfrontationen sind in China selten. In einer Diskussion argumentativ zu gewinnen, zieht nicht zwangsläufig die Bewunderung der Zuschauer nach sich, gilt doch das Pochen auf den eigenen Standpunkt als ungehobelt. Konsens statt Mehrheitsentscheidungen lautet die Devise am Arbeitsplatz genauso wie in der Politik! Logik ist zweitrangig – nur wenn sich alle an der Diskussion Beteiligten mit der Lösung „wohlfühlen“, beginnt der nächste Schritt,
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die Umsetzung. Wer trotz Konsensbestrebungen abweichender Meinung ist, wird mit großer Wahrscheinlichkeit seine Gefühle im Zaum halten – um andere nicht zu beschämen oder sie nicht das Gesicht verlieren zu lassen.
Nur nicht auffallen! Auch politisch war es in China nicht immer ratsam, seine eigenen Ansichten allzu deutlich zur Schau zu tragen. Wer wusste in der Volksrepublik schon, was die nächste politische Kampagne bringen würde? Selbst führende Politiker fielen Intrigen und Kurswechseln zum Opfer. Lange Jahre sollten die Menschen dem Ideal des selbstlosen Arbeiters nachstreben, der seine eigenen Bedürfnisse total dem Aufbau des Sozialismus und den Massen unterordnete. Für Frauen galt zudem: Nicht dem bürgerlichen Schönheitsideal nacheifern, sondern anpacken und den bourgeoisen Tand und Flitter über Bord werfen. Wer braucht schon Lippenstift und Stöckelschuhe für die Revolution, den Kampf für die sozialistische Gesellschaft? Gleichförmig, in einem großen Heer sozialistisch beseelter Kämpfer, sollte der Mensch den staatlich vorgegebenen Zielen folgen. Wer wollte sich da optisch noch von der Masse abheben? Vor allem in der Kulturrevolution (1966 – 1976) wurde es lebensgefährlich, optisch aufzufallen: Auf der Jagd nach „kapitalistischen Elementen“, „Rechtsabweichlern“ und „bürgerlichen Revisionisten“ waren die Roten Garden nicht pingelig: Sogar die Frisur, die Kleidung, ja vermeintliche Kleinigkeiten wie ein ausgefallenes Accessoire oder ein westlicher Musikgeschmack dienten als Beweis für politische Verfehlungen und konnten unschuldige Menschen ins Verderben stürzen. Die Uniformität der Masse bot also Geborgenheit und Schutz vor Verfolgung. Kein Wunder, dass lange Zeit Bilder gleichförmiger Menschenmassen das westliche Chinabild prägten: Männer im Mao-Anzug, Frauen mit langen schwarzen Zöpfen, allesamt blau gekleidet und mit einem schwer lesbaren
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Gesichtsausdruck. Wer hätte in diesen Zeiten auch offensichtlich unzufrieden dreinschauen wollen? Wie sehr die Politik die Mimik beeinflusst, kann auch der Ungeübte in den chinesischen Küstenstädten sehen: Man muss kein Psychologe sein, um die gewaltigen Unterschiede zwischen den Passanten aus dem Jahr 1990 und denen aus 2010 zu sehen. Verliebte Pärchen mit glasig-glücklichem Blick, angestrengt telefonierende Geschäftsleute, laut schimpfende Marketender – sie alle waren 1990 noch nicht auf den Straßen zu sehen! Auch in den Diskotheken sind die Chinesen von heute nicht wiederzuerkennen: Amüsierten sich westliche Besucher vor zwanzig Jahren noch über das steife Gezappel, tritt heute eine Generation von Tänzern aufs Parkett, die sich kein bisschen vom Westen unterscheidet.
Ein Handschlag zu viel Eine freiere Gesellschaft macht sich also nicht nur in der Mimik, sondern auch in der Körpersprache bemerkbar. Dennoch: Wenn es um die Gestik geht, sind die Unterschiede zwischen Ost und West immens! Was in Deutschland als „kernig“ oder „männlich“ durchgeht, wirkt in China ungehobelt und roh. Bedrohliche oder aggressive Gesten sind in einem kultivierten Umfeld absolut verpönt! Voller Tatendrang die Faust in die offene Hand schlagen oder im Siegestaumel die Faust gen Himmel zu recken wirkt auf Chinesen abschreckend. Schlimmer noch ist der Knochenbrecherhandschlag, mit dem westliche Männer hin und wieder Stärke demonstrieren wollen. Ausschweifende Arm- und Handbewegungen werden eher als Gefuchtel, denn als Leidenschaft empfunden. Und selbst wenn: Es schickt sich doch sowieso nicht, Leidenschaften so offen zu zeigen! Dennoch sollte man nicht dem Fehlurteil aufsitzen, in China gäbe es keine Gestik. Sie ist nur dezenter, minimalistisch, und erschwert die interkulturelle Kommunikation. So ist es herablassend, jemanden mit der westlichen Geste heranzuwinken. Stattdessen winkt man mit der Handfläche nach unten (der amerika-
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nische Chinajournalist Peter Hessler bezeichnet es in seinen Büchern treffend als „den unsichtbaren Hund tätscheln“). Auch die Geste des Nickens scheint dem westlichen Betrachter bekannt. Doch während sie in Europa als Zustimmung gewertet wird, bedeutet sie in China nur „ich höre“. Die Reihe der schwierigen Gesten wäre endlos weiterzuführen – ein echter Klassiker ist die deutsche Zwei-Finger-Geste für die Zahl zwei, mit der sich Neulinge in China versehentlich acht Bier bestellen. Expressive Mimik und Gestik wirken auf viele Chinesen nicht zuletzt kindlich. Junge Frauen benutzen dieses Kindchenschema hin und wieder, wenn sie „süß“ oder hilflos wirken wollen.
Die bedrohliche Masse Psychologische Probleme bei interethnischen Kontakten, unterschiedliche Dekodierung von Mimik und Gestik – das alles klingt unausweichlich. Doch vielleicht erscheinen uns Chinesen oft als „gleichförmig“ und verwechselbar, weil wir glauben, dass sie gleich sind. Der Mythos von den blauen Ameisen, die wie ferngesteuert arbeiten und ohne aufzumucken sich jedem unterwerfen, sich emotionslos die Welt untertan machen, dem Westen nach dem Wohlstand trachten, dieser Mythos zeugt von Angst. Was, wenn Europa neben China in der Bedeutungslosigkeit verschwindet? Wenn China alle Rohstoffe verbraucht, die Europa bisher quasi grenzenlos zur Verfügung standen? Was, wenn nicht mehr die europäische Sicht der Dinge, sondern die asiatischen Standards weltführend werden? Wenn der Westen dem einzelnen Chinesen pauschal alle Individualität abspricht, lässt es sich viel leichter den Vorurteilen frönen. Diese negative Einstellung macht sich wiederum bei der Wiedererkennungsleistung und Emotionserkennung bemerkbar. Vielleicht ist es ganz simpel so, dass wer China mag, einfach mit mehr Interesse auch die Menschen anschaut. Vielleicht wirken Menschen, die man nicht gut wiedererkennt, bedrohlicher. Die Fremde wird überschaubar, wenn man persönliche Kontakte
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knüpft. In dieser Hinsicht ist die Fähigkeit, die Kontaktperson überhaupt wiederzuerkennen, natürlich essentiell. Aber auch umgekehrt funktioniert die Rechnung: Wer sich mit der Emotionserkennung leichter tut, erntet schneller positive Resultate, sei es bei geschäftlichen Verhandlungen oder bei der Integration in die chinesische Gesellschaft.
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Die chinesische Mauer kann man sogar vom Mond aus sehen Sie ist das Symbol Chinas schlechthin! Groß, beeindruckend und mehr als zweitausend Jahre alt – der Beweis, dass China auf eine lange, großartige Kulturgeschichte zurückblicken kann. Derart gigantisch ist sie, dass man sie sogar vom Mond aus sehen kann! So zumindest leiern viele Fremdenführer ihr Sprüchlein herunter, während im Hintergrund die Touristenscharen in Badaling, dem klassischen Mauerzugang, das restaurierte Monument bestaunen, um sich später mit einem „I climbed the Great Wall“-T-Shirt zu schmücken. All die aufdringlichen Souvenirhändler, Marketender mit klapperndem und trötendem Spielzeug, gefälschten Uhren und T-Shirts, die gefühlten fünf Millionen anderen Besucher, die ausgerechnet zeitgleich die Mauer erklimmen, all der Rummel und Lärm können nicht darüber hinwegtäuschen: Wir Westler lieben die Mauer. Sie ist historisch beeindruckend, gewaltig, ja sogar landschaftlich durchaus reizvoll, wie sie sich schlangengleich an die zerklüfteten Hänge der kargen Landschaft klammert. Historisch steht sie für den ewigen Konflikt zwischen den nomadischen Steppenvölkern und den sesshaften Bauern der Han-Chinesen: Die ideale Leinwand für ein großes Historienepos! Denn dort, wo die Mauer verläuft, im Norden Chinas an der Grenze zur mongolischen Hochebene, stoßen seit jeher zwei geografisch und kulturell völlig unterschied-
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liche Welten aufeinander. Auf der einen Seite die chinesischen, wenig wehrfähigen Han-Bauern, auf der anderen Seite die wilden nomadischen Reitervölker, die ihre Einkünfte durch Viehzucht immer wieder durch gelegentliche Raubzüge in den Süden aufbesserten. Diplomatisch ließ sich der Konflikt nur schwer lösen – nicht zuletzt, weil sich die Han-Chinesen den Barbaren immer kulturell überlegen fühlten und Verhandlungen mit den nomadischen Völkern oft als unter ihrer Würde betrachteten. Aber auch die Nomaden erwiesen sich selten als verlässliche Verhandlungspartner: Wenn die Lebensmittel knapp wurden, vergaßen die Anführer einfach ihre Abkommen. Warum also, müssen sich schon die Chinesen der Frühgeschichte gedacht haben, ignorieren wir die Angreifer nicht einfach, grenzen sie aus? Am besten durch eine Mauer! Man muss dazu sagen: Mauern gibt es in China seit jeher überall. Sie sind geradezu symbolisch für die chinesische Gesellschaft, die sehr genau zwischen „innen“ und „außen“ unterscheidet und jedem Menschen einen klar definierten Platz im menschlichen Miteinander zuweist. Die Urangst vor dem Chaos verlangt nach einer klar strukturierten Welt, nach übersichtlichen Ordnungen und Hierarchien. So wie sie auch der Konfuzianismus vorschreibt. Vor allem im Norden des Landes sind Mauern sichtbare Strukturierungen, die die Menschen auf ihren (richtigen) Platz verweisen und in kleine Gruppen einteilen. Einst lebten die Menschen in Hutong-Wohnhöfen, die sich mit hohen Mauern von der Straße abgrenzten, unter Maos Herrschaft waren es die Danwei-Einheiten, die für alle Aspekte des Lebens zuständig waren. Bis vor wenigen Jahren gestaltete sich eine Radtour durch die Wohnviertel Beijings vor allem als Fahrt entlang grauer Mauern, die so hoch waren, dass man auch vom Fahrradsattel aus nie auf die andere Seite schauen konnte. Wer sich lang genug diesem Umfeld aussetzt, mag irgendwann auch die hanebüchensten Übertreibungen über die Große Mauer glauben.
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Historisches Patchwork Um es gleich zu sagen: Sie existiert. Doch die Vorstellung einer langen, ununterbrochenen Mauer quer durch China ist irreführend. Ganz im Gegenteil, es handelt sich um wahre Flickschusterei, ein Gewirr von Mauern, alten und neuen Teilen, Überresten aus vergangenen Dynastien, verwitterten Erdwällen, imposanten Steinbauten, aufgegebenen Stücken und renovierten Abschnitten, die teils sogar parallel verlaufen. Hin und wieder bezeichnen Forscher wie der Archäologe Sir Aurel Stein die Mauer als „chinesischen Limes“ – ein Vergleich, der die Mauer weitaus besser charakterisiert, als der Titel „Große Mauer“. Alt ist die Idee aber allemal. Bereits in der Zhou-Dynastie (਼ᳱ, 1045 – 256 v. Chr.) sind erste befestigte Wallanlagen am Nordrand des damaligen Staatsgebietes belegt. Beeindruckend waren sie wohl eher nicht: Die festgestampfte Erde verwitterte schnell und musste immer wieder erneuert werden. An Stellen, die sich ohnehin leicht verteidigen ließen oder sich nicht für eine militärische Invasion eigneten, verzichtete man oft komplett auf die Mauer und ließ nur hier und da einen Wachturm errichten. Ob es dabei allerdings nur um den Schutz vor nomadischen Völkern ging, ist zweifelhaft. Immerhin waren diese Wälle oft weit in das traditionelle Land der „Barbaren“ hineingebaut – wahrscheinlich handelte es sich eher um eine Maßnahme der Landgewinnung als der Verteidigung! Nicht zuletzt konnte man mit Mauern auch verhindern, dass sich all die unter Zwang umgesiedelten Wehrbauern aus dem Staub machten. Auch all jene, die sich lieber den Nomaden angeschlossen hätten, anstatt den vorgeschriebenen Wehrdienst abzuleisten, hielten die Mauern zurück. Gegen Ende der Zhou-Dynastie, der Zeit der Streitenden Reiche (ᰖҷ, 476 – 221 v. Chr.) verdichtete sich das Mauernnetzwerk. Allerdings nicht nur als Schutz vor den Reitervölkern der Steppe, sondern vor allem vor den Angriffen der benachbarten Fürstentümer. Dies übrigens vergeblich, denn 256 v. Chr. setzte Ying Zheng aus dem Fürstentum Qin an, die gesamte Region zu erobern und
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gründete 221 v. Chr. das erste chinesische Kaiserreich. Unter dem Namen Qin Shihuangdi (⾺ྟⱛᏱ), „Erster Kaiser von Qin“, nahm er allerhand megalomane Großprojekte in Angriff, darunter die Armee der Tonsoldaten, die ihn im Jenseits schützen sollte – und die Große Mauer! Viele Teilstücke der Zhou-Zeit wurden zu einem Bauwerk verbunden, an anderen Stellen ließ er völlig neue Mauern anlegen. Zahllose Menschen kamen auf seinen Baustellen ums Leben, denn Qin Shihuangdi war nicht gerade für seine menschenfreundliche Haltung bekannt. Letztlich sollte die gnadenlose Personalpolitik an der Mauer auch das Ende der Dynastie einleiten: Ein Jahr nach dem Tode Qin Shihuangdis verspätete sich der Aufseher Chen She auf dem Weg zur Mauer – ein Vergehen, das ihm und den 900 Strafgefangenen in seiner „Obhut“ ganz sicher die Todesstrafe eingebracht hätte. Kein Wunder, dass er lieber rebellierte! Erfolgreich übrigens: Wenige Jahre später ernannte sich der Aufständische Bauernführer Liu Bang zum Kaiser der neuen Han-Dynastie (∝ᳱ). In Bezug auf die Mauer änderte sich auch unter den Han erst einmal wenig. Wie in allen folgenden Dynastien schwankten die Regenten zwischen Diplomatie und Mauerbau. Vor allem der Stamm der Xiongnu machte den Chinesen zu schaffen: Abertausende von Soldaten starben in den Schlachten zwischen den nomadischen Invasoren und den chinesischen Truppen, mindestens genauso viele wurden versklavt. Auch die hunderttausende für die Schlachten benötigten Pferde mussten gekauft und unterhalten werden. Im Falle eines Sieges hieß es zudem, großzügig Belohnungen zu verteilen. Bei der Finanzierung dieser kostspieligen Schlachten machten es sich die Han-Kaiser einfach: Wiederholte Steuererhöhungen sorgten für volle Kriegskassen. Je nach aktuellem politischen Kurs wurden Zwangsrekruten für die Feldzüge oder Zwangsarbeiter für den Mauerbau ausgehoben. Rund 10 000 Kilometer Wallanlage sollen in der Han-Dynastie gebaut worden sein – der vorherige QinKaiser kam immerhin auf 5 000 Kilometer. Keine schlechte Leistung, bedenkt man, dass er nur wenige Jahre an der Macht war!
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Auch in den folgenden Dynastien blieb der Mauerbau ein immerwährendes Thema. Selbst nicht-chinesische Herrscherhäuser wie die Wei-Dynastie (࣫儣ᳱ, 385 – 534 n. Chr.) wussten nur zu gut, welche Gefahr aus dem Norden drohte, schließlich waren sie ja von dort gekommen. Besonders vehement kümmerten sich wieder die Kaiser der Sui-Dynastie (䱟ᳱ, 581 – 618 n. Chr.) um den Schutzwall – und scheiterten prompt daran. Innerhalb weniger Jahre starben fast eine Million Menschen beim Bau des Kaiserkanals und bei Erweiterungsarbeiten der Mauer. Das gebeutelte Volk rebellierte – und brachte die Tang-Dynastie (ᳱ, 618 – 907) an die Macht. Bei aller Bewunderung für die Mauer soll ein Aspekt jedoch nicht unerwähnt bleiben: Sie war nutzlos! Bei einer derart langen Grenze, wie sie China und die mongolische Steppe trennt, ist es schier unmöglich, einen absolut dichten Wall zu errichten. Immer wieder umrundeten die Reiterhorden ganz einfach die Mauer – oder bestachen korrupte Wachleute an den Toren. Genau so gelang es den Truppen des Kublai Khan, im Jahre 1279 ganz China zu erobern. Bis 1368 blieb China unter der Schreckensherrschaft der Mongolen. Als der Rebellenführer Zhu Yuanzhang mithilfe der Geheimgesellschaft der Roten Turbane die Mongolen im Jahr 1368 aus China verjagte und sich selbst zum Kaiser der Ming-Dynastie (ᯢᳱ) machte, hatte das Land ein wahrhaft traumatisches Jahrhundert hinter sich. Rund ein Drittel aller chinesischen Gelehrten und Intellektuellen war den Mongolen zum Opfer gefallen. Nie wieder sollte ein Reitervolk China erobern! Trotz alledem zeigte Zhu (nunmehr unter dem Regierungsnamen Hongwu, ⋾℺) erst einmal wenig Interesse an Mauern und versuchte lieber, sich die Kriegstaktiken der Barbaren zu eigen zu machen. Sein Nachfolger Yongle hingegen unterschätzte die Gefahr und gab sogar zahlreiche Garnisonen nördlich von Beijing auf. Ein Fehler, wie sich später herausstellen sollte, denn es folgten zahlreiche Übergriffe aus der Steppe. Ende des 15. Jahrhunderts wusste man sich schließlich am Kaiserhof nicht mehr zu helfen und begann in noch nie dagewesenem Umfang, die Mauer zu renovieren und auszubauen.
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Von nun an sollte die Mauer erstmals dem heute gängigen Bild entsprechen, denn anders als in all den Dynastien zuvor, wurden nun Ziegel und Steine verwendet. Werkstoffe also, die mühsam herbeigekarrt und unter größten körperlichen Anstrengungen die steilen Berge hinaufgetragen werden mussten. Im Jahr 1547 waren bereits 850 Kilometer fertiggestellt, samt Wachtürmen und teils sogar mehrfacher Verstärkung. Der Erfolg war, wie immer, bescheiden: Im Jahre 1550 umritten die Mongolen unter Altan Khan wieder einmal die Mauer – ein mehrtägiger Umweg, der die Kampfkraft der Horden aber kaum schwächte. Dennoch wurden die Arbeiten kontinuierlich fortgeführt. Nachdem die letzte Lücke im Nordosten Pekings geschlossen war, maß die Große Mauer insgesamt mehr als 6 000 Kilometer! Bis zu zehn Meter hoch ragte sie in der Nähe wichtiger Siedlungen über das Umland. Auf der gepflasterten Krone konnten mehrere Reiter nebeneinander galoppieren. Alle 500 bis 4 000 Meter standen Signaltürme, mit denen im Falle eines Angriffs durch Rauch und Feuer Truppen angefordert werden konnten. Das war die glamouröse Seite. Vielerorts, im abgelegenen, kargen Bergland, war die Mauer weitaus weniger gut in Schuss und mit Soldaten bemannt, die weder angemessene Kleidung für die kalte Region besaßen noch ausreichend ernährt wurden. Dennoch war der Unterhalt der Mauer insgesamt ausnehmend teuer, und schlug sich, wie oft in der Geschichte Chinas, in Form von hohen Steuern nieder. Im 17. Jahrhundert wurden noch einmal wichtige Abschnitte restauriert – gerade rechtzeitig für die Invasion der Mandschus, die sich natürlich nicht abhalten ließen. 1644 ließ der Garnisonskommandeur Wu Sangui in Anbetracht der drohenden Niederlage den mandschurischen Fürsten Nurhaci einfach durch die Mauer schlüpfen und leitete damit das unspektakuläre Ende der Ming-Dynastie ein.
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Aus der Sicht des Auslands Eigentlich hätte die Machtergreifung der Mandschus das Ende der Mauer bedeuten müssen. Denn die neue, mandschurische QingDynastie herrschte beiderseits der Mauer und hatte wenig Interesse, sich von ihrem traditionellen Siedlungsgebiet abzugrenzen. Und doch begann skurrilerweise mit dem Dynastienwechsel und dem Ende der Bauarbeiten der erste bescheidene internationale Ruhm. Bereits unter den Ming waren erste Jesuiten nach China gekommen. Unter der Herrschaft der Qing, Ende des 17. Jahrhunderts, traten viele in den Dienst des Kaisers und verdingten sich als Astronomen und Techniker. Allen voran Ferdinand Verbiest, der zusammen mit dem Herrscher Kangxi viele Reisen in den Norden unternahm und sich von der Größe der Mauer absolut beeindruckt zeigte. Generell waren die jesuitischen Berichte von großer Sinophilie gezeichnet. Zum einen, weil sie zu den wenigen Besuchern und Ausländern überhaupt gehörten, die perfekt Chinesisch sprachen und damit wirklich Zugang zu den kulturellen Errungenschaften hatten. Zum anderen aber kamen die Jesuiten den Chinesen weit entgegen – viel weiter, als der Vatikan langfristig zu tolerieren bereit war. In der Diskussion um diese umstrittene Haltung verwiesen die Missionare immer wieder auf die hochstehende und beeindruckende Kultur Chinas. Kein Wunder, dass auch die gigantische Mauer viel Erwähnung fand, zumal die Jesuiten meist nur ihre neuesten Teilstücke nahe Beijing kannten. Ebenfalls beeindruckt zeigte sich die britische Gesandtschaft von 1793, die um die Aufnahme von Handelsbeziehungen mit dem chinesischen Kaiserreich bat (und kläglich scheiterte). Inmitten einer abweisenden, exotischen Welt, die ihnen fast völlig unverständlich war – dies nicht nur aus kulturellen Gründen, sondern auch, weil es sich der einzige Übersetzer auf dem Weg nach China anders überlegte und heimlich entschwand – schien die Mauer eine zur Abwechslung sehr verständliche, eindeutige Markierung: Eine Grenze zwischen China und dem Ausland, eine zu Stein ge-
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wordene Manifestation dessen, was seit Jahrhunderten alle westlichen Besucher (übrigens auch eine Art der Barbaren, zumindest aus chinesischer Sicht) mehr zu fühlen als zu wissen schienen: Die große, unüberwindbare Mauer von kulturellen Unterschieden, eine mentale Mauer, die äußerst effektiv alle unerwünschten ausländischen Einflüsse fern hält, ohne dass man sie greifen oder überwinden könnte. Als sich China nach dem Opiumkrieg 1842 dem Ausland öffnen musste, strömten Händler und Forscher ins Land – und staunen ebenfalls nicht schlecht über die „Große Mauer“. Da den meisten westlichen Reisenden und Gesandten des 19. Jahrhunderts der Zugang zu historischen Originaldokumenten fehlte (schlicht, weil sie in der Regel Chinesisch nicht verstanden und schon gar nicht lesen konnten), wurde das Bauwerk immer weiter verklärt. Zweitausend Jahre sei es alt, und so groß, dass es alle Angriffe aus dem Norden habe abwehren können. Aus dem architektonischen Kuriosum wurde ein Weltwunder, ein Superlativ. Kurzum, die Mauer wurde zum Symbol Chinas, das ganz vortrefflich das Reich der Mitte auf einen Begriff reduzierte: Gigantisch, unverständlich, beeindruckend, mit einer historischen Vergangenheit, für die man es bewundern konnte – und doch beruhigend rückständig zugleich. Denn erfolgreich war das Projekt unterm Strich nicht wirklich, zumal immer wieder korrupte Wächter die Tore der Mauer öffneten. Aber vielleicht ist es ja gerade dieser tragische Zug, der uns im Westen die Mauer umso faszinierender erscheinen lässt. Irgendwie menschlich, sympathisch defensiv.
Wie der Mond ins Spiel kam Die ersten Behauptungen, man könne die Mauer vom Mond aus sehen, stammen übrigens aus dem Jahr 1893 aus der Feder des Millionärs Robert Ripley. Eine reine Vermutung natürlich, und ein
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eher ungeschickter Versuch, einen noch größeren Superlativ zu finden. Wer hätte damals schon davon geträumt, diese Aussage ließe sich eines Tages verifizieren! Trotzdem sollten die Chinesen dieses Bild ein Jahrhundert später bereitwillig aufgreifen. So stark war und ist der Glaube daran, dass sich der US-amerikanische Astronaut Neil Armstrong im Jahr 1969 von einigen Wolkenbändern foppen ließ und den Irrtum bestätigte. Im verzweifelten Versuch, diesem Superlativ noch einen SuperSuperlativ aufzusetzen, behauptete der Wissenschaftler und Chinakenner Joseph Needham wenig später, man könne die Mauer sogar vom Mars aus sehen. In China selbst dauerte es recht lange, bis sich die Historiker für das Bauwerk interessierten. Über viele Dynastien hinweg war die Mauer ein funktionales Bauwerk, das vor allem interessant war, wenn es konkrete Bedrohung aus dem Norden gab. In der Bevölkerung war die Mauer mit negativen Assoziationen verknüpft. Sie stand für Zwangsarbeit, Entbehrungen, grausig kalte Militärdienste, die ständige Bedrohung durch nomadische Völker und das gefährliche Leben in einem kargen Landstrich. Für Millionen Tote, Zwangsrekrutierte und all die armen Teufel, die „schnell mal Zigaretten holen gingen“ (um es mal in einen modernen Kontext zu setzen) und nie wieder kamen, weil sie unterwegs von Soldaten aufgegriffen und zwangsverpflichtet wurden, und all die Familien, denen damit der Ernährer fehlte. Erst in den 1930ern wurde die Mauer zum Symbol vergangener Größe, zum Beweis, dass die chinesische Zivilisation zu Großem fähig ist. Nicht ganz unerheblich war die japanische Aggression, die der Mauer 1933 eine weitere Portion heroischen Symbolismus bescherte. Nachdem die japanischen Truppen die Mandschurei überfallen und dort den Marionettenstaat Manschukuo errichtet hatten, schickten sie sich an, von dort aus weiter ins chinesische Kernland einzudringen. Im März 1933 kam es zu einer gewaltigen Konfrontation an der Großen Mauer – auf der einen Seite die hoffnungslos unterlegenen chinesischen Truppen diverser War-
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lords, auf der anderen Seite der Mauer die japanischen Streitkräfte. Obwohl die Chinesen letztlich unterlegen waren und die Mauer nicht halten konnten, dauerte es fast zwei Monate bis die Japaner die strategisch wichtigsten Orte erobert hatten. Noch einmal wurde die Mauer als Symbol bestärkt, das die Barbaren von den Chinesen trennte, als Symbol des Patriotismus und des Widerstands gegen die Barbaren. Dennoch wurden in den ersten Jahrzehnten der Volksrepublik nur wenige Kilometer der Mauer nahe Badaling renoviert und in Stand gesetzt. In der Zeit der Kulturrevolution galt die Große Mauer wieder als Symbol des Feudalismus. Dass die Roten Garden ihr vergleichsweise wenig Schaden zufügten, lag schlicht daran, dass selbst revolutionärer Eifer in Anbetracht dieser Gesteinsmassen in kurzer Zeit wenig ausrichten kann. Dennoch wurden Teile der Mauer niedergerissen und die Steine für Bauarbeiten benutzt. 1984 schließlich nahm sich der Reformer Deng Xiaoping der Mauer an. In einer groß angelegten Kampagne wurden weitere Kilometer der Mauer nördlich von Beijing in Stand gesetzt, 1987 bekam die Große Mauer den Status als Weltkulturerbe anerkannt. Die große Entzauberung kam 2003. Auf der ersten chinesischen bemannten Expedition ins All musste der chinesische Astronaut Yang Liwei der Nation die lieb gewonnene Illusion rauben: Nein, sie ist nicht sichtbar. Wer sich die Mauer selbst anschaut, mag es glauben: Sie ist interessant, sicher eine architektonische und historische Meisterleistung, ein wirklich langes Bauwerk (weshalb sie auf Chinesisch auch „Lange Mauer“ heißt). Nur eines ist sie nicht: groß. Auch ohne Kenntnisse der Raumfahrt oder Physik ist ziemlich eindeutig, warum man sie nicht sehen kann. Weil man sonst quasi jede sechsspurige Autobahn vom Mond aus sehen könnte. Heute hat die Große Mauer ihren militärischen Sinn ganz sicher verloren, wohl aber einen Nachfolger gefunden. 1996 wurde sie durch den Great Firewall des Büros für Öffentliche Sicherheit er-
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setzt, der unerlaubte, westliche Inhalte aus dem chinesischen Internet fernhalten soll. Wie sein steinernes Vorbild funktioniert auch dies übrigens nur partiell. Trotzdem: Die Große Mauer bleibt überall präsent. Als Symbol für die Größe Chinas, für die lange Kulturgeschichte, für die Abschottung vom Ausland und anderes. Mittlerweile ist es längst egal, ob man sie vom Mond aus wirklich sehen kann – was übrigens noch immer viele vermuten. Vielleicht hat der Astronaut Yang einfach nur nicht gut genug hingeschaut?
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China existiert seit 5 000 Jahren Kein chinesisches Geschichtsbuch, kein Reiseführer und erst recht keine offizielle Darstellung kommen ohne dieses Klischee aus: Auf beeindruckende 5 000 Jahre Geschichte blickt China mittlerweile zurück! Damit darf sich das Reich der Mitte immerhin in der Riege der frühen Hochkulturen wie der Ägypter, Sumerer, Babylonier und Kreter einreihen. Auch auf die indische Harappa-Zivilisation (2600 – 1800 v. Chr.) muss China nicht neidisch blicken, kann sie doch mit der Xia-Dynastie (ᳱ, 2200 – 1600 v.Chr.) aufwarten. Der Besuch von Geschichtsmuseen wie dem Nationalmuseum von Beijing oder dem Shanghai History Museum untermauert diese These: Schon früh gab es auf dem heutigen Territorium Hochkulturen, deren Artefakte auch den Laien auf den ersten Blick beeindrucken. Das besondere am chinesischen Geschichtsmythos freilich ist: China bescheinigt sich selbst nicht nur 5 000 Jahre Geschichte, sondern auch die längste ununterbrochene Kulturgeschichte der Erde. Auf den ersten Blick scheint diese Zahl gar nicht so abwegig. Bereits früh in der Urgeschichte war das heutige Staatsgebiet Chinas besiedelt. Neolithische lokale Kulturen wie die Peiligang-Kultur (㻈ᴢያ᭛࣪, 6500 – 4900 v. Chr.), die HemuduKultur (⊇ྚ⏵᭛࣪, 5000 – 3300 v. Chr.) des Yangzi-Deltas oder die Yangshao- (ӄ䷊᭛࣪, 5000 – 3000 v.Chr.) und LongshanKultur (啡ቅ᭛࣪, 3000 – 2000 v. Chr.), um nur die bekanntesten unter einer Vielzahl von neolithischen Kulturen zu nennen, beein-
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drucken mit filigranen Töpferwaren. Allerdings liegt Vieles noch im Dunkeln, wenn es um die Frühgeschichte Chinas geht. Immer wieder zwingen neue, sensationelle Funde die Wissenschaftler dazu, die Geschichte umzuschreiben. Über viele Kulturen wird man wohl nie völlige Klarheit bekommen. Etliche verschwanden sangund klanglos, einige gingen in benachbarten Kulturen auf, von anderen verliert sich schlicht die Spur. Eines jedoch scheint sicher: Mit dem heutigen China haben diese Kulturen nur wenig zu tun.
Mythischer Beginn Die erste „historische“ Dynastie der Xia wird auf die Zeit von 2200 – 1600 v. Chr. datiert. Doch auch über sie weiß man bis heute nur wenig. Vielleicht ging sie aus der bronzezeitlichen Erlitou-Kultur (Ѡ䞠༈᭛࣪, 2000 – 1500 v. Chr.) hervor, vielleicht auch nicht, in älteren Quellen wird sie manchmal als Nachfolger der LongshanKultur in Erwägung gezogen. Nicht einmal die Existenz der Xia an sich ist bewiesen. Denn Vieles, was in den letzten Jahrtausenden überliefert wurde, fällt eindeutig ins Reich der Mythen – und ist damit wenig als historischer Beweis geeignet. So sollen die gottgleichen „Drei Erhabenen“ (Sanhuang) Fuxi, Nügua und Shennong den Menschen die zivilisatorischen Errungenschaften gebracht haben, gefolgt von den fünf mythischen Urkaisern (Wudi) Huangdi („Gelber Kaiser“, 2674 – 2575 v. Chr.), Zhuanxu (2490 – 2413 v. Chr.), Ku (2412 – 2343 v. Chr.), Yao (2333 – 2234 v. Chr.), Shun (2233 – 2184 v. Chr.). Ihr Nachfolger, der Jadekaiser Yu, führte schließlich die Erbfolge ein und begründete damit die Xia-Dynastie. Von den beeindruckend genauen Jahreszahlen und Regierungsdaten sollte sich der Leser allerdings nicht foppen lassen, sie sind keineswegs archäologisch belegt! Sicher ist: Irgendwann rund um das Jahr 1600 v. Chr. kamen die Shang (ଚᳱ) an die Macht. Wahrscheinlich handelte es sich um einen rivalisierenden Staat, der das Territorium der Xia, so sie denn existierten, einfach annektierte. Immerhin: Die Existenz der Shang ist zweifelsfrei belegt. Denn sie
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erfanden nicht nur die chinesische Schrift, wie sie im Prinzip (wenn auch stark weiterentwickelt) heute noch verwendet wird, sondern hinterließen auch zahlreiche, mit schriftlichen Fragen verzierte Orakelknochen. Gerade die Schrift wird immer wieder als Zeichen eines chinesischen Kulturkontinuums gewertet (womit China immerhin auf rund 3 600 Jahre Kulturgeschichte käme). In diesem Zusammenhang stellt sich freilich ganz generell die Frage: Seit wann ist China wirklich „chinesisch“? Ab wann empfanden sich die Chinesen selbst als zusammengehörig, als Teil einer gemeinsamen Kultur? Ist die heutige Kultur eine logische Weiterentwicklung der frühen Dynastien? Und wenn ja – was ist heute typisch chinesisch? Ist es die Kultur der Han-Ethnie, also den Menschen, die wir heute auch als Ausländer als typisch chinesisch empfinden, die mit einem der Mandarin-Dialekte als Muttersprache aufwachsen und in der Welt der chinesischen Religionen zu Hause sind? Doch wie steht es dann mit den Hui, den Han-Chinesen moslemischen Glaubens? Gehören sie auch dazu? Gar nicht zu reden von all den Uighuren, Tibetern und zahlreichen Minoritäten, die große Flächen Chinas bevölkern. Die Grenze zwischen „chinesisch“ und „unchinesisch“ verlief in historischen Zeiten meist dort, wo Ackerbau nicht mehr möglich war oder die Menschen nicht mehr ausreichend ernähren konnte. Mit dem Wechsel von sesshafter Ackerbaukultur zur nomadischen Lebensweise der Steppen ging eine große Anzahl an kulturellen Aspekten einher. Diese Grenze war nicht fest, sie variierte nicht zuletzt, weil sich beide Seiten immer wieder bemühten, den eigenen Lebensraum auf Kosten des anderen zu erweitern. Auch heute noch sind diese Gebiete, deren Kultur nicht als Han-chinesisch empfunden wird, leicht zu erkennen: Sie werden fast alle als autonome Regionen verwaltet: Xinjiang im Westen Chinas, Tibet, die Innere Mongolei, das moslemische Ningxia im Nordwesten und nicht zuletzt die autonome Region Guangxi mit ihren vielen Minoritäten.
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Nicht zuletzt muss sich China der simplen Frage stellen: Was ist überhaupt eine kontinuierliche Geschichte? Denn nimmt man es genau, hat jeder Ort, jedes Land der Welt vom ersten Zeitpunkt der Besiedlung an eine ununterbrochene Historie (und im Grunde auch schon vorher, nur findet sich eben niemand, der die Ereignisse aufzeichnet). Nicht immer ist historische Entwicklung eine Konsequenz aus dem Vergangenen: Invasionen, Seuchen und Völkerwanderungen, religiöse Bewegungen und Revolutionen verursachen Brüche, bringen jähe Kurswechsel, lassen Kulturen auseinanderdriften oder miteinander verschmelzen und manchmal sich gegenseitig vernichten. Während in Europa archäologische Funde differenziert bestimmten lokalen Kulturen zugewiesen werden, und beispielsweise keltische oder chattische Funde nicht zwingend als Vorläufer der deutschen Kultur gesehen werden, tut man sich in China erheblich leichter, Funde auf chinesischem Staatsgebiet zu Relikten der chinesischen Zivilisation zu erklären. Die Bewohner Chinas dürften sich allerdings bis zur Qin-Dynastie (221 – 206 v.Chr.) kaum als Teil einer großen Nation empfunden haben, sondern als Bürger des jeweiligen Fürstentums, in dem sie lebten.
China wird China Denn erst als der geradezu größenwahnsinnige Herrscher des Fürstentums Qin (das wahrscheinlich auch Namensgeber unseres Ausdrucks „China“ ist) im Jahr 221 v. Chr. seine Nachbarn eroberte und zu einem Einheitsstaat zusammenschmiedete, wurde die grundlegende Struktur für eine gemeinsame Kultur gelegt. Es bleibt freilich anzumerken: Hätte der Qin-Kaiser Qinshi Huangdi nicht so grausam geherrscht und mit megalomanen Projekten wie der Großen Mauer und der Tonarmee historische Maßstäbe gesetzt, er wäre nicht einmal eine halbe Seite im Geschichtsbuch wert: Keine 15 Jahre dauerte seine Herrschaft! Und doch mag der Staat der Qin als wirklicher Beginn der chinesischen Zivilisation zählen. Denn erst der Kaiser Qin Shi Huangdi vereinte China, in-
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dem er alle Fürstentümer gleich unterdrückte, die Schrift und Maße vereinheitlichte, die Infrastruktur förderte und die Macht der lokalen Fürsten erheblich beschnitt. Die folgende Dynastie der Han (∝ᳱ, 206 v. Chr. – 220 n. Chr.) steht zweifelsohne schon in der Tradition einer Kultur, wie wir sie auch heute auf den ersten Blick als chinesisch empfinden würden: Das Beamtentum spielte nun eine wichtige Rolle im Staat, während nach der Staatsdoktrin des Konfuzianismus regiert wurde. Sogar das Staatsgebiet erstreckte sich bereits über große Teile des heutigen Gebietes. Doch nur zwischen den Flüssen Huanghe und Huaihe war das Land wirklich vorrangig von Han-Chinesen besiedelt. Außerhalb dieses Areals lebten die Han vor allem in den Flusstälern, während die höher gelegenen Gebiete von lokalen Völkern, teils austronesischen Ursprungs, bewohnt waren. Im Süden blieben die Han eine echte Minderheit, deren Angehörige den Aufenthalt fern des Kernstaates als bitteres Exil empfanden. Erst in der Tang-Dynastie wuchsen diese Siedlungsgebiete zusammen, um in der Song-Dynastie wenigstens einen Flickenteppich zu ergeben. Bis heute sind die kulturellen Unterschiede zwischen Nord und Süd spürbar, allen patriotischen Kampagnen der frühen Volksrepublik zum Trotz.
Die Mär der Kontinuität Blickt man in eines der vielen Geschichtswerke über China, trifft der europäische Leser vor allem auf die großen Dynastien der Han, Tang, Song, Yuan, Ming und Qing, die auch in Europa bekannt sind. Nur, wer genau nachrechnet, wird dabei feststellen: Diese Darstellung hat große zeitliche Lücken! Die Intermezzi dazwischen, die Zeiten des Zerfalls und der Kriege, fallen in gängigen Darstellungen oft unter den Tisch. Zugegeben: Sie sind nur schwer zu beschreiben, verwirrend und historisch wenig dokumentiert – eben weil es in diesen Zeiten keine Zentralmacht gab, die sich
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Geschichtsschreiber leisten konnte oder wollte und weil viele Schriften verloren gingen. Und doch sind diese chaotischen Phasen von großer Bedeutung. Denn in diesen Zeiten konnten lokale Mächte großen Einfluss gewinnen, wurden die Kaufleute gestärkt, ging die Macht der Bürokraten zurück. Immer wieder brach also das große Kaiserreich auseinander oder wurde von fremden Völkern überrannt und erobert. So zerfiel China nach dem Sturz der glorreichen Han-Dynastie im Jahr 220 für fast 400 Jahre in ein verwirrendes Nebeneinander und Nacheinander kleiner Staaten, die sich allesamt nicht lange an der Macht halten konnten. Bis zum Jahr 280 teilten sich die „drei Reiche“ Wei, Wu und Shu das ehemalige Staatsgebiet der Han und lieferten mit ihren Kämpfen und Kriegslisten den spannenden Stoff für den gleichnamigen Roman von Luo Guanzhong aus dem 14. Jahrhundert – eines der bekanntesten literarischen Werke Chinas. Erst nachdem es im Jahr 280 einem Minister gelungen war, den Wei-Herrscher Cao Huan zu stürzen und sich selbst zum Kaiser der Westlichen Jin-Dynastie zu machen, war China zumindest bis 316 wieder geeint. Historisch blieben die Jin dennoch eine eher unwichtige Dynastie, die bereits nach dem Tod ihres ersten Herrschers von Aufständen geschüttelt wurde. Nach der Flucht der Jin in den Süden erlebte Nordchina eine Abfolge nomadischer Herrscher. Im Süden dagegen konnten sich die Regenten der „sechs Dynastien“ jeweils nur wenige Jahre an der Macht halten. Erst die Sui-Dynastie (581 – 618) konnte das Reich wieder für einige Jahrzehnte zusammenführen, bevor sie den Tang (618 – 907) weichen musste. Doch schon 907 bis 960 zerfiel das Reich abermals in die „fünf Dynastien und zehn Königreiche“, deren jeweilige Regenten sich wenige Jahre auf dem Thron halten konnten. Unterdessen eroberten die Truppen der nomadischen Kitan die Mandschurei sowie einen breiten Streifen Nordchinas, den sie erst im Jahr 1125 an die Dschurdschen verloren. Die Folgedynastie der Song (960 – 1279) ist zwar für ihre kulturellen Errungenschaften bekannt, musste aber schon 1127 die nördliche Hälfte
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des Landes wieder an die besagten Dschurdschen abtreten, die gerade erst die Liao besiegt hatten. Und das war nur der Auftakt für die wirkliche, unvorstellbare Katastrophe, die Horrorvorstellung des klassischen China schlechthin. Denn 1271 gelang es dem Kublai Khan, Neffe des Dschingis Khan, China komplett zu erobern! Bis 1368 dauerte die mongolische Herrschaft – und sie sollte nicht die letzte Fremdherrschaft sein. Auch die Qing (1644 – 1911), die letzte Dynastie Chinas, hatte das Reich von der Mandschurei aus erobert. Immer wieder also musste sich China komplett oder teilweise nomadischen Invasoren unterwerfen – ein Umstand, der auch kulturell prägend war. Dass dies heute kaum mehr auffällt, ist einem simplen Trick geschuldet: Indem man den Fremdherrschern chinesische Namen gab, wurden sie Teil der chinesischen Geschichte. Aus den Mongolen wurde so die Yuan-Dynastie, die Mandschus zu den Qing, die Dschurdschen zur Liao-Dynastie, um nur die großen Beispiele zu nennen. Dies war durchaus auch im Sinne der Eroberer, die sich oft im Licht der nunmehr vermeintlich eigenen Zivilisation sonnten. Mit dem kleinen Namenstrick bekamen sie, quasi als Bonus, zur Herrschaft über China auch noch eine lange Geschichte obendrauf. Ohnehin gaben die einst so harten Reiterhorden schnell den Verlockungen der chinesischen Kultur nach, die nicht ohne Grund als Gipfel der Raffinesse galt. Gaben die Besatzer ihre kalten Jurten zugunsten weicher Betten und warmer Paläste auf, wurden sie schnell zu dem, was die Chinesen einst für sie waren: Die ideale Beute anderer nomadischen Völker und Ziel ausländischer Aggression. Viele der Reitervölker, von den Jin bis zu den Mongolen und den Qing-Mandschus, fielen innerhalb weniger Generationen dem bequemen Lebensstil anheim, übernahmen Verwaltungsstruktur und Sprache und passten sich der chinesischen Lebensform an.
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Kaiserliches Marketing Doch nicht nur wenn es um die Namen geht, heißt es, einen kritischen Blick auf die chinesische Geschichtsschreibung zu werfen. Vieles, was heute als chinesische Geschichte gelehrt wird, basiert auf den Texten des Gelehrten Sima Qian (ৌ偀䖕, 145 v. Chr. – 86 v. Chr.). Sein Werk „Shiji“ (㿬, Geschichtsaufzeichnungen) gehört zu den frühesten und bedeutendsten Dokumenten der chinesischen Geschichtsschreibung. Doch Sima berief sich in seiner Chronik nicht auf schriftliche Quellen, sondern Überlieferungen, Hörensagen und Vermutungen. Nicht zuletzt darf man annehmen, dass Sima Qian bei der Erstellung seines Geschichtswerkes weniger die objektive Wahrheit im Visier hatte, sondern vielmehr das Wohlwollen seines Herrschers. Denn schon einmal, bevor er sich endgültig auf die Geschichtsschreibung beschränkte, war Sima Qian im Jahr 98 v. Chr. in Ungnade gefallen und zur Strafe kastriert worden, nachdem er einen zum Tode verurteilten General verteidigt und dem Kaiser Wudi damit ein wenig zu heftig widersprochen hatte. Einen weiteren politischen Fauxpas hätte der Gelehrte sicher nicht überlebt – warum also den Hals riskieren? Mit dieser Haltung stand Sima Qian nicht alleine da. Ohnehin war Geschichtsschreibung in China nie eine neutrale, nach Objektivität strebende Disziplin. Eher glichen die Historiker modernen Public-Relations-Fachleuten, deren Hauptaufgabe es war, die letzte Dynastie möglichst schlecht aussehen zu lassen und den aktuellen Herrscher besonders positiv darzustellen. Immer wieder wurde die Geschichte umgeschrieben, neu formuliert, wurden die Ereignisse unter neuem Schlaglicht betrachtet. Oder einfach gestrichen. Das Kriterium „wahr“ oder „nicht wahr“ trat im Laufe der Zeit immer mehr in den Hintergrund. Diese „Marketing-Geschichtsschreibung“ sollte nicht nur das Image der Dynastie vor dem Volk verbessern, sondern vor allem den aktuellen Herrscher als vom Himmel bemächtigt darstellen. Denn spätestens seit der Zhou-Dynastie (221 v. Chr. – 220 n. Chr.) beriefen sich die Kaiser auf das Mandat des Himmels (ੑ,
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Tianming), dessen man sich jedoch als würdig erweisen musste. Ein gerechter und guter Herrscher, dem es gelang, Himmel, Kosmos und Erde in Einklang zu bringen, wurde vom Himmel mit einer langen Regierungszeit belohnt. Interessierte sich der Herrscher jedoch nicht mehr für seine politischen Aufgaben, widmete er sich mehr Wein, Weib und Gesang als den Staatsgeschäften, dann war es ein geradezu restaurierender Akt, den Regenten zu stürzen und durch einen neuen zu ersetzen – durch „geming“, einen Mandatswechsel. Heute wird dieser Begriff übrigens mit „Revolution“ übersetzt – was seiner Bedeutung durchaus gerecht wird! Kein Wunder, dass jede neue Dynastie zu ihrer Legitimation ihre Vorgänger erst einmal „schlecht-schreiben“ und als des himmlischen Mandats nicht würdig darstellen musste. Konkurrenz zu dieser offiziellen Geschichte des Kaiserhofes (zhengshi, ℷ, die rechte Geschichte), wie sie von eigens dafür angestellten Staatsbeamten festgehalten wurde, gab es kaum: Inoffizielle, am Ende gar abweichende Darstellungen wurden als „wilde Geschichte“ (yeshi, 䞢) abqualifiziert. Ohnehin konnten nur die wenigsten Menschen lesen und schreiben, so dass die Versuchung, eine eigene Chronik zu verfassen, eher gering war. Zum anderen wäre ein solches Werk sicher schnell ein Werk der Flammen geworden. Denn hin und wieder griffen die Kaiser auch zu radikalen Mitteln, um die eigene Glorie herauszuarbeiten und sich eine herausragende Stellung in der Geschichte des Landes zu sichern. So ließ der Kaiser Qin Shi Huangdi der Qin-Dynastie (221 – 206 v. Chr.) alle philosophischen und historischen Werke verbrennen: Niemand sollte ihn mehr mit den glorreichen Herrschern der Vergangenheit vergleichen oder seine Politik mit den konfuzianischen Ansprüchen messen können! So kann sich China heute paradoxerweise gleichzeitig auf eine reiche Quellenlage stützen – und sich dennoch nicht auf ihre Korrektheit verlassen! Sogar Teile des konfuzianischen Klassikers „Buch der Urkunden“ (shujing oder shangshu, к㒣), einem historischen Werk über
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die legendäre Xia- und Shang-Dynastie, stellten sich als Werke des vierten Jahrhunderts heraus. Auch der Rest des Buches, dessen Texte angeblich aus der Zeit der Xia und Shang stammen sollen, sind wohl erst erheblich später geschrieben worden. Das macht sie nicht weniger interessant, aber eben auch nicht verlässlich. All die anderen konfuzianischen Klassiker wurden nach der großen Bücherverbrennung des Qin-Kaisers Qin Shi Huangdi wieder rekonstruiert. Doch zurück zu Sima Qian: So außergewöhnlich seine Aufzeichnungen sind und so wertvoll sie auch sein mögen – immerhin beschäftigte er sich nicht nur mit den Vorkommnissen bei Hof, sondern auch vielen kulturellen Hintergründen und Biografien – auch sie sind nicht übermäßig verlässlich. Nun mag die Archäologie vieles stützen, was Sima schrieb, belegt aber längst nicht alles. Nicht zuletzt, weil der Archäologe, wie jeder andere Wissenschaftler auch, nur zu finden vermochte, was er suchte. Schon aus diesen Gründen lässt sich die Frage, wann denn die „kontinuierliche“, wirklich chinesische Geschichte beginnt, kaum beantworten.
Wozu dient der Mythos? Bleibt die Frage: Warum pocht man in China eigentlich so sehr auf den Mythos der ununterbrochenen Kultur? Wäre es für die meisten Chinesen nicht nebensächlich, ob die chinesische Kultur nun zwei, drei oder fünftausend Jahre alt ist? Die Antwort ist komplex – und im Grunde auch keine archäologische Frage. Seit jeher betonen die Herrscher des Reiches die verbindenden Elemente Chinas, schließlich ist es nicht gerade einfach, ein so großes Reich zusammenzuhalten. Immer wieder besannen sich Randgebiete auf ihre kulturelle Eigenständigkeit und versuchten, sich vom Kernstaat zu lösen (eine Gefahr, die auch heute noch gegenwärtig ist). Kein Wunder, dauerte die Reise vom nordchinesischen Kaiserhof in Beijing bis ins südliche Kanton noch
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vor wenigen Jahrzehnten viele Tage und Wochen. Dekrete der Herrscher erreichten die Außenposten daher nur mit großer Verzögerung, und so manch ein Fürst unterwarf sich nur ungern den Befehlen des fernen Kaisers. Auch sprachlich gab es große Unterschiede: Während heute die Hochsprache Putonghua, auch als Mandarin bekannt, fast flächendeckend verstanden und zumindest passabel gesprochen wird, konnten sich die Menschen im Alten China über viele Jahrhunderte hinweg nur schriftlich verständigen. „Seht her, so lange sind wir schon eine Einheit!“ lautet daher die willkommene Botschaft des Geschichtsmythos. Und was schon so lange hält, kann so schlecht nicht sein! Nicht zuletzt hängt der Geschichtsmythos eng mit der jüngeren Geschichte Chinas zusammen: Als die Briten im Opiumkrieg (1839 – 1842) China gewaltsam öffneten und den intensiven Kontakt mit dem Westen erzwangen, waren die chinesischen Gelehrten höchst unangenehm überrascht: Wie konnte es sein, dass das Reich der Mitte den vermeintlich primitiven Invasoren so wenig entgegenzusetzen hatte? Ein Schock, der tief saß, zumal die westlichen Mächte in den folgenden Jahrzehnten immer mehr chinesische Gebiete in ihre Gewalt brachten. Erst mit dem Sieg der Kommunisten 1949 wurde China wieder komplett chinesisch – und bekam gleich noch ein paar Jahrtausende Geschichte dazu. Mao Zedong war es wichtig, China in der Reihe der frühen Hochkulturen zu wissen und die Bürger des Landes im Stolz auf eine lange Geschichte zu einen. Die Zeit des Maoismus ist mittlerweile lange vorbei, den Geschichtsmythos hat man in China jedoch lieb gewonnen. Kritik am 5 000-Jahre-Modell kommt auch im modernen China nicht gut an. Für viele Chinesen ist damals wie heute klar, dass die gefühlt beste Kultur der Welt auch die längste Geschichte haben muss – anders als bei den Barbaren!
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Die einzige Wiege der chinesischen Kultur steht am Gelben Fluss Als die Arbeiter der Lanxing Second Brick Factory 1986 nahe Sanxingdui (ϝ᯳ේ) zufällig auf eine Grube mit antiken Jade- und Bronze-Objekten stießen, brach viele tausend Kilometer weiter nordöstlich ein lang gehegtes Weltbild endgültig zusammen. Das Dorf Sanxingdui liegt mitten in der Provinz Sichuan, fast schon am Fuße des Himalajas, und Sichuan galt seit jeher, wie so viele Randgebiete des chinesischen Reiches, als Hort der Aufrührer und Unkultivierten, der scharfen Zungen und noch schärferen Küche, als Hinterland, das es zu meiden galt. Zwar wurde Sichuan bereits unter der Qin-Dynastie (221 v. Chr. – 206 n. Chr.) erstmals dem Kaiserreich einverleibt, im chinesischen Kernland freilich sah man bis in die 1980er-Jahre auf Sichuan herunter. Was hatte der Südwesten Chinas schon zu bieten außer Landwirtschaft und heißen Sommern? Ganz sicher war Sanxingdui nicht der Ort, an dem man spektakuläre archäologische Funde erwartete. Chinas Historiker und Machthaber waren sich lange einig: Chinas kulturelle Mitte, die „Wiege der chinesischen Zivilisation“ liegt am Unterlauf des Gelben Flusses (auf Chinesisch „Huanghe“). Hier entstand im zweiten Jahrtausend v. Chr. die erste Hochkultur der Shang-Dynastie, die auf die Zeit von zirka 1600 – 1040 v. Chr. datiert wird. Sie entwickelte sich unter höchst schwierigen Bedingungen – oder waren es vielleicht gerade die großen Herausfor-
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derungen, die zu zivilisatorischen Leistungen anspornten? Sicher ist, die frühen Siedlungen am Gelben Fluss litten immer wieder unter Überschwemmungen verheerenden Ausmaßes. Schuld daran war und ist der Lössboden: Weich und nachgiebig sowie leicht erodierbar ist dieser Flugstaub aus den innerasiatischen Steppen. Starke Regenfälle spülen jedes Jahr ungeheure Mengen gelben Schlamms in den Fluss, der sich hier seinen Namen verdient. Solange der Fluss mit hoher Geschwindigkeit durch das Bergland rauscht, wird die Sedimentfracht mitgerissen – 60-mal so viel Schlamm wie der Mississippi führt er mit sich! Sobald er jedoch in die Ebene einschwenkt, verlangsamt sich der Fluss, sinkt der Schlamm zu Boden und bildet damit quasi einen Damm, auf dessen Krone der Fluss verläuft. Immer höher wird dabei sein Flussbett, teils ragt es wie eine gewaltige Mauer bis zu zwölf Metern aus der Ebene. Bricht auch nur ein kleines Stück der fragilen Seitenwände, gibt es kein Zurück. Dann ergießt sich der Fluss in die Ebene, überschwemmt ganze Provinzen und hinterlässt Millionen Tote. „Kummer Chinas“ wird der Gelbe Fluss auch genannt. Und doch war er der wichtigste Faktor für die Entwicklung der Hochkultur. Denn in Anbetracht dieser Gefahren schufen die Bewohner der Ebene bereits im zweiten Jahrtausend v. Chr. ein beeindruckendes System von Deichen, Kanälen, Dämmen, Stau- und Überflutungsbecken, die derartige Flutkatastrophen verhindern sollten. Zeitgleich musste die, nach ihren herausragenden Wasserarbeiten benannte „hydraulische Gesellschaft“ auch eine komplexe Verwaltung entwickeln, um jede Schwachstelle entlang des Flusslaufes sofort zu erkennen und zu beheben. Die Flussregulierung wurde zu einer Frage des Überlebens. Derart gedämmt wandelte sich der Gelbe Fluss, zumindest zeitweise, vom Kummer zum Segen, denn er brachte nicht nur Wasser sondern auch fruchtbaren Schlamm für den Ackerbau – und damit die Basis für einen soliden Reichtum. Kein Wunder, dass sich aus der hydraulischen Kultur am Gelben Fluss die Hochkultur der Shang-Dynastie entwickelte und das Gelb des Gelben Flusses zur kaiserlichen Farbe avancierte. Auch heute noch bezeichnen sich die Nordchinesen
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selbst als Teil der „Gelben Kultur“ (die im Übrigen wirklich nichts mit der vermeintlichen Hautfarbe zu tun hat, wie man im Westen gerne annimmt). Von hier aus verbreitete sich die chinesische Hochkultur schnell im ganzen Staatsgebiet. So zumindest lautete die offizielle Lesart der chinesischen Geschichte.
Vergessene Funde Dabei gab es bereits vor der Gründung der Volksrepublik erste Anzeichen, dass vielleicht alles ganz anders gewesen sein könnte: 1929 stieß eine Bauernfamilie bei Grabungsarbeiten nahe dem Dorf Sanxingdui in der abgelegenen Provinz Sichuan, auf einige Stücke fein bearbeiteter Jade. Auch ohne historische Vorbildung ahnte der Bauer Yan Daocheng den Wert der Stücke und kehrte nachts heimlich auf die Baustelle zurück, um weitere Artefakte mitzunehmen. Die Antiquitätenhändler der nahegelegenen Provinzhauptstadt Chengdu zeigten sich begeistert, sie machten Yan zu einem reichen Mann. Und gruben selbst. Vergeblich. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte versuchten sich immer wieder Archäologen rund um Sanxingdui, konnten jedoch kaum nennenswerte Ausbeute vorweisen. Zudem waren die politischen Zeiten nicht gerade ideal für Grabungsarbeiten. In der Zeit der Warlords regierten lokale Herrscher nach Gutdünken, immer wieder kam es zu bürgerkriegsähnlichen Zusammenstößen der verschiedenen Lokalmatadore. Auch der darauffolgende Zweite Weltkrieg, der Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Nationalisten sowie die ersten, stark ideologisch geprägten Jahrzehnte der Volksrepublik ließen archäologische Fragen in den Hintergrund treten. Erst 1986, als besagte Ziegeleiarbeiter in Sanxingdui zufällig auf eine ganze Reihe von Artefakten stießen, war der richtige Moment gekommen. Die Öffnungspolitik sorgte für ein vergleichsweise lockeres politisches Klima, und so begannen im März 1986 ernsthafte Ausgrabungen, die schnell Sensationelles zutage för-
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derten: Im Juni entdeckten die Archäologen eine Grube mit über vierhundert gut erhaltenen Objekten, darunter skurrile glupschäugige Bronzemasken, Goldzepter, Jadetafeln und Dolche, Äxte, Elfenbeingegenstände und Elefantenstoßzähne, die von erstaunlicher handwerklicher Fertigkeit zeugten – und ganz offensichtlich zu keiner der bekannten Kulturen zugehörig waren. Nur wenige Wochen später wurde eine zweite Grube entdeckt, deren Ausbeute noch reicher ausfiel: Mehr als 800 Objekte, darunter Goldwaren, eine bronzene Männerstatue, Masken, heilige Bronzebäume, Bronzebilder und Jadeobjekte, Ringe und zahlreiche Muscheln. Ganz offensichtlich waren die Objekte jedoch verbrannt worden. Handelte es sich um Opfergaben oder eine Begräbnisstätte? Doch wieso war kein Leichnam zu finden? Erste Interpretationen gingen davon aus, dass hier Urnen von Herrschern begraben wurden. Vielleicht waren es aber auch Opfergruben, in denen regelmäßig über einen langen Zeitraum göttlichen Wesen geopfert wurde – daher auch die Feuerschäden und die große Menge der Gaben! Doch auch um die Gruben herum wurden auf mehr als 1300 Quadratmetern Ausgrabungsfläche zahlreiche Hausruinen, rund hundert Feuerstellen, die Überreste einer Stadtmauer (die älteste, die je in China gefunden wurde!), Bewässerungsanlagen und mehr als 100 000 weitere Stücke Töpfer-, Bronze-, Jade- und Lackwaren freigelegt. Für die Historiker Chinas eine wahrlich revolutionäre Fundgrube! Ganz offensichtlich hatte man die Überreste einer völlig unbekannten und hoch entwickelten Zivilisation entdeckt, die auf die Zeit zwischen 2800 und 800 v. Chr. datiert wird und damit zeitgleich mit der nordchinesischen Shang-Dynastie existierte, wenn nicht sogar früher. Auch heute ist wenig über die Menschen bekannt, die diese beeindruckenden Kunstwerke schufen, über ihre Staatsform, religiösen Vorstellungen, ihre ethnische Zugehörigkeit. Vielleicht handelt es sich um Überreste des Königreiches Shu – unter diesem Namen war die Provinz Sichuan im Alten China bekannt, hin und wieder finden sich in alten Quellen Anspielungen darauf. Alles andere ist bis heute Spekulation.
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Der Norden ist nicht allein Auch ohne gesicherte Hintergrundkenntnisse hatte Sanxingdui genügend historische Sprengkraft, im fernen Beijing für Aufruhr zu sorgen und manch ein Geschichtsbuch obsolet erscheinen zu lassen. Denn die Funde in Sichuan widerlegten die Mär vom singulären Ursprung der chinesischen Kultur und untermauerten eine Wahrheit, der man lange nicht so recht ins Auge blicken wollte: Neben den Shang gab es weitere bedeutende Kulturen, die im Laufe der Zeit zusammenwuchsen und letztlich China bildeten. Sanxingdui ist nur eine von ihnen, wenn derzeit auch die spektakulärste. Auch weitere Funde rund um den Yangzi-Fluss haben das Zeug für eine historische Revolution. Bislang ist die Wissenschaft jedoch weit davon entfernt, ein vollständiges Bild der chinesischen Frühgeschichte zu zeichnen, immer wieder kommen neue Erkenntnisse dazu, werden neue Fundstätten ausgewertet. Sicher ist: China war im zweiten Jahrtausend v. Chr. ein Flickenteppich lokaler Zivilisationen und Kulturen, die zwar durchaus oft in Kontakt standen, deren Mitglieder sich aber nicht als „Chinesen“ empfanden, sondern als Teil ihres jeweiligen Kulturkreises. Die späteren Shang freilich, die wahrscheinlich aus der neolithischen Longshan-Kultur hervorgingen, hatten einen Vorteil: Sie erfanden eine Schrift, die auch heute noch (wenn auch in stark weiterentwickelter Form) verwendet wird und damit ein Medium, der Nachwelt etliche Details ihrer Kultur zu übermitteln. Für viele Archäologen ist es bis heute ein Rätsel, warum eine so entwickelte Kultur wie die von Sichuan keine Schrift verwendete. Oder wurde sie vielleicht einfach noch nicht gefunden? Sicher ist: Seit Beginn der Archäologie in China wurden die Forschungen im Süden mit weniger Eifer betrieben. Zum einen, weil man hier schlicht keine besonderen Funde vermutete, zum anderen wohl auch aufgrund von konkreten Machtinteressen. Immerhin wird China seit Jahrhunderten aus Beijing regiert, und nicht
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aus Shanghai oder – Gott bewahre! – gar aus Kanton. Denn die Kantonesen sind allesamt kulturlose Geschäftemacher. Meint der Norden. Die politische Dominanz Beijings basiert also auch auf der vermeintlichen kulturellen Überlegenheit des Nordens. Da kommen historische Beweise, die die kulturelle Gleichwertigkeit des Südens untermauern nicht besonders gelegen. Kein Wunder, dass die Staatsführung erst mit der Öffnungspolitik Anfang der 1980er zögerlich die Rolle Südchinas aufwertete. Doch auch heute fürchtet man in Beijing, die Randgebiete Chinas könnten sich auf die kulturellen Unterschiede besinnen und sich letztlich ablösen. Und so wird immer wieder der gemeinsame Ursprung beschworen und auf kulturelle Gemeinsamkeiten gepocht (die unbestritten vorhanden sind).
Im Süden nur Natur? Da wundert es nicht, dass viele Mitglieder der Beijinger Führung wenig begeistert auf die Serie „Heshang“ (zu Deutsch „Fluss-Elegie“) reagierten, die 1988 im chinesischen Fernsehsender China Central Television gezeigt wurde. Die Kernthese des Sechsteilers wurde zu einem heiß diskutierten Thema: Die „gelbe Kultur“ des chinesischen Kernlandes sei schuld an der Verknöcherung und Rückständigkeit Chinas, propagierten die verantwortlichen Journalisten und riefen auf zur Rückkehr zur „blauen“, offenen Kultur des Ozeans – also des südlichen China, des Westens. Kurze Zeit später wurde die Serie verboten. Nachdem einige der beteiligten Journalisten verhaftet wurden, emigrierten die Hauptinitiatoren in die USA. Obwohl sich Südchina seither in vielerlei Hinsicht emanzipiert hat – nicht zuletzt weil die südlichen Küstenregionen der entscheidende Wirtschaftsmotor sind – steht auch heute noch der Norden weitaus mehr im historischen Rampenlicht. Besonders offensichtlich wird dies bei der derzeitigen Verteilung der UNESCO-Weltkultur- und Naturerbestätten. Denn welche Stätte letztlich als
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Kultur- oder Naturerbe ihre große Karriere auf der Weltbühne beginnen darf, liegt vor allem in Händen der nationalen Regierung. Sie unterbreitet der UNESCO die „Kandidaten“ für den Status als Welterbestätte. Ein Blick auf die Karte zeigt: In China dominieren hier ganz klar die historischen Stätten der „Gelben Kultur“. Allein 18 der 29 Weltkulturerbestätten liegen in der nordostchinesischen Tiefebene am oder nahe des Gelben Flusses, der „Wiege der chinesischen Kultur“. Die große Mauer, die Verbotene Stadt, der Himmelstempel, die Gräber der Ming- und Qing-Kaiser, der Sommerpalast in Beijing, die Sommerresidenz von Chengde, die tönerne Armee des Qin Shi Huangdi, die Altstadt von Pingyao, die Fundstätte des Beijing-Menschen und die Grotten von Longmen, Mogao und Yungang sind allesamt Vertreter der „Gelben Kultur“, entstanden aus der „hydraulischen Gesellschaft“ des alten China. Auch die Residenz der Familie Kong, die Heimat des Konfuzius also, darf als Vertreter der „Gelben Kultur“ gelten, galt doch der Philosoph und Lehrer als ausgemachter Verächter aller Händler und Kaufleute und damit als typischer Vertreter des nördlichen China. Im Süden hingegen sind vor allem die Naturerbestätten zu finden. Es ist tatsächlich so: In Sachen Natur übertrumpft der Süden den seit Jahrhunderten kahl geschlagenen Norden allemal. Doch der Mangel an historischen Stätten verwundert. Fairerweise muss man dazu sagen: Seit der Öffnungspolitik hat sich der Konflikt zwischen Nord und Süd einerseits verschärft, andererseits ist die Bereitschaft gewachsen, dem Süden mehr Kultur zuzugestehen. Fast alle südlichen Kulturerbestätten wurden nach dem Jahr 2000 ernannt. Wer innerhalb weniger Jahre ein Wirtschaftsimperium aus dem Boden stampft, kann schließlich zivilisatorisch nicht so ganz unbedarft sein. So meinen zumindest die Kantonesen und Shanghaier. Die Wahrheit ist wahrscheinlich viel simpler: Der Gelbe Fluss darf sich natürlich weiterhin die „Wiege der chinesischen Kultur“ nennen. Nur dass sie, quasi wie im Säuglingssaal einer Klinik, inmitten von vielen anderen Wiegen steht.
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UNESCO-Weltkultur- und Naturerbestätten Chinas
Chinas UNESCO-Weltkulturerbestätten Weltkulturerbestätten im Einflussgebiet des Gelben Flusses • Große Mauer (Provinz Hebei, Shanxi u. a.), seit 1987 • Kaiserpalast der Ming- und der Qing-Dynastien (Beijing), seit 1987 • Sommerpalast (Beijing), seit 1998 • Himmelstempel (Beijing), seit 1988 • Kaiserliche Grabstätten der Ming- und der Qing-Dynastie (Beijing), seit 2000 • Yungang-Grotten (Provinz Shanxi), seit 2001 • Altstadt von Pingyao (Provinz Shanxi), seit 1997 • Grotten von Longmen (Provinz Henan), seit 2000 • Konfuzius-Tempel, Friedhof und Residenz der Familie Kong in Qufu (Provinz Shandong), seit 1994 • Höhlen von Mogao (Provinz Gansu), seit 1987 • Fundstätte des „Beijing-Menschen“ in Zhoukoudian (Provinz Hebei), seit 1987
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• Kaiserliche Sommerresidenz bei Chengde (Provinz Hebei), seit 1994 • Historische Gebäude in den Bergen von Wudang (Provinz Hubei), seit 1994 • Ruinen der Hauptstadt Yin Xu der Shang-Dynastie (Provinz Henan), seit 2006 • Historische Gebäude von Dengfeng (Provinz Henan), seit 2010 • Buddhistische Klöster des Berges Wutai (Provinz Shanxi), seit 2009 • Bergregion Taishan (Gemischte Weltkultur- und Naturerbestätte, Provinz Shandong), seit 1987
Südliche Weltkulturerbestätten • • • • • •
Klassische Gärten von Suzhou (Provinz Jiangsu), seit 1997 Nationalpark Lushan (Jiangxi), seit 1996 Dörfer Xidi und Hongcun (Provinz Anhui), seit 2000 Altstadt von Lijiang (Provinz Yunnan), seit 1997 Felsenbilder von Dazu (Provinz Sichuan), seit 1999 Berg Qincheng und Bewässerungssystem von Dujiangyan (Provinz Sichuan), seit 2000 • Tulou-Rundhäuser (Provinz Fujian), seit 2008 • Kaiping-Diaolou-Wachtürme und -Dörfer (Provinz Guangdong), seit 2007
Andere • Ruinen und Gräber des Koguryo-Königreichs (Liaoning und Jilin Provinz), seit 2004 • Potala-Palast in Lhase (Tibet), seit 1994 • Altstadt von Macau (Sonderverwaltungszone Macau), seit 2005
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Chinas UNESCO-Weltnaturerbestätten Nordchinas UNESCO-Weltnaturerbestätten keine
Südchinas UNESCO-Weltnaturerbestätten • Geschichts- und Landschaftspark Jiuzhaigou-Tal (Provinz Sichuan), seit 1992 • Geschichts- und Landschaftspark Huanglong (Provinz Sichuan), seit 1992 • Geschichts- und Landschaftspark Wulingyuan (Provinz Hunan), seit 1992 • Erosions-Landschaft von Danxia (Provinz Guangdong), seit 2010 • Reservate der Großen Pandas (Provinz Sichuan), seit 2006 • Karstgebiete Südchinas (Provinzen Yunnan, Guizhou und Chongqing), seit 2007 • Schutzzonen im Gebiet der drei Parallelflüsse Yunnans (Provinz Yunnan), seit 2003 • Sanqingshan-Nationalpark (Provinz Jiangxi), seit 2008 • Gebirgslandschaft Huangshan (Gemischte Weltkultur- und Naturerbestätte Provinz Anhui), seit 1990 • Berglandschaft Emeishan und „Großer Buddha von Leshan“ (Gemischte Weltkultur- und Naturerbestätte, Provinz Sichuan), seit 1996 • Bergregion Wuyishan (Gemischte Weltkultur- und Naturerbestätte, Provinz Jiangxi und Fujian), seit 1999
MYTHOS 7:
China war bis zum Ende des Opiumkrieges 1842 völlig abgeschottet Schon aus geografischer Sicht ist dieser Mythos ein Ding der Unmöglichkeit. Denn ein derart gewaltiges Gebiet wie das chinesische Kaiserreich samt Millionenbevölkerung von der Außenwelt zu isolieren, wäre wahrlich ein ambitioniertes Unterfangen! Rund 22 000 Kilometer Grenze umgeben Chinas derzeitiges Staatsgebiet, das bereits im achten Jahrhundert eine vergleichbare Größe hatte. Da mag es nicht gerade einfach sein, den Himalaja, die Wüste Gobi oder die Taklamakan-Wüste zu überwinden, unmöglich ist es dank zahlreicher Karawanenwege und Bergpässe nicht. Auch die rund 14 500 km Küste sind geradezu eine Einladung, Handel zu treiben und fremde Gefilde anzusteuern. Niemals in der Geschichte Chinas war es dauerhaft möglich, alle Zugänge in und aus dem Ausland zu kontrollieren!Das abgeschottete China Ohnehin stellt sich die Frage: Wer hätte Interesse daran gehabt, alles Ausländische fernzuhalten? Die Angst vor dem Fortschritt kann es nicht gewesen sein, waren die Chinesen doch über viele Jahrhunderte hinweg der Ansicht, ohnehin die am weitesten entwickelte Kultur zu besitzen. In der Tat sahen sich die Chinesen des Kaiserreichs als Zentrum der Welt und ihren Kaiser als Mittler zwischen Himmel und Erde, als Wahrer der Eintracht und des Gleichgewichts zwischen Kosmos und Menschen. Das war und ist keine wirklich bescheidene Hal-
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tung. Andererseits hatten die Chinesen viele Jahrhunderte lang allen Grund, auf ihre kulturellen Errungenschaften stolz zu sein. Herrscher, Philosophen, Intellektuelle aber auch das gemeine Volk sprachen von Tianxia (ϟ, alles unter dem Himmel), wenn eigentlich nur China gemeint war. Jenseits der Grenzen verschwammen Vorstellungen und Wissen, verblassten Karten und Interesse gleichermaßen. Kein Wunder, dass sich dieser subjektiv empfundene zivilisatorische Mittelpunkt der Welt nicht um gleichgestellte Außenbeziehungen kümmerte, sondern den Austausch mit den Nachbarstaaten ab der Han-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) über ein Tributsystem abwickelte. Länder wie Korea, Vietnam oder die Ryukyu-Inseln entsandten einmal pro Jahr eine Delegation in die chinesische Hauptstadt, wo sie sich mit einem symbolischen Kotau dem Kaiser unterwarfen und diesem ihre lokal-typischen Tributgaben übergaben. Im Gegenzug erhielten sie meist erheblich wertvollere Geschenke wie Seidenwaren, Kunsthandwerk, Gold- und Silberwaren oder Bücher. Eine entwürdigende aber lohnenswerte Prozedur, denn während des Aufenthalts in der Hauptstadt war es den Besuchern gestattet, Handel zu treiben. Auch zentralasiatische Völker, die durchaus stark genug gewesen wären, sich dem Tributwesen zu entziehen, ließen sich das Spektakel gefallen, brachte es doch unterm Strich hohe Gewinne für die Tributgeber. Das selbstgefällige Weltbild der chinesischen Herrscher wurde jedoch immer wieder unterminiert. Denn ein Großteil der „Außenkontakte“ waren in Wirklichkeit „Innenkontakte“: Immer wieder wurde China von zentralasiatischen Nomadenvölkern überrannt und hin und wieder sogar komplett annektiert: von der Jin Dynastie (1125 – 1234) bis zur Yuan (1279 – 1368) und der Qing-Dynastie (1644 – 1911), von den kleineren Reichen, die nur wenige Generationen überdauerten, gar nicht zu sprechen. Hinter den chinesisch klingenden Namen verbergen sich nomadische Invasoren, die natürlich eine eigene Kultur mitbrachten. Kulina-
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risch, sprachlich und in vielerlei anderer Hinsicht hinterließen sie Spuren, die im Nachhinein völlig selbstverständlich als chinesisch ausgegeben wurden. So stammt der Ausdruck „Hutong“ für die typischen nordchinesischen Wohnhöfe wahrscheinlich aus dem Mongolischen, und wer in Beijing essen geht, braucht nicht lange zu suchen, um den Einfluss der Steppe zu schmecken. Friedlicher verliefen die kaufmännischen Kontakte über die Seidenstraße. Schon seit der Han-Dynastie gab es einen regen Handel zwischen China und dem Orient, wobei man sich die Seidenstraße nicht als festen Weg vorstellen darf, eher als Ensemble von Karawanenpfaden, die sich wie ein Netz durch die Wüstenregionen gen Westen zogen. Der Begriff Seidenstraße tauchte erst Ende des 19. Jahrhunderts auf und stammt aus der Feder des deutschen Geografen Ferdinand von Richthofen. Mit den Karawanen kamen natürlich nicht nur Waren ins Land, sondern auch neues philosophisches und religiöses Gedankengut. Der kulturell bedeutendste Import war sicher der Buddhismus: Bereits im ersten Jahrhundert kam die Kunde von der fremden Religion aus Indien nach China. Wirkliche Verbreitung fand der neue Glaube jedoch erst in den wirren Jahren von 220 – 589, als China in viele kleine Reiche zerfiel und die Bevölkerung nicht nur etliche Kriege um die Vorherrschaft ertragen musste, sondern auch immer wieder unter den Einfällen nomadischer Völker aus dem Norden litt und damit für den Paradies-Gedanken des MahajanaBuddhismus überaus offen war. Zeitgleich wurden mehrfach Expeditionen auf dem Seeweg nach Indien und Sri Lanka gesandt, um weitere buddhistische Texte zu suchen. Auch das Reich der Funan, das heutige Kambodscha, war den chinesischen Händlern bekannt. Doch die Kontakte reichten viel weiter als bis nach Indien oder Südostasien – sogar vom Römischen Reich wusste man in China! Mittlerweile lässt sich dies vielleicht sogar genetisch untermau-
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ern5. Im November 2010 ließen Wissenschaftler des neuen Zentrums für Italienische Studien der Lanzhou University in der Provinz Gansu die DNA der Dorfbewohner von Liqian am Rande der Gobi-Wüste untersuchen, um mehr über den Ursprung der Menschen zu erfahren. Immerhin zeichnen sich auffallend viele Bewohner von Liqian durch blaue oder grüne Augen, westliche Nasen und sogar blonde Haare aus. In der Tat besaß mehr als die Hälfte eine DNA europäischen Ursprungs. Eventuell stammen sie von einer Gruppe römischer Soldaten ab, der nach der verheerenden Schlacht zwischen Marcus Crassus und dem Heer der Parther im Nordiran die Flucht gelungen war. Wenige Jahre später sollen sie als Söldner auf Seiten der Chinesen gegen die Hunnen gekämpft haben. Hundertprozentig bewiesen ist diese Geschichte bis heute jedoch nicht, denn direkte Kontakte zwischen Europa und China über die Seidenstraße waren selten. Kaum eine Karawane bewältigte den gesamten Weg von China nach Europa. Stattdessen zogen die Händler meist einige hundert Kilometer weit und verschacherten die Waren dann auf dem Markt an die nächste Händlergruppe. Im Jahre 166 soll allerdings eine Gesandtschaft des römischen Kaisers Antonius Pius China über den Seeweg erreicht und den Hof des Kaisers Huang der Han-Dynastie erreicht haben. Sicher ist: Ab der Han-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) war China durchaus ein offenes Weltreich. Händler der Seidenstraße brachten Waren aus dem Orient und sogar aus Europa mit, in den Städten Chinas ließen sich moslemische Händler und christliche Nestorianer nieder. Später folgten jüdische Händler, die ab dem 12. Jahrhundert vor allem in Kaifeng sesshaft wurden. Die damalige Hauptstadt, heute außerhalb Chinas eher unbekannt, war im 12. Jahrhundert eine der größten Städte der Welt! Als in Europa noch Siedlungen von wenigen Tausend Menschen als „städtisch“ galten, die Kloake in den Gassen stank, lebten in Kaifeng mehr als eine halbe Million Menschen in einer modernen Stadt mit mehrstöckigen Häusern, Kanalisation, Teehäusern und Parks. Im Jahre
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1163 ließ die jüdische Gemeinde eine Synagoge errichten, die im Laufe der Jahrhunderte zwar mehrfach zerstört und wieder aufgebaut wurde, letztlich aber bis 1854 bestand. Sogar heute noch sind einige Tausend Kaifenger stolz darauf, zu den „Kaifeng Youtai“ zu gehören, den Kaifenger Juden. Die Seidenstraße war jedoch nicht die einzige Verbindung ins Ausland. In der Song-Dynastie verstärkte sich der Seehandel dramatisch. Besonders Quanzhou in der Provinz Fujian wurde zur internationalen Stadt, in der arabische, indische und südostasiatische Kaufleute verkehrten. Auch im christlichen Europa rätselte man mittlerweile über das große Reich im Osten. Beseelt von der Suche nach Johannes dem Priesterkönig, einer mystischen Figur, die angeblich ein mächtiges und vor allem christliches Reich im östlichen Asien beherrschte und (wäre er echt gewesen) ein idealer Verbündeter gegen die erstarkten Moslems gewesen wäre, entsandte der Vatikan franziskanische Mönche gen Osten. Doch auch profanere Gedanken machten neugierig auf die fremde Welt jenseits der Steppen: Woher stammen die wundersamen Waren wie Seide und Gewürze, wie leben die Menschen in Asien? An welchen Gott glauben sie? Angefangen von Wilhelm von Rubruck der 1254 das Karakorum erreichte und feststellen sollte, „ob der Khan ein Christ ist“, dem Franziskaner Johannes von Montecorvino 1247 – 1328, der 1291 in Beijing eintraf, bis zu Odorich von Pordenone aus Böhmen, der ab 1320 zehn Jahre in China unterwegs war, wurden sie alle von den Mongolen freundlich aufgenommen. Auch der päpstliche Gesandte Johannes von Marignolli, der als erster Franziskaner von 1330 – 1340 am Hofe des grausamen Kublai Khans lebte – der gerade erst China in einem blutigen Krieg unterworfen hatte! – fand wohlwollende Aufnahme. Und doch blieben alle in Sachen Missionierung erstaunlich erfolglos! Als Dolmetscher dienten oft nestorianische Christen, die Persisch, Arabisch, Mongolisch, aber auch Latein sprachen. Eine nicht ganz
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unkomplizierte Zusammenarbeit, galten sie doch als Abtrünnige und Ketzer. Zudem waren die meisten Gesandten des Vatikans nicht nur darauf aus, möglichst viele Ungläubige zu bekehren, sondern wenn möglich auch, im wahrsten Sinne „en passant“, die Nestorianer auf den rechten Pfad zurückzubringen. Doch der chinesisch-ausländische Austausch verlief keineswegs nur in einer Richtung. Denn auch in China hatten die Herrscher hin und wieder das Bedürfnis, ihren Ruhm in die Welt hinauszutragen. Und so wurde das China des 15. Jahrhundert Schauplatz einer wahrhaft hollywoodreifen Geschichte – und die einzige Epoche, in der sich China als Seemacht behauptete. Mehr als fünfzig Jahre bevor Bartolomeu Diaz 1488 das Kap der Guten Hoffnung umsegelte und erstmals portugiesische Schiffe den Indischen Ozean befuhren! Diese außergewöhnliche Episode der chinesischen Geschichte begann mit der Machtübernahme der Ming-Dynastie 1368: Gerade erst waren die mongolischen Fremdherrscher der Yuan-Dynastie vertrieben worden, ausgebeutet und ausgeblutet lag das Land darnieder. Für den ersten Ming-Kaiser Hongwu war es deshalb von größter Bedeutung, nicht nur die Wirtschaft möglichst schnell in Gang zu bringen, sondern auch durch große Feldzüge die nomadischen Völker an den Rändern des Reiches zu kontrollieren. Die letzte mongolische Bastion auf chinesischem Territorium in der Provinz Yunnan fiel 1382. Für China entschied sich das Schicksal damit gleich in doppelter Hinsicht: Die Ming hatten ihr Ziel eines chinesischen China erreicht, und – damals nur ein unbedeutendes Detail – der kleine moslemische Junge Ma He wurde auf diesem Feldzug gefangen genommen. Dass gerade die Moslems besonders unter der neuen Politik der Ming zu leiden hatten, war kein Zufall. Unter den Mongolen besonders begünstigst, galten sie nun als „Verräter“ der chinesischen Sache. 1372 geboren, wurde Ma He also mit zehn Jahren nach Nanjing verschleppt, kastriert, und als Eunuch in die kaiserlichen Gemä-
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cher abgestellt. Hier diente er dem nur zwölf Jahre älteren Prinzen Zhu Di. Außergewöhnlich ist, dass sich die beiden schnell befreundeten und Ma He sich immer mehr zum Vertrauten des Prinzen entwickelte. Als Zhu Di 1402 gegen seinen Neffen und regulären Thronfolger des soeben verstorbenen Kaisers intrigierte, schlug Ma Hes große Stunde – denn Zhu Di gewann und übernahm unter dem Regierungsnamen Yongle die Macht am Hofe. Auch der kleine Eunuch erhielt nicht nur einen neuen Namen, sondern bekleidete bald hohe Ämter: Als Zheng He avancierte er zum Obersten Palasteunuchen und wurde damit zu einem der wichtigsten Männer des Staates. Noch unter dem Eindruck der vergangenen Mongolen-Dynastie hatte in dieser Epoche alles Chinesische wieder Hochkonjunktur. In der Welt der Künste und Wissenschaften schien es höchste Zeit, wieder an die Blüte der prämongolischen Zeiten anzuknüpfen, die Kultur der Tang und Song wiederzubeleben. Und vor allem – den Ruhm der chinesischen Zivilisation auch in die Welt zu tragen! Schon Yongles Vorgänger Hongwu hatte nahe dem südchinesischen Nanjing riesige Wälder für den Bau einer Flotte anlegen lassen. Unter Yongle wurde dieser Plan nun umgesetzt: Gut 300 gigantische Schiffe entstanden hier, darunter Dschunken mit mehr als 130 Metern Länge und bis zu neun Masten. Diese, auch nach heutigem Standard wahrscheinlich größte Expedition aller Zeiten, zog 1405 zum ersten Mal los, um die Welt zu entdecken, Tribut zu sammeln und, ganz nebenbei, den geflohenen legitimen Thronfolger zu fangen. Als Führer dieser gigantischen Flotte wählte Kaiser Yongle seinen vertrauten Zheng He. Um die 30 000 Mann Besatzung hatte der Eunuch an Bord (Columbus musste sich mit 90 Mann und drei vergleichsweise kleinen Schiffen begnügen), darunter ganze Armeeverbände, Wissenschaftler, Ärzte, Köche, Übersetzer und Geistliche buddhistischen wie moslemischen Glaubens. Ja, sogar Bauern wurden eingezogen, um in mit Erde gefüllten Holzkonstruktionen an Deck Gemüse und Obst zu ziehen. Im Zweifelsfalle wollte Zheng He nicht auf fremdländische Kost angewiesen sein.
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Schon das erste Etappenziel erwies sich als voller Erfolg. Der Herrscher des Königreiches Champa im heutigen Vietnam zahlte nur allzu bereitwillig üppigen Tribut, den der Eunuch mit kostbaren Geschenken beantwortete. Dank der großen chinesischen Diaspora in Südostasien war dem König von Champa die chinesische Kultur durchaus bekannt. Weitaus überzeugender noch dürfte der Anblick der Flotte gewesen sein: Welch einen furchterregenden Eindruck muss die Armada des Zheng He am Horizont geboten haben! Weder in Kalicut an der Küste Südindiens, das Zheng He 1406 ansteuerte, noch in Thailand, Indonesien und Malaya traf der Eunuch auf Gegenwehr. Vorausschauend und in korrekter Vorahnung auf weitere Expeditionen legte er auf dem Rückweg nach China eine Basis in der Straße von Malakka an, räumte nebenbei unter der dortigen Piratenbevölkerung auf, und ließ sogar einen ihrer Anführer nach China bringen, um ihn dort quasi als Exempel hinrichten zu lassen. Alles in allem war Kaiser Yongle zufrieden mit den Ergebnissen der zweijährigen Erkundungstour und ließ sofort weitere Expeditionen planen. Immer weiter, immer länger wurden die Reisen des Zheng He, der im Laufe der folgenden 28 Jahre noch sechs Mal in See stechen sollte. Neben Siam, Sumatra, Malaya und anderen südostasiatischen Ländern steuerte er auch diverse arabische, indische und persische Städte an: Hormus, Aden, Mekka und Dhofar standen auf seiner Reiseroute, genauso wie Kochin. Widerspruch oder „unkooperative“ Haltungen von Seiten der einheimischen Herrscher konnten ihn dabei kaum aufhalten. Als der König von Sri Lanka sich 1411 weigerte, dem moslemischen Zheng He die wichtigste buddhistische Reliquie des Landes, einen Zahn Buddhas, auszuhändigen, ließ ihn Zheng entführen und zu erzieherischen Zwecken nach China bringen. Erst Jahre später sollte der Potentat in seine Heimat zurückkehren. Auf seiner fünften Reise erreichte Zheng He gar die Küste Ostafrikas, erkundete Mogadischu und weite Strecken der afrikanischen
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Küste bis ins heutige Kenia. Am chinesischen Hof sorgten die afrikanischen Mitbringsel für viel Aufsehen. Die Giraffe beispielsweise, die 1415 in China eintraf, hielt man für das magische Einhorn Qilin, während das Zebra als himmlisches Pferd galt. Beide würdigte sogar der Kaiser mit einer Kotau-Verbeugung. Im modernen Afrika erinnert man sich ebenfalls noch an Zheng He: Bis zum heutigen Tag hält sich der Stamm der Famao, Einwohner der Insel Pate vor der kenianischen Küste, für Nachfahren chinesischer Seefahrer. Hier soll eines der Schiffe des Zheng He gesunken sein, während sich seine Besatzung auf die Insel retten konnte. Um die 300 000 Kilometer soll die Flotte insgesamt zurückgelegt haben. Zahlreiche lokale Quellen sowie Funde chinesischen Porzellans belegen dabei die Reisen innerhalb Asiens, insgesamt liegen jedoch noch viele Expeditionsdetails im Dunkeln. Für den britischen Navigator und Autoren Gavin Menzies ist keine Frage, dass Zheng He auf einer Weltumseglung 1421 bis 1423 sogar Amerika entdeckte – lange bevor Columbus mit seiner vergleichsweise bescheidenen Flotte loszog. Obwohl sich diese Theorie bisher in der Welt der Geografie nicht wirklich durchsetzen konnte, ist sie auch nicht eindeutig widerlegt worden. Das politische Fazit der Expeditionen jedenfalls bleibt ungeachtet dieser Details gleich: Egal ob Zheng He Amerika erreichte oder nicht, sicher ist, dass sich das sonst so bodenständige China mit einem Schlag zur maritimen Supermacht entwickelte. Umso überraschender muss es heute daher erscheinen, dass mit dem Tode Zheng Hes 1433 alle Fahrten eingestellt wurden und China freiwillig auf diese Vormachtstellung verzichtete. Die Gründe für den jähen Kurswechsel sind in der Innenpolitik des Landes zu finden. Bereits 1420 sah sich der Kaiser Yongle gezwungen, die Hauptstadt wieder von Nanjing nach Beijing zu verlegen. Längst hatten sich die nomadischen Völker des Nordens von den Feldzügen des vergangenen Jahrhunderts erholt und bedrohten
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abermals die Nordgrenzen des Reiches. Von Beijing aus, so hoffte der Kaiser, würden sich die militärischen Aktionen besser koordinieren lassen. Mit dem kaiserlichen Umzug begab sich der Hof jedoch auch wieder in das Kernland des Konfuzianismus, einer Gedankenschule, die für ferne Expeditionen wenig übrig hatte. Nach dem Tode Yongles 1424 wurden die Fahrten zwar unter dem Nachfolger Xuande fortgeführt, doch die Lobby des Zheng He verkleinerte sich zusehends. Zu groß war die Angst der Konfuzianer bei Hofe, die neuen Exkursionen könnten die Macht der Händler und Kaufleute stärken. Zudem stand es schlecht um die Staatsfinanzen: Immer wieder sah sich der Kaiser gezwungen, kostspielige Feldzüge gegen die Nomaden zu führen. Die mongolische Fremdherrschaft noch im Gedächtnis, schienen die maritimen Extravaganzen des Zheng He zunehmend überflüssig. Als Zheng He 1433 auf seiner letzten Reise in Kalicut verstarb, wurden die Reisen eingestellt. Nur drei Jahre später verbot der Hof die Konstruktion von Booten mit mehr als zwei Masten. 1525 schließlich wurden alle meerestüchtigen Schiffe landesweit kurzerhand zerstört und ihre Konstruktion zum Kapitalverbrechen erklärt. Die Tür zum Reich der Mitte war damit zugefallen, China hatte freiwillig auf die Herrschaft über die Weltmeere verzichtet, bevor die portugiesische Konkurrenz überhaupt ernsthaft auf der Bildfläche erschienen war. Sogar die Aufzeichnungen des Zheng He wurden verbrannt – und der große Entdecker vergessen. Hätten die Bewohner Indonesiens und Malaysias nicht das Andenken Zheng Hes bewahrt, wäre es wahrscheinlich auch heute noch sehr still um den wagemutigen Eunuchen. Teils als Gottheit verehrt, wurde ihm hier posthum die Bewunderung zuteil, die ihm in der chinesischen Zivilisation versagt blieb. Dieses spektakuläre Ende der kurzen Weltoffenheit täuscht allerdings darüber hinweg, dass die Phase der Isolation nur kurz war und keinesfalls vollkommen. Die Aussicht auf einen soliden Gewinn ließ auch in diesen Zeiten Händler gen Ausland segeln – nun
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allerdings heimlich. Ohnehin brauchte der chinesische Kaiserhof nicht in die Ferne zu schweifen, denn nun machte sich das Ausland auf den Weg ins Reich der Mitte. Bald tauchten zu Beginn des 16. Jahrhunderts die ersten portugiesischen Schiffe in den chinesischen Gewässern auf. Und mit ihnen die ersten Jesuiten, die sich erheblich geschickter anstellten als ihre franziskanischen Vorgänger. Von den Erfolgen des Jesuiten Alessandro Valignano bei der Japan-Missionierung überzeugt, agierten die Jesuiten in China nach seiner Akkommodationstheorie. Hinter dem trockenen Begriff verbarg sich eine überaus geschickte Haltung: So weit wie möglich versuchten sie, der chinesischen Kultur entgegenzukommen und lokale religiöse Elemente, sofern sie nicht im Gegensatz zum Christentum standen, einzubinden. Gleichzeitig spielten naturwissenschaftliche Erkenntnisse eine große Rolle. Durch mathematisches, astronomisches und physisches Wissen wollten die Jesuiten eine positive Haltung zum Westen vermitteln. Allen voran gebührt dem Jesuiten Matteo Ricci (1522 – 1610) der Ruhm, China verständlich gemacht – und auch in China erstmals ein tieferes Interesse am Westen geweckt zu haben. Ricci besuchte das Jesuitenkolleg und trat 1671 dem jesuitischen Orden in Rom bei. Dort studierte er Philosophie, Theologie, aber auch Mathematik beim berühmten Christoph Clavius. 1578 wurde er als Missionar ins indische Goa entsandt und machte sich vier Jahre später auf den Weg nach Macau. 1583 gelang es ihm zusammen mit seinem Landsmann Michele Ruggieri (1543 – 1607) nach Zhaoqing zu reisen und 1601, mit kaiserlicher Erlaubnis, sich in Beijing niederzulassen. Anders als ihre Vorgänger legten sich Ricci und Ruggiere nicht nur chinesische Namen zu – in China sind sie als Li Madou (߽⥯ぺ) und Luo Mingjian (㕙ᯢෙ) bekannt – sondern kleideten sich auch im Stil der chinesischen Gelehrten und befassten sich so intensiv mit der Sprache und Kultur Chinas wie kein anderer westlicher Besucher zuvor. Bald
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verfasste Ricci selbst chinesische Bücher und übersetzte zusammen mit dem konvertierten Beamten Xu Guangqi (ᕤܝਃ, 1562 – 1633) Euklids „Elemente“ ins Chinesische. Als Beamter des kaiserlichen Hofes konnte er seine astronomischen und mathematischen Kenntnisse anwenden und sogar mit einer Kalenderreform glänzen. Ganz im Sinne der Akkommodationstheorie sah er keinen Konflikt zwischen Konfuzianismus, Ahnenverehrung und Christentum. Als Ricci 1610 starb, ließ ihm der Kaiser Wanli eine Grabstätte bauen, die heute noch im Innenhof des Beijing Administrative College zu besichtigen ist. Unbeschadet vom Dynastiewechsel der Ming zur mandschurischen Qing-Dynastie, machten sich auch spätere Jesuiten um die chinesisch-europäische Verständigung verdient. Vor allem der Kölner Adam Schall von Bell (1591 – 1666) spielte eine große Rolle am Hofe des Kaisers Shunzhi und bekleidete als Direktor des Kaiserlichen Astronomischen Amtes einen überaus wichtigen Posten. Dennoch fiel er nach dem Tode des Kaisers in Ungnade und starb nach einer langjährigen Gefängnisstrafe. Besser erging es seinem flämischen Kollegen Ferdinand Verbiest (1623 – 1688): Auch er wurde zwar zeitgleich mit Schall eingekerkert, dann aber rehabilitiert. Nachdem er sich als fähiger Mathematiker und Astronom erwiesen hatte, avancierte Verbiest sogar zum Leiter des kaiserlichen Observatoriums von Beijing, wo er zahlreiche Instrumente konstruierte, die heute noch dort ausgestellt werden. Ganz nebenbei wuchs auch die Zahl der chinesischen Christen, die 1720 immerhin rund 300 000 betragen haben soll. Soweit schienen die Jesuiten sich durchaus erfolgreich in China eingegliedert zu haben. Und doch zogen sich dunkle Wolken über den Missionaren zusammen – aus Europa! Denn für die Franziskaner und Dominikaner, die ab dem 17. Jahrhundert von den Philippinen aus ihre Missionierungsversuche nach China ausdehnten, kam die jesuitische Akzeptanz der RitenHandlungen und Ahnenverehrung einem Aberglauben gleich. Ohnehin standen die verschiedenen Orden in Konkurrenz und buhlten am Vatikan um die Gunst des Papstes. Da kamen die Göt-
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zendienste der Ahnenverehrung gerade recht, um die jesuitische Konkurrenz anzuschwärzen. Anfang des 18. Jahrhunderts schließlich eskalierte der „Ritenstreit“: Papst Clemens XI. (1649 – 1721) verurteilte 1704 die jesuitischen Methoden in China, Papst Benedikt XIV. (1675 – 1758) schließlich verbot 1742 die Ahnenverehrung chinesischer Christen. Daraufhin ließ Kaiser Qianlong erbost alle christlichen Missionare des Landes verweisen – wie konnte sich ein Unbekannter aus dem fernen Europa anmaßen, sich in innere Angelegenheiten Chinas einzumischen? Lediglich einige am Hofe angestellte Jesuiten blieben zurück. Allerdings dauerte es nicht lange, bis die ersten Europäer wieder vor der Tür standen. Diesmal jedoch waren es Händler und Kaufleute, die Ende des 18. Jahrhunderts auf eine wirtschaftliche Öffnung Chinas drängten. Im Jahre 1759 hatte der Kaiser Qianlong den beginnenden internationalen Handel mit Portugiesen, Holländern und Briten auf den Hafen von Kanton (Guangzhou) beschränkt und auch hier nur indirekte Kontakte über chinesische Mittelsmänner gestattet. 1793 entsandte der britische König Georg III. eine Gesandtschaft unter Lord Macartney nach China, um offizielle diplomatische Beziehungen aufzunehmen, die letztlich auch den Handel erleichtern sollten. Mit gewaltigem Pomp: 700 Mitglieder hatte die Delegation und eine große Ladung technischer Geräte, ja sogar einen Heißluftballon, die den Kaiser beeindrucken sollten. Was Macartney nicht bedachte: Viele der Maschinen und Apparate waren dem Kaiser längst bekannt, hatten doch die Jesuiten vieles schon vor Jahrzehnten nach China eingeführt. Ohnehin hatte die Delegation nie wirklich eine Chance: Schon vor der Ankunft in Beijing, lange vor dem ersten Kontakt zwischen Briten und Kaiserhof, war das Ablehnungsschreiben bereits ausformuliert. Der Besuch selbst tat nichts daran, die ablehnende Haltung zu ändern. Schon die sprachliche Verständigung erwies sich als schwierig, denn sie verlief über schlecht geschulte Missionare und den 12-jährigen Sohn eines Delegierten, der unterwegs einige Brocken Chinesisch aufgeschnappt hatte, bevor sich der eigentli-
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che Übersetzer aus dem Staub machte. Auch die Frage, ob denn der britische Gesandte nun zum Kotau bereit sei (natürlich nicht!), sorgte für Verstimmung am Hof. Letztlich behandelten die chinesischen Beamten die Gesandtschaft wie niedere, tributpflichtige Vasallen, während die Briten mit der Arroganz einer Weltmacht auftraten. Wenige Wochen nach Ankunft in Beijing reiste Macartney unverrichteter Dinge wieder zurück nach London. Erst im Opiumkrieg 1839 – 1842 gelang es den Briten, China gewaltsam zu öffnen, die Errichtung von internationalen Häfen durchzusetzen (sowie allerhand andere Vorteile, die China in einen semikolonialen Staat verwandelten) – und die Mär vom abgeschotteten Reich der Mitte zu erschaffen.
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Marco Polo war in China Keine historische Figur taucht so oft in den Katalogen der Reiseveranstalter auf wie Marco Polo. Er gilt als die Verkörperung des Weltenbummlers und Abenteurers schlechthin, des ersten ChinaKenners überhaupt. Kein Werk wurde so oft per Hand kopiert und in fremde Sprachen übersetzt, wie seine Reisebeschreibungen „Wunder der Welt“. Nach heutigem Standard wäre das Werk ein echter Bestseller gewesen. Und doch gibt es in der Fachwelt berechtigte Zweifel: War er wirklich in China? Die offizielle Version hört sich durchaus überzeugend an: Zimt, Muskat, Ingwer, Weihrauch und Pfeffer, Nelken und Sandelholz, Seide, Porzellan – kurzum, exotische Waren und Gewürze aus dem Orient und Fernen Osten treiben die Handelswelt Anfang des 14. Jahrhunderts an. Mittendrin: Die Gebrüder Niccolo und Maffeo Polo, venezianische Händler auf der Suche nach dem großen Geschäft. Immer wieder begeben sie sich ans Schwarze Meer, wo orientalische Händler die Waren des Fernen Ostens anbieten. Sogar eine eigene Niederlassung unterhalten die Polos in Sudak auf der Krim. 1260 freilich führt die Reise ein wenig weiter. Bis nach Buchara gelangen die Brüder, können aber nicht nach Hause zurückkehren, da durch verschiedene Kriege in der Region die Wege versperrt waren. Doch die beiden verzagen nicht. Dann eben nach Osten, dorthin, wo all die begehrenswerten Waren herkommen. Zusammen mit einer persischen Delegation gelangen Niccolo und Maffeo nach Khanbaliq, dem spä-
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teren Beijing, und landen schließlich am Hof des Kublai Khan. Bereits wenige Jahre zuvor war es den Franziskanern Johannes de Plano Carpini und Wilhelm von Rubruk unabhängig voneinander gelungen, im Auftrag des Papstes Innozenz IV. bis zum Kublai Khan vorzudringen und in Europa von den Mongolen zu berichten. Und auch dieses Mal ist der mongolische Herrscher entzückt. Längst will er seinen Landsleuten ein „kultiviertes“ Gewand verpassen. Selbst gläubiger Buddhist, interessiert sich Kublai für fremde Kulturen und Religionen, ist im Inneren sogar bereit sich missionieren zu lassen. Vorausgesetzt, die Christen schaffen es, ihn zu überzeugen. Mit der Weisung, Öl aus der heiligen Lampe am Grabe des Herrn in Jerusalem zu beschaffen und mit redegewandten Mönchen zurückzukehren, begeben sich die Gebrüder Polo auf den Heimweg nach Venedig. Die Wünsche des Kublai Khan erweisen sich freilich als vertrackte Aufgabe: Der Papst ist mittlerweile verstorben, ein neuer noch nicht gewählt. Zwei Jahre warten die Polos auf ein neues Kirchenoberhaupt, denn nur er könnte ihnen eine offizielle Delegation zur Seite stellen. 1271 schließlich entschließen sich die beiden zum Aufbruch – ohne christliche Gelehrte oder Mönche, dafür aber mit Marco Polo im Schlepptau, dem 17-jährigen Sohn des Niccolo Polo. Für Marco beginnt eine unvergessliche und strapaziöse Reise: Via Akko und Täbris reiten die Venezianer nach Kerman in Persien. Ab hier geht es per Kamel weiter. Am westlichen Rand der Taklamakan-Wüste entlang gelangen die Polos schließlich nach China. Drei Jahre brauchen die Venezianer für die gesamte Strecke. Für heutige Verhältnisse unvorstellbar. Die beschwerliche Reise führt durch Regionen, die wahrscheinlich kein westlicher Reisender vor ihnen betreten hatte. Ohne Wörterbuch, ohne Reiseführer, ohne vernünftige Karte und ohne Kontaktmöglichkeiten nach Hause, schlagen sich die drei Polos durch die Steppe. Ohne ausreichend Medikamente, ohne Impfungen, ohne irgendeine fundierte Vorstellung, wann und wie es wieder nach Hause geht. Und das alles
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mit 17 Jahren. Wie ungeheuer exotisch muss der Orient auf den jungen Marco wirken, wie aufregend die fremden Gerüche, Sprachen, Trachten und Religionen. Wie ungeheuerlicher noch die Beschreibungen der Reisenden, die sich bis nach China gewagt hatten, der Krönung an Fremdem, der weitesten Entfernung, die sich der Venezianer vorstellen konnte. Glaubt man den Erzählungen des Marco Polo, beginnt in China für den jungen Mann eine unglaubliche Karriere: Er befreundet sich mit dem Kublai Khan, verdingt sich sogar als Präfekt und Stadthalter im mongolisch besetzen China. Dass sich der gefürchtete Herrscher so ausländerfreundlich zeigt, ist gar nicht so unwahrscheinlich und auch nicht ohne Grund: Erst wenige Jahre zuvor hat er China überrannt und nicht nur alle chinesischen Intellektuellen von ihren Posten vertrieben, sondern auch rund 40 Millionen der 110 Millionen Chinesen abschlachten lassen. Noch während Marco Polos Aufenthalt kommt es zu größeren Kämpfen, denn erst 1279 gilt Gesamtchina als völlig besiegt. Im Auftrag des Khans jedenfalls reist Marco nun kreuz und quer durch China und verbringt die nächsten 17 Jahre im chinesischen Mongolenreich. Die Rückkehr nach Venedig freilich gestaltet sich schwierig. Der Kublai Khan mag die Fremden nicht ziehen lassen, und erst als eine mongolische Prinzessin zu ihrem zukünftigen Ehemann nach Persien reisen soll, ergibt sich die Gelegenheit, unter dem Deckmantel der Servilität – dem persönlichen Schutz der Adligen – China wieder zu verlassen. Dieses Mal allerdings auf dem Seeweg. Nur 17 der rund 600 Teilnehmer sollen die vierjährige Reise überleben, darunter auch alle drei Mitglieder der PoloFamilie. Als die drei Polos im Jahre 1295 wieder in Venedig anlegen, mag sich fast niemand an sie erinnern. Ohnehin wirken die seltsamen Gestalten in abgerissener, fremdländischer Kleidung wenig vertrauenserweckend. Und doch sprechen sie Venezianisch. Besonders überzeugend dürften jedoch die wertvollen, im Saum der Mäntel eingenähten Juwelen gewesen sein.
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Die Skepsis ist jedenfalls von kurzer Dauer und nach wenigen Wochen sind die Polos wieder Teil der gehobenen Gesellschaft von Venedig. Von seinen Reisen erzählt Marco gerne und ausführlich (auch wenn ihm niemand so recht glauben mag), zum Buch werden seine Geschichten jedoch erst während einer zweijährigen Gefangenschaft in Genua: Nach einer erfolglosen Seeschlacht gegen den Erzrivalen Genua, wird Polo unter Hausarrest gestellt und diktiert im Jahr 1298 dem Mitgefangenen und Romanschreiber Rustichello da Pisa seine Memoiren. Das Werk erscheint unter dem Namen „Divisament dou Monde“ (Die Wunder der Welt). Marco Polos weiteres Leben verläuft eher unauffällig: Er unternimmt keine weiteren Reisen gen Osten, heiratet, bekommt Kinder und stirbt schließlich 1324 in Venedig. Immer wieder angezweifelt und als Lügenbold beschimpft, beteuert Marco Polo bis an sein Lebensende, sich an die Tatsachen gehalten zu haben. Von Familie und Freunden auf dem Totenbett beschworen, nun endlich mit der Wahrheit herauszurücken (wer will schon als Lügner vor die Himmelspforten treten?) bäumt er sich noch einmal auf. Seine letzten Worte sind Legende: „Ich habe nicht die Hälfte von dem erzählt, was ich gesehen habe. Es hätte mir sowieso niemand geglaubt“. Soweit die offizielle Version. Denn ob und wie Marco Polo jemals in China war, ist bis heute ungeklärt. Umstritten sind seine Geschichten seit jeher, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Begründet sich die Skepsis im 13. Jahrhundert im generellen Unwissen über Asien – die Beschreibungen klangen für die Venezianer allzu exotisch und unvorstellbar – liegt es heute daran, dass die Wissenschaft über China zu viel weiß, gemessen an Marco Polos Buch natürlich. Sicher ist: Obwohl Marco Polo viele interessante und korrekte Details der chinesischen Kultur notierte, finden etliche, aus Sicht eines Ausländers sicher überaus seltsame Züge der chinesischen
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Zivilisation keine Erwähnung. Wieso ist Marco Polo in keinem einzigen chinesischen Dokument zu finden? So behauptet Polo, er habe drei Jahre lang die Stadt Yangzhou (in seinen Aufzeichnungen unter dem Namen Yangiu zu finden) regiert – ein Detail, das offensichtlich spurlos an den Historikern der Zeit vorüberging. In keiner einzigen chinesischen, mongolischen oder persischen Quelle der Zeit wird der Weltreisende erwähnt! Im Übrigen ist ihm die Stadt in den „Wundern der Welt“ nur wenige Zeilen wert: Ihr müsst euch merken: das ist eine wichtige Kapitale, unter ihrer Oberhoheit stehen siebenundzwanzig bedeutende Handelsplätze. Einer der zwölf obersten Beamten des Großkhans residiert hier. Yangiu ist eine kaiserliche Präfektur. Die Bewohner sind alle Heiden, sie sind dem Khan untertan und gebrauchen Papiergeld. Messer Marco Polo, von dem dieses Buch handelt, war hier drei Jahre Gouverneur. Handel und Gewerbe blühen. In Yangiu werden hauptsächlich Ausrüstungen für Ritter und Soldaten hergestellt. Tatsache ist, daß in der Stadt und in ihrer weiteren Umgebung viele Truppen stationiert sind. Das ist alles, was zu sagen ist.6 Genauso seltsam wirkt es, dass Marco Polo sich über das ganze Buch hinweg immer persischer, arabischer und türkischer Ausdrücke bedient, nicht jedoch chinesischer oder mongolischer Namen, die ihm nach all den Jahren im Lande geläufig sein sollten. Immerhin war Marco Polo des Chinesischen mächtig. Oder vielleicht doch nicht? Dass Polo die Ortsnamen oft in der „persifizierten“ Version verwendet (so wird aus der Stadt Xi’an beispielsweise Quengianfu), mag man noch gelten lassen – immerhin war Persisch eine Art Lingua Franca des Orienthandels. Wenn es um mongolische oder chinesische Personennamen geht, wird die Angelegenheit schon undurchsichtiger: Es ist unwahrscheinlich, dass sich all die Jahre alle persönlichen Bekannten selbst mit persischen Namen bezeichneten. Andere Personennamen wiederum sind keiner Sprache zuzuordnen und lassen die Historiker heute noch rätseln, wer gemeint sein könnte. Nicht einmal die chinesi-
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sche Zeichenschrift findet Polo erwähnenswert, obwohl er sie als Präfekt und damit Staatsbeamter beherrscht haben müsste: Zwar verwendeten die Mongolen von Haus aus eine eigene Schrift, alle offiziellen Dokumente wurden jedoch immer auch ins Chinesische übersetzt. Dies war schon deshalb notwendig, weil es Chinesen verboten war, Mongolisch zu lernen! Auch Buchdruck, Feuerwerk, Schießpulver und viele andere beeindruckende Errungenschaften erwähnt Marco Polo mit keinem Wort. Nicht einmal die Sitte, mit Stäbchen zu essen, wird in den „Wundern der Welt“ erwähnt, obwohl er sich ihrer mit Sicherheit bedient haben dürfte. Gleiches gilt für den Tee und die zahlreichen Teehäuser, die in der chinesischen Oberschicht eine große Rolle spielten. Schon aus diesem Grund ist es unwahrscheinlich, dass Polo nach seiner Rückkehr die Rezepte für Eiskrem und Spaghetti aus China mitbrachte, wie immer wieder gerne behauptet wird. Offenbar interessierte er sich (sofern er denn dort war) wenig für die kulinarischen Aspekte des Reichs der Mitte. Genauso wenig sind die gebunden Füße der chinesischen Frauen – eine für den Westen wirklich skurrile Sitte – für Polo einen Gedanken wert. Die Tatsache, dass er sich kaum für die einheimischen Religionen interessierte und die fremde Welt lieber in Zahlen und Fakten beschrieb, mag sich noch am ehesten mit seiner Ausbildung als Händler erklären: Waren und Dinge waren für ihn greifbarer als Geisteswelten. Hin und wieder sind jedoch auch die Landschaftsbeschreibungen sehr vage und: den Gelben Fluss beschreibt er nahe Xi’an so: Man verlässt das Schloss Caiciu, und nach ungefähr zwanzig Meilen westwärts erreicht man den großen Fluss Caramoran, der so breit und tief ist, dass gar keine Brücke gebaut werden kann.7 Doch der Fluss gehört zu den Dammflüssen, bei denen sich das Flussbett selbst durch Sedimente erhöht und das Wasser über weite Strecken quasi auf einem meterhohen Damm durch die Ebene fließt. Sicher wäre dies erwähnenswert gewesen!
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In Suzhou wiederum erzählt er von den nahen Bergen, in denen Rhabarber und Ingwer angebaut werden. Freilich liegt Suzhou in der Schwemmebene des Yangzi: von Bergen weit und breit keine Spur! Dass er die chinesische Mauer nicht erwähnt, mag ihm verziehen sein: Sie hatte ja gerade erst ihre völlige Sinnlosigkeit bewiesen, als die Mongolen China überrannten. Stilistisch beschleichen den Leser ebenfalls Zweifel: Bei allen wundersamen Dingen, die Polo beschreibt, scheint er immer ein wenig entrückt – eher wie ein Mensch, der eine Geschichte weitererzählt. Emotionen, Staunen, Begeisterung oder Verwunderung fehlen fast völlig. Meist spricht er von sich selbst sogar in der dritten Person. Das Buch erinnert somit oft an einen modernen Reiseführer: Wir verlassen Mangalais Schloss und reiten – immer westwärts – drei Tage durch die schönste Ebene. Überall trifft man auf Handelsstädte und Ortschaften mit Handwerkern und Seidenwebern. Am Abend des dritten Tages gelangt man an den Fuß eines Gebirges, welches zusammen mit großen Tälern die Provinz Cuncun bildet.8 Oder, noch ein wenig lapidarer: Wir lassen jetzt Sugiu (Suzhou) und gehen nach Vugiu (Wuzhou). Die beiden Städte liegen in einer Entfernung von einer Tagesreise. Vugiu ist groß. Es wird dort Handel und Gewerbe getrieben. Etwas Neues ist hingegen nicht zu melden, darum gehen wir weiter nach Vughin (vermutlich Jiaxing). Auch dies ist eine schöne Stadt.9 Leidenschaft liest sich anders. Auffällig ist ebenso: Warum handelt der Venezianer die Stationen seiner Reise nicht chronologisch ab, wie es sich bei einem Reise-
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bericht ganz zwangsläufig anbietet, sondern streift willkürlich durch Zeit und Raum? Der berühmte Reisetitel „Auf den Spuren Marco Polos“ ist nichts mehr als eine Sprachhülle, denn de facto lassen sich aus seinen Erzählungen wenige konkrete Routen herauslesen. Laut seiner Memoiren hat Marco Polo im Auftrag des Khans nicht nur China bereist, sondern auch Burma, Sri Lanka, Südostasien, Indien, den Orient, Madagaskar und Teile Ostafrikas. Die Distanzangaben zwischen den einzelnen Stationen sind dabei, freundlich formuliert, fragwürdig. Unterwegs trifft er immer wieder auf Gegenden, die selbst bei sehr flexibler Textauslegung so wahrscheinlich nicht existierten und in anderen historischen Quellen nicht erwähnt werden. Wie die Frauen- und die Männerinsel, die seiner Beschreibung nach im Golf von Oman liegen müssten: Wenn man in Kesmacoran in See sticht und fünfhundert Meilen südwärts segelt, erreicht man die Männer-Insel. Getaufte Christen wohnen dort (...) Weder Ehegattinnen noch andere Frauen wohnen auf der Männer-Insel, sie leben auf der Frauen-Insel. Und nun stellt euch vor: drei Monate im Jahr, und zwar immer im März, April und Mai begeben sich die Männer auf die Fraueninsel. Drei Monate leben und schlafen sie dort mit ihren Gattinnen zusammen. Ende Mai kehren die Männer auf ihre Insel zurück und betreiben während neun Monaten ihre Geschäfte; sie gewinnen einen sehr guten Amber. (...) Die beiden Inseln sind dreißig Meilen voneinander entfernt. Nach ihrer eigenen Aussage können die Männer nicht leben, wenn sie das ganze Jahr mit ihren Frauen zusammenwohnten.10 Auch spricht Polo in seinen Memoiren nur höchst selten von sich selbst, obwohl er sich offensichtlich durchaus gerne in der Aufmerksamkeit anderer sonnt. In Venedig ist er bald als „Milione“ bekannt, da er sich mit seinem Reichtum brüstet. Anstelle persönlicher Erfahrungen und Empfindungen zitiert Polo immer wieder geografische und historische Fakten. Nicht zuletzt ist sogar die
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Entstehungsgeschichte der „Wunder der Welt“ keineswegs geklärt. Wieso hätte man einem militärisch unerfahrenen Händler eine Position als Flottenkommandant überlassen sollen? Und wieso ist er in den genuesischen Listen der Gefangenen nicht zu finden? Der skeptische Blick auf die Erinnerungen Marco Polos lässt auch schnell Zweifel an der Korrektheit der verschiedenen Versionen aufkommen. Die Auswahl ist jedenfalls groß: Mehr als 140 verschiedene handschriftliche Versionen existieren heute noch, mit großen textlichen Unterschieden. Wer von wem kopierte, ist meist unbekannt. Keine von ihnen ist jedoch von Marco Polo oder dem Schreiber Rusticello signiert. Die zahlreichen Übertragungen von einer romanischen Sprache in die andere – das Original ist in einer Art französisch-italienischen Mischsprache gehalten – war jedenfalls eine ergiebige Fehlerquelle. Vielleicht liegt es daran, dass die Ortsnamen auch für Chinesisch-kundige Leser meist unerkennbar sind? Die hundertprozentige Antwort, ob Marco Polo wirklich in China war, wird die Wissenschaft wohl schuldig bleiben. Einzelne Argumente für oder wider Polos Glaubwürdigkeit lassen sich durchaus widerlegen. In der Summe jedoch scheint es eher unwahrscheinlich, dass er je persönlich in China gelebt hat. Es ist gut möglich, dass Polo einfach nur ein brillanter Erzähler war. Und ein guter Zuhörer, der aus den Lagerfeuergeschichten anderer Reisender im Orient ein wunderbar spannendes Buch zusammenspann, das die Welt seither begeistert. Vor allem die Verwendung persischer und arabischer Ortsnamen für die angeblich besuchten Orte stützt diesen Verdacht. Zudem weisen seine Beschreibungen immer wieder große Ähnlichkeit mit den Erzählungen arabischer Autoren auf. Dennnoch, wer Marco Polo kritisiert oder in Frage stellt, muss sich fast schon ein wenig als „Spielverderber“ fühlen, immerhin verkörpert er, wovon viele Menschen insgeheim träumen: den Mut zu abenteuerlichen Reisen, den Kontakt mit fremden Kulturen und
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die Hoffnung, dass sich kulturelle Unterschiede problemlos überbrücken lassen, dass eine friedliche Koexistenz möglich ist. Kein Wunder, dass der mongolische Kublai Khan in den Werken über Marco Polo immer ausnehmend gut wegkommt: Ein weiser und wohlwollender Herrscher! Vor allem, wenn man ihn mit dem Original vergleicht, dem Regenten, der offensichtlich kein moralisches Problem damit hatte, ein Drittel aller Chinesen abzuschlachten und die Überlebenden zu Menschen zweiter Klasse zu degradieren. Bis in die 1990er-Jahre wurden Marco Polos Erinnerungen außerhalb der Fachwelt erstaunlich wenig angezweifelt. Erst die britische Sinologin Frances Wood fasste die zweifelhaften Punkte in ihrem Buch „Marco Polo kam nicht bis China“ zusammen und löste damit eine breite Diskussion aus. Eine Frage kann jedoch auch sie nicht beantworten: Wenn Marco Polo nicht bis China kam, wo bitte war er dann?
MYTHOS 9:
Der Lange Marsch war ein glorreicher Militärstreich Im Grunde ist die Geschichte des Langen Marsches (changzheng, 䭓ᕕ) gar nicht so kompliziert: Rund 100 000 kommunistische Rebellen fliehen vor den übermächtigen Regierungstruppen, werden ein Jahr lang kreuz und quer durch das Land gejagt und dabei fast vollständig aufgerieben. Erst in einer abgelegenen, staubigen Ecke Chinas gelingt es den Überlebenden, einen sicheren Unterschlupf zu finden.
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Geht es nach der Kommunistischen Partei Chinas, ist die Darstellung ungleich blumiger. In der offiziellen Propaganda kommt der Lange Marsch einem Schöpfungsmythos gleich, an dessen Ende Mao Zedong wie ein Phönix aus der Asche emporsteigt. Kaum eine historische Begebenheit wurde so stark umgedeutet, glorifiziert, verdreht und verschönert wie der Lange Marsch, so dass er im Nachhinein fast schon wie ein raues, aber spaßiges IndianaJones-Abenteuer anmutet. Zahllose Filme und Dokus wurden darüber gedreht, Bücher geschrieben, O-Töne der Teilnehmer gesammelt, allesamt den heroischen Mythos zementierend. Auch im Westen hat der Lange Marsch einen positiven Beigeschmack. Googelt man den Begriff im Internet, ergeben sich allein auf Deutsch rund 140 000 Treffer, auf Englisch sind es über eine Million. Viele davon handeln in der Tat von den historischen Gegebenheiten. All die anderen zeigen, wo ein langer Marsch sonst noch hinführen kann. Zur schlanken Taille zum Beispiel, wie in der Focus-Reportage „Mein langer Marsch zum Leichtgewicht“ über einen Amerikaner, der beim Lauf von Küste zu Küste endlich sein kolossales Übergewicht anging11 (ein Problem, das die echten Teilnehmer übrigens nicht kannten). „Barrosos langer Marsch“ lautet ein anderer Titel aus dem österreichischen Standard über die Arbeit des EU-Kommissars12, während die Süddeutsche mit „Münchens langer Marsch“13 die rot-grüne Koalition auf die Reise schickt. Selbst in der Welt der Informatik wird lang und zäh marschiert. „Langer Marsch von DSSSL nach HTML“14 heißt es auf der Seite einer Hamburger Softwarefirma, während das Handelsblatt den „Langen Marsch ins Zinstal“ antritt15. Wenig verwunderlich wurde auch Chinas erste Trägerrakete auf den Namen „Langer Marsch“ getauft. Interessant bleibt hingegen die Frage, ob hinter dem Trekkingrucksack „Long March“ (70 Liter Füllung!) der Firma Aspen nicht ein unentdeckter Spaßvogel steckt. Alles in allem ist der Lange Marsch also durchaus positiv besetzt. Er steht für zähes Durchhaltevermögen, Dauerhaftigkeit, erfolg-
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reiche Mühe, Aufopferung, Heldentum und generell alle Kämpfe, die lange dauern und doch noch gut enden. Vom Rucksack bis zur Politik – auch im Westen! Nicht ganz unschuldig daran war der amerikanische Journalist Edgar Snow, der 1936, also kurze Zeit nach Ende des Langen Marsches vier Monate in der neuen Basis Yan’an verbrachte und zahlreiche Interviews mit Mao Zedong aufzeichnete. Das daraus entstandene Buch „Roter Stern über China“ war zwar eine journalistische Meisterleistung, jedoch trug sie lediglich die geschönte und glorifizierte Version Maos vom langen Marsch in die Welt: Der Geist des Abenteuers, der Erforschung und Entdeckung, menschlicher Mut und menschliche Feigheit, Ekstase und Triumph, Leiden, Opfer und Treue, und dann durch all dies wie eine Flamme hindurchleuchtend ein ungetrübtes Feuer, unauslöschliche Hoffnung und erstaunlicher revolutionärer Optimismus dieser Tausenden von jungen Menschen, die nicht zulassen konnten, von Menschen oder Natur oder Gott oder Tod besiegt zu werden – all dies und mehr schien in der Geschichte einer unvergleichlichen modernen Odyssee verkörpert zu sein16. Auch von der Freigiebigkeit der Roten Armee und der vermeintlich guten Versorgungslage über weite Strecken des Marsches berichtete Snow: Es gab viel „Überschuss“ – mehr als die Roten tragen konnten – der unter den Armen des Ortes verteilt wurde. In Yunnan zogen die Roten von reichen Kaufleuten Tausende von Schinken ein, und Bauern kamen meilenweit herbei, um freie Portionen abzubekommen – ein bedeutendes Ereignis in der Schinkenindustrie, sagte Mao Tse-tung. Tonnen von Salz wurden gleichermaßen verteilt.17 Viele Seiten lang lässt er Mao beschreiben, wie willkommen die Rote Armee überall aufgenommen wurde, wie zäh und stolz seine Armee bis zum Ende durchhielt. Doch wie sah die Realität aus?
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Neue Impulse Lange Zeit war es kaum möglich, in China über die wahren Hintergründe und Ereignisse des Langen Marsches zu forschen. Viele Mitglieder des Politbüros und andere mächtige Persönlichkeiten bezogen ihre politische Daseinsberechtigung aus der Teilnahme am Langen Marsch. Wer die Strapazen und Angriffe der Nationaltruppen Jiang Kaisheks (oft auch als Chiang Kai-shek transkribiert) überlebte, hatte seine Hingabe zur sozialistischen Sache hinreichend bewiesen und Mao in der dunkelsten Stunde beigestanden. Er galt als zäher Geselle, der die Partei über alles stellte. Soweit die Legende. Unter der ersten Führungsgeneration von Mao Zedong und Zhou Enlai war also genauso wenig an historische Forschung zu denken, wie unter der zweiten Führungsgeneration unter Deng Xiaoping, der ebenfalls am langen Marsch teilgenommen hatte und sich genauso darüber legitimierte. Erst mit der Ära Jiang Zemin verlor der Lange Marsch ein kleines bisschen an Glamour. Denn nun hatten Politiker die höchsten Ämter inne, die in den 1920ern und 1930ern geboren waren und den Langen Marsch nur vom Hörensagen kannten. Anstelle des revolutionären Veteraneneifers trat die Legitimation durch technisches Fachwissen und die passenden Kontakte. 1981 wurde Maos Politik offiziell von der Partei als „70 % gut und 30 % schlecht“ beurteilt. Das mag im Westen nicht gerade als kritische Haltung durchgehen, war aber in China ein eindeutiges Signal: Mao ist nicht mehr sakrosankt. Genauso erschwerend für die Aufarbeitung des Langen Marsches war der Mangel an Dokumenten und Aufzeichnungen. In den mehr als fünfzig Jahren seit Ende des Marsches waren zahlreiche Kampagnen und eine Kulturrevolution durch das Land gefegt, viele Archive waren zerstört, historische Dokumente vernichtet worden. Zu großen Teilen ist es letztlich einer Journalistin zu verdanken, dass der Mythos doch noch nachweislich bröckelte: 2004,
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siebzig Jahre nach dem Ende des Langen Marsches, bereiste die Journalistin Sun Shuyun die Route der Roten Armee und sammelte die Erinnerungen der Überlebenden aus dieser Zeit. Quasi in letzter Sekunde. Denn schon rein biologisch konnte es kaum noch Augenzeugen geben, da die meisten weit über neunzig waren. Suns Berichte zeigten auf einmal ein ganz anderes Bild: von Elend und Intrigen, von Verzweiflung und Hunger. Und von Säuberungskampagnen, in denen erstmals die Gegner Maos hingerichtet wurden. Eine Darstellung, die auch zur Sichtweise von der MaoBiografin Jung Chang passt (die jedoch nicht immer ganz unumstritten ist). War also alles doch ganz anders als in der Propaganda beschrieben?
Aus dem Chaos geboren Um den Langen Marsch historisch, jenseits seiner Eignung als Abenteuerroman zu begreifen, muss man einige Jahrzehnte zurückgehen. In das zerrissene China der chinesischen Revolution. 1911 gelingt es dem Geheimbund Tongmenhui (ৠ䮼Ӯ) von Sun Yatsen (ᄿ䘌ҭ, auch Ёቅ) nach mehreren Versuchen, die Monarchie zu stürzen. Mehr als 20 Jahre hatte der kantonesische Arzt im In- und vor allem Ausland dafür Gelder gesammelt, Anhänger rekrutiert und seine Theorie vom Volkswohl propagiert. Ganz konkret entzündet sich der Funke am kaiserlichen Plan, die Eisenbahnen zu verstaatlichen und von ausländischen Fachkräften verwalten zu lassen. Nachdem sich die Provinz Sichuan daraufhin im Oktober 1911 von der kaiserlichen Regierung lossagt, folgen in den nächsten Tagen zahlreiche weitere Provinzen. Der vom Hof zu Hilfe gerufene General Yuan Shikai (㹕Ϫ߅) erkennt die ausweglose Lage – und wechselt die Seite. Die Zeit der Monarchie ist zu Ende, der Kaiser muss abdanken, China verwandelt sich in eine Republik. Theoretisch zumindest. Der „erfolgreiche“ Revoluzzer Sun Yatsen wird von den Delegierten der abtrünnigen Provinzen zum provisorischen Präsidenten ernannt, tritt jedoch wenige Wo-
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chen später wieder vom Amt zurück. Viel zu wenig Rückhalt hatte er beim Militär und den lokalen Gouverneuren! An seiner Stelle wird, Zähne knirschend, General Yuan Shikai als Präsident vereidigt. Während dieser den geheimen Plan schmiedet, sich selbst zum Kaiser auszurufen und die Monarchie wieder einzuführen (ein Plan, der endgültig daran scheitert, dass Yuan 1916 kurz vor der Thronbesteigung stirbt), zerfällt China de facto in viele kleine Reiche, denen skrupellose Militärmachthaber, die so genannten Warlords, vorstehen. Sie tyrannisieren die Bevölkerung, erheben abstruse Steuern und walten nach Gutdünken. Wer hätte sie auch aufhalten sollen? Man stelle sich das Land vor: riesig groß, mit überaus schlechter Kommunikation, wenigen Straßen und noch weniger Telefonen, ein Land, in dem der Kaiser abdankt und die Menschen in den abgelegenen Regionen es erst Jahre später erfahren. Ein Land, in dem viel zu viele Menschen viel zu wenig zu essen haben, nur wenige lesen und schreiben können und die Hauptstadt für die meisten Menschen so weit weg ist, wie für den heutigen Deutschen Timbuktu. Unter diesen Vorzeichen sind die allgemeinen Parlamentswahlen von 1913 eine Farce, die diesen Namen gar nicht verdient haben und daher auch nicht zu einer durchsetzungsfähigen Regierung führen. Nicht nur das – Yuan lässt zudem den Tongmenhui-Bund verbieten. De facto regierte Yuan nun neben den Warlords, während Sun nach Japan flieht. Erst 1917 kehrt er wieder nach China zurück. Politisch läutet das Ende der Monarchie also eine Zeit des Chaos ein, die bis heute nicht vollständig historisch erforscht ist, gleichzeitig aber auch eine Ära der neuen Ideen. Denn erstmals kommt nun auch westliches Gedankengut in großem Stil nach China. Gedanken von Demokratie und Bürgerrechten, genauso wie ein bunt gemischtes Sammelsurium an Denkschulen wie Utilitarismus, Hedonismus, Bolschewismus und natürlich Sozialismus und Kommunismus. In Anbetracht der überaus schlechten Lebensbedingungen scheint er für viele Intellektuelle eine passende politische
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Lösung. 1921 wird in Shanghai die Kommunistische Partei Chinas gegründet: Ein kleiner Haufen Delegierter aus dem ganzen Land, der erst einmal wenig Aussicht auf politische Einflussnahme hat. Selbst die Komintern entsendet Berater, die die Kommunisten geradezu zwingen, geschlossen den Republikanern beizutreten, die seit 1918 in Kanton erneut eine Gegenregierung zu den Machthabern im Norden eingerichtet und ihrer Partei den neuen Namen Guomindang (⇥ )ܮgegeben haben. 1925 stirbt Sun Yatsen und General Jiang Kaishek (auf Hochchinesisch: Jiang Jieshi, 㩟ҟ) tritt die Nachfolge an. Mit den Kommunisten kann sich Jiang freilich nicht so recht anfreunden. Vorerst jedoch widmet er sich dem dringlichsten Problem: der Einheit Chinas. 1926 gelingt es ihm, im „Nordfeldzug“ zahlreiche Warlords zu besiegen und zumindest große Teile Chinas wieder unter die Macht der Republik zu zwingen. Dann wendet er sich den Kommunisten zu. 1927 lässt er Tausende von kommunistischen Agitatoren in Shanghai hinrichten oder jeden, der auch nur danach aussieht. Hals über Kopf fliehen die verbliebenen Kommunisten in den Untergrund oder aufs Land. Wenig später missglückt auch der Nanchang-Aufstand, den Mao zusammen mit Zhu De in Jiangxi anzettelt. Mao flüchtet sich ins Bergland der Provinz Jiangxi: Eine Region, die man sich als wahrlich abgelegenes Gebiet vorstellen muss, eine wilde, subtropische Landschaft mit wenigen Wegen und noch weniger befestigten Routen, eine Ecke Chinas, die kaum zu überschauen ist. Kurzum, ideal, um sich zu verstecken. Angriffe durch die Guomindang-Truppen wehren die Roten Truppen im unwegsamen Gelände durch Guerillataktiken ab. Im Herbst 1932 flüchtet sich auch die Parteiführung der Shanghaier KP endgültig nach Jiangxi, wo Mao mittlerweile über Millionen Menschen herrscht und sich in „Säuberungskampagnen“ seiner Gegner und lokaler Konkurrenten entledigt. Erstmals taucht Mao nun als bedeutende Figur der chinesischen Geschichte auf – und wird doch gleich wieder an den Rand gedrängt. Mit der Ankunft der hohen städtischen Parteikader, die noch immer an die herausragende Rolle des Proletariats glauben, verliert Mao die meisten Entscheidungsbefugnisse.
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1933 ändert Jiang zudem die Angriffstaktik der Guomindang. Mit rund 500 000 Soldaten lässt er den „Jiangxi Sowjet“ umzingeln, Straßen anlegen und in kleinen regelmäßigen Abständen befestigte Blockhäuser bauen. Die Guerillataktik Maos wird damit nutzlos – und das Gebiet der Roten Armee zusehends kleiner.
Hauptsache raus! 1934 beschließt die Parteiführung, ohne den mittlerweile eher unwichtigen Mao zu konsultieren, aus der Umklammerung auszubrechen. Ohnehin scheint es keine Alternative zu geben: Jiang ist den Kommunisten mit rund zehnmal so vielen Soldaten haushoch überlegen. Zudem sind seine Truppen erheblich besser ausgerüstet. Wie viele Menschen sich letztlich auf den Weg machen, der später als Langer Marsch weltberühmt werden soll, ist unklar. Manche Quellen sprechen von 100 000, andere wieder von 80 000. Irgendwo in der Mitte liegt wahrscheinlich die Wahrheit. Sicher ist: Es sind nur 40 Frauen dabei, vor allem die Ehefrauen hochrangiger Parteikader. Genauso sicher ist auch: Um die 50 000 Kommunisten müssen zurückbleiben. Frauen, Kinder, Verwundete, Alte und Schwache sind auf dem Marsch nicht erwünscht – sie würden, so fürchtet die Führung, den Treck aufhalten. Von diesen Menschen ist selten die Rede. Wohl auch, weil all jene, die später als kommunistische Sympathisanten identifiziert wurden, ihre Geschichte nicht mehr erzählen können. Der Befehl, zurückzubleiben, war für viele ein Todesurteil, trotz der rund 15 000 Mann starken Truppe, die zum Schutz der Bevölkerung und Verwundeten zurückblieb. Auch Maos zweijähriger Sohn Anhong wurde zusammen mit Maos Bruder Zetan zurückgelassen. In Anbetracht der Tatsache, dass sogar Druckerpressen und Parteiakten mitgetragen wurden, kommt schon die eine oder andere Frage auf. Hätte ein liebender Vater nicht wenigstens versuchen wollen, sein Kind zu retten? Zumal anfangs keines-
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wegs klar war, dass die Flucht sich zu einem „Langen Marsch“ derartigen Ausmaßes entwickeln würde. Am 10. Oktober ist es so weit: Während eine 6 000 Mann starke Armee einen Scheinausbruch im Nordosten unternimmt, macht sich die erste Rote Armee auf den Weg in den Südwesten. Dank großzügiger Zahlungen gelingt es, den Einkesselungsring an einer korrupten Stelle zu durchbrechen. Was nun folgt, wird in offiziellen Dokumenten gerne immer noch als „strategische Operation“ bezeichnet. De facto ist es ein tödlicher Gewaltmarsch, von dem nicht einmal Ziel und Richtung feststehen. Kreuz und quer irren die Verfolgten durch China, dicht gefolgt von den Guomindang-Truppen. Täglich komm es zu Angriffen und Kämpfen, teils lässt Jiang den Treck sogar bombardieren. Doch nicht nur dies reduziert die Rote Armee beträchtlich: „Sechs Wochen nach Beginn des Marsches war Maos Erste Armee von 86 000 auf 30 000 Soldaten geschrumpft. Die Schuld für diesen Verlust wird immer noch der Schlacht am Fluss Xiang zugeschrieben, dem ersten großen Gefecht der Armee auf dem Marsch. Doch starben höchstens 15 000 in der Schlacht, die übrigen verschwanden“18.
Zunyi: Endlich ganz oben Schnell wird klar: So kann es nicht weitergehen. In Zunyi, einer Kleinstadt der Provinz Guizhou, legt die Rote Armee im Januar 1935 einen längeren Stopp ein. Hier heißt es Vorräte fassen, neue Kräfte schöpfen – und endlich eine Strategie entwickeln, wo die Flucht überhaupt hinführen soll! Während die kommunistische Führungsspitze tagelang die Ursachen der Niederlage in Jiangxi heiß debattiert, gelingt es Mao, sich immer mehr durchzusetzen. Jetzt ist seine große Stunde gekommen. Die ihm verhassten Berater des Komintern haben ganz offensichtlich mit ihrer Politik versagt und auch die bisherige
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Parteispitze hat sich durch die fatale Situation in Jiangxi diskreditiert. Mao wird in das Ständige Komitee des Politbüros berufen und gehört fortan zur Führungsspitze der Partei. Eine Position, die er in den nächsten Monaten durch geschicktes Taktieren und Intrigen auszubauen weiß. Fortan lenkt er die Rote Armee „von Sieg zu Sieg“, zumindest, wenn es nach der Propaganda geht. De facto jedoch haben die Kommunisten das Schlimmste noch vor sich. Insgesamt 370 Tage sollte das Martyrium letztlich dauern. Da es den Truppen von Guizhou aus nicht gelingt, den Yangzi zu überqueren, wendet sich die Rote Armee nach Süden, zieht über die Provinz Yunnan an Sichuan vorbei und durchquert Teile Tibets. Mehr als 12 000 Kilometer legen die Flüchtenden insgesamt zurück. Eine Strecke also, so weit wie die Distanz von Frankfurt bis an die äußerste Spitze Sibiriens oder bis an die Südspitze Afrikas. Nicht zuletzt, weil die Flüchtenden immer wieder große Umwege in Kauf nehmen müssen, um nicht auf Guomindang-Gebiet zu geraten, feindliche Stämme umgehen müssen und hin und wieder nicht einmal über verlässliches Kartenmaterial verfügen. Maos Erste Armee ist dabei übrigens nicht allein: Auch andere kommunistische Armeen wagen nach und nach den Ausbruch aus den Umzingelungen durch die Guomindang in Südostchina. So bricht die 25. Armee 1934 mit 10 000 Mann aus Henan auf, im Frühjahr 1935 folgen rund 80 000 Soldaten der Vierten Armee aus Sichuan und Ende 1935 die Zweite Armee mit 10 000 Mann aus dem Grenzgebiet von Hubei und Hunan19. Freilich marschieren sie nicht gemeinsam, sondern treffen nur hin und wieder aufeinander. Nicht zuletzt, weil Mao auf keinen Fall einen zweiten Armeeführer an seiner Seite dulden will. Über das Schicksal der Zweiten, Vierten und Fünfundzwanzigsten Armee ist jedoch weitaus weniger bekannt, obwohl sie ebenfalls Tausende Kilometer zurücklegen, bevor die Überlebenden in Shaanxi eintreffen – wahrscheinlich liegt es schlicht daran, dass sie eben nicht unter der Leitung des zukünftigen Staatschefs (und damit historisch interessanten) Mao Zedong marschieren und ihre Teilnehmer
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später weitaus weniger politisches Gewicht haben. Zudem läuft der Kommandeur der Vierten Armee Zhang Guotao 1938 zur Guomindang über – Grund genug, seine ganze Armee mit historischer Nichtbeachtung zu strafen. Nur ein Zehntel aller Teilnehmer des Marsches der Ersten Armee überlebt die Strapazen. All die Flüchtigen, „Gesäuberten“ und Verschwundenen nicht mitgezählt, genauso wenig wie die Zwangsrekrutierten, die immer wieder als Träger einspringen müssen. Als die Erste Rote Armee unter Maos Führung im Oktober 1935 in Wuqi in der Provinz Shaanxi ankommt, zählt sie nur noch 8 000 Mitglieder. Unter den Überlebenden sind nicht nur Mao Zedong und Zhou Enlai, zwei Politiker, die bis zu ihrem Tod 1976 Chinas Politik prägen sollen, sondern auch Deng Xiaoping, Zhu De, Chen Yun, Lin Biao, Peng Dehuai, Liu Shaoqi, Yang Shangkun und viele andere große Namen: Eine fest eingeschworene Gemeinschaft, von denen alle mit einem hohen Amt belohnt werden. Was sich genau auf dem Weg von Zunyi nach Yan’an abspielte, lässt sich heute nicht mehr genau rekonstruieren. Sicher ist, es war ein Weg voller Hunger, Entbehrung und Krankheiten. Viele Schlachten und heldenhaften Begebenheiten, wie sie jedes Kind in China auch heute noch aufsagen kann, werden mittlerweile allerdings in Frage gestellt. Allen voran die Überquerung des tosenden Flusses Dadu Ende Mai 1935. In der offiziellen Darstellung sollen 22 Mann sich heldenhaft über die nahezu zerstörte Brücke gehangelt haben, im Kugelhagel der gegnerischen Truppen, und so letztlich die gesamte Armee gerettet haben. Tagelang verteidigten sie den Brückenkopf, während Tausende Soldaten die Brücke Mann für Mann überquerten. Einst als strategische Meisterleistung und Schaubild für den Mut der Soldaten hochgehalten, wird heute stark bezweifelt, ob die Schlacht jemals stattgefunden hat. Geht es nach den Augenzeugenberichten von Sun Shuyun, wurde die Brücke lediglich von
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einer Kompanie der Nationalisten bewacht, die beim Anblick der übermächtigen Kommunisten die Flucht ergriffen haben sollen.20 Im Rückblick wird der Lange Marsch immer wieder auch als perfekte Propagandaveranstaltung gepriesen: Im Gegensatz zu den Guomindang-Soldaten, bei denen es sich oft um bezahlte Söldner handelte, die sich je nach Auftragslage als Banditen (also ohne Auftraggeber) oder Soldaten (mit Auftraggeber) verdingten, soll die Rote Armee in der Landbevölkerung einen vergleichsweise guten Eindruck hinterlassen haben. Was einerseits nicht schwer war, handelte es sich bei den Nationaltruppen doch um skrupellose Kriminelle, die plündernd und mordend durch die Dörfer zogen und zudem auch noch mit den verhassten Grundbesitzern unter einer Decke steckten. Auch die Rote Armee wurde nicht immer so begeistert aufgenommen, wie es die maoistische Geschichtsschreibung gerne gehabt hätte. Insbesondere die Zwangsrekrutierungen trafen die Dorfbewohner, denen oft nicht mehr genügend Männer blieben, um die Felder zu bestellen. Besonders auf dem letzten Drittel des langen Marsches durch das tibetische Grasland und die Steppe blieb den hungernden und verzweifelten Überlebenden gar nichts anderes übrig, als den Einheimischen Lebensmittel zu stehlen. Sicher ist: Für beide Seiten, die letzten Teilnehmer des Langen Marsches wie die letzten Augenzeugen entlang der Marschroute, dürfte es wie Hohn in den Ohren klingen, würden sie vom „Langen Marsch zum Leichtgewicht“ lesen.
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Die Kommunistische Partei regiert China Chinas Internetstatistiken sind beeindruckend: 450 Millionen Internetnutzer21 gab es November 2010 laut China Internet Network Information Center (CNNIC), mehr als 11 Millionen registrierte Domänennamen und rund drei Millionen www-Websites. Kaum ein Land der Welt hat mit solch einem Enthusiasmus und solcher Geschwindigkeit über alle Altersgruppen hinweg das Internet angenommen (zum Vergleich: Noch im Jahr 2000 waren es gerade mal 22 Millionen Internetnutzer). Vor allem unter jungen Chinesen ist das Internet die wichtigste Informationsquelle, nicht selten werden hier, bei aller staatlichen Kontrolle, in Blogs und Foren kritische Diskussionen zu politischen Themen geführt. Und dennoch, man mag es kaum glauben: Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) hat keine eigene Webseite! Die geradezu offensichtlichen Adressen www.ccp.cn und www.cpc.cn sind Ende 2010 allen Ernstes noch zu haben. Warum nutzt die Partei nicht diese einfache und günstige Methode des Eigenmarketing? Wie würde es wirken, hätten SPD, CDU oder irgendeine andere Partei Europas keine eigene Webpräsenz? Man muss dazu sagen: Zahlreiche staatliche Organisationen, wie die Tageszeitung (und offizielles Parteiorgan) Renmin Ribao (Volkszeitung, Ҏ⇥᮹) widmen der Partei ordentlich Platz (http://english.cpc.people.com.cn/index.html). Auch Untergruppierungen der Partei wie das International Department des Zentralkomitees der KPCh präsentieren sich im Netz (www.idcpc.org. cn). Eine Internetpräsenz der Gesamtpartei gibt es jedoch nicht.
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Wahrscheinlich hat die Zurückhaltung im Internet einen ganz simplen Grund: Die Partei braucht keine Webseite, weil sie, salopp gesprochen, sowieso überall präsent ist, ohne dass man auf diesen Umstand übermäßig aufmerksam machen wollte. Vielleicht hat es aber auch damit zu tun, dass sie sich gar nicht allzu offen präsentieren will. Gern umgibt sich die Partei mit einem Hauch von elitärer Geheimniskrämerei. Viele Verhandlungen werden hinter geschlossenen Türen geführt, Ergebnisse erst kommuniziert wenn sie bereits einheitlich beschlossen sind. Allerdings wird immer wieder vermutet, dass die Partei inkognito in Foren und Blogs die Meinung des Volkes testet. Dennoch: Nur wer zwischen den Zeilen der parteinahen Presse zu lesen weiß, ahnt, wie die großen politischen Entscheidungen in China zustande kommen. Sicher ist: Die Partei ist immens wichtig und gibt in der Politik den Ton an.
Wer regiert China? Wohl auch deshalb heißt es in den westlichen Medien immer wieder pauschal, die Kommunistische Partei regiere China. Um es in haarspalterischer Manier gleich zu sagen: Nein. Regiert wird China von der chinesischen Regierung. Oder genauer gesagt: Vom Nationalen Volkskongress, kurz NVK (ܼҎ⇥ҷ㸼Ӯ, Quanguo Renmin Daibiao Dahui). Dieses Gegenstück zum westlichen Parlament wird alle fünf Jahre von den Delegierten der ProvinzVolkskongresse, der autonomen Regionen, der regierungsunmittelbaren Städte und der Volksbefreiungsarmee gewählt. Weil der Nationale Volkskongress mit fast 3 000 Mitgliedern kaum handlungsfähig ist, tritt er nur einmal im Jahr zusammen. In der Zwischenzeit übernehmen die 150 Abgeordneten des „Ständigen Ausschusses“ (ܼҎ⇥ҷ㸼ӮᐌࡵྨਬӮ, Quanguo Renmin Daibiao Dahui Changwu Weiyuanhui) das Alltagsgeschäft. Der NVK ist unter anderem verantwortlich für die Gesetzgebung, den Staatshaushalt und den nationalen Wirtschaftsplan, er kontrolliert die Umsetzung der Verfassung und wählt den Staatspräsi-
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denten (ᘏ㒳, Zongtong), den Vizepräsidenten, den Vorsitzenden der Zentralen Militärkommission und den Generalstaatsanwalt (᳔催Ẕᆳ䰶, Zuigao Jianchayuan) – und kann alle diese Politiker auch wieder aus dem Amt heben. Der NVK nimmt also viele Aufgaben wahr, die in westlich-demokratischen Staaten vom gewählten Parlament erledigt werden. Um es hier noch einmal zu betonen: Auch der NVK ist, anders als man im Westen oft vermutet, gewählt. Nicht nur deshalb wäre es falsch, den Mitgliedern des NVK völlige Parteihörigkeit zu unterstellen. Hin und wieder kommt es im Nationalen Volkskongress sogar zu überraschenden Abstimmungsergebnissen, die gar nicht so recht zur sozialistischen 100 %-Linie passen mögen. So wurden beispielsweise 1992 bei der Abstimmung über den Drei-Schluchten-Damm nicht nur 1767 Ja-Stimmen, sondern auch 177 Ablehnungen und 664 Enthaltungen vermerkt. Auf der untersten Kreis- und Gemeindeebene der Volkskongresse kann sich mittlerweile theoretisch jeder Bewohner aufstellen lassen. Zehn Wähler oder mehr haben das Recht, einen Kandidaten zu nominieren. Auch wenn die meisten Nominierungen immer noch durch die Partei erfolgen, haben auch unabhängige Vertreter eine Chance, wie die Wahlen der lokalen Volkskongresse 2006/ 2007 gezeigt haben, da die Repräsentanten auf dieser untersten Ebene per direkter Wahl gewählt werden.
Macht in Theorie und Praxis Doch wie kommt es nun, dass letztlich doch die Partei den politischen Kurs bestimmt? Es ist ja unumstritten (nicht einmal chinesische Medien machen einen Hehl daraus), dass die Regierung nicht unabhängig von der Partei agiert. Die wahren Verflechtungen sind schwer zu fassen und geschehen meist über die Personalunion von Partei und Regierung. Auf der Webseite des China Internet Information Center (CIIC) heißt es ganz offiziell:
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„Die Abgeordneten des Nationalen Volkskongresses bilden nach den Wahleinheiten Delegationen. Jede Delegation wählt ihren Leiter und stellvertretenden Leiter. Die Leiter sind im Allgemeinen die Sekretäre der Parteikomitees der KP Chinas auf der Provinzebene und der Armee-Einheiten der höchsten Ebene oder die Vorsitzenden der Ständigen Ausschüsse der lokalen Volkskongresse. Die stellvertretenden Leiter sind im Allgemeinen die Vorsitzenden oder stellvertretenden Vorsitzenden der Ständigen Ausschüsse der lokalen Volkskongresse auf der Provinzebene oder der ArmeeEinheiten der höchsten Ebene.“22 Das Schlüsselwort heißt also Personalunion. So bekleidet Hu Jintao nicht nur das Amt des Staatspräsidenten, sondern auch das des Generalsekretärs der Partei. Rund 70 % aller NVK-Delegierten sind hohe Parteikader. Auch in anderen Schlüsselpositionen finden sich meist Kader der KPCh. Für diese nicht ganz zufälligen Überschneidungen sorgt das Central Organisation Department COD (Ё݅ѻܮЁ༂㒘㒛䚼, Zhongguo Gongchandang Zhongyang Zuzhibu). Dieses de facto „Personalbüro der Partei“ führt nicht nur die Akten aller Mitglieder, sondern platziert Kader gezielt in wichtige Positionen. Eine Reihe von Regeln sorgt theoretisch dafür, dass die Kader dabei je nach Parteizugehörigkeitsdauer, Ausbildungs- und Weiterbildungslevel an die richtige Stelle geraten. Um der Vetternwirtschaft innerhalb der Partei Einhalt zu gebieten, werden Kader im Laufe ihrer Karriere zudem in verschiedene Regionen versetzt. Tatsächlich gibt es aber eine Reihe von Ausnahmeregeln für besonders vielversprechende Talente. Interessanterweise ist das COD niemandem Rechenschaft schuldig. Wer, warum, wann und wo platziert wurde, bleibt das Geheimnis der Organisation. Kein Wunder, dass dem COD, einer der wichtigsten Organisationen der Partei, ein Hauch von Geheimnis anhaftet. Nur wer seine Kontakte in die Führungsetage des COD pflegt, kann sich in der Staats- und Parteispitze halten.
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Nicht minder wichtig ist die unausgesprochene Dominanz der Partei. So werden die wichtigsten Ämter wie Staatspräsident, Generalstaatsanwalt und der Vorsitzende der Zentralen Militärkommission zwar vom NVK gewählt, aber immer „auf Vorschlag des Parteitags“. Kaum ein Vertreter des NVK mit Karrieregedanken würde hier mit einem eindeutigen „Nein“ stimmen. Besonders stark sind die Überschneidungen im Staatsrat, dem obersten Verwaltungsorgan des Staatsapparates, der „vollziehenden Körperschaft des höchsten Organs der Staatsmacht und höchsten Organ der Staatsverwaltung“23, so die offizielle Bezeichnung: Die Kommunistische Partei ernennt die Mitglieder, der Nationale Volkskongress muss nur noch zustimmen – was er, welch Überraschung, auch immer zuverlässig tut. Interessant ist dabei: Weder bei der Platzierung von Kadern in hohen Positionen noch beim Ämter-Vorschlagswesen braucht sich die Partei auf einen rechtlichen Anspruch zu berufen, wird kein Gesetz oder gar die Verfassung zitiert. Es könnte daher, rein theoretisch, auch einmal anders kommen. Träte dieser Fall ein, gäbe es sicher allerhand Mechanismen, die ein Abweichen von der Parteilinie verhindern würden. Freilich könnten die Sanktionen nicht offiziell erfolgen. Doch wie begründet die KP dann ihren Anspruch – ja tut sie es überhaupt offiziell? Der Schlüsselsatz ist in der Präambel der Verfassung zu finden. Hier heißt es: „Unter der Führung der Kommunistischen Partei Chinas und angeleitet durch den MarxismusLeninismus, die Mao-Zedong-Ideen, die Theorien Deng Xiaopings und die grundlegende Idee der „drei Repräsentationen“ werden die Volksmassen aller Nationalitäten Chinas weiterhin festhalten an der demokratischen Diktatur des Volkes, am sozialistischen Weg sowie an Reform und Öffnung, ununterbrochen die sozialistischen Institutionen vervollkommnen, die sozialistische Marktwirtschaft und die sozialistische Demokratie entwickeln, das sozialistische Rechtssystem perfektionieren und auf die eigene Kraft gestützt
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hart arbeiten, um schrittweise die Modernisierung von Industrie, Landwirtschaft, Landesverteidigung sowie Wissenschaft und Technik zu verwirklichen, die koordinierte Entwicklung der materiellen, politischen und geistigen Zivilisation zu befördern und China zu einem wohlhabenden, demokratischen und hochzivilisierten sozialistischen Land zu machen.“24 Die realistischste Auslegung der Präambel ist die Devise „die Partei legt den politischen Kurs fest, die Regierung setzt ihn um“. Wie dies geschehen soll, ist in der Verfassung jedoch nicht weiter definiert. Im restlichen Text kommt die Partei nur am Rande vor. Lediglich das Verbot der Kritik am bestehenden System ist, mit ein wenig Einfühlungsvermögen, aus dem ersten Artikel herauszulesen: „Die Sabotage des sozialistischen Systems ist jeder Organisation oder jedem Individuum verboten“. Rein theoretisch könnte der chinesische Staat also auch ohne Partei funktionieren. Denn bis in die Führungsspitze sind Partei und Staat bzw. Regierung parallel angelegt. Das heißt, für jede Regierungsebene gibt es quasi eine Entsprechung in der Partei, die in der Realität dem staatlichen Pendant überstellt ist, freilich, ohne dass dies irgendwo festgehalten wäre.
Die größte Partei der Welt Derzeit sind rund 75 Millionen Chinesen Mitglied in der KPCh – sie ist damit die größte Partei der Welt und vereint doch nur einen kleinen Teil der Bevölkerung unter ihrem Dach. Rund jeder zwölfte erwachsene Chinese hat den Sprung zur Macht geschafft. Einfach ist es nicht: Wer Mitglied werden will, braucht nicht nur die Empfehlung zweier Mitglieder, sondern muss auch einen komplexen Aufnahmetest bestehen. An Kandidaten mangelt es nicht: Die Mitgliedschaft in der Partei gilt nicht nur als hervorragende Netzwerkbasis, sondern auch als Auszeichnung, die nur den Besten zuteilwird. Zu Deutsch: Dumm darf man nicht sein, wenn man nicht zu den wenigen gehört, denen die Mitgliedschaft dank pro-
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minenter Eltern quasi vererbt wird. Auch eine zweifelhafte politische Vorgeschichte ist ein Ausschlusskriterium. Zu Beginn muss der Kandidat eine einjährige Probezeit überstehen. Zahlreiche Fortbildungen und Seminare gehören dazu, genauso wie der strenge Blick der Parteimitglieder auf den Neuling. Erst wer sich bewährt hat, kann zum Vollmitglied avancieren. Bei größeren Verfehlungen, zum Beispiel die Verwicklung in politische Skandale oder kriminelle Tätigkeiten, können Mitglieder auch wieder ausgestoßen werden. Dies geschieht durchaus nicht selten: Zwischen 1997 und 2001 wurden nach offiziellen Angaben fast 125 000 Mitglieder ausgeschlossen. Auch wenn keine aktuellen Zahlen vorliegen: Seither ist die Zahl ganz sicher nicht gesunken. Generell ist die Partei wie eine Pyramide aufgebaut, an deren Basis sich die lokalen Parteibüros befinden. Sie wählen die Delegierten der regionalen Parteitage, die wiederum Delegierte an den nationalen Parteitag entsenden – allerdings unter Empfehlung des nächsthöheren Organs. Das höchste Organ der Partei ist der Parteitag (Ё݅ѻܼܮ ҷ㸼Ӯ, Zhongguo Gongchandang Quanguo Daibiao Dahui), der alle fünf Jahre zusammentritt. Mit rund 2 000 Delegierten ist er jedoch viel zu groß, um die Tagesgeschäfte zu bewältigen. Die Delegierten wählen daher rund 200 Vollmitglieder und rund 150 alternierende Mitglieder des Zentralkomitees (Ё݅ѻܮЁ༂ྨ ਬӮ, Zhongguo Gongchandang Zhongyang Weiyuanhui). Diese wiederum wählen das Politbüro (Ё݅ѻܮЁ༂ᬓ⊏ሔ, Zhongguo Gongchandang Zhongyang Zhengzhiju), das aus 24 Mitgliedern besteht. Nun folgt eine letzte Runde: Von den Mitgliedern des Politbüros werden neun in das Ständige Komitee gewählt (Ё ݅Ё༂ᬓ⊏ሔᐌྨ, Zhongguo Gongchandang Zhongyang Zhengzhiju Changwu Weiyuanhui). Das ist der Machtkern, die Führung der Partei. Dieser innere Zirkel bestimmt über den politischen Kurs des Landes, allerdings hinter verschlossenen Türen. Für die Allgemeinheit sind Kurswechsel und politische Entscheidungen erst ersichtlich, wenn die Diskussionen bereits beendet sind.
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Verborgene Kämpfe Aus dem Westen mag die Partei daher wie ein monolithischer Block wirken, der knöchern auf sozialistische Prinzipien pochend und frühkapitalistische Realitäten schaffend einen sturen Kurs verfolgt. Doch die Wahrheit sieht anders aus. Auch hier gibt es viele Meinungen, werden Kurskämpfe ausgefochten, treten Gruppierungen gegeneinander an. Allerdings finden diese Auseinandersetzungen in zahlreichen Parteigremien hinter verschlossenen Türen statt. Bereits früh in der Geschichte der Partei, lange bevor der Sieg über die Nationalisten in Reichweite lag und die KPCh überhaupt eine realistische Siegeschance hatte, wurden in der Partei die ersten Grabenkämpfe geführt, denen auch Mao Zedong seinen Aufstieg zu verdanken hatte (s. Mythos 9). In der obersten Riege teilt sich die Partei in sogenannte Faktionen auf (die im Unterschied zu den Fraktionen im MehrparteienSystem in der Tat ohne „r“ geschrieben werden). Dies geschieht natürlich nicht offiziell. Hinter der Fassade der Geschlossenheit tummeln sich zahlreiche Seilschaften, denen die Kader beispielsweise aufgrund einer gemeinsamen geografischen Herkunft, dem Studium an derselben Universität oder ähnlicher Kriterien angehören. Bis vor wenigen Jahrzehnten gingen die verschiedenen Lager oder Faktionen nicht gerade zimperlich miteinander um. Wohl auch, weil es derartige Meinungsunterschiede im Sozialismus nach offizieller Lesart gar nicht geben kann. Nicht zuletzt haben offene Diskussionen in China wenig Tradition und gelten nicht unbedingt als erstrebenswert, in der Familie genauso wenig wie in der Politik. Die politischen Richtungskämpfe wurden meist unter dem Deckmantel der politischen Korrektheit ausgetragen. Vordergründig ging es also nie um den Wettstreit unterschiedlicher Meinungen, sondern die ganz große Wahrheit: Wer sind die „wahren“ Sozialisten? Was ist die korrekte „Parteilinie“?
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Schon früh nach der Machtübernahme kristallisierten sich zwei Lager heraus, die sich vor allem in Sachen Wirtschaftspolitik unterschieden. Auf der einen Seite standen Mao Zedong und seine Gefolgsleute, denen die Bekämpfung der Klassenfeinde und die „richtige ideologische Gesinnung“ (also ihre eigene) wichtig waren. Auf der anderen Seite standen Deng Xiaoping (䙧ᇣᑇ) und Liu Shaoqi (߬ᇥ༛), die sich vor allem durch eine pragmatische Wirtschaftspolitik auszeichneten und das wirtschaftliche Wohlergehen über die ideologische Reinheit stellten. Vor allem die Hardliner um Mao Zedong nutzten immer wieder das Mittel der Massenkampagnen, um sich der unliebsamen Gegner zu entledigen. Egal ob in der Kampagne gegen „Rechtsabweichler“, der Kritik an Konfuzius, der Kampagne gegen Korruption oder andere: Fast wie zufällig wurden meist Maos Gegner verschiedenster Vergehen oder politischer Abweichungen angeklagt. Teils nahmen die Massenkampagnen den Charakter von Gehirnwäsche an. Mit jeder politischen Massenkampagne wurde zudem die persönliche Freiheit, die Toleranzzone für abweichende Meinungen, ein wenig enger gezogen. Mehr als 50 Kampagnen mussten die Bewohner der Volksrepublik seit 1949 über sich ergehen lassen. Der erste große Konflikt zwischen den beiden Faktionen, der „Linken“ und der „Rechten“, wie sie oft vereinfacht genannt werden, zeichnete sich bereits 1956 ab: Auf dem achten Parteitag stellten die Parteikader öffentlich fest, dass „nicht mehr der Widerspruch zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse den Hauptwiderspruch darstellt, sondern der Unterschied zwischen den Bedürfnissen der Bevölkerung und den wirtschaftlichen Defiziten“. Denn noch immer litten die Chinesen unter bitterster Armut. Etliche führende Politiker der Partei setzten sich deshalb für weniger Ideologie und mehr wirtschaftliche Realpolitik ein. Doch Mao hatte keineswegs vor, den „Rechtsabweichlern“ und „Revisionisten“ die politische Bühne zu überlassen. 1957 wurden
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in der „Kampagne gegen Rechtsabweichler“ bereits zahlreiche Intellektuelle und Politiker verhaftet. 1959 holte er schließlich zum ganz großen Schlag aus: Im „Großen Sprung nach vorn“ ( 䎗䖯, Da Yuejin) sollte die wirtschaftliche und politische Entwicklung nicht in Schritten, sondern in großen Sprüngen vorangehen! In nur 15 Jahren, so Maos Plan, sollte China die Stahlproduktion Englands überholen, die landwirtschaftlichen Erträge um mehr als 45 % pro Jahr steigern und letztlich so das Stadium des wahren Kommunismus erreichen – und natürlich seiner Faktion zum Sieg verhelfen. Die chinesischen Bauern, gerade erst Besitzer ihrer Äcker geworden, verloren abermals ihr Land und wurden in gigantischen Volkskommunen organisiert. Privatleben war nun nicht mehr vorgesehen, nicht einmal essen sollte die Familie zusammen, sondern in gemeinsamen Kantinen. Aus Angst vor Repressalien meldeten fast alle lokalen Kader spektakuläre Ernteerträge an die Zentrale. In der Realität jedoch hungerte das Volk: Fehlplanungen und Naturkatastrophen kosteten Millionen Chinesen das Leben. Schon auf dem Lushan-Parteiplenum 1959 kritisierte der Verteidigungsminister Peng Dehuai öffentlich die Politik des Großen Sprungs – und damit indirekt auch Mao –, die 1961 schließlich als gescheitert galt. Dengs und Lius Faktion der „Realisten“ gewann die Oberhand. Deng Xiaopings berühmtester Ausspruch stammt übrigens aus dieser Zeit: „Es ist egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist. Hauptsache, sie fängt Mäuse“, ließ er 1962 verlauten und setzte sich für die Auflösung der Kommunen ein. Dank der Parzellen zur Eigenbewirtschaftung und privater Märkte verbesserte sich die Versorgungslage innerhalb weniger Jahre erheblich. Maos Revanche ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Unter dem Deckmantel einer „permanenten Revolution“ der Gesellschaft rief er 1966 die „Große proletarische Kulturrevolution“ (᭛࣪䴽ੑ, Wenhua Da Geming) ins Leben. Nun galt es, die Gesellschaft von allen revisionistischen Elementen zu säubern – eine Kategorie, die
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auch die Mitglieder der konkurrierenden Faktion umfasste. Große Teile der chinesischen Jugend formierten sich zu den „Roten Garden“ (㑶݉, Hongbing), die als marodierende Massen durch das Land zogen, alles Alte und »Bourgeoise« zerschlugen und willkürlich Menschen öffentlichen Kritiksitzungen unterzogen. Auch Liu Shaoqi (immerhin Staatspräsident Chinas!), wurde 1968 verhaftet und starb 1969 als Folge der harten Haftbedingungen. Auch Deng Xiaoping, unter anderem Mitglied des Politbüros und stellvertretender Ministerpräsident, wurde aller Ämter enthoben und öffentlich gedemütigt. Wie viele Millionen Menschen in dieser Zeit an den Übergriffen der Roten Garden starben, bleibt ungewiss. Sogar über die Dauer der Kulturrevolution streiten die Historiker bis heute. Sicher ist, dass sich 1969 der Alltag zunehmend normalisierte. Wirklich beendet jedoch war die Kulturrevolution erst mit dem Tode Mao Zedongs 1976 und dem daraus resultierenden Prozess gegen die „Viererbande“ 1978. Gemeint sind damit Maos Ehefrau Jiang Qing und drei weitere Kader, die als eigentliche Drahtzieher der Kulturrevolution galten. 1977 schließlich gelang es Deng Xiaoping, endgültig rehabilitiert zu werden und das Ruder zu übernehmen. Trotz seiner herausragenden Stellung musste er jedoch bis Mitte der 1990er im Hintergrund gegen die Mitglieder der konkurrierenden Faktionen kämpfen. Heute haben die ideologischen Kämpfe nachgelassen. Auf seine Kampferfahrung als Revolutionär der ersten Stunde, als Teilnehmer des Langen Marsches oder andere ideologische Gründe kann sich schon aus Altersgründen niemand mehr berufen. Dennoch lassen sich weiterhin Faktionen erkennen. Auch wenn sie sich nicht mehr bis aufs Blut bekämpfen, ist den meisten Chinesen klar, wer zur Gruppe der Shanghaier gehört oder den Absolventen der Qinghua-Universität, um nur zwei zu nennen. Auch deshalb ist es heute für die jeweilige chinesische Parteiführung immens wichtig, den Leiter des COD in der eigenen Seilschaft zu wissen. Denn nur wenn es gelingt, die eigenen Leute in den richtigen Positionen unterzubringen, kann sich eine Faktion an der Macht halten.
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Der Staat und die permanente Revolution Der Einfluss der Massenkampagnen setzt sich übrigens bis heute fort, auch wenn dies nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist. Viele Politiker der Öffnungspolitik hatten selbst unter der Kulturrevolution stark gelitten – vor allem unter dem Mangel an „Staat“ in seinen Manifestationen Gesetz, Erziehung und öffentlicher Sicherheit. Sowohl Erziehungs- als auch Rechtswesen und gesundheitliche Versorgung waren in der Kulturrevolution außer Kraft gesetzt oder in den Dienst der Revolution gestellt worden. Als die Partei Ende der 1960er die Kontrolle über die Roten Garden verlor und sogar das Militär zu Hilfe rufen musste, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, gab es keine staatliche Organisation oder unabhängige Polizei, die in diese Bresche hätte springen können. Kein Wunder, dass sich Deng Xiaoping, weitaus mehr als im Westen bekannt, für eine Stärkung des Rechtswesens einsetzte. Die Führungsriege der Öffnungspolitik hatte ein ganzes Jahrzehnt der Staatslosigkeit erlebt und den Sinn und Zweck eines starken Staates durchaus erkannt: Die Partei mag den Staat infiltrieren und kontrollieren, ersetzen kann sie ihn nicht. Oder, um es anders herum zu formulieren: Niemand weiß, was passieren würde, wenn die Partei mit einem Schlag nicht mehr existierte. Wahrscheinlich würden die staatlichen Strukturen nicht zwangsläufig zusammenbrechen, da sie theoretisch unabhängig existieren. Ob es überhaupt je soweit kommen wird, ist fraglich: Ganz abgesehen von der Frage, ob sich die Mehrheit der Chinesen wirklich einen Führungswechsel wünscht, kann sich die Partei im Krisenfall auf das Militär verlassen, das ganz offiziell von der parteieigenen Zentralen Militärkommission (Ё༂ݯџྨਬӮ, Zhongyang Junshi Weiyuanhui) befehligt wird – und nicht vom Verteidigungsministerium! Im Alltag der Menschen ist dies kaum von Bedeutung, wohl aber im Fall eines nationalen Aufstands. Nicht zuletzt hat die Partei mit der Propagandaabteilung eine enorme (wenn auch nicht totale) Kontrolle über die Medien – ein
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nicht zu unterschätzendes Instrument. Angesichts dieser Sicherheiten darf die Parteiführung hin und wieder auch ein wenig Offenheit zeigen. So machten die Journalisten der offiziellen Selbstdarstellung „German.China.org.cn“ im Dezember 2010 auf der Webseite folgendes Angebot: „In der Nähe des Sommerpalastes in Beijing befindet sich ein geheimnisumwobener Ort: Die Parteischule des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas. In den 1980er-Jahren war sie noch eine Geheimeinheit – auf der Landkarte war die Schule nicht zu finden und im Telefonbuch gab es keine Eintragung. Was ist nun diese Parteischule? Die Parteischule ist das höchste Bildungsinstitut der regierenden KP Chinas. Fast alle Gouverneure und Minister haben an dieser Schule gelernt. (...) Wie sieht es in der Parteischule aus? Was ist ihre Geschichte und Entwicklung? Wie studieren die hochrangigen Beamten? All dies bleibt Außenstehenden ein Rätsel. Journalisten von China. org.cn haben nun die Chance, einen Rundgang durch die Parteischule zu machen. Haben Sie Fragen an uns über die Institution? Bitte senden Sie uns diese, wir werden für Sie nach der Antwort suchen.“25 Eigentlich richtet sich dieser Aufruf an deutsche Surfer. Für die Antworten dürfte sich allerdings auch manch ein Chinese interessieren.
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China ist ein armes sozialistisches Land China ist ein Entwicklungsland. China ist Exportweltmeister. Chinas Bauern leben wie im Mittelalter. China bedroht die deutsche Wirtschaft. Chinas Bevölkerung leidet... Die meisten dieser Schlagwörter sind der journalistischen Vorliebe für knackige Titel geschuldet. Was also ist China nun: Eine aufstrebende Wirtschaftsmacht? Oder doch noch ein Teil der Dritten Welt? Ist China sozialistisch? Oder schon längst kapitalistisch geprägt? Die Antwort ist vielschichtig: Ja. Nein. Vielleicht. Und das auch noch gleichzeitig! Mit 9,6 Millionen Quadratkilometern Fläche ist China das viertgrößte Land der Erde und entspricht damit ungefähr der Fläche Europas und Nordafrikas zusammen – schon diese gewaltige Ausdehnung macht es schwer, ganz China über einen Kamm zu scheren. Regional zeigt sich China dementsprechend bunt: Von tropisch bis kalt-gemäßigt ziehen sich die Klimazonen, mindestens zwanzig Sprachen werden in China gesprochen (je nachdem, wie man die Grenze zwischen Dialekt und Sprache definiert), mehr als 50 verschiedene Ethnien leben hier. Auch in Sachen Einkommen und Wirtschaft ist China nicht minder divers. Rund 1,3 Milliarden Menschen leben im Land – die Volksrepublik ist damit das bevölkerungsreichste Land der Welt! Darunter übrigens auch fast eine Million US-Dollar-Millionäre. Nach Rupert Hoogewerf, dem Ersteller der „Hurun Rich List“, hat China mit geschätzten 500 Milliardären wahrscheinlich sogar die meisten US-Dollar-Milliardäre der Welt. Das klingt nicht wirklich arm. Doch genau an diesem Punkt
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wird es kompliziert. Denn auf jeden Millionär kommen rund 150 Menschen, die nach der offiziellen Definition der Weltbank in absoluter Armut leben, also mit weniger als einem US-Dollar Verdienst pro Tag ihr Dasein fristen. Mittlerweile sind die Gegensätze so groß, dass im Vergleich selbst Westeuropa einen homogenen Eindruck macht. Wissenschaftler messen derartige Ungleich-Verteilungen mit dem Gini-Koeffizienten – je höher er ist, desto größer sind die Einkommensunterschiede im Land. Der Wert Null entspräche dabei einer völligen Gleichverteilung, während der Wert 1 einer totalen Konzentration entspräche. China liegt derzeit bei 0,5. Noch 1978, zu Beginn der Öffnungspolitik, lebten gut zwei Drittel aller Chinesen in absoluter Armut, der Gini-Koeffizient stand bei 0,18. Oder um es deutlicher zu sagen: Die Chinesen waren damals noch bettelarm, aber eben alle gleich arm. Zum Vergleich: Deutschland hat einen Gini-Koeffizienten von 0,3, die USA liegen bei 0,38. Zwischen den Reichen und den Armen tummeln sich all die anderen Bürger Chinas – darunter eine junge, stetig wachsende Mittelschicht, die mittlerweile mindestens 300 Millionen Menschen umfassen dürfte. Denn auch das ist China: Ein Land, in dem die soziale Durchlässigkeit, die Möglichkeit mit Geschäftssinn, mit ein bisschen Glück und dem Gespür für die richtigen Kontakte nach oben zu kommen, immer noch vergleichsweise hoch ist. Sicher ist: China hat in den letzten dreißig Jahren gewaltige Fortschritte gemacht. War zu Beginn der Öffnungspolitik quasi kaum von einer Wirtschaft zu reden, beeindruckt China seither mit hohen Wachstumsraten. Zwischen zehn und 20 % lagen diese, selbst in Jahren schlechter Weltwirtschaftslage. Rund 500 Millionen Menschen hat China seit Beginn der Öffnungspolitik aus der Armut geholt26 . Kein Staat der Welt hat dies je in so kurzer Zeit geschafft – wohl gemerkt nach Angaben der Weltbank, die sicher nicht im Dienste Chinas steht. Ganz nebenbei hat China mit rund 2,65 Billionen US-Dollar (Stand November 2010) auch die größten Devisenreserven der Welt und gilt seit August 2010 als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, ein Titel den bis dato die Japaner verteidigten. In puncto Handelsvolumen steht China immerhin
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weltweit an dritter Stelle. Geht es nach dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf rangiert China nur an Rang 106. Doch auch hier glänzt das Land mit spektakulären Wachstumsraten. Ganz nebenbei steigen auch die Lebenserwartung, derzeit 73 Jahre, und die Alphabetenrate, die mit rund 95 % längst europäisches Niveau erreicht hat. All dies sind griffige Zahlen, die gut klingen. Doch was bedeutet das für die Menschen, für ihren Alltag? Selbst Besuchern ohne große Hintergrundkenntnisse wird bei der Ankunft in China klar: Dies ist nicht dasselbe Land wie im Jahr 2000. Und schon gar nicht wie in 1990 oder gar 1980. Stadtbild, Infrastruktur, die Kleidung der Menschen, ja sogar ihre Ausstrahlung haben sich grundlegend geändert. Bescheinigte der taiwanesische Psychologe Sun Longji Mitte der 1980er seinen Landsleuten bitterböse noch das „Geistesleben eines Gemüses“, käme heute niemand mehr auch nur annähernd auf einen derartigen Gedanken. Städte wie Shanghai oder Kanton bestechen mit einem rauschenden Nachtleben, das selbst Berlin bieder aussehen lässt, während in Beijing moderne Kunst und Musik gemacht wird. Von Stagnation oder stupider Wiederholung politischer Parolen ist nichts mehr zu spüren. Auch architektonisch erinnert in den Städten nichts mehr an die 1980er. Stadtpläne gehören schon nach einem Jahr in den Papiermüll. Überall wohlgemerkt. Denn so schnell, wie in den Innenstädten die modernen Wolkenkratzer aus dem Boden schießen, kann kein Kartograf zeichnen. Kleinstädte verdoppeln in ein, zwei Jahren schnell mal ihre Grundfläche und bauen noch ein paar Vorstädte an, in denen zuerst die Fabriken und dann die Straßen gebaut werden. Auch ohne Chinesischkenntnisse wird dem Besucher schnell klar: Die Chinesen haben die Nase voll von Armut und Mangel. Staatlich wird dieser Trend allemal unterstützt, denn der Kommunistischen Partei ist klar: Nur wenn sie es schafft, möglichst viele Menschen am Aufschwung zu beteiligen, hat sie eine Chance, die Macht zu behalten. Anders als die Regierungen Europas ist die chinesische Führung nicht durch allgemeine Wahlen legitimiert. Stattdessen
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bestimmt größtenteils die Kommunistische Partei, wer in der Politik mitmischen darf. Das Argument, man habe sich den politischen Kurs nun mal selbst ausgesucht, samt allen Nachteilen, hat in China wenig Zugkraft. Stattdessen muss sich die Führung daran messen lassen, ob sie es schafft, für einen überwiegenden Teil der Menschen (subjektiv empfunden) gute Lebensbedingungen zu schaffen. Wichtiger ist dabei nicht der absolute Lebensstandard – der Blick nach Europa zeigt, dass Reichtum allein nicht zwingend glücklich macht – sondern die Bewegung, das Wachstum und nicht zuletzt die Hoffnung für alle, irgendwann auch einmal davon zu profitieren. In den chinesischen Medien wird das gesellschaftliche Ziel oft als „Xiaokang“ (ᇣᒋ) beschrieben: „Kleiner Wohlstand“ für alle. Solange die Mehrheit der Menschen in China mit der wirtschaftlichen Entwicklung zufrieden ist, darf sich die Kommunistische Partei daher sicher im Sattel wähnen. Kein Wunder, dass sich hier und da die Idee aufdrängt, das Reich der Mitte kümmere sich eher wenig um den Eindruck, den es auf der internationalen Bühne hinterlässt. Chinas Führung blickt erst nach innen und dann nach außen. Internationale Anerkennung ist gewünscht – aber zweitrangig, denn gemessen werden Partei und Regierung an den Erfolgen im Landesinneren. Wichtiger als die harten Fakten sind die gefühlten Wirtschaftsdaten: „Steter Aufstieg für alle“ muss das Motto lauten. Vor allem die wachsende Mittelschicht wünscht sich nicht nur finanzielle Erfolge, sondern auch Annehmlichkeiten, die im Westen längst völlig normal sind: Ein eigenes Auto, eine eigene Wohnung mit funktionierender Heizung, Klimaanlage und natürlich viele Reisen. Selbst auf den fernen Malediven macht sich diese Entwicklung bemerkbar: Chinesische Hochzeitspaare gehören zur wichtigsten Zielgruppe der Luxusressorts. In den Städten und den Küstenregionen ist der „kleine Wohlstand“ durchaus angekommen. Der Mittelstand Shanghais darf sich über einen Lebensstandard freuen, von dem europäische Staaten wie Moldawien oder Albanien nur träumen können. Auch wenn es
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noch Arme gibt – hier hat sich längst eine breite Mittelschicht etabliert, die nicht nur materiell gut versorgt ist, sondern durchaus auch zufrieden wirkt. Wer in Shanghai mit Verkäuferinnen, Taxifahrern und Straßenköchen ins Gespräch kommt, muss nicht selten zum Schluss kommen: Noch sind zwar nicht alle reich, aber alle rechnen fest damit. Es ist einfach nur eine Frage der Zeit! Die Statistiken sprechen dafür: In den Städten Chinas betrug das durchschnittlich verfügbare monatliche Einkommen im Jahr 2009 immerhin 17 175 Yuan (ca. 1 717 EUR). Da wundert es nicht, dass der Anteil der Stadtbevölkerung von 18 % im Jahr 1978 auf 47 % im Jahr 2009 gestiegen ist. Dennoch ist der Fortschritt nicht überall in China gleichmäßig verteilt. Auch wenn der Aufschwung in vielen ländlichen Regionen zu spüren ist, gibt es sie: die Armenhäuser, die abgelegenen Regionen, in denen sich seit den 1970ern wenig geändert hat. Das ist die andere, wenig beachtete Seite der Medaille, die immerhin rund 53 % aller Chinesen betrifft. Im Durchschnitt verdienen die Stadtbewohner Chinas mehr als dreimal so viel wie die Bauern auf dem Lande, deren durchschnittlich verfügbares monatliches Einkommen im Jahr 2009 nur 5.153 RMB (ca. 515 EUR) betrug. Ein Bauer der Provinz Guizhou verdient nur rund ein Zehntel eines Shanghaier Durchschnittslohns! In vielen Gegenden dürften die Extreme sogar noch weiter auseinander liegen. Die meisten der allerärmsten Chinesen leben fernab der Städte. Laut Internationalem Währungsfonds sind rund ein Drittel aller Dorfbewohner arbeitslos: In der Landwirtschaft werden sie nicht mehr gebraucht, andere Einkommensmöglichkeiten sind rar gesät. Kein Wunder, dass viele ehemalige Bauern als Wanderarbeiter durchs Land ziehen. Warum auch sollten sich die Bewohner der armen Gegenden mit ihrem Schicksal abfinden? Problematisch ist jedoch, dass in China innerhalb des Landes keine Freizügigkeit herrscht. Jeder Mensch besitzt eine „Hukou“, eine Art Aufenthaltsgenehmigung, an die auch der Bezug sozialer Leistungen, der Schulbesuch der Kinder, eventuelle Renten und
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andere Vergünstigungen geknüpft sind. Dabei wird besonders zwischen städtischer und ländlicher Hukou unterschieden – aufgrund dieses Kriteriums lässt sich in China die Zahl der Stadt- und Landbewohner auch immer exakt feststellen. Eine ländliche Hukou ist meist mit Nutzungsrechten an Ackerland verknüpft. Das ist im Grunde aber auch schon der einzige positive Aspekt einer ländlichen Hukou. Denn in den meisten Regionen gibt es für die ländliche Bevölkerung weder Krankenkassen noch staatliche Renten. Nur wer eine städtische Hukou besitzt, darf in der Stadt wohnen, arbeiten und seine Kinder dort zur Schule schicken. Ein Wechsel war bisher nur schwer möglich – abstruserweise kann es erheblich leichter sein, eine Reise ins ferne Ausland zu unternehmen als innerhalb des Landes umzuziehen. Mindestens 250 Millionen Wanderarbeiter sind derzeit in Chinas Städten tätig, ohne die passende Hukou zu besitzen, in manchen Städten machen sie bis zu einem Drittel der Bewohner aus! Wird ihre Arbeitskraft nicht gebraucht, kehren sie temporär in die Dörfer zurück. Ursprünglich wurde das Hukou-System in den 1950ern erschaffen, um die Slumbildung in den Städten zu verhindern und die landwirtschaftliche Versorgung sicherzustellen. Heute ist es oft nur noch ein wirtschaftlicher Hemmschuh, schließlich setzen sich die meisten Arbeiter ohnehin darüber hinweg. Im Oktober 2010 beschloss daher erstmals eine chinesische Großstadt, in ihrem Einzugsgebiet den Wechsel zwischen ländlicher und städtischer Hukou freizugeben27, ohne dass die Bauern ihr Land aufgeben müssen. Sicher wird auch die Zentralregierung dieses Pilotprojekt der Millionenstadt Chengdu in der Provinz Sichuan genauestens beobachten. Sind die Folgen positiv, ist mit weiteren Lockerungen im Rest des Landes zu rechnen. Für die Wanderarbeiter in Chengdu bedeutet dies ganz konkret, dass sie ihre Kinder auch in der Stadt anmelden können und so von den Sozialleistungen profitieren. Auch Lohnstreitigkeiten mit den Arbeitgebern sind nun wirkungsvoller zu beheben: In der Vergangenheit wurden Wanderarbeiter immer wieder um ihren Lohn betrogen. Der Weg zur Polizei war ihnen dabei versperrt, schließlich hielten sie sich ja illegal in der Stadt auf.
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Neben den Stadt-Land-Unterschieden kommen in China große regionale hinzu: Zwischen Shanghai und dem Hinterland der Provinz Xinjiang liegen nicht nur Tausende von Kilometern, sondern auch wahre Welten. In den Ballungsräumen der Küste erinnert China oft eher an Europa denn an die Dritte Welt. Je weiter gen Nordwesten und je weiter ins Landesinnere, desto ärmer werden die Bewohner Chinas. So betrug das gesamte Pro-KopfEinkommen eines Shanghaier Stadtbewohners im Jahr 2008 rund 3 022 EUR. Ein Landbewohner der Provinzen Guizhou oder Gansu muss sich mit rund 400 EUR Gesamteinkommen im Jahr begnügen – das entspricht rund 280 EUR Netto-Verdienst. Auch in China lässt sich damit kaum überleben. Wären die meisten Bauern nicht semi-autark dank eigener Anbauprodukte, sähe die Lage noch schlechter aus. Wie hoch der Lebensstandard des Einzelnen de facto ist, hängt vor allem von den Finanzen der jeweiligen Provinz ab: Jede Provinz erhebt eigene Steuern und verteilt sie auch. Doch wo wenige Einnahmen sind, kann auch wenig in Krankenhäuser, Bildung, soziale Absicherung oder Infrastruktur investiert werden. Kein Wunder, dass der Wechsel von einer Provinz in die nächste hin und wieder sogar physisch spürbar ist: Zum Beispiel, wenn der Bus von den glatten Straßen der reichen Provinz Jiangsu über die Grenze ins benachbarte Anhui holpert. Eine deutliche Erinnerung daran, dass China keinen „Finanzausgleich“ zwischen den Provinzen vorsieht. Mit den holprigen Straßen könnte aber dennoch bald Schluss sein. China investiert enorm in den infrastrukturellen Ausbau: Allein im Fünf-Jahresplan 2006 – 2010 waren es 540 Milliarden US-Dollar! Wer heute über eine der modernen Autobahnen der Küstenregionen rauscht oder ganz nach westlicher Manier im Feierabendverkehr stecken bleibt, mag gerne glauben, dass China den Status eines Entwicklungslandes lieber gestern als heute abschütteln möchte. Gab es 1949 nur rund 20 000 Kilometer Schienen, sind es heute fast 100 000 Kilometer – inklusive des Maglev-Hochgeschwindigkeitszugs. Mehr noch als die vergleichs-
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weise kleinen Länder Japan, Taiwan oder Korea, braucht China eine moderne Verkehrsstruktur, um das Wirtschaftswachstum auch in die Randgebiete zu bringen und damit langfristig die Stabilität des Landes zu sichern. Nicht zuletzt ist es auch eine Frage des Prestiges, immer bei den Allerersten mitzuspielen. Ganz besonderes Augenmerk liegt auf der Entwicklung im Zugsektor: Allein zwischen 2006 und 2010 investierte China rund 220 Milliarden Dollar in den Ausbau des Schienenverkehrs. Mit Erfolg. Nirgendwo sonst in der Welt fahren so viele Hochgeschwindigkeitszüge durchs Land: Bereits jetzt sind rund 7 000 Kilometer High-Speed-Schienen in Betrieb, weitere 20 000 Kilometer sind im Bau. 2008 wurde die erste High-Speed-Strecke von Beijing nach Tianjin eröffnet, kurz darauf folgte die Strecke von Kanton nach Wuhan. Hier rast der Zug mit 350 km/h über die Ebene – eine Strecke, die noch vor wenigen Jahren gut einen Tag beanspruchte. Schon 2012 soll die Hochgeschwindigkeitstrasse Beijing-Shanghai eröffnet werden. Dank 380 km/h Reisegeschwindigkeit liegen die beiden wichtigsten Städte Chinas dann nur noch 4 Stunden voneinander entfernt. Zahllose weitere Strecken sind im Bau. Weitere 300 Milliarden Dollar will das Ministerium für Eisenbahnen in den nächsten Jahren in neue Schnellfahrtstrecken investieren – als Teil eines Konjunkturprogramms der chinesischen Regierung. Selbst internationale Verbindungen nach Indien, Singapur, ja sogar bis Westeuropa sind angedacht. Noch lächelt der Westen – doch wenn China eines besonders gut kann, dann ist es das vermeintlich Unmögliche. Denn wer hätte vor 15 Jahren inmitten der Abertausenden von Beijinger Fahrrädern geglaubt, dass sich einmal sieben Millionen Autos in der Stadt drängen würden? Mit Abgasnorm EU 4 versteht sich, als Elektroautos oder mit Hybridantrieb. Dass China einmal mit 3,6 Millionen Kilometern das zweitlängste Straßennetz der Welt haben würde, davon viele topmoderne Autobahnen? Und dies, obwohl erst zwei Prozent aller Chinesen ein Auto besitzen (zum Vergleich: In Deutschland sind es 56 %).
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Diese neue Mobilität kommt nicht nur den Wohlhabenden zugute, sondern gerade auch den Wanderarbeitern. Dort wo neue Industriegebiete ausgewiesen werden, tauchen schnell auch Arbeitskräfte auf: jung, flexibel, und immer willens, hart zu arbeiten – Hauptsache der Verdienst stimmt. Mitunter nimmt der Wille zum sozialen Aufstieg für westliche Betrachter seltsame Formen an. Denn Arbeitgeber mit angenehmen Arbeitszeiten und vielen freien Tagen sind wenig beliebt. Lieber 300 statt 200 Stunden im Monat arbeiten, lautet die Devise der meisten Fabrikarbeiter. Vor allem in den niederen Jobs in der Fabrikation sind viele Arbeitsstunden ein Plus. Aus gutem Grund natürlich. Die Chinesen haben nicht kollektiv den Verstand verloren, sondern wollen Geld verdienen. In der Fabrikation wird meist nach Arbeitszeit oder Stückzahlen entlohnt. Wer länger am Band steht, verdient also mehr. Ohnehin leben die meisten Wanderarbeiter in reinen Industriegebieten mit wenig Ablenkung. Warum also nicht gleich rund um die Uhr Geld verdienen und sich für die Zukunft absichern? Da heißt es arbeiten, sparen und investieren, kurzum, möglichst schnell zu Geld kommen, bevor es an die Familienplanung geht. Vom Staat ist wenig zu erwarten, die Alters- und Gesundheitsabsicherung liegt derzeit meist noch in den Händen der Individuen. Auch wenn China fieberhaft daran arbeitet, gibt es derzeit noch keine landesweite Kranken-, Renten- oder Arbeitslosenversicherung. Nach der Politik der „eisernen Reisschüssel“, die eine elementare Grundversorgung für alle bot, kam die große Freiheit der Öffnungspolitik. Waren die Menschen bis Ende der 1970er über den Arbeitsplatz alle in Danwei-Einheiten organisiert und damit je nach Finanzlage der Danwei mehr oder minder abgesichert, fiel dieses automatische Netz ersatzlos weg, als die meisten Staatsbetriebe aufgelöst wurden oder die Menschen freiwillig die Einheiten verließen. Heute leben die meisten Chinesen außerhalb des Danwei-Systems. Bleibt die Frage: Warum schafft China nicht einfach ein neues soziales System? Weil es unglaublich teuer ist! Seit Jahren versuchen Regierung und Partei das Problem schritt-
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weise anzugehen. Auf dem Land soll derzeit eine rudimentäre Krankenversicherung den Bauern zumindest Zuschüsse zu den Arzt- und Krankenhauskosten gewähren, bisher sind aber noch längst nicht alle Menschen erfasst. Seit 2009 ist immerhin die neunjährige Basisschulbildung komplett gratis, in vielen Landkreisen werden nun auch die Schulbücher gestellt. Für die Bauern der ländlichen Regionen nicht minder wichtig war die Landpolitikreform Ende 2008: Grund und Boden bleiben zwar weiterhin Staatseigentum, Bauern dürfen jedoch seither ihr Land verpachten oder die Nutzungsrechte verkaufen – vorausgesetzt, es wird landwirtschaftlich genutzt. Vor allem ländliche Wanderarbeiter können nun auch in Abwesenheit von ihrem Land profitieren. Andere wiederum dürfen so ihre Anbauflächen legal erweitern. Problematisch bleibt: Bisher konnten sich die meisten der Wanderarbeiter darauf verlassen, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wieder auf ihren Hof zurückkehren zu können. Ist das Nutzungsrecht erst verkauft, entfällt diese Möglichkeit. Ohnehin gibt es bei den Landrechten noch allerhand Handlungsbedarf. Denn wenn die Städte wachsen, brauchen sie Land. Dies kann die Bauern in den Randgebieten reich machen – oder auch nicht! Denn da Bauern nach wie vor ihr Land nicht zu Bauzwecken verkaufen dürfen, wird es wohl weiterhin so gehandhabt wie bisher: Meist kaufen die Städte das Land zu einem vom Staat festgelegten Preis von den Dörfern. Das ist mitunter recht wenig und kein wirklicher Ersatz für Land, das in den nächsten Jahrzehnten eine Familie hätte ernähren können. Sobald das Land im Besitz der Stadt ist, wird es infrastrukturell erschlossen und gewinnt damit an Wert. Nunmehr als städtisches Gebiet deklariert, kann und darf es mit Gewinn verkauft werden. Für die Städte ist dies ein lohnendes Geschäft, das hohe Einnahmen in die Kasse spült, die oft in den Ausbau der Infrastruktur investiert werden, was theoretisch wiederum der Bevölkerung zugutekommt. Lediglich die ursprünglichen „Besitzer“, die umgesiedelten Bauern, haben wenig davon.
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All dies klingt nach sozialem Umbruch, viel Bewegung und einem dicken Schuss Manchester-Kapitalismus. Für die Kommunistische Partei ein nicht zu unterschätzendes Problem – schließlich ist sie zumindest dem Namen nach noch immer eine sozialistische Partei! Fast scheint es, die Partei könne sich einfach nicht von dem lieb gewonnenen Etikett trennen. Aus Sentimentalität? Aus ideologischen Gründen? Längst hat ein Frühkapitalismus härtester Ausprägung die sozialistischen Parolen und vor allem ihre Umsetzung abgelöst. Ein Staat, dessen Gesundheitswesen zu großen Teilen kostenpflichtig ist, in dem es kaum soziale Absicherung und schon gar keine allumfassende Rente gibt, dürfte sich schwer tun, seinen sozialistischen Anspruch zu rechtfertigen. Warum also tut die KPCh das? Die Antwort ist recht simpel: Noch immer beruft man sich in der Partei auf Mao Zedong und die sozialistischen Ursprünge. In der geänderten Verfassungspräambel vom März 1999 heißt es: „Der Sieg in der neudemokratischen Revolution und die Erfolge der Sache des Sozialismus in China sind von den Volksmassen aller Nationalitäten Chinas unter der Führung der Kommunistischen Partei errungen worden, indem sie angeleitet durch den Marxismus-Leninismus und die Mao-Zedong-Ideen an der Wahrheit festgehalten, Fehler korrigiert und unzählige Schwierigkeiten und Hindernisse überwunden haben. Unser Land wird sich noch für lange Zeit im Anfangsstadium des Sozialismus befinden. Die grundlegende Aufgabe des Landes besteht darin, am Pfad des Aufbaus eines Sozialismus chinesischer Prägung entlang die Kräfte auf die sozialistische Modernisierung zu konzentrieren. Unter der Führung der Kommunistischen Partei Chinas und angeleitet durch den Marxismus-Leninismus, die Mao-Zedong-Ideen und die Theorien Deng Xiaopings werden die Volksmassen aller Nationalitäten Chinas weiterhin festhalten an der demokratischen Diktatur des Volkes, am sozialistischen Weg sowie an Reform und Öffnung, ununterbrochen die sozialistischen Institutionen vervollkommnen, die sozialistische Marktwirtschaft und die
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sozialistische Demokratie entwickeln, das sozialistische Rechtssystem perfektionieren und auf die eigene Kraft gestützt hart arbeiten, um schrittweise die Modernisierung von Industrie, Landwirtschaft, Landesverteidigung sowie Wissenschaft und Technik zu verwirklichen und China zu einem wohlhabenden, demokratischen und hochzivilisierten sozialistischen Land zu machen.“28 Schon hier redet man sich mit dem Begriff „Sozialismus chinesischer Prägung“ ganz gut aus der Begriffsbredouille. Ein sprachlicher Spagat, der sich wirtschaftlich und politisch in alle Richtungen auslegen lässt. Den meisten Menschen ist es herzlich egal, solange am Monatsende genug im Portemonnaie ist. Bleibt die Frage: Ist China nun ein Entwicklungsland, wie die Regierung oft selbst insistiert, oder doch schon ein Schwellenland? Gehört China zur Dritten oder Zweiten Welt? Oder vielleicht bald zur Ersten? Geht es nach der deutschen Regierung, ist China kein Entwicklungsland mehr. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit hat jedenfalls im Jahr 2009 offiziell alle Entwicklungshilfeprojekte auslaufen lassen und stellte ab 2010 keine Haushaltsgelder für bilaterale Entwicklungsprojekte mehr zur Verfügung. Im Bereich Umwelt und Forschung wird allerdings weiter fleißig zusammengearbeitet, wenn auch unter anderem „Etikett“. Immerhin ist China selbst seit vielen Jahren Verteiler von Entwicklungshilfen. Vor allem in Afrika zeigt China ein breites Engagement, tätigt umfassende Investitionen in der Infrastruktur und auf dem Bildungssektor – und natürlich ganz erheblich in der Rohstoffförderung und sichert sich so den Nachschub für den eigenen Wirtschaftsboom. Immerhin stellte Premierminister Wen Jiabao auf dem China-Afrika-Forum 2009 den afrikanischen Staaten Kredite in Höhe von zehn Milliarden US-Dollar in Aussicht!29 Diese Entwicklungshilfe ist jedoch oft an Bedingungen geknüpft, seien es chinesische Arbeitskräfte, der Erwerb chi-
CHINA IST EIN ARMES SOZIALISTISCHES LAND
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nesischer Technologie oder eben Verträge in Sachen Rohstoffe. Gerade erst dem Status des Entwicklungslandes entronnen, verhandeln China und die afrikanischen Staaten auf gleicher Ebene und mit weniger moralischem Ballast. China kennt die Probleme der Dritte-Welt-Länder und gilt beispielsweise in Afrika als Vorbild, hat es doch geschafft, wovon viele afrikanische Staaten träumen: Die Armut signifikant reduziert, das Land modernisiert und die Korruption verringert. Auf dem europäisch-chinesischen Parkett ist längst ein anderer Aspekt wichtig geworden: Die Zusammenarbeit in Sachen Umweltschutz. Diese gestaltet sich jedoch nicht immer einfach. Wenn der Westen schimpft und mahnt, mit Klimaprognosen und CO²Daten wedelt, zuckt China mit den Schultern: Wir wollen nur, was ihr längst habt, heißt es dann lapidar. Nicht ganz zu unrecht. Die chinesische Führung ist zu Wachstumsraten verdammt, die nur mit Nebenwirkungen überhaupt möglich sind. Was nicht heißt, dass man sich nicht auch in China durchaus bewusst wäre, welche Rolle der Umweltschutz spielt. Vielleicht sogar ein wenig mehr als anderswo, schließlich sind Luftverschmutzung und Wassermangel in vielen Regionen geradezu greifbar und die Umweltschäden verursachen langfristig hohe Kosten: Rund 10 % des jährlichen BIP-Wachstums fressen die Folgen mangelnder Umweltpolitik auf – obwohl China mittlerweile über eine umfangreiche Umweltgesetzgebung verfügt. Freilich erweist es sich als schwer, die Umsetzung fernab der Hauptstadt zu kontrollieren. Vor allem im Hinterland heißt es meist: wirtschaftliches Wachstum vor Umweltschutz. Welche Stadtverwaltung will schon ihre Fabriken in den Nachbarort abwandern sehen? Nicht zuletzt werden in den zahllosen Dreckschleuderfabriken Chinas auch Waren für den europäischen Markt hergestellt, die eben gerade aufgrund fehlender Umweltschutzmaßnahmen so angenehm billig sind.
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Alle Chinesen träumen von der westlichen Demokratie Was der Westen über China denkt, wissen wir dank zahlreicher Berichte in den europäischen Medien ziemlich genau. Doch wie denken eigentlich die Chinesen selbst über ihr Land, über ihre Regierung? Was erhoffen Sie sich für die Zukunft? Ganz genau wird es wohl niemand feststellen können. Zum einen, weil sich ein Riesenreich von 1,3 Milliarden Menschen, einer Fläche größer als Europa, einer Vielzahl von Religionen und Sprachen, kaum in seiner Gänze auf einige Schlagworte reduzieren lässt. Auch die bewährte Methode, einfach mal selbst vor Ort nachzufragen, erweist sich in China als schwierige Alternative. Was nicht nur an der mangelnden Meinungsfreiheit liegt (die zugegebenermaßen eine Bremse ist), sondern vor allem sprachliche Gründe hat. Da mögen Millionen Chinesen mit Eifer Englisch, Deutsch oder Französisch lernen, und auf deutscher Seite Zehntausende Menschen sich mit Chinesischunterricht abmühen – die sprachlichen Fertigkeiten, komplexe, politische Sachverhalte in der Fremdsprache differenziert zu erörtern, erreichen die wenigsten. Die oft verklärte „Stimme des Volkes“ spricht also nur selten zu den westlichen Reisenden – selbst Sinologen fällt es schwer, in einer Gruppe von Chinesen einer politischen Diskussion zu folgen, und wer in Shanghai Chinesisch gelernt hat, kann noch längst nicht zwingend jede Diskussion an der Küste von Fujian verstehen. So bleibt also der Kontakt zu Chinesen, die aufgrund ihrer Ausbildung über sehr gute Fremdsprachenkenntnisse verfügen: Intellek-
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tuelle, ehemalige Auslandsstudenten, leitende Angestellte mit internationaler Erfahrung, Künstler der Subkulturen. Doch sie alle stellen nur einen kleinen Teil der Bevölkerung dar. Ob ihre Ansichten und Meinungen typisch für China sind, mag man bezweifeln: Naturgemäß dürfte sich ein Rückkehrer nach langem Auslandsaufenthalt schwerer damit tun, die Enge der chinesischen Gesellschaft zu akzeptieren, als ein Bauer, der sein Leben lang das Dorf nur für gelegentliche Fahrten in die nächste Kreisstadt verlassen hat. Auch sind die Interessen dieser kleinen intellektuellen Gruppe völlig andere, als beispielsweise die der Millionen von Bauern. Theoretisch mag manch ein Beijinger Mittelschichtler die Gleichberechtigung aller Bewohner Chinas vertreten. Freilich nur so lange, wie die Bauernkinder seinem Sohn oder seiner Tochter nicht den heiß begehrten Studienplatz an einer der Hauptstadt-Universitäten streitig machen. Stadtbewohner sind ohnehin weitaus privilegierter als das Gros der Landbevölkerung. Für die völlige Freizügigkeit innerhalb Chinas dürften sie sich daher weniger begeistern, als die Landbevölkerung, der sich bisher nur wenige legale Wege in die Stadt bieten. Andererseits halten sich gebildete Chinesen sehr viel mehr zurück, als ihre bäuerlichen Landsleute, wenn es um klare politische Aussagen geht. Nicht, weil sie nicht gerne über Gott und die Welt debattieren würden, sondern weil sie recht genau wissen, welche Sichtweisen den westlichen Besucher schockieren. Den vehementen Einsatz vieler Chinesen für die Todesstrafe – „wer für die Gesellschaft nichts beiträgt, hat doch sowieso keinen Wert“ – hört man daher kaum im gepflegten Umfeld einer internationalen Cocktailparty oder beim lockeren Gespräch bei Starbucks.
Lebensqualität zuerst Sicher ist: Die Kriterien, an denen die Qualität einer Regierung gemessen wird, sind im chinesischen Kulturraum andere als im Westen. Während in Europa Demokratie und Freiheit auf der Lis-
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te ganz oben stehen – nicht zuletzt, weil kaum ein Mensch hierzulande wirklich bittere Armut kennt, wie sie in China vielerorts noch existiert – fallen in China eher die Stichworte „Wohlstand“, „geregeltes Leben“ und „Sicherheit“. Ausreichend essen, vernünftig wohnen, die Kinder zur Schule zu schicken und im Krankheitsfall zum Arzt gehen zu können, ist für viele Chinesen nicht selbstverständlich. Teils lässt sich dies mit Religion oder philosophischen Traditionen erklären. Die ideale Regierung, so will es zumindest der Konfuzianismus, regiert als positives Vorbild und gibt jedem Bürger des Staates die Möglichkeit und Sicherheit, seinen Platz in der Gesellschaft optimal auszufüllen. Genau hier verläuft auch der große Ost-West-Graben: Wir im Westen wünschen uns, den Platz auch noch frei aussuchen zu können! Demokratie ist in China ohnehin weniger positiv besetzt als im Westen. Für viele steht sie nicht nur für Mitbestimmung, sondern auch für politisches Chaos. Und davon haben die Chinesen in den letzten zwei Jahrhunderten mehr als genug abbekommen. Seit dem 19. Jahrhundert riss die Folge von Katastrophen und Wirren nicht ab: Auf die Opiumkriege in den 1840ern und 1850ern folgte die Herrschaft der Kolonialmächte über wichtige Teile Chinas, der Taiping-Aufstand von 1850 bis 1864 mit seinen rund 60 Millionen Toten, der Chinesisch-Japanische Krieg 1894, der Boxeraufstand im Jahr 1900, die Willkür der Warlords zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die japanische Besatzung in den 1930ern, der Zweite Weltkrieg, der Bürgerkrieg Ende der 1940er, die politischen Kampagnen der 1950er, die Hungerkatastrophe des Großen Sprungs 1958 – 1961 und schließlich, als fulminanter Höhepunkt, die Kulturrevolution von 1966 bis 1976. Und dies sind nur die ganz großen Katastrophen! Erst mit der Öffnungspolitik 1978 trat nach vielen Jahrzehnten erstmals wieder eine gewisse Vorhersehbarkeit in das Leben der Menschen. Kein Wunder, dass Sicherheit und materielle Werte auf der politischen Wunschliste ganz oben stehen. Dies gilt auch für die stetig wachsende Mittelschicht, eigent-
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lich klassischer Verfechter von bürgerlichen Freiheiten. Doch gerade sie profitiert überproportional von den wirtschaftlichen Errungenschaften und ist daher wenig gewillt, den neuen Wohlstand zu riskieren. Zwar hätten diese Menschen sicher nichts gegen das allgemeine Wahlrecht einzuwenden. Andererseits wissen sie, vielleicht sogar besser als im Westen, dass die Demokratie nicht zwangsläufig alle Probleme löst. Auch das Beispiel der Sowjetunion, die im Rahmen der Demokratisierung prompt auseinanderfiel und heute nicht gerade mit hohem Lebensstandard für die allgemeine Masse glänzt, empfinden viele Chinesen als abschreckend, genauso wie die Situation der Millionen von bettelarmen Menschen im demokratischen Indien. In China selbst ist die allgemeine Haltung gegenüber Dissidenten übrigens oft ernüchternd negativ. Gesellschaftliche „Abweichler“ gelten in China (oft ungerechtfertigterweise) als Querulanten, als Chaos-Verursacher – und damit als für die Gesellschaft gefährlich. „China ist noch nicht bereit für die Freiheit“ heißt es gerne aus dem Munde von Taxifahrern, Markthändlern oder anderen zufälligen Bekanntschaften. Auch die Argumente, China sei zu groß, die Menschen noch zu ungebildet, das Land zu schwer zu kontrollieren, tauchen immer wieder auf. Spätestens dann kommen auch die wirtschaftlichen Erfolge der letzten dreißig Jahre aufs Tablett – irgendwie geht es ja schon vorwärts! Geradezu beleidigt reagieren viele Chinesen auf den westlichen Ruf nach Demokratie, der ihrer Meinung nach den wirtschaftlichen Fortschritt nicht genügend würdigt. Jenseits der Demokratiediskussion lässt sich in der Tat eines nicht von der Hand weisen: Noch nie in der Geschichte Chinas ging es so vielen Menschen so „gut“. Kein Wunder, dass die chinesische Regierung im eigenen Land durchaus gute Noten bekommt. Als das amerikanische Pew Research Center unter der Schirmherrschaft von der ehemaligen Außenministerin Madeleine Albright 2010 in seiner alljährlichen Umfrage Tausenden Menschen weltweit die Frage stellte: „Sind Sie, alles in allem, zufrieden oder unzufrieden, wie sich die Dinge in Ihrem Land
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entwickeln?“30 waren spektakuläre 87 % aller Chinesen zufrieden31. Zum Vergleich: In Deutschland waren es 39 %. Selbst wenn man den Deutschen einen ausgeprägten Hang zum Jammern unterstellt, scheint man in China weitaus glücklicher mit der Regierung zu sein! Kein anderer Staat erreichte derart gute Werte – auf Platz 2 folgte, weit abgeschlagen Brasilien mit 50 %. Auch die Frage, nach der wirtschaftlichen Situation ihres Landes beantworteten 91 % aller Chinesen mit „gut“ oder „ziemlich gut“. Damit zeigten sich die Chinesen auch in dieser Disziplin mit Abstand am zufriedensten aller 22 im Jahr 2010 befragten Länder des Reports.
Was drückt die Chinesen? Selbstverständlich heißt dies nicht, dass alle Chinesen wunschlos glücklich sind. Zuallererst scheint man in China die Fortschritte zu schätzen, die das Land in den letzten drei Jahrzehnten seit Beginn der Öffnungspolitik gemacht hat. Kritik gibt es natürlich auch, und das nicht zu knapp. Nur kursieren politische Diskussionen oft um ganz andere Fragen, als der Westen vermutet. Westliche Demokratie? Schön und gut, später vielleicht, keine schlechte Idee... aber einfach nicht so dringend wie beispielsweise der Kampf gegen die Korruption oder die aktuelle Landpolitik. Auch an der aktuellen Gesetzgebung haben die meisten Chinesen wenig auszusetzen – wenn sich nur alle daran hielten! So waren viele Plakate der Demonstrationen 1989 auf dem Tiananmen-Platz nicht gegen die Parteiherrschaft als solche, sondern gegen die grassierende Korruption gerichtet. Diese lässt sich freilich nur schwer messen, schließlich findet sie per Definition im Verborgenen statt. Auch stellt sich die Frage: Wo beginnt Korruption? Ist eine dicke Essenseinladung für den hilfreichen Verwaltungsangestellten schon ein Bestechungsversuch? Die Urlaubseinladung für den netten Beamten, der zufällig auch noch eine wichtige Position inne hat? Wie steht es mit dem Geburtstagsgeschenk für die Tochter des Geschäftspartners?
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Allzu oft ist die Korruption jedoch unübersehbar: Wenn die dicken Autos der Kader samt polizeilicher Eskorte jenseits aller Verkehrsregeln durch die Straßen rasen, wenn auf der Insel Hainan mehr Mercedes über die holprigen Straßen kurven als im Rest des Landes – was Ende der 1990er so auffällig wurde, dass einer der größten Korruptionsskandale Chinas aufflog. Wenn Anträge für was auch immer über Gebühr lange brauchen und schließlich mit fadenscheinigen Begründungen abgelehnt werden, weil der obligatorische Geldschein im Anhang fehlte… Geht es nach dem Ranking der internationalen Anti-Korruptionsvereinigung Transparency International liegt China im Jahr 2010 auf Rang 77 von 178 Ländern und damit auf Augenhöhe mit Kolumbien, Griechenland und Peru. Zum Vergleich: Japan, wo die Korruption im Alltag quasi gar nicht anzutreffen ist, dafür aber auf hoher politischer Ebene umso mehr um sich greift, liegt auf Platz 17, Deutschland darf sich über einen recht positiven Platz 15 freuen. Auch die Ausrede, Korruption sei ein urchinesisches Problem, sei an dieser Stelle gleich ausgeräumt: Singapur, das zweifelsohne kulturell größtenteils chinesisch geprägt ist, steht zusammen mit Dänemark und Neuseeland an Nummer 1 und gehört damit zu den nahezu korruptionsfreien Ländern der Welt32. Auch in China selbst will man sich damit keinesfalls abfinden. Ein Blick in die chinesischen Medien, egal ob chinesisch- oder englischsprachig, zeigt, dass das Thema allgegenwärtig ist. Aus gutem Grund: Die Korruption wächst. Immerhin stand China im Jahr 2001 im Korruptionsindex noch an 57ter statt an 77ter Stelle – ein eindeutiger Trend, auch wenn sich die Indizes der unterschiedlichen Jahre nur bedingt vergleichen lassen, da immer wieder Länder hinzukommen oder ausscheiden. Durchsucht man die chinesischen Medien nach Korruptionsschlagzeilen, tut sich eine schier unübersehbare Fülle auf. Zu den prominentesten, der Korruption überführten Funktionäre der letzten Jahre gehören der ehemalige Polizeichef und Direktor der Städtischen Justizbehörden von Chongqing33, Wen Qiang, mit geschätzten
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1,34 Millionen Euro Einnahmen (teils aus der Kasse lokaler Mafiabanden); Qiu Xiaohua, ehemaliger Direktor des Staatlichen Amtes für Statistik; Zheng Xiaoyu, Leiter der Lebensmittelüberwachungsbehörden sowie der stellvertretende Leiter Zhang Jingli; Chen Liangyu, ehemals Parteisekretär von Shanghai; Eisenbahnminister Liu Zhijun34; Huang Songyou, Vize-Präsident des Obersten Gerichtshofes; Wang Yi, Vize-Präsident der staatlichen China Development Bank; Liu Zhihua, einst stellvertretender Bürgermeister von Beijing; Xu Zongheng, Bürgermeister von Shenzhen. Der Kader Zeng Jinchun aus Chenzhou wiederum beeindruckt durch ein besonders innovatives Konzept: Verantwortlich für den Kampf gegen die Korruption ließ er willkürlich andere Parteimitglieder unter dem Verdacht der Bestechlichkeit verhaften. Gegen Zahlung hoher Lösegelder wurden die Anklagen natürlich wieder fallengelassen. Mit einer Ausbeute von 5,4 Millionen Euro in elf Jahren zählt er zu den „erfolgreichsten“ Funktionären“35. Auch der frühere Chef des Ölgiganten Sinopec, Chen Tonghai, wurde für schuldig befunden rund 22 Millionen Euro Bestechungsgelder gehortet zu haben und zum Tode verurteilt. Ein ähnliches Schicksal droht dem ehemaligen Leiter der China National Nuclear Corporation, die alle zivilen und militärischen Nuklearprogramme überwacht. Ihm gelang es immerhin – eine reife Leistung! – 192 Millionen Euro Schmiergelder bei der Vergabe von Bauaufträgen für Atomkraftwerke einzustecken36. Wie gesagt – dies sind nur einige, geradezu willkürlich ausgesuchte Beispiele aus den letzten zwei Jahren. Alles in allem wurden 2010 rund 150 000 Funktionäre wegen „Disziplinarvergehen“ bestraft, so die Zentrale Disziplinarkommission der Kommunistischen Partei, darunter 5 100 führende Funktionäre auf Bezirksebene oder höher. 804 von ihnen wurden bisher strafrechtlich verfolgt. 2009 waren es noch 106 000. Ein deutlicher Anstieg also! Ob die Zahlen nun so eklatant steigen, weil die Korruption jedes Jahr ein wenig effizienter verfolgt wird, wie die Regierung gerne angibt, oder ob das Problem in der Tat so rasant wächst, lässt sich kaum feststellen. Wahrscheinlich spielen beide Aspekte eine Rolle.
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Sicher ist: Nicht nur die Korruption wächst, sondern auch die Gegenmaßnahmen der Regierung. Aus purem Überlebenswillen, denn kaum ein Missstand ist so gefährlich für die KP, wie die Geldscheffelei der Funktionäre und Wirtschaftsbosse. Kommt es zu Demonstrationen oder gar lokalen Aufständen, dann geht es in der Regel nicht um Demokratie oder Mitbestimmung, sondern um knallharte pekuniäre Fakten. Um Enteignungen, deren Entschädigungssummen auf dem Weg zum Geschädigten in den Portemonnaies der lokalen Verwaltungen versickern, um illegale Grundstücksgeschäfte oder die kriminellen Aktivitäten lokaler Funktionäre, die von der Polizei geflissentlich übersehen werden. Und manchmal ist es der blanke Hass auf Kader, die ihre kriminellen Machenschaften nicht einmal ansatzweise verstecken und sich unantastbar glauben. Nicht nur Korruption belastet die Gesellschaft, auch verseuchte Lebensmittel, gefälschte Medikamente, die allgemeine Missachtung von Bauvorschriften und die daraus resultierenden Katastrophen; wie die Hunderten eingestürzten Schulen während des Sichuan-Erdbebens von 2008 sind ein großes Problem. Auch die zahlreichen illegalen Kohleminen, in denen unter Missachtung sämtlicher Sicherheitsbestimmungen Tausende Bergleute täglich ihr Leben riskieren, ließen sich ohne die Duldung lokaler Funktionäre kaum betreiben. Über den Umweg der Korruptionsbekämpfung, so die Befürchtung der Partei, könnten Teile der Bevölkerung dann doch noch auf den Geschmack der Demokratisierung kommen – mit freien Medien, einer echten Opposition und der Kontrolle durch die Wählerschaft ließe sich die Korruption vielleicht doch besser bekämpfen? Nun mag man demokratische aber höchst korrupte Länder wie Indien oder die Philippinen als Gegenargument anführen. Noch lieber jedoch möchte die Regierung diese Diskussion gar nicht erst aufkommen lassen. Eine ganze Reihe von Behörden befasst sich daher in China mit der Korruptionsbekämpfung. So überprüft das Parteiorgan der
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Zentralen Disziplinarkommission der Kommunistischen Partei (Ё ݅ѻܮЁ༂㑾ᕟẔᶹྨਬӮ, Zhongguo Gongchandang Zhongyang Jilü Jiancha Weiyuanhui) ihre Mitglieder und klagt sie gegebenenfalls auch an. Freilich gibt es kein Organ, das die Arbeit dieser Institution überprüft. Zusätzlich wurde auf dem 17. Parteitag 2007 auf staatlicher Seite das Nationale Amt zur Bekämpfung der Korruption (ᆊ乘䰆㜤䋹ሔ, Guojia Yufang Fubaiju) ins Leben gerufen. Auch der Nationale Rechnungshof (ЁढҎ⇥݅ᅵ䅵㕆, Zhonghua Renmin Gongheguo Shenji Shu) überprüft jährlich rund 100 000 Ministerien, Staatsbetriebe und Institutionen. Die Ergebnisse für das Jahr 2009 sind ernüchternd: Rund 28 Milliarden Euro wurden zweckentfremdet, weitere zwei Milliarden Euro gelten als verschwendet. Und dies, obwohl die Kampagnen und Maßnahmen nicht abreißen. So müssen seit Sommer 2010 nicht nur Regierungsangestellte ihre Vermögensverhältnisse offen legen, sondern auch ihre Familienmitglieder. Damit soll verhindert werden, dass die Nutznießer der Korruption einfach ihre illegalen Gelder auf die Familie verteilen. Im Dezember 2010 gab der Staatsrat erstmals ein „Weißbuch“, also einen ausführlichen Bericht zum Thema Korruption heraus, dessen vollständiger Text auf der Webseite der englischsprachigen China Daily einsehbar ist37. Unter dem Titel „Die Korruption bekämpfen und eine saubere Regierung schaffen“ räumt der Staatsrat nicht nur die Existenz stetig ansteigender Korruption ein, sondern nennt auch ganz offiziell die Hotspots der Korruption: Vor allem das Bauwesen, die Vergabe von Landnutzungsrechten, Schürfrechten und Eigentumsrechten, die private und öffentliche Beschaffung, das Arzneimittel-Marketing, und der Rohstoffhandel sind betroffen. Wie dringend das Problem der Korruption auch im Alltag wahrgenommen wird, zeigt die Webseite der Nationalen Büros zur Korruptionsbekämpfung www.12309.gov.cn: Seit Dezember 2007 können hier rund um die Uhr Korruptionsfälle gemeldet werden. Theoretisch. Denn da die Seite nur rund tausend Meldungen gleichzeitig verarbeiten konnte, brach sie schon nach wenigen
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Stunden überlastet zusammen. Der Engpass ist längt behoben – immerhin soll das Internet bei der Korruptionsbekämpfung auch fortan eine große Rolle spielen. Auch korrupten Richtern und Justizangestellten des Obersten Gerichtshofes geht es seit Mai 2009 auf der Seite http://jubao.court.gov.cn per anonymer Anzeige online an den Kragen: Neu ist dabei, dass die weitere Entwicklung online einsehbar bleibt und alle Anzeigen binnen zehn Tagen bearbeitet werden müssen. Die Ergebnisse scheinen zu überzeugen, denn seit Februar 2010 bieten auch die Provinzgerichte einen ähnlichen Service für ihre Bürger an. Alles in allem ergeben diese Fakten kein rosiges Bild. Doch wie passen diese Missstände zum hohen Zufriedenheitsgrad der Chinesen mit der Regierung? Zu großen Teilen werden die Verfehlungen nicht der Zentralregierung angelastet, sondern den lokalen Funktionären. Tausende von Menschen machen sich jedes Jahr auf den Weg nach Beijing, um sich über lokale Missstände und die Verfehlungen der Provinzkader zu beschweren. Gerade in den abgelegenen Regionen Chinas flammt immer wieder der Volkszorn auf, gegen Machtmissbrauch und Vetternwirtschaft, Ausbeutung und schlichten Betrug bei Grundstücksgeschäften. Auch die Zentralregierung in Beijing steht dem Problem ratlos gegenüber. Denn, wie lässt man die lokalen Parteikader hochgehen, ohne dass es auch auf die Partei selbst abfärbt? In dieser Zwickmühle kann man es niemandem recht machen: Reagiert die Partei zu wenig, sind die Menschen zu Recht frustriert, entlarvt sie alle korrupten Kader, dauert es nicht lange, bis sich auch unkritische Chinesen fragen, ob Korruption nicht vielleicht doch auf systemimmanenten Schwachstellen basiert.
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Gefühlter Fortschritt Vielleicht zeigen sich viele Menschen in China überraschend zufrieden, weil sie, bei allen Problemen, eine positive Entwicklung spüren. Immerhin hat sich der Alltag der Menschen, egal ob in der Stadt oder auf dem Land, in den letzten dreißig Jahren so grundlegend geändert, wie in kaum einem anderen Land der Welt. Geht es nach dem Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen, der nicht nur das Pro-Kopf-Einkommen, sondern auch die Lebenserwartung und Bildung der Bevölkerung berücksichtigt, steht China mittlerweile gar nicht so schlecht da. Auf Platz 89, zwei Plätze besser als im vergangenen Jahr, überrundet es immerhin das europäische Moldawien und liegt nur wenige Plätze hinter der Türkei. Wichtiger noch: Jedes Jahr steigt China ein wenig auf im internationalen Ranking und dürfte daher in absehbarer Zeit aus der Kategorie „Länder mittleren Entwicklungstands“ in die der „hochentwickelten“ aufrücken. Was der HDI und andere Indizes jedoch nicht zeigen können: Mit der Botschaft „reich sein ist gut“ stieß Deng 1978 gigantische Veränderungen an, die weit über die Wirtschaft hinausgehen. Längst hat sich der Staat aus dem Privatleben der Menschen weitgehend zurückgezogen. Die Freiheit, fast nach Belieben ins Ausland zu reisen, die Kinder in Europa, Amerika oder Australien zum Studium zu schicken, das Recht, seinen Arbeitsplatz selbst zu suchen und die Einheit zu verlassen, nach Gusto zu heiraten und sich wieder scheiden zu lassen, hat das Leben der Menschen enorm verbessert. Wer heute im daoistischen oder buddhistischen Tempel ein und aus geht, muss nicht mehr um seine Karriere fürchten, und auch Minderheiten wie Homosexuelle, Anhänger von Subkulturen und Künstler führen ein erheblich freieres Leben als noch vor wenigen Jahren. Keine Frage, der chinesische Alltag ist wahrlich nicht perfekt, aber für die meisten Chinesen eben jedes Jahr ein wenig besser. Viele Entwicklungen mögen aus Sicht des Westens zu langsam erfolgen, für die Bewohner Chinas sind sie dennoch spürbar. So wurden 2004 der Schutz der Menschenrechte
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und des Privateigentums in der Verfassung verankert. Keine große Sache, sollte man meinen. Doch mit jedem schriftlichen Zugeständnis wird die Gefahr eines Rückschritts in die alten „sozialistischen“ Zeiten ein wenig geringer. Zudem brachten die wirtschaftlichen Reformen eine ganz neue Haltung gegenüber dem Gesetz mit sich. Vom Strafgesetz bis zum Lizenzgesetz und Staatsentschädigungsgesetz wurden zahlreiche Gesetze reformiert oder überhaupt erst geschaffen. Auch Deutschland ist ein wenig an dieser Entwicklung beteiligt: Seit dem Jahr 2000 arbeiten China und Deutschland im deutschchinesischen Rechtsstaatsdialog eng zusammen. Genau genommen handelt es sich dabei um eine Vereinbarung zwischen dem chinesischen Büro für legislative Angelegenheiten beim Staatsrat und dem deutschen Bundesministerium der Justiz. Jährliche Symposien und regelmäßige Arbeitstreffen von Fachdelegationen haben dazu geführt, dass beispielsweise im Beamten-, Verwaltungs- oder Patentrecht rechtsstaatliche Standards des deutschen Rechts übernommen wurden. Auch im Zivilrecht hat die Zusammenarbeit deutliche Spuren hinterlassen: Bürger können mittlerweile Privateigentum an Häusern und Wohnungen erwerben und erhalten registrierte Nutzungsrechte für Grund und Boden, die jedoch weiterhin im Staatseigentum verbleiben. Nicht zuletzt gibt es hier und da erste, sehr zarte Keime von demokratischer Entwicklung. Schon seit 1989 werden die Vertreter der Dorfkomitees, also der untersten Verwaltungseinheit, in direkter Wahl bestimmt, genauso wie die lokalen Volkskongresse. Diese wiederum wählen die nächsthöhere Ebene. Natürlich, nationale Politik lässt sich so nicht machen, und auch in den direkten Wahlen mag die Partei ihre Finger im Spiel haben. Und dennoch: Für Millionen von Dorfbewohnern ist dies eine konkrete Möglichkeit, ihren Alltag mitzubestimmen. Dank einer Reform von 1998 werden auch die Kandidaten von den Wählern selbst aufgestellt und nicht mehr durch das lokale Parteikomitee – ein nicht ganz unwichtiges Detail! Und definitiv der erste Schritt in die richtige Richtung.
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Chinesen dürfen nur ein Kind haben „Shanghai ermuntert geeignete Paare, ein zweites Kind zu bekommen“, lautete eine Schlagzeile der englischsprachigen China Daily im Juli 200938. Man muss dazu sagen: Der Artikel schlug weder große Wellen, noch war das Thema einen Aufmacher wert. Schon heute sind nur noch rund ein Fünftel aller Kinder in China Einzelkinder. Doch woher kommt der westliche Trugschluss, Chinas Jugend sei eine Generation von Einzelkindern? Über viele Jahrhunderte hinweg waren Familien in China bestrebt, möglichst viele Söhne in die Welt zu setzen: Als Arbeitskräfte, als Altersversorgung und nicht zuletzt, um den Nachschub ins Jenseits zu sichern, denn in der Volksreligion des Ahnenkults können nur männliche Nachkommen die Opferriten übernehmen. Mädchen hingegen galten als „geliehene“ Familienmitglieder, denn mit der Heirat gingen sie nicht nur endgültig in die neue Familie über, es galt auch, ein möglichst hohes Brautgeld zu zahlen – für viele Familien eine ruinöse Angelegenheit, die oft dazu führte, dass weibliche Babys sofort nach der Geburt getötet wurden. Nicht zuletzt war bis in die Moderne die Kindersterblichkeit so hoch, dass ein Ehepaar viele Kinder brauchte, um im Alter einigermaßen versorgt zu sein. Auch von staatlicher Seite wurden hohe Geburtenraten befürwortet: Viele Menschen bedeuteten viele Untertanen, Steuerzahler und im Kriegsfall auch viele Soldaten. Kein Wunder, dass es den chinesischen Kaisern durchaus recht war, wenn sich die Unterta-
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nen fleißig vermehrten. Als die Sozialisten 1949 an die Macht kamen, änderte sich daran erst einmal wenig. Mao ermutigte sein Volk, viele Kinder zu bekommen – immerhin konnte er sich so als Regent über das größte Volk der Welt wissen. Gleichzeitig schuf der junge Staat erstmalig in der Geschichte Chinas eine rudimentäre Gesundheitsversorgung für alle: Barfußärzte wanderten von Dorf zu Dorf und verbreiteten die wichtigsten Kenntnisse über Hygiene und Gesundheitsvorsorge. Mit enormem Erfolg. Innerhalb weniger Jahre stieg die Lebenserwartung von 35 auf über 60 Jahre. Dies blieb nicht ohne Folgen: Waren es 1949 noch rund 542 Millionen Chinesen, zählte China im Jahre 1955 schon 615 Millionen Einwohner. Erste Warnungen über die Folgen dieses rasanten Bevölkerungsanstiegs wischte Mao schnell vom Tisch: Jedes zu stopfende Maul habe schließlich auch zwei Hände zum zupacken. Der große Umschwung kam mit dem „Großen Sprung nach vorne“ (1958 – 1961): „Englands Stahlproduktion übertreffen“ und „Drei Jahre Arbeit und 10 000 Jahre Glück“ lauteten die Propagandaslogans, die die Bevölkerung zu Höchstleistungen anspornen und damit die Überlegenheit des chinesischen Sozialismus beweisen sollten. Stattdessen mündete die völlig abstruse Wirtschaftspolitik der totalen Kollektivierung in Missernten und Nahrungsmittelmangel, die durch Naturkatastrophen noch verschlimmert wurde. Rund 20 Millionen Chinesen verhungerten oder starben an den Folgen der Mangelernährung. Selbst in guten Jahren war es also kaum noch möglich, die vielen Menschen zu ernähren! An eine geordnete Bevölkerungspolitik war nicht zu denken, stattdessen stürzte die Kulturrevolution das Land ins Chaos. Erst als sich die politische Lage zu Beginn der 1970er wieder beruhigt hatte – China zählte nun schon 830 Millionen Einwohner – startete die Regierung die erste Kampagne zur Familienplanung. Unter dem Slogan „Spät, lang, wenig“ propagierte die Regierung „später heiraten, längere Abstände zwischen den Schwangerschaften und weniger Kinder“! und setzte das Heiratsalter in den ländlichen
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Gebieten auf 25 Jahre für Männer und auf 23 Jahre für Frauen herauf. In den Städten lag die Altersgrenze sogar bei 28 und 25 Jahren. Familienplanungshelfer besuchten die Familien zu Hause, klärten über Verhütungsmittel auf und stellten sie kostenlos zur Verfügung. Dies durchaus mit Erfolg. Die Zahl der Kinder sank innerhalb von zehn Jahren von durchschnittlich sechs Kindern pro Frau auf rund 2,5. Insgesamt wurde das Bevölkerungswachstum von rund 2,8 % im Jahr 1970 auf 1,2 % im Jahr 1980 gesenkt. Doch das reichte nicht aus: 1979 hatte der Reformer Deng Xiaoping das Steuer übernommen, fest entschlossen, China zu einer Wirtschaftsmacht zu machen und den Lebensstandard der Menschen zu verbessern. Wollte man die wirtschaftlichen Erfolge überhaupt spüren, musste das Bevölkerungswachstum noch einmal erheblich gedrosselt werden – mittlerweile näherte sich China der Milliardengrenze! Noch Ende 1979 wurde daher eine strenge Geburtenpolitik verabschiedet: Ein Kind ist genug! Ziel war es, die Bevölkerung bis zum Jahr 2000 nicht auf mehr als 1,2 Milliarden anwachsen zu lassen. Familien, die sich an die Geburtenregeln hielten, wurden mit Boni und bevorzugter Behandlung belohnt, beispielsweise bei der Vergabe neuen Wohnraums, und erhielten 10 % mehr Lohn. Wer sich der Ein-Kind-Politik widersetzte, musste mit hohen Strafen rechnen, ungewollte und vor allem ungenehmigte Schwangerschaften wurden abgetrieben, oft auch unter Zwang und bis in die letzten Schwangerschaftsmonate hinein. Auf dem Lande ist bis heute rund ein Jahresverdienst fällig, in der Stadt wird über einen Zeitraum von bis zu 14 Jahren 10–20 % des Lohns abgezogen, der alternativ auch als sechsfacher Jahreslohn auf einmal bezahlt werden kann. Anderen wiederum drohte der Verlust des Arbeitsplatzes oder des Rechts auf ärztliche Versorgung. Lediglich die Angehörigen der 56 Minoritäten, also Nicht-Han-Völker, rund 10 % der Bevölkerung Chinas, waren und sind von der Geburtenpolitik ausgenommen. So gilt bis heute in Tibet keine Geburtenbegrenzung.
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Im Ausland sorgte die Ein-Kind-Politik für höchst gemischte Resonanz. Für den individualistischen Westen schien es geradezu unerhört, dass sich der Staat in eine so private Angelegenheit wie die Familienplanung einmischte. Auch die hohe Zahl der Schwangerschaftsabbrüche wurde von christlichen Organisationen weltweit heftig kritisiert. In den städtischen Küstenregionen Chinas hingegen gelang es recht schnell, eine allgemeine Akzeptanz herzustellen. „Ren tai duo“ – zu viele Menschen! heißt es lapidar, spricht man Chinesen auf die dringlichsten Probleme der Moderne an. Wer sich je zu Büroschluss durch die Shanghaier Innenstadt gedrängelt hat, mag es gerne glauben. Für die ländliche Bevölkerung jedoch erwies sich die Ein-KindPolitik als weitaus schwerer durchführbar. Traditionell versorgen in China die Söhne ihre Eltern im Alter, eine Altersversorgung in Form einer regulären und vor allem verlässlichen Rente haben die wenigsten Chinesen. Zudem waren und sind viele Bauern auf die Arbeitskraft der Söhne angewiesen – wer sollte die Felder bestellen, die harten Arbeiten erledigen? Bereits 1984 zog die Regierung Konsequenzen und lockerte die Bestimmungen. Seither können in den meisten Regionen Eltern, deren erstes Kind mit schweren Behinderungen geboren wurde, ein zweites Kind „beantragen“. Ist das erste Kind ein Mädchen, dürfen ländliche Familien zudem nach vier Jahren noch ein weiteres Kind bekommen. Auch Angehörigen gefährlicher Berufe wie Bergleuten werden zwei Kinder zugestanden. Weitere Reformen lockerten die Ein-Kind-Politik in den folgenden Jahren. Heute gibt es zahlreiche, genau festgelegte Ausnahmen. So wird ein zweites Kind genehmigt, wenn der Ehemann als einziger von mehreren Brüdern fortpflanzungsfähig ist, wenn die Frau ein Einzelkind ist und der Mann bei ihrer Familie wohnt, beide Partner Einzelkinder sind, der Ehemann ein versehrter Veteran ist oder die Ehefrau mit einem zurückgekehrten Auslandschinesen verheiratet ist. Seit 2007 dürfen sogar Studenten heiraten und Kinder bekommen – bis dato zog dies die sofortige Exmatrikulation nach sich.
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Heute sind rund 36 % der Chinesen der Ein-Kind-Regel unterworfen – meist handelt es sich um Stadtbewohner, für 53 % gilt die Zwei-Kind-Regel, während 11 % als Minoritäten keine Kinderbegrenzung kennen. Insgesamt liegt die Zahl der Einzelkinder bei fast 80 Millionen. Oft scheint es, dass die rigiden Gesetze zumindest in den Städten nicht mehr wirklich notwendig sind. Die Großfamilie gilt schon lange nicht mehr als ideale Lebensform, und längst hat die gut ausgebildete Mittelschicht die Selbstverwirklichung entdeckt. Mittlerweile entscheiden sich immer mehr Paare gegen Kinder und für eine schnelle berufliche Karriere – eine Entwicklung, wie man sie auch aus den Nachbarländern ohne restriktive Bevölkerungspolitik kennt: So liegt die Geburtenrate in Singapur bei 1,04, in Japan sind es 1,38 Kinder, während China derzeit bei rund 1,7 liegt (zum Vergleich: In der EU sind es 1,5 Kinder). Für den stabilen Erhalt der Bevölkerung wären statistisch jedoch 2,1 Kinder nötig. Andererseits gibt es in China zunehmend wohlhabende Bürger, die es sich leisten können, die Bestimmungen zu umgehen und die Strafen für ein zweites oder drittes Kind quasi aus der Portokasse zu zahlen. 12 000 Dollar Buße kostet es in Shanghai, ein zweites Kind zu haben – für viele Neureiche ein Klacks. Auch die Tatsache, dass illegalen Kindern das staatliche Schulwesen verschlossen bleibt, bereitet ihnen kein Kopfzerbrechen – Privatschulen gelten ohnehin als prestigeträchtiger. Pfiffige Agenturen vermitteln in den Großstädten der Küstenregion mittlerweile sogar regelrechte „Geburtspakete“ für das westliche Ausland, meist die USA. Gegen eine großzügige Gebühr, versteht sich. Wird das Kind in einer amerikanischen Privatklinik geboren, entfallen die Strafgebühren. Wichtiger noch, das Kind erhält damit automatisch die amerikanische Staatsbürgerschaft. Eine echte Zukunftsinvestition, denn damit ergeben sich viele Reisemöglichkeiten und natürlich niedrigere Studiengebühren an den amerikanischen Universitäten. Das
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mag weit hergeholt klingen, doch chinesische Eltern denken weit voraus. Schließlich soll es das Kind im Leben zu etwas bringen!
Rigide Politik – mit vielen Folgen Über die gesellschaftlichen Folgen der Ein-Kind-Politik wird in China wie auch im Ausland viel gemunkelt: Zieht sich China gleich mehrere Generationen verwöhnter „kleiner Kaiser“ heran? Ein Volk voller Egoisten ohne jegliche Sozialkompetenz? In der Tat sonnen sich viele der Balinghou hier das ܿ䳊ৢ (wörtlich: achtnull-danach, die nach 1980 Geborenen) in der ungeteilten Aufmerksamkeit ihrer Eltern und Großeltern. „4-2-1-Komplex“ nennt sich diese Konstellation, die vor allem in den Städten häufig zu finden ist: Vier Großeltern, zwei Eltern – und ein Kind, dem jeder Wunsch von den Lippen abgelesen wird. Doch das Leben der Einzelkinder ist mitnichten ein ewiges Zuckerschlecken. Auf den Kindern lastet ein enormer Druck: Die meisten Familien gehen nur noch mit einem „Kandidaten“ ins große Rennen um den Platz an der Sonne. Schon im Kindergartenalter gilt es, das Kind auf die Hochschule auszurichten und möglichst gute Startchancen zu gewähren. Gute Leistungen, exzellente Noten und später auch der daraus natürlich resultierende gute Job fallen selbstverständlich auf die Familie zurück. Teils mit geradezu abstrusen Auswüchsen: „An allen drei Campus-Standorten wurden die Einschreibungen neuer Studenten erfolgreich durchgeführt. Wir freuen uns, die meisten alten Studenten auch im September 2006 wieder begrüßen zu können“. Ein ganz normaler Text aus den Universitätsnachrichten? Fast, nur dass er aus der Selbstdarstellung eines Shanghaier Kindergartens stammt, dessen Klientel drei bis fünf Jahre alt ist. Zeigt die frühe Erziehung keinen Erfolg, heißt es abends „ab in die Nachhilfeschule“. Für ungeplante, körperliche „Banalitäten“ bleibt angesichts solcher Ernsthaftigkeit nur wenig Platz: Springen, laufen und sinnloses Herumtollen, am besten noch in Schlamm und Matsch – dafür ist
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einfach keine Zeit im vollen Stundenplan mehr vorgesehen. Bis zu einem Viertel des Familieneinkommens investieren chinesische Eltern in die Entwicklung der kleinen Einsteins. Doch es gibt auch positive Einflüsse: Noch nie hat es in China eine so gut gebildete Generation gegeben. Auch wenn zwischen Stadt und Land große Unterschiede klaffen, wachsen viele Kinder mit Internet, Büchern, pädagogischen Spielen, Reisen und Auslandskontakt auf – und nicht mit Kampagnen und politischen Krisen, Bürgerkrieg und Mangel, wie ihre Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern. Materielle Sorgen kennen viele Kinder, vor allem in der Stadt, nur noch vom Hörensagen. Gleichzeitig wird in den Familien bewusster mit dem Thema Erziehung umgegangen. Galten Kinder bis vor wenigen Jahrzehnten noch als „kleine Erwachsene“ (wie auch in Europa viele Jahrhunderte lang), bemüht man sich heute weitaus mehr um einen kindgerechten Alltag. Sehr viel schwerwiegender als die psychologischen Auswirkungen sind die demografischen Folgen der Ein-Kind-Politik: Allen Kampagnen zum Trotz wünschen sich viele Paare letztlich doch lieber männlichen Nachwuchs. Vor allem auf dem Lande herrscht noch die konservative Vorstellung, nur ein Junge könne die Familie fortführen. Obwohl es gesetzlich längst verboten ist, lassen viele Eltern zu Beginn der Schwangerschaft das Geschlecht des Fötus bestimmen – und treiben selektiv ab. Regional zeigen sich dabei große Unterschiede: In den Städten ist das Geschlechterverhältnis mehr oder minder ausgeglichen. Insgesamt liegt die Sexualproportion der unter 10-Jährigen in China bei 1,2, das heißt auf 1 000 Mädchen werden 1 200 Jungen geboren (das natürliche Verhältnis liegt bei 107 Jungen zu 100 Mädchen). In abgelegenen Gebieten jedoch gibt es bis zu 30 % mehr Jungengeburten. In den armen Provinzen Zentral- und Südchinas haben die Wissenschaftler der chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften bei den Unter-Vierjährigen sogar eine Sexualproportion von 1,37 festgestellt. Für viele der „überschüssigen“
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Jungen dürfte es im Erwachsenenalter schwierig werden, eine Frau zu finden. Viele Soziologen fürchten daher einen Anstieg des Mädchenhandels. Ob diese Zahlen immer korrekt sind, lässt sich nicht nachvollziehen. Auf dem Lande ist die Versuchung groß, weibliche Geburten schlicht nicht zu melden oder die Angelegenheit mit einem „kleinen Geschenk“ zu regeln und damit noch zwei weitere Chancen auf männlichen Nachwuchs zu haben. Für die Mädchen hat dies jedoch katastrophale Folgen: Nur „genehmigte“ Kinder werden staatlich erfasst. Die kostenlose Ausbildung und Gesundheitsvorsorge wiederum ist nur für gemeldete Kinder vorgesehen.
Wer bezahlt die Alten? Trotz der Ein-Kind-Politik wird die Bevölkerung Chinas erst einmal weiter wachsen und im Jahr 2035 die Anzahl von rund 1,5 Milliarden Menschen erreichen. Dann jedoch dürfte die Bevölkerung wieder schrumpfen. Doch gerade diese Tendenz macht dem Staat zu schaffen. Denn derzeit ist die Bevölkerungsstruktur für den wirtschaftlichen Aufschwung geradezu ideal: Fast 70 % der chinesischen Bevölkerung sind im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 Jahren, das Durchschnittsalter liegt bei 35 Jahren. Doch die demografische Zukunft sieht nicht gerade rosig aus: Rund 9 % der Menschen in China sind derzeit (Stand 2010) über 65 Jahre alt. Dieser Anteil wird sich in den nächsten Jahren erheblich erhöhen. Für das Jahr 2025 geht die chinesische Akademie der Wissenschaften bereits von einem Anteil von 20 % Rentnern aus, bis zum Jahr 2050 sollen sogar rund ein Drittel aller Chinesen im Rentenalter sein. Während sich das Problem des Arbeitskräftemangels durch die bessere Ausbildung der jetzigen Jugend vielleicht wird ausgleichen lassen, zeichnet sich im Hintergrund eine viel drängendere Frage ab: Wer soll all die Senioren versorgen? Nur die wenigsten Chinesen haben eine halbwegs ordentliche Pensi-
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ons- oder Krankenversicherung. Dabei wurde bereits 1951 ein offizielles Rentensystem in China eingeführt: Etwas mehr als die Hälfte des Lohns gab es für die pensionierten Arbeiter der Staatsbetriebe. Finanziert und verwaltet wurde das Rentensystem von den Unternehmen selbst: Rund 3 % des Lohns gingen in einen Fonds, aus dem auch die aktuellen Renten bezahlt wurden. Mit der Pleite zahlloser Staatsbetriebe in den 1980er und 1990ern jedoch erhielt dieses System einen empfindlichen Schlag, mit den Unternehmen verschwand oft auch die Rente auf Nimmerwiedersehen. Rund 250 Millionen Chinesen sind derzeit im nunmehr staatlichen Rentensystem erfasst. Ohnehin knirscht und kracht es dort im Gebälk: Das jährliche Defizit geht in die Milliarden (Euro, wohlgemerkt!) und Besserung ist nicht in Sicht. Immer weniger Arbeitnehmer müssen immer mehr Rentner bezahlen, und dies bei steigenden Preisen. Nur wer 15 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hat, bekommt mit 65 Jahren eine Rente, alle anderen erhalten ihre Ansprüche als einmalige Auszahlung. Für die chinesische Regierung ist es nun besonders wichtig, möglichst schnell möglichst viele Arbeitnehmer zu erfassen und gleichzeitig für ein solides Wirtschaftswachstum zu sorgen, das die Renten finanziert. Fast 600 Millionen Arbeitnehmer gilt es dabei unterzubringen, viele davon auf dem Land: Hier sind derzeit nur 10 % aller Menschen erfasst. Nicht zuletzt wird hinter den Kulissen auch über eine Lockerung der Geburtenkontrolle diskutiert. Denn mehr Nachwuchs könnte letztlich auch helfen, wieder ein wenig mehr Geld in die Rentenkassen zu spülen.
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Chinesen dürfen das Land nicht verlassen Egal, ob am Kölner Dom oder auf dem Frankfurter Römer, in der Altstadt von Trier oder am Hamburger Hafen – sie sind überall: Rund 54 Millionen Chinesen reisten im Jahr 2010 ins Ausland, eine Zahl, die bei Erscheinen des Buches schon wieder lächerlich obsolet sein wird, denn der chinesische Tourismusmarkt ist mit jährlichen Steigerungsraten von bis zu 20 % gesegnet. Vor allem ins asiatische Ausland zieht es chinesische Touristen, aber auch nach Europa, Australien und in die USA. Kein Wunder, dass manch ein Geschäft der Brüsseler Innenstadt nur noch mit chinesischen Werbesprüchen lockt und auf dem Titisee hin und wieder Drachenboote kreuzen. Spätestens bis zum Jahr 2020, so die Prognose der World Tourism Organisation WTO, sollen rund 100 Millionen Chinesen jedes Jahr ihren Urlaub im Ausland verbringen. Eine wahrlich gigantische Zahl! Noch nie in der Geschichte Chinas haben sich so viele Menschen auf den Weg gemacht, die Welt zu entdecken. Theoretisch garantiert das „Emigration and Immigration Law“ schon seit 1985 allen Chinesen das Recht, nach Belieben ins Ausland zu reisen. Bis dieser Passus auch nur annähernd in die Tat umgesetzt wurde, vergingen jedoch etliche Jahre. Sicher ist: Jeder Bürger Chinas kann heute einen Reisepass beantragen und sollte ihn, geht es nach dem Gesetz, auch bekommen. De facto lässt sich diese Freizügigkeit steuern. Manchmal dauert es eben sehr lange, bis der Pass bereitliegt, oder der Antrag geht zufällig verloren. Dies allerdings geschieht seltener, als der Westen glaubt.
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Das Recht, über den eigenen Aufenthaltsort zu bestimmen oder gar das Land nach Belieben zu verlassen, hat im Reich der Mitte wahrlich keine Tradition. Schon zu Beginn unserer Zeitrechnung wurden in China auf kaiserlichen Befehl ganze Dörfer umgesiedelt. In die Grenzregionen des Reiches zum Beispiel, wo die Siedler aus dem chinesischen Kernland den nomadischen „Barbaren“ nicht nur die Überlegenheit ihrer Kultur vorleben, sondern das Land auch just gegen jene verteidigen sollten. Über Jahrhunderte hinweg konnte der Kaiser mit der Bevölkerung verfahren, wie es ihm beliebte. Bis 1893 war es den Untertanen sogar per Gesetz verboten, das Land zu verlassen. Zugegeben, dieses Verbot wurde nicht immer streng verfolgt, und es gab durchaus Zeiten, in denen Kaufleute regen Handel mit dem Ausland trieben. Dem Auswandern und Reisen haftete jedoch immer ein Makel an. Nicht zuletzt, weil China als Mittelpunkt der Erde galt. Jenseits seiner Grenzen lebten nach damaliger Ideologie nur kulturlose Barbaren – warum sollte ein redlicher Mensch dorthin reisen wollen? Die meisten Chinesen verließen ihr Dorf nur sporadisch, um in die benachbarte Kreisstadt zu fahren – eine anstrengende Angelegenheit, die meist wenig Lust auf weitere Reisen machte.
Wozu reisen? Über viele Dynastien hinweg blieb Reisen also eine große Ausnahme. Erst im 19. Jahrhundert erschütterte ein Exodus ungekannten Ausmaßes die chinesische Gesellschaft. Ganze Dörfer der Küstenregionen leerten sich, in vielen Familien machten sich die Söhne geschlossen auf den Weg in die Ferne. Nicht ohne Grund: Die stabile Qing-Dynastie hatte lange Jahre des Friedens gebracht, gleichzeitig führten verbesserte Anbaumethoden und neue Feldfrüchte dazu, dass sich die Bevölkerung enorm vermehrte. Lebten im Jahre 1700 noch rund 56 Millionen Menschen in China, waren es 130 Jahre später schon fast 400 Millionen! Mit verheerenden
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Folgen: vor allem im Süden Chinas war es kaum mehr möglich, die Massen zu ernähren. Kein Wunder, dass ab dem 19. Jahrhundert immer wieder lokale Aufstände unzufriedener Bauern große Landstriche erschütterten. Von 1851 bis 1864 gelang es der Taiping-Rebellion beinahe, die Monarchie zu stürzen. 20–30 000 Tote und unbeschreibliche Verwüstungen verursachte dieser Bürgerkrieg, der nur mithilfe kolonialer Truppen zugunsten des Kaiserhofs entschieden wurde. Kein Wunder, dass immer mehr Chinesen ihr Glück in der Ferne suchten. Nicht zuletzt war es nun einfach, das Land zu verlassen: Nachdem China 1842 den Opiumkrieg gegen die Briten verloren hatte, musste die kaiserliche Regierung zahlreiche Küstenstädte für den internationalen Handel öffnen. Ausländische Schiffe steuerten regelmäßig die chinesische Küste an. Wichtiger noch, sie alle kamen aus Ländern, in denen händeringend nach Arbeitern gesucht wurde! Mit der Abschaffung der Sklaverei fehlten in den Vereinigten Staaten und den britischen Überseegebieten mit einem Schlag Unmengen von Arbeitskräften. Schlepper und windige Geschäftsleute warben mit blumigen Versprechungen und sorgten dafür, dass ein steter Strom chinesischer „Kulis“ gen Westen floss. So landeten Hunderttausende von ihnen beim nordamerikanischen Eisenbahnbau, in den Gummipflanzungen von Sabah und Sarawak, den Zinnminen Malayas und anderen KnochenbrecherBranchen. Mehr als sechs Millionen Chinesen sollen das Land zwischen 1868 und 1939 via Hongkong verlassen haben, ähnlich dürfte es auch in Xiamen (früher: Amoy) ausgesehen haben. Vor allem Südchinesen aus den Küstenprovinzen Fujian, Zhejiang und Guangdong entschieden sich für die risikoreiche Arbeit als Kuli. Hier hatte der Kontakt mit dem Ausland Tradition, scheute man weniger vor den Risiken einer Reise zurück. Viele der Chinesen, die heute noch in Südostasien leben, stammen von diesen Arbeitern ab. Aber auch Kaufleute machten sich auf den Weg in die Welt. Frau und Kinder blieben in der Regel zurück, schließlich träumten die meisten Chinesen nicht von einer neuen Existenz in
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Übersee, sondern davon, eines Tages die Daheimgebliebenen mit Reichtümern zu beeindrucken. Obwohl einige Kulis in der Tat wieder nach China zurückkehrten, wuchs die Gemeinschaft der Überseechinesen bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs auf immerhin rund neun Millionen Menschen weltweit an. Dass die Zahlen hier nicht so recht zu den Ausreisezahlen passen, ist übrigens kein statistischer Fehler, sondern liegt schlicht an den menschenunwürdigen Transport- und Arbeitsbedingungen: Viele Kulis überlebten nicht einmal die Passage nach Übersee. Mit dem Zweiten Weltkrieg kamen die Migrationsströme erst einmal zum Erliegen. Nach 1945 und während des folgenden Bürgerkriegs flohen noch einmal rund drei Millionen Chinesen in die britische Kolonie Hongkong oder auf die Insel Taiwan, dann übernahmen die Kommunisten die Macht und die Grenzen schlossen sich. Ab 1949 war es quasi nicht mehr möglich, das Land zu verlassen, sieht man von all jenen Wagemutigen ab, die in den folgenden Jahren versuchten, die Grenze nach Hongkong illegal zu überwinden: Rund 40 000 waren es jedes Jahr!
China öffnet sich – in beide Richtungen Erst 1978, als sich Deng Xiaoping mit seiner Reformpolitik durchsetzte, öffneten sich wieder die Tore zum Ausland. Im Rahmen der Kampagne der „Vier Modernisierungen“ waren Auslandskontakte nun sogar wieder erwünscht, schließlich galt es, technologisch und wissenschaftlich den Anschluss an die Welt zu finden! Kein Wunder, dass vor allem Studenten und Wissenschaftler von den neuen Möglichkeiten profitierten. Erste Austauschstudenten, Delegationen und Fachgruppen fanden den Weg nach Westen. Seither haben laut der Chinese Academy of Social Science mehr als eine Million Studenten China für ein Auslandsstudium verlassen. Nur ein Viertel von ihnen kehrte nach dem Abschluss wieder in ihre Heimat zurück.
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Der Startschuss für die erste große Reisebewegung in der Geschichte Chinas fiel, vom Ausland nahezu unbeachtet, im Jahre 1983. Erstmals war es nun erlaubt, Familienangehörige oder Freunde in Hongkong und Macau zu besuchen. 1988 wurde ein ähnliches Gesetz für Thailand-Reisen verabschiedet, dann folgten die Änderungen Schlag auf Schlag. Als der staatliche Chinese Travel Service (CTS) 1991 schließlich erste Gruppenreisen nach Malaysia, Singapur und Thailand organisierte, schossen die Ausreisezahlen in die Höhe: Waren es 1991 noch zwei Millionen Reisende, leisteten sich 1992 schon drei Millionen Chinesen eine Reise ins Ausland, 1996 machten sich 7,5 Millionen auf den Weg. Erstmals tauchten nun auch chinesische Gruppen in Europa auf. Alle natürlich unter dem Deckmantel einer „Delegationsreise“, die rein zufällig auch noch die eine oder andere nette Sehenswürdigkeit auf dem Programm hatte. Zwischen Fabrikbesichtigungen und semioffiziellen Terminen entwickelte sich ein Privattourismus, der 1997 schließlich legalisiert wurde. Parallel wurde der individuelle Urlaubsanspruch erhöht – wer Reisen will, braucht schließlich Zeit! Den totalen Tourismus-Overkill, quasi den Reise-Jahrmarkt Chinas, brachte die Regierung jedoch 1999 ins Rollen. Mit der Einführung der arbeitsfreien „Golden Week“ Anfang Oktober erhielten 1,3 Milliarden Menschen die Gelegenheit, in Urlaub zu fahren. Allerdings gleichzeitig, was jedes Jahr zu erheblichen Engpässen bei Flügen, Zügen und Hotels führt. Ausländische Reisende sollten sich diesen Termin allemal merken – dies ist der Zeitpunkt, an dem man nicht nach China fährt. Dank der gesetzlichen Lockerungen und neuen Urlaubstage stiegen die Zahlen ein weiteres Mal rasant an: Im Jahr 2000 verließen schon 10 Millionen Chinesen das Land für eine Urlaubsreise, 2002 waren es 16 Millionen, 2007 sogar 41 Millionen. Im Jahr 2008 reisten 46 Millionen Chinesen ins Ausland. Rund ein Drittel aller Reisen führten nach Europa. Dies allerdings nicht nur dank der hohen Kulturdichte Europas, auch pragmatische Erwägungen spielten eine große Rolle: Wo sonst in der Welt lassen sich so mühelos sieben Länder in fünf Tagen abfahren? Chinesische Gruppen
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lieben Ausflüge in die Benelux-Region, die ihnen innerhalb von Stunden die Statistik der besuchten Länder aufpoliert und den Punktestand um drei erhöht. Sogar das kleine Andorra bemüht sich, nicht ohne Erfolg, um chinesische Touristen. Schließlich liegt es so praktisch auf dem Weg von Frankreich nach Spanien und sorgt für zwei weitere Stempel im Pass. Den größten Happen chinesischer Touristen bekommt jedoch Deutschland ab. Dem Frankfurter Flughafen, Goethe und Karl Marx sei Dank, dass „Deguo“ auf der Wunschliste ganz oben steht und im Jahr 2009 rund 800 000 chinesische Touristen beherbergte. Fast scheint es, die Reiselust der Chinesen kenne, sprichwörtlich, keine Grenzen. Einen Hemmschuh gibt es dann aber doch: Während sich die Ausreise immer leichter gestaltet, tun sich Chinesen mit der Einreise noch immer schwer. So verlangen viele westliche Staaten, wie beispielsweise die Mitgliedsländer des europäischen Schengen-Abkommens, bei individuellen Reisen Buchungsbestätigungen für die gesamte Tour, teils werden die Visa nur nach persönlicher Vorsprache erteilt. Je nach Reiseziel entstehen zudem hohe Kosten für die Visumserteilung selbst, für erforderliche Bescheinigungen und das alles bedeutet natürlich einen erheblichen Zeitaufwand – hin und wieder kann es Tage dauern, bis der Visumsbewerber an die Reihe kommt.
Leichter Reisen für die Shopping-Weltmeister Erheblich einfacher gestaltet sich eine pauschale Urlaubsreise im Rahmen des ADS-Abkommens. Die Abkürzung ADS steht dabei für „Approved Destination Status“, eine Vereinbarung der „China National Tourism Administration“ (CNTA) mit den beliebtesten Urlaubsländern chinesischer Touristen. Der Sinn und Zweck dieses Abkommens ist einfach: Genauso wie China möchte, dass seine Bürger wieder möglichst vollzählig zurückreisen, liegt auch den
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empfangenden Ländern daran, dass die Gruppen nach der Tour komplett das Land verlassen. Chinesen, die im Rahmen des ADS eine Reise unternehmen möchten, müssen sich einer Gruppe von mindestens fünf Personen anschließen, inklusive eines chinesischen Begleiters, und die Pauschalreise bei einem der über tausend lizensierten ADS-Veranstalter buchen, der sich um die Visa-Prozedur zur Einreise in die ADS-Länder kümmert. Heimlich ausbüxen oder unterwegs auf Nimmerwiedersehen verschwinden ist damit kaum mehr möglich, denn die ADS-Partnerländer garantieren, dass die Reisenden ihre Visa vor Ort nicht individuell verlängern dürfen. Seit 2002 gehört auch Deutschland zu den ADS-Zielen. Insgesamt sind es bereits mehr als 90 Länder, und jedes Jahr werden es einige mehr. Den chinesischen Reisenden dürften also in nächster Zeit kaum die Reiseziele ausgehen. Und das ist gut so, denn wenn es um Reisegeschwindigkeit geht, sind chinesische Gruppen rekordverdächtig. Möglichst viele Länder in möglichst kurzer Zeit lautet das unausgesprochene Motto der chinesischen Touristen. Und natürlich möglichst günstig, damit noch etwas Geld übrig bleibt für Einkäufe. Kein Wunder, dass der chinesische Reisemarkt heftig umkämpft ist. Mit Eifer und Durchhaltevermögen wird um den Preis gehandelt, als ginge es um Leben und Tod. Andererseits: Niemand gibt unterwegs in Europa mehr aus als chinesische Gruppen! Selbst Japaner und Amerikaner müssen ob der rund 5 700 USD, die chinesische Besucher beim leidenschaftlichen Shopping pro Reise umsetzen, beschämt zu Boden blicken. Besonders oft zieht es chinesische Gruppen in Boutiquen, zu Schmuckherstellern und Outlets – am liebsten am Herstellungsort selbst. Schön, wenn sich dies mit ein wenig Kultur verbinden lässt: Ein schnelles Foto auf dem Markusplatz von Venedig, dann geht es zu den Glasbläsern von Murano oder in ein schickes ModeOutlet. In einem Punkt sind chinesische Gruppen jedoch unnachgiebig: Es muss Markenware sein! Die günstigen Imitate stammen ja sowieso aus China und sind daher in Shanghai oder Kanton
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erheblich billiger zu haben. Erfahrene Reiseveranstalter planen pro Reiseteilnehmer oft einen Sitzplatz mehr im Bus ein – irgendwo müssen schließlich auch die Einkäufe untergebracht werden. Die Ankunft einer chinesischen Gruppe zaubert manch einem Kaufmann ein Lächeln auf die Lippen: Tüten- und kistenweise schleppen die Teilnehmer die Souvenirs aus dem Laden, gerade so, als wäre das Geld morgen nichts mehr wert. Das Geheimnis der gewaltigen Reisekasse vieler Chinesen klärt sich freilich im Gespräch: Quasi alle Gruppenmitglieder tragen eine lange Auftragsliste mit sich herum. Ein Solinger Messer für den Nachbarn, eine Linkshänderschere für die Schwester, französisches Parfum aus Grasse für die drei besten Freundinnen... und natürlich ein paar schöne Swarowski-Stücke für die Schwiegermutter. Selbstverständlich wäre es höchst unhöflich, Freunden oder Bekannten diese Wünsche abzuschlagen. Das alles klingt nach einem lohnenden Sektor in der Tourismusbranche. Doch chinesische Gäste erweisen sich nicht immer als einfach. Was dem deutschen Durchschnittstouristen gefällt, muss bei fernöstlichen Gruppen nicht unbedingt gut ankommen. Lauschige Pensionen? Viel zu klein, wo ist da der Glamour? Eine imposante Lobby mit viel Chrom und Gold ist ein Muss. Auch mit Kaffee und Marmeladenbrötchen lassen sich chinesische Gruppen nicht begeistern. Deftig und vor allem reichhaltig muss das Frühstücksbuffet sein. Geradezu neidisch beobachten die europäischen Tischnachbarn dann, welche imposanten Portionen viele gertenschlanke Chinesen zum Frühstück vertilgen, ohne um die Taille fürchten zu müssen. Oft lassen sich chinesische Gruppen schon von Weitem ausmachen: Reisen ist eine rundum positive Sache, ein echtes Erlebnis, auf das die meisten lange gespart haben. Kein Wunder, dass eine ausgelassene Stimmung herrscht, die nicht zu jedem romantischen Restaurant passt. Dort landen sie allerdings ohnehin recht selten. Wenn es ums Essen geht, erreicht die Experimentierfreude schnell ihre Grenzen. „Etwas Ordentliches auf dem Teller“ gibt es eben doch nur im China-Restaurant. Für der-
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artige Fälle halten diese ganz eigene Speisekarten auf Chinesisch bereit, die sich substanziell von den germanisierten Gerichten der deutschen Menüs unterscheiden: Chop Suey und Glückskekse gibt es hier garantiert nicht. Ausflüge auf kulinarisch fremdes Terrain leisten sich natürlich auch chinesische Gruppen. Mit gemischtem Erfolg. Während deutsche Bäckereien kaum die Begeisterungsstürme ernten, die sie eventuell verdient hätten – Brot ist definitiv kein „anständiges Abendessen“ – konvertieren chinesische Gruppen angesichts einer deutschen Metzgerei (zumindest temporär) mit geradezu religiösem Eifer zur westlichen Küche. Eisbein, Schäufele, Fleischwurst und andere zünftige Waren finden nicht selten in Plastik eingeschweißt den Weg in den Koffer und sorgen bei der Ankunft in Beijing für viel Stirnrunzeln beim Zoll. Als besonders heikel jedoch erweist sich, positiv formuliert, die extreme Flexibilität der Gruppen. Unterwegs noch schnell einen Abstecher in eine andere Stadt? Doch noch einen Tag länger bleiben? Eine gute Idee! Auch der Hinweis, dass damit alle Hotelbuchungen hinfällig werden, die Stichworte „Stornogebühren“ und „fest gebucht“ können chinesische Gruppen oft nicht schrecken. Und weil sich nicht alle Teilnehmer einig werden können, trennt sich die Gruppe einfach für ein paar Tage. Dann muss schnell noch ein Bus her, ein weiterer chinesischsprachiger Guide. Und zwar sofort, denn bei Änderungswünschen heißt das Motto „Gesagt, getan“. Derartige Eskapaden in rascher Abfolge lassen jeden Touristiker die Haare raufen. Gut, dass es auch in Europa viele chinesische Dienstleister gibt, die ihre Klientel kennen. Auch hier dürfte der Nachwuchs nicht ausgehen. Derzeit leben rund 33 Millionen Chinesen außerhalb Chinas. Diese Zahl ist, auch wenn sie immer wieder in der wissenschaftlichen Literatur auftaucht, jedoch mit Vorsicht zu genießen. Denn wer gilt als Chinese? Zählen auch jene dazu, die in der zweiten oder dritten Generation im Ausland geboren wurden? Ist das Kriterium das eigene ethnische Zugehörigkeitsempfinden oder die Staatsangehörigkeit? Wie wer-
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den die Malaysier, Thai, Vietnamesen, Singapurer und Indonesier chinesischen Ursprungs oder Kinder aus gemischten Ehen gerechnet? Zumindest zeigt diese Zahl einen allgemeinen Trend: 1985 waren es laut Statistik 22 Millionen – ein enormer Zuwachs verglichen mit den Zahlen aus 1960, als rund 13 Millionen Chinesen offiziell außerhalb Chinas lebten.
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Die Chinesen schreiben mit Bildern Ein Haufen scheinbar willkürlicher Striche, gruppiert zu kleinen quadratischen Einheiten, jede für sich einzigartig: Auf den ersten Blick wirken die chinesischen Zeichen verwirrend – und doch scheinen viele bei genauerem Hinsehen auch für den westlichen Betrachter gar nicht so unlogisch: Ein Mann Ҏ, der an einem Baum lehnt, steht für ausruhen ӥ. Eine Gruppe von zwei ᵫ oder drei Bäumen Ể nebeneinander, natürlich, das ist ein Wald. Auch das Zeichen für hören 䯏 – ein Ohr 㘇 an einer Tür 䮼 – kann sich der Lernende gut merken: Sieh da, auch in China lauscht der Mensch an fremden Türen! Stimmt es also, dass die Chinesen mit Bildern schreiben? In der Tat stammen die chinesischen Zeichen von einfachen Bildern ab. Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Grundlagen der chinesischen Schrift in der Shang-Dynastie entstanden, die vom 16. bis 11. Jahrhundert v. Chr. den heutigen Norden Chinas regierte. Die Shang galten nicht nur als besonders kriegerisch, sondern verbrachten auch viel Zeit mit Wahrsagerei, die im Alltag des Königshofes eine große Rolle spielte. Um mit den Göttern in Kontakt zu treten, ritzten Priester ihre Fragen in Form von kleinen Skizzen auf Rinder-Schulterknochen und Schildkrötenpanzer, die sie dem Feuer aussetzten. Anhand der Risse und Sprünge, die durch die Hitze entstanden, interpretierten sie die Antworten. Fast täglich ließen sich die Könige der Shang allerhand Fragen aus der Welt der Götter beantworten: Wann ist der beste Erntezeitpunkt?
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Ist es geschickt, jetzt einen Krieg anzufangen? Vor welchen Feinden muss ich mich hüten? Viele der damals verwendeten, frühen Zeichen lassen auch heute noch Ähnlichkeit mit der jetzigen Schrift erkennen. Diese Orakelknochen gelten daher derzeit als die ersten schriftlichen Zeugnisse des Alten China. Beispiele für frühe Zeichen und ihr Pendant in der modernen Sprache Orakelknochen (Shang-Dynastie 16 – 11. Jh. v. Chr.)
Moderne Standardschriften (Kurzzeichen, VR China)
Bedeutung
Ҏ
人
Mensch
ཇ
女
Frau
偀
马
Pferd
䲼
雨
Regen
剐
鱼
Fisch
ቅ
山
Berg
᮹
日
Sonne
᳜
月
Mond
Orakelzeichen All dies weiß man allerdings erst seit rund hundert Jahren. Wäre nicht ein Freund des Gelehrten Wang Yirong im Jahr 1899 an Malaria erkrankt, läge der Ursprung der Zeichen vielleicht heute noch im Dunkeln. Denn Wang besorgte sich in der Apotheke „Drachenknochen“, fossile Knochen, die als traditionelles Mittel zur Fiebersenkung verwendet wurden. Als der Apotheker sie vor sei-
DIE CHINESEN SCHREIBEN MIT BILDERN
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nen Augen zu Arzneipulver zermahlen wollte, entdeckte Wang kleine eingeritzte Bilder, die ihm älter schienen, als irgendeine Schrift, die er je gesehen hatte. Wang kaufte alle Drachenknochen, die er finden konnte, und sein Verdacht bestätigte sich: Sie konnten aus der Zeit von rund 1400 v. Chr. datiert werden und stammten aus der Gegend von Anyang (Provinz Henan), der Hauptstadt des Shang-Reiches. Bereits im Jahr 1400 v. Chr. muss es um die 5 000 Zeichen gegeben haben, die meist sehr bildlichen Charakter hatten. Sie sind die ältesten erhaltenen und bekannten Zeugnisse der chinesischen Schrift, wohl aber bei Weitem nicht die frühesten – gut möglich, dass irgendwann einmal noch ältere, simplere Formen gefunden werden! Obwohl die Zeichenschrift auf den Orakelknochen also bereits recht elaboriert war, hat sich die Schrift seit den ersten belegten Zeugnissen erheblich weiterentwickelt – wie auch die chinesische Zivilisation. Je länger die Zeichen benutzt wurden, desto öfter stellte sich das Problem, dass die Menschen auch komplexe Fragen darstellen wollten. Konkrete Gegenstände lassen sich einfach auf ein Bild reduzieren. Doch wie malt man Begriffe wie „Angst“ oder Geduld“, wie bildet man wissenschaftliche und technische Neuerungen ab? Dazu muss man wissen: Die Zeichen setzen sich nicht aus beliebigen Strichkombinationen zusammen. Alle Zeichen bestehen aus einem oder mehreren von etwas mehr als 200 sogenannten „Radikalen“, also quasi allerkleinsten Einheiten, die sich von den ursprünglichen Bilderzeichen ableiten. Viele der Radikale lassen noch ihre ursprüngliche Bedeutung erkennen, wie beispielsweise das Radikal für Insekten 㰿. Kein Wunder, dass die meisten Insekten wie Ameise 㱖㱕ˈMücke 㱞 oder Biene 㳖 im Zeichen dieses Radikal enthalten. Auch wenn der Lernende nicht genau weiß, was 㱖㱕, 㱞 oder 㳖 sind, so erkennt er doch schnell: Dies ist meist nichts, was er auf der Speisekarte finden möchte. Ausnahmen gibt
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es natürlich auch, denn skurrilerweise schreiben sich Frosch 㲭 und Auster 㱱 ebenfalls mit dem Insekten-Radikal. Einige Radikale mit Beispielen für ihre Verwendung Radikal
Bedeutung Beispiel Bedeutung Erklärung
Holz, Baum
Ể
Wald
Drei Bäume ergeben einen Wald
Ҏ
Mensch
ӥ
ausruhen
Ein Mensch lehnt an einem Baum
ষ
Mund
ৗ ি ଅ ુ
essen rufen singen weinen
Für alle diese Aktivitäten braucht man den Mund, und zum Weinen am besten zwei
Ⳃ
Auge
ⳟ
sehen
Hand
Mit einer Hand über den Augen Ausschau halten
䎇
Fuß
䎥
rennen
Stein
⺞
anhäufen
Drei Steine ergeben eine Haufen
᮹
Sonne
ᮺ
Morgengrauen
Die Sonne geht über dem Horizont auf
Kraft
ࡾ
fleißig
⠊
Vater
⠌
Papa
☿
Feuer
⚸ ♦
rösten braten
Beim Kochen spielt Feuer eine große Rolle
Um neue Begriffe abzubilden, standen den Menschen also eine Vielzahl von Radikal-Kombinationen zu Verfügung. Doch auch sie entstanden nicht ohne Methode: Es wurden zwei bereits vorhandene bildliche Elemente kombiniert, um eine Schlussfolgerung darzustellen: Aus Sonne ᮹ und Mond ᳜ wurde das Wort ᯢ, hell leuchten bzw. morgen. Frau ཇ und Kind ᄤ zusammen ergab ད, gut – eine fast schon sozialpolitische Aussage. Andere wiederum,
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wie Geduld ᖡ, nämlich eine Messerschneide ߗ, die sich in ein Herz ᖗ senkt, sind geradezu philosophisch. Wer weiß nicht, wie schmerzhaft es sein kann, Geduld zu beweisen? Auf diese Art ließen sich freilich nur wenige neue Wörter bilden. Schnell ging man also zu einer einfacheren Methode über: Um ein Wort zu schreiben, orientierte man sich einfach an einem bereits bestehenden Zeichen, das so ähnlich klang, und fügte ein Radikal dazu, das für die neue Bedeutung stand. So setzte man „schnarchen“, hān 唒 aus dem Radikal für Nase 唏 und dem bereits existierenden Zeichen ᑆ zusammen, das damals wahrscheinlich als „han“ ausgesprochen wurde. Setzte man vor das ᑆ das Radikal für Wasser, wurde Schweiß ∫ daraus. Diese piktophonetischen Kombinationen stellen heute einen Großteil der chinesischen Zeichen – und sie sind ganz sicher keine Bilder mehr, sondern eher ein Konstrukt im Stil der Rebus-Bilderrätsel! Ihre Bedeutung lässt sich kaum mehr erraten, bildliche Assoziationen fehlen völlig, oder sind irreleitend, wie im Fall des Wortes Mutter, ma ཛྷ, das sich aus Frau ཇ und Pferd 偀 zusammensetzt, wobei das Pferd, ebenfalls ma ausgesprochen, nur den phonetischen Teil stellt. Die Aussprache lässt sich auch diesen Zeichen, (wie allen Zeichen generell!) längst nicht mehr verlässlich entnehmen, denn während die Zeichen seit rund 2 000 Jahren zu großen Teilen gleich geblieben sind, hat sich die gesprochene Sprache erheblich verändert. Wer das Zeichen 䔺 als Auto, wiedererkennt, kann es also verstehen. Aber eben nicht vorlesen, wenn er nicht irgendwann in seinem Leben gelernt hat, dass es „chē“ ausgesprochen wird. Das klingt arbeitsintensiv – und ist es auch. Denn der Lernende muss nicht nur jedes Zeichen einzeln memorisieren, sondern auch die Aussprache. Erschwerend kommt hinzu, dass das Chinesische eine sehr lautarme Sprache ist: Das westliche Vorurteil „klingt ja alles gleich“ ist auch aus chinesischer Sicht durchaus berechtigt!
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Alles gleich? Um die 400 Silben kennt das Hochchinesische. Zum Vergleich: Im Deutschen sind es mehr als 10 000. Aus diesen wenigen Lauten müssen alle Wörter gebildet werden. Auch wenn es sie in vier verschiedenen Lauthöhen gibt, ergibt auch das nur 1 600 Silben – sicher zu wenig, um ohne Missverständnisse zu kommunizieren. Auch Chinesen fuchteln bei schwierigen Diskussionen immer wieder mal in der Luft herum. Dies sind keine aufgeregten Gesten, sondern Luftmalereien, quasi schnelle Untertitel, die eventuellen Missverständnissen vorbeugen sollen: Geschrieben ist die Zeichenschrift immer eindeutig. Chinesisch ist also eine Sprache, die man kurioserweise stumm lesen kann, ohne sie zu sprechen – oder gar zu verstehen. Kein Wunder also, dass sich mit den Anforderungen der modernen Welt immer mehr mehrsilbige Begriffe durchsetzten: Anstatt eigene Symbole zu kreieren, kombinierte man vorhandene Zeichen zu zwei-, drei- oder mehrsilbigen Wörtern. Aus den einzelnen Wörtern yŭ 䇁 und yán 㿔 (beide bedeuten „Sprache“, können aber jeweils viele weitere Bedeutungen tragen) wurde beispielsweise yŭyán 䇁㿔, ein eindeutiger Ausdruck für „Sprache“. Ein weiteres Beispiel wäre der Begriff Volk Ҏ⇥, der sich aus Mensch Ҏ und Volk ⇥ zusammensetzt. Ganz ähnlich wurden auch Wörter für neue Erfindungen und den allgemeinen kulturellen Fortschritt gebildet, wie Telefon ⬉䆱 (Elektrizität, ⬉ und Sprache, 䆱) oder Computer ⬉㛥 (Elektrizität, ⬉ und Gehirn, 㛥). Das Chinesische ist also längst keine einsilbige Sprache mehr, teils haben sich sogar Wörter von vier und mehr Silben entwickelt, wie zum Beispiel Demokratie (Volkherrschen-herrschen-System). Kein Wunder, dass das Chinesische heute kaum mehr als Bildersprache gelten darf, sondern meist als „logografische Sprache“ bezeichnet wird. Ein Vorurteil stimmt dann aber doch noch: Chinesische Texte können in der Tat theoretisch in alle Richtungen geschrieben
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werden: Besonders verbreitet sind die Varianten von links nach rechts, also wie im Westen, und von oben nach unten, wobei dann die Spalten von rechts nach links verlaufen. Andere Richtungen sind zwar möglich, aber nicht üblich. Dennoch soll es des Öfteren ausländische Studenten gegeben haben, die ihren Prüfungstext konsequent und über Stunden falschherum übersetzten. In Anbetracht all dieser Ausführungen fragt sich der westliche, von den Vorzügen eines einfachen Alphabets verwöhnte Mensch: Warum tun sich die Chinesen diese komplizierte Schrift an? Wie konnte sich ein so komplexes System über Jahrtausende erhalten? Aus sprachlicher Sicht gibt es keinen zwingenden Grund eine Buchstabenschrift einzuführen: Das Chinesische kennt kaum Grammatik, braucht keine veränderbaren Endungen, keine Konjugationen, keine Deklinationen, ja sogar Zeiten sind nahezu unbekannt. „Gestern wäre ich gerne nach Beijing gefahren, hatte aber keine Zeit“ lässt sich beispielsweise wortwörtlich übersetzten mit „Gestern ich wollen gehen Beijing, aber nicht haben Zeit“. Chinesen scheinen permanent mit dem Wortstamm zu sprechen. Egal ob „ich gehe“, du bist gegangen“ oder „der Gang“ – immer kann es mit einem unveränderbaren Zeichen এ ausgedrückt werden. Warum also von einem System abweichen, das überall im Lande verstanden wird? Die von der Aussprache völlig losgekoppelten Zeichen ermöglichen eine Verständigung über alle Dialekte hinweg. So würde beispielsweise Deutschland (ᖋ) im Hochchinesischen als deguo gelesen, in anderen Landesteilen jedoch dago, digo, dakgwok etc. Der Nachteil der Zeichen, eben nichts über die Aussprache zu verraten, ist unter diesem Aspekt ein echter Vorteil. Vor allem aus Sicht der Regenten, die sicher sein konnten, dass ihre Instruktionen und Dekrete überall im riesigen chinesischen Reich verstanden wurden. Nicht ganz ohne Belang war auch die Tatsache, dass die Zeichen nur schwer zu erlernen waren (und sind!), quasi Garanten dafür, dass sich die Macht gut begrenzen ließ. Bauern, Soldaten und Tagelöhner, also Menschen, die vor allem der Obrigkeit gehorchen sollten, hatten schlicht nicht die Zeit, sich die komplexe
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Schrift anzueignen: Das Studium der Schrift erforderte viel Zeit und Muße. In der Regel waren es Adlige oder hochgestellte Persönlichkeiten, die ihren Nachfahren diesen Luxus erlauben konnten. Schließlich galt es nicht nur, Tausende von Zeichen zu erlernen, sondern auch die Kunstsprache Wenyan, das „klassische Chinesisch“. Da sie nicht die gesprochene Sprache widerspiegelte (kein Mensch hätte einen vorgelesenen Wenyan-Text verstanden), sondern eine verkürzte, vieldeutige Variante mit KreuzworträtselCharakter, war auch sie ein Mittel der Machtkontrolle: Nur wer des Lesens und Schreibens mächtig war und die klassischen philosophischen Texte auswendig rezitieren konnte, durfte an den Beamtenprüfungen des Alten China teilnehmen.
Unbequem und unverzichtbar Gerade aus diesem Grund waren die chinesischen Zeichen den Kommunisten nach dem Sieg 1949 ein echter Dorn im Auge. Als Sinnbild für die Bildungselite, hätte man sie lieber früher als später abgeschafft. Doch der Versuch stattdessen eine Alphabetschrift einzuführen, scheiterte kläglich an der Vielzahl gleich lautender Worte (ähnlich wie im Deutschen Lärche und Lerche, die sich ebenfalls nur im Schriftlichen unterscheiden): Texte, die ausschließlich in westlicher Umschrift gedruckt wurden, erwiesen sich als völlig unverständlich und verstaubten in den Regalen der Buchhandlungen. Stattdessen verordnete der Staat den Zeichen nach 1950 mehrmals eine Art Entrümpelungskur: Komplizierte Zeichen mit vielen Strichen, aber auch besonders oft verwendete Wörter wurden kurzerhand zusammengestrichen, so dass sie leichter zu lernen waren. Diese so genannten „Kurzzeichen“ konnten sich jedoch nicht überall im chinesischsprachigen Ausland durchsetzen. Während Taiwan und Hongkong weiterhin in den traditionellen Langzeichen schreiben, haben Singapur und die chinesische Gemeinschaft in Malaysia die Kurzzeichen in Presse und Schulbüchern übernommen.
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Langzeichen
Kurzzeichen
Bedeutung
亯ᑒ
亲ᴎ
Flugzeug
ϔן
ϔϾ
einer
䒞
䔺
Fahrzeug
䭔
䮼
Tür
䁾䁅
䇈䆱
sprechen
ᅌ
ᄺ
lernen
Land
ᛯ
⠅
Liebe
㧃Ҏ
ढҎ
Chinesen
㞝
㜌
Gesicht
⃞
ᴗ
Macht
䳏
⬉
Blitz
䜄
䚏
Nachbar
⥉
⣢
jagen
ђ
ᑆ
trocken
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Historisch gesehen sind die Zeichenreformer allemal in guter Gesellschaft: Bereits in der Qin-Dynastie (221 – 206 v. Chr.) ließ der megalomane Herrscher Qin Shi Huangdi (im Westen kennen wir ihn als Herrscher über die Tonarmee von Xi’an) die Zeichen landesweit vereinheitlichen und normieren.
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China kann nur kopieren Geht es um Kreativität und geistigen Fortschritt, findet China wenig Gnade vor den deutschen Medien. So schreibt die Welt Anfang 2011: „Bis heute ist China das Reich der Nachahmer und Abschreiber. Mit keiner einzigen originellen Idee – sei sie uns noch so angenehm oder gefährlich – ist die Volksrepublik bisher hervorgetreten. Anders der Westen. Seine Gabe, sich beständig infrage zu stellen, seine Debattenkultur, das quirlige Leben an vielen seiner Universitäten wird immer wieder neue Gedanken und Ideen hervorbringen“.39 Gerne werden derartige Aussagen auch in den Vergleich zu Europa gesetzt. So heißt es im selben Text: „An welcher Hochschule lehrt der chinesische Einstein, wo der neue Max Weber? Man wird sie nicht finden“. Wahrscheinlich hat der Gedanke, China sei eine Nation von Kopierern und Nachmachern, die ohne den Westen keine Neuerungen auf die Beine stellen könnten, etwas unheimlich Beruhigendes: Eine kuschelige Rückzugsecke der europäischen Intellektuellen, denen übrigens auch in Deutschland nicht jeden Tag ein neuer Einstein über den Weg läuft. Ganz grundlos ist diese Schmähschrift natürlich nicht entstanden: Geht es nach den Zahlen des deutschen Zolls, steht China in der
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Liste der Produktpiraten ganz oben. Zu Deutsch: Ein Großteil der Plagiate, die der Zoll aus dem Verkehr zieht, stammt aus dem Reich der Mitte. Von der gut gefälschten Rolex bis zur Lay-Ban-Sonnenbrille mit Rechtschreibschwäche ist alles dabei. Vor allem Brillen, Schuhe, Textilien und Schmuck stammen vorwiegend aus China, aber auch Spielzeug, Zigaretten und Bürobedarf werden dort besonders gerne gefälscht. Wie hoch der chinesische Anteil an importierten Fälscherwaren ist, hängt von der statistischen Erfassung ab. Geht es nach den „Zugriffszahlen“ sind es rund 30 % – bei dieser Zählweise jedoch ist es kein Unterschied, ob sich hinter dem einen Zugriff ein kleines Postpaket oder ein ganzer Container verbirgt. Geht es nach Mengenangaben, steht China schon weitaus gewichtiger da: Rund 70 % aller aufgegriffenen Waren kommen dann aus China. Das ist eine eindrucksvolle Zahl. Soweit stimmt der Stereotyp also: Nirgendwo sonst werden so viele Plagiate hergestellt, Pläne geklaut, wird so offensichtlich abgekupfert. Ob sich damit ausgerechnet die Unfähigkeit zur Innovation und Kreativität belegen lässt, ist eine andere Frage. Denn, gerade weil China technisch erheblich weiter fortgeschritten ist, als es der Westen oft glauben will, gerade weil sich auch hier ausreichend gut ausgebildete Forscher und Arbeitskräfte tummeln, gelingen auch schwierige Übungen, die über die eine oder andere Prada-Tasche hinausgehen. Um einen Transrapid weiter zu entwickeln (chinesische Fassung) oder abzukupfern (die deutsche Version), braucht es schon ein wenig mehr als grundlegende Kenntnisse der Elektrotechnik. Man mag getrost annehmen: Es gibt eine Menge Länder auf der Welt, die an dieser Aufgabe gescheitert wären. Auch der Nachbau von komplexen Konstruktionsplänen ist kein Kinderspiel. Sicher ist auch: Alle diese Zahlen sind nur ungefähre Angaben. Denn man darf annehmen, dass China beileibe nicht bei jedem Versuch erwischt wird! Genauso hängen viele europäische Firmen es nicht unbedingt an die große Glocke, wenn ihnen mal wieder wichtige Konstruktionsunterlagen abhanden gekommen sind. An-
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dererseits: Stammt eine Ladung aus Fernost, schaut manch ein Zöllner sicher ganz besonders genau hin, so dass gerade Warensendungen und Fracht aus China besonders gut kontrolliert werden. Bleibt die Frage – warum tun die Chinesen das? Wohl aus dem simplen Grund: Weil sie es lange Zeit gefahrlos durften! Erst 1990 leistete sich die Volksrepublik China im Rahmen der wirtschaftlichen Öffnung das erste Urheberrechtsgesetz, das 2001 auf internationalen Standard gebracht wurde. Das dazugehörige Unrechtsbewusstsein fehlt trotzdem noch vielerorts: Jahrzehntelang waren privates Umfeld, persönliche Rechte und Eigentum ganz generell schon aus politischen Gründen wenig wert. Intellektuelle hatten sowieso einen schweren Stand in einer Gesellschaft, da die körperliche Arbeit bis in die 1970er erheblich mehr geschätzt wurde als geistige Leistung. Der Ausdruck „geistiges Eigentum“ ist daher neu, genauso wie die dazugehörige Vorstellung. Noch zu Beginn der 1990er waren sogar in den Regalen der staatlichen Buchhandlungen zahlreiche raubkopierte Bücher zu finden. Die Haltung der chinesischen Regierung zu diesem Thema hat sich jedoch in den letzten zwei Jahrzehnten grundlegend geändert. Anders als oft angenommen, ist es der jetzigen Führung durchaus nicht immer recht, dass so viel abgekupfert wird. Längst hat China Interesse daran, eigene Weltmarken zu entwickeln, was ihnen mit Haier, Huawei und Lenovo bereits gelungen ist. Auch diese Firmen leiden unter Ideenklau und Plagiaten, nur bekommt diese Tatsache einfach nicht so viel internationale Aufmerksamkeit. An dieser Stelle sei auch erwähnt: Während sich der prozentuale Anteil der Aufgriffe von 35 % im Jahr 2005 auf 28,76 % im Jahr 2009 verringert hat, hat sich der thailändische Anteil von 10 % auf 19,57 % fast verdoppelt! Auch die USA sind mit fast 11 % prominent vertreten. Wenn es darum geht, Chinas pragmatische Haltung zum geistigen Eigentum zu erklären, muss nicht zuletzt oft der alte Konfuzius herhalten. In der Tat vertrat Konfuzius die Maxime „Regieren
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durch Vorbild“, eine Aussage, die sich ursprünglich auf die Staatsführung bezog. Doch auch in der Kunst, ja der Erziehung generell, hielt diese Grundregel Einzug. Jahrhundertelang blieben die Chinesen dabei: Selbst die Beamtenprüfungen, landesweite Examen, die zum Eintritt in den Staatsdienst berechtigten, zielten auf auswendig gelerntes Wissen ab. Es dauerte Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, bis es den Schülern gelang, die konfuzianischen Klassiker fehlerfrei zu rezitieren und nach gängiger Lehrmeinung korrekt zu interpretieren. Für eine eigene Auslegung blieb wenig Platz. In der Regel war sie auch nicht gewollt, denn von der ununterbrochenen Beschäftigung mit den konfuzianischen Texten versprach man sich die geistige Läuterung, die den Lernenden in einen kultivierten Menschen verwandeln sollte. Gleiches galt auch für Malerei und Dichtkunst: Der Schüler lernte, indem er den Meister kopierte. Erst wenn er die Perfektion seines Meisters erreicht hatte, wurde es Zeit, einen eigenen Stil auszubilden. Kein Wunder also, dass sich das Prinzip des Kopierens auch in der Wirtschaft erst einmal durchsetzte. Streng genommen ist die Imitation für den Kopierten also letztlich eine Auszeichnung, schließlich wird nur kopiert, wer offensichtlich das Meisterstadium erreicht hat. So zumindest die philosophische Begründung. In Anbetracht dieses hochgeistigen Ballasts – wer wollte schließlich Konfuzius infrage stellen – wird der rein geschäftliche Aspekt gerne übersehen. In der Plagiatsindustrie wird viel Geld gemacht. Leicht verdientes zudem, denn die Entwicklungskosten sind naturgemäß gering und auch in puncto Qualität können die Kopien den Originalen oft nicht das Wasser reichen. Kein Wunder, dass Konfuzius meist als Rechtfertigung für simple Geldmacherei herhalten muss, die sich nur schwer kontrollieren lässt. Viele der gefälschten Waren stammen nicht zwingend aus einem großen Betrieb, sondern aus kleinen Produktionsstätten in Südchina, deren Besitzer mit hoher Flexibilität das produzieren, was sich gerade gut verkaufen lässt. Bei allzu großer Kontrolle durch die lokalen Behörden wird einfach zwei Ortschaften weitergezogen.
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Als China vorne lag Historisch gesehen ist der Ideenklau übrigens kein Novum, denn jahrhundertelang übernahm auch der Westen schamlos Innovationen aus dem Osten. Die Geschichte ist voller Beispiele großer Erfindungen, die China weitaus früher als Europa oder der Rest der Welt zu nutzen wusste. Um nur einige Beispiele zu nennen: Bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. wusste man in China von der magnetischen Anziehungskraft des Eisens auf Magnetit, so dass wahrscheinlich vor Beginn unserer Zeitrechnung schon primitive Kompasse in Gebrauch waren, deren Nadeln allerdings gen Süden zeigten. Generell war China dem Westen in Sachen Metall lange voraus: Im 11. Jahrhundert n. Chr. produzierte China rund 150 000 Tonnen Stahl und Eisen. Zwar wusste man auch in Europa von der Eisenproduktion, doch gelang es viele Jahrhunderte nicht, die erforderliche Brenntemperatur in den Schmelzöfen zu erreichen, um die Schlacke vollständig vom Metall zu trennen. Aber auch andere Metalle wurden bereits früh abgebaut. So entdeckte man 1974 südlich von Wuhan ein Kupferbergwerk aus dem achten Jahrhundert v. Chr. Das Beispiel par excellence ist jedoch Papier: Grabfunde aus dem ersten Jahrhundert belegen die Existenz von Schreibpapier, das aus Lumpen, Rinde, Gras und Hanf hergestellt wurde. Da war der Schritt vom Schreibtisch zur Toilette nicht mehr weit: Im 6. Jahrhundert kam in der chinesischen Oberschicht das Toilettenpapier auf! Dank der Buchhaltungsunterlagen einer chinesischen Toilettenpapierfabrik aus dem 14. Jahrhundert weiß man heute, dass allein für den Kaiserhof pro Jahr 720 000 Blätter Klopapier produziert wurden. Noch ein wenig älter ist die erste Toilette mit Wasserspülung, die in einem kaiserlichen Grab in der Stadt Shangqiu der chinesischen Provinz Henan entdeckt wurde. Die mehr als 2 000 Jahre alte Anlage war mit Armstütze und Steinsitz übrigens recht komfortabel. Immerhin sollte hier kein Geringerer als der Kaiser sitzen. Vielleicht sogar für immer, schließlich handelte es sich um Grabbeigaben für das Jenseits, und da spielt Komfort allemal eine Rolle.
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Bekannter sind jedoch die kulturell anerkannteren Errungenschaften wie das Reliefdruckverfahren (9. Jahrhundert), der Blockdruck (10. Jahrhundert) und das Schießpulver (11. Jahrhundert). Andere großartige Erfindungen, wie die Bewässerungsanlage von Dujiangyan, sind im Westen fast völlig unbekannt und gehören doch zu den ganz großen Ingenieursleistungen der Welt. Soweit also zur These, die chinesische Kultur könne aufgrund mangelnden Individualismus keine kreativen, eigenständigen Ideen hervorbringen. Nun wäre es allerdings billig, das moderne China mit Beispielen aus der Geschichte zu verteidigen, denn weder in der Vergangenheit noch in der Moderne muss sich China verstecken.
Büffeln für den Erfolg Als die Stadt Shanghai im Jahr 2009 erstmals am Pisa-Test teilnahm, landeten ihre Schüler direkt auf dem ersten Platz. Schnell beeilte sich der Westen, die Bedeutung des Pisa-Tests wieder ein wenig herunterzuspielen: Alles nur auswendig gelernt, war sich das westliche Ausland nahezu einig40. Viele Zahlen und Daten also, aber wenig dahinter. Ist eine schlechte Pisa-Note also ein Zeichen von Kreativität? In der Tat wird in China gebüffelt, was das Zeug hält, aus vielerlei Gründen. Zum einen müssen chinesische Schüler ganz zwangsläufig eine gute Erinnerungsleistung entwickeln, heißt es doch, Tausende von Zeichen zu lernen – jedes davon einzigartig! – bevor man sich überhaupt zu denen des Lesens und Schreibens Kundigen zählen darf. Kein Wunder, dass chinesische Grundschüler in wenigen Wochen schnell mal das Alphabet lernen, um sich dann der wirklichen Herausforderung zu stellen: der chinesischen Schrift. Allein schon dadurch wird das Gehirn ordentlich trainiert! Zum anderen ist die klassische chinesische, konfuzianische Bildung sehr auf das Auswendiglernen ausgerichtet. Vom Beginn unserer Zeitrechnung bis ins Jahr 1912 wurden die Beamten des
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chinesischen Reiches in landesweiten allgemeinen Prüfungen rekrutiert, in denen die Kandidaten vor allem die umfangreiche und komplette Kenntnis der konfuzianischen Klassiker und ihrer Auslegung unter Beweis stellen mussten. Jahrelanges Studium und Auswendiglernen war dazu notwendig, denn die Texte waren in der Kunstsprache Wenyan geschrieben, dem klassischen Chinesisch. Sprechen kann man sie nicht und ohne solide Grammatikkenntnisse bleibt Wenyan dem Uneingeweihten unverständlich. Hier ging es nicht darum, große Kreativität zu entwickeln, sondern eine auf die Regierung geeichte Beamtenschaft zu erhalten, die im Sinne der Obrigkeit handelte und die „Geheimsprache“ Wenyan beherrschte. Nicht Individualität, sondern Konformität war verlangt. Erst spät in der Geschichte Chinas rebellierten die Intellektuellen gegen die alten Methoden und forderten die Verwendung der gesprochenen Sprache in Verwaltung, Politik und Literatur ein. Ganz generell, und auch das verdanken die chinesischen Schüler Konfuzius, ist das Verhältnis Schüler-Lehrer in China erheblich hierarchischer. Der Schüler folgt dem Lehrer. Und basta. Erst wenn der Lernende die Grundlagen in- und auswendig beherrscht, darf er einen eigenen Stil entwickeln. Für Studenten der Malerei bedeutet dies beispielsweise, dass sie erst wie die großen Meister malen (und die gängigen Stile beherrschen) müssen, bevor sie einen individuellen Stil entwickeln dürfen. Letztlich lief es jahrhundertelang in der Kunst wie auch in der Wissenschaft immer darauf hinaus, nicht einzelne Studenten mit hervorragenden Leistungen zu fördern, sondern eine recht einheitliche Masse mit gleichen Kenntnissen zu entwickeln. Dies mag sich mittlerweile ändern, zumindest theoretisch, doch bleibt eine letzte große Hürde zu nehmen: die „Gaokao“ (催㗗). Schon ab der Grundschule zielt das gesamte Lernen, ja hin und wieder die gesamte Existenz, darauf ab, nach der Oberschule die Universitätszugangsprüfung möglichst gut zu bestehen. Mit der Punktezahl entscheidet sich quasi das weitere Schicksal. Denn wer es auf eine der Elite-Universitäten schafft, braucht sich beruflich keine Sorgen mehr zu machen. Letztlich geht es also immer darum, das hier abgefragte
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Wissen möglichst perfekt und schnell abrufen zu können – und die Konkurrenz ist enorm! Rund zehn Millionen Schüler nehmen jedes Jahr daran teil, während die Eltern oft bange auf der Straße vor dem Prüfungssaal warten. Rund 60 % schaffen den Sprung an eine Universität, wenn auch nicht zwingend an das favorisierte Institut. Selbst in Familien, in denen die Eltern sehr wohl einen Sinn für individuelle Entwicklung haben, muss in Anbetracht dieser Zahlen die Freizeit hinter der Gaokao-Vorbereitung zurückstehen. Auch, weil die Gaokao eine der wenigen gesellschaftlichen Institutionen ist, die nahezu frei von Korruption ist. Daraus zu folgern, in China säßen nur maschinell lernende Schüler auf der Schulbank, wäre übertrieben. Denn viele von ihnen finden dennoch Zeit für ein Musikinstrument, Sport oder familiäre Unternehmungen. Sicher ist: Stundenlanges Fernsehschauen oder vertrödelte Nachmittage vor dem Bildschirm wird in chinesischen Familien meist nicht geduldet.
Auf an die Weltspitze! Auch in China ist man sich der problematischen Aspekte sturer Auswendiglernerei bewusst. Andererseits: Innerhalb weniger Jahrzehnte hat es China geschafft, nicht nur das Niveau der Schulbildung erheblich zu verbessern, sondern auch die Zahl der Studienabsolventen in kürzester Zeit zu vervielfachen: 1998 verließen gerade mal 830 000 Studenten die Uni mit einem Abschluss. 2010 waren es schon sechs Millionen.41 Mittlerweile gibt es rund 2 000 Bildungsinstitute auf Universitätsniveau – auch dies eine Zahl, die ständig steigt, zumal seit 2003 auch private Schulen und Universitäten gefördert werden. Nicht zuletzt erfreut sich die Forschung in China einer weitaus größeren Meinungsfreiheit, als der Westen annimmt: „Intellektuelle Auseinandersetzungen können in diesem Umfeld als Ersatz für Politik fungieren – und weitaus persönlicher, aggressiver
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und emotionaler als formelle Politik. Auch wenn es keine freien Diskussionen über ein mögliches Ende der Parteiherrschaft, tibetischer Unabhängigkeit oder der Vorkommnisse auf dem Tiananmen-Platz gibt, werden das chinesische Wirtschaftsmodell, Korruption oder außenpolitische Fragen, wie die Politik gegenüber Japan und Nordkorea, relativ offen in den führenden Zeitungen und akademischen Publikationen diskutiert. (...) Hinter verschlossenen Türen sprechen Akademiker und Denker sogar oft ungehemmt über sensible Themen wie politische Reformen.“42 So Mark Leonard, Chinakenner und Geschäftsführer der Expertenkommission European Council on Foreign Relations. Wissenschaft und Forschung üben daher eine gewissen Anziehungskraft auf kritische Geister aus: Wer seine Argumente mit Zahlen belegt, hat die Chance gehört zu werden, lässt man einige wenige Tabuthemen beiseite. Doch auch andersherum wirken sich die Innovationsbestrebungen auf die Gesellschaft aus: Wer kreative Forscher will, muss Diskussionen zulassen und individuelles Denken fördern. Weniger Respekt vor Hierarchien, mehr Mut zur eigenen Meinung also – eine Forderung, die durchaus auch in den chinesischen Medien zu finden ist. Die Debatten sind durchaus gewollt. Denn längst will China nicht mehr nur die Werkbank der Welt sein, sondern strebt auch in Forschung und Entwicklung an die Weltspitze. Kein Wunder, dass seit Jahren enorme Summen in diesen Bereich investiert werden: Waren es im Jahr 2000 noch umgerechnet fast neun Milliarden Euro, flossen 2007 schon rund 37 Milliarden Euro in die Forschung. Allein im Zeitraum 2006/2007 stiegen die Mittel damit um 23 %! Selbst 2009, im Jahr der großen Wirtschaftskrise, unterstrich Ministerpräsident Wen Jiabao immer wieder, dass gerade in schwierigen Zeiten die Investitionen in die Forschung keinesfalls sinken dürften! Kein Wunder, dass allein in diesem Jahr der zentrale Haushalt für Wissenschaft und Technik um 26 % erhöht wurde. In den letzten zehn Jahren lagen die staatlichen Ausgaben für Bildung nach eigenen Angaben bei 2,5–3,3 % des Bruttoinlands-
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produkts. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf Hochtechnologieprodukten in der Kommunikationsbranche, Medizin, Pharmazie, Energieerzeugung und im Umweltschutz. Auch in China ist mittlerweile die Entwicklung sauberer Energiequellen eine echte Chefsache. Bis zum Jahr 2020 möchte China im Bereich Forschung und Entwicklung das Stadium der Industrienationen erreicht haben und selbst zu einem wichtigen Technologieexporteur werden. In einigen Sparten hat China dieses Ziel längst erreicht. Geht es um Solar- oder Windenergie, die Entwicklung von Elektroautos, Nanotechnologie und Materialforschung, liegt China mittlerweile im internationalen Ranking ganz vorne. Am 9. Februar 2006 verkündete der Staatsrat unter dem etwas sperrigen Namen „Grundzüge der staatlichen Planung der mittelund langfristigen Entwicklung von Wissenschaft und Technik (2006–2020)“ (ᆊЁ䭓ᳳ⾥ᄺᡔᴃথሩ㾘ߦ㒆㽕, Guojia zhongchangqi kexue he jishu fazhan guihua gangyao) eine gigantische Forschungsoffensive. Ziel dieses Plans ist es, die Innovationsfähigkeit Chinas zu steigern und damit die Entwicklung der Wissenschaft und Technologie voranzutreiben. Besonderes Augenmerk soll dabei auf Nachhaltigkeit und Grundlagenforschung liegen sowie auf der Proteomik (Proteinforschung), Quantenforschung, Nanotechnologie sowie der reproduktiven Biologie. Mit dem „Gesetz der Volksrepublik China zum Fortschritt der Wissenschaft und Technik“ aus dem Sommer 2008 wurde eine Vielzahl von Maßnahmen angestoßen, die nicht nur den Nachwuchs fördern und steuerliche Anreize setzen sollte, sondern auch stark erhöhte Investitionen und neue Maßnahmen zum Schutz des geistigen Eigentums beinhaltete. Derzeit sind mehr als 15 Millionen Forscher in China tätig, davon allein drei Millionen im Bereich der Nanotechnologie sowie rund 20 Millionen weitere Angestellte wie Assistenten etc. Generell ist zu beobachten, dass auch immer mehr westliche Unternehmen ihre Forschungs- und Entwicklungsabteilungen nach China auslagern. Rund 1 500 ausländische Institute sind bereits
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in China vertreten, und mit großer Wahrscheinlichkeit wird diese Zahl schon beim Druck des Buches viel zu niedrig gegriffen sein. So ließ Siemens den heute weltweit am meisten verkauften Computertomografen Somaton Spirit in China entwickeln. Nicht nur das: Er wird auch in China produziert und von China aus verkauft.43 Bisher ist die neue Politik von Erfolg gekrönt. Denn in keinem Land werden heute mehr Patente angemeldet als in China44. 2010 vergab das chinesische Patentamt rund 815 000 Patente, fast 40 % mehr als im Vorjahr, während das State Intellectual Property Office im Jahr 2010 1,22 Millionen Anträge auf gewerbliche Schutzrechte zählte. 90 % der Patentanträge stammten von chinesischen Erfindern und Forschern. Noch vor fünf Jahren kam nur die Hälfte aus chinesischen Quellen45. In China selbst wird diese Zahl zwar mit Stolz verkündet – aber auch kritisch gesehen. „Ein durchschnittlicher ausländischer Antrag hat 29 Seiten mit Erklärungen und Illustrationen, die die Komplexität der erfundenen Technologie erläutern, während ein inländischer Antrag im Durchschnitt nur aus neun Seiten besteht“, schränkt die China Daily ein46. Chinesische Patente stammen meist aus den Bereichen Materialforschung, Metallurgie, Medizin-, Digital- und Kommunikationstechnologie und IT. Der starke Anstieg der Patentanmeldungen hat allerdings nicht nur damit zu tun, dass in China verstärkt geforscht wird, sondern ebenso mit einem zunehmenden Bewusstsein für geistiges Eigentum: Auch für viele chinesische Unternehmen ist es mittlerweile wichtig, ihre Schutz- und Urheberrechte im Ausland gewahrt zu sehen. Die internationalen Zahlen sind nicht minder interessant. So meldete laut der World Intellectual Property Organisation 2010 China rund 12 000 internationale Patente im Rahmen des Patent Cooperation Treaty an – 56 % mehr als im Vorjahr! Weltweit steht China damit an vierter Stelle. Zum Vergleich: In Deutschland sind es
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17 20047. Noch vor zehn Jahren hatten die Deutschen die chinesische Konkurrenz um das Sechsfache übertrumpft.48 Ein Großteil dieser Patente, vor allem im Ausland, wird jedoch von einer Handvoll chinesischer Unternehmen angemeldet: Huawei, Lenovo, Haier, BYD, TCL, Anji, Tencent und Sinopec liegen dabei ganz vorne. Viele von ihnen sind mittlerweile auch im Ausland bekannt. Die 1988 gegründete Firma Huawei Technologies ist bis zum Jahr 1999 zum größten Produzenten von Telekommunikationsequipment geworden. Derzeit beschäftigt Huawei weltweit fast 90 000 Personen, von denen 43 % in der Forschung und Entwicklung tätig sind. Bis Ende 2007 hatte allein Huawei über 26 880 Patente angemeldet, und ist damit die Firma mit den meisten Patentanmeldungen in China. Nicht weniger beeindruckend sind die Zahlen des international nahezu unbekannten Telekommunikationsausrüsters ZTE (Zhongxing Telecommunication Equipment Corporation) aus Shenzhen: Rund die Hälfte der mehr als 66 000 Angestellten arbeitet in der Forschung und Entwicklung, 18 000 chinesische Patentanmeldungen gingen 2010 auf das Konto von ZTE, bei den internationalen Patenten liegt ZTE sogar weltweit an zweiter Stelle!49 Zusammen halten Huawei und ZTE einen Anteil von fast 50 % des Weltmarktes für Telekommunikationstechnik. Dies teils auch dank sehr praktischen Lösungen. So brachte ZTE in Afrika das erste Serienhandy mit Solarzellen auf den Markt und gab damit auch Menschen jenseits der Stromnetze eine Anbindung. Laut der Statistiken der Europäischen Kommission ist China seit diesem Jahr größter Nettoexporteur von Forschungs- und Entwicklungsleistungen in die Europäische Union. In Anbetracht dieser Fakten könnten kopierte Markentaschen und falsche Rolex-Uhren auf lange Sicht geradezu unwichtig werden.
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Alle Chinesen sind entweder Buddhisten oder Daoisten Statistisch macht die religiöse Welt Chinas einen aufgeräumten Eindruck, zumindest auf den ersten Blick. Rund die Hälfte aller gläubigen Chinesen sind Buddhisten, zirka ein Drittel hängt der Volksreligion an, weitere 5,5 Millionen sind Daoisten, dazu kommen Moslems, Christen und andere, kleine Religionen, die erst einmal kaum ins Gewicht fallen. Soweit die Daten, wie sie nicht nur auf der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung zu finden sind50, sondern auch in anderen Informationsquellen. Auch die Anzahl der Gläubigen ist in allen Statistiken genau festgelegt: 394 Millionen Chinesen gelten laut der meisten Statistiken als „religiös“. Anderen Quellen zufolge wiederum gibt es 45 % Buddhisten, 30 % Daoisten, 20 % Konfuzianer und 5 % andere, diese Zahlen allerdings bezogen auf die gesamte Bevölkerung. Eine weitere Variante zählt 100 Millionen Buddhisten, 64 Millionen Protestanten, 40 Millionen Katholiken und 20 Millionen Sunniten51. Je älter die Publikation, desto eher lassen sich die Autoren zu konkreten Angaben hinreißen. Spätestens nach der dritten Statistik fragt sich der Leser hin und wieder: Wer hat recht? Und woher stammen die Zahlen? Nicht einmal die aufgeführten Religionen sind dieselben! Wo ist der Unterschied zwischen Volksreligion und Daoismus? Zählt der Gläubige, der in einem daoistischen Tempel der Bodhisattva-Statue Guanyin opfert – eigentlich eine buddhistische In-
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stitution – nun als Buddhist? Oder doch als Daoist? Ja, muss man sich überhaupt entscheiden? Ab wann ist ein Mensch religiös? Auch hier weisen die westlichen Statistiken große Unterschiede auf: Zwischen 10 % und 40 % liegt die Zahl meistens, hin und wieder jedoch auch Ausreißer von bis zu 80 %, die als religiös galten. Was stimmt denn nun?
Was geht mich der Glaube des Nachbarn an? Die Wahrheit ist so einfach und doch so schwer zu verstehen: Die meisten Chinesen sind religiös. Mehr oder minder, mal der einen, mal der anderen Religion zugeneigt und letztlich nur der eigenen, persönlichen Mischung verpflichtet. Wie viele Chinesen dabei unter das Kriterium „religiös“ fallen, ist weniger eine Frage des Glaubens als der Begriffsdefinition, die in der westlichen Fachliteratur leider meist unterschlagen wird. Denn anders als in den Verkündigungsreligionen Christentum und Islam, gibt es in den östlichen Glaubensschulen keinen Ritus des „Beitritts“ und kein Bekenntnis, ergo auch keine Möglichkeit, die Religionszugehörigkeit objektiv zu überprüfen. Überhaupt mag manch ein Chinese mit der direkten, typisch westlichen Frage nach dem persönlichen Glauben nur schwer umgehen – wie heißt eigentlich mein Glaube? Zu welcher Religion gehöre ich? Diese laxe Haltung zeugt nicht von Wankelmut oder gar Unkenntnis, sondern von der gelebten Überzeugung: Alles im Kosmos gehört irgendwie zusammen, nichts und niemand kann allein existieren, alles was geschieht, hat eine Auswirkung, egal in welcher Religion. Und, wichtiger noch: Religion ist Privatsache, eine persönliche Auseinandersetzung mit der Welt, dem Universum und der eigenen Rolle darin. Aus diesem Grund ist es erheblich einfacher, die Zahl der Moslems oder Christen festzulegen – weil sie eben per definitionem nur einer einzigen Religion angehören dürfen! Als monotheistische Verkündigungsreligionen dulden sie keine Konkurrenz, verpflichten sich ihre Mitglieder
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einem einzigen Gott. Wer dieses Gebot bricht, gilt schlicht nicht mehr als Teil der Gemeinschaft. Viele Chinesen tun sich daher schwer, die Frage nach der eigenen Religiosität zu beantworten: Tief gläubig? Nein, meist nicht. Andererseits: Es kann nicht schaden, vor der Universitätsaufnahmeprüfung der Konfuzius-Statue im daoistischen Tempel ein kleines Opfer zu bringen – oder? Auch das Kriterium, ob der Mensch nun an Geister glaubt oder nicht, mag in China nur bedingt zählen. Selbst vermeintlich areligiöse Menschen gehen selbstverständlich von der Existenz von Geistern und Dämonen aus. Für sie ist es keine Frage von Glauben, sondern Realität! Im chinesischen Alltag zählt weniger die Frage nach dem transzendentalen „Was“ oder „Woher“, sondern die Wirkung. Wie also rechnet man nun die Anhänger der verschiedenen Religionen? Die einfachste, wenn auch plumpe Antwort lautet: Gar nicht. Denn solange der Westen auf dem klaren Glaubensbekenntnis beharrt, bleibt ihm ein wichtiger Aspekt der chinesischen Gesellschaft verborgen: ihre religiöse Toleranz. Die Gesellschaft mag wenig individuell wirken und von außen gesehen ihre Mitglieder in eine genormte Masse verwandeln. De facto jedoch ist jeder Mensch frei, zu glauben, was er will. Wer warum an welche Götter glaubt, ist kein Gegenstand öffentlicher Diskussion und auch nicht unbedingt ein Thema unter Freunden. Der Kosmos ist groß, da ist viel Platz für Götter, Vorstellungen und Paradiese. Wer heute in den buddhistischen Tempel geht und morgen bei den Daoisten gesehen wird, braucht sich nicht zu erklären. Da es keinen allgemein gültigen Weg zur Erkenntnis gibt, muss ihn sich ja sowieso jeder individuell erarbeiten – worüber ließe sich da streiten? Jeder bedient sich dort, wo ihm am besten geholfen wird, passend zur aktuellen Lebenslage. Diese Aussage mag nicht zum gängigen Vorurteil passen, jegliche religiöse Regung würde in China unterdrückt. Wirklich nervös werden staatliche Stellen dann, wenn der Glaube an die
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Öffentlichkeit tritt: Große, öffentliche Events, Missionierungsversuche oder gar der Anspruch darauf, irgendwann einmal eine entscheidende Rolle im Staat zu übernehmen, wie es aus den Texten des Falun Gong Sektengründers Li Hongzhi hervorgeht, sind Partei und Staat ein Dorn im Auge. Den meisten Chinesen übrigens auch, da sie die Religion gerne da lassen möchten, wo sie hingehört: im Privaten. Dies erklärt auch, warum es bei Polizeiaktionen oft Christen oder Moslems trifft: Diese Religionen erheben den Anspruch, möglichst viele andere Menschen auf den „rechten Pfad“ zu bringen und das Wort Gottes zu verbreiten. Auch dies träfe wahrscheinlich auf viel Toleranz in der Gesellschaft – wer in der Fußgängerzone christliche Lieder trällern will, soll es tun – nicht aber bei Staat und Partei, die hier ihren Machtanspruch gefährdet sehen. Das staatliche Religionsbüro überwacht daher die Gemeinden der offiziell zugelassenen fünf Religionen Buddhismus, Daoismus, Islam sowie die protestantische und katholische Kirche. Nur die „patriotischen“ Religionsvereinigungen, also die offiziell zugelassenen, dürfen legal aktiv werden. Sie werden staatlich gefördert, enteignetes Eigentum wurde nach dem Ende der Kulturrevolution teils wieder zurückgegeben. Besonders Katholiken tun sich allerdings schwer mit der staatlichen Kirche, da hier der Papst als ausländisches Oberhaupt nicht verehrt werden darf – ein doch sehr grundlegender Eingriff in das Glaubensbekenntnis. Neben den legalen Kirchen gibt es daher auch zahlreiche christliche „Untergrundkirchen“, deren Mitglieder sich im Verborgenen treffen.
Drei in Eins De facto leben die meisten Chinesen, sofern sie nicht zur christlichen oder moslemischen Minderheit gehören, in einem bunten Gemisch aus vielen Religionen und Glaubensschulen, deren Zusammensetzung nicht nur individuell, sondern auch je nach Tageszeit wechseln kann. Irgendwo zwischen Buddhismus und Daoismus, Geisterglaube und Ahnenverehrung mit einem Schuss
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konfuzianischer Ethik liegt die Wahrheit, die für jeden Chinesen ein wenig anders aussieht. „Sanjiao“ (ϝᬭ) heißt diese Mischung auf Chinesisch: die drei Schulen. All dies ist längst zu einem Gebilde zusammengewachsen, dessen einzelne Komponenten sich gar nicht mehr sauber trennen lassen und sich gegenseitig beeinflussen. Nicht Dogmen, sondern die persönlichen Vorlieben bestimmen das Leben. Je nach Situation wechselt man eben. Braucht der Mensch Trost bei einer unheilbaren Krankheit? Dann ist der Buddhismus mit seinen klaren Paradiesvorstellungen die richtige Wahl. Oder vielleicht doch der Daoismus, mit seinen vielen Geheimnissen zur Lebensverlängerung? Oder ist doch ein Dämon schuld an der Misere? Ein vergessener Verwandter, der ohne Zuwendungen durch die Halbwelten geistert und als vernachlässigte Seele die Menschheit hasst? In China ist das Angebot an transzendentalen Vorstellungen so üppig, dass es schwer fällt, die einzelnen Elemente auseinanderzuhalten.
Vom Glauben an das Unbeschreibliche: Der Daoismus Will man die chinesische Welt der Religionen erkunden, fängt man am besten beim Daoismus (䘧ᆊ) an. Der „echte“, philosophische Daoismus entstand wahrscheinlich im 6. Jahrhundert v. Chr. und geht auf den Philosophen Laozi (㗕ᄤ) zurück. Ob er wirklich gelebt hat, ist nicht belegt, wohl aber das ihm zugeschriebene Buch des Daodejing (䘧ᖋ㒣). Fast wie eine Broschüre wirkt das kryptische Werk von 81 kurzen Versen, wenige Seiten stark und es ist doch das Grundlagenmanifest einer Lehre, die wie kaum eine andere Ost- und Südostasien beeinflussen sollte. Die Basis des Daoismus und Grundthema des Daodejing ist das Dao (䘧), das grundlegende Prinzip des Kosmos. Was sich freilich kaum beschreiben lässt, wie schon der erste Vers des Daodejing deutlich macht:
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Das Dao, das man erfahren kann 䘧ৃ䘧 ist nicht das Dao 䴲ᐌ䘧 Das Dao, das man benennen kann ৡৃৡ Ist nicht das Dao 䴲ᐌৡ Was ohne Name ist, ist der Anfang von Himmel und Erde ᮴ৡ ഄПྟ (…) Das Dao bringt Yin (䰈) und Yang (䰇) hervor, die beiden gegensätzlichen Kräfte, aus deren Spannungsfeld wieder die Qi-Energie (⇨) entsteht. Yin ist das Dunkle, Weibliche, Feuchte, während Yang das Helle, Männliche, Trockene ist. Beide Kräfte müssen im Einklang stehen. Auch der Mensch soll im Einklang mit dem Kosmos und dem ewigen Kreislauf der Natur leben. „Wu wei“ (᮴Ў) lautet die Grundmaxime: Nicht handeln, nicht unnötig in die Natur der Dinge eingreifen, dem natürlichen Wandel seinen Lauf lassen. Auch starre Regeln, Hierarchien, stures Auswendiglernen und blinde Loyalität – kurzum alles, was wir im Westen mit China verbinden, lehnt der Daoismus rundherum ab. Er ist eine Schule der Individualität, der Einsiedler, eine Lehre, die fast schon gegensätzlich zum konfuzianischen Weltbild steht. Im Grunde strebt der Daoist die völlige Harmonie an, die Verschmelzung mit dem Dao. Wenige Jahrhunderte nach Laozi entwickelte der Philosoph Zhuangzi (ᑘᄤ, 365 – 290 v. Chr.) den Daoismus weiter. In kleinen Geschichten schilderte er die Seele des Daoismus erheblich anschaulicher. So hat es die Geschichte von Zhuang Zhou, der einst träumte ein Schmetterling zu sein, zu großer Bekanntheit gebracht: Zhuang Zhou träumte, ein Schmetterling zu sein. Nach dem Aufwachen wusste er jedoch nicht mehr, ob er ein Mensch war, der träumte ein Schmetterling zu sein, oder ein Schmetterling, der gerade träumte ein Mensch zu sein. Wie hätte man die Relativität aller Dinge besser erläutern können? Kryptisch und ohne Regeln bietet der Daoismus damals wie heute dem denkenden Menschen viele Anregungen, Möglichkeiten, ja sogar die Pflicht zur Eigeninterpretation. Eine anspruchs-
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volle Philosophie also. Für das Volk jedoch eher eine schwierige Angelegenheit! All dies muss auf die Menschen der damaligen Zeit genauso abstrakt gewirkt haben, wie auf den westlichen Leser heute. Wer hätte zwischen Ernte und feudalen Diensten, inmitten der täglichen Anstrengungen, die Familie durchzubringen, noch Zeit und Muße für philosophische Überlegungen gehabt? Auch fehlte der klare Nutzen, die sofortige Belohnung, die konkrete Hilfe im Alltag. Kein Wunder, dass sich der Daoismus schnell in eine „reine“, philosophische Schule und eine Volkslehre spaltete. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich der Volksdaoismus, der mit Göttern, Dämonen und Geistern angereichert wurde. Nicht zuletzt, weil er ab dem ersten Jahrhundert nach Chr. mit dem sehr viel greifbareren Buddhismus konkurrieren musste. Den daoistischen Pantheon muss man sich heute vorstellen wie eine gigantische Behörde – voller Götter aller Arten und Couleur, Spezialisierungen und Hierarchien. Wie auch auf Erden gibt es niedere und höhere Ebenen, wobei die Hierarchien sich verändern können. Es kann mitunter geschickter sein, sich an einen weniger prominenten als an einen hochrangigen Gott zu wenden und ihm die eine oder andere Freude zukommen zu lassen. Der bekanntere Gott wird wahrscheinlich viel zu beschäftigt sein, um sich um jeden Bittsteller zu kümmern. Ein unwichtiger Gott hingegen wird sich wohl mehr über Aufmerksamkeiten freuen. Auch wenn er selbst vielleicht nicht so viel ausrichten kann wie ein wichtiger Kollege, so freut er sich doch wenigstens über die Aufmerksamkeit – und wird sich daher mit umso mehr Eifer für den Hilfesuchenden einsetzen, an geeigneter Stelle vorsprechen und letztlich das Anliegen doch noch an den richtigen Ort bringen.
Religiöse Importe Freilich wäre es naiv zu glauben, irgendein Daoist kenne alle Götter, deren Zahl dank einer fehlerhaften Übersetzung gerne auf
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10 000 festgelegt wird. De facto steht die Zahl 10 000 (wan, ϛ) im Chinesischen für „endlos viel“. Eingefleischte Maoisten kennen noch den Spruch „Mao lebe 10 000 Jahre lang“, Mao Zedong wan sui (↯⋑ϰϛቕ)! Die Götter zählen zu wollen, wäre aber ohnehin eine müßige Angelegenheit, denn – sie sind nicht unantastbar! Vor allem die unteren Chargen des Pantheons sitzen locker im Sattel. Erledigt der Stadtgott, Erntegott oder sonst ein Gott seinen Job nicht, erhört er die Bitten der Gläubigen trotz Opfer und Gebeten nicht, dann ist er ganz offensichtlich unfähig und der Anbetung nicht wert. Oder er spurt nicht und braucht offensichtlich eine Lektion, die ihm zeigt, wo man als niederer Gott bleibt, wenn man sich nicht um die Gläubigen kümmert! Da kann es passieren, dass die Mitglieder der Dorfgemeinschaft den Tempel abschließen und den Dorfgott erst einmal ein paar Monate versauern lassen. Er wird schon sehen, was er davon hat! Andersherum lassen sich aber auch fähige Götter aus anderen Religionen „importieren“. Überall dort, wo die chinesische Kultur eng mit anderen Religionen in Kontakt kommt, ist dies auch dem Laien ersichtlich. So finden sich in den daoistischen Tempeln Singapurs immer wieder auch hinduistische Götter, die sich offensichtlich als effizienter erwiesen haben. Auch Konfuzius findet hier hin und wieder Unterschlupf, denn er kennt sich erwiesenermaßen gut in Bildungsfragen aus.
Das kontrollierte Chaos Für den westlichen Betrachter wirkt all dies verwirrend und unübersichtlich. Für Chinesen übrigens auch – nur stört sich in China niemand daran! Sicher gibt es zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen über den Daoismus, die das Weltbild mehr oder minder gut erklären, für den Volksdaoismus sind sie jedoch ohne Belang. Der Daoismus teilt sich in viele Schulen und lokale Ausprägungen, Mischformen mit anderen Kulturen und bringt auch in der Gegenwart immer wieder neue Varianten hervor. Sie alle sind regional und individuell so verschieden, dass es auch Kennern
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schwerfällt, eine tiefgreifende Systematik zu entwickeln. Auf zehn Fragen gibt es mindestens 15 Antworten, und niemanden stört es. In China selbst gilt dies kaum als „Problem“. Diskussionen über „den wahren Weg“ oder die Richtigkeit irgendwelcher religiösen Vorstellungen erübrigen sich damit. Im Daoismus wird jeder nach seiner Fasson glücklich. Alles in allem ist der Daoismus also ein sympathisches Chaos, ein sich ständig wandelndes Gemisch mit vielen Göttern und wenig Regeln, eher eine Anregung als ein festes Glaubenskorsett. Pragmatisch ist er dennoch: Viele Tempel bieten auch die Möglichkeit, Götterstatuen für eine längere Zeit auszuleihen. Wer beispielsweise täglich für einen kranken Verwandten bitten möchte, nimmt den passenden Gott mit nach Hause und spart sich so den weit Weg. Ist der Kranke wieder gesund, kehrt der Gott in den Tempel zurück. Als ultimatives Ziel des Volksdaoismus gilt Unsterblichkeit. Meditation, Alchemie und die Ernährungslehre sollen helfen, den Unterschied zwischen Leben und Tod aufzuheben.
Ahnenverehrung und Geisterglauben Ohnehin ist die Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Diesseits und Jenseits in China weitaus weniger klar definiert als im Westen. Fast nahtlos geht der Daoismus in die Welt der Geister und des Ahnenglaubens über. Wobei der Ahnenkult bereits vor dem Daoismus existierte und wahrscheinlich die älteste Form der Religion in China darstellt. Auch wenn sich nur wenige Chinesen im Gespräch mit dem Westler offen zur Geisterwelt bekennen (sie wissen nur zu gut, wie der Westen darüber denkt) – tut man gut daran, ihm zu folgen. Denn der Mensch besitzt zwei Seelen: Die Körper-Seele „Po“ (儘) und die Geist-Seele „Hun“ (儖). Po erlischt mit dem Tod, Hun jedoch existiert weiterhin als Teil des Universums. Wird der Tote vergessen und nicht von den Nachfahren in
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Ehren gehalten, wird er nicht im Jenseits mit Geschenken bedacht, dann kann die Hun-Seele keinen Frieden finden und piesackt fortan die Lebenden. Denn anders als im Westen, können die Geister der Toten weiterhin auf Erden wandeln und sich in das Leben der Nachkömmlinge einmischen. Anders als die daoistischen Götter niederen Ranges, die der Gläubige sogar absetzen kann, sind Ahnen leider nicht austauschbar und unwiderruflich an die Familie gebunden. So ist die Welt voller Verstorbener, die je nach Behandlung und den Umständen ihres Todes, dem Menschen mehr oder weniger wohlwollend gegenüberstehen. Wer regelmäßig seinen Ahnen opfert, kann sich ihres Schutzes sicher sein, muss sich aber dennoch vor dem Einfluss fremder, vernachlässigter Geister vorsehen, die, zwischen Diesseits und Jenseits gefangen, ruhelos umherziehen und dem Menschen Böses wollen. Sie von der Familie fernzuhalten ist kein einfaches Unterfangen: Zeremonien und Maßregeln sollen wohlgesonnene Geister an Hof und Herd binden und Dämonen vertreiben. Besonders an religiösen Feiertagen verbrennen die Menschen auf der Straße oder in Tempeln „Totengeld“, das quasi per „Feuerüberweisung“ den Ahnen im Jenseits ein gutes Leben garantieren soll. Vorsichtshalber ist es auf „US-Dollar“ der Höllenbank ausgestellt. Interessanterweise sind mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Chinas nun auch vermehrt Totengeldscheine in chinesischen Yuan auf dem Markt. Offensichtlich traut man der eigenen Währung inzwischen eine bessere Akzeptanz im Jenseits zu.
Ausgezählt Irgendwo zwischen Glauben und Aberglauben ist auch die Zahlensymbolik zu Hause, die im Alltag fast schon religiöse Züge annimmt. Denn Zahlen sind, je nach Aussprache, positiv oder negativ belegt, und in dieser Hinsicht verstehen die meisten Chinesen keinen Spaß! Ein Taxi mit dem Nummernschild 4444? Es hätte keine Chance auf dem Markt, denn die Zahl vier wird genauso ausgesprochen wie das Wort „sterben“. Dieses Nummernschild
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wäre also quasi die Garantie für einen Verkehrsunfall. In vielen Städten Chinas werden die Nummernschilder daher per Auktion verkauft. Gute Nummern mit vielen Achten (gleichlautend mit Reichtum) oder Neunen (gleichlautend mit „lang anhaltend“) gehen für viele Tausend Euro weg. Sich ein Nummernschild mit vielen Achten zu leisten, ist auch eine Prestigefrage. Hochzeiten, die an einem gut klingenden Datum wie dem 9.9. stattfinden, haben gute Chancen lange zu halten. Sogar die Olympischen Sommerspiele wurden am 8.8.2008 um 8:08 Uhr und 8 Sekunden eröffnet.
Wind und Wasser für das Glück Eine andere Auswirkung des Daoismus macht sich ganz besonders in den Großstädten Chinas bemerkbar: die Fengshui-Geomantik (亢∈, wörtlich: die Lehre von Wind und Wasser). Genauso wie der Mensch gilt auch die Erde als belebter Körper. Gebäude, Gärten, selbst Möbel sollen deshalb so angeordnet werden, dass ihre Knochen (Felsen) und Adern (Flüsse) möglichst unversehrt bleiben und die Qi-Energie ungestört fließen kann. Hin und wieder lässt es sich jedoch nicht verhindern, architektonisch in die Landschaft einzugreifen: Häuser, Straßen oder Kanäle werden daher selbstverständlich mit Hilfe eines Feng-Shui-Spezialisten geplant. Vor allem in der Kulturrevolution war diese „bourgeoise“ Tradition verpönt, doch längst ist die Geomantik wieder Teil des Alltags. Nicht nur im Städtebau, auch für das persönliche Glück ist der kosmische Energiefluss überaus wichtig. Spiegeln, Mauern und andere Accessoires lenken die Qi-Ströme so, dass keine ungebetenen Gäste in der Wohnung landen: Geister beispielsweise, die besonders gern in Häusern am Ende einer Sackgasse einkehren, auch eine Wohnung vor einer Straßenlaterne zieht das Unglück an. Selbst in kleinen Details hat sich Geomantik in den Alltag eingeschlichen: Klodeckel und Waschbecken-Abflüsse sollten immer geschlossen sein – anderenfalls fließt mit dem Wasser das Geld ab!
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Einmal Erleuchtung für alle All diese bunten Komponenten des Volksglaubens lassen fast ein wenig den Buddhismus vergessen. Doch auch er spielt in China eine große Rolle – wenn auch in seiner adaptierten, ja geradezu reduzierten Form. Bereits im ersten Jahrhundert nach Christus kam erstmalig die Kunde von der neuen Religion über die Seidenstraße nach China – und wurde wohlwollend aufgenommen. Nicht zuletzt, weil man ihn lange für eine Form des Daoismus hielt. Denn war nicht, so die Legende, Laozi einst gen Westen geritten und verschwunden? Hatte er vielleicht in der Ferne seine Lehre weiterentwickelt? Auch strotzten die ersten Übersetzungen aus dem Sanskrit, mangels Alternativen, vor daoistischer Terminologie. Es dauerte einige Jahrhunderte, bis sich der Buddhismus durchsetzen konnte. Viele verschiedene buddhistische „Schulen“ buhlen in China seither um die Aufmerksamkeit der Gläubigen. Darunter auch der Chan-Buddhismus, der im Westen unter dem japanischen Begriff „Zen“ bekannt wurde. Besonders beliebt ist die im fünften Jahrhundert entstandene „Schule des Reinen Landes“ (Jingtu Zong, ޔೳᅫ), die seither zu den wichtigsten Strömungen in China zählt. Wer die Erleuchtung sucht und ins buddhistische Paradies des Reinen Landes eingehen will, muss nur aufrichtig den Namen Buddhas Amitabhas aussprechen. Von hier aus kann der Mensch das Nirwana erlangen, Bodhisattvas, halbirdische Wesen, unterstützen ihn dabei. Zwar haben die Bodhisattvas die Voraussetzungen erlangt, ins Nirwana einzugehen, verzichten aber darauf, um allen anderen Menschen auf dem Weg zur Erleuchtung zu helfen. Allen voran Avalokiteshvara, in China als weibliche Guanyin, als Göttin der Barmherzigkeit bekannt. Anders als im strengen Hiragana-Buddhismus Thailands oder Sri Lankas ist es nicht nötig, als Mann geboren zu werden oder sich als Mönch von der Welt zurückzuziehen. Heute gibt es in China um die 200 000 buddhistische Nonnen und Mönche – wobei viele auch nur einige Jahre im Kloster bleiben –
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und rund 20 000 aktive Tempel. Oft fällt es dem westlichen Laien schwer, sie von den daoistischen Tempeln zu unterscheiden, auch buddhistische Glaubensstätten haben hin und wieder eine kleine daoistische Ecke: So können die Gläubigen alle transzendentalen Geschäfte in einem Aufwasch erledigen. Von Konkurrenz spürt man hier genauso wenig wie auf daoistischer Seite. Jeder Mensch muss sich seinen Weg zum religiösen Glück selbst suchen. Es gibt keine Abkürzung, keine allgemeingültigen Wahrheiten, niemanden, der es besser weiß als der andere. Der Streit um den rechten Weg erübrigt sich also – er ist sowieso für jeden ein anderer.
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Der Konfuzianismus ist eine Religion Rund 20 % aller Chinesen bekennen sich zum Konfuzianismus, heißt es immer wieder in offiziellen, westlichen Statistiken. Andere sprechen von zehn oder 15 %. Eine Aussage, die die meisten Chinesen überraschen dürfte – egal welche Zahl letztlich zitiert wird. Denn dass seine Lehre einmal als Religion bezeichnet werden würde, das hätte sich selbst Konfuzius nicht träumen lassen, wahrscheinlich würde er diese Zuordnung sogar vehement ablehnen. Der Konfuzianismus kennt weder Götter noch Himmelreich, hat keine Visionen für das Jenseits und kennt keinen Weg dorthin. Er propagiert keine absolute Wahrheit oder Offenbarung, sogar das Gebet ist ihm fremd. Auch die Götter des Daoismus oder Buddhismus sind dem Konfuzianer kein Dorn im Auge – weil auch er sie meist anbetet! Kurzum: Fast alles, was eine Religion zur Religion macht, fehlt im Konfuzianismus. Im Grunde ist der Konfuzianismus eine Morallehre, eine Art Gebrauchsanweisung für die Gesellschaft, ein „Regieren für Dummies“ im Alten China, das „Brevier für den gerechten Herrscher und den idealen Untertan“. Aus gutem Grund: Als Konfuzius (chinesisch: Kongzi ᄨᄤ) im Jahre 551 v. Chr. geboren wurde, war das Feudalreich der Zhou-Dynastie bereits im Zerfall begriffen. In der „Zeit der streitenden Reiche“ kämpften viele kleine Fürstentümer um die Macht im Staat und rieben ihre Untertanen in sinnlosen Schlachten auf. Um die endlosen Kriege zu finanzieren, trieben die Herrscher immer höhere Steuern ein, kümmerten sich sonst aber wenig um das Wohlergehen der Untertanen. Poli-
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tisch und sozial herrschte vielerorts Chaos. Für den Intellektuellen Kongzi schien es daher besonders wichtig, einen Weg zu finden, die Gesellschaft wieder zu „ordnen“ und den Menschen ein geregeltes Leben zu ermöglichen. Als Berater zog er durch die Lande und verdingte sich an verschiedenen Fürstenhäusern. Allerdings nie besonders lange: Immer wieder verscherzte er es sich mit seinen Arbeitgebern, indem er seine Vorstellungen vom idealen Herrscher propagierte – ein echter Kündigungsgrund, denn im Lichte der konfuzianischen Regeln mussten die meisten Fürsten geradezu unmoralisch erscheinen. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb? – gelang es ihm, eine Reihe von Schülern um sich zu scharen, die ihm von einem Engagement zum anderen folgten. Wirklich erfolgreich war Konfuzius übrigens nicht: Bis zu seinem Tod 479 v. Chr. fand sich kein einziger Herrscher, der seine anspruchsvollen Ideen auch nur ansatzweise umsetzte.
Klare Verhältnisse Im Zentrum der konfuzianischen Lehre steht das Ideal des „Edlen“. Jeder kann ein Edler sein, ganz unabhängig von der sozialen Herkunft. Wichtig ist, dass er nach Selbstvervollkommnung strebt und sein Leben nach den fünf Tugenden ausrichtet: Mit Menschlichkeit, Rechtschaffenheit, Sittlichkeit, Weisheit und Güte soll der Mensch handeln, seine Eltern ehren und ihnen gehorchen, Anstand und Etikette wahren und immer loyal sein. Gleichberechtigte Beziehungen kennt der Konfuzianismus nicht: Jeder hat seinen Platz in der Gesellschaft, den er so gut es geht ausfüllen soll. So untersteht der Untertan dem Herrscher, die Frau dem Mann, der Sohn dem Vater, der jüngere Bruder dem Älteren und der jüngere Freund dem älteren Freund. Theoretisch bleibt in diesem Modell wenig Platz für Konflikte oder persönliche Sinnsuche. Ohnehin geht es in der Lehre des Konfuzius wenig um die Rechte des Einzelnen, sondern um seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft. Viele Passagen der konfuzi-
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anischen Schriften regeln daher nicht nur das Verhalten der Untertanen, sondern auch die Anforderungen an den Herrscher. Nur wer wie ein Edler handelt, kann und darf den Staat regieren. Dies tut er als Vorbild: Nicht durch Druck und Macht, sondern durch Tugend herrscht er über das Reich, quasi wie ein Vater über die Kinder. Und genau wie Kinder brauchen die Menschen Erziehung und Anleitung, am besten lebenslang. Lernen und Wissen nehmen im Konfuzianismus viel Raum ein – kein Wunder, dass er im Chinesischen als „Rujia“ bezeichnet wird, die „Schule der Gelehrten“. Alles in allem produzierte Konfuzius also wenig revolutionär neues Gedankengut. Stattdessen entwickelte er ein einfaches und leicht verständliches System des Zusammenlebens – so einfach und simpel, dass ihn viele Intellektuelle insgeheim gar nicht recht als Philosophen sehen. Auch für Frauen hatte Konfuzius wenig übrig: Sie waren für ihn Menschen zweiter Klasse, die im Übrigen keiner Bildung bedurften, die sie von ihren häuslichen Pflichten ablenken könnte. Doch vielleicht konnte sich der Konfuzianismus gerade aufgrund seiner einfachen Ideen so dauerhaft durchsetzten. Nicht zuletzt, weil er den Herrschern Chinas auf Dauer dann doch recht gut gefiel. Wohl forderte Konfuzius von Untertanen und Herrschern gleichermaßen ein hohes Maß an Moral und Loyalität – doch nur der Herrscher hatte die Macht, dies letztlich zu erzwingen. Ein Regent, der sein Volk ausbeutet und knechtet, mag laut Konfuzius kein „Edler“ mehr sein, die meisten Herrscher schien dieses Detail aber nicht zu stören. Sicher ist, die chinesischen Kaiser gingen nicht kollektiv als Beispiele grenzenloser Tugend in die Geschichte ein. Andersherum war der Druck schon größer. Immer loyal dienen, gehorchen ohne zu widersprechen, dem Älteren bedingungslos folgen: All diese konfuzianischen Regeln wussten die Herrscher sehr wohl einzufordern. Hand in Hand mit dem Konfuzianismus ging das Beamtenprüfungssystem. Bereits in der Han-Dynastie wurde dieses System
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geschaffen, das in den folgenden Jahrhunderten weiter perfektioniert und erst 1904 kurz vor Ende der Kaiserzeit abgeschafft wurde! Vordergründig sollten die allgemein zugänglichen Examina die Besten der Besten auf die richtigen Posten bringen, ganz so, wie Konfuzius es sich gewünscht hatte. De facto jedoch sorgte es dafür, dass nur treue Konfuzianer wichtige Posten besetzten konnten und der chaotisch-verwerfliche Einfluss anderer philosophischer Schulen gering blieb. Inhalt der Prüfungen waren vor allem die konfuzianischen Klassiker und ihre Auslegung, zudem mussten die Kandidaten gute Kenntnisse der künstlichen und überaus schwierigen Schriftsprache Wenyan vorweisen, die für die offizielle Kommunikation der Beamten benutzt wurde. Viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte des intensiven Studiums waren erforderlich, um sich diesen hohen Anforderungen zu stellen.
Jesuitische Beförderung Alles in allem macht der Konfuzianismus also einen sehr weltlichen Eindruck. Dass sich die Klassifizierung als Religion im Westen so hartnäckig hält, hat viele Gründe. Schon die Jesuiten-Missionare des 17. Jahrhunderts latinisierten Kong Fuzi („Großer Meister Kong“) zu Konfuzius und verwandelten ihn kurzerhand in einen Heiligen. So wichtig schien er ihnen, dass sie, sollten die Chinesen sich zum Christentum bekehren lassen, sogar bereit waren, ihn als Propheten zu akzeptieren. Zumindest bis der Vatikan solchen „unchristlichen“ Auslegungen im Jahre 1704 einen Riegel vorschob. Dass ein einzelner Philosoph eine Gesellschaft ganz ohne göttliche Inspiration so dauerhaft beeinflussen könnte, lag wahrscheinlich außerhalb der jesuitischen Vorstellungskraft. Zudem schienen ihnen Geisterglaube, Ahnenverehrung und das bunte Gemisch der Volksreligion wohl schlicht nicht „zivilisiert“ genug, als dass es einer so alten Kultur wie der chinesischen würdig wäre. In China selbst ist die Frage, ob der Konfuzianismus nun eine Religion sei oder nicht, kaum eine Überlegung wert. Generell
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zeichnet sich der chinesische Volksglaube durch große Toleranz aus. Was nützt, wird integriert, die Grenzen sind fließend. Irgendwo zwischen Ahnenkult und Daoismus, Buddhismus und Geisterwelt tummelt sich der Konfuzianismus. Hin und wieder taucht der Philosoph in der Tat als zu verehrender Gott auf. Dann allerdings im daoistischen Pantheon! Denn Konfuzius gilt als ausgewiesener Experte in Bildungsfragen, so dass ihm vor allem kurz vor der allgemeinen Aufnahmeprüfung der Universität viel Aufmerksamkeit widerfährt. Den Rest des Jahres liegt der Konfuzius-Tempel wie verwaist da, wenn nicht gerade eine staunende Touristengruppe durch die leeren Hallen wandert. Traditionell wurde hier oft Unterricht für die Beamtenprüfung abgehalten und die konfuzianischen Schriften wurden hier gelagert. In manchen Städten wurde hier auch regelmäßig beschriebenes Papier verbrannt, das die Menschen in dafür vorgesehene, öffentliche Papierkörbe warfen – so groß war der Respekt vor dem geschriebenen Wort, dass man es nicht mit herkömmlichem Müll mischen wollte! Einen wirklichen, in den Alltag der normalen Menschen integrierten Tempelbetrieb hat es jedoch im Konfuzius-Tempel nie gegeben. Lediglich an hohen Feiertagen wurde dem Philosophen mit viel Pomp geopfert – einer so wichtigen Persönlichkeit sollte man eben auch im Jenseits hin und wieder seine Aufwartung machen. Nun könnte man daraus schließen, der Ahnenkult sei ein fester Teil des Konfuzianismus, immerhin äußerte sich auch Konfuzius ihm gegenüber sehr positiv. Doch nicht jeder, der den Angehörigen im Jenseits opfert, ist ein Konfuzianer. Die Vorstellung eines Jenseits, in dem sich die verstorbenen Familienmitglieder tummeln, existierte bereits bevor Konfuzius seine Ideen niederschrieb. Andererseits – Ahnenkult, Daoismus, Konfuzianismus... wen kümmerts, was die Theologen sagen? Für die meisten Chinesen stellt sich die Situation ganz einfach dar: Sie sind da, die Geister und Dämonen, und solange man ihnen die eine oder andere Aufmerksamkeit zukommen lässt, sind sie friedlich und unterstützen ihre Nachkommen im Diesseits. Und nur das zählt.
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Bei aller Toleranz in religiösen Fragen blieb der Konfuzianismus im Laufe der Geschichte nicht unangefochten. Meist waren die Gegenbewegungen jedoch weniger theologischer, sozialer und politischer Natur, immer wieder musste er mit den echten Religionen des Volksdaoismus und des Buddhismus konkurrieren. Denn was diese eint und dem Konfuzianismus fehlt, ist die jenseitige Komponente. Zu Deutsch: ein Himmelreich, eine Hoffnung, eine Vision, die auch die zahllosen Bauern und Tagelöhner locken konnte. Zwar verspricht der Konfuzianismus auch die Rückkehr zu den paradiesischen Zuständen der Zeit der mythischen Kulturheroen, wenn sich nur alle an den Verhaltenskodex hielten, doch auch ohne große intellektuelle Vorbildung konnte jeder Bauer erkennen, dass noch allerhand ihn und sein elendes kleines Leben von diesem Paradies trennte. Wie viel verlockender kommt in dieser Hinsicht der Buddhismus daher: In der Amitabha-Schule des Reinen Landes genügt es sogar, den Namen Buddhas aufrichtig und ohne böse Gedanken auszusprechen, um in das Paradies einzufahren. Viel Belohnung für wenig Leistung also und ein echter Lichtblick für alle gewöhnlichen Menschen, deren Leben arbeitsreich und mühevoll war. Doch auch die Herrscher kamen hin und wieder vom wahren konfuzianischen Weg ab. Allen voran Qin Shi Huangdi, der Kaiser der Qin-Dynastie (221 v. Chr. – 206 n. Chr.). Nur an ihn und sonst keinen sollte sich die Nachwelt erinnern, und so ließ er alle konfuzianischen Schriften verbrennen, zusammen mit denen aller anderen philosophischen Kollegen übrigens. Genutzt hat es wenig, denn längst kannten die konfuzianischen Beamten die Klassiker auswendig! Unter den Anhängern des Konfuzianismus gab es viele erbitterte Diskussionen über das Wesen der Welt, über das menschliche Naturell, die korrekte Auslegung der Texte und vor allem über die Frage, welche Passagen wirklich dem Meister zuzusprechen seien. Denn de facto lässt sich kaum mehr feststellen, welche konfuzianischen Ideen wirklich vom Philosophen selbst stammen. Der Meister hinterließ keine schriftlichen Aufzeichnungen. Alles was
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überliefert wurde, stammt aus der Feder der Schüler, die nach seinem Tode die Gespräche aus dem Gedächtnis notierten – nicht wirklich die verlässlichste aller Methoden!
Der Meister kehrt zurück Ganz besonders stark haderten die Kommunisten, allen voran Mao Zedong, mit dem alten Meister. Er war das Symbol schlechthin für das Alte China, die Rückständigkeit Chinas, den hörigen Gehorsam gegenüber der Oberschicht, für die verstaubten Beamtenstuben, die Unterdrückung der Frauen, für hungernde Bauern und willkürliche Grundbesitzer. Mit einem Schlag versank Konfuzius 1949 in der Bedeutungslosigkeit. Vermeintlich. Denn mit der Öffnungspolitik der 1980er tauchte er wieder auf wie der Phönix aus der Asche. Nunmehr jedoch als Symbol für Disziplin, Moralität, Familienzusammenhalt und den chinesischen Sinn für Gemeinschaft – quasi der Gegenpol zum lotterhaften Westen! Mit einem Male war ihm der wirtschaftliche und politische Aufstieg Ostasiens zu verdanken, sorgte er dafür, dass die Chinesen strebsam und fleißig ihr Schicksal in die Hand nahmen. Sogar auf höchster Ebene wurde Konfuzius wieder salonfähig: Als der staatliche Chinese Language Council International 2004 eine weltweite Kette von chinesischen Sprachund Kulturinstituten gründete, eine Art chinesisches Goethe-Institut, durfte Konfuzius als Namensgeber herhalten. Inzwischen ist der Philosoph auch im „gemeinen Volk“ wieder überaus beliebt, denn China ist auf der Suche nach spirituellen Inhalten. Korruption, steigende Kriminalität, der Verlust moralischer Standards und die typische Orientierungslosigkeit des modernen Menschen lassen die Chinesen nach Lebensmodellen suchen. Dabei blicken sie nicht nur nach Westen, sondern auch in die eigene Geschichte. Als Yu Dan, Dekanin der Fakultät für Kunst und Medien an der Beijing Normal University, 2006 eine Vorlesungsreihe zum Thema Konfuzius im Fernsehen ausstrahlen ließ, traf das Thema ganz
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offensichtlich den Nerv des Publikums. 2007 folgte das Buch „Konfuzius im Herzen“ (so der Titel der deutschen Übersetzung) und erzielte innerhalb von wenigen Wochen eine Millionen-Auflage. Überraschend ist der Inhalt nicht: Yu Dan interpretiert Konfuzius neu und setzt ihn mit alltäglichen Geschichten in einen modernen Kontext. Dennoch ist das Buch auch 2010 noch in den Bestsellerlisten Chinas zu finden. Für die eingefleischten Konfuzianer allemal eine gute Neuigkeit. Vielleicht wird irgendwann doch noch eine Religion daraus?
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Die Traditionelle Chinesische Medizin ist sanfter als westliche Medizin Wer im Buchladen nach Literatur zur Traditionellen Chinesischen Medizin (kurz TCM, Ёए) sucht, wird oft irgendwo zwischen Bach-Blüten, Homöopathie, Magnetfeldtherapie und SchüsslerSalzen fündig. Unter europäischen Patienten gilt die TCM als besonders sanfte und natürliche Methode, die zudem mit vielen Jahrhunderten Erfahrung auftrumpfen kann. Chinesische Ärzte der TCM raufen sich in Anbetracht dieser Zuordnung die Haare: mit Esoterik haben sie wenig im Sinn! Westliche TCM-Patienten werden spätestens bei der ersten medizinischen Massage mit einer überraschende Erkenntnis konfrontiert: Wirkungsvoll ist die traditionelle Medizin allemal (was sie von vielen esoterischen Methoden unterscheidet), nur die Sache mit dem „sanft“ ist ein echter Irrtum. Denn in der Tuina-Massage, einer klassischen Disziplin der TCM, geht es zur Sache. Der Patient wird quasi in seine Einzelteile zerlegt, jede Verspannung geknackt. Körperteile, die sich sträuben, erwürgt der Masseur einfach. Zumindest fühlt es sich so an. Der Erholungseffekt und das gute Gefühl mit einem neuen, gesünderen Körper die Praxis zu verlassen, stellen sich erst nach der Behandlung ein. Und das ist kein Fehler des Masseurs: TCM hat mit Wellness nur bedingt zu tun.
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Weil es gut tut, wenn der Körper funktioniert. Anders als in Europa, wo der Patient am besten schon während der Behandlung eine wohlige Verbesserung des Befindens erlebt, sehen chinesische Ärzte und Masseure die Sache nüchterner: Wichtig ist das Ergebnis. Sonst nichts. Vielleicht beruht die kolossale Fehleinschätzung der Traditionellen Chinesischen Medizin darauf, dass sie eine fernöstliche Disziplin ist. Asien steht in den Köpfen der Menschen für Gelassenheit, Meditation und Weisheit. Asiatischen Methoden eilt etwas Mystisches voraus. Nicht zuletzt üben sich in Europa oft Heilpraktiker in der TCM, durch einige Kurse vermeintlich befähigt, eine umfassende Behandlung anzubieten. Oft liegt dem „sanften“ Mythos aber einfach nur der falsche Umkehrschluss zugrunde, dass alles, was nicht unter den Begriff „Gerätemedizin“ fällt, eben sanft sein muss. Mit Mystik hat die TCM freilich wenig zu tun. Wer in China als traditioneller Arzt arbeiten will, braucht ein Studium: Fünf Jahre lernen die angehenden Ärzte an einer regulären Universität, dann folgen acht bis zehn Monate als Assistenzarzt in einer meist staatlichen Klinik. Das klingt wie eine klassische Medizinerausbildung – genau so ist es auch gedacht! Die westliche Schulmedizin macht dabei mindestens ein Jahr der Ausbildung aus. Kein Wunder, dass die Berührungsängste zwischen westlicher Schulmedizin und TCM in Fernost eher gering sind. Viele staatliche Krankenhäuser haben eine TCM-Abteilung, die selbstverständlich Hand in Hand mit den anderen Stationen arbeitet. Aber auch in der privaten Praxis lässt sich ein guter TCM-Mediziner daran erkennen, dass er die Grenzen seiner Therapie gleich zu Anfang aufzeigt und sich nicht gegen konventionelle Methoden sträubt, sondern diese ergänzt. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die grundlegenden Vorstellungen und Methoden der östlichen und westlichen Medizin in der Tat weit auseinander liegen. Auch dies verwandelt die TCM in Europa schnell in eine vermeintlich esoterische und damit „sanfte“ Methode: Weil wir sie schlicht nicht verstehen.
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Nicht ohne mein Qi Die Grundlage allen Lebens ist laut Traditioneller Chinesischer Medizin das Qi (⇨). Diese Kraft durchfließt den Körper entlang festgelegter aber unsichtbarer Bahnen, den Meridianen Jingluo (㒣㒰) und ernährt die Organe. Fließt zu viel oder zu wenig Qi, erkrankt der Mensch. Und die Qi-Energie ist eine fragile Sache: Sie entsteht aus dem Spannungsfeld der beiden Grundprinzipien von Yin (䰈) und Yang (䰇). Yin ist das Dunkle, Feuchte, Weibliche, Yang dagegen das Helle, Trockene, Männliche. Beide müssen ausgeglichen im Körper sein, sonst kommt es zu Störungen. Genährt wird das Qi durch Nahrungsenergie und Atmungsenergie. Um Yin und Yang noch genauer zu definieren, verwenden TCMÄrzte noch drei weitere Gegensatzpaare, die analog zu Yin und Yang die Krankheitsbilder beschreiben: Störungen können innen und außen sein, von Kälte und Hitze, Leere und Fülle charakterisiert sein.
Yin
Yang
dunkel
hell
innen
außen
kühl
heiß
passiv
aktiv
ruhig
beweglich
Nacht
Tag
Auch die fünf Elemente (Ѩ㸠) Feuer, Wasser, Erde, Holz und Metall müssen sich im Gleichgewicht befinden. Ihnen sind fünf Funktionskreise „Zangfu“ (㛣㜥) und ihre Organe zugeordnet, die wiederum jeweils als Yin oder Yang ausgezeichnet sind. Yin-Organe wie Herz, Lunge, Niere, Milz und Leber „speichern“ das Qi. Yang-Organe wie Magen, Blase, Galle, Dünn- und Dickdarm
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hingegen haben eine aktive Funktion und verfügen über eine Muskulatur. Spätestens an diesem Punkt ahnt der Laie: Irgendwie hängt in der traditionellen chinesischen Medizin alles zusammen. Stimmt. Die Gedankenwelt der TCM ist ein Geflecht von Entsprechungen und Zusammenhängen, von Komponenten, die sich gegenseitig beeinflussen und dementsprechend alle aus dem Gleichgewicht geraten, wenn eine Größe nicht mehr stimmt. Nur wer alle Komponenten kennt, kann das Prinzip der TCM verstehen. Und eingreifen. Die Zusammenhänge der TCM Element
Geschmack
zugeordnetes Yin-Organ (ZangOrgane)
zugeordEmonetes tion YangOrgan (FuOrgane)
Wirkung
Erde ೳ
süß
Milz
Magen
Schwermut
stärkend, harmonisierend
Wasser salzig ∈
Niere
Blase
Angst
aufweichend, abführend
Metall 䞥
scharf
Lunge
Dickdarm
Trauer
löst Stagnationen, zerstreuend
Holz
sauer
Leber
Galle
Ärger
zusammenziehend, kann blockierend wirken
Feuer ☿
bitter
Herz
Dünndarm Freude
trocknend
Insofern ist die TCM auf jeden Fall eine ganzheitliche Methode. Denn ist der Qi-Fluss entlang eines Meridians gestört, treten unterschiedlichste Symptome auf, die in der westlichen Medizin oft isoliert betrachtet werden, in der TCM aber in einem logischen
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Zusammenhang stehen. Der traditionelle Arzt wird also immer nach der gemeinsamen Ursache suchen. Der erste Schritt dorthin wirkt auf den westlichen Patienten erst einmal recht exotisch. Denn während sich Europäer bei der Diagnose ein langes, vertrauliches Gespräch wünschen, verläuft die chinesische Anamnese oft erstaunlich stumm: Kritisch beäugt der Arzt die allgemeine Erscheinung des Patienten: Hautfarbe, Gestalt, Verhalten und Gestik, Sitzhaltung und Atmung geben erste Indizien – sogar der Geruch kann wichtig sein. Dann ein genauer Blick auf die Iris, eine ausgiebige Pulsfühlung – bitte dabei ruhig bleiben und nicht sprechen, mahnt der Arzt! – ein kritischer Blick auf die Zunge und natürlich einige peinliche Fragen zum letzten Stuhlgang, schon kramt der Arzt in den Kräuterschubladen. Das ist ungewohnt. Und doch unerlässlich. Denn nur mit einer traditionellen Diagnose lässt sich das Arsenal der TCM korrekt einsetzen. Mehr als 30 verschiedene Arten von Puls kennt die traditionelle Medizin, und auch die Zunge ist, um ein unangenehmes Bild zu bemühen, quasi ein offenes Buch für den TCM-Arzt. Wie sieht der Belag aus? Welche Farbe hat er? Verschiedene Zungenzonen sind dabei wiederum den Organen zugeordnet, so dass auch die regional unterschiedliche Beschaffenheit des Belags eine Rolle spielen kann. Letztlich ist auch das Gespräch mit dem Patienten von Bedeutung – aber eben nicht der erste, wichtigste Schritt.
Eine Frage des Gleichgewichts Doch wie wird man nun krank? Die TCM kennt eine Reihe von auslösenden Faktoren, die das Gleichgewicht stören und damit Krankheiten verursachen können. Sie alle schlagen sich äußerlich auf der Iris, Zunge oder in der Verdauung nieder. Innerlich sind es die Emotionen Freude (Xi, ୰, die in Begierde und Wollust umschlagen kann), Sorge (Si, ᗱ), Trauer (Bei, ᚆ), Angst (Kong, ᘤ) und Ärger (Nu, ᗦ). Unter den Umweltfaktoren sind die wichtigsten Wind (Feng, 亢), Kälte (Han, ᆦ), Wärme (Wen, ⏽ ) und
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Hitze (Re, ⛁), Nässe (Shi, ), Trockenheit (Zao, ➹). So können besonders rote Lippen auf Hitze im Magen hinweisen. All diese Begriffe sind jedoch nicht wortwörtlich zu verstehen. Zumindest nicht im westlichen Kontext. Kälte bedeutet nicht, dass der Patient zu lange im Kalten unterwegs war, genauso wie man bei heißem Wetter nicht zwangsläufig an einer Hitzestörung erkrankt. Wer sich auf die traditionelle Medizin einlässt, muss diese Faktoren eher bildlich sehen. Gar nicht so einfach für uns Mitteleuropäer! Wissenschaftlich lässt sich (noch) nicht alles nachweisen. Andererseits: Viele westliche Patienten wenden sich eben gerade deshalb der TCM zu, weil sie hier eine Dimension vermuten, die ihnen vielversprechender erscheint, als der westliche Ansatz. Mittlerweile gibt es jedoch auch in Europa zahlreiche seriöse Forschungsprojekte, die sich mit der Wirkungsweise chinesischer Medizin befassen und versuchen, die Abläufe in eine westliche Terminologie und Gedankenwelt zu übersetzen. Hin und wieder schießen Enthusiasten allerdings weit über das Ziel hinaus. Die Behauptung, chinesische Gelehrte könnten anhand der Pulsdiagnose die verbleibenden Lebensjahre genau bestimmen (so allen Ernstes auf der Webseite eines österreichischen Handakupunkteurs zu finden) entbehrt jeder Basis. Am Ende der Untersuchung steht eine Diagnose, die für den Europäer nicht minder schwer verständlich ist: So könnten Kopfschmerzen, Schwindel und Schlaflosigkeit auf zu viel Leber-Yang zurückzuführen sein. Appetitlosigkeit, schwacher Puls und eine Tendenz zu Durchfall wiederum könnten auf mangelndes Milz-Qi hinweisen. Andere, die über Schmerzen in den Knien und übermäßiges Schwitzen klagen, leiden vielleicht unter zu viel Feuchtigkeit. Genauso wenig wird es einen traditionellen Arzt wundern, wenn Migräne, Schwindel, gerötete Bindehaut und UnterbauchSchmerzen gemeinsam auftreten. All dies sind klassische Symptome einer Störung des Leberfunktionskreises. Dies sind nur Beispiele, die sich nicht verallgemeinern lassen, zumindest aber eines belegen: Ohne Hintergrundwissen über die
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traditionelle Medizin ähnelt die Diagnose letztlich einem fremden Idiom. Fast als spräche der Arzt Chinesisch. Genau dies tut er auch. Zumindest kulturell gesehen. In der Tat ist die TCM unlösbar mit der chinesischen Geisteswelt verbunden. Wer sie verstehen will, muss weit in die Geschichte zurückgehen. In den Sagen und Mythen Chinas wird die Erfindung der Medizin gerne den legendären Urkaisern Huangdi und Shennong zugeschrieben. Beide gelten zusammen mit Fuxi als die „Drei Erhabenen“, legendäre Kulturheroen, die zu Beginn des 3. Jahrtausends über China geherrscht haben sollen. De facto ist die traditionelle Medizin jedoch von vielen daoistischen Grundvorstellungen geprägt – und einer dicken Portion Lebensgier. Denn während sich die daoistischen Philosophen Laozi und Zhuangzi im sechsten beziehungsweise vierten Jahrhundert vor Christus noch sehr abstrakt mit dem kosmischen Prinzip Dao beschäftigten, den Einklang mit der Natur suchten und das Gleichgewicht zwischen Yin und Yang propagierten, wandte sich der Volksdaoismus schnell weitaus konkreteren Zielen zu. Nicht nur ausgeglichen wollten die Daoisten leben, sondern am besten auch ewig! Die Frage, wie sich die Lebensenergie Qi (und damit das Leben) endlos erhalten ließe, führte immer wieder zu interessanten Experimenten. Zahllose Daoisten forschten im Auftrag des Kaiserhofs und führten in der östlichen Han-Dynastie (25 – 220 n. Chr.) sogar versehentlich den Tod gleich mehrerer Regenten in jungen Jahren herbei. Zum Beispiel Quecksilber galt lange Zeit als lebensverlängernd – manch ein Kaiser hatte seine kurze Lebensdauer diesem todsicheren Wundermittel zu verdanken. Jenseits solcher Experimente, die eher unter den Begriff Alchemie als Medizin fallen, konnte die traditionelle Medizin schon früh mit einem Grundlagenwerk aufwarten, das auch heute noch gelesen wird: Das „Huangdi Neijing (咘Ᏹݙ㒣, auf Deutsch „Das Buch des Huangdi zur Inneren Medizin“) wurde zwischen dem 2. Jahrhundert v. Chr. und dem 2. Jahrhundert n. Chr. zusammengestellt. Zwar dürfte es kaum vom mythischen Kaiser Huangdi selbst stammen, doch vieles, was im Neijing festgelegt wurde, wird auch in der Moderne noch praktiziert.
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Damals wie heute nimmt die TCM den Patienten weitaus mehr in die Pflicht, als die westliche Medizin – am besten, der Mensch wird gar nicht erst krank! Viele Patienten hören nicht gerne auf den Ruf zur Eigenverantwortlichkeit und hoffen lieber auf ein Wundermittel. Landen sie irgendwann in einer regulären TCM-Praxis, wie der Offenbacher Lushan-Klinik, gibt es klare Worte: Wenn es um die Gesundheit geht, macht für die dort praktizierende Dr. Zhang Wenjun, Professorin für traditionelle chinesische Heilkunde an der staatlichen Universität von Xi’an, die ärztliche Behandlung nicht einmal ein Drittel aus. Zwei Drittel muss der Patient selbst durch die allgemeine Lebensführung leisten. Zum Beispiel durch Bewegung und Ernährung.
Die Kunst des Essens Prinzipiell gilt, Essen ist Medizin. Eine anständige Menüplanung für die Familie richtet sich daher nicht nur nach Lust, Laune und kulinarischen Gelüsten, sondern nach dem aktuellen Gesundheitszustand der Mitglieder. Für Opa darf es vielleicht ein wenig mehr Yang-Energie sein, die Tochter, die gerade für die Aufnahmeprüfung der Universitäten lernt, braucht eine Speise, die das Gehirn anregt und allgemein belebt, während der Manager-Familienvater sowieso schon gereizt und nervös ist und daher eine kühlende Speise gut vertragen könnte. So oder ähnlich wandern Gemüse und Fleisch in den Korb: Yin und Yang sollen ausgeglichen sein, genauso wie die Geschmacksrichtungen und fünf Elemente. Dahinter steht eine Fülle von Empfehlungen und Regeln, die zumindest einen erwiesenen Effekt haben: Chinesen neigen erheblich weniger dazu, unüberlegt alles in sich hineinzustopfen oder in nächtlichen Kühlschrank-Expeditionen ihre Gier „auf was Leckeres“ zu befriedigen. Dieser „Nahrung-ist-Medizin“-Gedanke geht soweit, dass es im chinesischen Kulturraum mittlerweile sogar Restaurants gibt, die nach Regeln der Traditionellen Chinesischen Medizin kochen. So
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bietet das Imperial Herbal Restaurant in Singapur seinen Gästen als erstes eine Konsultation bei einem chinesischen Arzt, der zwischen Aperitif und Vorspeise schnell noch eine Diagnose durchführt und die richtigen Empfehlungen an den Küchenchef weitergibt (inklusive der delikaten Stuhlfrage übrigens, was bei einem lauschigen Tête-à-Tête ein wenig stören kann). Für die Gäste ist die kleine Apothekenecke im hippen Gastraum jedenfalls keinen verwunderten Blick wert. Beliebt und seit vielen Jahren gut gebucht ist das Restaurant allemal, auch wenn, wie der RestaurantArzt mit einem verschwörerischen Seitenblick auf die Klientel raunt, vor allem Potenzprobleme die Kunden in den Laden treiben. Aber auch Erkältungen oder Antriebslosigkeit schlemmt sich der Gast hier von der Seele. Kein Wunder, dass Gesundheit, Ernährung, Bewegungsübungen und alles, was auch nur im Entferntesten damit zu tun hat, im chinesischen Kulturraum zu den beliebtesten Gesprächsthemen gehören. Wie zum Teufel lässt sich das „Qi“ bloß am längsten erhalten? Vom Manager bis zum Senioren haben alle ein Geheimrezept, eine stärkende Suppe der Großmutter, oder diese oder jene Taiji-Übung. Über das Essen zu reden ist immer akzeptabel und ein wunderbarer Einstieg in neue Bekanntschaften. Mit ähnlichem Eifer widmen sich vor allem ältere Chinesen dem Taiji und Qigong. Aus einfachem Grund: In fortgeschrittenem Alter schwindet das Qi, so dass man sich zwangsläufig besser um die verbleibende Energie kümmern muss. Zeit dazu haben die meisten Rentner allemal. Und so wirken die städtischen Parks morgens immer ein wenig so, als wären gleich drei Altenheime gleichzeitig auf Betriebsausflug. Wenige Meter voneinander entfernt üben kleine Grüppchen Taiji-Gymnastik, vertiefen sich so konzentriert in Qigong-Atemübungen, als wäre sonst kein anderer Mensch zugegen, oder wandeln rückwärts die Wege entlang – das schärft die Sinne und den Gleichgewichtssinn. Bei aller kulinarischen und sportlichen Vorsicht kann es natürlich dennoch vorkommen, dass der Mensch aus dem Gleichgewicht
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kommt. Dann heißt es, möglichst schnell zum traditionellen Arzt zu gehen. Denn je ausgeprägter das Ungleichgewicht, desto länger dauert meist die Behandlung.
Nicht Nadeln, sondern Kräuter Generell stehen chinesischen Ärzten gleich eine Handvoll Behandlungsmethoden zur Auswahl. Während die TCM meist mit Akupunktur assoziiert wird, macht in der Realität die Kräutermedizin (Caoyao, 㤝㥃) einen großen Teil der Behandlung aus. Am treffendsten ließe sich die TCM daher auch als asiatische Naturheilkunde bezeichnen. Doch die TCM verwendet nicht nur harmlose (und damit oft wirkungslose) Kräuter, sondern auch potente Ingredienzen, die sich keinesfalls mit einer Tasse Pfefferminztee vergleichen lassen. Hinter Dianqie Cao verbirgt sich beispielsweise die giftige Tollkirsche. Auch quecksilberhaltige Zutaten wie Zinnober (Quecksilbersulfit) werden angeboten. Der Streit, ob das Quecksilber im Körper gelöst wird oder nicht, dauert übrigens noch an. Genauso schlagkräftig sind Fingerhut, also das Gift Digitalis, Eisenhut mit dem Gift Akonitum und Osterluzei-Gewächse, die giftige Aristolochia-Säuren enthalten. Wird der Eisenhut nicht verschreibungsgemäß gekocht, bleiben die giftigen Alkaloide erhalten. Kaum ein Chinese würde in Anbetracht dieser potenten Ingredienzen behaupten wollen, TCM sei gefahrloser als konventionelle, westliche Medizin. Selbstverständlich verabreichen verantwortungsvolle TCMÄrzte ihre Kräutermischungen in angemessenen Dosen. Problematisch ist jedoch: In Deutschland darf jeder Heilkundler, vom Heilpraktiker bis zum Hausarzt, Traditionelle Chinesische Heilmittel. Doch nicht immer können Quereinsteiger mit den potenten Kräutern wirklich umgehen. Das wohl überzeugendste Argument gegen den „sanften Mythos“ ist die Wirksamkeit der Kräuter. In jeder Hinsicht. „Jedes wirksame Medikament ist immer auch zu einem Drittel Gift“ un-
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terstreicht Prof. Zhang. „Nur nutzlose Verabreichungen darf man gefahrlos überdosieren“. Mit großer Skepsis betrachtet sie den ungezwungenen Umgang mit chinesischen Kräutern. „Finden Sie selbst das richtige chinesische Kräuterheilmittel – bitte geben Sie ihre Symptome ein“ lockt beispielsweise ein Selbsthilfeportal im Internet, fast so, als könnte man einfach mal unbegrenzt ausprobieren. Nicht weniger problematisch ist die Praxis, chinesische Medikamente nach einer westlichen Diagnose zu verordnen. So wird die Ginseng-Wurzel vor allem bei Schwächezuständen genutzt, kann aber, je nach Verfassung, auch Herzrasen verursachen. Ein weiteres Beispiel ist die Zutat „Maqianzi“ (偀䪅ᄤ, lat. Semen Strychi Nuxvomicae), in Europa unter dem Namen Brechnuss bekannt. Sie enthält unter anderem die Gifte Strichnin und Brucin. Erwischt der unerfahrene Behandler eine zu hohe Dosis, kann es zu Gesichtslähmungen kommen. Knoblauch, Ingwer, Ginkgo und Ginseng wiederum können bei Operationen und Unfällen zu verlängerten und verstärkten Blutungen führen. Andersherum kann die chinesische Angelikawurzel (Angelica sinensis, Danggui) den Leberstoffwechsel so verändern, dass die Wirkung des gerinnungshemmenden Medikaments verstärkt wird. Bezieht der Patient die Kräuter aus unsicherer Quelle, besteht zudem die Gefahr von Verunreinigung durch Pestizide, Schwermetalle etc. Schon aus diesem Grund lohnt es sich, nicht direkt aus Fernost zu importieren, sondern chinesische Kräuterzutaten in einer deutschen Apotheke zu kaufen. Diese sind verpflichtet, die Rohstoffe für die chinesische Kräutertherapie auf korrekte Identität und Verunreinigungen zu prüfen. Was die meisten Texte über die Kräutertees der TCM verschweigen: Sie funktionieren! Und schmecken oft grauenvoll scheußlich, fast so, als wolle man den Körper damit erpressen: „Wenn Du gesund wirst, brauchst Du dieses grauenvolle Zeug nicht mehr zu trinken“, raunt das Unterbewusstsein leise und bringt die rebellischen Or-
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gane damit wieder auf Kurs. Meist handelt es sich dabei um eine Kombination aus verschiedenen Kräutern und tierischen Ingredienzen, die eine Zeit lang gekocht werden, bevor sie in der Tasse landen. In Deutschland sind fast nur pflanzliche Zutaten der TCM zugelassen, in China selbst wird jedoch auch mit allerhand tierischen Arzneien behandelt. Ein Spaziergang über einen beliebigen Arzneimarkt, wie es ihn in jeder größeren chinesischen Stadt gibt, lässt den Westler erst einmal schlucken: Getrocknete Reptilien, Hirschpenis, seltsame Pilze, Geweihe aller Art und zermahlene Insekten gehören noch zu den appetitlicheren Zutaten. Da freut es den Betrachter zu hören, dass Fledermausdung oder getrocknete Kakerlaken in Deutschland aufgrund gesetzlicher Bestimmungen nicht beigemischt werden. „Natürlich“ sind sie freilich dennoch. Die TCM ist natürlich im Sinne von „ohne Chemie“. Aber eben nicht zwangsläufig sanft. All dies klingt gefährlich und spricht doch nicht wirklich gegen die TCM. Wohl aber dagegen, sich wahllos in Behandlung zu geben. Vor allem, wenn der Arzt keine solide Ausbildung in Traditioneller Chinesischer Medizin hat. Die Haltung, TCM sei schließlich sanft und daher ohne Risiko, ist geradezu naiv-verantwortungslos. Krankheitsfälle, verursacht durch chinesische Kräutermedizin, stellen sich oft als Fehldosierungen oder Eigenmedikation heraus. So bekamen die Patienten einer belgischen GewichtsreduktionsKlinik in den 1990ern fast ein Jahr lang anstatt der Zutat Stephania tetrandra durch einen Fehler in der Herstellung ein Mittel, das stattdessen Aristolochia enthielt. Ein Fehler, der wahrscheinlich ganz banale sprachliche Gründe hatte. Auf Chinesisch sind die beiden Mittel Fangji (Radix Stephaniae tetrandrae) mit Guang Fangji (Aristolochia fangchi) nämlich fast namensgleich – ganz offensichtlich war der Hersteller des Chinesischen nicht kundig. Etliche der Patienten erlitten Nierenschäden oder erkrankten an Krebs.
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Die Kraft der Nadeln In Anbetracht der mächtigen Zutaten der Kräutermedizin wirkt die Akupunktur (Zhenjiu, 䩜♌) erst einmal einfach: Gerät das Qi ins Stocken oder fließt zu viel Energie, reguliert es der TCM-Arzt mit speziellen Nadeln aus Stahl, Silber oder Gold über die mehr als 300 Akupunkturpunkte entlang der Meridiane. Dabei kommt es nicht nur auf den Ort des Einstichs an, sondern auch auf die Kombination der Stiche und der Art wie sie erfolgen. Hin und wieder dreht der Arzt die Nadeln in langsamen Bewegungen. Was im Übrigen erheblich weniger schmerzt als es aussieht. Generell fühlt sich der Stich einer Akupunkturnadel eher wie ein kleiner Elektroschock, denn wie ein Nadelstich an – Menschen mit synthetischem Teppichboden und Metallklinken kennen das Gefühl. Zur Freude aller Fans der sanften Methoden kommt auch die Akupunktur ganz ohne Geräte aus, sieht man einmal von den Nadeln selbst ab. Dennoch ist auch sie nicht ohne Gefahren. Für die Ärztin Prof. Zhang ist Akupunktur ein ungefährliches Mittel – wenn sie vom Fachmann ausgeführt wird. Die Praxis, in Deutschland bereits nach wenigen Wochen oder Monaten Zusatzausbildung zur Nadel zu greifen, sieht sie schon skeptischer: „Zum einen ist eine TCM-Diagnose unerlässlich, um richtig zu reagieren. Eine Erkältung ist nicht gleich Erkältung in der TCM. Je nachdem, wie sie hervorgerufen wurde, kann es sich um einen Mangel von Yin oder Yang handeln. Beides wird völlig unterschiedlich behandelt“. Und wenn nun doch ein unkundiger Mensch zusticht? „Mit ein wenig Glück passiert gar nichts. Zum Beispiel, weil der Akupunkteur die richtigen Stellen gar nicht erst trifft. Weitaus ungünstiger kann das Ergebnis ausfallen, wenn er trifft – und zwar die Zangfu-Organpunkte. So gibt es beispielsweise am Hinterkopf eine Reihe von Punkten, die das zentrale Nervensystem beeinflussen. Also alle Körperfunktionen, die wir nicht bewusst unternehmen, wie Atmung oder Herzschlag. Wer hier die falsche Kombination erwischt, kann schwere Schäden verursachen, die auch tödlich enden können“, so Prof. Zhang. In der Kampfkunst werden diese Punkte auch als „Todes-
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punkte“ gelehrt. Die Frage, ob es per Fußtritt, also quasi per Akupressur, wirklich möglich ist, einen Menschen zu töten, sei den Experten überlassen. Sicher ist: In der Kampfkunst werden sie nur unter Vorbehalt weitergegeben. Hier sollte weder in der Medizin noch im Kampfsport ein Amateur zugange sein.
Ausgeräuchert Hand in Hand mit der Akupunktur geht die Moxibustion – eine Methode, die auf den ersten Blick geradezu magische Züge hat: Nicht Nadeln, sondern brennende Kegel aus Beifuß, auch Moxakraut genannt, stimulieren die Akupunkturpunkte. Besonders Nadelphobiker greifen gerne auf Moxibustion zurück. Eine weitere Methode ist das Tuina: Auch hier geht es um die Meridiane. Nur werden sie per Massage stimuliert. „Schiebennehmen“ bedeutet Tuina (ᣓ) wörtlich übersetzt, und steht für eine Kombination aus Massage und chiropraktische Handgriffe. Tuina kommt vor allem zum Einsatz, wenn gleichzeitig auch Muskeln, Sehnen und Bänder entspannt werden sollen. Den Reflex, bei allzu harten Handgriffen zurückzuschlagen, sollte man unter Kontrolle haben – oder gleich vor Beginn die persönliche Schmerzgrenze klarstellen. Im Westen wenig bekannt ist das Schröpfen: Kleine, runde Glasgefäße werden erhitzt und auf die gewünschten Akupunkturpunkte gesetzt. Durch die Abkühlung entsteht im Glas Unterdruck – die Gefäße saugen sich fest und wirken so auf den gewünschten Meridian. Ästhetisch ist das Schröpfen allerdings erst einmal ein Rückschlag, denn es hinterlässt oft rote Kreise am Rücken, die erst nach einigen Tagen wieder verschwinden. Bei aller Methodenvielfalt hat die chinesische Medizin, genauso wie ihr westliches Pendant, keine grenzenlose Heilkraft zu bieten: „Gestörtes kann man heilen, nicht aber Zerstörtes“ lautet der Grundsatz der TCM. So sanft ist sie dann doch.
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Chongqing ist die gro¨ßte Stadt der Welt – und andere Superlative Über 32 Millionen Einwohner hat Chongqing (䞡ᑚ) laut offizieller Statistik – mehr als jede andere Stadt auf unserem Planeten. Trotzdem: Chongqing, die größte Stadt der Welt? Jeder Shanghaier würde schallend lachen, käme man ihm mit derartigem Humbug. Jenseits aller Statistiken lässt sich die These leicht auf einer Reise in den Südwesten Chinas persönlich überprüfen: Ja, Chongqing ist groß. Wirklich groß. Das weitläufige, weltmännische Gefühl, das den Reisenden auf der Shanghaier Einkaufsstraße Nanjing Lu oder auf der Uferpromenade Bund ergreift, mag sich hier jedoch nicht recht einstellen. Chongqing – und andere Superlative Das Geheimnis hinter Chongqings Bevölkerungszahlen heißt kurz und knapp „Eingemeindung“. Noch vor wenigen Jahren war die Stadt am Oberlauf des Yangzi-Flusses Teil der Provinz Sichuan. Mit der Planung des Yangzi-Staudamms jedoch wuchs ihre wirtschaftliche Bedeutung. Zumindest auf dem Papier. Denn nach den Plänen der Regierung soll Chongqing bei der Entwicklung Westchinas wie ein Zugpferd agieren. 1997 wurde Chongqing daher aus der Provinz Sichuan herausgelöst und direkt unter die Verwaltung der Zentralregierung gestellt – so wie die Hauptstadt Beijing, Tianjin und Shanghai – und damit den Provinzen und autonomen Regionen gleichgestellt. Die Grenzen der regierungsunmittelbaren Stadt freilich endeten nicht an den Außenbezirken Chongqings,
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sondern reichten weit in die dichtbesiedelte Ebene von Sichuan hinein. Das Produkt war eine vermeintliche Gigastadt von der Größe Österreichs mit viel landwirtschaftlicher Fläche – und einer Menge Bauern, die mit einem Male auf dem Papier Bewohner der größten Stadt der Welt waren. De facto hat die Kernstadt Chongqing, also das wirkliche Stadtgebiet, rund 4,3 Millionen Einwohner, bezieht man die städtischen Randgebiete mit ein, sind es rund acht Millionen. Zum Vergleich: Shanghai hat zirka 17 Millionen gemeldete Bewohner, zählt man die zahllosen Wanderarbeiter dazu, sind es wahrscheinlich mehr als 20 Millionen. Die vermeintlich größte Stadt der Welt ist also einfach nur eine Großstadt und nach chinesischen Maßstäben noch nicht einmal besonders beeindruckend. Immerhin hat China mehr als hundert Millionenstädte, von denen viele im Westen völlig unbekannt sind. Wer hat schon je von Dongguan oder Zibo gehört? Erstere liegt übrigens in der Nähe von Kanton und produziert so viele Gebrauchswaren für den internationalen Markt, dass jeder erwachsene Deutsche garantiert schon einmal einen Turnschuh oder Teddybären aus Dongguan in der Hand hatte, während Zibo in der Küstenprovinz Shandong im Osten Chinas zu finden ist. Für eines ist das Beispiel der weltgrößten Stadt Chongqing aber allemal gut: Es zeigt, wie unkritisch der Westen jeden chinesischen Superlativ reproduziert. So entstehen Mythen! Genauso wie der Westen letztlich den Mythos der Großen Mauer schuf, gibt es auch heute in China viele andere Mythen, die nicht wirklich erfunden sind – aber eben überproportional aufgebläht wurden, losgelöst von jeder Skala. Doch warum tun wir das?
Spieglein an der Wand China eignet sich wunderbar als Projektionsfläche für Sehnsüchte, Hoffnungen, Ängste und ... eigentlich alles, denn China ist weit weg! So weit, geografisch wie kulturell, dass kaum ein Mensch all
C H O N G Q I N G – U N D A N D E R E S U P E R L AT I V E
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das Gehörte und Gelesene selbst überprüfen kann und man sich eigentlich nie der Wahrheit stellen muss. Bis in die 1970er kam sowieso kaum ein Schreiber in die Verlegenheit, seine ChinaThesen überprüfen zu müssen, weil Einzeltouristen in der Regel die Einreise verwehrt wurde oder vor Ort der intensiven Überwachung alias Betreuung der Reiseleiter unterlagen. Dieses Problem stellt sich heute längst nicht mehr: Fernostreisen sind einfacher und vergleichsweise billig geworden, rund 600 000 Deutsche fahren derzeit jedes Jahr nach China, viele von ihnen mit dem Rucksack und auf eigene Faust. Freilich erleben sie das Land aus ihrer persönlichen Warte – China ist so vielfältig, dass man sich quasi schon darauf verlassen kann, dass drei Reisende mit vier Meinungen zurückkehren. China ist mit mehr als 1,3 Milliarden Einwohnern und einer Fläche größer als Europa ein immens großes Land. Egal um welche Aussage oder Behauptung es geht – wer sucht, findet immer einen Ort in China, an der sie zutrifft. Und so zeigt sich China als das Land des unbändigen Wirtschaftswachstums, der Armut, der neuen Freiheit und der Menschenrechtsverletzungen, der Weisheit und der Rückständigkeit, der Gelassenheit und der Hektik, und vieles mehr. Gleichzeitig natürlich. Belege und Gegenbelege finden sich genug, genauso wie Menschen, die ihr China-Bild mit eigenen Erfahrungen untermauern können. Das Paradoxe ist: Sie alle haben recht. Der Reisende, der begeistert aus China zurückkehrt, von wunderbaren Landschaften und liebenswerten Menschen spricht, von Fortschritt und dynamischer Atmosphäre, genauso wie all jene, die von muffeligen Serviererinnen, elenden Bettlern und hoffnungslos überfüllten Städten berichten. Nichts davon ist gelogen. Aber eben oft ohne Maß und Skala. Fast scheint es, als entbände das Thema China die Menschen von der Pflicht des Nachdenkens.
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Der Blick nach Osten hat Tradition Neu ist dieses Phänomen jedoch nicht, bereits viele Jahrhunderte muss China als Projektionsfläche herhalten. Seit den ersten direkten Ost-West-Kontakten wurde aus subjektiv zusammengefügten Fragmenten eine vermeintliche Realität zusammengeschustert, die China mal als Paradies, als Vorbild, als Land des Schönen und der Vernunft oder als rückständige Hölle darstellte – je nach Gusto und Bedürfnis. Der chinesischstämmige Sinologe Adrian Hsu bezeichnete das deutsche China-Konstrukt einst als „Chinesien“: Ein nicht existentes Land der China-Projektionen. Schon die ersten christlichen Reisenden des 13. und 14. Jahrhunderts zog die Wunschvorstellung vom mythischen, christlichen Königreich im Osten gen China. Nicht nur die Neugier auf ein fremdes Land trieb die Missionare und Gesandten des Papstes, sondern die Angst vor dem Islam und die Hoffnung auf den (nicht existenten) Priesterkönig Johannes, der den Christen gegen die Bedrohung aus dem Orient beistehen sollte. Auch die Jesuiten des 16. und 17. Jahrhunderts verklärten China über alle Maßen. Kein Wunder, schließlich lehnten sie sich theologisch weit aus dem Fenster: Mit der Inkulturationstheorie propagierten sie eine enorme Anpassung an die chinesische Kultur, die wohl kaum zu rechtfertigen gewesen wäre, hätten sie China nicht als ein so über alle Maßen zivilisiertes Land dargestellt. Immerhin muss man den Jesuiten zugutehalten: Zwar waren sie der Übertreibung nicht abgeneigt, dafür aber sachkundig und der Sprache und Schrift mächtig. Den Vatikan konnten sie dennoch nicht überzeugen. Ein Zwiespalt, der letztlich mit dem Ritenstreit endete und das Ende der jesuitischen Missionierung einläutete. Und der China-Kunde. Denn es dauerte mehr als ein Jahrhundert, bis wieder verlässliche Informationen aus China nach Europa sickerten! In Europa hatten die Jesuiten im 17. Jahrhundert mit ihren begeisterten Berichten längst die Zeit der Chinoiserien angestoßen – eine
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naive China-Begeisterung, die Künstler und Architekten mit asiatischen Einflüssen kokettieren ließ: Vom Geschirr bis zur Gartenanlage, von der Papiertapete bis zum Geschirr, alles was aus China kam oder wenigstens danach aussah, war „en vogue“. Ein tieferes Verständnis der chinesischen Kultur freilich ging damit nicht zwingend einher. Man schmückte sich in besseren Kreisen mit der Exotik der vermeintlich chinesischen Dekorationen, ohne sich auf die Geisteswelt des Ostens einzulassen. In der Welt der Intellektuellen stieß China jedoch auf großes Interesse. Reiseberichte wie die Tagebücher des Matteo Ricci wurden in vielen Sprachen und für damalige Verhältnisse hohen Auflagen gedruckt52. So stand der Philosoph und Gelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) in regem Kontakt mit den Jesuiten und zeigte sich überaus begeistert von der chinesischen Kultur, der Weisheit ihrer Herrscher und der allgemein aufgeklärten Haltung in Staats- und Religionsfragen. Obwohl er selbst nie einen Fuß nach Asien setzte, verfasste er 1697 mit dem Werk Novissima Sinica, einer Sammlung von Briefen und Abhandlungen, eine wahre Lobschrift auf China: „Aber wer hätte einst geglaubt, dass es auf dem Erdkreis ein Volk gibt, das uns, die wir doch nach unserer Meinung so ganz und gar zu allen feinen Sitten erzogen sind, gleichwohl in den Regeln eines noch kultivierteren Lebens übertrifft? (...) so sind wir aber sicherlich unterlegen – was zu bekennen ich mich beinahe schäme – auf dem Gebiet der praktischen Philosophie, ich meine: in den Lehren der Ethik und Politik, die auf das Leben und die täglichen Gewohnheiten der Menschen selbst ausgerichtet sind. Es ist nämlich mit Worten nicht zu beschreiben, wie sinnreich bei den Chinesen – über die Gesetze anderer Völker hinaus – alles angelegt ist auf den öffentlichen Frieden hin und auf die Ordnung des Zusammenlebens der Menschen, damit sie sich selbst so wenig Unannehmlichkeiten wie möglich verursachen.“53 China schien das Reich der Vernunft, das den Absolutismus längst hinter sich gelassen hatte. Wie weit mag hier der Wunsch Vater
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des Gedankens gewesen sein, ein real existierender Staat möge den Beweis antreten, dass eine solche Entwicklung möglich ist? Interessanterweise schien Leibniz, bei aller positiven Haltung, gleichzeitig ähnliche Ängste gegenüber China zu spüren, wie sie heute auch die Kooperationspartner des europäisch-chinesischen Joint Ventures erfahren: „...wenn die Chinesen unsere Wissenschaft gelernt haben, jagen sie eines Tages die Europäer fort, so dass es mir scheint, dass keine Gelegenheit versäumt werden sollte, sich durch einen Austausch ihrer und unserer Kenntnisse zu entschädigen.“54 Auch der französische Philosoph Voltaire (1694 – 1778) zeigte sich ähnlich begeistert von China, sah er doch hier den Beweis, dass Feudalherrschaft und Absolutismus überwunden werden können. Wie viele andere Denker seiner Zeit reiste er natürlich nie selbst nach China, sondern ließ sich von der Literatur inspirieren. Vor allem die „Description de la Chine“ des Jesuiten Jean Baptiste Du Halde von 1735 war eine seiner wichtigsten Quellen, die ihn wohl überzeugt haben muss. Immerhin soll in seinem Arbeitszimmer ein Porträt von Konfuzius gehangen haben. Sein China-Bild jedenfalls lässt sich kurz und knapp mit dem Wort „paradiesisch“ zusammenfassen: Die Verfassung ihres Reiches ist die beste der Welt und die einzige, die auf väterlicher Macht basiert; die einzige, in der ein Provinzgouverneur bestraft wird, wenn er am Ende seiner Amtszeit nicht das Wohlwollen des Volkes hatte: die einzige, die Tugend belohnt, während sich überall sonst die Gesetze darauf beschränken, Verbrechen zu bestrafen: die einzige die ihre Eroberer dazu brachte, ihre Gesetze zu übernehmen, während wir noch den Sitten der Burgunder, Franken und Goten unterworfen sind, die uns bezwangen (...) Um es noch einmal zu sagen, die Religion der Gebildeten ist bewundernswert. Kein Aberglaube, keine absurden Legenden, keine
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Dogmen, die den Verstand und die Natur beleidigen und denen die Bonzen tausend verschiedene Bedeutungen geben, weil sie im Grunde keine haben.55 Noch ein wenig weiter lehnte sich der französische Mediziner und Wirtschaftler François Quesnay (1694 – 1774) aus dem Fenster. In seinem hundertseitigen Werk „Despotismus in China“ aus dem Jahr 1767 – das den Begriff Despotismus durchaus positiv verwendet – wird China gleich als Modell für die ganze Welt vorgestellt. Ein Modell voller Fehler und Missverständnisse und Halbwissen, wie gewohnt. So unterstellt Quesnay dem Kaiser eine überaus moralische Rolle, der wohl kaum ein chinesischer Regent je gerecht wurde: Durch unsere Verbindungen zu China ist mir indes aufgefallen, dass die Regierung auf weisen und unumstößlichen Gesetzen basiert, über deren Einhaltung der Kaiser wacht und die er auch selbst genauestens einhält....56 Es gibt wahrscheinlich kein anderes Land, wo man so frei den Herrscher zurechtweist, wie in China.57 (...) man muss zu dem Schluss kommen, dass das Unwissen die wichtigste Ursache verhängnisvollster Regierungsfehler, der Ruin ganzer Nationen und der Dekadenz vieler Reiche ist, wovor China immer und bestimmt von den gebildeten Ministern bewahrt wurde, die die Oberschicht des Landes bilden und die darauf achten, ihr Volk mit dem Licht der Vernunft zu leiten...58 Auch in Sachen Erziehung scheint Quesnay wenig zu wissen: Das wichtigste Gesetz müsste eines sein, das anordnet, die Wissenschaft zu lernen, wie man Gesetze erschafft. Die wichtigste politische Einrichtung der Regierung wäre die Errichtung von Schulen, um diese Wissenschaft zu lehren. Überall, außer in China, haben alle Königreiche die Notwendigkeit solcher Einrichtungen, die die Grundlage der Regierung sind, missachtet.59
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Nun – alles zutreffend, wenn man das stupide Auswendiglernen von konfuzianischen Klassikern als Unterricht in Politik werten will. Hin und wieder zeigt sich Quesnay einfach nur überraschend naiv: Die Macht der Herren über die Sklaven beschränkt sich auf normale Dienstpflichten und sie behandeln sie wie ihre Kinder, deren Anhänglichkeit an ihre Besitzer unverletzlich ist. Wenn ein Sklave aus eigener Kraft zu Reichtum kommt, darf ihm der Herr die Güter nicht wegnehmen.60 oder Nur der Verdienst und das Können eines Menschen führen dazu, dass er einen bestimmten Dienstrang erreicht. Die Kinder des Premierministers des Reiches müssen genauso ihr Glück schmieden und werden nicht bevorzugt. Von den frühen Legenden über die weisen Herrscher Shennong, Fuxi und Huangdi, die den Menschen im Handumdrehen quasi alle Errungenschaften der Zivilisation gebracht haben sollen, bis zur historischen Herleitung ägyptischer Ursprünge der chinesischen Zivilisation61 oder dem Idealbild des weisen, konfuzianischen Herrschers, saß Quesnay so ziemlich jedem Mythos auf, den China zu bieten hat. Das macht seine Texte nicht schlechter als Dokumente über die Hoffnungen und Entwicklungen des Westens, kaum aber zur Wissensquelle über China selbst. Die Zeit der Sinophilie ging Mitte des 18. Jahrhunderts ohnehin dem Ende entgegen. Mit Baron de Montesquieu (1689 – 1755), der sich den despotischen Aspekten der chinesischen Gesellschaft bzw. der Regierungsform widmete – und diesmal ist der Despotismus ganz sicher nicht positiv besetzt – wandelte sich China nicht nur auf einmal in einen Unterdrückerstaat, sondern auch in ein
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wahrhaft kurioses Land, das im „Geist der Gesetze“ immer wieder am Rande erwähnt wird: „In China sind die Frauen so fruchtbar und die Menschen vermehren sich so sehr, dass der Ackerboden, egal, wie intensiv man ihn bebaut, kaum ausreicht, die Menschen zu ernähren“.62 heißt es da. Genauso wie: „Wie in allen Ländern, wo Reis angebaut wird, kommt es oft zu Hungersnöten“63, was wohl weniger über China aussagt, als über Montesquieus mangelnde Expertise als Agrarwissenschaftler. Alles in allem ist Montesquieus Urteil über China vernichtend: „Eigenartigerweise sind die Chinesen, deren Leben komplett von den Riten bestimmt wird, dennoch das schurkenhafteste Volk der Erde“.64 Kein Wunder, dass er zu dem Schluss kommt, China müsse für immer im Gefängnis des Despotismus schmoren. Mit dem Beginn des Imperialismus galt China mit einem Male als unzivilisiert, rückständig und seine Bewohner als moralisch minderwertig. Wie schon zuvor, waren Fachwissen oder gar die Fähigkeit, chinesische Quellen zu lesen, keine Grundvoraussetzung, um sich an der China-Diskussion zu beteiligen: Der Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) hatte für die chinesischen Denker allemal wenig übrig: „Wir haben Unterredungen von Konfuzius mit seinen Schülern, es ist populäre Moral darin; diese finden wir allenthalben, in jedem Volke, und besser; es ist nichts Ausgezeichnetes. Konfuzius ist praktischer Weltweiser; spekulative Philosophie findet sich durchaus nicht bei ihm, nur gute, tüchtige, moralische Lehren, worin wir aber nichts Besonderes gewinnen können. Ciceros „De officiis“, ein moralisches Predigtbuch, gibt uns mehr und Besseres als alle Bücher des Konfutse. Aus seinen Originalwerken kann
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man das Urteil fällen, dass es für den Ruhm des Konfutse besser gewesen wäre, wenn sie nicht übersetzt worden wären.65 Dass sich Hegel die Originalwerke schon aus sprachlichen Gründen gar nicht erschlossen hatten – sie sind in klassischem Chinesisch geschrieben, das auch chinesische Muttersprachler nicht einfach lesen können – erwähnt er jedoch nicht. Auch für die anderen Werke der chinesischen Philosophie hatte er wenig gute Worte übrig: „Das alte Buch Yi-king (Buch der Prinzipien) dient hierbei zur Grundlage; es enthält die Weisheit der Chinesen, und sein Ursprung wird dem Fohi zugeschrieben. Die Erzählung, die von ihm dort vorkommt, geht ganz ins Mythologische und Fabelhafte, ist sinnlos. [...] Die allgemeine Abstraktion geht also bei den Chinesen fort zum Konkreten, obgleich nur nach äußerlicher Ordnung und ohne etwas Sinniges zu enthalten. Dies ist die Grundlage aller chinesischen Weisheit und allen chinesischen Studiums.“ Die klare Botschaft Hegels: Die Chinesen sind ein gedankenloses Volk. Hinzufügen muss man, dass Hegel wohl den einen oder anderen Aspekt der chinesischen Religionen nicht verstanden hat: Seine Auffassung, „von Lao-tse selbst sagen seine Anhänger, er sei Buddha, der als Mensch immerfort existierende Gott geworden“, ist einfach nur falsch. Richtig spektakulär werden die China-Texte mit Johann Gottfried von Herder (1744 – 1803), obwohl der Philosoph mit einem durchaus hehren Anliegen antritt: „So wäre es nicht übel, wenn sich endlich ein Mittelweg zwischen dem betriebenen Lobe und Tadel, wahrscheinlich die richtige Straße der Wahrheit auffinden ließe“.66 So lässt er im dritten Band seiner „Ideen zur Philosophie der Menschheit“ verlauten, nur um auf den folgenden Seiten umso heftiger auf die chinesische Kultur einzuprügeln, die, man mag
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gar nicht oft genug daran erinnern, auch ihm nur aus zweiter oder dritter Hand annähernd bekannt war: „So wenig nun ein Mensch seinen Genius, d. h. seine angeborene Stammart und Complexion zu ändern vermag: So wenig konnte auch jede künstliche Einrichtung, wenn sie gleich Jahrtausende lang währte, dies nordöstliche Mongolenvolk seine Naturbildung verleugnen. Es ist auf diese Stelle der Erdkugel hingepflanzt und wie die Magnetnadel in China nicht die europäische Abweichung hat: So konnten aus diesem Menschenstamme in dieser Region auch niemals Griechen oder Römer werden. Chinesen waren und blieben sie, ein Volksstamm mit kleinen Augen, einer stumpfen Nase, platter Stirn, wenig Bart, großen Ohren und einem dicken Bauch von der Natur begabet.“67 Auch die Sprache, derer Herder natürlich kein bisschen mächtig war, kommt nicht gerade gut weg: „Welch ein Mangel von Erfindungskraft im Großen und welche unselige Feinheit in Kleinigkeiten gehörte dazu, dieser Sprache aus einigen rohen Hieroglyphen die unendliche Menge von achtzigtausend zusammengesetzten Charakteren zu erfinden“. Sein allgemeines Urteil über die chinesische Kultur ist daher, wenig verwunderlich, vernichtend: „Es herrscht in alle diesem so wenig Geschmack an wahrem Naturverhältnis, so wenig Gefühl von innerer Ruhe, Schönheit und Würde, dass immer nur eine verwahrloste Empfindung auf diesem Gang der politischen Kultur kommen und sich von demselben so durchaus modeln lassen konnte (...). Die Gabe der freien, großen Erfindung in den Wissenschaften scheint ihnen, wie mehreren Nationen dieser Erdecke, die Natur versagt zu haben. Dagegen sie ihren kleinen Augen jenen gewandten Geist, jene listige Betriebsamkeit und Feinheit, jenes Kunsttalent der Nach-
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ahmung in allem, was ihre Habsucht nützlich findet, mit reicher Hand zuteilte.“68 So schmählich und abwertend schildert Herder die ihm unbekannte Kultur, dass man sich fast auf eine rechte Kundgebung der Neuzeit versetzt glaubt. Für die nächsten Jahrzehnte blieb dieser Duktus tonangebend. Unter dem Einfluss des Imperialismus und Kolonialismus blieb das Chinabild im 19. Jahrhundert vorwiegend negativ: Im Opiumkrieg von 1842 und dem Boxerkrieg unterlag China den westlichen Mächten und schien kaum mehr intellektuelle Herausforderungen zu bieten. Anfang des 20. Jahrhunderts geriet China aus europäischer Sicht zunehmend in den Hintergrund: Mit zwei Weltkriegen und einem wirtschaftlichen Zusammenbruch war Europa ausreichend mit sich selbst beschäftigt, um sich noch groß nach Asien zu wenden.
Mao in Mitteleuropa Erst ab Ende der 1960er wurde China in Europa wieder richtig interessant: Unter dem Einfluss der APO, der Studentenbewegung und einer allgemeinen Politisierung der 68er-Revolution schien China auf einmal wieder als Vorbild geeignet: Zumindest die Sache mit der Revolution hatte man dort doch vorzüglich hinbekommen. Während die Kulturrevolution durch das Land tobte, frohlockte die europäische Linke ob des revolutionären, fortschrittlichen Klimas – und ließ sich komplett ins Bockshorn jagen. Manch einem, der einst auf Demonstrationen das Mao-Konterfei in die Höhe reckte, dürfte heute die Verklärung der Kulturrevolution ausnehmend peinlich sein. Denn während in China Abertausende in den Tod getrieben oder bitter erniedrigt wurden, feierten die Intellektuellen Europas den gesellschaftlichen Umbruch in China, wurden auf politischen Veranstaltungen die Mao-Bibeln gleich säckeweise verkauft.
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Wahrscheinlich lässt sich auch dies auf eine recht simple Projektion reduzieren: Während man in Deutschland gegen den Muff unter den Talaren demonstrierte, jagten die Roten Garden sämtliche Autoritätspersonen zum Mistschaufeln in den Schweinestall. Oder Schlimmeres. Nur das wollte damals niemand so recht hören. Es war einfach, die permanente Revolution zu bejubeln, solange man selbst nicht unter ihre Räder geriet. Ironischerweise war es gerade die Generation, die sich mit dem „Wir haben es nicht gewusst“ ihrer Ex-Nazi-Eltern nicht zufriedengeben wollte und nun selbst einem Diktator zujubelte – und nichts von Unterdrückung und Menschenschinderei in China wissen wollte. Dabei gab es durchaus Medienberichte, die darauf hinwiesen, in zahlreichen Pamphleten aber verhöhnt wurden.69 Schon Ende der 1970er kam der nächste Schub der China-Begeisterung: China öffnet sich! Deng Xiaoping und seine neue Wirtschaftspolitik machen mit der Aussicht auf einen neuen riesigen Markt nicht nur die Unternehmer glücklich, sondern auch die Reisenden. China selbst zu erfahren rückt in Reichweite. Mit einem kurzen Beliebtheitstief nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens dauerte die neue Sinophilie immerhin bis ins neue Jahrtausend. Heute hat sich das Blatt abermals grundlegend gewendet. Seit einigen Jahren taucht das wilhelminische Schlagwort von der Gelben Gefahr wieder aus der Versenkung auf. Versteckt natürlich, in Andeutungen. Schlagworte wie „Gelbe Spione“70 lassen keine Zweifel aufkommen: China nimmt den Deutschen die Arbeitsplätze weg, wird den Westen überrollen, bedroht die Welt mit minderwertigen Waren, klaut technische Neuerungen, wo es nur geht, und sowieso sind ja eigentlich alle Chinesen potenzielle Spione. Nun sind auch noch die Rohstoffe dran, wie der Medienrummel um die „Seltenen Erden“ Anfang 2011 suggeriert. Gut, dass wenigstens „Die Zeit“ relativierende Worte findet: Die Hightech-Metalle stammen zwar zu 95 % aus China, dies aber
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nur, weil die anderen Staaten der Welt den umweltschädlichen Abbau dieser Elemente zunehmend gestoppt haben und „Länder wie die USA die Produktion weitgehend eingestellt haben und ihren Bedarf seitdem sehr viel kostengünstiger über China abdecken.“71 Da wollen die bösen Chinesen nicht für den Westen die „Seltenen Erden“ herstellen? Pfui! Zugegeben, ob die Umweltgründe wirklich an erster Stelle stehen, mag man bezweifeln. Ohne jedes Argument für oder wider China zu diskutieren – was sicher den Rahmen eines einzigen Buches sprengen würde – so zeigt dieses kleine Beispiel doch, dass die Diskussion viel mehr Facetten hat, als sich auf den ersten Blick offenbaren. Hin und wieder nehmen die Verschwörungstheorien auch geradezu humoresken Charakter an. Zum Beispiel, wenn die Stimme des Volkes aus dem Internet spricht. So heißt es in einem Leserbrief aus „Die Welt“: „Im Geheimen baut die chinesische Regierung schon längst an einer Super-Armee mit 50–250 Millionen Soldaten. Offiziell sollen es nur 2 Millionen sein derzeit, es geht selbst die USA von real 10–20 Millionen aus, also so viel wie alle NATO-Staaten zusammen, aber an der Art und Weise wie China dies zu verheimlichen versucht merkt man, dass es möglicherweise wesentlich mehr sein können und die Armeestärke vielleicht bald die 100 Millionen Grenze erreicht, einzig der Atomschirm des Westens und andere Materialienschwächen der Ausrüstungen in der Chinesischen Armee halten China derzeit noch zurück“72. Dass diese Behauptungen nicht gerade von Sachwissen getragen werden, ist eine Sache – interessant bleibt der konstante Aspekt, dass, wie immer, gerade all diejenigen, die noch nie einen Fuß nach China gesetzt haben, sich seit Jahrhunderten ganz besonders oft und viel zum Thema China äußern. Die nächste Welle der Sinophilie dürfte wohl noch ein wenig auf sich warten lassen.
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Nur in einem Punkt hält sich die Chinoiserie hartnäckig, unabhängig von allen politischen Strömungen: Wer des Chinesischen mächtig ist, freut sich jeden Sommer aufs Neue über die obskuren chinesischen Tattoos, die sich dem Betrachter in deutschen Freibädern bieten und deren Trägern man oft nur wünschen kann, dass sie die wahre Bedeutung ihres Körperschmucks nie erfahren mögen.
Anmerkungen Anmerkungen 1 Lu, H. Y.; Liu, Z. X.; Wu, N. Q.; Berné, S.; Saito, Y.; Liu, B. Z. & Wang, L.: „Rice domestication and climatic change: phytolith evidence from East China“, Boreas, Vol. 31, 2002, S. 378–385, Oslo. 2 Spektrum der Wissenschaft, Dossier: Welternährung. Dossier 2/97, S. 95–99. Heidelberg, 1997. 3 Global Emotion: www.globalemotion.de 4 http://www.sciencedirect.com/science?_ob=ArticleURL&_udi=B6VRT4X0FH86-5&_user=10&_coverDate=09%2F29%2F2009&_rdoc=1&_ fmt=high&_orig=search&_origin=search&_sort=d&_docanchor=&view =c&_acct=C000050221&_version=1&_urlVersion=0&_userid=10&m d5=afe59a73a6b115faacec22215d993939&searchtype=a 5 www.telegraph.co.uk/news/worldnews/asia/china/8154490/Chinesevillagers-descended-from-Roman-soldiers.html 6 Marco Polo: „Die Wunder der Welt“, München 2003, S. 209–210 7 Ibid., S. 158 8 Ibid., S. 160 9 Ibid., S. 218 10 Ibid., S. 316–317 11 http://www.focus.de/gesundheit/ernaehrung/news/5000-kilometer_ aid_106572.html 12 http://derstandard.at/1263707123360/Neue-EU-Kommission-Barrosos-langer-Marsch 13 http://www.sueddeutsche.de/muenchen/jahre-rot-gruen-in-muenchen-muenchens-langer-marsch-1.21459 14 http://www.linkwerk.com/pub/xmlidp/2000/dsssl-html.html 15 http://www.handelsblatt.com/finanzen/boerse-maerkte/anleihen/ langer-marsch-ins-zinstal/2815006.html 16 Edgar Snow: Roter Stern über China – Mao Tse-tung und die chinesische Revolution. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1974, S. 196 17 Snow, S. 207 18 Sun Shuyun : www.project-syndicate.org/commentary/sun1/
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ANMERKUNGEN
19 Zahlen aus: China-Lexikon, S. 426 20 Sun Shuyun: Maos Langer Marsch – Mythos und Wahrheit. List Verlag Berlin 2009, S. 211 21 Laut CNNIC zählen Chinesische Bürger über sechs Jahre, die mehr als eine Stunde in der Woche im Internet verbringen als Internet-User. 22 http://german.china.org.cn/de-zhengzhi/3.htm 23 http://german.china.org.cn/de-zhengzhi/5.htm 24 http://www.verfassungen.net/rc/verf82-i.htm 25 http://german.china.org.cn/china/Parteischule/node_7107220.htm 26 http://go.worldbank.org/62HINPBR40 27 http://german.china.org.cn/china/2010-11/21/content_21388783. htm 28 http://www.verfassungen.net/rc/verf82-i.htm 29 www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,660054,00.html 30 Originalfrage: „Overall, are you satisfied or dissatisfied with the way things are going in our country today?“ 31 http://pewglobal.org/database/?indicator=3&country=45 32 http://www.transparency.de/Tabellarisches-Ranking.1745.0.html 33 Municipal judicial Bureau 34 http://www.chinadaily.com.cn/china/2011-02/12/content_11996859. htm 35 http://www.npr.org/templates/story/story.php?storyId=128847546 36 http://news.bbc.co.uk/2/hi/8448059.stm 37 White Paper 2010: http://www.chinadaily.com.cn/cndy/2010-12/30/ content_11774079.htm 38 http://www.chinadaily.com.cn/china/2009-07/24/content_8466365. htm 39 http://www.welt.de/debatte/article11931889/Die-Volksrepublik-istein-Reich-ohne-Visionen.html 40 http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,734775,00.html 41 http://www.ftd.de/politik/international/:viele-jobs-unbesetzt-chinasarbeitsmarkt-steht-kopf/50210178.html 42 Mark Leonard, www.prospectmagazine.co.uk/2008/03/chinasnewintelligentsia/ 43 Peter Löscher im Handelsblatt vom 06.07.2010 44 http://www.handelsblatt.com/unternehmen/koepfe/peter-loescher-inkeinem-land-werden-heute-mehr-patente-angemeldet-als-in-china;2612759 45 http://www.heise.de/newsticker/meldung/Rasantes-Patentwachstumin-China-1177664.html
ANMERKUNGEN
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46 http://www.chinadaily.com.cn/cndy/2011-01/26/content_11916839. htm 47 http://www.wipo.int/pressroom/en/articles/2011/article_0004.html 48 http://www.stern.de/wirtschaft/news/patente-china-und-usa-haengen-deutsche-tueftler-ab-1554357.html 49 http://www.wipo.int/pressroom/en/articles/2011/article_0004.html 50 http://www.bpb.de/themen/JBOYIR,0,Religionen_in_China.html 51 Zinzius, China entdecken 52 Poser, Hans: Das Neueste aus China, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2000, S. 12 53 Gottfried Wilhelm Leibniz: Das Neueste von China (1697) Novissima Sinica, Deutsche China-Gesellschaft e. V., Köln 1979, S. 11 54 Poser, Hans: Das Neueste über China, S. 19 55 im Dictionnaire Philosophique 1764, Quelle: Gesammelte Werke im Netz: http://www.voltaire-integral.com/Html/18/chine.htm 56 François Quesnay: Oeuvres économiques complètes et autres textes. Paris 2005, S. 1009 57 Quesnay, S. 1086 58 Quesnay, S. 1031 59 Quesnay, S. 1014 60 Quesnay, S. 1050 61 Quesnay, S. 1039 62 Montesquieu, L’esprit des lois, Paris 1941, S. 98 63 Montesquieu S. 123 64 Montesquieu, S. 310 65 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 141–147. 66 Herder: Ideen zu Philosophie der Menschheit, 3. Teil, Karlsruhe 1790, S. 10 67 Herder, S. 12 68 http://www.textlog.de/5547.html 69 Ein prägnantes Beispiel ist die Voltaire-Flugschrift „China. Der deutschen Presse Märchenland“ von Günter Amendt, in der der Sozialwissenschaftler und damalige Aktivist des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes die negative Berichterstattung über die Kulturrevolution als oberflächlich und verzerrend brandmarkte. 70 Spiegel Nr. 35/2007 71 http://www.zeit.de/wirtschaft/2011-02/china-seltene-Erden 72 Leserbrief zu www.welt.de/politik/ausland/article10508659/WarumChina-die-Zahnbuersten-zaehlen-laesst.html
Register Register A Abgasnorm 130 Ackerbau 53 Ackerfläche 24 ADS-Abkommen 164 Afrika 135 Ahnen 200 Ahnenkult 10, 149, 194, 199, 209 Akupunktur 225 Alphabet 175 Altersversorgung 152 Anpassung 34 APO 238 Arbeitslosigkeit 127 Artenschutz 11, 12, 13 Aufschwung 125, 127 Auslandskontakte 162 Auslandsreisen 159 Auslandsstudium 162 Auswendiglernen 185 Autos 130
Bevölkerungsanstieg 150 Bevölkerungsdruck 10 Bildung 187 Blaue Ameisen 37 Blogs 109, 110 Bodhisattvas 202 Buch der Urkunden 59 Buchdruck 92 Buddhismus 10, 75, 191, 194, 197, 202
C Central Organisation Department 112 Chaos 139, 206 Chen Yun 107 Chili 11 Chinesische Gruppen 163 Chinoiserie 230, 241 Chongqing 227 Christen 191
B Badaling 39 Bärengalle 12 Baron de Montesquieu 234 Beamtenprüfungssystem 176, 207 Beilage 17 Bestechungsgelder 143
D Dämon 195 Danwei-Einheiten 131 Dao 195 Daodejing 195
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REGISTER
Daoismus 10, 191, 194, 195, 198, 199 Daxi-Kultur 21 Demokratie 102, 139, 140 Deng Xiaoping 48, 100, 107, 117, 119, 120, 239 Despotismus 235 Devisenreserven 124 Diagnose 217 Dissidenten 140 Durchschnittsalter 156 Durchschnittslohn 127
E Ein-Kind-Politik 152, 156 Einkommen 127 Einkommensunterschiede 124 Einreise 164 Einzelkinder 149, 152, 153, 154 Emotionen 31, 32 Emotionserkennung 38 Entwicklungshilfe 134 Entwicklungsland 134 Erfindungen 183 Erlitou-Kultur 52 Ethnien 28 Euklid 84 Exportweltmeister 123
F Faktion 116, 117 Fälscherwaren 180 Falun Gong 194 Fengshui 201 Ferdinand Verbiest 84 Ferdinand von Richthofen 75 Feuerwerk 92
Fleisch 9, 12, 16 Flutkatastrophen 64 Forschung und Entwicklung 187, 188, 190 Franziskaner 88 Freizügigkeit 127, 138 Fremdherrscher 57 Frosch 16 Fünf Tugenden 206
G Geburtenkontrolle 157 Geburtenpolitik 151 Gefühle 32, 34 Geister 199 Geisterwelt 199 geistiges Eigentum 181 Gelbe Kaiser 52 Gelbe Kultur 65, 68 Gelber Fluss 63, 64, 92 Geld 12 Gemeinschaft 33 Generalsekretär 112 Genreis 24 Georg Wilhelm Friedrich Hegel 235 Geschlechterverhältnis 155 Gesellschaft 33, 206 Gesicht 31 Gestik 36, 37 Gesundheitsversorgung 150 Gesundheitswesen 133 Gini-Koeffizient 124 Götter 197 Gottfried Wilhelm Leibniz 231 Grammatik 175 Great Firewall 48 Große Mauer 41, 46
REGISTER
Großer Sprung 118, 139 Gruppe 29, 33 Guangdong 9 Guanyin 202 Guomindang 103, 104, 106, 108 Gürteltiere 9
H Haier 190 Halde, Jean Baptiste du 232 Handelsvolumen 124 Han-Dynastie 42, 56, 74, 76 Harmonie 34 Hemudu-Kultur 21, 51 Herder, Johann Gottfried von 236 Hirse 19 Hochgeschwindigkeitszüge 130 Hongkong 163 Huanghe 55 Huawei 190 Hukou 127, 128 Human Development Index 147 Hund 14, 15 Hundefleisch 9, 14 Hundehaltung 14 Hunger 10 Hunnen 76 Hutong 40 Hybridreis 24 Hydraulische Gesellschaft 64, 69 Hydraulische Kultur 64
I Individualismus 33 Individualität 37 Individuum 33 Infrastruktur 129
249
Innovation 180 Internet 109 Islam 194
J Jenseits 149 Jesuiten 45, 83, 84, 208 Jiang Kaishek 100, 103 Jiangxi 103 Jiang Zemin 100 Jin-Dynastie 74 Johannes der Priesterkönig 77 Johannes von Marignolli 77 Johannes von Montecorvino 77 Jungsteinzeit 19
K Kaifenger Juden 77 Kampagne gegen Rechtsabweichler 35, 118 Kanton 9, 10, 13, 14, 85 Kantonesen 10 Kartoffel 11 Katzen 9, 15 Kitan 56 Kolonialmächte 139 Kommunistische Partei Chinas (KPCh) 98, 109, 110, 113, 114, 126, 133 Kompass 183 Konferenz von Zunyi 105 Konfuzianismus 182, 185, 191, 205, 207, 210 Konsens 34 Körpersprache 36 Korruption 141, 142, 144, 145, 146
250
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Kotau 74 Krankenkassen 128 Kreativität 180, 184 Kublai Khan 43, 57, 89 Kulis 161, 162 Kulturrevolution 35, 120, 150, 194, 201, 238 Kurzzeichen 176
L Lächeln 30, 31 Lajia 19 Land 132 Landpolitikreform 132 Landwirtschaft 127 Langer Marsch 97, 98, 100, 104 Langzeichen 176 Laozi 195 Legitimation 125 Lenovo 190 Lin Biao 107 Liu Shaoqi 107 logografisch 174 Longshan-Kultur 51, 67 Lord Macartney 85 Löss-Boden 64 Luftverschmutzung 135
M Macartney 86 Maglev 129 Mais 11, 20 Mandat des Himmels 58 Mandschurei 57 Mandschus 44 Manschukuo 47 Mantou 17
Mao-Bibeln 238 Mao Zedong 61, 98, 99, 105, 106, 107, 119, 133 Marco Polo 88, 89, 90, 91, 94, 95 Materialforschung 188 Mauer, s. Große Mauer Mauern 40 Medizin 11 Menschenrechte 148 Michele Ruggieri 83 Millionäre 123 Mimik 29, 30, 36, 37 Ming-Dynastie 43, 44, 78 Minoritäten 53, 151 Missionare 230 Mitbestimmung 139 Mittelschicht 124, 126, 127 Mongolen 43, 44 Moslems 191 Moxibustion 226
N Nanotechnologie 188 Nationaler Rechnungshof 145 Nationaler Volkskongress 110 Neil Armstrong 47 Nestorianer 76, 77 Nirwana 202 Nordfeldzug 103 Nudel 18, 19 Nutzungsrecht 132
O Odorich von Pordenone 77 Offizielle Geschichte 59 Öffnungspolitik 68, 124, 141, 211 Opiumkrieg 61, 139
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Orakelknochen 53, 170 Ost-West-Kontakte 230 Other Race Bias 28
P Papier 183 Paprika 11 Parteikader 112 Parteitag 115, 145 Patente 189, 190 Peiligang-Kultur 51 Peng Dehuai 107 Pengtoushan-Kultur 21 Pew Research Center 140 phonetisch 173 piktophonetisch 173 Pisa-Test 184 Plagiate 180 Politbüro 115 Pro-Kopf-Einkommen 129 Puls 217
Rechtsabweichler 35 Rechtssystem 113 Reform 113 Reformpolitik 162 Regierung 110, 140 Reichtum 126 Reis 17, 20, 21, 22, 23, 24 Reisepass 159 Religion 192 Religiöse Toleranz 193 Rente 131 Renten 128 Rentensystem 157 Rentner 156 Republik 101 Ricci, Matteo 83, 231 Rindfleisch 20 Ritenstreit 230 Rohstoffe 134 Römisches Reich 75 Rote Armee 99, 104, 107 Rote Garden 48 Rubruck, Wilhelm von 77
Q Qi 215 Qi-Energie 196, 201 Qigong 221 Qin-Dynastie 54, 59, 63, 177 Qing-Dynastie 45 Qin Shi Huangdi 42 Quecksilber 219 Quesnay, François 233
R Radikale 171 Randgruppen 33 Ratten 9
S Sanxingdui 63, 65, 67 SARS 12 Säuberungskampagnen 103 Schengen-Abkommen 164 Schienenverkehr 130 Schießpulver 92, 184 Schildkröten 11 Schlange 13, 16 Schoßhunde 13 Schrift 53 Schröpfen 226 Schulbildung 132 Schule des Reinen Landes 202
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Schwein 12 Seehandel 77 Seelen 199 Seidenstraße 77 Seltene Erden 239 Senioren 156 Shang-Dynastie 63, 64, 66, 169 Sicherheit 139 Sichuan 11, 66 Silben 174 Sima Qian 58, 60 Sinophilie 234 Söhne 149 Song 56 Song-Dynastie 77 Soziale Absicherung 133 Sozialer Aufstieg 131 Soziales System 131 Sozialismus 102 Staatspräsident 111, 112 Straßennetz 130 Studienabsolventen 186 Studienplatz 138 Sui-Dynastie 56 Sun Yatsen 101, 103 Süßkartoffel 11 Suzhou 93 Symbole 174
Tiere töten 10 Tierhaltung 14 Tiger 11, 12, 16 Tongmenhui 101 Traditionelle Chinesische Medizin 213 Tributsystem 74 Tuina 226
U Umweltpolitik 135 UNESCO Weltkultur- und Naturerbestätten 48, 68 Universitätszugangsprüfung 185 Unsterblichkeit 199 Untergrundkirchen 194 Urheberrechtsgesetz 181 Urlaub 163
V Verfassung 113 Verkündigungsreligionen 192 Vetternwirtschaft 146 Vier Modernisierungen 162 Volksreligion 191 Volkszeitung 109 Voltaire 232
T Taiji 221 Taiping-Rebellion 161 Tang-Dynastie 43, 55 Tattoos 241 TCM, s. Traditionelle Chinesische Medizin Tee 92 Teigtaschen 18
W Wachstum 124, 126 Wahlrecht 140 Wanderarbeiter 127, 128, 131, 132 Warlords 48 Wei-Dynastie 43 Weizen 17, 19
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Wen Jiabao 134 Wenyan 176 Wiege der chinesischen Kultur 69 Wildtiere 10 Wirtschaftliche Entwicklung 126 Wirtschaftswachstum 130 Wissenschaft und Forschung 187 Wohlstand 139 Wunder der Welt 87
X Xia-Dynastie 51, 52 Xiongnu 42 Xu Guangqi 84
Y Yan‘an 107 Yang 196, 215 Yang Liwei 48 Yang Shangkun 107 Yangshao 51
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Yangzi-Staudamm 227 Yin 196, 215 Yongle 80 Yuan Longping 24 Yuan Shikai 101, 102
Z Zahlensymbolik 200 Zeichen 169, 175, 176 Zentrale Disziplinarkommission 143, 145 Zentrale Militärkommission 113, 120 Zentralkomitee 115 Zheng He 79, 80, 81 Zhou-Dynastie 58, 205 Zhou Enlai 107 Zhuangzi 196 Zhu De 103, 107 Zibetkatze 12 Zoll 179 ZTE 190 Zunyi 105