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German Pages 258 Year 2023
Ralf von Appen, Peter Klose (Hg.) »All the Things You Are« – Die materielle Kultur populärer Musik
Beiträge zur Popularmusikforschung | Band 47
Editorial Board Michael Ahlers, Christa Bruckner-Haring, Sarah Chaker, Martin Cloonan, André Doehring, Mario Dunkel, Dietmar Elflein, Magdalena Fürnkranz, Jan Herbst, Barbara Hornberger, Jonas Menze, Rajko Muršič, Martin Pfleiderer, Michael Rappe, Helmut Rösing, Nick Ruth, Melanie Schiller, Mechthild von Schoenebeck, Holger Schramm, Alfred Smudits, Wolf-Georg Zaddach
Ralf von Appen ist Professor für Theorie und Geschichte der Popularmusik an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien. Seine Schwerpunkte sind Analyse, Ästhetik und Geschichte populärer Musiken. Peter Klose ist Lehrer für Musik und Mathematik in Dortmund. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Praxeologie von Musik und Musikunterricht.
Ralf von Appen, Peter Klose (Hg.)
»All the Things You Are« – Die materielle Kultur populärer Musik
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Indexiert in EBSCOhost-Datenbanken. © 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: »Needle & Groove«, Peter Klose, Dortmund 2023; nach einer Idee von Ralf von Appen und Linus von Appen Lektorat & Korrektorat: Ralf von Appen und Peter Klose Satz: Mira Perusich, Wien Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-7010-3 PDF-ISBN 978-3-8394-7010-7 https://doi.org/10.14361/9783839470107 Buchreihen-ISSN: 0943-9242 Buchreihen-eISSN: 2567-3351 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
INHALT Editorial Ralf von Appen und Peter Klose | 7 Klangliche Materialität(en) von Musik — Versuch einer So(u)ndierung in den Popular Music Studies. Ein Forum. Anne Delle, Alan Fabian, José Gálvez, Lorenz Gilli, Steffen Just, Christopher Klauke, Veronika Muchitsch| 13 Das Phänomen Oberlandlerkappelle. Animation zum Konsum in Festzelt und Vergnügungsstätte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Merle Greiser | 33 Der Modus des Bierzelts. Zur Sozio-Materialität eines vernachlässigten Raumes und seiner populären Musiken André Doehring und Kai Ginkel | 57 Punk, Rock, Mode. Subkulturelle Totenkopfmotive und militärhistorische Verflechtungen Adrian Ruda | 81 Anatolian Pop Music: ›Rurban‹ Images of a Period Cornelia Lund, Holger Lund, Berrin Yanıkkaya, Oliver Zöllner | 111 Evoking and Documenting the London Lesbian Club Scene of the 1980s and 1990s through Club Flyers and Associated Ephemera Katherine Griffiths | 139 Von ›besonderen‹ Dingen erzählen. Selbst- und Weltdeutungen in den Handlungsfeldern Herstellung, Vertrieb und Kuration von Musikwiedergabegeräten Laura Marie Steinhaus und Christofer Jost | 159
Speicher der Objekte. Hintergründe und Sammlungsprofile der Archive für Jazz und Populäre Musik in Deutschland Benjamin Burkhart| 183 Boutique and Beyond. An Explorative Netnography of German (Guitar) Effect Pedal Forums Alan van Keeken| 2 0 5 »Geschichte spüren«. Körperlich-materielle Kollisionen und individualisierte Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg im HipHop-Track »Stolpersteine« von Der Reimteufel Thomas Sebastian Köhn | 2 2 5 Zu den Autor*innen | 251
EDITORIAL »You know that we are living in a material world And I am a material girl« (Madonna 1984). Madonnas Bekenntnis zum Materiellen aus dem Jahr 1984 liefert mehr als nur ein so nahe liegendes wie billiges Einstiegszitat. Denn parallel zum neoliberal turn der Reagan- und Thatcher-Zeit, auf den Madonna sich in ihren Lyrics womöglich ironisch bezieht, lässt sich ihr claim auch bezogen auf die Wissenschaftsgeschichte durchaus als auf der Höhe der Zeit lesen. In den 1980er Jahren setzte nämlich ausgehend von Daniel Millers Studien zu Konsumverhalten und -objekten (1987, 2008) und Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 1987, 2002) in den Kulturwissenschaften ein material turn ein (vgl. Bräunlein 2012: 35f.). Der Dualismus von Subjekt und Objekt, von Geist und Materie wurde radikal hinterfragt und der Blick darauf gerichtet, wie stark die konkrete Beschaffenheit von Dingen und Artefakten unsere kulturelle Praxis prägt: »Materielle Kultur ist demnach keine Größe, die es zusätzlich zu berücksichtigen gilt, sondern sozio-kulturelle Beziehungen konstituieren sich im Kern über sie« (ebd.: 37). Wirklichkeit, so der epistemologische Impuls, lässt sich demnach nicht nur über die sinnhaft-mentalen Konstruktionsleistungen von Menschen erfassen, sondern besitzt eine irreduzible materielle Dimension (vgl. Sterne 2014: 121f.). Dass dieser Ansatz auch für das Verständnis populärer Musikkulturen gilt, dafür haben die in den 1980er Jahren noch jungen Popular Music Studies früh Sensibilität geschaffen. Insbesondere jener Zweig, der auf die Pionierarbeit der Cultural Studies zurückgeht, lehrt uns, das emanzipatorische Potential in solchen Kulturen zu sehen. Damals schaute man idealisierend auf den subkulturellen Umgang mit Produkten der Kulturindustrie: Hebdige (1979) setzt dem Narrativ von der übermächtigen Kulturindustrie die Selbstermächtigung der Konsument*innen entgegen, indem er zeigt, wie so profane Alltagsgegenstände wie Sicherheitsnadeln im Rahmen jugendkultureller Szenen eigenwillige Umnutzungen und Umdeutungen erfahren. Überhaupt spielen die Dinge in der Geschichte der populären Musik und damit auch in ihrer Erforschung früh eine wichtige Rolle, da Musik-Rezeption und die mit ihr verbundenen
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EDITORIAL Praktiken nicht zuletzt um Medien der Schallaufzeichnung und -wiedergabe kreisen. Doch wendet schon Paul Willis in Profane Culture zu den von ihm beforschten Motorrad-Rockern ein: »Das Motorrad spielt seine Rolle nicht in einer wie immer gearteten, sondern in einer von Menschen sinnhaft konstruierten Welt« (Willis 1981: 87, Herv. i. Orig.). Auch wenn seine vorhergehenden Analysen die körperliche Erfahrung des Motorradfahrens und damit die materiellen Gegebenheiten der Maschine in den Blick nehmen, liegt sein Fokus auf der »expressive[n] Funktion« auf Grundlage der »kulturelle[n] Bedeutung« (ebd.: 88, Herv. i. Orig.). Obwohl also die Popular Music Studies in der Tradition der Cultural Studies der technologischen Entwicklung musikbezogener Kultur Rechnung tragen, fokussieren sie dennoch primär die ihnen zugewiesene symbolische Bedeutung und weniger die handfeste Materialität der Träger und Mittler. Umgekehrt würde es aber auch zu kurz greifen, Materialität positivistisch nur auf die physikalische Beschaffenheit der Gegenstände zu reduzieren, also auf das, ›aus dem sie sind‹, ihre vermeintlich natürliche Stofflichkeit (vgl. Schatzki 2010: 126). Manfred Lueger und Ulrike Froschauer definieren als Artefakte im engeren Sinn Objekte, »die in der materialen Welt als Gegenstände verankert sind, die durch menschliche Eingriffe erzeugt, gehandhabt, modifiziert oder verwandelt wurden und werden« (Lueger/Froschauer 2018: 11). Sie sind damit nicht nur »Externalisierungen menschlichen Handelns« (ebd.), sondern begegnen »den Menschen als ihnen äußerlich« (ebd.). Sie ermöglichen also eine Alteritätserfahrung, für die die physikalisch-materielle Beschaffenheit konstitutiv ist, aber ebenso auch die vorgängig schon bestehende Integration in einen sozialen Kontext. Damit erfüllen Artefakte ihre Rolle als Träger von Kultur. Sie sind nicht nur verdinglichter Sinn, sondern werden qua ihrer kulturellen Prägung zu Auslösern, Mitspielern, manchmal aber auch Hemmnissen oder Herausforderungen bei Praxisvollzügen. Gerade für die Beschäftigung mit Musik stellt sich zusätzlich noch die Frage nach den eigentlich immateriellen Klängen als einem Material der Musik. Auch hier wäre die schlichte Gleichsetzung etwa mit dem physikalisch Messbaren ein Kurzschluss. So lehnte Theodor W. Adorno eine »physikalistische« Interpretation des Materialbegriffs ab und betonte die Dialektik von Geist und Material: »Wohl ist dem Tonmaterial an sich oder selbst dem durch das System der Temperatur filtrierten keineswegs ontologisches Eigenrecht zuzuschreiben […]. Die Forderungen, die vom Material ans Subjekt ergehen, rühren vielmehr davon her, daß das ›Material‹ selber sedimentierter Geist ist, ein gesellschaftlich, durchs Bewußtsein von Menschen hindurch Präformiertes ist. Als ihrer selbst
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EDITORIAL vergessene, vormalige Subjektivität hat solcher objektive Geist des Materials seine eigenen Bewegungsgesetze« (Adorno 2003: 39). Das Material und das Materielle sind also nicht als dem Sinnhaften gegenübergestellt oder als ihm äußerlich zu betrachten. Materialität ist eine Dimension des Sinns (und umgekehrt), denn erst auf Grundlage ihrer sinnlich erfahrbaren Stofflichkeit bieten die Dinge sich konkreter Sinnzuweisung an. Das gilt ebenso für Klänge, die nicht einfach als arbiträre Klangzeichen für beliebige kulturelle Codes benutzbar sind, sondern die in ihrer räumlich situierten und von den Hörenden relational erfahrenen Klanglichkeit ein vorgeformtes Sinnpotential anbieten, ohne nur eine einzige Lesart zu determinieren. Insgesamt ergibt sich daraus für die Popular Music Studies viel Potential, die materielle Beschaffenheit ihrer Objekte und Sinnträger als solche sowie deren Affordanzen und Effekte zu berücksichtigen. Die Kulturanthropologie, die sich schon lange mit Artefakten wie Alltagsgegenständen und Mode sowie mit ihrer Musealisierung befasst, liefert hier wertvolle Anregungen. Die Jahrestagung der Gesellschaft für Popularmusikforschung des Jahres 2021 fand daher an der TU Dortmund statt. Das gastgebende Seminar für Kulturanthropologie des Textilen ermöglichte Begegnungen von Forschenden unterschiedlicher Disziplinen, für die es in ihrem Interesse für Alltags- und Popkultur eine große Schnittmenge an Gegenständen, Fragestellungen und Methoden zu entdecken gab und gibt. An dieser Stelle sei deshalb besonders Viola Hofmann für die Zusammenarbeit bei der Ausrichtung und Organisation der Tagung sehr herzlich gedankt! Leider konnte sie im Anschluss nicht an der Herausgabe dieses Tagungsbandes mitwirken. Die aus dieser Tagung hervorgegangenen Artikel dieses Bandes zeigen die große Breite möglicher Zugänge zur Materialität popkultureller Phänomene auf. Verbindendes Element ist dabei die gesteigerte Sensibilität für die (ästhetisch wirksame) Beschaffenheit der je involvierten Artefakte. Dass jeder Vollzug einer musikalischen Praxis stets an einen spezifischen Ort und dessen materielle Räumlichkeit gebunden ist, die die Rezeption wesentlich beeinflusst, zeigen Merle Greiser bzw. André Doehring und Kai Ginkel in ihren Texten zum Fest- bzw. Bierzelt als Ort der Musikrezeption — einmal aus historischer, einmal aus zeitgenössischer Perspektive. Für die historische Perspektive, aber auch für Identitätskonstruktionen, die sich auf Vergangenes stützen, sind Praktiken des Sammelns und Archivierens zentral: So nimmt Katherine Griffiths eine auf materielle Spuren gestützte Rekonstruktion der lesbischen Clubszene im London der 1980er und 90er Jahre vor, während Laura Marie Steinhaus und Christofer Jost bzw. Benjamin Burkhart in ihren Beiträgen je verschiedenen Praktiken des Kuratierens, Sammelns und Archivierens von Musikwiedergabegeräten, Tonträgern und vielen weiteren Objekten
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EDITORIAL populärer Musikkulturen nachgehen. Alan van Keeken zeigt, wie sich unter E-Gitarrist*innen über den Gebrauch unterschiedlichster Effektpedale »Artefaktgemeinschaften« bilden. Musikalische Sounds und Artefakte sind auf verschiedene Weisen aufeinander bezogen; sie werden vor allem im festen Verbund wirkmächtig. Dieser Verbindung gehen die übrigen Beiträge des Bandes nach: Cornelia Lund, Holger Lund, Berrin Yanıkkaya und Oliver Zöllner zeigen auf, wie die nicht zuletzt modische Inszenierung auf Bühne und Plattencover sowie in Musikzeitschriften ein Bild anatolischer Musik und Musiker*innen konstituiert. Adrian Ruda dokumentiert Herkunft und Gebrauch des in mehreren musikalischen Subkulturen nicht wegzudenkenden Totenkopfs, während Thomas Köhn die Verbindung von HipHop und Erinnerungskultur durch die textliche, visuelle und musikalische Einbettung von »Stolpersteinen« analysiert. Einleitend aber wird ein neues Format erprobt: Anne Delle, Alan Fabian, José Gálvez, Lorenz Gilli, Steffen Just, Christopher Klauke und Veronika Muchitsch widmen sich in einem gemeinsamen »Forum« der Frage nach der Materialität des Klangs aus Perspektive der Sound Studies. Ihre Gegenüberstellung sich deutlich unterscheidender Positionen in einer gemeinsamen Text-Sammlung scheint uns ein geeigneter Weg zu sein, mit dem sich ein lebendiger Diskurs zu einem Thema abbilden lässt, für das es gerade noch keine verfestigten Ansätze oder Denkstile gibt. Abschließend sei hier den zahlreichen Unterstützer*innen der Dortmunder Tagung, insbesondere den Mitarbeiter*innen und studentischen Hilfskräften des Seminars für Kulturanthropologie des Textilen der TU Dortmund, noch einmal herzlichst gedankt. Für ihre wichtige ehrenamtliche Arbeit zu danken haben wir auch wie in jedem Jahr den Gutachter*innen des anonymen Peer Review-Verfahrens — die leider, aber selbstverständlich ungenannt bleiben müssen. Wir wünschen eine anregende Lektüre dieser 250 Seiten chlorfrei gebleichten Zellstoffs. Möge die Alterungsbeständigkeit des geistigen Inhalts jener des Trägermaterials in Nichts nachstehen!
Ralf von Appen und Peter Klose Wien und Dortmund im März 2023
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EDITORIAL
Literatur Adorno, Theodor W. (2003). Die Philosophie der neuen Musik. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bräunlein, Peter J. (2012). »Material turn.« In: Dinge des Wissens. Die Sammlungen, Museen und Gärten der Universität Göttingen. Hg. v. Georg-August-Universität Göttingen. Göttingen: Wallstein, S. 30-44. Hebdige, Dick (1979). Subculture: The Meaning of Style. London: Methuen. Latour, Bruno (1987). Science in Action: How to Follow Scientists and Engineers Through Society. Milton Keynes: Open University Press. Latour, Bruno (2002). Die Hoffnung der Pandora: Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt/M: Suhrkamp. Lueger, Manfred / Froschauer, Ulrike (2018). Artefaktanalyse. Grundlagen und Verfahren. Wiesbaden: Springer VS. Miller, Daniel (1987). Material Culture and Mass Consumption. Oxford, New York: Basil Blackwell. Miller, Daniel (2008). »Material Culture.« In: The Sage Handbook of Cultural Analysis. Hg. v. Tony Bennett u. John Frow. London: Sage, S. 271-290. Schatzki, Theodore (2010). »Materiality and Social Life.« In: Nature and Culture 5 (2), S. 123-149. Sterne, Jonathan (2014). »›What Do We Want?‹ ›Materiality!‹ ›When Do We Want It?‹ ›Now!‹«, in: Media Technologies: Essays on Communication, Materiality, and Society. Hg. v. Tarleton Gillespie, Pablo J. Boczkowski u. Kirsten A. Foot. Cambridge: MIT Press, S. 119-128. Willis, Paul (1981). »Profane Culture«. Rocker, Hippies: Subversive Stile der Jugendkultur. Frankfurt/M.: Syndikat.
Diskographie Madonna (1984). »Material Girl« Auf: Like a Virgin. Sire 9 25157-2.
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KLANGLICHE MATERIALITÄT(EN) VON MUSIK — VERSUCH EINER SO(U)NDIERUNG IN DEN POPULAR MUSIC STUDIES. EIN FORUM. Anne Delle, Alan Fabian, José Gálvez, Lorenz Gilli, Steffen Just, Christopher Klauke, Veronika Muchitsch Einleitung Lorenz Gilli, Steffen Just, Christopher Klauke
Innerhalb der internationalen Musikforschung lässt sich seit einigen Jahren in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder ein zum verheißungsvollen buzzword avancierender Begriff finden: Materialität. In Anknüpfung an aktuelle Debatten zum »material turn« (Barad 2012, Bennett 2009, Haraway 2004, Harman 2018, Hoppe/Lemke 2021), in denen Konzepte wie new materialism, post-humanism oder die Agentialität (Barad 2007) und Vibration (Bennett 2009) von Materie proklamiert werden, entwickeln auch musikbezogene Diskurse eine Sensibilität für Fragen der Materialität. Generell wird dabei vorgeschlagen, theoretische und methodische Zugriffe auf musikbezogene Phänomene, Praktiken und Prozesse zu ergründen, die eine Bereicherung etablierter Ansätze in der Musikforschung versprechen. Das verbindende Element dieser Ansätze liegt vor allem am Interesse, eine Alternative zu semiotischen und textualistischen Zugriffen auf technologische, ökologische, kulturelle und gesellschaftliche Phänomene voranzubringen. Der Begriff Materialität bezieht sich in der Musik- und Klangforschung einerseits auf Musikinstrumente, Klangtechnologien und Tonträger (Burkhart et al. 2022, Dolan 2012, Großmann 2008, Körndle/Wolf 2019, Sterne 2003) bzw. »MusikmachDinge« (Fabian/Ismaiel-Wendt 2018) sowie andererseits auf die Materialien bzw. ›Rohstoffe‹, aus welchen diese gefertigt werden (Devine 2019, Roy 2021). Hier liegt der Forschungsfokus auf einem Materialitätsver-
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A. DELLE, A. FABIAN, J. GÁLVEZ, L. GILLI, S. JUST, C. KLAUKE, V. MUCHITSCH ständnis, das auf handfeste bzw. für den Menschen greifbare Dinge oder Gegenstände, bezogen ist. Andere Ansätze betonen darüber hinaus die eigentümliche Qualität von Vibrationen und ihr Potential Körper zu affizieren, was den Materialitätsbegriff auch auf den Mikrobereich von Molekülen oder kleinsten Partikeln ausweitet, also Dinge in den Blick nimmt, die nicht mehr so einfach für den Menschen zu greifen bzw. (hand)habbar sind (Cox 2018, Eidsheim 2015 u. 2019, Goodman 2012, Henriques 2009, Schulze 2018, Thompson 2017, Just 2022). Unabhängig davon, ob hier Musikinstrumente oder Dinge, vibrierende Stoffe oder Moleküle gemeint sind, ist allerdings zu beobachten, dass die verschiedenen Materialitätskonzepte innerhalb der Musikforschung wenig Bezug aufeinander nehmen. Das verbindende Element dieser Ansätze scheint viel eher in einer gemeinsamen Haltung gegenüber bestehenden Forschungstraditionen innerhalb der kulturwissenschaftlich orientierten Musikforschung zu bestehen (James 2019: 87-126), z.B. in der Abgrenzung zu semiotischen, formalistischen oder textualistischen Ansätzen. Diese würden, so postuliert etwa Christoph Cox (2011), den Blick auf Materialität nicht zulassen, da sie Musik und Musikpraktiken auf die (Re-)Konstruktion und (Re-)Präsentation von Sinn und Bedeutung und damit auf ein körper- bzw. materialitätsfernes und idealisiertes Verständnis reduzieren. Hier fallen Ansätze in Anschluss an die Cultural Studies angelsächsischer Prägung besonders auf, die zwar Musik als Medium der Konstruktion und Repräsentation von Identitäten und Subjektformen untersuchen, jedoch zugunsten von sozialen Ordnungen und kulturellen Semantiken die Aspekte klanglicher Materialitäten von Musik nur als zweitrangig oder nachgeordnet behandeln (bspw. bei Bonz 2008, Cohen 1991, Frith 1998, Middleton 1990, Shepherd/Wicke 1997, Tagg 2000, Thornton 1995). Aus einer für klangliche Materialität von Musik sensibilisierten Perspektive sind allerdings gerade konkrete Körper, Technologien und Vibrationen entscheidende Elemente, die Musik zu einem faszinierenden Medium der Identitätsbildung und Subjektivierung machen. Die Musikforschung ist sich dieser Problematik durchaus schon länger bewusst: So finden sich etwa musikanalytische Zugänge, die Körper (Eidsheim 2015 u. 2019) und Technologien (Brøvig-Hanssen/Danielsen 2016) in die Analyse integrieren. Damit lässt sich eine Rückbindung der Musikanalyse an konkrete Materialitäten, wie etwa singende und hörende bzw. empfindende Körper (Müller 2018) oder Verschaltungen von Geräten und medientechnischen Operationen (Pelleter 2020), also an konkrete materielle Elemente, erreichen. In der Perspektive auf klangliche Materialitäten werden Körper und Klangtechnologien zu integralen Bestandteilen der Analyse. So betrachtet Nina Sun Eidsheim (2015) etwa die Gesangsstimme im direkten Bezug auf den Körper und versteht »Singing as Vibrational Practice«. Damit unterbreitet sie den Vorschlag, den Akt des
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KLANGLICHE MATERIALITÄT(EN) VON MUSIK Singens in der Analyse nicht aus dem Körper, der diesen produziert, herauszulösen. Klang soll damit nicht als »external, knowable object«, sondern als »unfolding phenomenon that arises through complex material interactions« (ebd.: 2) verstanden werden. Ähnliches gilt etwa für Technologien, die die spezifische Klanglichkeit von Musikkulturen und ihre jeweiligen »adequate modes of listening« (Stockfeldt 2004) mitprägen. So stellt Jens Gerrit Papenburg fest, dass sich Lautsprecheranlagen, Sound Enhancer und Maxisingles in der Disco- und Clubkultur »als produktive musikanalytische Herausforderung begreifen [lassen]. Sie insistieren, dass sowohl Technologien des Musikhörens als auch die Körperlichkeit der Hörenden in die Musikanalyse miteinzubeziehen sind« (Papenburg 2016: 210). Die Perspektive auf klangliche Materialitäten von Musik lenkt also den Fokus in der Musikanalyse weg vom Text hin zu konkreten Situationen, körperlichen Affekten und Ökologien, die gewissermaßen zum eigentlichen Gegenstand der Analyse werden (Just 2022). Wie hier angeklungen sein soll, lassen sich aus Konzepten klanglicher Materialität aufschlussreiche und neu gelagerte Perspektiven für die Popular Music Studies in puncto Theorie, Methode und Empirie entwickeln. Um diese Konzepte zu ergründen und damit eine Bandbreite an möglichen Zugriffen aufzuzeigen, versammelt dieser Beitrag im Format eines Forums die Stimmen mehrerer Forscher*innen, die sich in ihrer Arbeit mit Klang und Materialität beschäftigen. Das Format des Forums erlaubt es, unterschiedliche Vorschläge zu unterbreiten, die die produktive Heterogenität der diversen Materialitätsbegriffe betonen und gleichzeitig bereits konkrete Forschungsanwendungen aufzeigen können. Ziel dieses Textes ist es daher, explorativ — und an manchen Stellen etwas kontrovers — zu ergründen, welche Phänomene sich als klangliche Materialitäten von Musik für die Popular Music Studies neu perspektivieren lassen.
Sounding Relations: Eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf klangliche Materialität Anne Delle
Die Kulturwissenschaft hat sich als eine Art Meta-Wissenschaft etabliert, die sich Ansätzen und Methodiken unterschiedlicher Forschungsfelder bedient und somit eine interdisziplinäre Prägung aufweist. Genau in diesen Schnittmengen mit anderen Disziplinen liegt auch die Chance, die ich in einer kulturwissenschaftlichen Betrachtung von klanglichen Phänomenen sehe. Mit
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A. DELLE, A. FABIAN, J. GÁLVEZ, L. GILLI, S. JUST, C. KLAUKE, V. MUCHITSCH Hilfe unterschiedlicher Perspektiven könnten die in der Einleitung angesprochenen Leerstellen in Bezug auf klangliche Materialität geschlossen werden. Eine Neubelebung des Materialitätsbegriffs, etwa im Rahmen des new materialisms, forciert nicht nur den Umgang mit den Dingen und ihrer Bedeutung, sondern bezieht sich auch auf immaterielle Prozesse wie Kommunikation, Relationalität oder die Materialität des Sozialen (Barad 2007, Gumbrich/ Pfeiffer/Elsner 1988, Latour 1987, Lemke 2015). Vor diesem Hintergrund liegt mein persönliches Forschungsinteresse in der Frage, wie sich Klang oder Sound auf unsere Haltung zur Welt auswirken können. Dieser Frage liegt die Annahme zu Grunde, dass wir uns als Subjekte die Welt durch und in ihrer Materialität erschließen. Der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) folgend ist der Unterbau dieser Forschung ein materiell-semiotisches Netzwerk aus organischen sowie anorganischen Aktanten. Subjekt- und Objektzuschreibungen sind nicht statisch festgelegt, sondern können in spezifischen Konfigurationen jedes Mal aufs Neue ausgehandelt werden (Callon 1987, Latour 1987, 2005, Law/Mol 2002). Das bedeutet nicht, dass es weder Subjekt noch Objekt gibt, sondern lediglich, dass deren Grenzziehungsprozesse einer Reflexion unterzogen werden. Mit diesen Grenzziehungsprozessen beschäftigt sich Karen Barad, einer Vertreterin des Neuen Materialismus. Sie finden bei Barad innerhalb spezifischer materiell-diskursiver Phänomene statt. Die dort produzierten Subjekt-/Objektzuschreibungen nennt sie »agentieller Schnitt« und stellt ihre Verflechtungen heraus (Barad 2007: 140). Zur Illustration der ANT nutzt Latour das Beispiel des Schließmechanismus einer Tür. Für ein erfolgreiches Schließen einer Tür braucht es die nicht-humane Komponente des Scharniers sowie einen menschlichen Part, den Türsteher (Latour 1996: 65). In diesem komplexer werdenden Gefüge aus Relationen werden zwangsläufig auch ethische Fragen nach Verantwortung und Handlungsmacht laut. Wichtig hierbei ist die Prämisse, Wissen nicht als gegeben anzusehen, sondern die Mechanismen zu untersuchen, die dieses Wissen definieren. Einige relevante Fragen in diesem Diskurs sind: Wer trägt wann Verantwortung? Wem oder was wird Handlungsmacht zugestanden? Was ist ein Objekt, was ein Subjekt? Welche ethischen oder moralischen Verpflichtungen sind diesen Zuschreibungen inhärent? Der Grundgedanke der ANT, also das Einräumen von Handlungsmacht für nicht-menschliche Entitäten, die auf ein Netzwerk einwirken können, lässt sich gut mit Klangtheorien zusammenbringen. Mit dem in den Popular Music Studies bereits diskutierten Begriff des ›Sonischen‹ (Ernst 2015, Wicke 2008) wird die materielle Dimension des Schalls mit einer kulturwissenschaftlichen verbunden, die das hörende Subjekt mit einschließt und genuin an den Vor-
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KLANGLICHE MATERIALITÄT(EN) VON MUSIK gang der Wahrnehmung geknüpft ist. Klang kann also die Position eines aktiven Aktanten einnehmen und über den Weg des Hörens auf das Subjekt einwirken. So hat Klang die Möglichkeit sich auf eine Haltung zur Welt auszuwirken, indem er auf das Vorhandensein von etwas hinweist, »dass sich der Einordnung, dem Verständnis, entzieht« (Bonz 2015: 4). Julian Henriques skizziert diese Beobachtung am Beispiel der jamaikanischen Soundsystem Kultur wie folgt: Klang ist für ihn »a process or event, not a coded representation but medium, not a thought but a feeling, often independent of conscious reflection« (Henriques 2009: xvii). Dabei betont Henriques auch im Sinne der ANT die Verbindungen und Beziehungen zwischen einzelnen Entitäten, die im Entstehen begriffen sind und spezifische Zusammensetzungen annehmen können (Henriques 2009: 248). Die inhärente Verbindung zur Wahrnehmung und das Klangereignis als temporales Phänomen legen nahe, diesem Etwas in konkreten Beispielen auf die Spur zu kommen. Am Beispiel einer Installation soll dieser abstrakte Gedanke verdeutlicht werden. Die Ausstellung Berl-Berl beschäftigt sich mit der Vergangenheit Berlins als Sumpflandschaft. Mit großformatigen Screens und Speakern wurde von Juli bis September 2021 die Halle am Berghain in Berlin bespielt (Enderby 2021). Der Künstler Jakob Kudsk Steensen hat mit Tonaufnahmen und digitalen Präparaten aus dem Archiv des Naturkundemuseums sowie eigens aufgenommenen Sound- und Videoaufnahmen aus noch bestehenden Sumpfgebieten um Berlin eine digitale Welt geschaffen. Die Screens gewähren den Besucher*innen Einblicke in die sich kontinuierliche verändernde Welt. In Zusammenarbeit mit (Spatial) Sound-Designern wurde eine immersive Welt geschaffen, die neben visuellen Bildern aus einer breit angelegten Soundscape mit ortsspezifischen Soundzonen besteht. Ziel der Installation ist es, die Besucher*innen dazu anzuregen, ihre Rolle in unserem Ökosystem neu zu bewerten (Enderby 2021). Diese Sumpflandschaft gibt es so nicht mehr. Laute ausgestorbener Tierarten mischen sich mit Wasserrauschen aus dem Spreewald und ergeben ein fiktionales, relationales Netzwerk. Diese immersive Sumpfwelt stellt ein alternatives Gefüge aus miteinander verwobenen Lebewesen, Klängen und Umwelt dar, das sich in das herkömmliche Regime der Wahrnehmung des*der Besucher*in schiebt. Dieses Aufeinandertreffen zweier Welten und Wahrnehmungsmodi macht auf etwas aufmerksam, das den*die Besucher*in bewegt. Das vorherrschende Regime der Wahrnehmung wird in Frage gestellt und es kommt zu einem Bruch. Helmi Järviluoma hat im Rahmen des World Soundscape Projects zur Veränderung klanglicher Umwelten geforscht und daraus die produktiven Möglichkeiten von Erinnerungen abgeleitet. Durch die Anwesenheit jener verklungenen Welt, die in die bestehende Ordnung hineinwirkt,
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A. DELLE, A. FABIAN, J. GÁLVEZ, L. GILLI, S. JUST, C. KLAUKE, V. MUCHITSCH kann es laut Järviluoma zu einer »Verwandlung« des Subjekts kommen (Järviluoma/Kytö/Uimonen 2009). Klang kann eine sinnliche Auseinandersetzung mit Raum und Zeit forcieren, die zu einer Präsenz und Verbundenheit in und mit der Umgebung führt (Barclay 2019: 154). Mit dem Format der immersiven Installation wird genau diese Wirkung angestrebt. Über einen hörenden Zugang zur Welt versucht die Ausstellung die Haltung der Besucher*innen gegenüber einem Ökosystem zu transformieren. Der Sumpf und der Klang sind aktive Aktanten, die Einfluss auf das relationale Netz, in dem sich die wahrnehmende Person befindet, nehmen. In dieser affektiven Regung geht es zuerst einmal darum, zu erkennen, dass der*die Besucher*in ihre Position als wahrnehmende Entität erkennt. Im zweiten Schritt nehmen die Besucher*innen eine weitere aktive Entität wahr: den Sound des Sumpfes. Nach Latour ist »jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht, ein Akteur« (Latour 2007: 123). Der Affekt, ausgelöst durch den Klang, kann, muss aber nicht, Anlass für eine Reflexion der eigenen Rolle innerhalb eines Gefüges sein. Die Installation Berl-Berl fügt sich in weitere Beispiele aus der Kunst oder der künstlerischen Forschung ein, die auf ähnliche Weise Brüche in vorherrschenden Wahrnehmungsmodi verhandeln. Denn Klang wird immer in spezifischen Situationen und auf körperliche Weise erfahren (Schulze 2017: 238). Weitere Beispiele, die mit dieser Perspektive analysiert werden können, sind Soundwalks wie Max Neuhaus' LISTEN (Ammer o.D.) oder Performances wie Alvin Luciers I Am Sitting in a Room (Lucier 2017). Diese Beispiele leben von ihrer sinnlichen Erfahrbarkeit, die mit dem Verklingen ihrer Töne und Klänge einhergeht. Diese Art von Forschung fordert einen radikalen Einbezug der eigenen Subjektivität und ihrer Legitimation. Hierbei muss kein Widerspruch zu wissenschaftlichem Arbeiten vorliegen, eher die Chance Wissensproduktion im eigenen Arbeiten, Schreiben und Hören neu zu konzipieren. Diese Perspektive auf klangliche Materialität soll einen nicht-naturalisierenden und nicht-essenzialisierenden Zugang zur Musik- und Klangforschung eröffnen. Mit dem Sonischen, das die grundlegende Verbundenheit von Technologie, Klang und Musik hervorhebt, ist bereits eine Brücke zum dargestellten, relationalen Verständnis geschlagen, die es auszuweiten gilt. Materie soll nicht nur als Akteur*in in den Diskurs eingebracht werden, sondern es geht darum, »unser praktisch-materielles Involviertsein in das Werden der Welt selbst zur Grundlage von Wissenschaftlichkeit zu machen« (Bath 2017: 13). Klang kann, verbunden mit seiner Wahrnehmung, zu einer Destabilisierung etablierter Wahrnehmungsregime beitragen und neue Möglichkeitsräume aufzeigen.
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KLANGLICHE MATERIALITÄT(EN) VON MUSIK
Musikformulare und Musikverkehr Alan Fabian
Für meinen musikmedienkulturwissenschaftlichen Ansatz der Musikformulare und des Musikverkehrs denke ich das Verhältnis von Materialität und Klang als ein musikmedienbedingtes, ganz im ›sonischen‹ Sinne (Ernst 2015, Wicke 2008). Musik ist danach der in materialhaften Musikformularen formulierte Musikverkehr für/von miteinander ›musizierenden‹/›musikproduzierenden‹ Personen und der musikalische Klang ist die Soundscape dieses Musikverkehrs. Eine zentrale medienhafte Materialität, die die Medienwissenschaft der vergangenen Jahrzehnte kaum behandelt hat (mit Ausnahme z.B. von Hilgers/ Khaled 2004 und neuerdings Plener/Werber/Wolf 2021), ist das ›Formular‹. Das Formularische gibt es seit Jahrhunderten, zunächst als ›Formulae‹, vorgegebene formelhafte Formulierungen für die standardisierte Beurkundung (Burkard 2010). Formulare sind beschreib- und lesbare Medien — nicht nur in Papier, sondern heute vor allem als Online-Formulare und nicht zuletzt in elektronischen Verschaltungen für Computersystemformulare wie Konfigurationsdateien und Datenformatprotokolle (in z.B. XML oder JSON). Der Wille zu Formulae und Formularen besteht darin, Vereinheitlichung und damit Vergleichbarkeit in die Welt der Beurkundung und Sachverhaltsbearbeitung zu tragen und das in Form von ›handfest‹ kundgetanen ›Papieren‹ — egal wie schriftmedial oder medientechnikförmig diese Papiere sind. Erst die Vereinheitlichung macht das darin formelhaft Formulierte zu Sachverhalten, die miteinander vergleichbar und somit hierarchisierbar in der Mächtigkeit sind. Darin sind Formulare eine handfeste Währung aus Verwahrheitlichungen, seit Jahrhunderten die Währung der Verwaltung. Formulare beschwören unidirektionale Abhängigkeitsverhältnisse von Urkunden ausstellender und der die Urkunde ›empfangenden‹ Person bzw. der formularsachbearbeitenden und formularantragsstellenden Person herauf. Darin sind Formulare Manifestatoren von Machtverhältnissen und Machtdispositiven, darin sind Formulare Machtvermittler (siehe z.B. Botenmedium, Krämer 2008). Und Formulare manifestieren Verwaltungsinstitutionen genau darin, dass Formulare den gesamten verwaltungstechnischen Sachverhaltsverkehr regeln. Formulare des Musikkulturellen sind nach meinem musikformularischen Ansatz 1. symbolsystemische (Musik-)Notationen, 2. (gebürstete) Aluminium-Frontpanels von analoger Musikelektronik/LEDisierte Frontpanels aus Plastik mit Matrizen, Reglern, Schaltern und Steckbuchsen sowie 3. Graphical User Interfaces von selbstverständlich digitaler Computersoftware
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A. DELLE, A. FABIAN, J. GÁLVEZ, L. GILLI, S. JUST, C. KLAUKE, V. MUCHITSCH (Fabian 2018). In all diese Musikformulare sind — musikmedienarchäologisch gemeint — Möglichkeitsbedingungen für Musikverkehr und damit von Musik (kultur)techniklogisch eingeschrieben. Beispiel 1: Die ›klassische‹ Musiknotation besteht seit ungefähr 1000 Jahren kulturtechniklogisch — wie das Musik– und Medienwissenschaftler*innen bis heute weitestgehend übersehen haben — in und aus Tabellen. Ich nenne diese Tabellen Musiktabellen; Musiktabellen sind die Manifestation des digitalen Wandels, der musikgeschichtlich also schon um 1000 vollzogen worden war: Klangereignisse sind zeitdiskret gerastert, musikalischer Klang wird seitdem in diesem Raster (Tabellenzeile: diskrete Tonhöhe, Tabellenspalte — im Raster der kleinsten Notendauer, siehe dazu z.B. die Piano-Roll-Notation: diskrete Tondauer) erdacht und gemacht, Musizierverkehr funktioniert — da metrisch synchronisiert — im Taktmaß (Takt: Tabellenspaltengruppe). Das in solchen Musiktabellenformularen Notierte regelt semaphorisch das gesamte Musizieren aller beteiligten Personen; notiert ist also ein bestimmter Musikverkehr. Die Soundscape, die mit diesem Musikverkehr erklingt, ist ... Musik (siehe dazu Fabian 2014: 134). Damit ist nicht das, was ›in den Noten steht‹ die Musik, sondern das, was die Musikverkehrsteilnehmer*innen (die das Notierte abspielenden Musiker*innen) ausgehend von den musiknotationell formularisierten Musikverkehrsregeln im musikalischen Miteinander-Verkehren erklingen lassen. Beispiel 2: Die Software-Drum-Machine bildet auf dem Graphical User Interface eine Schaltmatrix nach diagrammatischer Art der Tabelle ab (Tabellenzeilen für die Drum-Sounds mit z.B. 16 Spalten für die Beat-Steps, die ›angekreuzt‹ werden können). In diesem Musiktabellenformular wird ein ganz bestimmter Musikverkehr vorgegeben (›programmiert‹), der erklingende Drum-Beat ist die Soundscape dieses musiktabellarisch formularisierten Musikverkehrs. Beispiel 3: Und mittels der grafischen Benutzeroberfläche z.B. von MIDIund Audio-Sequenzern werden digitale Ströme verwaltet. Die Musiken, die darin erklingen, sind Track-Musiken, d.h. zeilenhaft miteinander in Spalten synchronisiert erdacht: Der Musikverkehr ist ohrenscheinlich zeilen- und spaltenhaft geordnet, Tabellenmusik erklingt. usw. (siehe weiterführend dazu z.B. Fabian 2018: 96). Das Musikmedium ›Musik(tabellen)formular‹ klingt in diesen Beispielen mit: denn die diskretisierende Kulturtechniklogik des Tabellarischen in Musiknotation ist im musikmedialen Vollzug des Miteinander-Musizierens anhand der metrischen Synchronizität und der zeitdiskreten Rhythmizität unüberhörbar — auf eine Art wird die Tabelle sonifiziert; denn das Programm, die Verschaltung im Frontpanel wird im musikmedientechnischen Vollzug (›Play‹)
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KLANGLICHE MATERIALITÄT(EN) VON MUSIK hörbar. Materialhaftes erklingt in Musik. Und es klärt sich somit z.B., dass all die vermeintlichen genialen Musikerschaffenden nichts als findige Formularausfüller*innen sind und dass sie sich darin von musikinstitutionellen Dispositiven verwalten lassen. Die eigentlichen Musikforschungsgegenstände sind demzufolge Musikformulare und Musikverkehrstechniken.
›Klangliche Materialität von Musik‹ als Forschungsperspektive José Gálvez
›Klangliche Materialität von Musik‹ lässt sich als eine Perspektive charakterisieren, die durch den Bezug auf konkrete Materialien erstens Essenzialisierungen problematisiert und zweitens materialbezogene Forschungsmöglichkeiten sondiert. Diese Perspektive zieht nicht Materialien heran — etwa Texte, Körper, Technologien oder Klänge — um ›dahinterliegende‹ Intentionen, Ideologien, Strukturen, Bedeutungen etc. freizulegen. Vielmehr wird die Wirkungsmacht von Materialien in ›offenkundigen‹ (und damit nicht ›dahinterliegenden‹) Praktiken, Techniken oder Wissensformationen gezeigt. Insofern liegt diese Perspektive einem ›glücklichem Positivismus‹ (Foucault 2018: 182) nahe. ›Klangliche Materialität von Musik‹ als Perspektive mit einer medien- und kulturhistorischen Sensibilität problematisiert Methoden und Theorien, die Phänomene und Sachverhalte essenzialisieren, also fixieren, naturalisieren oder idealisieren. Im Folgenden möchte ich drei Formen von methodischtheoretischen Essenzialisierungen am Beispiel konkreter Beschreibungen und Analysen elektronischer Tanzmusik zeigen sowie kritische Fragen aufwerfen, die aus der hier charakterisierten Forschungsperspektive hervorgehen. 1. Essenzialisierung: Die rhythmisch-metrische Organisation und die formale Disposition eines House-Tracks werden analysiert. Hierfür wird zwar der ›Kontext‹ dieser Musik angesprochen, in dem etwa Individuen dazu tanzen und grooven, jedoch vertieft sich die Analyse hauptsächlich in die Strukturen des Tracks, um seinen ›Eigensinn‹ zu verstehen (Hawkins 2003, Butler 2006). Es stellt sich die Frage, ob die erfassten Strukturen auf eine spezifische Hörtechnik zurückgehen, die auf verborgene Tiefe in der Musik aus ist. Im Fokus der Analyse steht nicht etwa, welche Technologien, Körper, Räume zwischen den erfassten Strukturen und dem vermitteln, was tatsächlich in
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A. DELLE, A. FABIAN, J. GÁLVEZ, L. GILLI, S. JUST, C. KLAUKE, V. MUCHITSCH dem beschriebenen ›Kontext‹ erfahrbar wird. Es drängt sich der Verdacht auf, dass hier Musik methodisch-theoretisch essenzialisiert wird, indem implizit eine Auffassung von ›Musik selbst‹ vertreten wird. Geht dies nicht auf einen für die Analyse populärer Musik festgestellten »methodologische[n] Blindflug« (Wicke 2003: 113) zurück? 2. Essenzialisierung: Elektronische Tanzmusik wie sie etwa von David Guetta oder Calvin Harris in den 2010er Jahren produziert und aufgelegt wurde, beruhe auf der Struktur des ›neoliberalen Diskurses‹. Dieser zeichne sich durch eine Dynamik aus, in der alle Lebensbereiche der neoliberalistischen Logik von allgegenwertiger Investition, deregulierter Intensivierung und maximaler Profitziehung unterworfen sind. Dies alles sei das Korrelat von struktureller Ausbeutung und Diskriminierung. Die festgestellte Diskontinuität, Modularität und Intensitätsdynamik der benannten Musik entspreche strukturell dem ›neoliberalen Diskurs‹. Gerade deshalb sei ihre Klanglichkeit überhaupt genießbar; sie mache die neoliberalen Normen hörbar, denen Subjekte in den 2010er Jahren systematisch ausgesetzt seien (James 2015: 26-48). In Hinblick auf die Homologie zwischen einer Klangstruktur und der Struktur eines ›Diskurses‹ stellt sich die Frage, welche materielle Vermittlung zwischen Klanglichkeit und Diskurs hier vorliegt. Wird hier nicht eher eine global homogene Hörkultur vorausgesetzt, deren Hörer*innen etwa Calvin Harrisʼ Musik gleich hören? Konstituieren nicht Medien, Institutionen, Formate, Ökologien materiell, wie man diese Musik hört und genießt? Wird die Verbindung zwischen Klang und Hören nur von der Struktur der Musik oder der Gesellschaft abgeleitet — und damit essenzialisiert? Die referierte musikalische Kulturkritik kann selbst Gegenstand von Kritik sein: Wenn die materielle Vermittlung zwischen Musik und Gesellschaft nicht geleistet wird, erscheint diese musikalische Kulturkritik, so suggestiv sie auch sein mag, als akademische Fantasie (DeNora 2000: 4). 3. Essenzialisierung: Der Berliner Technoclub Berghain sei ein Ort, in dem Technomusik alternative Körper- und Subjektentwürfe durch Klang ermögliche. Die intensive Klanglichkeit und taktile Basslastigkeit der Musik würden mit einer Verschiebung von Auge zu Ohr, von Objekt zu Werden, von Rationalität zu leiblicher Sinnlichkeit einhergehen. Aus Techno-Tracks würden Empfindungen aufsteigen, die klanglich affizierte Körper neu organisieren. Durch diese körperliche Neuorganisation würden sich die revolutionären Potentiale von Techno zeigen. Als eine gleichsam autonome Zone, ein Jenseits der Gesellschaft in der
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KLANGLICHE MATERIALITÄT(EN) VON MUSIK Immanenz des Klangs, rekonfiguriere das Berghain durch Techno seine Besucher*innen so, dass kapitalistische Ausprägungen abgebaut würden (Henschel 2015). So konkret dieses Beispiel ist, stellt sich dennoch die Frage nach den materiellen Bedingungen dieses ›Materialismus‹, der basslastige taktile Klänge als Grundlage einer disruptiven Körpererfahrungen erklärt. Mit Fokus auf die Historizität und Technizität von Clubkulturen und Sound Systems wäre zu fragen, inwiefern Techno im Berghain anders als etwa Kerri Chandler auf Ibiza einen »antikommerziellen Charakter im Material (uneasy listening)« (Henschel 2015: 17) aufweist. Was an dem Sound System, den aufgelegten Tracks, den affizierten Körpern macht Techno im Berghain materiell ›uneasy‹ zu hören und damit anti-kommerziell? Liegt hier nicht eine Essenzialisierung von Klang und Hören vor, um bestimmte Klangerfahrungen politisch zu profilieren? Es scheint, dass dieser Berghain-Techno-Materialismus dem nahekommt, was Robert Fink als »acoustic fundamentalism« charkterisiert hat: ein Glauben, dass bestimmte Klänge aufgrund ihrer physikalischen Eigenschaften ›realer‹ oder ›eigenständiger‹ sind als andere (Fink 2019: 112). Bei den herangezogenen Beispielen sind nicht nur methodisch-theoretische Essenzialisierungen erkennbar. Es zeigen sich zudem Facetten einer Hörtechnik, welche bereits für die Etablierung der ›Wissenschaft der Musik‹ im 19. Jahrhundert grundlegend war. Durch diese Hörtechnik wird in Musik ›Tiefe‹ und ›Innerlichkeit‹ hörbar — sei es in der Struktur von ›Musik selbst‹ (Beispiel 1), sei es in Klangstrukturen in analogem Verhältnis zu soziokulturellen Strukturen (Beispiel 2), sei es in Klangqualitäten, aus deren Immanenz Empfindungen aufsteigen, die Körper neu organisieren (Beispiel 3). ›Klanglichen Materialität von Musik‹ als Perspektive, die auch Forschungsmöglichkeiten sondiert, kann bspw. die materiellen Bedingungen der benannten Hörtechnik darlegen. In Anschluss an Arbeiten von Wolfgang Scherer (1989) und Bettina Schlüter (2007) — Arbeiten, die die Popular Music Studies oder die Musikwissenschaft kaum zur Kenntnis genommen haben — lässt sich eine materielle Bedingung (unter vielen anderen!) erschließen: das Musikinstrument Clavichord und zwar in der Musik- und Klangkultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Am Clavichord, an seiner spezifischen Mechanik, durch eine neuartige, auf Sensibilisierung der Finger und Ohren ausgerichtete Klavierpädagogik und in der Etablierung einer Praxis und Ökologie des intimen, einsamen und nächtlichen Musizierens wurde die charakterisierte Hörtechnik materiell mit hervorgebracht. Labels wie ›freie Fantasie‹ oder ›Empfindsamkeit‹ sind bekannt. Die traditionelle Musikgeschichte lehrt uns diesbezüglich folgendes: Dass in
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A. DELLE, A. FABIAN, J. GÁLVEZ, L. GILLI, S. JUST, C. KLAUKE, V. MUCHITSCH Musik ›Tiefe‹ und ›Innerlichkeit‹ hörbar ist, geht auf eine ›Idee‹ zurück, nämlich die ›Idee der absoluten Musik‹ samt ihrer Korrelate: Autonomie, Werk, Autor etc. In Musik sei eine ›Innerlichkeit‹ hörbar, die unterschiedlich bestimmt wurde: als das Gemüt der Komponisten, die Struktur des Werkes, die ›Wahrheit‹ der Gesellschaft etc. (Bonds 2014, Dahlhaus 1978, Watkins 2011). Dagegen zeigt eine Perspektive auf die klangliche Materialität von Musik, dass ein Hören von ›Innerlichkeit‹ und ›Tiefe‹ nicht aus ›Ideen‹ hervorgegangen ist. Es waren konkrete Technologien wie das Clavichord samt seiner Mechanik, es waren die konkreten Anschlag- und Phrasierungstechniken einer neuartigen Klavierpädagogik, es waren konkrete Medienökologien des nächtlichen, selbstvergessenen Fantasierens am Clavichord, die eine kultur- und medienhistorisch spezifische Hörtechnik hervorgebracht haben. So fern und überholt diese Hörtechnik heute vielen Musikforscher*innen erscheinen mag, so selbstverständlich ist sie heute auch in den Popular Music Studies, wie die drei Beispiele andeuten sollen. Denn man hört in Musik ihre ›innere‹ Struktur, die ›Wahrheit‹ der Gesellschaft oder die klangliche Artikulation von ›Emanzipation‹. Eine Perspektive auf ›klangliche Materialität von Musik‹ kann darlegen, welche materiellen Bedingungen diese Hörtechnik konstituiert haben, wie sie institutionell etabliert und reguliert wurde und warum sie auf Essenzialisierungen aus ist. In Allianz mit Zugängen und Feldern wie Medienarchäologie, Kulturtechnikforschung, Wissen(schaft)sgeschichte oder New Organology lassen sich aus der Perspektive ›klangliche Materialität von Musik‹ neue Möglichkeiten sondieren, um Musik, Kultur und Medien materialbezogen und nicht-essentialistisch zu erforschen.
Notizen zur klanglichen Materialität der Stimme im Pop Veronika Muchitsch
Beginnend mit der breiten Rezeption von Roland Barthes' Essay »The Grain of the Voice« (1977) wurde Materialität ein zentraler Begriff in der Stimmforschung der Popular Music Studies. In Barthes' Text ist die Materialität des Stimmklangs im Begriff ›grain‹ (in deutscher Übersetzung ›Körnung‹ oder ›Rauheit‹) konzeptualisiert, worin die Beziehung zwischen gesungener Sprache und außersprachlichen Aspekten, welche dem singenden Körper zugeordnet sind, hörbar werden sollen. Als Signatur der Materialität des Körpers gedeutet, misst Barthes der Ausprägung des stimmlichen grain ästhetischen
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KLANGLICHE MATERIALITÄT(EN) VON MUSIK Wert bei. In den Popular Music Studies des frühen 21. Jahrhunderts wurde Barthes' Konzept dahingehend rezipiert, Authentizitätsdiskurse des Rock zu bestätigen: Grain wurde besonders den Stimmen von hauptsächlich männlichen, weißen Rock-Sängern zugeschrieben, die folglich als authentisch und damit ästhetisch wertvoller beschrieben wurden als etwa jene von Pop-Sänger*innen, die in vielen Fällen hinsichtlich stilistischer und identitätsbezogener Merkmale von der weißen, männlichen Rock-Norm abwichen (Pecknold 2016: 77). Freya Jarman (2011) hinterfragt in ihrer Analyse des US-amerikanischen Softrock-Duos Carpenters, bekannt für eine durch Overdubbing erzeugte Ästhetik der Perfektion, die Gleichsetzung von stimmlicher und körperlicher Materialität. Sich ebenso auf Barthes beziehend schlägt Jarman vor, Studiotechnik als Mittel zu analysieren, welches die materielle Körnung der Stimme unterdrückt. Jarmans Verweis auf die zentrale Bedeutung von Studiotechnik in der Produktion der Pop-Stimme leistet damit einen ersten wichtigen Beitrag zur Dekonstruktion eines naturalisierten und idealisierten Materialitätskonzeptes des Stimmklangs. Gleichzeitig schreibt Jarmans Konzept der »technologisch unterdrückten« stimmlichen Materialität deren Naturalisierung, Essentialisierung und Idealisierung weiter. Die Konzeptualisierung stimmklanglicher Materialität als historisch und kulturell geformt (Neumark 2010: 97) verlangt schließlich die Abkehr von einem essentialistischen Materialitätsbegriff in Bezug auf die Stimme hin zur Analyse der technischen, technologischen und ästhetischen Prozesse, durch welche sich Stimmklang materialisiert. Um diese Prozesse aus GenderPerspektive und im Kontext der Popmusik des 21. Jahrhunderts zu konkretisieren und theoretisieren, führe ich den Begriff der stimmlichen Figurationen (vocal figurations, Muchitsch 2020: 22f.) ein. In Anlehnung an Donna Haraways (2004: 1) »feminist figurations« artikuliert dieser die Untrennbarkeit von Materialität und Diskurs, historischer Verortung und ästhetischer Imagination oder ›Fiktion‹, hier Aspekte des künstlerischen Prozesses und der Performance bezeichnend. Der Begriff drückt ein Verständnis von Stimmklang als Ergebnis kultureller Einschreibungsprozesse (Eidsheim 2019: 41) aus, der gleichzeitig Subjekt-erzeugend — sowohl auf Seite der Produktion (Connor 2000: 3) als auch der Rezeption (Eidsheim 2019: 24) — und als Ausdruck der »Sound-Konventionen« des Pop (Frith 1998: 197) wirkt. Ich untersuche technische und technologische Prozesse der Stimmproduktion hierbei als zwei zentrale Ebenen der materiell-diskursiven Produktion gender-kodierten Stimmklangs und möchte abschließend skizzieren, welche Perspektiven stimmliche Figurationen — als Ausdruck eines situierten und performativen Materialitätsbegriffs — für Analysen des Stimmklangs in den Popular Music Studies eröffnen können.
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A. DELLE, A. FABIAN, J. GÁLVEZ, L. GILLI, S. JUST, C. KLAUKE, V. MUCHITSCH Verstanden als Körpertechnologie im Sinne Foucaults (1982) kann die Ausformung bestimmter Materialitätseffekte in Gesangstechnik Aufschluss über ästhetische Normen geben, die von Körperpolitiken und identitätsbezogenen Diskursen durchdrungen sind. So bildete sich etwa im Pop der ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts eine Stimmästhetik heraus, welche anhand der Performance scheinbarer Signaturen des Körpers die Materialität des singenden Körpers hervorzuheben scheint, während gesangstechnische Elemente gedämpft werden. Wie etwa an Beyoncés eponymem Album (2013) sowie dessen musikkritischer Rezeption gezeigt wurde, gilt zunehmend das Ideal einer scheinbar genotypischen Stimmästhetik, welche Flexibilität, Expressivität und körperliche Materialitätseffekte hervorzuheben scheint, während stimmtechnische Elemente wie Melisma oder Vibrato in den Hintergrund rücken. Diese stimmlichen Materialitätseffekte scheinen mit den Idealen einer neoliberal-postfeministischen Körperpolitik übereinzustimmen (Muchitsch 2016: 11 u. 2020: 150f.), in der ›erfolgreiche‹ weibliche Subjektivität an der Darstellung normativ weiblicher Körperlichkeit festmacht wird (Gill 2007: 155), während deren Erzeugung entsprechend neoliberalen Postulaten der Individualität und Ermächtigung unsichtbar (ebd.) — und unhörbar — gemacht wird. Entgegen Barthes, der die Körnung der Stimme als direkte Signatur der Beziehung zwischen gesungener Sprache und singendem Körper beschreibt, verlangt ein situierter und performativer Materialitätsbegriff, wie ihn das Konzept der vocal figurations artikuliert, nach der Erforschung der Interaktion stimmklanglicher Materialitätseffekte mit ästhetischen und soziokulturellen Diskursen. Besonders Beyoncés Album Lemonade (2016) illustriert, wie Materialitätseffekte auch dahingehend erzeugt werden können, stereotype Diskurse hinsichtlich gender- und racially kodierter Klangqualitäten zu überhöhen, herauszufordern und zu dekonstruieren (Muchitsch 2020: 168f.). Neben der Gesangstechnik werden die stimmlichen Figurationen des Pop auch in Interaktion mit Studiotechnologie geformt, da, wie oben skizziert, Authentizitätsdiskurse der Popmusik in vielen Fällen in Beziehung zu technologischen Praktiken und Diskursen verhandelt werden (ebd.: 46f.). Die Rezeption der US-amerikanischen Sängerin und Songwriterin Lana Del Rey am Beginn der 2010er Jahre illustriert diese Prozesse entlang der AuthentizitätsKonstruktionen des (Indie-)Rock und deren Idealisierung einer »Aufnahmerealistischen« Ästhetik (Gracyk 1996: 39). Folgend einer Performance bei Saturday Night Live im Jänner 2012 stellten Musikkritiker*innen, Journalist*innen und Musiker*innen in traditionellen und sozialen Medien Del Reys stimmliche Unsicherheiten als Signatur fehlender künstlerischer und weiblicher Authentizität dar und das Ende Del Reys Karriere in Aussicht. Anstatt die
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KLANGLICHE MATERIALITÄT(EN) VON MUSIK geschlechtlich und racially kodierten Wertungen dieses Rock-Authentizitätsdiskurses im Sinne des »Poptimismus« offenzulegen (Sanneh 2004), wurde in Del Reys weiterem Schaffen und deren Rezeption wiederholt auf ebendiesen zurückgegriffen, als Albumrezension um Albumrezension die stimmlichen Fähigkeiten Del Reys betonte. Elektroakustische Studiotechnologien wie das Mikrofon wurden hierbei naturalisiert und digitalen Studiotechnologien (etwa digitaler Postproduktion) gegenübergestellt. Del Reys Stimme, für deren Produktion vermeintlich nicht auf letztere zurückgegriffen wurde, wurde folglich entsprechend Aufnahme-realistischer Authentizitätskonstruktionen aufgewertet. Die materiellen Klangqualitäten der Studiotechnologien einer Aufnahme-realistischen Ästhetik formten Del Reys Stimmklang damit nicht nur klanglich, sondern auch diskursiv, hin zu einem Klangideal, welches seit seiner Ausformung in der Mitte des 20. Jahrhunderts weiß und männlich konnotierte Sound-Praktiken des Rock idealisiert und ästhetische Merkmale von weiblich-, queer- und BIPOC-konnotierten Praktiken marginalisiert (Muchitsch 2020: 52). Beide Beispiele illustrieren, wie ein situierter und performativer Begriff stimmklanglicher Materialität, den das Konzept der vocal figurations ausdrückt, nach Analysen gesangstechnischer und studiotechnologischer Praktiken und Diskurse verlangt, die schließlich neue Aufschlüsse darüber erlauben, wie sich Geschlecht — in Intersektion mit weiteren Faktoren sozialer Identität — in Stimmklang materialisiert. *** Dieses Forum schließt ohne den Versuch einer Synthese. Denn wie wir unterstreichen möchten, ist gerade die Offenheit des Materialitätsbegriffes in Bezug auf Klang — auch in Anbetracht der noch jungen und momentan in Konjunktur stehenden Debatte über Materialitäten in der Musikkultur — produktiv und sie sollte dazu genutzt werden, diesbezügliche Forschungsgegenstände und -fragen zunächst einmal zu beleuchten, um zu zeigen, dass der material turn auch durch eine Beschäftigung mit Klang in neue Richtungen gelenkt werden kann. Durch ihre Heterogenität verweisen die hier versammelten Beiträge auf die möglichen Potentiale einer an klanglicher Materialität orientierten Auseinandersetzung mit Populären Musiken. Die nach wie vor in den Popular Music Studies dominierenden Ansätze der Cultural Studies, aber auch Methoden der Musikanalyse lassen sich durch eine Besinnung auf die klangliche Materialität von Musik sinnvoll ergänzen, ohne dabei jedoch die zentralen theoretischen und politischen Einsichten dieser Traditionen völlig auf das Abstellgleis schieben zu wollen. Wir denken, dass unser Forum grundlegende theoretische, methodische und epistemologische Fragen über den wissenschaftlichen Umgang mit Populären Musiken eröffnet: Inwiefern erlangt eine
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A. DELLE, A. FABIAN, J. GÁLVEZ, L. GILLI, S. JUST, C. KLAUKE, V. MUCHITSCH klangliche Materialität von Musik in konkreten lokalspezifischen Formationen kulturelle und historische agency? Welche Technologien liegen dieser materiellen Produktion und Formung von Klang zugrunde? Wie lassen sich materielle Eigenschaften von Klang musikanalytisch erfassen und welche Aussagen lassen sich auf diesem Wege generieren? Solche Fragen sollen hier abschließend als Anregung zum Weiterdenken stehen und können so hoffentlich eine Bandbreite an weiteren Fragen aufwerfen, Denkprozesse anstoßen, Forschungen inspirieren und vielleicht ja auch zu weiteren Foren führen, die sich der materiellen Bestimmung von Klang widmen.
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Diskographie Beyoncé (2013). Beyoncé. Parkwood Entertainment/Columbia 88843032512. Beyoncé (2016). Lemonade. Parkwood Entertainment/Columbia 88985 33682 2. Lucier, Alvin (1981 [1969]). I Am Sitting in a Room. Lovely Music, Ltd. VR 1013.
Abstract In the wake of the ›material turn‹, the study of (popular) music is increasingly developing an interest for questions of materiality. Yet, the perspectives on what materiality denotes in music-related contexts remain fairly heterogeneous. In some instances, the term is introduced to study the (raw) material components of instruments or the buttons and reels of electronic music devices and the ways these material configurations shape musical practices and cultures. Elsewhere, materiality figures as a concept for grasping the vibrational character of bodies, particles and molecules as they are moved by sound, and scholars examine how these material configurations, in turn, shape our subjectivities, identities, affects, etc. To elucidate these and other uses of the term, this chapter on sonic materialities gathers the voices of several researchers whose projects deal with sound and materiality in various ways. The forum-like format allows for different proposals and positions and covers a smaller range of scholarly interests brought together not for the sake of developing a monolithic definition, but to emphasize the productive heterogeneity of the different uses and meanings of sonic materiality. The chapter thus explores a spectrum of approaches through which music-related sound phenomena can be conceptualized as sonic materiality in popular music studies.
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DAS PHÄNOMEN OBERLANDLERKAPELLE. ANIMATION ZUM KONSUM IN FESTZELT UND VERGNÜGUNGSSTÄTTE IN DEN ERSTEN JAHRZEHNTEN D E S 20. J A H R H U N D E R T S Merle Greiser Im Frühling 1931 schrieb Marie an ihre »Lieben«: »Heute sind wir wieder mal im Zillertal u. [e]s geht ganz lustig zu«.1 Gestempelt wurde die Karte am 10. Mai 1931, sie ist gelaufen von Hamburg nach Wiesmühl bei Tittmoning im Landkreis Traunstein in Bayern. Auf der Bildseite sind 22 Männer und zwei Frauen in einheitlich wirkender Kleidung, die heute als Tracht bezeichnet wird, zu erkennen (Abb. 1). Sie stehen zum Gruppenfoto aufgereiht auf einer Bühne mit Alpenkulisse, die musikalische Besetzung besteht aus Klarinetten, Trompeten, Posaunen, Baritonhörnern, Tuben und Schlagwerk.
Abb. 1: »Bayr. Oberlandler-Kapelle Dir. Hans'l Hahn« (Poststempel 10.5.1931, Sg. FFV-KT4137-0352).
1
Sg. FFV-KT4137-0352-v. Alle Signaturen mit dem Beginn »FFV« sind Teil der Sammlungen an der Forschungsstelle für fränkische Volksmusik in Uffenheim.
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MERLE GREISER Sowohl die Bildbeschriftung als auch die Ortsangabe der Schreiberin Marie sind korrekt: Zu sehen ist die Oberlandlerkapelle unter Direktion von Hans Hahn und aufgenommen ist das Motiv im Zillertal — allerdings handelt es sich nicht um die geographische Region in Tirol, sondern um eine Vergnügungsgaststätte am Spielbudenplatz in Hamburg-St. Pauli. 1925 wurde im Gebäude des ehemaligen Tivoli das Zillertal eröffnet.2 Das Konzept der Vergnügungsstätte basierte auf einer romantisierten Vorstellung von »Bayerischer Gemütlichkeit«.3 Über der Bühne war in großen Buchstaben und in einem pseudo-bayerischen Dialekt (und in fehlerhafter Grammatik) der Satz »Schaug das't in Schwung kimmst!!« wiedergegeben (Abb. 2). Fotopostkarten weiterer Oberlandlerkapellen der Zeit belegen, dass diese ebenfalls im Zillertal aufgetreten sind.4
Abb. 2: »Original Oberlandler-Kapelle — Dir. Hans Hahn« (Poststempel 25.5.1935, Sg. FFV-KT4173-0525).
2
3
4
Das Hamburger Bildarchiv führt auf seiner Webseite verschiedene historische Aufnahmen aus den Jahren 1907-1955 auf, vgl. http://hamburg-bildarchiv.de/033054 9d190d4a514/0330549cf611a1806/0330549ed8135a711/index.html (Zugriff 20.1. 2022). Der Geschichtsrückblick des heutigen Betreibers beschreibt es als »bayrisches Bier, Tiroler Hütchen und Musik von Blaskapellen« vgl. Anonym (o.J.) — ungeachtet, dass Tirol und Bayern zwei verschiedene geographische Regionen im Alpenraum bezeichnen. Vgl. die Bildpostkarten Sg. FFV-KT4174-0255 (Kapelle Hartl, 1936), FFV-KT41730235 (unbekannt, 1954), FFV-KT4173-0525 (Kapelle Hahn, gestempelt 1935), FFV-KT4173-0440 (Kapelle Almarausch-Edelweiß, gestempelt 1933), FFV-KT41370092 (Kapelle Schindler, 1953).
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DAS PHÄNOMEN OBERLANDLERKAPELLE Auffällig ist die Vermischung von Altbayern und Tirol zu einer nicht länger konkret lokalisierbaren, romantisierten Region der reinen Vergnüglichkeit. Im Zillertal sei »bayerische Fröhlichkeit Trumpf und [es regiere] Münchner Stimmung und oberbayerischer Humor« mit »unverfälschter oberbayerischer Musik«.5 1935 beschreibt ein Pressebericht: »Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte man den Hamburgern noch das Preislied des Zillertals auf der Reeperbahn in St. Pauli singen! Und welcher Fremde, der jemals in Hamburgs Mauern weilte, hätte nicht ebenfalls dieser wahrhaft volkstümlichen Gast- und Unterhaltungsstätte seinen Besuch gemacht? Allabendlich herrscht frohes Leben und Treiben in den stimmungsvollen Räumen des Hauses, und wer es nicht wüßte, daß man hier am Elbestrand weilte, der könnte sich wahrhaft in das Herz Münchens versetzt glauben. Hier wie dort fließt der gleiche edle Trunk und die fleißige Kapelle Heinrich Wehner sorgt für echte bayerische Stimmung. Es ist schon so: Zillertal bleibt Zillertal! Und ein Reeperbahn-Bummel ist ohne einen Besuch des Zillertals doch stets nur eine halbe Angelegenheit.«6
*** In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte sich im deutschsprachigen Raum bereits eine ganze Unterhaltungsindustrie etabliert, die auf romantisierenden Vorstellungen des Alpen(vor)landes gründete. Findige Geschäftsleute nutzten die damit verbundenen Narrative zum Aufbau und Betrieb von Festzeltunternehmen, Vergnügungsstätten und Unterhaltungsangeboten. In diesem Aufsatz beleuchte ich mit Georg Lang und Hansl Hahn einzelne Persönlichkeiten, die Schlüsselrollen in der Verbreitung und Etablierung sogenannter Oberlandlerkapellen als prägende Prototypen einer vermeintlich echt bayerischen Unterhaltungskultur innehatten. Erhaltene Dokumente und Objekte wie Liedtexthefte, historische Schallplattenaufnahmen gepresst auf Schellack, Bildpostkarten und zeitgenössische Zeitungsberichte und Fotografien dienen dabei als Quellengrundlage und geben Einblick in Art und Weise der (Bühnen-)Inszenierung, der Fremdwahrnehmung durch das Publikum und der Konsumangebote vor Hintergrund des zeitgeschichtlichen Gesellschaftsmodells. *** Die Kapelle Hahn gastierte mindestens in der ersten Hälfte der 1930er Jahre mehrmals7 im Zillertal. Der Kapellmeister dieser Kapelle — Johann Hahn — 5 6 7
»Oktoberfest im Zillertal«, in: Hamburger Nachrichten vom 12.10.1933 (Abendausgabe), S. 6. »Zillertal bleibt Zillertal«, in: Hamburger Nachrichten vom 22.8.1935, S. 6. Vgl. Anzeigen in den Hamburger Nachrichten z.B. in den Ausgaben von 28.7.1933, 27.2.1934 und 23.2.1935.
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MERLE GREISER stammte aus Weißenbronn in der Nähe des mittelfränkischen Ansbach. Aufgrund des dort sehr verbreiteten Namens ist eine zweifelsfreie Zuordnung gegenwärtig nicht möglich, doch es könnte sich um einen 1879 geborenen Johann (Hans'l) Hahn handeln, dessen Vater Musiker und Türmer in Heilsbronn bei Ansbach gewesen war. Johann Hahn durchlief in der Musikausbildungsstätte von Eduard Fürst in Neustadt an der Aisch eine Musiklehre. Vielleicht ging er anschließend, zwischen 1899 bis 1901, als Flügelhornist zum Militär.8 1909 gründete er seine eigene Kapelle (Griebel 2015) und war mit dieser bis 1913 eine von drei auf dem Oktoberfest zugelassenen auswärtigen Oberlandlerkapellen (Möhler 1981: 223). Für einen klanglichen Eindruck der Jahre zwischen der Vorkriegszeit ab 1913 und Maries Postkarte von 1931 bietet sich eine Aufnahme des »Ziegelstoaner Klarinetten-Ländlers« an, eingespielt von der Kapelle Hahn am 24. Januar 1922.9 Weißenbronn befindet sich in der Region Mittelfranken. Diese ist mehr als 200 km Luftlinie vom oberbayerischen Miesbach im Oberland entfernt. Sprachlich und kulturell dürfte Hahn vorwiegend fränkisch geprägt gewesen sein. Die Inszenierung als »Original […]« oder »Bayr. Oberlandler-Kapelle« hatte also weniger mit einer tatsächlichen Verbindung der Kapelle mit der südbayerischen Region zu tun, sondern wesentlich mehr mit der Erkenntnis, dass mit diesem Auftreten ein größeres Publikum bedient werden konnte.
»Oberlandler« als Besetzungsbezeichnung Musikalisch handelt es sich bei der Oberlandlerbesetzung um eine Harmoniemusik, basierend auf der zehnstimmigen bayerischen Blechmusik des späten 19. Jahrhunderts, ergänzt durch Es- und B-Klarinetten sowie zusätzliche Nachschlaginstrumente und gegebenenfalls Schlagwerk. Die Kapellengröße beträgt üblicherweise 15-20, manchmal bis zu 30 Personen. Für kleinere Lokale und frühe Tonaufnahmen wurde die Besetzung häufig auf zehn bis zwölf Personen begrenzt (Griebel o.J.: 6). Die Mitglieder waren oft Musiker im Haupterwerb und spielten häufig in verschiedenen Ensembles. Bei vielen Musikern lassen sich professionelle Bildungswege in der Musikausbildung rekonstruieren (Griebel 2015). Die Darbietungen waren auf hohem musikalischem Niveau und wurden gemeinhin als vermeintlich urig, authentisch und original
8 9
Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Abteilung IV Kriegsarchiv, München, Kriegsstammrollen 1914-1918, Bd. 1036, S. 55. Bayrische Oberlandler-Kapelle »Hansl Hahn« (24.1.1922). »Ziegelstoaner Klarinetten-Ländler. Diskographische Details sowie Links zu Audio-Digitalisaten finden sich (auch für viele der später im Text erwähnten Stücke) in der Diskographie.
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DAS PHÄNOMEN OBERLANDLERKAPELLE wahrgenommen. Häufig hatten die Kapellen Show-Elemente wie humoristische Einschübe, verschiedene und teilweise aufwändige Kostüme, außergewöhnliche Klangeffekte oder akrobatische Einlagen integriert (vgl. Masel 1989: 117f. sowie zeitgenössische Berichte10). Doch auch ohne jegliche musikalische Kenntnis ließen sich Oberlandlerkapellen bereits auf den ersten Blick klar als solche erkennen: Sie traten häufig in Bekleidung auf, die heute als Miesbacher Tracht bezeichnet wird. Miesbach liegt in der Kulturregion Oberland südlich von München, daraus ergibt sich auch die Bezeichnung der Oberlandlerkapelle: Über die Kleidung wird die Region als Sehnsuchtsort optisch in den Anblick der Kapelle eingebunden und wirkt quasi als deren Aushängeschild. Das (bayerische) Oberland ist vergleichsweise klein, das österreichische Zillertal gehört nicht dazu. Dazu kommt, dass die Bezeichnung »Oberland« in vielen deutschsprachigen Regionen verwendet wird zur Bezeichnung eines höher gelegenen Landabschnitts — auch viele Kilometer entfernt von tatsächlichen Gebirgszügen. Der Begriff wurde in einer romantisierten Vorstellung zum Synonym für den Themenkomplex rund um Alpen, Berge, Urlaub und die damit verbundene Sehnsucht. Als musikalischer Prototyp etablierte sich im 19. Jahrhundert neben der erst später so bezeichneten Tiroler Nationalsängertradition (vgl. Hupfauf 2016) auch die Figur des Oberlandlers, einer stereotypischen Darstellung eines vermeintlich typischen Oberbayern (Masel o.J.: 21). In der Form der Oberlandlerkapelle wurde diese Figur schnell in das Selbstverständnis sowie Selbstbild des Münchner Oktoberfestbesuchers aufgenommen. Der Schriftsteller Karl Valentin befürchtete kulturpessimistisch, bei den modernen Veränderungen des Oktoberfestes würden »auch unsere feschen Oberlandlerkapellen mit ihrer schneidigen Volksmusik verschwinden« (Valentin 1938). Er schrieb dies im Jahr 1926 — keine dreißig Jahre nach dem ersten Auftritt einer Oberlandlerkapelle auf der Oktoberfestwiese. Denn als »Erfinder« des Konzepts der Oberlandlerkapelle gilt der Nürnberger Gastwirt Georg Lang (1866-1904). 10 Zum Beispiel: »Presse und Artisten«, in: Hansa-Theater. Artistische Nachrichten (Jg. 9, Nr. 99) vom 1.12.1905 S. 5; »Ein Nachklang zum Oktoberfest«, in: Münchener Ratsch-Kathl. Unabhängiges Volks-Blatt. Jg. 10) vom 19.10.1898 S. 2f.; »[Vogelwiese]«, in: Dresdner Nachrichten (Nr. 214) vom 5.8.1902, S. 2f.; »Berliner Unionsbrauerei«, in: Berliner Volkszeitung (Jg. 58, Nr. 49) vom 30.1.1910 (Morgenausgabe), S. 1.
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MERLE GREISER
»Krokodilwirth« Georg Lang (1866-1904) Der gebürtige Nürnberger Georg Lang war selbst Sohn eines Gasthofbesitzers. 1888 beantragte er die Genehmigung für den Fortbetrieb der »im Hause Weintraubengasse 2 befindlichen Restauration, welche derselbe [Georg Lang] am 1. Februar 1889 über nehmen« wolle.11 Dort befand sich die Gastwirtschaft Zum Krokodil, welcher er seinen Beinnamen »Krokodilwirth« verdankte. 1896 beurkundete Lang den Geschäftsführer seiner weiteren Nürnberger Gaststätte Goldener Hahn als seine Vertretung in Abwesenheit.12 Kurz vor der Jahrhundertwende war Lang in Nürnberg bereits ein etablierter Großgastronom, so betrieb er bspw. 1897 eine Festhalle während des 12. deutschen Bundesschießens in Nürnberg (Stadtmuseum München o.J.). 1898 erweiterte er seine Geschäfte nach München: Er ließ die erste Riesenbierhalle auf dem Oktoberfestplatz errichten und stellte für den Innenraum eine ca. 30 Mann starke Kapelle an (Möhler 1981: 209ff.). Grundsätzlich gestattet war ein Zusammenlegen mehrerer Stellplätze nicht — die benötigten Plätze ließ sich Lang von Strohmännern ersteigern. Dass Lang sich den vorhandenen Stellplatzvorgaben entzog — dazu auch noch aus Auswärtiger — stieß nicht überall auf Gegenliebe. Die beschlossene Resolution einer Versammlung Münchener Gastwirte, stattgefunden am 21. Juli 1899, schildert die Stimmung: »Die […] Versammlung der Münchener [sic] Gastwirthe protestirt auf das Entschiedenste gegen die […] vorgenommene Annulirung der Budenversteigerung zum diesjährigen Oktoberfeste […]. Die Versammelten erblicken in diesem Vorgehen eine schwere Schädigung und Mißachtung des ganzen Müchnener [sic] Wirthstandes, die ihren Höhepunkt in der Einladung auswärtiger Wirthe erreicht. […] Insbesondere wird von der Versammlung die Haltung des Magistratsrathes Nagler auf's Schärfste verurtheilt und ihm das Recht abgesprochen, in Zukunft noch als Vertreter des Münchener Gewerbes aufzutreten. Die Veranlassung zu diesem energischen Vorgehen bildete bekanntlich das gar nicht mit den entsprechenden Worten zu bezeichnende Verfahren des Magistrats, immer wieder neue Buden sogar für auswärtige Wirthe einzuschieben, wodurch (siehe Krokodilwirth Lang in Nürnberg) die hiesigen Wiesenwirthe auf das Schwerste geschädigt werden. […] Schlechteres, mag das Schicksal walten wie es will, kann gar nicht mehr nachkommen.«13
11 Stadtarchiv Nürnberg Sg. FA.475_2 C7_I-15602_1. 12 Stadtarchiv Nürnberg Sg. FA.475_2 C7_I-15602_30. 13 »Die Protestversammlung der Wirthe«, in: Münchener Ratsch-Kathl. Unabhängiges Volks-Blatt. Jg. 11 (59) vom 26.7.1899, S. 2.
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DAS PHÄNOMEN OBERLANDLERKAPELLE Die Resolution nützte nichts, Lang blieb als Festwirt und als Begründer der Riesenfesthalle mit zelteigener, von ihm selbst dirigierter musikalischer Unterhaltung auf dem Oktoberfest präsent. Im Februar 1900 wurde er einstimmig zum Vorsitzenden eines neuen Vereins der Oktoberfestwiesenwirte gewählt, dessen Ehrenpräsident der im obigen Zitat erwähnte Magistratsrat Nagler wurde.14 Doch nicht nur am Münchener Volksfestbetrieb beteiligte sich die Kapelle Lang regelmäßig. In den Jahren nach der Jahrhundertwende spielte sie regelmäßig auf der Dresdner Vogelwiese in Langs Nürnberger Bratwurstglöcklein, welches »lang als vorzüglich […] bekannt«15 sei. Nach Langs Tod 1904 wurden die Geschäfte von Langs Witwe Wilhelmine »Mina« Lang geb. Birkmann weitergeführt.16 Am 2. August 1909 brach während des Betriebs »vermutlich durch Ueberlaufen eines Kessels mit heißem Fett«17 ein Brand aus, der ein Drittel der Marktstände auf der Vogelwiese zerstörte und mindestens 20 Personen verletzte.18 Während der Vogelwiese im folgenden Jahr 1910 besuchten der Sächsische König und die Königliche Familie am 6. August das Volksfest. Auch das Lang'sche Festzelt der Langs erhielt einen Besuch: »Dann ging es hinüber in das Zelt von Lang, in dem bekanntlich voriges Jahr der Brand ausgebrochen ist. Hier empfing die vollbesetzte Oberländler Kapelle in ihrer schmucken Tirolertracht die Fürstlichkeiten mit einem schmetternden Marsch und die beiden Schuhplattlerpaare […] tanzten […] auch hier in ihren schmucken Festtagsgewändern.«19 Die Bezeichnungen »Oberländler« und »Tiroler« scheinen in dieser Verwendung nicht als konkrete geographische Begriffe, sondern vielmehr als »generell alpenländisch« oder gar »generell bayerisch« gebraucht zu sein. Nach 1910 wurde mit dem Besuch der Königlichen Familie geworben (Abb. 3).
14 »Neuer Verein«, in: Münchener Ratsch-Kathl. Unabhängiges Volks-Blatt. Jg. 12 (16) vom 24.2.1900, S. 2. 15 »Vogelwiese«, in: Dresdner neueste Nachrichten Nr. 212 vom 2.8.1903 (Frühausgabe), S. 2. 16 Stadtarchiv Nürnberg Sg. FA.475_2 C7_I-15602_100, C7_I-15602_100a, C7_I15602_101. 17 »Der Brand von 1909«, in: Sächsische Volkszeitung Jg. 28 (162) vom 16.7.1929, S. 4. 18 »Der Umfang des Brandunglücks«, in: Dresdner neueste Nachrichten Jg. 17 (209) vom 4.8.1909, S. 3. De facto war die Ursache die brennbare Innendekoration. 19 »Der König und die Königliche Familie auf der Vogelwiese«, in: Dresdner Nachrichten Jg. 54 (215) vom 6.8.1910 (Abendausgabe), S. 2.
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MERLE GREISER
Abb. 3: »Se. Maj. König Friedrich August von Sachsen, Se. Kgl. Hoh. Der Kronprinz, die kgl. Prinzen, Prinz Georg von Sachsen nebst hoher Gemahlin, Ihre k. u. k. Hoh. Erzherzogin Maria Josefa, Ihre Hoh. Prinzessin Matilde von Sachsen zeichneten ›Georg Langs Original-Oberlandler‹ auf der Dresdner Vogelwiese am 5. August 1910 durch hohen Besuch aus« (Sg. FFV-LB-1204).
Nach der Jahrhundertwende war unter anderem Johann Hahn Mitglied in Langs Kapelle. Er übernahm 1904 nach dem Tode Langs die musikalische Leitung, bevor er 1909 eine Oberlandlerkapelle unter eigenem Namen gründete. Damit die Bierzelt-Besucher*innen nach Möglichkeit mitsangen — und damit nebenbei den Durst vergrößerten — ließ Lang Texthefte verteilen bzw. später verkaufen. Ein Vergleich solcher Hefte ermöglicht Einblicke in Repertoire- und Musikgestaltung und vermittelt Eindrücke des Wandels von Festzeltmusik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Üblicherweise eröffnen die Texthefte mit dem »Allgemeinen Trinkspruch!«: »Ein Prosit, ein Prosit der Gemüthlichkeit / Ein Prosit, ein Prosit der Gemüthlichkeit / Eins — Zwei — Drei — Prosit! / Alles darf trinken — Niemand genieren!« [letzte Zeile im Original hervorgehoben]. Dieser Spruch wurde erstmals 1898 in Langs Trinkheften publiziert und war »Herrn Lang gewidmet von Bernh. Dietrich, Chemnitz«20. In diesen frühen Heften war noch ein weiterer »Neuer Trinkspruch« mit gleicher Widmung vorangestellt: »Edler Freund, komm' trink' mit! / Prosit — Pro-sit — Pro-sit! / (kl. Trommel) Schlag
20 Sg. FFV-LB-1304, FFV-LB-1241, 4.
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DAS PHÄNOMEN OBERLANDLERKAPELLE — Alles: ›Gsuffa!‹«21 In späteren Textheften ist der »Neue Trinkspruch« nicht mehr abgedruckt, während sich das »Prosit der Gemütlichkeit« rasch verbreitete, von anderen Kapellen übernommen wurde und in der Gegenwart geradezu zum immateriellen Inventar eines (bayerischen) Bierzeltes gehört. In jedem von Langs Textheften ist der Trinkspruch mit dem Zusatz »Nachahmung verboten« versehen. Inwiefern dies ernst gemeint war, ist unklar — tragen doch einige der späteren Hefte auf dem Titelblatt den möglicherweise ironisch gemeinten Hinweis »Mitsingen (polizeilich) verboten!«22 Ernst gemeint dürfte in jedem Fall der urheberrechtliche Verweis »Nachdruck verboten« unter kapelleneigenen Umtextungen verbreiteter und beliebter Lieder gewesen sein, der in allen Ausgaben beispielsweise enthalten ist unter den Texten zu »Jumheidi«, »Münchner Pflasterer-Marsch«, »Drahn ma um und drahn ma auf« und »Marie von der Oktoberfestwies'n/ Dresdener Vogelwiese«.23 Die Hefte enthalten zwischen 40 und 75 Liedtexte, häufig mit Angaben zu Urheber- und Verlagsrechten. Das Repertoire besteht überwiegend aus Operetten- bzw. Schlagermelodien, u.a. von Paul Lincke und Alois Kutschera. Daneben finden sich wenige Märsche. Die Texte sind nahezu alle auf Hochdeutsch geschrieben, die wenigen Dialekttexte sind unterschiedlicher regionaler Herkunft. Neben dem größeren Umfang haben spätere Hefte auch eigene Stücke, eigens zusammengestellte Potpourris sowie Parodien und Umtextungen zum Inhalt. Nur wenige der Textheftausgaben sind mit Hinweisen zum Druckdatum versehen, doch an unterschiedlichen Versionen von Umtextungen zur gleichen Melodie lassen sich die verschiedenen Entwicklungsformen der Textversionen und auf dieser Basis die Druckreihenfolge rekonstruieren. Solch eine weiterlaufende Entwicklung hin zu einer kapelleneigenen Textform eines populären Liedes lässt sich an der Entstehung des Couplets »Drahn ma um und drahn ma auf« zur Melodie des »Jahrmarktsrummel-Marsches« von Paul Lincke aufzeigen. Das Original wurde erstmals im Juli 189624 veröffentlicht mit dem Refrain: »Ja son Jahrmarkts-Rummel Rummel ist doch schön! / Darum laßt uns auf den Bummel, Bummel geh'n! / Ja solch Jubel und solch Trubel lieb ich stets, / weil ich schwärme für Humor, Radau und Hetz!« (vgl. Lincke 1988). In den Textheften von 1898 ist das Couplet inklusive dieses Refrains unter dem Titel »Volksfest-Rummel!« mit der Autorenangabe »Lincke und Matthias« 21 22 23 24
Ebd. Sg. FFV-LB-1204, FFV-LB-1205, weitere Untersuchungen dazu stehen aus. Sg. FFV-LB-1204, FFV-LB-1205, FFV-LB-1241,1, FFV-LB-1241,2, FFV-LB-1241,3. Vgl. Hofmeister XIX, Juli 1896, S. 314, www.hofmeister.rhul.ac.uk (Zugang 20.1.2022).
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MERLE GREISER und drei Strophen abgedruckt. Im Refrain wird statt des norddeutschen »Jahrmarkt« der Begriff »Volksfest« verwendet. Deutlich wird eine Umtextung mit Bezug zu Georg Lang in der dritten Strophe: »Hat von Allem g'nug man g'sehn / Muß man noch zum Lang rein gehn / Denn am schönsten ist's bei ihm / Der versteht ja den Klimbim / Ist allein vom richt'gen Schlag, / Die andern machen's ihm blos nach, / Bier bringt Schönheit wunderbar / Ist erst vierzig wenns noch wahr. / Die Hauskapelle fängt dann fidel zum spielen an, / Und klein und groß sing lustig, es dirigirt der Lang, / Stets heiter ist ein Jeder, die Liebst' nimmt man in Arm, / Sogar die Schwiegermutter denkt niemals an Alarm. / Vom Lederer das beste Bier / wird gsoffen mit Plaisir, / Denn es kommt beim lust'gen Lang, / Das Prosit nie zu wenig dran, / Alt und Jung sitzt durcheinand / Schließen da ein Freundschaftsband / Denn nur einmal ist im Jahr / Unser Volksfest wunderbar.« 25 In späteren Heften der Kapelle Lang findet sich teilweise die Autorenangabe »August Wölst«, über dessen Identität nichts bekannt ist. Unter Umständen war Wölst bei den Versionen von Langs Kapellen tatsächlich beteiligt, dann wäre diese Autorenangabe nicht an sich falsch, nur unvollständig. Wahrscheinlich fand der Text um 1901 Eingang in das Kapellenrepertoire, denn die tatsächliche Urheberschaft war zu der Zeit nicht mehr nachvollziehbar. Eine Auseinandersetzung darüber führte im Sommer 1901 in Wien zu einer Gerichtsverhandlung. Kläger war Joseph Hadrawa (1869-1950), bekannt als Dichter und Textautor von Wiener Liedern. In der Gerichtsverhandlung wurde festgehalten, dass Hadrawa der Verfasser des im Frühjahr 1901 geschriebenen Couplets sei mit dem Refrain: »Drahn ma um und drahn ma auf, es liegt nix d'ran / Weil ma auf der Welt das Geld net freßen kann! / Alleweil munter, lustig, ja, so hab'n wir's gern, / Seg'n S' so lew'n die echten Weanaleut in Wean.«26 In den Refrainversionen bei Lang findet sich wiederholt der Zweizeiler »Drahn ma um und drahn ma auf, es liegt nix dran, / weil man's Geld auf dera Welt net freß'n kann.«27 Jüngere Hefte enthalten nicht mehr den Text des »Jahrmarkts-Rummels«, sondern Umdichtungen mit dem Titel »Drahn ma um und drahn ma auf« auf Linckes Melodie. Der Titel ergibt sich aus dem Refrain, der immer mit dem 25 Sg. FFV-LB-1241,4. Lederer Bier ist ein Produkt der Nürnberger Lederer Brauerei. Handschriftliche Bestätigungen belegen eine Geschäftsbeziehung zwischen Georg Lang und den Brauerei-Inhabern, den Lederer-Brüdern. Lederer Bier wurde bei Georg Lang ausgeschenkt, die Brauerei führte in ihrem Logo ein Krokodil, welches von Langs Gastwirtschaft Zum Krokodil inspiriert gewesen war. 26 »Der Proceß um das Couplet: ›Drahn ma um und drahn ma auf!‹«, in: Neues Wiener Tagblatt Jg. 35 (170) vom 23.6.1901, S. 8. 27 Sg. FFV-LB-1205, Nr. 55, FFV-LB-1241,2, Nr. 17, FFV-LB-1241,1, Nr. 55, FFV-LB1241,3, Nr. 55. Rechtschreibung zur vereinfachten Wiedergabe angeglichen.
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DAS PHÄNOMEN OBERLANDLERKAPELLE Ausspruch »Drahn ma um und dran ma auf« beginnt, ein um die Jahrhundertwende typischer Satz aus Wien. Das Stück bleibt dreistrophig, hat nun jedoch gänzlich andere Textinhalte. Eine Version, die vermutlich um 1904 gedruckt wurde, beginnt mit den Textzeilen: »Ob in China viel Skandal, / Und ob's raufen in Transval, / Ob der fünfzehnjähr'ge Sohn, / Geht gar mit der Köchin schon, / Ob im Wiener Parlament, / Bald die Schimpferei zu End'. / Ob Lang's Conterfei-Plakat, / Wunderschön ist oder fad«28 Als Textautor angegeben ist Georg Lang, der 1904 verstarb. Es ist aktuell nicht nachvollziehbar, ob er tatsächlich an diesem Text beteiligt gewesen war oder diese Zuweisung nur zu Werbezwecken gedruckt wurde. An mehreren weiteren Stellen der Couplet-Strophen ist eine Nähe zur Textversion von 1898 erkennbar, der Lokalbezug zu Wien ist in den zitierten Zeilen offensichtlich. Vermutlich zum ersten Mal enthalten ist der Hinweis auf das »Conterfei« Georg Langs, für dessen Werbeplakate sein Portrait tatsächlich prominent gebraucht wurde. In der zweiten Hälfte der 1910er Jahre entstanden sind vermutlich folgende Textversionen: »1. In Berlin, wenn Reichstag is, / G'stritten wird da immer g'wiß, / Wenns einander d'Meinung sag'n / Packen's schier anand am Krag'n. / Wegen der Herero-G'schicht / Sitzt die Linke zu Gericht, / Denn die Zukunft ist kein Trost, / Was die Sach' uns alles kost! Auch wegen der Marine / Gibts sehr viel Disputat, / Bülow mit bitt'rer Miene, / Dem geht noch vieles ab, / Doch Singer und Bebel / Die schrei'n: Das wolln wir seh'n, / Für Schiff und solche Möbel / kein Pfennig wird hergeb'n. / Wann die Sitzung dann is rum, / Sagt der Bülow: 's ist zu dumm, / Streitns rum die sechste Woch', Ham bewilligt alles doch. / Drum denkt mancher: Politik / Die hab' ich jetzt wirklich dick, / Mir liegt jetzt gar nix mehr dro, / Ich sauf mir an Schiaba o. 2. Jetzt in Rußland alle Tag' / Ueberall ist großer Krach / Es ist wirklich net zum glaub'n / Brennen, morden, stehlen und raub'n. / Mit Kanonen und Gewehr Schießt Zivil und Militär, / Fast in jeder Garnison / Streiten die Soldaten schon. / Der Nikolaus seufzt kläglich: / I pfeif auf so an Thron / Und wenns a bisserl möglich, / Geh i in Pension. / Der Sohn, das feine Kindl, / Sagt traurig zur Mama: / Packts z'samm mir meine Windel, / I bleib net länger da. / Drahn ma um und drahn ma auf / nur net scheniren, /muaß ma denn dös ganze Jahr politisirn, / suche dir den Ernst des Lebens zu zerstreu'n, / lustig grüabig muß der Mensch doch auch mal sein. / Mir is gleich, wo i komm hin, / Meinetwe-
28 Sg. FFV-LB-1205, Nr. 55.
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MERLE GREISER gen nach Berlin. / Wenns a schon sechs Prinzen ham, / Da gehts auf mi nimmer z'samm. / Mit aufg'hobene Händ er bitt, / D' ganz Familie, die muß mit, / Nacha kenn ama, o mei, /Wieder ohne Angst doch sei. / Drahn ma um und drahn ma auf, es liegt nix dran / Denn auf an solchen Thron ma doch net leben kann, / Ja, dann woll'n ma wieder einmal lustig sein, / Und wenn a Ruah is, nacha geh'n ma wieder heim.«29 Das Couplet entwickelte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluss von Vaudeville, Singspiel und Opera Comique zur eigenen Liedform. Innerhalb der Wiener Volkskomödie diente das Couplet als (kritische und) kommentierende Unterbrechung des Bühnengeschehens, später wurde es zur selbständigen Gesangsnummer im Cabaret. Es bot einen musikalischen Rahmen, um verschiedene gesellschaftliche Ereignisse auf harmlos-lustige, verharmlosende oder auch pejorativ-parodistische Weise anzusprechen. Tatsächliche inhaltliche Zusammenhänge zwischen den Strophen sind selten (Zumbusch-Beisteiner 2002). Die Auflistung verschiedener Ereignisse des Politikgeschehens bietet jedoch die Möglichkeit der zeitlichen Rekonstruktion der letztgenannten Textversionen. Bernhard Fürst von Bülow (1849-1929) war von 1900 bis 1909 Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident. Der blutige Krieg zwischen den Ovaherero und den kolonialen Besatzungstruppen des Deutschen Reiches begann im Januar 1904. Der Blick auf die dritte Strophe offenbart einen großen Bruch. Es wirkt, als könne man sich nach einer pflichtgemäßen Abhandlung der Weltpolitik nun dem Vergnügen widmen: »3. Oktoberfest, 's Münchner Leb'n, / Wer dö Gaudi no net g'sehn. / Deit Spektakel, dieses Treib'n / Das ist gar net zu beschreib'n. / Karussel, Menagerie / Geb'n a feine Melodie, / Würstl-, Heringsbraterduft / Sorgen für a guate Luft. / Und erst in die Bierbuden. / Hoch und Nieder, jeder Staud, Sitzen Heiden, Christen, Juden, / Saufen grüabig mit einand./- Bei der Oberlandler-Musi/Da entwickelt sich Humor, / Sitzt der Münchner mit G'spusi,/ Prosit, schreit der ganze Chor. / Das ist echtes Münchner Leb'n, / Wie man denkt, tut man sich geb'n, / G'sunder, derber Menschenschlag. / Drum heißt's, grob ist d'Münchner Sprach. / 's kommt an Fremden Spanisch für. / Doch bei unserm Münchner Bier / Loben sie nach kurzer Zeit / Bayerische Gemütlichkeit / Drahn ma um und drahn ma auf, es liegt nix dro, / Weil ma's Geld auf dera Welt net fressen kann, / Oberländler-Musi, so was geht ins G'müt, / Solche G'stanzeln singt a jeder ja gern mit.«30
29 Sg. FFV-LB-1241,1; FFV-LB-1241,2; FFV-LB-1241,3. 30 Sg. FFV-LB-1241,1, Nr. 55; FFV-LB-1241,2, Nr. 17; FFV-LB-1241,3, Nr. 55.
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DAS PHÄNOMEN OBERLANDLERKAPELLE Eine nach 1910 gedruckte Textfassung weist nur noch kleinere Veränderungen auf, so wird »Bülow« zum unspezifischen »Kanzler« oder die »Herero-« zur »Erbschaftssteuer-G'schicht«.31 Neben aktuellen politischen Bezügen fallen weitere, ortsbezogene Unterschiede der Textheft-Ausgaben ins Auge. Die Kapelle Lang spielte z. B. oft genug auf der Vogelwiese, um Texte auch im Druck anzupassen. Es lohnte sich, Texthefte mit ortsspezifischen Textveränderungen drucken zu lassen. So wird aus »Marie von der Oktoberfestwies'n / In München auf dem Oktoberfeste«32 — auf die Melodie von »Just One Girl« von Lyn Udall und Karl Kennett — schnell »Marie von der Dresdener Vogelwiese / In Dresden auf der Vogelwiese«.33 Auch der Text des Trinkliedes »Jumheidi« — »In München da ist es schön / Da ist mancherlei zu seh'n. / Alles eilt mit frohem Sinn / Zu Lang's Oberlandler hin. / Jumheidi, jumheida / Schnaps ist gut für Cholera34« — lässt sich schnell zur Dresdener Hymne umdichten (»In Dresden da ist es schön […]«35). Ähnlich austauschbar sind die besungenen Biersorten — anpassbar an das jeweilige ausgeschenkte Bier.
Einschub: Tracht und Alpensehnsucht Internationale Mode-Erscheinungen wurden ab dem 19. Jahrhundert auch über alle Bevölkerungsschichten hinweg übernommen. Zeitgleich entstanden Bewegungen zur Bewahrung der als ursprünglich bezeichneten, früheren Kleidungsformen insbesondere »ländlicher und kleinbürgerlicher Bevölkerungskreise« (Seifert 2006, vgl. auch Mentges 2011). Im Königreich Bayern wurden diese Bewegungen als Mittel zur Konstruktion einer gesamtbayerischen Identität genutzt. Betonung, Kenntnis und Pflege regionaler Besonderheiten sollten zum gegenseitigen Respekt und einem Gemeinschaftsgefühl als königlich-bayerische Untertanen führen. Anlässlich der Hochzeit zwischen (dem späteren) König von Bayern Ludwig I. (1786-1868) und Therese von SachsenHildburghausen (1792-1854) 1810 präsentierten Kinderpaare (als Repräsentation der bayerischen Kreise der Zeit) eigens entworfene »Trachten« auf der heutigen Theresienwiese, dem Veranstaltungsort des Oktoberfestes. Bei späteren Anlässen (Silberhochzeit 1835, weitere königliche Hochzeit 1842) wurden größere Trachtenumzüge veranstaltet. Die genutzte Kleidung war häufig
31 32 33 34 35
Sg. FFV-LB-1204, Nr. 18. Sg. FFV-LB-1204, Nr. 6. Sg. FFV-LB-1205, Nr. 38. Sg. FFV-LB-1241-1, Nr. 52. Sg. FFV-LB-1205, Nr. 52.
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MERLE GREISER eigens aus historischen und regionalen Elementen zusammengestellt und entsprach nicht der tatsächlich getragenen Kleidung der Mitwirkenden.36 1852 begann eine mehr als fünf Jahre währende Initiative zur »Erhaltung der Landestrachten« mit dem Ziel, »das Trachttragen wiederzubeleben« (Griebel 1991: 60). Auf Ebene der unteren Verwaltungsbehörden wurden im königlichen Auftrag Gutachten zu dem jeweiligen regionalen Umgang mit und Gebrauch von Tracht erstellt. Auf dieser Grundlage wurden dem nun herrschenden König Maximilian II. (1811-1864) Handlungsvorschläge vorgelegt. In den folgenden Jahren wurden u.a. durch Kreisregierungen sogenannte Erfolgskontrollen durchgeführt und darüber Meldungen erstattet (vgl. ebd.). Ebenfalls im 19. Jahrhundert liegen der Beginn des modernen Alpentourismus sowie des Alpinismus und damit einhergehend der Alpenromantik bzw. des Schwärmens für das Landleben am Rande der Alpen. Spätestens mit dem Ausbau der Eisenbahnverbindungen im späten 19. Jh. wurden Angebote des Tourismus bzw. des Fremdenverkehrs allen Bevölkerungsschichten immer besser zugänglich, zusätzlich etablierte sich als weitere Reisesaison der Winter — und der Winter in den Bergen im Spezifischen. Gründungen diverser Alpenvereine trugen zur Faszination bei, die von den Gebirgsregionen ausging (Loberhofer-Hirschbold 2006). Daraus entwickelte sich eine Form von (Binnen-)Exotismus. Der eingangs zitierte Schriftzug im Zillertal entspringt einer hamburgischen Vorstellung eines bayerischen Dialekts, konkrete geographische Lokalisierung war dabei so unnötig wie unmöglich. Durch diese Exotisierung kam es zu durchaus amüsanten Ergebnissen. Gutes Beispiel hierfür ist die oben aufgeführte Aufnahme der Kapelle Hahn aus dem Januar 1922. Das Etikett bezeichnet das Stück als »Ziegelstoaner Klarinetten-Ländler«. Tatsächlich lässt sich weder im Alpenraum noch im sonstigen deutschsprachigen Raum der Ortsname »Ziegelstoa« auffinden. Was dagegen existiert, ist der Stadtteil Nürnberg-Ziegelstein: Die Kapelle Hahn hat den Ländler vermutlich als Hommage an ihr Nürnberger Publikum so benannt.37 36 Vgl. z. B. die Bemühungen in der Entscheidung, wie Oberfranken repräsentiert werden sollte, rekonstruiert bei Griebel (1991: 143-166). 37 Und das ist vor allem deswegen lustig, weil es nicht im heimischen Dialekt geschieht (dann hieße es »Ziechlstaa«), sondern in einem oberbayerischen. Mein ausdrücklicher Dank geht an meine Kollegin Heidi Christ, nicht nur, aber auch für die Hilfe zur Einordnung von Dialekten.
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DAS PHÄNOMEN OBERLANDLERKAPELLE
Die Oberlandler als Show-Kapellen In den Jahren nach 1898 entstanden unzählige reisende »Bierzeltkapellen« (Christ 2011: 118). Langs Konzept hatte sich durchgesetzt. Wichtiger Bestandteil eines Oberlandlerkapellenauftrittes waren Show-Elemente. 1901 beschreibt ein Zeitungsbericht: »Mit dem Auftauchen des Nürnberger Krokodilwirthes auf der Oktoberfestwiese ist in den musikalisch-unterhaltlichen Theil des Wirthsbudenprogramms ein neuer frischer Zug gekommen. Die Idee, […] die festlich versammelten Massen von Wiesenbesuchern in gemeinsamen Gesang zu vereinen und zu verbrüdern, war entschieden gut und von vortheilhaftem Einfluß auf den Bierkonsum. Das haben inzwischen auch die anderen Wirthe sich zu Nutzen gemacht und allerorts erschallen die feuchtfröhlichen Weisen. […] Wer die Gaudi beim Lang ansehen will, der muß sich allerdings ziemlich früh dort einfinden, denn Sitzplätze sind von 4 Uhr ab kaum mehr zu haben. Mit diesem Zeitpunkt beginnt aber auch das Musikprogramm in ein fideles Stadium zu treten. Viel Stimmung macht das geistreiche Lied vom ›Feuerstoa‹. Schlager auf Schlager wechseln. Nach kurzer Pause leitet ein schneidiger Marsch die neue Abtheilung ein. Dann geht plötzlich eine schnell sich fortpflanzende Bewegung durch die Massen. Was das Interesse wachruft, weiß man noch nicht genau. Alle Sehwerkzeuge konzentriren sich auf einen rothen Schirm, der im Menschengewoge auf und nieder taucht. ›Setzen, die Hintern sehg'n nix‹, ertönt klagend die Beschwerde der Zurückgesetzten. Das Einsetzen der Musik erhöht die Spannung; plötzlich zieht man an einem Strick Einen empor. Zum Erstaunen der Einen, zum Entsetzen der Anderen und zum Mitleid der Dritten baumelt kurz darauf ein lebendiger Hampelmann am Leinwanddach, daß die ganze Budenkonstruktion in's Wanken geräth. ›Ja, gibt's denn dös aa?‹, ›O mei', der arme Kerl‹ hört man äußern, während der hoch oben in Lüften seelenvergnügt mit den affenartigen langen Beinen und Armen schlenkert; weiß er doch, daß blanke Silberlinge und eine frische Wiesenmaß ihn für die Luftschifffahrt entschädigen. Nicht minder groß ist der Jubel, wenn die Dorfschönheit aus der Umgebung von Dachau in Plafondnähe sich als Radfahrerin produzirt und durch Zufall ihre Toilettengeheimnisse verräth oder wenn Abend's der Froschverein, dargestellt von blut-schwitzenden Musikanten in Froschköpfen aus Papiermaché mit Glühlampenaugen, das schöne Lied singt: ›So a Frosch hat a Leb'n, 's kann nix Schöneres geb'n.‹«38
38 »Momentbilder von der Wiese. Beim Lang-Schorschl«, in: General-Anzeiger der Münchener Neuesten Nachrichten Jg. 54, Nr. 451 vom 28.9.1901, S. 1.
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Abb. 4: »Festwirt Georg Lang mit seiner Oberlandler Blaskapelle, 1902« (Stadtarchiv München, Sg. DE-1992-FS-AB-ERG-0134GF).
1902 machte der Fotograf Bernhard Dittmar (wahrscheinlich 1860-1939) eine Fotoserie von dieser beschriebenen Inszenierung39 (vgl. Abb. 4). Auf einer Bühne mit aus Baumästen gefertigter Balustrade sitzt eine mindestens 25köpfige Holz- und Blechmusikbesetzung. Eine gemalte Bergkulisse bildet den Hintergrund, auf der rechten Seite ist ein Hirsch dargestellt. Die Musiker tragen ähnliche Kleidung, die mittlerweile als Miesbacher Tracht gelesen wird. Die meisten haben ihr Instrument spielbereit angesetzt, die zwei Musiker jeweils links und rechts außen zeigen auf die Bühnen- und gleichzeitig Bildmitte. Dort scheint ein Mann an einer Hänge-Vorrichtung zu »schweben«, das nach oben führende Sicherungsseil ist über der Konstruktion sichtbar. Die eigentliche Aufhängung scheint sich außerhalb des Bildausschnittes zu befinden. Auf der rechten Bildhälfte steht die Aufschrift »Hampelmann«. Ein Mann im Anzug am unteren mittleren Bildrand greift mit beiden Händen ein Seil. Links des »Hampelmannes« steht Georg Lang, er dreht sich mit erhobenen Dirigierstab zur Kameralinse. Am vorderen Bühnenrand sind Froschköpfe aufgereiht, rechts oben schwebt ein Fahrrad. 40 Anhand der Texthefte lässt sich nachvollziehen, dass mindestens Teile dieser akrobatischen Show von Langs Kapelle auch nach dessen Tod bis in die 1910er Jahre weiterhin auf die Bühne gebracht wurden. Eine Annäherung an den musikalischen Eindruck, den die
39 Stadtarchiv München, Sg. DE-1992-FS-AB-ERG-0015GF, DE-1992-FS-AB-ERG-0016 GF, DE-1992-FS-AB-ERG-0133GF, DE-1992-FS-AB-ERG-0134GF, DE-1992-FS-AB-ER G-0135GF & DE-1992-FS-AB-ERG-0136GF. 40 Die Kapelle mit aufgesetzten Froschköpfen kann auf diesem Bild bestaunt werden: Stadtarchiv München Sg. DE-1992-FS-AB-ERG-0016GF.
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DAS PHÄNOMEN OBERLANDLERKAPELLE Kapelle zu ihrer Zeit auf ihr Publikum gemacht hat, bieten frühe Schallplattenaufnahmen. Ungefähr zwischen 1905 und 1910 — also nach Georg Langs Tod — ist der »Münchner Pflasterer-Marsch« (s. Diskographie) auf ein Couplet von August Junker in das Textheft-Repertoire der Kapelle aufgenommen worden.41 Wahrscheinlich im Januar 1909 hat die Kapelle den Titel in einer Aufnahmesitzung für Homokord eingespielt. Deutlich zu hören ist der Tätigkeitsvorgang des Pflasterns im Zwischenspiel, der als Klangeffekt vermutlich durch Glockenstäbe dargestellt wurden.
Möglichkeiten und Grenzen der frühen Industrieschallplatte Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde die industrielle Fertigung von Tonaufnahmen nach dem Verfahren (1) Schallauffang über Trichter, (2) Übersetzung durch Membran und (3) Aufzeichnung auf einer Objekt-Oberfläche möglich. Schallplatten wurden so zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Massenware. 1906 lag die Produktion in Deutschland bei 1,5 Millionen Tonnen im Monat. Die Zeitschrift Die Sprechmaschine beziffert im gleichen Jahr den Anteil der deutschen Produktionen am globalen Markt mit ⅔. Experimente mit Verstärkerrohren führten in den 1920er Jahren zur Entwicklung von Mikrofonen und Verstärkern, mit Ende der 1920er Jahre setzte sich die elektronische Aufnahmetechnik durch. Mussten sich vorher die Musiker*innen in einem engen Raum vor einem einzigen Schalltrichter positionieren, waren nun einzelne Tonabnahmen möglich. Das Klangbild wurde insgesamt klarer und weniger störanfällig (Lotz 2019: 11-19). Für interne Abläufe und Nachverfolgung wurden bei Aufnahme oft firmeninterne Codes vergeben. Diese Ziffern-Buchstaben-Kombinationen wurden anfangs im Bereich des Plattenspiegels händisch eingeritzt, später häufig geprägt. Insbesondere die händisch eingeritzten Informationen verschwanden nachfolgend oft unter dem aufgeklebten Platten-Etikett. Unter Zuzug von Aufnahmelisten, sofern sie noch existieren, lassen sich so teilweise Aufnahmeort, Datum und u. U. der beteiligte Tontechniker rekonstruieren. Mit dem akustischen Tonaufnahmeverfahren konnten Oberlandlerkapellen nicht in ihrer vollen Besetzung abgebildet werden. Die Kapelle Lang, die normalerweise mit 30 Mann in einem riesigen Festzelt ohne Verstärkung aufspielte, ist auf der Aufnahme des »Münchener Pflasterer-Marsches« mit maximal zehn bis zwölf Personen zu hören. 41 Vgl. Texthefte Sg. FFV-LB-1204, Nr. 31, FFV-LB-1241,2, Nr. 35 & FFV-LB-1241,3, Nr. 35a.
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MERLE GREISER Mit der Entwicklung der elektrischen Tonaufnahme konnten in den 1920er Jahren die Kapellen in größerer Besetzung und fast mit symphonischem Klangeindruck aufgenommen werden. Am 21. Oktober 1927 spielte die Kapelle Hahn eine Aufnahmereihe in den Gebäuden der Carl Lindström AG in Berlin ein: Be 6242 Be 6243 Be 6244 Be 6245 Be 6246 Be 6247 Be 6248 Be 6249 Be 6250 Be 6251 (2) Be 6252 Be 6253 Be 6254
»Bayrischzell« ? »Chiemseer Ländler« »Zillertal, du bist mei Freud« »Stoarigler Marsch« »Loisachtal« »Werdenfelser Ländler« »König Karl Marsch« »Wo die Alpenrosen blühn« »Mussinan-Marsch« »Das Drahn, das ist mei Leb'n« »'s wird schöne Maderl geb'n« »Watschentanz«
Diese Auswahl an Stücken aus der Aufnahmereihe der Kapelle Hahn im Oktober 1927 ist nicht einzigartig — bereits in der Kapelle Lang waren die Lieder »Zillertal, du bist mei Freud'«, »Wo die Alpenrosen blühn« und »Das Drahn, das ist mein Leb'n« Repertoirebestand, fast alle Stücke lassen sich auch auf Schallplatten anderer Ensembles nachweisen. Doch gerade dieser Umstand macht deutlich: Unternehmen — in diesem Fall das Label Odeon — und Kapelle versprachen sich offensichtlich einen wirtschaftlichen Mehrwert von dieser Auswahl, wobei sich die Kapellenmitglieder vermutlich deutlich weniger Gedanken dazu machten, da sie üblicherweise nur ein einmaliges Aufnahmehonorar bekamen und nicht an Verkaufsergebnissen beteiligt waren. Darüber hinaus lässt sich rückschließen, dass die Auswahl durchaus aus dem laufenden Repertoirebestand der Kapelle generiert war. 1935 beschreibt ein Zeitungsbericht: »Kapellmeister Hans'l Hahn ist mit seinen Oberlandlern stürmisch begrüßt worden, er sorgt durch seine deutschen Musikweisen für frohe Stimmung bei den Gästen, seine Schunkelwalzer reißen alle mit. Gesang- und Tanzeinlagen, Schuhplattler und Watschentänze erhöhen die Stimmung«.42 Watschentanz und Watschenplattler sind Erfindungen der frühen TourismusBranche. Unter Rückgriff auf Figuren und Elemente des Schuhplattlers entwickelte sich der Watschentanz als Unterhaltungsangebot auf alpenländischen Volksbühnen während der Sommerfrische. Die Komik ergab sich aus der 42 »Zillertal bleibt Zillertal«, in: Hamburger Nachrichten vom 7.3.1935 (Abendausgabe).
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DAS PHÄNOMEN OBERLANDLERKAPELLE abwertenden Darstellung des Klischees eines stereotypisch groben, rückständigen und streitlustigen bayrischen Bauern. Auf der Aufnahme der Oberländler-Kapelle Hans'l Hahn von 1927 sind die »Watscher« (Ohrfeigen) klar hörbar. Auch wenn die elektrische Aufnahmetechnik völlig neue Klangerlebnisse ermöglichte, so waren ihr doch enge Grenzen gesetzt. Live-Aufnahmen im vollbesetzten Bierzelt konnte die Technik nicht leisten, Aufnahmen mussten in einem Studio-Setting stattfinden. Die Kapellenmitglieder wiederum waren daran gewöhnt, in ihrer Funktion als Unterhaltungsmusiker im Austausch mit dem Publikum zu stehen. Für Schallplattenaufnahmen musste aber die Musik aus ihrer direkt gebrauchten Funktion als Stimmungsmusik herausgenommen werden (vgl. Christ 2011: 124). Gleichzeitig war es Aufgabe der Kapellenmitglieder, reproduzierbare Unterhaltungsmusik zu schaffen. Doch Oberlandlerkapellen waren besetzt mit (semi-)professionellen Berufsmusikern; ob im Festzelt oder im Studio, schlussendlich erfüllten sie an beiden Orten dieselbe Aufgabe: zu Unterhaltungszwecken und nicht zum Selbstzweck zu musizieren. Welch andere Anforderungen das mit sich brachte, zeigt ebenso das Beispiel des harten Zeitlimits der frühen Schallplatten, auf denen für mehr als drei bis vier Minuten kein Platz war. Während also zum Beispiel für die »Heuschreck-Polka« in den Textheften der Kapelle Lang vier Strophen aufgeführt sind,43 wird auf der Aufnahme der Original Bayrischen Ländlerkapelle vom Februar 1908 nur die erste Strophe gesungen.
Fazit Zum Ende des 19. Jahrhunderts war eine romantisierte Alpensehnsucht längst Bestandteil des gesellschaftlichen Zeitgeistes. Durch Tourismus war ein Aufenthalt in den vermeintlich unberührten Bergen zwar möglich, doch nicht für alle umsetzbar. Festveranstaltungen, Brettlbühnen und Gastwirtschaften konnten jedoch zumindest einen kleinen Eskapismus vom Alltag bieten. Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund muss die Entstehung der Oberlandlerkapellen betrachtet werden. Mit der Inszenierung von »Bayerischer Gemütlichkeit« auch fern der Berge erschloss Georg Lang erstmals ein großes Potential innerhalb der Unterhaltungsindustrie. Der Oberlandler wurde zum Prototyp sowohl des Fremd- als auch des Selbstbildes von Bayern. Dabei spielte keine Rolle, wer diesen Prototyp tatsächlich verkörperte: Es zählten Kostüm und aufgesetzter Habitus von dem, was jeweils seitens des Publikums
43 Sg. FFV-LB-1204, Nr. 37, FFV-LB-1241,2 & Nr. 26, FFV-LB-1241,3, Nr. 6.
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MERLE GREISER von einem »(Ober-)Bayern« erwartet wurde. Ebenfalls wird die gespielte Musik teilweise erst durch ihre Inszenierung zur Trägerin des vermeintlich »echt Bay(e)rischen«. Durch jahrzehntelange (Re-)Imaginierung konnte sich ein Narrativ einer Volksmusik etablieren, dem allmählich sowohl durch Musiker*innen als auch Publikum eine gewisse Authentizität zugeschrieben wurde — innerhalb Bayerns ebenso wie über Landesgrenzen hinaus. So wurde das konsumorientierte Festzelt mit mehreren tausend Besucher*innen zum Inbegriff von »bay(e)rischer Gemütlichkeit« und ohne (vermeintliche) Tracht würde einem Volksmusikauftritt etwas fehlen. Erst durch materielle Ausstattung ist die Erwartungshaltung an »bayerische Fröhlichkeit […] und oberbayerische[n] Humor […] [mit] unverfälschter oberbayerischer Musik«44 erfüllt. Liedtexthefte, Zeitungsberichte und frühe Schallplattenaufnahmen ermöglichen Einblicke in das Repertoire von Oberlandlerkapellen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Tanzmusik, d. h. beispielsweise Walzer, Ländler, Polka oder Schottisch, und Märsche bildeten das Rückgrat der Kapellenrepertoires. Dabei wird bei der Benennung der Titel häufig auf die jeweilige Herkunftsregion der Kapelle bzw. ihres Kapellmeisters Bezug genommen — auch wenn dies wie bei dem Beispiel des »Ziegelstoaner Ländlers« nicht gleich offensichtlich ist. Deutlich wird, dass die Inszenierungen der Bühnen-Auftritte ebenso wichtig waren, wie die musikalische Interpretation durch die jeweilige Kapelle. Das Publikum wollte unterhalten werden. Weiterhin finden sich häufig Heimatlieder, in denen ein romantisierendes Bild des Alpenlandes bedient wird — neben »Zillertal, du bist mei Freud«, »Bayrischzell« oder »Wo die Alpenrosen blühen« auch in Versionen von »Unser schönes Oberland«45 oder »Hoch vom Dachstein an«46. Klischeebedingte Komik auf Kosten anderer, bspw. der Watschentanz als Highlight der Fremdenverkehrsindustrie oder die Nachstellung von als »typisch« bezeichneten, konstruierten Lebensszenen, war ebenso Teil des Repertoires.47 Diese realitätsferne Darstellung prägt das Bayernbild bis heute. Als weitere Säule des Repertoires erweisen sich andere Popularmusikstile, welche die Kapellen ebenfalls im Blick hatten. Die Texthefte enthalten hohe Anteile neuer und neuester Wienerlieder, Operettenschlager und Gassenhauer, häufig von bekannten Komponisten wie Paul Lincke, Alois Kutschera,
44 »Oktoberfest im Zillertal«, in: Hamburger Nachrichten vom 12.10.1933 (Abendausgabe), S. 6. 45 Aschenbrenners Oberländler-Kapelle (circa 1908). »Unser schönes Oberland«. 46 Georg Langs Orig. Oberlandler-Kapelle (1907). »Hoch vom Dachstein an. Tyrolerlied«. 47 Bayrisches Oberlandler-Orchester Alois Kneitlinger (zwischen 1904 und 1918). »Oberbayrischer Jahrmarktsmarsch mit humoristischem Gesang«.
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DAS PHÄNOMEN OBERLANDLERKAPELLE Carl Lorens oder Franz Léhar. Diese flossen wiederum ein in das Tanzmusikrepertoire, wie bspw. der Schottisch »G'stellte Maderln«48, 1914 eingespielt von der Oberlandlerkapelle Peuppus auf die Melodie von »Das haben die Mädchen so gerne« aus Autoliebchen von Jean Gilbert (UA 1912) oder der »GirlWalzer«49, auf die Melodie von »Just One Girl« aus dem Stück gleichen Namens von Lyn Udall (UA 1897), ebenfalls von der Kapelle Peuppus. Populäre Lieder, egal aus welchem Kontext sie kamen, konnten so zum (tanzbaren) Repertoire-Bestand werden. Insgesamt können wir so das Bild einer spezifischen Form von Unterhaltungskultur zeichnen, in der eine romantische Vorstellung eines Sehnsuchtsortes den Rahmen bildet für kurzweiligen Eskapismus für das Publikum und für sichere Erwerbsmöglichkeiten für Musikschaffende. Wir entdecken eine Unterhaltungsform, die nicht nur innerhalb der Heimat, sondern auch in der Ferne funktionierte, und dies nicht nur als Live-Musik, sondern gleichermaßen erfolgreich mithilfe des neuen Mediums der Schallplatte.
Literatur Anonym (o. J.). »Von der Großen Bierhalle zu Schmidt's Tivoli«, https:// spielbudenplatz.eu/wp/wp-content/uploads/2012/09/Schmidts-TIVOLI.pdf (Zugriff 20.1.2022). Christ, Heidi (2011). Musikantenhandwerk. Untersuchungen zu musikalischen Traditionen in der Hersbrucker Alb. Uffenheim: Forschungsstelle für fränkische Volksmusik. Griebel, Armin (o. J.) »Bierzelt und Schallplatte: Fränkische Musikkapellen auf neuen Wegen« (unveröffentlichtes Manuskript o. O.), S. 6, Sg. FFV-TS-Schellack. Griebel, Armin (1991). Tracht und Folklorismus in Franken. Amtliche Berichte und Aktivitäten zwischen 1828 und 1914 (= Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 48). Würzburg: Bayerische Blätter für Volkskunde. Griebel, Armin (2015). »Notizen zum Musikantenhandwerk in Franken«, https:// volksmusik-forschung.de/forschung-service/aufsaetze/notizenmusikantenhandwerk.html (Version vom 26.02.2015, Zugriff: 20.1.2022). Hupfauf, Sandra (2016). Die Lieder der Geschwister Rainer und »Rainer Family« aus dem Zillertal (1822–1843). Untersuchungen zur Popularisierung von Tiroler Liedern in Deutschland, England und Amerika. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner. Lincke, Paul (1988). Ein Abend bei Paul Lincke. Ein großes Potpourri zum Mitsingen. Berlin: Apollo-Verlag Paul Lincke. Loberhofer-Hirschbold, Franziska (2006). »Fremdenverkehr (Von den Anfängen bis 1945)«. In Historisches Lexikon Bayerns www.historisches-lexikon-bayerns.de/ Lexikon/Fremdenverkehr_(Von_den_Anf%C3%A4ngen_bis_1945) (Version vom 10. 7.2006, Zugriff: 20.1.2022).
48 Kapelle »Jais« (1914). »G'stellte Maderln. Schottisch«. 49 Kapelle »Peuppus« (1913, Publikation 1924-1925). »Girl-Walzer«.
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DAS PHÄNOMEN OBERLANDLERKAPELLE Kapelle Jais Kapelle »Jais« (1914). »G'stellte Maderln. Schottisch«. Beka : 15719 : 3859-I (Sg. FFVSP-0479-A001). https://volksmusik-forschung.de/legamus/audio.html?id=71619 (Zugriff 26.2.2022). Kapelle Kneit(l)inger Bayrisches Oberlandler-Orchester Alois Kneitlinger (zwischen 1904 und 1918). »Oberbayrischer Jahrmarktsmarsch mit humoristischem Gesang«. Globophon: 275: 7400 (Sg. FFV-SP-0623-B001). https://volksmusik-forschung.de/legamus/audio.html?id=71907 (Zugriff 26.2.2022). Kapelle Lang Georg Langs Orig. Oberlandler-Kapelle (1907). »Hoch vom Dachstein an. Tyrolerlied«. Melodia : 5110 : 2-511 (Sg. FFV-SP-3876-B001). https://volksmusik-forschung.de/legamus/audio.html?id=78414 (Zugriff 26.2.2022). Original Bayrische Ländlerkapelle, Dirigent Georg Lang (20.2.1908). »Heuschreck Rheinländer-Polka«. Homokord: 464 : 338 A (Sg. FFV-SP-5486-A001). https://volksmusik-forschung.de/legamus/audio.html?id=376731 (Zugriff 26.2.2022). Georg Lang's Original oberbayr. Ländler-Kapelle (vor 1910). »Münchener PflastererMarsch«. Homokord: 457 : A5121 (Sg. FFV-SP-5511-A001). https://volksmusik-forschung.de/legamus/audio.html?id=376781 (Zugriff 26.2.2022). Kapelle Peupus Kapelle »Peuppus« (1913). »Girl-Walzer«. Beka : B. 3776-I : 15018 (Sg. FFV-SP-3948B001). https://volksmusik-forschung.de/legamus/audio.html?id=78557 (Zugriff 26.2.2022).
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MERLE GREISER
Abstract Already during the first half of the 20th century, an entire entertainment industry based on romanticised notions of Alpine landscape and culture had been established in the German-speaking world. Resourceful businessmen used the associated narratives to set up and run fairground companies, entertainment venues as well as services. A key role was held by the restaurateur Georg Lang, who introduced a fairground marquee with a capacity for more than 6,000 people to the Munich Oktoberfest in 1898, offering visitors an enhanced fair experience with a full band of at least 30 musicians all dressed in ›Oberlandler‹ national costume, thus introducing a form of entertainment creation that shapes both the Oktoberfest and other events into the present. This essay examines the spread and establishment of commonly called ›Oberlandler‹ bands, which became formative prototypes of an ostensible genuine Bavarian entertainment culture. Archived documents and objects such as song lyrics booklets, historical recordings pressed on shellac, photo postcards and newspaper reports and photographs are used as sources. They provide insight into the manner of performance, external perception and consumption incentives against the background of the social model of the time.
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DER MODUS
BIERZELTS: ZUR SOZIOMATERIALITÄT EINES VERNACHLÄSSIGTEN RAUMES UND SEINER POPULÄREN MUSIKEN DES
André Doehring und Kai Ginkel Wir sehen ein gut gefülltes Festzelt. Der Kleidung und den Frisuren der Anwesenden nach zu urteilen, handelt es sich um eine Videoaufnahme, deren Ursprung etwa 30 Jahre zurückliegt. Wir hören und sehen eine Live-Band, die zwei populäre Märsche des 19. Jahrhunderts spielt, zunächst »Stars and Stripes Forever« und danach den »Radetzky-Marsch«. Zahlreiche Menschen im Zelt — vorrangig weiß und überwiegend im jungen und mittleren Erwachsenenalter — stehen oder tanzen auf den Tischen der Bierzeltgarnituren. Sie haben die Arme erhoben und klatschen mit, tanzen zu zweit oder allein, mitunter auch beieinander eingehakt in Gruppen, und sichtlich bewegt, geradezu mitgerissen von der Musik machen sie anfeuernde Gesten. Die Stimmung ist euphorisch bis enthemmt, das Zelt scheint förmlich zu kochen. Der Leadsänger der Band ruft immer wieder Aufforderungen zur Bewegung zwischen die gesungenen Zeilen, ohne dass der Fluss der Musik unterbrochen wird, denn weder Musiker noch Publikum scheinen aus dem Takt zu kommen. Beim »Radetzky-Marsch« sehen wir, wie sich zu Beginn einige Personen im Publikum erheben und animiert mitklatschen und -tanzen. Jetzt schwenkt die Kamera auf einen Menschenzug, der sich zwischen den Bierbänken hindurch nach vorne schlängelt, bestehend aus Küchenpersonal in Arbeitskleidung. Es handelt sich allesamt um Männer, und sie haben Küchenutensilien wie Topfdeckel und Kochlöffel dabei, die sie im Takt der Musik wie Schlaginstrumente spielen. Freudig, teils die Arme in Siegerpose gereckt, drehen die Köche ihre Runde vor der Bühne. Auf dieser sehen wir einen Musiker, der eine elektrische Gitarre spielt, die für uns jedoch nicht hörbar ist. Was wir hören, ist Blasmusik. Der Leadsänger der Band ruft »Tutti!«: Alle mitsingen! Daraufhin singt er die bekannte Melodie des Marsches gemeinsam mit den Playback-Bläsern und dem ganzen Zelt.
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ANDRÉ DOEHRING UND KAI GINKEL Diese wenigen Schilderungen eines Videos von 19911, auf das wir später erneut eingehen werden, machen deutlich: Hier geht es rund! Eine durch Musik verbundene Menschenmenge feiert enthemmt miteinander. Regeln des sogenannten Anstands werden für diesen Moment einmal nicht beachtet. Solche sozio-materiellen Musik-Mensch-Zelt-Konstellationen sind uns aus der Alltagswelt vertraut, wenn nicht aus dem Festzelt, so vielleicht von einem Metal-Festival oder einem Rave. Was aber weiß eigentlich die Wissenschaft der populären Musik über solche Szenarien? In den letzten Jahren ist über EDM-Festivals und Raves ein profundes Wissen entstanden (vgl. Reynolds 2013, Collin 2018, St. John 2020). Das Festzelt als populärer Raum wurde jedoch noch nicht hinreichend bearbeitet — in unseren Augen ein so bedauerlicher wie vielsagender Lapsus. Denn was wir hier vorfinden, ist in jedem Fall ein Geschehen, das wir aus Sicht einer kritischen Popularmusikforschung für überaus relevant halten. Erkenntnisinteresse unseres Beitrags ist vor diesem Hintergrund das Erschließen des Festzelts und seiner Musiken als affordances (DeNora 2003), hier exemplarisch in Bezug auf das politische Potenzial untersucht, das diese Konstellation im Kontext des österreichischen Rechtspopulismus entfaltet. Unsere Forschung fand im Rahmen des internationalen Forschungsprojekts Popular Music and the Rise of Populism in Europe (2019-2022)2 statt. Während in diesem eine große thematische Bandbreite des Aufeinandertreffens von Populismus und populärer Musik in fünf europäischen Ländern adressiert wird, fokussiert der vorliegende Beitrag auf das praktische Zusammenwirken von rechtspopulistischer Politik und Musik im Kontext spezifischer Materialitäten in Österreich. Hierzu bedarf es eines methodologischen Zuschnitts, der im Anschluss an den Stand der Forschung und einen einführenden Einblick in die Feldarbeit dargestellt wird.
1. Stand der Forschung Was also wissen wir über das Festzelt? Die Popularmusikforschung, so muss man es leider für die eigene Zunft festhalten, kann zum Wissen über das
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»1991 Festa della birra 011«, https://youtu.be/lhMxOpXJiDA (Zugriff: 22.7.2022). Wir danken der Volkswagen Stiftung, die das Forschungsprojekt Popular Music and the Rise of Populism in Europe im Rahmen des Programms Challenges for Europe fördert. Geleitet wird das Projekt, dem fünf Länderteams angehören (Deutschland, Italien, Österreich, Schweden und Ungarn) an der Carl-vonOssietzky-Universität Oldenburg von Mario Dunkel. Wir danken unseren Projektkolleg*innen für Austausch und kritisches Feedback.
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DER MODUS DES BIERZELTS Festzelt wenig beitragen: In den bis dato 46 Bänden der Beiträge zur Popularmusikforschung ist kein Aufsatz zu entdecken, der sich mit dortigen Praktiken und Sounds beschäftigt. Eine Stichwortsuche nach »beer tent«, »party tent« und »Bierzelt« in Popular Music, Popular Music & Society sowie dem Journal of Popular Music Studies verlief weitgehend ergebnislos; immerhin berichtet ein Artikel (Steinbrecher/Achhorner 2020) am Rande über die auch in Zelten stattfindende Popularisierung von Blasmusik in Österreich. Das Festzelt ist dagegen zweifellos ein erforschenswerter Ort für insbesondere Soziolog*innen, Kulturwissenschaftler*innen oder Geograph*innen. Aus der Perspektive der Umweltsystemwissenschaften beschreibt etwa Leonie Groihofer (2020) Raumkonstruktionen volkstümlicher Musikgruppen auch im Festzelt, um deren Nutzen für den Tourismus zu evaluieren. Es gibt kulturhistorische Forschung zum Oktoberfest (z.B. Hartl 2009), die Geschichtsund Kulturwissenschaftlerin Claudia Bosch (2014) untersucht das Feiern im Festzelt in ihrer Arbeit Fest und flüssig als »cultural performance« und adressiert dabei auch die Rolle der so genannten Stimmungsmusik. Brigitte Veiz (2009) widmet sich in einem Sammelband zu Kirmes und Freizeitparks der »Fresskultur« und den »Trinkritualen« an solchen Orten. Nicht selten jedoch wird in dieser Literatur zum Festzelt und seinen Musiken ein wahrnehmbarer Abstand hergestellt. Bosch berichtet in einem Zeitungsartikel über ihre Arbeit an Fest und flüssig davon, wie solche Distanz wissenschaftlich etabliert und gelebt wird: »Viele Aspekte ihrer Dissertation hat sie aber nicht in Feldforschung vor Ort erarbeitet, sondern zum Beispiel, indem sie in den USA [Boschs Lebensmittelpunkt] stundenlang das Treiben bei Grandl im Festzelt über die Webcam studierte. ›Ohne Ton, sonst hält man es nicht aus‹, räumt Bosch ein« (Volkmann 2016). Ein solches ›Studieren‹ über die Webcam erscheint uns aufgrund der soziomusikalischen und sozio-materiellen Gegebenheiten relevanter Veranstaltungen widersinnig. Dass überdies die Tonspur gemieden wurde, entlarvt die Forschungsunternehmung eines Bias, den sich jedenfalls die Popularmusikforschung nicht leisten kann, wenn sie der Frage des Populären und mit ihr verbunden: den politischen Implikationen und Potenzialen populärer Musiken auf den Grund gehen will. Die Wahrung des ›guten Geschmacks‹3 (womit implizit zumeist ein bürgerlicher Geschmack gemeint ist; vgl. dazu Fischers (2021) treffende Analyse der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit 3
Vgl. hierzu die vielfach aufgeladene, zum Zeitpunkt der Drucklegung nicht abgeschlossene Diskussion um den Song »Layla« (DJ Robin & Schürze 2022) im deutschsprachigen Raum. Dem Diskurs mangelt es an einer Thematisierung sozialer Klassenverhältnisse.
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ANDRÉ DOEHRING UND KAI GINKEL volkstümlicher Musik) darf nicht die wissenschaftliche Herangehensweise an die Frage bestimmen, welchen musikalischen Praktiken wir als Forscher*innen bereit sind uns ›auszusetzen‹ (vgl. Doehring 2015: 123). Im Gegenteil: Das Festzelt erinnert uns, dass es Auftrag einer kritischen Popularmusikforschung ist, gerade Orte und ihre Musiken aufzusuchen, die im wissenschaftlichen Diskurs abgewertet und marginalisiert werden (vgl. das nicht bloß sprachlich leuchtende Beispiel von Thomas Phleps' (2014) Verriss der Die Amigos) — erst recht, wenn es sich dabei, wie im Fall des Festzelts, um ein überaus weit verbreitetes, populäres Phänomen handelt, das zudem in Österreich eine tragende Rolle im Rahmen rechtspopulistischer politischer Praktiken spielt.
2. Methode Nun zeigt die obige Bestandsaufnahme zweierlei Probleme: Zum einen steht in den wenigen Forschungen zum Festzelt die Musik zumeist nicht im Mittelpunkt; zum anderen finden wir in Diskursen der Popularmusikforschung das Festzelt und seine Musiken vollkommen unterrepräsentiert. Dieser Distanz zum Populären treten wir mit einer Methodologie entgegen, die die Musiken und Materialitäten des Festzelts hervorhebt und es vor diesem Hintergrund möglich macht, soziale und politische Potenziale dieser Umgebungen und ihrer Klänge zu beobachten und zu verstehen. Konkret bedeutet das: Wir betreten erst einmal unser Feld und suchen das Festzelt auf. Auf dieser Basis wird daraufhin ein gegenstandsangemessener Methodenzugang entwickelt.
2.1 Das Festzelt — zwei Episoden Auf dem Wiener Oktoberfest besuchen wir im Rahmen unserer Feldforschung (Ausführliches zur Methode: siehe 2.2) nachmittags einen Festzelt-Auftritt der Kärntner Sängerin Melissa Naschenweng, eines Stars des volkstümlichen Schlagers in Österreich. Die Decke des ca. 400 Menschen fassenden Raumes ist dekoriert mit großen Würsten eines österreichischen Fleischwarenherstellers. Bier wird hier ungeachtet der Tageszeit reichlich getrunken — zum stolzen Preis von 10,40€ pro Krug. Es folgt eine ethnografische Beschreibung aus den letzten 30 Minuten des Auftritts: Zitat aus den Feldnotizen, Oktober 2019: »Als Abschluss und Höhepunkt des Auftritts gibt Naschenweng, gekleidet in ihre charakteristischen LederHotpants, ein zweites Mal ihre beiden offenbar größten Hits zum Besten: ›Die Nachbarin‹ (Naschenweng 2019a) und ›I steh auf Bergbauernbuam‹ (Naschenweng 2019b). Die Leute im Zelt tanzen auf den Tischen bzw. Bänken, singen
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DER MODUS DES BIERZELTS mit, zeigen mit dem Finger zur Decke, drehen sich im Kreis oder tanzen teils auch ganz klassischen Paartanz. Wir sehen eine Gruppe von Männern, von denen einer ein David-Hasselhoff-T-Shirt trägt und ein anderer eine ›Baywatch‹Rettungsschwimmer-Jacke. Eine weitere kleine Männergruppe in Trachten wirkt sichtlich angetrunken; einer von ihnen tanzt in ausholenden Bewegungen und schwenkt dabei seinen Bierkrug, sein Kopf ist rot angelaufen. Die ganze Dreiergruppe scheint ein Auge auf eine Frau in ihrer Nähe geworfen zu haben, die allein auf einer angrenzenden Bierbank vor sich hin tanzt. Einer nähert sich der Frau tanzend. Nach kurzem Blickkontakt legt er seinen Arm um sie, und vergnügt tanzen die beiden zu ›Bergbauernbuam‹«. Am gleichen Ort besuchen wir wenige Tage zuvor in einem größeren — wir schätzen 2000 Leute umfassenden — Zelt einen Auftritt der steirischen Band Die Edlseer. Bei dieser Performance finden wir ein charakteristisches Bild vor, wie es unsere Feldnotizen festhalten: Zitat aus den Feldnotizen, September 2019: »Alle zwei bis drei Songs stimmt die Band in den Zwischenansagen ›Ein Prosit der Gemütlichkeit‹ an. Das Motto wird von vielen der Anwesenden lauthals mitgesungen — und ernst genommen. In unserer Nähe befindet sich eine — wie eine Vielzahl der Anwesenden — in Trachten gekleidete Gruppe von Männern und Frauen zwischen 30 und 40 Jahren, die regelrecht ein Bier nach dem anderen trinken und zwischendurch mehrere Schnäpse konsumieren. Maßlosigkeit ist an diesem frühen Nachmittag an der Tagesordnung: Serviert wird das Bier im Literkrug, der Schnaps wird von Verkäuferinnen in trachtähnlicher Kleidung feilgeboten, die in ihrem Bauchladen auch Brezeln im XXL-Format im Angebot haben. Das Publikum ist in seiner Altersstruktur bunt zusammengesetzt. Der nun folgende Song, inmitten eines Programms aus dem Spektrum des volkstümlichen Schlagers, regt zum Schunkeln an — das Publikum wird dazu von Sänger Fritz explizit aufgefordert: ›Beim Nebenmann‹ (die ›Nebenfrauen‹ sind implizit mitgemeint?) solle man sich einhaken. Die Band trägt, nachdem die an steirische Trachten erinnernden grünen Lodenjacken abgelegt wurden, T-Shirts mit dem österreichischen Nationalwappen zur Lederhose.« Man merkt es bereits an diesen kurzen Beschreibungen: Im Festzelt begegnen wir sozialen Praktiken, die in eigentümlicher Weise einen Umgang mit legalen Drogen, Geschlecht oder Nation hervorbringen — stets vermittelt durch Musik. Wir benötigen daher eine methodische Herangehensweise, die Musik und Feld gleichermaßen ernst nimmt.
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ANDRÉ DOEHRING UND KAI GINKEL
2.2 Methodologische Rahmung Methodologisch betrachtet vereint unsere Forschung zwei Herangehensweisen: Erstens die ethnografische Feldforschung im Sinn der teilnehmenden Beobachtung. Hier erfahren wir, gleichsam am eigenen Leib, wie Musik in unserem Feld aktiviert und welche Gemeinschaftsbildungen dabei angeboten werden — über Letzteres erfahren wir nämlich auch etwas, wenn wir uns vor Ort gerade nicht zugehörig fühlen. So geschehen etwa, wenn wir als seit vielen Jahren in Österreich lebende Deutsche ins Überlegen geraten, ob wir beim Publikumsspiel der Edlseer auf die Frage »Wo sind die Steirer?« mitmachen sollen respektive überhaupt dürfen (wie mag es dann eigentlich den Steirer*innen im Zelt gehen?). Jeder Einschluss — um den geht es den Edlseern ja in ihrem audiencing (Born 2021: 189) — produziert zugleich Ausschlüsse und Ambivalenzen. Letzteres ist der Fall, wenn uns im Festzelt die Musik mitreißt, obwohl wir doch wissen, dass wir hier politisch keinesfalls dazugehören möchten. Diese Ambivalenzerfahrung endet übrigens nicht im Festzelt, da das Musikerlebnis mit uns mitreist: Bis heute haben wir etwa den nationalchauvinistischen Edlseer-Song »Die Musik kommt aus Österreich« (Edlseer 2013) im Ohr, wenn wir nur über dieses Event sprechen. »Guade Musik da braucht ma ned moi a stolzer Österreicher sein«, befindet »Bongibrother TV« in einem Youtube-Kommentar zum offiziellen Musikvideo.4 In der Tat: Dieser Song animiert zum vokalen oder bloß körperlichen Mitvollzug, er ist memorabel und macht Spaß — er bietet aber zudem die affordance der für uns hoch ambivalenten Erfahrung, sich wie »a stolzer Österreicher« zu fühlen — oder gar Stolz auf Österreich (Edlseer 2008) zu sein. Diese aufschlussreichen Momente entstehen in der Teilnahme vor Ort. Wir können sie nicht durch das Schauen von Videos ersetzen (erst recht nicht ohne Ton). Ausgangspunkt unserer Feldforschung war in diesem Sinn die öffentliche Artikulation von populärer Musik und rechtspopulistischer und -extremer5 Politik. Folglich waren Wahlkampfveranstaltungen der FPÖ in Wien, Graz sowie im ländlichen Österreich zentral. Hier interessierte uns die Musikauswahl, aber auch das materielle Arrangement, das diese begleitet und unterstützt. Die Selektionen auf diesen Veranstaltungen erschienen uns einerseits
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»Die Edlseer — Die Musik kommt aus Österreich (Offizielles Musikvideo)«, https:// www.youtube.com/watch?v=fT6K5x6QvSg (Zugriff: 19.4.2021) Das Mauthausen Komitee Österreich (2017: 13) konstatiert in einer entsprechenden Broschüre: »Die FPÖ arbeitet eng mit rechtsextremen Kräften im In- und Ausland [...] zusammen. [...] Die FPÖ zeigt immer wieder eine ausgeprägte Nähe zur NS-Ideologie.« Vgl. zudem Reiter (2019: 256ff.).
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DER MODUS DES BIERZELTS oft unpolitisch, andererseits aber vielsagend, und sie konfrontierten uns mit der Frage, wie hier politische Bedeutung hergestellt wird. Wir besuchten auf dieser Basis zudem Konzerte und Volksfeste, die uns für unsere Forschung relevant erschienen, da wir den nicht-humanen Akteuren unserer Forschung folgten. Hier begegneten wir zahlreichen musikalischen Überschneidungen mit den Wahlkampfveranstaltungen, ähnlichen Kleidungs- oder Ernährungsstilen. Zweitens nahmen wir die Musik in ihrer klanglichen Struktur und möglichen Bedeutungshorizonten ernst. In unseren Gruppenanalysen — im internationalen Projekt als Musicological Group Analysis, kurz MGA (vgl. Appen et al. 2015, Doehring et al. 2019), gefasst — untersuchten wir die musikalischen affordances einzelner zentraler Songs. In den MGAs bekommt eine Gruppe von ca. fünf Personen zunächst nur Klang ohne weitere Informationen vorgespielt, dessen subjektive Bedeutungszuschreibungen sie analytisch im Klanggeschehen verorten und so der Gruppe zur Diskussion stellen; diese wird zur späteren qualitativen Auswertung aufgenommen. In Sessions von durchschnittlich zwei Stunden werden nach und nach weitere Informationen (Name der Interpret*innen, Titel, Jahr der Aufnahme, später auch visuelle Informationen wie Bilder oder Musik- respektive Feldvideos) zugeführt, was zur systematischen Ausarbeitung eines Möglichkeitshorizonts der Rezeption dieser Musik führt, der in jedem Fall weiter ist als das Ergebnis einer sonst von einem Individuum durchgeführten Musikanalyse. Zusammengesetzt waren sämtliche unserer Gruppenkonstellationen aus Teilnehmer*innen sowohl österreichischer als auch deutscher Herkunft, mitunter verstärkt durch einen Teilnehmer britischer Herkunft. Die unterschiedlichen Sozialisationen stellten sich hierbei als gewinnbringend heraus, schließlich war es Ziel der Methode, eine weite Bandbreite von Deutungen zu erfassen. Dies gelang ausgesprochen gut durch die Kontrastierung von Assoziationen, die zur Musik vor dem Hintergrund österreichischer und nicht-österreichischer Sozialisationsgeschichten artikuliert wurden. Es erscheint uns angebracht darauf hinzuweisen, dass es im Folgenden niemals um Musik ›an sich‹ geht, sondern stets um Klang als Bestandteil spezifischer »material arrangements« (Schatzki 2002: 63ff.) sowie ihrer Praktiken und Diskurse. Das bedeutet in aller Konsequenz, dass Musik keine festgelegten Bedeutungen inhärent sind. Stattdessen wird Bedeutung im praktischen Vollzug etabliert, als musikalische Praxis (Blaukopf 1984) oder auch »musicking« (Small 1998). Unser Ansatz geht damit Hand in Hand mit der diskursiv-performativen Populismusforschung, die auf Verkörperung, Performance und Symbole fokussiert (vgl. Moffitt 2020: 22f.) und, anstatt präexistenten politischen Identitäten nachzuspüren, darauf schaut, wie der
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ANDRÉ DOEHRING UND KAI GINKEL charakteristische Gegensatz der »people« und des »hegemonic bloc« in spezifischen Situationen im Sinne Ernesto Laclaus (2005: 67ff.) hervorgebracht werden (»how are the people constructed?«). In praktisch-symbolischen Vollzügen von Deutung und Beglaubigung (Schmidt 2012: 41) wird Musik somit überhaupt erst als politisch bedeutsam hergestellt, indem sie Hörer*innen eine Zuordnung zu den »people« nahelegt. Wir sehen es als Aufgabe sowohl der Feldarbeit als auch der MGA, der Herstellung von politischer Bedeutung in actu nachzuspüren — im Sinn eines sozio-materiell gedachten »following the actor« (Latour 2007: 12).
3. Politische und ökonomische Kontexte des Festzelts und seiner Musiken Die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) ist Österreichs größte Partei am rechten politischen Rand. Als Vorgängerpartei der 1955 gegründeten FPÖ gilt der »Verband der Unabhängigen« (VdU), der sich u.a. aus ehemaligen Nationalsozialisten zusammensetzte, die bei der ersten Nationalratswahl 1945 kein Wahlrecht besaßen (Reiter 2019: 71ff.). Als kleiner Koalitionspartner war die FPÖ seit 1983 bisher viermal in einer Bundesregierung vertreten. Sie gilt als populistische Partei, da sie sich in ihrem Stil gegen das ›Establishment› positioniert; es herrscht hier ein exklusives Verständnis von ›Volk‹ vor, das sich gegen ›Eliten‹ und ethnische Minderheiten positioniert (vgl. Pelinka 2005: 17). Der Kontext unserer Forschung (2019-2022) war durch erhebliche Umbrüche in der österreichischen Politik geprägt. Zu Beginn, im Frühjahr 2019, wirkt noch die Bundespräsidentenwahl 2017 nach, die der unabhängige6 Kandidat Alexander van der Bellen knapp gegen den FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer gewann. Im Dezember 2017 begann überdies die Zeit der Bundesregierung unter Kanzler Sebastian Kurz mit einer Koalition zwischen der bürgerlich-konservativen ÖVP und der FPÖ. Diese Regierung brach im Mai 2019 kurz vor der Wahl zum Europäischen Parlament auseinander, als das geheim aufgenommene sogenannte »Ibiza-Video« den damaligen Vizekanzler und FPÖBundesparteiobmann Heinz-Christian Strache in korrumpierenden Situationen zeigte. Nach Neuwahlen im September 2019 regierte die ÖVP fortan mit den Grünen weiter, während die FPÖ unter neuer Führung von zunächst Norbert 6
Van der Bellen war zuvor SPÖ-, ab Ende der 1980er Jahre Grünen-Mitglied. Die Grünen führte er elf Jahre als Bundessprecher, war neun Jahre Klubobmann (Fraktionsvorsitzender) im Nationalrat und trat erst 2016 vor Beginn des Bundespräsidentenwahlkampfs aus der Partei aus.
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DER MODUS DES BIERZELTS Hofer, seit 2021 unter Herbert Kickl zurück in die Opposition ging. Kurz trat schließlich 2021 unter Korruptionsvorwürfen zurück. Es kam in seiner Regierungszeit und darüber hinaus außerdem zu massiven Protesten gegen die Corona-Politik der Regierung, die von der FPÖ gestützt wurden. Bis zum Auftauchen des »Ibiza-Videos« war die FPÖ über Jahre hinweg durch den Personenkult um Strache geprägt. Ein solcher Kult spielte in der FPÖ zuerst bei Jörg Haider eine Rolle, der von 1986 bis 2000 Vorsitzender der Partei war. Zudem war er seit 1989 bis 1991 und von 1999 bis zu seinem Tod 2008 Landeshauptmann des Bundeslandes Kärnten. Als Populist stand Haider für das rurale Kärnten und eine Ablehnung der Europäischen Union. Sein Politikstil beeinflusst die Parteipolitik bis heute; so etablierte Haider z.B. eine Ansprache an den Mainstream, die später von Strache fortgesetzt wurde. Letztgenannter besitzt zwar ein weniger seriöses Image als der promovierte Jurist Haider, u.a. aufgrund seiner ›Wehrsportübungen‹ mit dem später wegen Wiederbetätigung7 verurteilten Gottfried Küssel (Der Standard 2009). Dennoch gelang Strache lange Zeit in seinem Auftreten und seiner Ansprache die Fortführung, gar Verfeinerung der von Haider etablierten bemerkenswerten Volksnähe. Diese Weiterführung von Parteikonventionen ist auch im Musikgebrauch der Partei zu entdecken, wenn wir uns der einleitenden Beschreibung einer Festzelt-Party erinnern. Sie bezieht sich nämlich auf ein Video der John Otti Band von 1991. Diese Band, die nach einer einzigen Albumproduktion seit langem vorrangig als Live-Coverband in Erscheinung tritt, wurde etwa um diese Zeit vom damaligen FPÖ-Politiker Jörg Haider ›entdeckt‹ und fortan engagiert, um seine Veranstaltungen musikalisch zu rahmen. Bis heute, also gut 30 Jahre später, bespielt sie viele Wahlkampfveranstaltungen der Partei mit populärer Musik. Der Setzung von politischen Botschaften einer Partei der extremen Rechten scheint dies also gut zu bekommen — ein Ansporn mehr, zu erkunden, was an diesen Orten eigentlich der Fall ist, wenn populäre Musik der FPÖ die Arena bereitet. Der Griff zu populärer Musik erfolgt nicht grundlos. Obwohl Österreich weithin bekannt ist für seine klassische Musiktradition, spielt Popularmusik aus Österreich nicht erst seit »The Sound of Music« (1959 UA; 1965 Filmpremiere) eine Rolle mindestens im deutschsprachigen, z.T. auch englischsprachigen Raum. Seit den 1970er und 1980er Jahren sind etwa Udo Jürgens, Rainhard Fendrich, STS oder die Erste Allgemeine Verunsicherung (EAV) sowie die in den US-Charts hoch platzierten Falco oder Opus zu nennen. Populäre 7
Der Begriff bezeichnet verkürzt einen Straftatbestand entsprechend eines österreichischen Verfassungsgesetzes, nach dem jede Betätigung im Sinn des Nationalsozialismus bei Strafe verboten ist.
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ANDRÉ DOEHRING UND KAI GINKEL Musik des sog. Austropop (vgl. Fürnkranz 2020) hatte in dieser Zeit vor allem innerhalb Österreichs Erfolge. Internationale Aufmerksamkeit erhielten in der jüngeren Zeit etwa die Eurovision-Gewinnerin Conchita Wurst oder die Band Bilderbuch, die jüngst eine Tournee in den USA absolvierte. Es gibt im TV überdies erfolgreiche Formate wie die populäre Gesangsshow Starmania; Österreich hat außerdem mehrere große Festivals populärer Musik zu bieten, darunter Novarock, Popfest und das Donauinselfest. Es dürfte daher nicht verwundern, dass eine rechtspopulistische Partei auf populäre Musik zurückgreift. Interessanterweise ist die bei der FPÖ erklingende Musik jedoch hoch spezifisch: Es sind gerade nicht die tagesaktuellen populären Hits der Charts, Wursts queere Hymnen oder der Indierock von Bilderbuch, die dort erklingen. Stattdessen treffen wir bei den Parteiveranstaltungen auf eine Mischung aus wenigen Evergreens wie den eingangs erklingenden Märschen, ein oder zwei Countrysongs aus den 1980er Jahren in englischer Sprache, wenigen österreichischen Pophits wie z.B. Andreas Gabaliers (2015) »Hulapalu« und vor allen Dingen: volkstümlichen Schlagern. Durch diese Selektion wird im Rahmen dieser Veranstaltungen ein deutscher bzw. spezifisch österreichischer Sprachraum eröffnet, der als Ein- oder Ausschlusskriterium das Dialektale in höchstem Maße ausstellt. Wer hier mitsingen kann, gehört wirklich ›zu uns‹ und somit nicht zu anderen Gruppen (z.B. durch bestimmte Merkmale, wie Urbanität oder ›Hochkultur‹, gekennzeichneten ›Eliten‹), von denen man sich durch die Selektionen implizit abgrenzt. Um die Popularität der Festzeltmusiken zu verstehen, die charakteristisch für den Musikgebrauch der FPÖ sind, kann etwa ein Blick in die FacebookGruppe »JOHN OTTI BAND Freunde für immer!!!«8 Aufschluss geben. Hier werden von engagierten Fans die Aktivitäten der Band auch außerhalb der politischen Engagements bei FPÖ-Veranstaltungen dokumentiert, z.B. durch Fotos und Videos von der Veranstaltung »Oed on Fire«, die in einem Bierzelt in Oed (Oberösterreich, Einwohnerzahl im Januar 2021: 52) stattfand. Hier sehen wir, neben der Dokumentation oben erwähnter einschlägiger Szenen, in einem Video, wie die John Otti Band — auf einer nicht explizit politischen Veranstaltung, wohlgemerkt — die offizielle und als solche unmissverständliche FPÖ-Parteihymne »Immer wieder Österreich« (Otti 2016) spielt. Das Publikum reagiert mit Begeisterung, und die Hymne wird von nicht wenigen der Anwesenden mitgesungen; selbst wer sie zuvor nicht gekannt haben sollte, wird durch die Pachelbel-Struktur der Harmonik, den einprägsamen Text des Chorus (»Immer wieder Österreich / Immer wieder Österreich / Immer wieder Österreich / Für immer und ewig«) und seine vielen Wiederholungen leicht 8
https://www.facebook.com/groups/111005038927658 (Zugriff: 30.3.2022)
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DER MODUS DES BIERZELTS zum musikalischen Mitvollzug eingeladen. In Oed jedenfalls kennt man offenbar auch den Text der Verses und singt den Song gemeinsam unbekümmert und laut in der festzeltlichen Öffentlichkeit. Die für FPÖ-Events charakteristische Selektion von Songs ist außerdem in musikwirtschaftlicher Perspektive interessant. Prinzipiell wird der österreichische Musikmarkt von multinationalen Konzernen bestimmt, darunter Warner Music Austria, Sony Music Entertainment Austria oder die Universal Music Group (vgl. Österreichischer Musikatlas 2020). Marktanalysen (IFPI 2022) zeigen, dass das oftmals ideologisierte ökonomische Wachstum derzeit nur im Streaming-Sektor erzielt wird, physische Albenverkäufe jedoch zurückgehen. Die bei FPÖ-Veranstaltungen stattfindende Musik ist in zweifacher Hinsicht davon betroffen: Erstens bleibt die hier zu einem beträchtlichen Teil gespielte volkstümliche Musik aufgrund ihrer Sprachbarriere einem durch prinzipielle Grenzenlosigkeit gekennzeichneten Streamingmarkt fremd und muss sich also, um dennoch der Wachstumslogik zu gehorchen, einem zu vermehrenden lokalen Publikum andienen, sprich: sie muss sich weiter popularisieren. Fernsehsendungen wie »Mei liabste Weis« oder die auch in Österreich gern geschauten TV-Shows von Florian Silbereisen zeugen von diesen Prozessen, die sich, etwa bei Melissa Naschenweng, in erweiterten Performance-Konzepten und hybriden Klangstrukturen niederschlagen. Dies kann einerseits bei Hörer*innen volkstümlicher Musik zu Entfremdung führen, manch eine*r mag ›die Welt‹ nicht mehr verstehen und freut sich umso mehr, wenn z.B. populäre Märsche von Blasmusikkapellen (respektive Dateien auf dem Synthesizer) gespielt werden. Andererseits erklärt sich so, dass auch ›moderner‹ volkstümlicher Schlager wie Gabaliers »Hulapalu« bei diesen Veranstaltungen gespielt wird: Der dem Genre immanente Wille zur Popularisierung ist auch der Partei dienlich, er muss aber in einem überschaubaren Rahmen bleiben, damit ›hier die Welt noch in Ordnung‹ ist. Zweitens zählt das mittelalte Publikum bei FPÖ-Veranstaltungen zum klassischen Albumkäufer*innen-Segment, das aufgrund einer sich umbrechenden Angebotsstruktur, in der man nicht mehr überall ›ihre‹ respektive ›seine‹ Musik kaufen kann, an den Marktrand gedrängt wird. Bei FPÖ-Veranstaltungen aber kommt dieses Publikum nun in den Live-Genuss einer Musik, die in der musikökonomischen Welt ›da draußen‹ zunehmend unter Beschuss gerät. Ein Grund mehr, sich ihr, inmitten der Gruppe Gleichgesinnter, im aktiven Mitvollzug im Festzelt hinzugeben; der Partei als Anbieterin solcher Erlebnisse wiederum verschafft es sicher Sympathien.
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4. Eine Fallstudie: »Fürstenfeld« »Fürstenfeld« von STS (1984) ist ein österreichischer Evergreen. Der Song wurde auf Veranstaltungen der FPÖ gespielt, begegnet uns aber auch anderswo in unserer Feldforschung, wenn wir Orte besuchen, die zu WahlkampfEvents der Freiheitlichen im Hinblick auf materielle Arrangements Ähnlichkeiten aufweisen.
4.1 »Fürstenfeld« im Feld: Aufsteirern Beim Aufsteirern-Festival, einem spätsommerlichen »Volkskulturfest« in der steirischen Landeshauptstadt Graz im Jahr 2019, beobachten wir eine Gruppe junger Menschen Anfang 20, die — übrigens wie fast alle der 130.000 Besucher*innen — für diesen Anlass in pseudo-traditionelle Trachten (Wallnöfer 2020) gekleidet sind. Sie nehmen an einem Silent-Disco-Event teil, bei dem sie alle gleichzeitig über Kopfhörer denselben Song hören, in diesem Fall eben »Fürstenfeld«. Zunächst nehmen die zahlreichen Passanten diese Gruppe nicht wahr, da für sie keine Musik zu hören ist. Doch die Teilnehmer*innen verschaffen sich in ihrer musikalischen Praxis Aufmerksamkeit: Zum Chorus des Songs (»I will wieder ham / Fühl mi da so allan / Brauch ka große Welt / I will ham nach Fürstenfeld«) singen sie nicht nur laut den Text und verkörpern damit die Mehrstimmigkeit des Songs. Sie zeigen durch ihren körperlichen Einsatz zudem Gemeinschaftlichkeit, da sie spontan einen Kreis bilden, sich umarmen und einige sogar den Tuba-Part mitsingen. In der Studioversion des Songs tritt die Tuba bei 4:30 Minuten zum ersten Mal auf, d.h. dieser Song, veröffentlicht Jahre vor der Geburt der Menschen dieser Gruppe, ist von ihnen oft und zur Gänze gehört worden. Diese Szene findet an einem Nachmittag auf einem der prominentesten Plätze der Stadt statt. Das Landtagsgebäude der Steiermark ist nur einen Steinwurf entfernt, ebenso die Hauptbühne vor dem Rathaus, auf der drei Tage lang Blasmusikkapellen sowie so genannte Volkstanzgruppen auftreten und sogar eine Trachtenmodenschau stattfindet. Die gesamte Grazer Innenstadt gleicht beim Aufsteirern einem großen Festzelt. Es gibt eine Reihe von markanten Akteuren, die wir hier identifizieren können: die überall aufgestellten Bierbänke, die pseudo-traditionelle Kleidung; die Musik; die alkoholischen Getränke (überwiegend Bier und Wein), die am frühen Nachmittag öffentlich konsumiert werden; der allgegenwärtige Fleischkonsum. »Fürstenfeld« wird in diesem Rahmen aufgeführt, die lauthals gemeinsam zelebrierte ›Hoamat‹ der jungen Erwachsenen stößt hier auf keine Widerworte.
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4.2 »Fürstenfeld« im Feld: Das FPÖ-Festzelt Mitunter hält die FPÖ Veranstaltungen in einem tatsächlichen Festzelt ab, wie etwa im Hochsommer 2019, als wir im ländlichen Krems an der Donau ein Partei-Event in »Franky's Bierstadl« (Fassungsvermögen etwa 500 Personen) besuchen, nämlich den »Blauen Montag« (neben den vielen weiteren Bedeutungen der Farbe ist Blau der Farbcode der FPÖ). Hier wird nach politischen Reden der einschlägigen, teils durch politische Skandale überregional bekannt gewordene Parteiprominenz von der lokalen Coverband The Hot Dogs auch »Fürstenfeld« gespielt: Zitat aus den Feldnotizen, August 2019: »›Vom Herbert‹ habe man sich überreden lassen, noch eine Stunde dranzuhängen, verkündet eines der Bandmitglieder. Der Gitarrist erhebt sein Bier und prostet dem Publikum zu: ›Prost, Ihr Säcke‹. Das Publikum: ›Prost, du Sack! ‹ Die Band startet mit »Fürstenfeld‹ von STS, einem Song darüber, wie sehr sich der Protagonist als ein erfolgloser Straßenmusiker in Wien zurück nach seiner Heimat, dem beschaulichen Fürstenfeld (Einwohnerzahl im Jahr 2019: 8.625), sehnt. Diese Aufwertung des ländlichen Raumes kommt in Krems gut an. Parallel zum ›Zugabenblock‹ der Hot Dogs findet vorn in Bühnennähe ein zuvor schon mehrfach angekündigter Bieranstich statt: Die Partei verteilt Freibier, und so strömt man nach vorne, um sich für ein Getränk anzustellen. Herbert Kickl, Gottfried Waldhäusl und Udo Landbauer sind auch dort unterwegs, sodass sich Gelegenheit für kurzes Händeschütteln oder ein Selfie bietet. Die FPÖ ist schließlich eine volksnahe Partei: Man ist dort, wo das ›Volk‹ ist, wo das Bier ist, das man selbst dort hingestellt hat.« Wie erklären wir uns das Auftauchen von »Fürstenfeld« auf einer politisch derart verfänglichen Veranstaltung? Es handelt sich um einen Song, der so populär ist, dass man annehmen könnte, dass er hier ohne politische Motivation gespielt wird. Aber warum hören wir dann ausgerechnet diesen Song hier und nicht andere erfolgreiche Musik des oben dargestellten österreichischen Marktes für Popularmusik? Warum spielt die lokale Coverband »Fürstenfeld« und nicht andere erfolgreiche Musik des volkstümlichen Schlagersektors, z.B. »Herzilein«? Macht »Fürstenfeld« vielleicht, ungeachtet der Absichten seiner Macher, Angebote, die einen Anschluss an Agenda und Themensetzungen der FPÖ erlauben?
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4.3 »Fürstenfeld«: Gruppenanalyse In unserer zweistündigen Gruppenanalyse von »Fürstenfeld« fällt sofort auf, dass die Instrumente im Arrangement in einer Weise auftreten, die uns »chronologisch« erscheint und mit der in den Lyrics angelegten Erzählung übereinstimmt: Nach einigen frustrierenden Erfahrungen auf den Straßen der Hauptstadt Wien sehnt sich der Leadsänger zurück in seinen ländlichen Heimatort Fürstenfeld und erklärt in breitem österreichischen Dialekt9, dass er die »große Welt«, das heißt Wien, nicht für ein gelungenes Leben brauche. Auf das von einem dreistimmigen Männerchor a cappella gesungene Intro erklingen zunächst Gitarre und Basstrommel, typisch für Alleinunterhalter und Straßenmusik — an dieser Stelle erscheint der Protagonist für uns »weit weg« und »einsam«. Zum ersten Chorus, der vielstimmig den Wunsch nach dem Heimwollen des Protagonisten äußert und somit bekräftigt, hören wir nach 2:25 den Einsatz des »Polka-Bass« auf den Viertelnoten, der in vielen Musiken, aber eben auch in der Volksmusik und im volkstümlichen Schlager üblich ist. Später hören wir zudem die Instrumente Akkordeon (im Solo ab 3:40 und darauffolgend) und Tuba (von 5:00 bis 5:12 sogar als einziges Instrument) als Signifier der österreichischen Musik aus dem ländlichen Raum — und der Bierzeltmusik. Die Musik nimmt uns also mit auf eine ›Heimreise‹ — sobald das Akkordeon, spätestens aber wenn die Tuba erklingt, ist man endlich am Ziel. Zu beachten ist, dass diese Heimreise rein musikalisch angetreten wird, denn textlich äußert der Protagonist lediglich die Willensbekundung zur Heimreise. Es gibt kein textliches Indiz, dass diese angetreten, geschweige denn beendet wurde; sie ist eine musikalische Imagination. Dieses sich chronologisch entfaltende Arrangement scheint aber bedeutsam zu sein: Wir finden es in seinen wichtigsten Elementen auch in der Coverversion der Edlseer auf dem Album Die größten Hits der Volksmusik (2003) vor, ebenso bei einer Videoaufnahme10 einer FPÖ-Veranstaltung, wo der Song von der John Otti Band gecovert wird: Trotz Unterschieden in der Instrumentierung gegenüber dem Original bleibt in beiden Fällen der prägnante TubaPart im letzten Drittel erhalten. Warum ist das so? Vorbereitet wird der TubaPart durch einen dritten Verse, in dem Leadsänger Schiffkowitz eine Ortschaft nach der anderen aufzählt, die alle deutlich kleiner sind als Wien — und im In unserer MGA stellt sich heraus, dass der Dialekt nicht eindeutig zuzuordnen ist. Er enthält Wiener und steirische Dialektanteile. Wir hören daher einen Mischdialekt, der offenbar als österreichische Mundart erkannt werden soll. 10 »John Otti Band, Fürstenfeld, FPÖ Fest Wiener Rathaus 2014«, https://youtu. be/8jjrBTlK4Ug (Zugriff: 30.3.2022).
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DER MODUS DES BIERZELTS Verlauf immer kleiner werden. Das bringt eine starke Aussage hervor: Während die Musik also zunehmend voller und beschwingter klingt, schrumpft die Umgebung des Protagonisten — und das zu seiner Freude, die sich für uns in der Gruppenanalyse in der Musik widerspiegelt: Hier ist das zentrale Ziel der musikalischen Reise erreicht — selbst eine Coverversion muss diesem Umstand Rechnung zollen. Diese Deutung erklärt auch die oben geschilderte Szene beim Aufsteirern: Das höchste Engagement der Teilnehmenden ist beim Tuba-Part des Endes zu erkennen. Wie oben dargestellt, ist ein Vorteil von MGAs, dass ein breiterer Möglichkeitshorizont in der analysierenden Gruppe auftaucht. Auch hier ist dies der Fall, denn sowohl die Musik als auch das Video ermöglichen, diesen Song ebenso als eine humorvolle Kritik am Protagonisten zu verstehen, dem erfolglosen und selbstmitleidigen Straßenmusiker aus ländlichem Raum, der der Hauptstadt den Rücken kehren will. Am deutlichsten wird diese Kritik im Musikvideo, in dem die Band die Erlebnisse des Protagonisten und sein resultierendes Heimweh auf selbstironische Weise illustriert. STS-Sänger und -Gitarrist Gert Steinbäcker stellt einen lederbehosten Bauerntölpel dar, der verzweifelt versucht, in der Wiener Nachtclubszene zurechtzukommen; in den Lyrics ist der Protagonist irritiert über das subkulturelle Aussehen einer jungen Frau, die er in dieser Umgebung antrifft (»Da geh' i gestern ins U4 / Fangt a Dirndl an zum red'n mit mir / Schwarze Lippen, grüne Haar / Da kannst ja Angst krieg'n, wirklich wahr«). Ironie lässt sich auch in der formalen Komplexität des Songs erkennen: »Fürstenfeld« besteht aus zwei sehr unterschiedlichen Teilen. Zunächst wird das ungewöhnlich lange Intro (1:27 Minuten) von den drei Sängern a capella in einer homophonen Akkordstruktur gesungen, wie man sie von Kirchen- oder ländlichen (Volks-)Chören kennt (zwei Strophen zu je 16 Takten in tempo rubato). Darauf folgt der schnellere Songteil mit voller Band-Instrumentierung und in einer Verse-Chorus-Struktur. Diese beiden Teile haben weder eine gemeinsame Melodie noch andere Elemente, die sie auf offensichtliche Weise miteinander verbinden; die einzige minimale Verbindung ist das Wiederauftauchen des dreistimmigen Chors im Chorus und insofern stärker zu beachten. Der Chor des Intros singt über den späteren Protagonisten des zweiten Songteils in der dritten Person, wodurch eine Meta-Perspektive entsteht, aus der der Protagonist beobachtet wird. Im folgenden Teil betritt dann der Protagonist die Bühne und schildert seine Erlebnisse in der ersten Person, der Chor im Chorus bestärkt diese Persona durch Übernahme der Perspektive der ersten Person. Wir fühlen uns in der MGA beim Chorgesang des Beginns erinnert an die griechische Tragödie, in der der Chor Zeit und Raum überschrei-
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ANDRÉ DOEHRING UND KAI GINKEL tet, Handlungen ankündigt und kommentiert. Im Video zu »Fürstenfeld« überblicken die drei Sänger die Szene im ersten Wiener Gemeindebezirk bei Tagesanbruch auf dem Dach eines Hauses — sie stehen sprichwörtlich über den Dingen und sind nicht direkt in die Geschichte des Songs involviert. In dem Moment, wenn der Song beginnt, ändern sich die Erzählperspektive und die Funktion des Chores im Chorus. In der Ich-Perspektive erzählt die Persona vom Alltag des Straßenmusikanten, im Video stehen alle drei Sänger auf der Kärntner Straße in Wien, wo Schiffkowitz den Straßenmusikanten mimt. Der Wechsel in die Ich-Perspektive im oft wiederholten Chorus macht ein Angebot zur Identifikation der Hörer*innen mit der erzählten Situation. Tatsächlich können wir im durch den Chor eröffneten harmonischen Raum gesanglich unseren Platz in der Gemeinschaft finden, das tempo rubato lässt auch rhythmischen Raum für die Eingliederung. Das Nachhausewollen, das musikalisch durch das sich entfaltende Arrangement im Zusammenspiel mit den Lyrics artikuliert wird, ist für Hörer*innen leicht nachvollziehbar (u.a. durch die Dominant-Tonika-Führung des Chorus mit abschließender, die harmonische ›Heimat‹ bestätigender Vollkadenz I – IV – V – I) und derart mit eigenen Erfahrungen des Nachhausewollens verknüpfbar. Wir performen sie im musikalischen Mitvollzug. Es ist bemerkenswert, dass diese an sich ebenfalls mögliche Interpretation der ironisierenden Kritik am in der Stadt versagenden Landei, die sich aus unserer MGA ergibt und auf den Möglichkeiten des Songs und des dazugehörigen Videos basiert, nicht zentral auftaucht: Wie kommt es, dass Ironie nicht der bevorzugte Rezeptionsmodus ist, den wir im Feld als kulturell bevorzugte, selektive Interpretation antreffen? Dazu bedarf es im Folgenden einer Fokussierung nicht nur auf das größere musikalische Sample unserer Forschung; zudem möchten wir den Blick explizit auf jene soziale Materialität legen, die im Vorangegangenen deskriptiv zur Sprache kam und nun theoretisch vertieft werden soll.
5. Diskussion und Fazit Wir begegnen in unserem Feld einem spezifischen Bild davon, was überhaupt als österreichisch gilt, etwa das Rurale, demgegenüber das Urbane zurückgewiesen wird (vgl. Wallnöfer 2019: 65f.). Theoretisch könnte schließlich vieles andere als typisch verstanden werden, etwa die Wiener Kaffeehaus-Kultur, die Bregenzer Festspiele oder die österreichischen Musikuniversitäten. Doch was wir in unserer Feldarbeit vorfinden, ist eine Praxis selektiver Interpretationen. Diese gilt ebenso für die Musik. Beim Aufsteirern geht »Fürstenfeld«
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DER MODUS DES BIERZELTS jede Ironie verloren, während in Trachten auf einem Trachtenfest euphorisch das Nachhausewollen gefeiert wird, so dass der Song nun die Sehnsucht nach dem Ländlichen performativ auf den Punkt bringt — und das im Zentrum der zweitgrößten Stadt Österreichs, nicht etwa in Oed. An solche kulturell bevorzugten, da sozio-materiell und sozio-musikalisch etablierten Interpretationen schließt die FPÖ mit ihrem Einsatz populärer Musiken an. Sie spielt dabei Musik, die alle kennen, obgleich dieser Teil des Mainstreams auf dem Tonträgermarkt derzeit marginalisiert ist. Die FPÖ wird durch diese Marktlogik gestärkt in ihrer Fähigkeit zur rechtspopulistischen Themensetzung im unverfänglichen Modus der Unterhaltung. Der »ideational approach« (Mudde/Kaltwasser 2017: 5ff.) der Populismusforschung, der Populismus als »thin-centered ideology« betrachtet und somit eine inhaltliche Abhängigkeit von anderen Ideologien proklamiert, findet sich in unseren Fällen bestätigt: Nationalismus (ebd.: 38) und Nativismus (ebd.: 35) sind in den politischen Reden der FPÖ im Modus des Festzelts jederzeit präsent. Der Musikgebrauch vor Ort ist dabei essenziell für den Eingang von Rechtspopulismus in den Mainstream. Ein diskursiv-performativer Forschungsansatz (vgl. Moffitt 2020) kann verfolgen, wie performative Praxis erst politischen Sinn etabliert. In diesem Fall geschieht das durch populäre Musik, materielle Arrangements und Praktiken der Partizipation; selbst der musikalisch begleitete Freibieranstich ist diesbezüglich interpretierbar.
5.1 Der Modus des Bierzelts als Klang-Kulisse Mit unserer Forschung zum Populismus in Österreich hoffen wir, ein Potenzial von Musik aufzuzeigen, das über die Textinterpretation oder über die Bildinterpretation von Plattencovern hinausgeht. Es liegt an uns als Forscher*innen, genauer hinzuhören (Gruppenanalyse) und an relevanten Situationen (ethnographische Feldforschung) teilzunehmen. Diese Musik mag nicht unsere Lieblingsmusik sein, diese politischen Praktiken mögen uns stören. Aber nur hier, im Feld, erleben wir, wie die Musik in Kombination mit dem Setting und seiner Bierseligkeit etwas über eine politische Normalisierung erzählt, die durch die Musik miterzeugt wird. Das Bierzelt fungiert dabei als politischer Möglichkeitsraum und die hier gespielte Musik als Ermöglicherin. Doch was läuft hier eigentlich genau und wie können wir es theoretisch fassen? Auf Basis von mehr als 150 Musik-Beispielen aus unserem Feld können wir schließen, dass es sich um stilistische Mischformen zwischen volkstümlichem Schlager, Rock oder Country handelt. Dies sind allesamt Genres, die einen starken Bezug zu Konstruktionen von Heimat und »heartland« (Taggart 2000)
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ANDRÉ DOEHRING UND KAI GINKEL zulassen — konkret: der ländliche, oftmals alpine Raum in expliziter Abgrenzung zum urbanen Umfeld, der als ein traditionsgebundener, geschlechtergetrennter Kulturraum dargestellt wird, der sich von allem Neuen und Fremden abgrenzt. Solche Konstruktionen und Demarkationen jedoch werden nicht durch Musik ›allein‹ geschaffen, sondern bedürfen einer besonderen soziomateriellen Verstrickung. Diese wird durch das besondere Verhältnis von humanen und nicht-humanen Akteuren (Musik, trachtenmäßige Kleidung, Fähnchen, Bierbänke, mobile Hendlbraterei oder das FPÖ-Werbefeuerzeug als Signum des Lebens- und Politikstils der Partei11) im Rahmen des jeweiligen Events (vgl. Born 2021: 187) gestiftet. Die musikalische Praxis schließt dabei, um eine Formulierung des österreichischen Popstars Andreas Gabalier aufzugreifen, an ein »gewachsenes Lebensgefühl« an, das ›man‹ miteinander teilt (vgl. Fluch 2020). Die FPÖ stellt für ihre Events spezifische Konstellationen her. Die Partei ist bekannt dafür, an zentralen öffentlichen Plätzen voll symbolischen Kapitals Wahlkämpfe zu bestreiten. Die Edlseer etwa, sonst in unserem Forschungszeitraum nicht für ein verfängliches politisches Engagement aufgefallen,12 absolvierten im Jahr 2014 einen Auftritt beim Oktoberfest der FPÖ auf dem Viktor-Adler-Markt im 10. Wiener Gemeindebezirk Favoriten (Favoriten ist ein alter Arbeiter*innenbezirk und heute durch hohe Migration gekennzeichnet). Bezeichnenderweise geschehen diese Parteievents unter freiem Himmel in einem materiellen Modus, der mit charakteristischen Arrangements (etwa: Bierbänke und -ausschank) an das Festzelt und Volksfeste erinnert. Warum? Diese Örtlichkeiten machen spezifische Angebote aufgrund ihrer Materialität. Räumlich und sozial sind weder das Bierzelt noch der Marktplatz geschlossene Räume. Jede*r kann sie betreten, es gibt keinen sozialen Druck, hier von Anfang bis Ende zu bleiben, sondern bei Wohlgefallen das typische Angebot an Speisen (›Hausmannskost‹) und Getränken selbstbestimmt zu genießen. Dabei schafft die Materialität des Zeltes bzw. deren Transfer auf öffentliche Plätze eine besondere Form des sozialen Kontakts. Kein*e Besucher*in kann sich isolieren: Zunächst einander Fremde sitzen sich neben- und gegenüber, erleben Gespräche der anderen von Angesicht zu Angesicht, nehmen vielleicht sogar daran teil; man prostet sich zu und kommt sich näher, sei es durch das kontaktlos kaum zu bewältigende Hinsetzen oder Aufstehen 11 Nach der Novelle des Nichtraucherschutzgesetzes durch die Vorgängerregierung Kern, die im Mai 2018 von der ÖVP-FPÖ-Regierung umgesetzt werden musste, darf auch in Festzelten nicht mehr geraucht werden. 12 Im März 2022 trat die Band etwa auf dem Grazer Schlagerfestival #SaveUkraine auf.
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DER MODUS DES BIERZELTS oder durch zelteigene körperliche Aktivitäten wie Schunkeln, die Polonaise oder andere Formen des Tanzes, etwa wenn der Auf- und Abstieg zum Tanz auf der Bierbank nur unter Hilfestellungen der anderen bewerkstelligt werden kann. Dies alles ist verbunden durch die obligatorische musikalische Präsentation, die jedoch durch das charakteristische Arrangement der Bierzeltgarnituren nicht in den eindeutigen Fokus der Aufmerksamkeit der Besucher*innen gestellt wird: Die Tische und Bänke sind so aufgestellt, dass die Anwesenden seitwärts zur Bühne (und nicht frontal) sitzen, d.h. es ist gerade keine Konzertsituation, sondern das audiencing ist geprägt durch bestimmte Ideen der Unterhaltung. Wer mag, kann sich der Musik und dem auf dieser Bühne ebenfalls stattfindenden politischen Geschehen zuwenden. Die Materialitäten werden im Miteinander also zu wichtigen Akteuren des sozialen Raums des Festzeltgeschehens. Wir identifizieren hier einen Modus des Bierzelts, der materiell und musikalisch eine spezifische Gemeinschaft der Anwesenden als Möglichkeitsraum stiftet und menschliche Akteure für sich gewinnt. Dies ist theoretisch zu verstehen im Sinn einer assemblage (Born 2011: 379ff.), die eine politisierende Wirkung entfaltet: Involviert in die Herstellung virtueller Kollektive, ist die Musik hier Teil einer Konstellation von Relationen. Wofür aber gewinnt dieser Raum seine Teilnehmer*innen? Zumeist jedenfalls für eine ›gute Zeit‹, denn mit dieser ist der Raum des Bierzelts sozial assoziiert — hier in Hinblick auf bestimmte Musiken, Praktiken, Bräuche und Arrangements. Gleichwohl auch anderswo Bierzelte stehen, etwa in Italien die Kommunisten in ähnlichen Arrangements ihre Parteiveranstaltungen (aus oben gezeigten guten Gründen) abhalten, begegnet uns dieser Modus als musikalischpolitische Praxis des Rechtspopulismus in Österreich: Die FPÖ setzt spezifische Musik im Modus des Bierzeltes ein, einem offenen Rahmen, in dem gewisse Regeln herrschen, aber Hemmungen fallen dürfen. Pierre Ostiguys (2017: 74) »flaunting of the low« als Modus der populistischen Mobilisierung mag auf den ersten Blick der passende Begriff sein, der die für den Populismus typische Konstruktion, öffentliche Verteidigung und strategische Übernahme eines ›Unten‹ durch Populisten fasst, dem als die ›real people‹ einer Nation ein ›Oben‹ der kritisierten Eliten gegenübergestellt wird. Aber das Bierzelt ist unserer Beobachtung zufolge ein ausgesprochen offener Raum mit einem gemischten Publikum aus verschiedenen sozialen Schichten. Es ist hier gerade kein soziales ›Unten‹, sondern ein breiterer Mainstream anzutreffen. Jede*r ist willkommen, der*die im audiencing einer erlebbaren Zugehörigkeit in dieser sozio-materiellen Klang-Kulisse als Teil ›der Steirer‹, ›der Kärntner‹ oder eben ›der Österreicher‹ performativ hervorgebracht wird. ›Österreich‹
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ANDRÉ DOEHRING UND KAI GINKEL erscheint in diesen Verhältnissen als ruraler Sehnsuchtsort »unserer Menschen« (Herbert Kickl bei einer FPÖ-Veranstaltung in Graz), der das Gute repräsentiert, das in Zeiten realer und konstruierter Krisen der populistischen Politik als Motiv dienlich ist. Das Feiern von Heimat ist an diesem Ort durch die Assemblage und den Modus einfach möglich und erstrebenswert. Die in Bierzelten zu hörende Musik ist unterhaltsam und gilt als unpolitisch. Ihr Einsatz ist eine große Chance, Themen des Rechtspopulismus in breite gesellschaftliche Bereiche zu transferieren — und Teilnehmer*innen zu aggregieren (vgl. Born 2011: 378). Hier indes erfährt sie eine assemblierte Politizität (vgl. Doehring/Ginkel 2022) durch ihre spezifisch aktivierende und versammelnde Funktion im politischen Sinn: Diese Versammlung spricht, bevor sie überhaupt ein Wort gesagt hat (vgl. Butler 2016: 204). Ein Blatt vor den Mund nehmen müssen die politischen Akteure dabei keinesfalls: In diesen Räumen ist es möglich, rechtsextreme Aussagen in einer assemblierten Umgebung zu machen, die gerade nicht kontrovers erscheint. Vor diesem Hintergrund plädieren wir mit Nachdruck dafür, populäre Musik und, mit ihr, populäre Orte und deren Materialitäten in der Popularmusikforschung zu verankern: Das österreichische Festzelt führt uns eine soziale und politische Relevanz einer solchen Fokussierung klar vor Augen.
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Abstract Our chapter addresses the beer tent as a space of political possibility. The music played here, which is often unsuspicious from a political point of view, is part of an arrangement in the form of characteristic materialities. Our research illustrates the political use of this specific mode in the context of far-right populism by the Freedom Party of Austria (FPÖ) and its public election campaign events. We address this topic through a methodological approach that combines ethnographic work with in-depth group analyses of the music we found, which we address in terms of its affordances. The overall socio-material arrangement and its audiencing establish a specific mode of reception that tends to exclude ironic interpretations. In this way, the music heard at the publicly accessible locations makes it possible to transfer right-wing populist issues to broader realms of society. Finally, against this background, we argue for establishing the beer tent as a fruitful subject of popular music research.
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PUNK, ROCK, MODE. SUBKULTURELLE TOTENKOPFMOTIVE UND MILITÄRHISTORISCHE VERFLECHTUNGEN Adrian Ruda Darstellungen von Totenköpfen sind Bestandteile alltäglicher Bekleidungskultur. Seit über 30 Jahren werden sie mit konjunkturellen Schwankungen in Kollektionen global agierender Bekleidungsunternehmen verwendet. Erst gegen Ende der 2000er Jahre wurden die internationale Presse und einzelne Forschungszweige auf die Popularität von menschlichen Schädelknochen als Ornamente auf zeitgenössischer Kleidung aufmerksam. Auf der Suche nach Erklärungen dafür, wie die Motive zu verstehen sind, wurden neben religiöser Symbolik Piratennarrative als maßgebliche Inspirationsquelle interpretiert, weshalb Konnotationen von Freiheit und Abenteuer zentral seien. Daneben werden immer wieder Subkulturen wie Rock, Punk und Metal als hauptsächliche Einflussfaktoren diskutiert. Diese Subkulturen hätten dem Totenkopf einen rebellischen Impetus verliehen, sodass er heute als Symbol für Selbstbestimmung, Individualität und Coolness beliebt sei (vgl. Foltyn 2010; Richard/ Grünwald/Recht 2010; Trattner 2010; Buhl 2011; Pfeifenroth 2011; Richard/ Grünwald 2011; Diman/Bendandi 2015: 5; Krämer 2015; Rollig/Guttmann 2015: 62; Schröer 2015: 80; Trattner 2015: 112-121; Barratt 2016: 239; Cecil 2016: 136; Neurath 2016: 133; Nozedar 2016: 35-37; Trattner 2019). Bislang ist offengeblieben, wie es zu solchen Bedeutungszuweisungen gekommen ist. Der vorliegende Beitrag geht deshalb der Frage nach, wie bzw. welche Totenkopfmotive in populären Subkulturen wie Punk verwendet worden sind, woher sie stammen und wie sie bis in die Gegenwart nachwirken. Er zeigt im Kern auf, dass der Punk-Style (vgl. Sklar 2013), der vielfach als Erklärung herangezogen wird, im Entstehungszeitraum in den 1970er und 1980er Jahren Totenkopfmotive adaptierte, die ursprünglich in militärischen Zusammenhängen gestanden hatten und kaum mit Piraten oder Religion zusammenhingen. Dazu werden motivgeschichtliche Erkenntnisse und subkulturelle Performanz anhand disparater Fundstellen analytisch zusammengeführt: Indem Historizi-
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ADRIAN RUDA tät und Ikonografie spezifischer Motive berücksichtigt werden, kann die gängige Betrachtungsweise vermieden werden, die differente Motive als Totenkopfsymbol verallgemeinert, simplifiziert und dadurch entscheidende Details übersieht. Die Analyse vestimentärer Zusammenhänge von Subkulturen und Motivgeschichte ist getragen von einem kulturanthropologischen Verständnis von Kleidung und Mode, die als Forschungsfelder und kulturelle Modi begriffen werden: Kleidung ist umfassend in soziale und diskursive Aushandlungsprozesse involviert, die zu zeitlich und räumlich potentiell differenten Auffassungen von Identität, Körper, Geschlecht, Milieu, Macht, Ästhetik, Habitus usw. führen (vgl. Entwistle 2000; Entwistle/Wilson 2001; Barnard 2002: 33; Craik 2009; Kaiser 2012; Mentges 2014). Gerade in jenen soziokulturellen Gemeinschaften, die als Subkulturen theoretisiert und diskutiert werden (vgl. dazu grundlegend Brake 1985; Muggleton 2000; Muggleton/Weinzierl 2003; Hodkinson/Deike 2007; Jacke 2009; Berzano/Genova 2015), — und den in vielen Fällen untrennbar mit ihnen verflochtenen Musikkulturen — ist vestimentäre Performanz eng mit Selbstverständnissen und Haltungen der handelnden Subjekte verbunden (vgl. bspw. Polhemus/Procter 1984; McLaughlin 2000; Brill 2008; Pih 2013; Rüß 2020). Ihre Kleidung kann soziale oder politische Positionierungen und Statements implizieren, die durch Nachahmung in Fangemeinschaften und Szenen — hier verstanden als soziale Netzwerke kultureller Selbststilisierung (vgl. Hitzler/Niederbacher 2010) — sowie aus ihnen heraus gesellschaftliche Relevanz entfalten. In der kulturwissenschaftlichen Analyse von Visualität, Materialität und Medialität einzelner Kleidungsstücke und deren modischen Verbreitungsdynamiken können die in ihnen repräsentierten kulturellen Deutungsmuster sichtbar gemacht werden. Der Weg jener kultur- und militärhistorisch signifikanten Totenkopfmotive in den Punk und das Potential, das sie dort in Hinblick auf ihre Verwendung in der heutigen Massenmode entfaltet haben, wird in diesem Beitrag anhand zeithistorischer Fotografien, Druckerzeugnisse und Filmaufnahmen rekonstruiert. Entgegen der geläufigen Meinung kann dadurch gezeigt werden, dass es nicht ausreicht, allein auf Subkulturen wie Punk zu verweisen, wenn geklärt werden soll, wie und weshalb Totenkopfmotive heute auf Kleidung getragen werden. Anhand der Fallbeispiele wird ein übergeordneter Zusammenhang von Musik- und Subkulturen, Militärgeschichte und Moden deutlich, der sich auch auf andere Untersuchungsgegenstände übertragen lässt.
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PUNK, ROCK, MODE. TOTENKOPFMOTIVE UND MILITÄRHISTORISCHE VERFLECHTUNGEN
Subkulturelle Stile, Totenkopf und Militärsymbolik Noch während Punk sich Ende der 1970er Jahre entfaltete, stellte der Soziologe Dick Hebdige die Jugend- und Musikszene als Protestkultur in den Mittelpunkt seiner Studie Subculture. The Meaning of Style. In seinem 1979 erschienenen Buch interpretiert Hebdige unter Bezugnahme auf semiotische Ansätze von Claude Levi-Strauss und Roland Barthes sowie in Anlehnung an Stuart Hall den Bekleidungs- und Lebensstil von Punks als symbolischen Widerstand gegen hegemoniale und normative Verhältnisse (vgl. Hebdige 1979: 18). In Bezug auf als anstößig wahrgenommene Objekte, Materialien, Designs und Verhaltensweisen zeigt Hebdige auf, dass Bedeutungszuweisungen im Punk aus früheren Jugendkulturen schöpfen und gerade in ihrer Vieldeutigkeit konventionellen Lesarten widersprechen (ebd.: 117). Er legt dar, dass die Kommodifizierung subkultureller Stilelemente meist aus dem Inneren jener Gemeinschaften heraus angestoßen werde und das Ende einer jeden Subkultur einläute (ebd.: 95 u. 100): Das Zur-Ware-Werden von (im-)materiellen Charakteristika des Punk in Versandhandel, Fan-Magazin und Plattenladen habe »unausweichlich zur Entschärfung der subversiven Kraft« (Hebdige 1983: 86) geführt. In Hinblick auf eine 1977 vom Punk inspirierte Modekollektion von Zandra Rhodes zeigt Hebdige auf, dass der in der Kleidung repräsentierte Protest schließlich von der Konsumindustrie absorbiert und in Gestalt der Mode als neue Konvention vermarktet worden sei (vgl. Hebdige 1979: 96). Hebdiges Ansatz hat die Betrachtung von Subkulturen bis heute nachhaltig geprägt und wurde mehrfach kritisch diskutiert (vgl. Gildart et al. 2020). Der Soziologe David Muggleton sieht in der von Hebdige skizzierten Entkoppelung der jeweiligen Stile von ihren subkulturellen Ideologien einen Paradigmenwechsel, der es sog. Post-Subkulturisten erlaube zwischen subkulturellen Stilen wechseln zu können, ohne von ihnen abhängig oder auf sie festgeschrieben zu sein (vgl. Muggleton 2000: 47). Vor dem Hintergrund der hohen Dynamik subkultureller Ausdrucksformen lassen sie sich heute ohnehin kaum noch einzelnen Gruppierungen zuordnen, da sie sich ihrerseits häufig festen Zuschreibungen entziehen. Hinsichtlich des vorliegenden Beitrages unterstreichen diese Ansätze, dass Kleidung in Studien zu Subkulturen als stilbildendes Element begriffen werden kann. Damit ist umgekehrt nicht gemeint, dass sich Subkulturen allein anhand von Kleidung klassifizieren ließen. In Hebdiges Argumentation wird die Provenienz subkultureller Stilmittel linear erschlossen: Durch den Transfer von Objekten und Zeichen aus vorangegangenen subkulturellen
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ADRIAN RUDA Kontexten werden auch die dort geprägten Bedeutungszuschreibungen übernommen und adaptiert. Wenn Hebdige davon ausgeht, dass insbesondere Punk »sämtliche Kleidungsstile der Nachkriegs-Jugendsubkulturen« (Hebdige 1983: 28) collagiert habe, dann muss konsequenterweise eingewandt werden, dass auch die vorangegangenen Subkulturen eine Geschichte haben. Da Punk zentrale Kleidungsstücke und Accessoires wie Lederjacken oder militärische Insignien von den sog. Ton-Up-Boys, Halbstarken und Rockern übernommen hat, können diese Gruppen einerseits als wichtige Inspirationsquelle interpretiert werden. Andererseits dienten diese Objekte schon weit zuvor als Symbole sozialer Distinktion (bspw. zur Lederjacke vgl. Lepp 1993; Rüß 2018). In meiner Dissertation (Ruda 2023), die diesem Beitrag zugrunde liegt, habe ich dargelegt, dass Totenkopfmotive auf Kleidung in subkulturellen Kontexten und der Bekleidungsmode u.a. von seit dem 18. Jahrhundert kulturhistorisch tradierten Bedeutungen des europäischen Militärwesens abhängen (vgl. auch im Folgenden Ruda 2023). Zentralen Einfluss hatten Totenkopfmotive, die dem preußischen Militärwesen entstammen: Abzeichen friderizianischer Totenkopfhusaren waren maßgeblich in Diskurse involviert, die den Schädel als Symbol profanierten, mit militärischen Konnotationen versahen und im kollektiven Gedächtnis verankerten. In Europa kristallisierten sich eine Hand voll motivische Varianten heraus, die dezidiert mit Vorstellungen von militärischer Vormacht und Elitismus verbunden waren und dahingehend immer wieder verwendet worden sind. Ausgehend von Uniformen wurden Totenkopfmotive verschiedentlich auf zivile Kleidungsstücke übertragen, wobei die Bedeutungen immer wieder wechselten: Mal bezeichnete der Totenkopf die Konsolidierung bestehender Machtverhältnisse, mal ihren Umsturz. Gerade in Hinblick auf jugend- und subkulturelle Gruppen muss gegenüber gängigen Forschungsnarrativen betont werden, dass Jugendliche in jungbewegter Gruppenfreizeit oder solcher, die von ehemaligen Freikorps getragen wurde, Totenkopfmotive schon vor dem Zweiten Weltkrieg genutzt haben. Während des Nationalsozialismus wurden militärische Totenkopfmotive dann u.a. von nonkonformistischen Jugendlichen als Symbol ersehnter Selbstbestimmung verwendet. Die gleichen preußischen Totenkopfabzeichen, derer sich bis 1934 auch die SS ermächtigt hatte, waren nach Kriegsende in den US-amerikanischen und westeuropäischen Ton-Up-Boy- und Halbstarken-Szenen der 1950er und 1960er Jahre sowie den nachfolgenden Greaser- und Rocker-Clubs populär. Weit über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinweg waren daher speziell militärische Totenkopfmotive dazu prädestiniert, als Zeichen sozialer Abgrenzung von der bürgerlichen Gesellschaft zu fungieren, weshalb sie in zahlreichen internationalen Subkulturen fortgeführt wurden. Um diese Transferprozesse soll es im Folgenden gehen.
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PUNK, ROCK, MODE. TOTENKOPFMOTIVE UND MILITÄRHISTORISCHE VERFLECHTUNGEN
»How to look Punk«. Kleine Stilkunde der Anti-Mode Jugendlichen, die nach 1945 in der westlichen Öffentlichkeit als Rowdys, Halbstarke oder Greaser bezeichnet wurden, waren militärische Totenkopfmotive preußischer Provenienz als Zeichen sozialer Abgrenzung nicht unbekannt. Ein solches Abzeichen ist 1977 in einer Ratgeberbroschüre mit dem Titel How to look Punk (Marliz 1977) als scheinbar evidentes Beispiel für den vermeintlich originären Kleidungsstil von Punks verwendet worden. Das Kompendium führt grundständig in die als typisch präsentierten Bekleidungsweisen im Punk Rock, sprich dessen Anti-Mode, ein. Damit sind gemeinschaftliche, vestimentäre Praktiken gemeint, die sich dem modischen Standard einer Zeit gegenüber weitgehend diametral und herausfordernd verhalten (vgl. Davis 1992; Polhemus 1994). Die als Fan-Magazin (sog. Fanzine) betont eklektisch gestaltete Broschüre stammt aus der Feder der Modejournalistin Mary Elizabeth Norton, die unter dem Pseudonym Marliz Prognosen für die Bekleidungswirtschaft verfasste. Die Gestaltung der Broschüre simuliert eine PunkÄsthetik, die von einer Obsession für Regelbruch, Gewalt und Sexualität getragen ist und die gesellschaftliche Konventionen und Tabus explizit herausfordert (vgl. O'Brien 2008: 98; Steele 1997: 289). Als Subversion gesellschaftlicher Normen gab sich das »anti-design« (Guerra/Quintela 2020: 6) des Punk betont unprofessionell, weswegen medien- und popkulturelle Versatzstücke für die szenebezogenen Druckerzeugnisse (foto-)kopiert und zu einem vermeintlich regellosen Patchwork zusammengefügt wurden (vgl. Turcotte/ Miller 1999; Guerra/Quintela 2020; Turcotte 2020). Die Broschüre offenbart als Zeitdokument, dass Punk schon früh als Impulsgeber für die US-amerikanische Modeindustrie diente und dahingehend in Marketingstrategien implementiert wurde (vgl. Hebdige 1979: 92-94). Als selbsternannte Modeexpertin und Trend-Scout postulierte Marliz, dass Punk Rock als Form jugendlicher Selbstdarstellung keine Regeln kenne und deshalb alles dazu geeignet sei, um die Individualität eines Punks zu artikulieren (vgl. Marliz 1977: 5). Paradoxerweise präsentiert sie gegenüber dem Postulat ultimativer Offenheit und Wahlfreiheit eine vergleichsweise geschlossene Auswahl von idealisierten Objekten, die die Pragmatik und Drastik des Punk-Looks verkörpern sollen; neben Sicherheitsnadeln und Ketten zählen dazu auch Totenkopfabzeichen. Prägnante Zitate aus großen Publikumsmagazinen, Illustrationen und Fotografien einflussreicher Punk-Idole, die die Broschüre säumen, scheinen die Darstellung der Autorin schlüssig zu bestätigen. Dementsprechend wird der vestimentäre Stil von US-amerikanischen Punk-Formationen wie L. A. Knockers,
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ADRIAN RUDA The Germs, The Weirdos, Shock und Idolen wie Belinda Carlisle, Hellin Killer oder Pleasant Gehman als erstrebenswertes Ideal präsentiert. Dazu gehört der Ausschnitt einer mehrfach in der Broschüre genutzten Fotografie, der die Jeanshosen von Mick Wallace abbildet. Der Sänger der US-amerikanischen Punk-Band The Skulls trägt vor der Hüfte eine Kette, an der ein Totenkopfabzeichen befestigt ist, das ursprünglich von den preußischen Leibhusaren genutzt worden war (s. Abb. 1).
Abb. 1: Im Ratgeber How to look Punk (Marliz 1977: 7) wird das militärische Abzeichen der preußischen Totenkopfhusaren als ideales Accessoire für Punk-Outfits präsentiert.
Auch wenn die Broschüre einen anderen Eindruck erweckt, sind sowohl die Verwendung des bis zum Ende des deutschen Kaiserreichs verwendeten Abzeichens als auch die suggestiv-provokative Positionierung des Totenkopfes vor dem Genitalbereich keine originären Spezifika von Punk. Vergleichbare hypermaskuline Gesten dokumentierte der Schweizer Fotograf Karlheinz
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PUNK, ROCK, MODE. TOTENKOPFMOTIVE UND MILITÄRHISTORISCHE VERFLECHTUNGEN Weinberger schon 1962 bei Zürcher Halbstarken, die diverse militärische Insignien umgedeutet und sich zudem u.a. auf Elvis Presleys körperbetonte Bühnenperformance bezogen haben (vgl. Binder/Mattioli 2000). Sie orientierten sich an zentralen Identifikationsfiguren und Medienereignissen der USamerikanisch und britisch dominierten Popkultur, wie dem Schauspieler Marlon Brando (vgl. allg. Maase 1992). Brando trägt in dem 1953 erschienen Film The Wild One (dt. Der Wilde, 1954) auf dem Rücken seiner Lederjacke ein Totenkopfmotiv als Zeichen seines delinquenten Motorradclubs. Eine Fotografie von Weinberger aus dem Jahr 1962 dokumentiert die Adaption des Filmkostüms durch sog. Halbstarken aus dem Raum Basel und Aargau (s. Abb. 2).
Abb. 2: Jugendliche in Basel in der anti-modischen Montur sog. Halbstarker (Foto v. Karlheinz Weinberger, 1962, mit freundl. Genehmigung von Koller Auktionen).
Neben Haartolle (sog. Elvis-Tolle), Kleidung aus Jeansstoff, Nietenbesatz, Ledergurten, Ketten und Stiefeln zeugen die aufgemalten Designs vom Einfluss der frühen Popkultur und Medienereignisse auf anti-modische Kleidungsstile: Sie umfassen einen großen Totenkopf, die anglophonen Spitznamen »JYMY« und »ROCKY«, sowie eine Referenz auf den neuen Telekommunikationssatelliten Telstar 1, dem die Band The Tornados ein kommerziell sehr erfolgreiches Lied gewidmet hat.
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ADRIAN RUDA Da solche Outfits bürgerliche Vorstellungen von Moral und Sittsamkeit herausforderten, machten sich an ihnen in den 1950er und frühen 1960er Jahren gesellschaftliche Diskussionen um Devianz und Jugendkriminalität fest. Neben Weinbergers Sammlung vermittelt die zwischen 1963 und 1967 entstandene Fotoethnografie The Bikeriders des Fotografen Danny Lyon einen Eindruck von den vestimentären Praktiken der militärisch affinen RockerSzenen in Detroit. Neben Totenkopfmotiven mit gekreuzten Kolben, die sich ikonografisch ebenfalls auf The Wild One beziehen, hat Lyon den Gebrauch von deutschen Uniformbestandteilen, wie Eisernen Kreuzen oder sog. Pickelhauben, dokumentiert, die als Symbole für Unnachgiebigkeit und Härte genutzt wurden (vgl. Lyon 1997: 22, 27, 37, 45). Letztere wurden von der PunkBand Broken Bones als Bestandteil ihres Logos verwendet, das zwei militärische Symbole miteinander verbindet: Es zeigt einen Schädel mit einem preußischen Militärhelm mit Spitze und war erstmalig 1984 auf dem Cover ihrer EP I..O..U....Nothing zu sehen. Die hochpreisige Streetwear-Marke R 17 des Designers Chris Leba, die seit 2009 die Ästhetik und Totenkopfmotive von zahlreichen Punk-Bands wie The Exploited, Dom Där oder Misfits kommerzialisiert, hat das Logo 2017 schließlich als aufgenähten Patch auf einer sog. Ripped-Jeans verwendet. Unter den auch als Café Racer bezeichneten Jugendlichen mit und ohne Motorrad waren insbesondere Lederjacken des traditionsreichen Ausstatters für Motorradbekleidung D. Lewis beliebt (vgl. allg. Tanaka/Harris 2017). Spätestens seit 1960 warb Lewis unter dem Slogan »Be different!« (Lewis 1960: 31) dafür, die Jacken durch ein händisch aufgemaltes Totenkopfmotiv zu personalisieren. Da die mit Totenkopfmotiven versehene schwarze Lederkluft mit Individualität, Provokation und Distinktion assoziiert und in dieser Weise vermarktet wurde, überrascht es nicht, dass derartige Aufmachungen mit Totenkopfmotiven später auch bei zahlreichen Performer*innen des Punk Rock zu finden waren. Gerade die US-amerikanischen und britischen RockerSubkulturen sowie die mit ihnen zusammenhängenden Bands haben sich hinsichtlich ihres Umganges mit militärischen Insignien als besonders einflussreich für Punk erwiesen. Abzeichen wie das Eiserne Kreuz, das Hoheitszeichen der NSDAP (Reichsadler mit Hakenkreuz), SS-Runen und SS-Totenkopf sowie diverse Wehrmachtsabzeichen dienten Rockern und Rock-Bands als provokante Bühneninszenierung und Zeichen sozialer Distanzierung — insbesondere von der Hippie-Bewegung —, nicht aber zwangsläufig der Zustimmung zum Nationalsozialismus. Im diskontinuierlich angereicherten subkulturellen Kapital der symbolischen Formen war der Totenkopf ein ebenfalls Zug um Zug etabliertes Zeichen sozialer Rebellion, auf das nachfolgende Generationen, wie die Punks, nur noch zurückzugreifen brauchten — ein Aspekt, auf den sich
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PUNK, ROCK, MODE. TOTENKOPFMOTIVE UND MILITÄRHISTORISCHE VERFLECHTUNGEN Marliz zwar implizit stützen konnte, der aber sowohl in der Aufmachung der Broschüre als auch im dort kommunizierten Selbstverständnis von Punk in den Hintergrund getreten ist.
Militärische Insignien als Stilelemente in Rock und Punk Illustrierte Annoncen, die regelmäßig in US-amerikanischen Motorrad-Magazinen, wie dem 1967 bis 1970 erschienen Choppers oder dem seit 1971 publiziertem Magazin Easyriders abgedruckt worden sind, dokumentieren, dass Akteure und Unternehmen aus der Rocker-Szene Insignien verschiedener Militärwesen selbst als Anti-Mode vermarkteten (vgl. Choppers 1967: 46; Easyriders 1973: 59; 1979: 100). Besondere Beigabe von Easyriders, das den Out– law-Lifestyle des 1969 erschienen Spielfilms Easy Rider mit Dennis Hopper und Peter Fonda programmatisch aufleben ließ, war das vor allem in den 1970er und 1980er Jahren beliebte Iron On. Dabei handelt es sich um Bildoder Schriftvorlagen auf Transferfolie, die durch Hitzeeinwirkung auf ein textiles Gewebe übertragen werden, weshalb haushaltsübliche Bügeleisen zu namensgebenden Werkzeugen dieses Verfahrens wurden. Iron Ons führen vor Augen, dass das Verfahren dazu beigetragen hat, die Visualität von Kleidung schon früh hinsichtlich nonkonformistischer Attitüden auszudifferenzieren, ohne dass es dafür großer Produktionsstätten bedurfte. Iron Ons begünstigten die Verbreitung von Designs, die nicht das Geschmacksempfinden einer breiten Kundschaft berücksichtigen mussten, um rentabel zu sein. Easyriders brachte in den 1970er Jahren verschiedene Iron Ons hervor, wodurch zentrale Symbole der Biker-Szene auf Kleidung abgebildet wurden — darunter sind zahlreiche Totenkopfdarstellungen mit Stahlhelmen und Eisernen Kreuzen. Aus der Vielzahl der Designs ragt eine Bügelfolie aus dem Jahr 1979 mit der stilisierten Darstellung eines Bikers mit ausgestrecktem Mittelfinger und dem Titel »Show 'Em How Ya Feel« hervor (s. Abb. 3a). Sie stützt sich auf kanonische Merkmale subkultureller Kleidung, wozu auch ein Totenkopfemblem am Kragen einer schwarzen Lederjacke zählt. Die selbstreferentielle Darstellung des Rockers kann als identitätsstiftendes Abziehbild für einen rebellischen Habitus interpretiert werden, das dem eigenen Auftritt buchstäblich aufgebügelt werden konnte. Rocker — und mit ihnen ihre Totenkopfmotive — waren zu textilen Designs geworden, die ihrerseits ein Repertoire darstellen, aus dem Punk schöpfte.
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Abb. 3a: Biker mit einschlägigen Insignien als Aufbügelmotiv (gespiegelt) in Easyriders 9 (1979: 77). Abb. 3b: Pin-Badge aus dem Jahr 1977 (Foto v. Rin Tanaka 2012: 77).
Die Adaption jener Bedeutungsgehalte und Dispositive im Punk wird anhand eines sog. Pin-Badge besonders deutlich. Seit der Mitte der 1970er Jahre wurden im UK-Punk neben den bis dato verbreiteten Metall-Pins foliierte Werbeanstecker aus Blech und bedrucktem Papier gebräuchlich. Pin-Badges mit Bezug zu subkulturellen Bands, Gruppen, Slogans und Symbolen verbreiteten sich im Punk schnell und wurden als selbst gestaltete Accessoires mit Potential für subversive oder provokative Botschaften quasi obligatorisch (vgl. MacFie 2014). Aus dieser Zeit stammt ein mehrfach dokumentierter und übereinstimmend auf das Jahr 1977 datierter Pin-Badge (vgl. MoYC 2020), der die Schwarzweißzeichnung einer zum Schlag ausgestreckten Faust mit im Hintergrund angedeuteter Person vor rotem Hintergrund abbildet (s. Abb. 3b). An den Fingern sind vier Ringe mit verschiedenen Symbolen — darunter ein Hakenkreuz — zu sehen, die evident in Bezug zu dem Wort »Punk« zu stehen scheinen, das plakativ darunter platziert wurde. Auch in diesem Fall ging es offenbar darum, eine ausdrucksstarke Botschaft zu vermitteln, die von Gewaltbereitschaft und Provokation zeugt. Es handelt sich bei der Illustration um den Ausschnitt einer Darstellung eines stilisierten Rockers. Sie zirkulierte in den 1970er Jahren in verschiedenen US-amerikanischen Printmedien, die der Rocker-Szene zuzuordnen sind. Unter der Überschrift »Goin' into a heavy neighborhood?« diente die Figur in Annoncen einer Sicherheitsfirma aus Kalifornien als Beispiel für eine Schlägerei oder einen Raubüberfall (s. Abb. 4). Während das Unternehmen den Rocker als gefährlichen Kriminellen präsentierte, um ein Argument für den Verkauf von Ausrüstung zur Selbstverteidi-
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PUNK, ROCK, MODE. TOTENKOPFMOTIVE UND MILITÄRHISTORISCHE VERFLECHTUNGEN gung zu liefern, wurde die Grafik inklusive einschlägiger faschistischer Symbole unter dem Label der Devianz nur wenig später als Zeichen des unangepassten Punk positiv umgedeutet. Das etablierte Rocker-Klischee ging vestimentär in das Selbstverständnis von Punk ein.
Abb. 4: Stilisierter Rocker in einer Annonce (Ausschnitt) der Fa. Mackenzie, die 1976 in Easyriders 6 (S. 73) erschienen ist.
Auf Seiten der Rock-Musiker und -Performer hatten u.a. Brian Jones, Keith Richards, Keith Moon und Ozzy Osbourne erstmals öffentlich Uniformen und Orden der Nationalsozialisten verwendet (vgl. Beeber 2006: 170). Einige USamerikanische Bands, die als Wegbereiter des Punk betrachtet werden, lehnten sich daran an, wie zwei Fotografien aus dem Jahr 1973 vor Augen führen: Eine Aufnahme des Fotografen Julian Wasser zeigt Iggy Pop, Sänger der Band The Stooges, der auf der Bühne von seinem als SS-Mann verkleideten Bandkollegen Ron Asheton ausgepeitscht wird (vgl. Wasser 1973). Im selben Jahr posierten The New York Dolls für den Fotografen Bob Gruen, während Gitarrist Johnny Thunders eine Hakenkreuzarmbinde auf einer schwarzen Lederjacke trug (vgl. Gruen 1973). Auch Sänger Stiv Bators von der einflussreichen Punk Rock-Band Dead Boys nutzte Mitte der 1970er Jahre ein rotes Shirt mit Hakenkreuzsymbol. NS-Insignien waren im aufkommenden Punk von einem Nimbus aus Faszination, Unangepasstheit und Ignoranz umgeben und wurden nicht als Zustimmung zum Faschismus, sondern als anti-modische Zeichen der Rebellion gegen normativ-bürgerliche Kleiderordnungen und Moralvorstellungen verwendet (vgl. Hebdige 1979: 117; Colegrave/Sullivan 2001: 158; Barnard 2002: 44; Boswell 2012: 97-101; Savage 2019: 33). Das provokative Spiel mit den belasteten Symbolen war von Anfang an ein Vermächtnis der Rocker,
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ADRIAN RUDA das im Punk effektiv fortgeführt wurde. Vivienne Westwoods und Malcom McLarens frühe Punk-Kollektionen waren seit 1971 maßgeblich vom Rock beeinflusst: Der Style der Café Racer und Ton-Up-Boys wurde anhand passender Kleidungsstücke und Accessoires von Flohmärkten recycelt (vgl. Gorman 2006: 128 u. 132). In Großbritannien popularisierten später Siouxsie and the Banshees, die Sex Pistols (z.B. während ihres skandalträchtigen Auftritts in der Today-Show mit Bill Grundy im Jahr 1976) oder Szene-Persönlichkeiten wie Soo Catwoman und Debbie Juvenile Kleidungsstücke, die mit Hakenkreuzen und anderen nationalsozialistischen Abzeichen versehen waren. Die Umwertung der Symbole vollzog sich implizit, sodass es keiner gesonderten Erklärung bedurfte: In ihrem Ratgeber präsentiert Marliz zahlreiche Insignien der Nationalsozialisten ganz selbstverständlich als adäquate, vestimentäre Elemente von Punk, ohne das faschistische Erbe der Zeichen und ihre gesellschaftliche Sprengkraft zu thematisieren (Marliz 1977: 9).
Abb. 5: Joan Jett und Gaye Advert (Foto von Roberta Bayley, 1977).
Totenköpfe im frühen Punk Wie bereits in Hinblick auf Mick Wallace und The Skulls angedeutet wurde, nutzten Rock- und Punk Rock-Bands der späten 1970er Jahre wie Discharge, Motörhead, Vice Squad, Sex Pistols oder The Germs und ihre Fangemeinschaften Totenkopfabzeichen des preußischen Militärs, der SS oder auch das Motiv
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PUNK, ROCK, MODE. TOTENKOPFMOTIVE UND MILITÄRHISTORISCHE VERFLECHTUNGEN der britischen 17th/21st Lancers als Anstecker auf dem Kragen schwarzer Lederjacken. Dies veranschaulicht bspw. eine Fotografie von Roberta Bayley aus dem Jahr 1977, die Joan Jett von der Band The Runaways (links im Bild) und Gaye Advert von The Adverts zeigt (s. Abb. 5).
Abb. 6: Offizier des 1. Leibhusaren-Regiments (sog. Totenkopfhusaren) um 1914/15 mit preußischem Totenkopfabzeichen an der Feldmütze (Ausschnitt einer Carte de Visite aus dem Fotoatelier von Konrad Sommer, Langfuhr. Sammlung »C. L«.
Advert trägt ein preußisches Totenkopfemblem und jenes der Lancers unmittelbar nebeneinander am Kragen ihrer schwarzen Lederjacke. Das preußische Totenkopfemblem geht ebenso, wie jenes von Wallace, ursprünglich auf die Leibhusaren zurück und war in der Reichswehr auf Feldmützen ausgesuchter Eliteeinheiten getragen worden (s. Abb. 6). Nach dem Ersten Weltkrieg identifizierten sich in der Weimarer Republik rechtsextreme Freikorps mit dem Emblem, sodass es später auf der Uniform der SS verwendet wurde, bis es dort 1934 durch einen neuen SS-Totenkopf ersetzt wurde. In der Wehrmacht nutzten Panzerverbände das Abzeichen bis Kriegsende auf den Kragen ihrer Uniformen (vgl. Ruda 2023). Adverts Kleidung zeigt, dass der Umgang mit Totenkopfmotiven im Punk der späten 1970er Jahre trotz der dort weitgehend aufrechterhaltenen traditionellen Geschlechterzuschreibungen für Frauen möglich und nicht wie im Militär eine Domäne männlicher Akteure war. Nichtsdestotrotz wird der besondere Stellenwert jenes preußischen Totenkopfabzeichens im Punk hauptsächlich von Bildquellen überliefert, die männliche Performer darstellen: Eine Fotografie von Melanie Nissen, die die PunkSzene in Los Angeles dokumentiert hat, zeigt Darby Crash, Sänger der LAPunk-Band The Germs und Punk-Idol, Ende der 1970er Jahre mit dem gleichen Totenkopfabzeichen am Kragen einer schwarzen Lederjacke (vgl. Nissen 2022: 1). Auch Sid Vicious nutzte das Abzeichen in vergleichbarer Weise. Eine
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ADRIAN RUDA bekannte Aufnahme des Fotoreporters Clifford Ling bildet Vicious ab, wie er sich im Jahr 1977 mit einem angedeuteten Tritt gegen ein Londoner Taxi als alkoholisierter Rowdy öffentlich in Szene setzt (vgl. Ling 1977; Bolton 2019: 87). Auf Vicious' nietenbesetzter Lederjacke ist neben Insignien wie dem Reichsadler am Kragen das preußische Totenkopfemblem montiert. Haarstyling, Halsschmuck, Lederjacke und nicht zuletzt die von Crash und Vicious genutzten militärischen Abzeichen sind beinahe identisch, woran der »autopoetische[…] Gestus« (Dreckmann 2019: 78) im Punk deutlich wird, dessen Akteur*innen sich wechselseitig aufeinander bezogen und so spezifische Kleidungsweisen zu einem anti-modischen Stil verfestigt haben. Das preußische Totenkopfabzeichen wurde schließlich 1981 im international erfolgreichen Punk-Dokumentarfilm The Decline of Western Civilization von Penelope Spheeris gezeigt und so im audiovisuellen Erbe von Punk und im Repertoire der Anti-Mode gleichermaßen verankert. Nachfolgend blieb es nicht auf seine Form als Kragenabzeichen begrenzt: Infolge seiner Popularisierung im Punk wurde das beliebte Motiv auf T-Shirts gedruckt und bspw. vom Gitarristen Michael Fox der Punk-Band Code of Honor aus San Francisco verwendet (s. Abb. 7).
Abb. 7: Preußisches Totenkopfabzeichen als Design eines von der Punkband Code of Honor verwendeten T-Shirts, 1982 (Foto v. Erich Mueller in Belsito/Davis 1983: 120).
Über den Weg des Punk Rock wurde auch der 1934 anstelle des preußischen Totenkopfabzeichens eingeführte SS-Totenkopf in der US-Hardcore-PunkSzene der 1980er Jahre populär: Der Schlagzeuger der nur kurzfristig aktiven, aber einflussreichen Hardcore-Band The Teen Idles, Jeff Nelson, trug den SS-
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PUNK, ROCK, MODE. TOTENKOPFMOTIVE UND MILITÄRHISTORISCHE VERFLECHTUNGEN Totenkopf am Revers einer grauen Feldjacke, die u.a. auch mit Nieten, Dollarzeichen, Sicherheitsnadeln und einem umgedrehten Kreuz auf dem Rücken versehen war (vgl. Nedorostek/Pappalardo 2008: o.S.).
Abb. 8: Englische Punk-Fans im Jahr 1977. Einer von ihnen trägt das Abzeichen der 17th/21st Lancers am Kragen. Foto »Fan(s) 1977« von Ian Dickson (www.late20th centuryboy.com).
Während originale militärische Insignien der Reichswehr, Wehrmacht und SS als Kriegssouvenirs ehemaliger alliierter Soldaten in die USA und nach Großbritannien gekommen waren und dort hauptsächlich bei Sammler*innen und auf Flohmärkten als Ware und Paraphernalie behandelt oder imitiert wurden, gehörte das Abzeichen der 17th/21st Lancers spätestens seit 1968 zum Warensortiment des britischen Motorradbekleidungsunternehmens Lewis Leathers (vgl. Lewis 1968: 56). Das seit 1759 bestehende britische Regiment nutzt bis heute einen Totenschädel mit gekreuzten Knochen und einer Banderole mit der Aufschrift »or glory«. Das Abzeichen soll die kompromisslose Aufopferungsbereitschaft des militärischen Subjektes getreu dem Motto Tod oder Ruhm symbolisieren. Im subkulturellen Gebrauch verschob sich dieser Akzent dahingehend, dass es zum Symbol eines Individualismus wurde, der sich nicht durch normative bürgerliche Konzepte einschränken lasse. Noch während der 1980er Jahre versorgte der einschlägige britische Versandhandel Phaze die Punk-, Wave- und New Romantics-Szene mit Nachbildungen des Abzeichens (vgl. Phaze 1985: 16f.). Wie die Totenkopfmotive aus dem preußischen Militär, der Wehrmacht und der SS wurde das britische Abzeichen immer wieder von zahlreichen Punk Rock-Bands von den Dead Boys bis zu
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ADRIAN RUDA Szenegrößen wie Sid Vicious (vgl. Colegrave/Sullivan 2001: 287), Walter Lure von den Heartbreakers (vgl. ebd.: 210) oder Beki Bondage, Frontfrau von Vice Squad und sog. »new first lady of punk« (PL 1982: 1), verwendet. Dementsprechend ahmten ihre Fans den Umgang mit dem Abzeichen nach, wie eine Fotografie von Ian Dickson demonstriert (s. Abb. 8): Am Revers des Sakkos trägt der junge Punk auf der rechten Seite ein Totenkopfabzeichen der 17th/21st Lancers. Preußische und britische Totenkopfembleme sind dabei hauptsächlich in pseudo-militärischer Manier auf Punk-Kleidung übertragen worden. Die kollektiven Bemühungen der Punks, sich durch derlei Insignien gesellschaftlich abzusetzen und zu individualisieren, mündeten schließlich in subkulturellen Uniformierungsprozessen. Dass die Abzeichen wie dekorative Orden gleichförmig am Revers montiert wurden, offenbart, dass die PunkUniformierung lose an militärischen Kleidungsordnungen orientiert blieb, denen zufolge die Abzeichen nicht nur auf der Mütze, sondern auch auf Kragenspiegeln verwendet worden waren.
Abb. 9: Totenkopfabzeichen mit Ehrendolch, das an die militärische Symbolik der SS angelehnt ist und von Dee Dee Ramone getragen wurde (eigene Aufnahme).
Daneben hat die Punk Rocker-Szene auch solche Totenkopfabzeichen genutzt, die zwar nach militärästhetischen Prinzipien gestaltet, jedoch frei erfunden sind. So trat der Ramones-Bassist Dee Dee Ramone, der speziell von Nazi-Relikten fasziniert war (vgl. Boswell 2012: 98), Anfang der 1980er Jahre mit einem solchen Totenkopfabzeichen am Kragen seiner schwarzen Lederjacke auf (vgl. Ebet 1981). Das Abzeichen trägt Insignien von SS und NSDAP
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PUNK, ROCK, MODE. TOTENKOPFMOTIVE UND MILITÄRHISTORISCHE VERFLECHTUNGEN auf dem Griff eines miniaturisierten SS-Ehrendolches, der einen Schädel senkrecht durchbohrt (s. Abb. 9). Obwohl Ausfertigungen dieses Abzeichen bis heute als Original gehandelt werden, sind sie historisch bislang nicht belegt und werden deshalb in Sammlerkreisen als Fälschungen bezeichnet (vgl. WRF 2011; Cross 2019). Die fragliche Authentizität solcher Objekte spielte im Punk eine untergeordnete Rolle. Entscheidend war der Anschein militärischer Ästhetik, die in diesem Fall zentrale Symbole wie den Totenkopf und SS-Insignien umfasst. Der hohe anti-modische Stellenwert, den Totenkopfabzeichen im Punk besessen haben, wird nicht zuletzt an der internationalen Verbreitung deutlich. So ist Nina Hagen 1980 auf dem Titelbild ihrer ersten in den USA von CBS Records veröffentlichten Extended-Play-Schallplatte mit einer schwarzen Lederjacke zu sehen, auf deren Vorderseite ein Totenkopf mit den Schriftzügen »Mein Kampf« und »is glory« gemalt ist. Das Motiv kann als Variante des britischen Abzeichens verstanden werden und ist vom provokativen Spiel mit NSPropaganda und NS-Symbolen inspiriert. Nach ihrer Emigration aus der Deutschen Demokratischen Republik tauchte Hagen 1977 kurzfristig in die Londoner Punkszene ein, bevor sie nach West-Berlin zurückkehrte. Mit ihrer Band trug Hagen dazu bei, Musik und Kleidung von Punk und New Wave in der Bundesrepublik bekannt zu machen. Ihre Verbindung zur Londoner Punkszene war beim ersten bundesdeutschen Fernsehauftritt im Dezember 1978 in der Westfalenhalle in Dortmund augenfällig: Als Bühnenoutfit trug sie einen schwarzen Pullover mit einem roten Totenkopfmotiv und der Aufschrift »No Future« (vgl. Rockpalast 1978), der in Westwoods und McLarens Londoner Szene-Boutique erhältlich war und auch von Johnny Rotten getragen wurde (vgl. Bolton 2019: 64f; MET o.J.). Obwohl das Motiv keine militärischen Aspekte mehr erkennen lässt, ist es als das Ergebnis eines vestimentären Handelns zu verstehen, das auf dem ausgiebigen Gebrauch militärischer Totenkopfabzeichen beruhte und seine Verwendung im Punk dadurch erst sinnvoll gemacht hatte. Die Sichtbarkeit und Verfügbarkeit von Totenkopfmotiven auf subkultureller Kleidung nahm durch die Popularisierung von Punk und die Entfaltung von Heavy Metal als populäres Musikgenre im Laufe der 1980er Jahre in den Massenmedien stark zu. Metal, dessen grafische Bandshirts in der Massenmode heute ebenfalls verbreitet sind (vgl. Mackinney-Valentin 2017: 95117), sorgte parallel zur extremeren Musik und übereinstimmend mit dem Selbstverständnis auch für radikalere und explizit gewaltverherrlichende Totenkopfmotive — eine Spur, die hier nicht weiter verfolgt wird.
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Militärische Spuren im populären Punk Die anhaltend hohe Präferenz militärisch inspirierter Designs zu Beginn der 1980er Jahre kann anhand der populären Punk-Band The Clash thematisiert werden: Das Cover-Artwork ihrer 1982 veröffentlichten Double A-Side Single Straight to Hell zeigt einen Totenkopf, der einen Schutzhelm mit Camouflage-Muster und dem Rangabzeichen eines Staff Sergants der US Marines trägt. Hinter dem Schädel sind überkreuz zwei Browning M1919 Maschinengewehre abgebildet, die insbesondere im Korea- und Vietnamkrieg durch das US-Militär eingesetzt worden sind (vgl. Rottmann 2014). Im Hintergrund umgeben den Totenkopf vier Spielkarten, deren Blatt jeweils ein Ass zeigt und die wie eine Aureole angeordnet sind. Das Design steht lose mit dem Liedtext in Bezug, der u.a. auf die Vernachlässigung von während des Vietnamkriegs von US-Soldaten gezeugten Kindern abzielt. Noch im selben Jahr ist das Motiv auf Bandshirts gedruckt und auf der folgenden Tournee weltweit verbreitet geworden (vgl. Tanaka 2012: 121f.). Das Design nutzt visuelle Marker, die in ihrem Arrangement als Symbole jener Kriege gelesen werden können und Eingang ins kulturelle Gedächtnis gefunden haben. Zugleich rekurriert es auf Bekleidungspraktiken im US-Militär: Seit dem Zweiten Weltkrieg verwenden Bomberbesatzungen der US Air Force, um ihrer Einheit ein zusätzliches Differenzierungsmerkmal zu geben, auf ihren Jacken Totenkopfmotive als gewobene oder gestickte Aufnäher. Vergleichbare Motive, die sog. Nose Art und Unit Patches mit Totenköpfen nachbilden, sind 2017 in der Massenmode unter der von Ralph Lauren geführten Marke Denim & Supply zu finden gewesen. Seit den frühen 1960er Jahren waren bestickte Seidenblousons und Jeansjacken aus den Einsatzgebieten unter US-Soldaten und Veteranen zudem als Souvenir populär. Mit Aufdrucken wie »When I die bury my face down so that the whole world can kiss my ass«, »Death before re-enlistment« oder »Death before Dishonor« (Tanaka 2009: 232-236) wurden Totenkopfmotive zu ambivalenten Symbolen, die sowohl Protest als auch Affirmation gegenüber dem Militär zum Ausdruck bringen. Die Popularisierung militärisch inspirierter Totenkopfmotive kann auch an dem internationalen Erfolg der Band Blondie betrachtet werden, die 1974 in New York von Debbie Harry und Chris Stein gegründet wurde. Während Blondie die ersten Jahre vor allem durch Harrys Affinität zum Punk Rock profiliert wurde, verschob sich der Sound der Formation spätestens 1978 in Richtung New Wave und Pop. Mit der parallel gewachsenen Beliebtheit der Band wurden vestimentäre Stilelemente des Punk Rock und damit militärisch inspirierte Kleidung einem Massenpublikum zugänglich. Von dem Pressefotografen
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PUNK, ROCK, MODE. TOTENKOPFMOTIVE UND MILITÄRHISTORISCHE VERFLECHTUNGEN Ron Galella stammt eine Aufnahme, die Chris Stein, Debbie Harry und Andy Warhol bei einem Konzert der Band im Jahr 1982 zeigt (s. Abb. 10).
Abb. 10: Chris Stein, Deborah Harry und Andy Warhol bei einem Konzert der Band Blondie im Jahr 1982 (Foto mit freundlicher Genehmigung von Ron Galella)
Während Harry ein nicht näher identifiziertes Totenkopfshirt unter einem Feldblouson trägt, ist Stein mit einem Hemd des Londoner Modeunternehmers Lloyd Johnson zu sehen, zu dessen Kundschaft seit Ende der 1960er Jahre populäre Musiker wie Rod Stewart oder Keith Richards zählten. Seit Mitte der 1970er Jahre verkaufte Johnson in Londoner Szene-Vierteln wie World's End, im Kensington Market und in Covent Garden — den damaligen Epizentren westlicher Anti-Mode — Kleidung und Designs, die sich an der Rocker- und Mods-Szene orientierten (vgl. Gorman 2006: 162-164). Mindestens ebenso öffentlichkeitswirksam trug auch Gene October, Sänger der Punk-Band Chelsea, das Hemd (vgl. PL 1982: 22). Es ist mit einem ornamentalen Muster bedruckt und stellt die genietete Aluminiumhülle eines Flugzeuges sowie das Totenkopfmotiv des 375th Bombardment Squadron der USAF dar, das es seit 1942 als Symbol genutzt hat (vgl. Maurer 1982: 464). 2012 sind die Entwürfe des Hemdes und ein Muster in der von Paul Gorman kuratierten Ausstellung Lloyd Johnson: The Modern Outfitter in London gezeigt worden (vgl. Chelsea Space 2012). Demnach gehörte es in die 1981/82 verkaufte Rock'n'Roll SuicideKollektion von Johnsons Marke La Rocka!, die Biker- und Fliegerjacken, Hemden und Kleider mit authentischen Totenkopfmotiven der USAF sowie mit japanischen Kanji-Zeichen enthielt (vgl. Tanaka 2012: 156-160). Den Auftritten von The Clash, Stein und October ist gemeinsam, dass die Totenkopfmotive, mit denen sie sich präsentierten, einen ikonografischen Bezug zum Militär
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ADRIAN RUDA haben. Das gilt, wie bereits angedeutet, nicht für jedes Totenkopfdesign, das im Punk verwendet wurde.
Totenkopf als Punk Rock-Mode Auch solche Punk-Totenkopfmotive, die nicht unmittelbar einen militärischen Zusammenhang erkennen lassen, können vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Orientierung an militärischen Insignien kontextualisiert werden. Bereits 1987 reüssierte der Modedesigner Jean Paul Gaultier, weit bevor andere Kreative der High Fashion und ihre Epigonen in der Massenmode sich dem Motiv widmeten, mit Totenkopfabzeichen auf Lederjacken, die sich in Materialität, Schnitt und Stil an der Perfecto-Lederjacke orientierten — der bekannten Montur vieler Rocker, Punks und Medienikonen wie Brando neben dem Modell Bronx von Lewis. Populär waren auch jene, die mit diesen subkulturell inspirierten Jacken Ende der 1980er Jahre vor einem Massenpublikum auftraten und Nachahmungseffekte initiierten: Sowohl Pete Burns, Sänger der New Wave-Band Dead or Alive, als auch Freddy Mercury von Queen waren mit Gaultiers Variante der militärisch codierten Rocker-Kluft zu sehen. Gaultier hat die subkulturelle Lederjacke, die einst von Rockern und Punkern mit militärischen Totenkopfabzeichen neu definiert worden war, zu einem Konsumobjekt der Mode transferiert und damit weitere Möglichkeiten dafür eröffnet, dass subkulturelle Formen wie Lederjacke und Totenkopfmotiv zu Waren auf dem Massenmarkt werden konnten.
Abb. 11: T-Shirt mit Logo der Punk-Band The Misfits von H&M, 2022 (eigene Aufnahme).
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PUNK, ROCK, MODE. TOTENKOPFMOTIVE UND MILITÄRHISTORISCHE VERFLECHTUNGEN Ein T-Shirt der Punk-Band Misfits, das 2022 vom Bekleidungskonzern H&M verkauft wurde, kann dafür ein Beispiel geben (s. Abb. 11). Auf der Vorderseite ist ein großer weißer Schädel mit tief in den Augenhöhlen sitzenden Augen und breiten, lückenhaften Zahnreihen zu sehen. Die Mimik des Schädels vermittelt den schaurigen Eindruck, als würde er hämisch grinsen. Auf Höhe der Stirn ist in Großbuchstaben der englische Begriff »Misfits« abgebildet, was mit Außenseiter bzw. die Unangepassten übersetzt werden kann. Schädel und Schriftzug stehen in einem engen Zusammenhang, da sie den für Punk entscheidenden Nonkonformismus insinuieren, der bereits aus der militärischen Tradition herrührt. Sie sind Bestandteile des Logos der 1977 gegründeten, einflussreichen US-amerikanischen Punk Rock-Band, die sich in Anlehnung an Marilyn Monroes letzten Spielfilm The Misfits (dt. Misfits — Nicht gesellschaftsfähig, 1961) den gleichen Namen gegeben hat. Seit den frühen 1980er Jahren ist das Motiv immer wieder — mal mit, mal ohne Schriftzug der Band — auf T-Shirts und Sweatshirts zu sehen; zunächst hauptsächlich bei jugendlichen Punk Rockern und Skateboardern, den sog. Skate-Punks. Die Popularität des Motives in der US-amerikanischen Punk-Szene hat der Street-Fotograf Robert Herman 1981 in seiner Fotoserie The New Yorkers dokumentiert (vgl. Herman 2013: 45). Zahlreiche Unternehmen der rasant gewachsenen Skateboard- und Action-Sport-Szene sowie solche, die von ihr profitieren wollten, versahen bis in die 1990er Jahre hinein ihre Produkte und Reklame mit dem Motiv. Das Versandunternehmen Sessions Skateboard Shop und die Firma Circle-A Skateboards haben bspw. Annoncen in einschlägigen Szenemagazinen wie Thrasher abdrucken lassen, die Skateboardfahrer mit Misfits-T-Shirts zeigen (vgl. Thrasher 1987: 33; 1988: 118; 1989: 116; 1991: 98; 1992: 22). Neben Unternehmen, die als Trittbrettfahrer von dem Erfolg des Motives in diesem Konsumsegment profitieren wollten, hat die 1983 vorübergehend aufgelöste Band das Motiv selbst effektiv kommerzialisiert: Anfang der 2000er Jahre brachte das Bekleidungsunternehmen Vision Street Wear in Kollaboration mit Misfits eine Sportschuhkollektion mit Varianten jenes Totenkopfes auf den Markt. Im Jahr 2013 kooperierte die Band mit der hochpreisigen StreetwearMarke Supreme, 2018 folgte ein Arrangement mit dem Künstler Shepard Fairey für seine Marke OBEY und 2020 veröffentlichte der High Fashion-Designer John Vartos eine offiziell lizenzierte Misfits-Kollektion, in der das Motiv auf dem Rücken schwarzer Lederjacken angebracht wurde. Vartos' Kollektion wurde als Reminiszenz an die Punk Rock-Band vermarktet, griff aber direkt Kleidungsstile auf, die seit der Zeit der sog. Halbstarken in der Greaser-, Biker- bzw. Rocker-Szene praktiziert wurden. In der High-Fashion ist das Motiv schon 2001 genutzt worden: John Galliano nutzte den Misfits-Totenkopf
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ADRIAN RUDA auf einem Pin-Badge in einer Punk-Kollektion für Dior, ohne jedoch den vom Urheberrecht bewehrten Schriftzug der Band zu nutzen (vgl. Vogue 2001). Nachdem das Motiv seit den 2010er Jahren auf Kleidungsstücken diverser Prominenter der internationalen Unterhaltungskultur zu sehen war, wurde es als Modeartikel schließlich auch bei global agierenden Fast Fashion-Anbietern wie ASOS, H&M, Urban Outfitters oder Zara erhältlich (vgl. H&M 2017; UA 2017). Die offizielle Kommerzialisierung des Band-Logos floriert derart stark, dass die Bandmitglieder im Jahr 2014 über die Tantiemen einen Rechtsstreit führten (vgl. Kanetzky 2014). Zeitgleich kritisierte der Autor einer Modeglosse die exzessive Vermarktung des Motives als Verkitschung und als Ausverkauf des subkulturellen Erbes (vgl. Ozzi 2014). Insbesondere popkulturelle Spielfilme und TV-Serien nutzen den Misfits-Totenkopf als Marker, um Figuren in der Handlung als Punks oder Mitglieder vergleichbarer Subkulturen zu inszenieren. So ist beispielsweise der Schauspieler Timothee Chalamet in der Netflix-Produktion Don't look up (2021) an der Seite von Jennifer Lawrence und Leonardo DiCaprio in einer solchen Rolle zu sehen; auf der Rückseite einer schwarzen Lederjacke trägt er den Misfits-Totenkopf als Ausdruck einer nonkonformistischen Attitüde, die an die Halbstarken auf Weinbergers Fotografien erinnert. Die Band Misfits ist für ihre Affinität zu Horrorfilmen bekannt geworden, was sich in einer genreprägenden Charakteristik von Sound, Bühnenperformance und Outfits — nicht zuletzt in dem Begriff Horror-Punk — niedergeschlagen hat. Der prägnante Schriftzug der Band wurde 1981 dem Logo des US-amerikanischen Filmmagazins Famous Monsters of Filmland, das zwischen 1958 und 1983 erschienen ist, nachempfunden. Eigentliches Markenzeichen der Band und zu einer säkularen Ikone des Punk Rocks ist jedoch der Totenkopf geworden. Eingang in die Geschichte der Band fand der Schädel auf dem Plattencover der Single Horror Business aus dem Jahr 1979. Ausschlaggebend dafür war, dass Sänger Glenn Danzig und Bassist Jerry Only unmittelbar vor der Veröffentlichung eine Gestaltungsmöglichkeit für ein Bandshirt gesucht haben (vgl. Greene 2013: 29). Sie sind dabei auf eine PR-Fotografie gestoßen, die 1946 am Set der US-amerikanischen Vorfilm-Serie The Crimson Ghost (dt.: Der Mann mit der Totenmaske, 1953 u. 1966) entstanden ist und in Kinolobbys zu sehen war. Auf ihr ist die gleichnamige Hauptfigur zu sehen; ein Bösewicht, der seine Identität mit einer langen schwarzen Robe, kalkweißer Totenschädelmaske und Handschuhen mit Knochenapplikation verhüllt. Da es sich beim Crimson Ghost nicht im eigentlichen Sinne um einen übernatürlichen Geist, sondern um ein Phantom handelt, wird der Totenschädel entgegen vieler anderer Motive mit Augen dargestellt. Sie bedingen eine groteske Lebendigkeit, da sie der starren Mimik und der Verwesung enthoben zu sein scheinen. Die
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PUNK, ROCK, MODE. TOTENKOPFMOTIVE UND MILITÄRHISTORISCHE VERFLECHTUNGEN Fotografie wurde hinsichtlich der technischen Möglichkeiten des Siebdruckverfahrens und entsprechend des sich im Punk maßgeblichen Do-it-yourselfEthos (vgl. Moran 2010; Sklar 2013: 33f.; Bolton 2019: 14) adaptiert. Auf schwarzen T-Shirts erschien das Motiv Ende der 1970er Jahre als weiße Scherenschnitt-Grafik. Sie fügte sich damit passgenau in die damalige Punk-Ästhetik ein. In der Fixierung auf Horror- und Gruselgeschichten, wie sie in BMovies, simplen Comics und in trivialen Pulp Fiction-Magazinen erschienen sind, spiegelt sich nicht so sehr eine Faszination für Monster, Gespenster und Gewalt als vielmehr eine Sozialkritik im Gewand alptraumhafter Bedrohung bürgerlicher Normalität. Punk und Horrorsujet kommen gerade in dem Punkt überein, dass sie durch die Anmutung minderwertiger Qualität normative Geschmacksvorstellungen und Konventionen herausfordern (vgl. Steele 1997: 289). Eingedenk der besonderen Rolle, die Totenkopfmotive bis dahin in Subkulturen besessen haben, erscheint die Entscheidung der Band, die Totenkopfmaske des Crimson Ghost als Erkennungszeichen zu nutzen, konkludent und weit weniger originär als die bandbiographische Erzählung des Zufallsfundes glauben machen will. Sänger Glenn Danzig, der sich bei Auftritten in der Öffentlichkeit in eine Fülle von Totenkopfmotiven hüllte, kombinierte, wie andere Punks, Motive aus diversen Kontexten, u.a. aus dem japanischen Manga Die Abenteuer des fantastischen Weltraumpiraten Captain Harlock (1977-1979). Im Entstehungszeitraum des Logos trug er zudem einen preußischen Totenkopf am Revers seiner schwarzen Lederjacke, ganz in der Manier von Crash, Vicious, Advert und anderen Punks (vgl. Greene 2014). Vor dem Hintergrund der bislang erörterten Zusammenhänge ist davon auszugehen, dass der implizit hohe Stellenwert militärischer Totenkopfabzeichen als subkulturelles Gestaltungsprinzip die Wahl des Crimson Ghost ideell und konzeptionell präfiguriert hat. Die innovative Leistung der Band ist nicht darin zu sehen, dass sie einen Totenkopf auswählten — das war für eine Punk-Band eine geradezu erwartungsgemäße Entscheidung —, sondern dass sie das Totenkopfmotiv als subkulturelles Gestaltungsmerkmal auf ihr Faible für Horror und Trash hin bezogen und sehr erfolgreich vermarktet haben. Auch wenn der Misfits-Totenkopf ikonografisch in keiner direkten Beziehung zum Militärwesen mehr steht, entstammt das Logo einem subkulturellen Kontext mit ausgeprägter Affinität für militärische Insignien. Sie haben das Verständnis von Totenkopfmotiven in Rock, Punk und darüber hinaus grundsätzlich geprägt. Eine davon losgelöste Betrachtung der Motive blendet militärischen Implikationen aus, die auch mit Blick auf die zeitgenössische Mode aufschlussreich sein können.
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Schluss Hinsichtlich der Fragen nach Bedeutungen von Totenkopfmotiven auf Alltagskleidung und in der Mode haben sich verschiedene Erklärungen ergeben. Wenn Totenkopfmotive als sinnentleerte Fragmente sakraler Symbolik, als aus Piratennarrativen entlehnte Symbole oder als modische Reminiszenzen von Punk-Style reflektiert werden, dann blenden diese Sichtweisen aus, dass die Motive in nicht unerheblichem Ausmaß über das Militärwesen zu bestimmen sind. Indem militärhistorische Bedeutungssedimente von im Punk genutzten Totenkopfmotiven offengelegt werden, kann gezeigt werden, dass sie als vestimentäre Zeichen sozialer Differenzierung keine Erfindung von Subkulturen sind. Es erscheint sogar fraglich, ob Totenkopfmotive überhaupt in Subkulturen wie Rock oder Punk genutzt worden wären, wenn sie nicht zuvor in militärischen Kontexten gestanden hätten. Mit der Kommodifizierung subkultureller Stilformen durch die High Fashion und dem Einsickern provokativer Band- und Bühnen-Outfits in die Massenmode sind zentrale vestimentäre Artefakte und Motive von Rock und Punk popularisiert worden. Auf Basis modetheoretischer Verbreitungsprinzipien, die bspw. als Bubble-Up und Trickle-Down diskutiert werden, wird häufig davon ausgegangen, dass Kleidung, Designs und Symbole beim Übergang in die Massenmode den Bezug zu ursprünglich bedeutsamen Kontexten weitgehend einbüßen (vgl. Polhemus 1994 u. 2011; Steele 1997: 285). Dem kann nur bedingt zugestimmt werden, denn es zeigt sich, dass Bedeutungszuweisungen, die sich an militärische Totenkopfmotiven festmachen, weit über die Grenzen verschiedener Subkulturen hinaus relevant sind, auch wenn die Gestaltungsprinzipien nicht immer militärischen Vorbildern folgen. Die Zusammenschau von Versatzstücken subkultureller Bekleidungspraktiken und motivgeschichtlichen Erkenntnissen, die das militärische Totenkopfabzeichen betreffen, legt die longue durée militärischer Bedeutungen und ihren Einfluss auf die Alltagskultur offen: Wesentliche Totenkopfmotive und zentrale Konnotate wie Kompromisslosigkeit, Elitismus, Härte und Macht sind den betrachteten Subkulturen historisch vorausgegangen und sie gehen ihnen auch in der Massenmode nach — sowohl mit als auch ohne Bezug zu Rock, Punk und Militär.
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Abstract The article focuses on the significance of skull symbols in fashion and subcultural performance such as punk rock. It attributes their relevance to military uniforms rather than pirates, religion or subcultures. When analysing the meaning of skull symbols, it is necessary to look beyond the history of subcultures, which are often considered the primary initiators of mass fashion processes. Based on photographs and decisive products of subcultural media, the article examines how punk adorned itself with skull and crossbones insignia that can be attributed to the Prussian and British military. Tracing distinctive insignia back to historical contexts reveals not only the persistent adoption but also important perpetuations and progressions in meaning. Punks are one of the best-known youth cultures to have used skull motifs, but they are neither the only ones nor the first. Already before World War II young people used military skull ornaments as symbols of non-conformity, subversion and self-empowerment. Punk echoed the anti-fashion of so-called »Halbstarke«, »Greaser« and »Rocker« effectively and transposed it to popular culture. Musicians and performers such as The Adverts, The Germs, The Misfits, The Ramones, The Sex Pistols or Blondie, among others, have played a prominent role in these processes. With their outfits and stage costumes, they provided blueprints for merchandise and fan adaptation. With the emergence of subcultural styles in mainstream clothing, military-inspired badges are considered popular and fashionable. Based on the diachronic correlation the article aims to show how military dress and fashion are deeply entangled phenomena.
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ANATOLIAN POP MUSIC: ›RURBAN‹ IMAGES OF A PERIOD Cornelia Lund, Holger Lund, Berrin Yanıkkaya, Oliver Zöllner 1. Introduction Anatolian Pop seems like a ›local‹ Turkish phenomenon but has recently joined the ranks of globalising tendencies of pop music, inspiring musicians and listeners throughout the world. Like any other form of music, it needs to be seen in a wider perspective that encompasses discourses of national identity (or even nationalism), globalisation, politics, and social change. And never is pop music, like any type of music, truly ›local‹ as it always links various traditions: from times present and past, places near and afar, and from a variety of musical styles. Using music from the hinterlands of Turkey and subsequently becoming a mainstream form of Turkish popular music, Anatolian Pop is only one of many such musical scenes that have emerged in one particular locality and historical setting but carry within them, at least partly and by adaptation, the sounds, the longings and the looks of other geographical and temporal settings. Music is always a mixture and a blending of diverse contents. Anatolian Pop, for that matter, has been defined recently in the context of Turkish music (Gedik 2018), in a political context (Ramm 2020) and in a polycultural, transnational context (Lund 2020), which in their combination bring together European, Mediterranean, Arabic, Balkan and other post-Ottoman ›musicscapes‹ (following up on Appadurai 1996). For this article, we would like to set out a perspective for the analysis of Anatolian Pop that seeks to combine the temporal, spatial and cultural references of this form of musical expression with an approach from the sociology of knowledge (Mannheim 1936; Bohnsack 2011). We will focus on pictorial documents that have been used to package and promote this genre of music in a particular period, mainly the 1970s. As we will show, this decade has been crucial for the development of Turkish pop music, and of Turkey, in more ways than one. What had started from the mid 1960s onward as »a time
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CORNELIA LUND, HOLGER LUND, BERRIN YANIKKAYA AND OLIVER ZÖLLNER of unprecedented radicalization, artistic experimentation, internationalism, and youthful disaffection« (Sharpe 2018: 168) in Turkey and elsewhere, rubbed off on subsequent decades and still lingers on in collective memory: partly suppressed, especially after the 1980 military coup (see Spicer 2017: 231), but not forgotten. In this way, we seek to write a »micro-history« based on materials that reflect particular spatio-temporally grounded practices (see Freist 2015). The perspective taken by the authors refers not only to the music as such, but centrally to three sets of imagery and their inherent imaginations which are inextricably linked with Anatolian Pop: a) a rural imagery; b) an urban imagery; and c) a mixed rural-urban imagery that we would like to call ›rurban‹. All these imaginations are documented by way of record sleeves and in music magazines and thereby accompany the music that they package, adorn, and promote. Our objective is to analyse the habitus that is inherent, or incorporated, in these pop musical images and, in a larger context, suffused Turkish society at the time.
2. Documents of a Period: Methodological Considerations Outside of live performances, popular music is handed down and distributed in the form of documents: records (shellac, vinyl and compact discs), tape cassettes, data files, sheet music or in the form of filmic recordings. All of these are packaged and promoted, in one way or another, and more often than not carry images as well: on record sleeves, promotional posters and billboards, in adverts, and by way of pictures in popular magazines. People like to listen to music, but at the same time like to look at the musicians and imagine their performances. Therefore, what is handed down as pop musical records is not just records in the conventional meaning of the word, i.e., discs that contain two or more tracks and present them in a more or less coherent and meaningful way as a marketable commodity (single or album) with a distinct title, but equally a ›record‹ in the sense of preserving information for posterity. A pop record usually has a sleeve artwork that is inextricably linked with the disc or cassette. It is meant to capture the essence of the work to be marketed and consumed (see Elster 2021: 80-81; Machin 2010: 32-76). As material bundles that contain both sonic, visual, and textual content, i.e., music, pictures and accompanying metatexts such as liner notes or lyrics, pop records can be seen as complex works of art, even if they might have been
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ANATOLIAN POP MUSIC: ›RURBAN‹ IMAGES OF A PERIOD created for the purpose of generating profit by selling a multitude of copies. Pop music and its adorning imagery is not free art — it is a commercial endeavour and therefore at times underestimated. And yet, like any piece of art, pop records and their accompanying images seem to capture the mood of their contemporaneity and allow for a reimagining of possible courses of history, or contingencies. They are of the day and for the day, but at the same time, their contents being fixed for posterity, records and their sleeves transport messages to the future in which they can eventually be dug up as records of the past. The question posed by Mark Greif, »How should it really ever be possible for pop music to incarnate a particular historical situation?« (Greif 2016: 100), remains valid and will infuse this article throughout. In what ways do records, and especially their pictorial cover artworks and other related pictures, convey what was happening in a particular period in a particular place? From the wider perspective of the sociology of knowledge, pop records may indeed be read as documents or texts of their own process of formation at a specific historic or social juncture. Following up on the general approach of Ralf Bohnsack's (2011) documentary method, which is modelled after Karl Mannheim's (1936) concept of the sociology of knowledge and art historian Erwin Panofsky's (1955) iconographical-iconological method of interpretation, it can be posited that human-made artifacts reflect the cultural moods, practices, and orders of power that had been suffusing a society at a given moment in time: ideas, ideologies, discourses, topics, design and gadgetry trends, depicted or described behaviours, fears, hopes, and utopias, or the conspicuous lack of such mentions and referencing. We find such figments in literature, in art, in fashion, but also in music, one could surmise − a cultural phenomenon usually not regarded as overtly political in the strictest sense of the word, but easily identifiable, from the perspective of the sociology of knowledge, as an embodiment of political statements. Such documents are the results of socially more or less conscious acts of constructing what is to be: »When the imagination finds no satisfaction in existing reality, it seeks refuge in wishfully constructed places and periods« (Mannheim 1936: 236). The sociology of knowledge attempts to address and encompass the whole of ideological production in the cultural sphere together with its historical interactions and cross-pollinations, as it were, in order to derive meaning from, and to interpret, change processes in society (see Kettler/Meja 1999: 300). It is these »situationally transcendent ideas« (Mannheim 1936: 237) that this article seeks to analyse, well aware of the fact »that in certain historical periods wish-fulfilment takes place through projection into time while, in others, it proceeds through projection into space« (ibid.).
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CORNELIA LUND, HOLGER LUND, BERRIN YANIKKAYA AND OLIVER ZÖLLNER As the aim of this article is to point out and scrutinise documents of a period, i.e., works of pop music and their accompanying images, and how they envision the future of a society, it will be important to remind ourselves of the fact that their elements of meaning — musical properties, lyrics, storylines, pictures, sleeve artwork, etc. — are not necessarily out in the open (although they seem to be). Rather, they are woven into the documents, and we therefore need to understand them as more or less covert manifestations of »underlying principles which reveal the basic attitude of a nation, a period, a class, a religious or philosophical persuasion […] condensed into one work« (Panofsky 1955: 30). Panofsky calls these elements that contain such a particular essence, referencing Ernst Cassirer, »symbolical« values, that is, »as a symptom of something else which expresses itself in a countless variety of other symptoms« and »which are often unknown to the artist himself and may even emphatically differ from what he consciously intended to express« (ibid.: 31). It is in that »something else« that a new or redefined worldview appears. From the perspective of the sociology of knowledge, therefore, it is the researcher's task to »determine when and where the world presented itself in such, and only in such a light to the subject that made the assertion, and the analysis may frequently be carried to the point where the more inclusive question may be answered, why the world presented itself in precisely such a manner« (Mannheim 1936: 296). Taking up this cue, this article will analyse pop music records and their sleeve artworks as documents of the essence of the worldview of the document's producers in the first place. A record is where the latter's social milieux, and the ideas and constraints of the epoch in which production took place, condense into one artifact. Pop music records, as it were, seem to capture the formative context in which they were created though it is at times difficult to pin down what exactly has been captured, or how. Often this only becomes clear in retrospect by way of a reconstruction: when revisiting these records years or even decades after their release. The order that then reveals itself in hindsight is compatible with the concept of habitus that Pierre Bourdieu elaborated in partial recourse to, inter alia, Mannheim and Panofsky. Habitus is to be understood as the structural and framework conditions of particular actors, and their actions, in society (Bourdieu 1989: 169-174; Bohnsack 2011: 30-33). Society inscribes itself in the habitus, and also by way of this habitus, with all its mostly unconscious and often unquestioned patterns of behaviour and evaluation: habitus is a form of embodied social dispositions (Bourdieu/ Wacquant 2013: 160; Bourdieu 1989: 467) which appears as both the producer
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ANATOLIAN POP MUSIC: ›RURBAN‹ IMAGES OF A PERIOD and product »of a modus operandi that is based on atheoretical knowledge […] of incorporated — so to speak: automated — practical action« (Bohnsack 2018: 207, original emphasis). This modus operandi needs to be excavated, extricated, and explicated, akin to the work of an archaeologist, but by employing reconstructive methods of the social sciences instead. The implicit, atheoretical knowledge of a specific socio-cultural context that guided the document's producers in their stages of producing, mostly without being aware of it, needs to be identified in the actions that are observable in the document. How exactly have things been arranged, for example, and what motivated this particular choice of arrangement? These actions are no discrete, singular, or individual happenstances, but rather steeped or embedded, as exemplars of an apparent social normalcy of ›knowhow‹, in practices based on a wider, socially agreed, and implicit knowledge that results in a typified, routinised and socially ›comprehensible‹ bundle of activities (Reckwitz 2003: 289). This is where the afore-mentioned habitus, or framework of orientation, is encapsulated. Being grounded in the sociology of knowledge allows researchers to capture and analyse the documents' habitus and their meanings in and for society in particular historical contexts, and thereby to explicate culture's implicit frames of orientation, for example by identifying supratemporal narrative patterns that might be contained in pop records and their sleeve artwork. The sample for our documentary analysis consists of a number of Turkish records and their sleeves, released in the 1970s, from the authors' personal collections and further substantiated through systematic online research on Discogs.com, a record collectors' forum, social networking site and marketplace (see Discogs.com 2021), plus articles and their photographic illustrations culled from a rather complete 1970s sample of Turkish weekly popculture magazine Hey, which existed between 1970 and 1994 and was essential for the formation of Turkish popular culture, Anatolian Pop and the musicscape linked to it (Oğuz 2013; Baysal 2018), and other archival materials available. In order to investigate the visual and discursive links between Anatolian pop music and other cultural artifacts, this sample is adorned by references to Turkish movie posters pertaining to the subgenre of the aptly named kostüme avantür [costumed adventure] films of the period. Extensively collected in the book 5555 Afişle Türk Sineması (İnanoğlu 2004), we'll use these an historical starting point for our analysis. Findings presented in this article will by necessity be exploratory and at times sketchy; they are, however, meant to be the starting point for a larger analysis of Turkish pop culture and its political, social, and cultural implications that the authors are preparing.
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3. Costumed Adventure in a »Turkey in Turmoil« A suitable point of departure for reconstructing Anatolian Pop's embedment in Turkish culture is an analysis of its visual appearance: the way the musicians looked, how they staged themselves stylistically, and the costumes they wore — all of them striking features of this scene even in hindsight. In order to understand why the pop artists looked the way they did in the 1970s, it will be necessary first to look at the visual role models Turkish popular culture provided, most notably the country's film industry. Arguably, Anatolian pop music was a costumed adventure of sorts, and its visuals had their roots in vernacular movies, many of them now regarded as classics — quite like many of the musical acts this article focuses on. Popular cultural images of a particular period can indeed carry similar characteristics or borrow some features from one another. It may even transform some constituent elements of one cultural form into a different guise, only then to recombine them in a seemingly new popular cultural genre or field as more or less unconsciously referenced resources of cultural knowledge. Thus, it is possible to pinpoint the traces of visual pastiche of Turkish kostüme avantür movies of the 1960s in the fashion preferences of Anatolian Pop performers of the 1970s, which in turn relates a story about Turkish society undergoing phases of dramatic change at a key period of its recent history. The transition from the 1960s to the 1970s has been complicated at so many interrelated levels: changing social dynamics, increasingly polarising and radicalising political scenes, youth movements, pressing economic growth issues, as well as unplanned urbanisation leading to an increase in peripherical areas around big cities, many of them informal gecekondu [put up overnight] settlements, among other social developments. The reflection of this »Turkey in Turmoil« (Pekesen 2020) period has led to often conflicted but equally interwoven phenomena to be seen in popular cultural production particularly. Coincidentally, the release of the very first kostüme avantür movie can be traced back to 1965, a pivotal year in the development of Turkish popular culture. The movie in question is Horasanın Üç Atlısı [The Three Horsemen of Horasan] starring Cüneyt Arkın, literally the ›poster boy‹ of the genre (see image 1, left), and takes over the key visual codes of the Turkish heroic comic book characters of the period (see Cantek 2012).
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Image 1, left: Movie poster Horasanın Üç Atlısı, dir. Tunç Başaran, Turkey: Artist Film, 1965, colour. Right: Movie poster Karaoğlan: Altay'dan Gelen Yiğit, dir. Suat Yalaz, Turkey: Olcay Prodüksiyon, 1965, colour (sources İnanoğlu 2004: 247 and 252).
It was followed by the influential movie Karaoğlan: Altay'dan Gelen Yiğit [Karaoğlan: The Valiant from Altai], released the same year featuring lead actor Kartal Tibet, who was also known as an action film hero during this period (see image 1, right). According to Özön (1990), kostüme avantür films, as a subgenre of historical movies, can be distinguished by their costume-focused adventurist characteristics that enable wishful reimaginations of glorified moments of Turkish history. To this day, this sentiment, as incorporated practical action (see Bohnsack 2018: 207), seems to be a modus operandi of the local film industry inclined to re-enact past events of national heroism, supremacy, and glory. In the now classic Yeşilçam [Green Pine] era of the Turkish movie industry, a total of 63 of such costumed adventure movies have been produced between 1965 and 1982 (Özgüç 1998). One of the common features of these movies is that they are always set in rural outdoor areas (see İri 2001). Since the bulk of these movies were shot in the 1960s and 1970s, it is possible to interpret this period's focus on rurality as a reflection of the contemporary popular cultural climate. The cinematic imagery instigated in the mid-1960s would later be reflected in the visual styles of Turkish popular music, although this needs to be seen in a wider, global context as well. Similar types of rural as well as flamboyant dressing were popular across the world
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CORNELIA LUND, HOLGER LUND, BERRIN YANIKKAYA AND OLIVER ZÖLLNER after the mid-1960s, at the height of psychedelia and the hippie movement, but in Turkey this flaring up of colours and garment arguably reflected a country similarly flaring up politically and socially. What is palpable in Turkey at the time is a tension between leftist and rightist political factions and their desire to reclaim their ties with the population living in rural areas and small cities. This was accompanied by a will to reclaim nationalism either in its Kemalist, socialist or Turanist forms — dividing forces in Turkish politics indeed. According to Hava and Yıldırım (2016), the reasons behind returning to what is believed to be »the Turkish values« in this period are manifold. In the 1960s, the large waves of migration from rural areas to industrialised towns and cities mostly in the west of the country intensified competition for jobs among people, which led to unemployment and poverty. The political, economic, and social contexts of this period also had determining effects on cultural and intellectual production. Those who were employed started to seek their social rights and formed labour unions and corresponding political parties. The youth, university students in particular, demanded a more liberal and democratic environment free from any repression, and they protested against imperialism and what they felt was a too strong American influence. In much of Turkish society, the impoverished living conditions in many rural areas and the manifold problems resulting from this situation were attributed to »the West«, especially the loss of jobs due to the industrialisation of agriculture as part of the Marshall Plan policy; therefore, adhering to Turkish values and traditions was regarded as most essential, and a recourse to nationalism was thought to be the solution (ibid.: 24). Such distinct political and ideological stances, as well as attempts to fuse them in a kind of melting pot, were most prominently reflected in the output of Turkish popular culture including the movie and music industries of the 1960s and 1970s. Their images accompanied the decisive shift in pop-musical traditions as artifacts of the political, economic and cultural dynamics of this era of social transformation. Illustrative of this incorporated social practice is the fact that, as a unique genre of the Yeşilçam Cinema, kostüme avantür movies emerged in the second half of the 1960s and largely lasted until the end of 1970s (Karadoğan 2001: 69). The socio-political context of that decade with all its nationalist discourses gaining ground enabled this filmic genre to become popular. The storylines of these movies relying on national-historical narratives, myths and motifs were met by an increased public interest while populist discourse and filmic imagery were overlapping in the daily lives of the people as part of the then hegemonic culture. The physical locations of
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ANATOLIAN POP MUSIC: ›RURBAN‹ IMAGES OF A PERIOD these films were dungeons, castles, palaces, city walls, and rural areas in general, i.e., ›historically‹ constructed and ›historical‹ provincial sites. Against this background, the imagery and iconography of the kostüme avantür movies highlight the genre's drastic difference from earlier ›historical‹ Turkish film productions. The history that is visually represented in these movies is not consistent, this being most obvious in the objects, costumes and props that reference time periods. In a similar vein, a mix of historically well recorded events and characters, but from different eras, as well as from different geographies and regions, and even from different communities and nations, form part of the storylines of these films. This kind of irrationality, i.e., elements that don't really match, is one of the essential and constituting elements of kostüme avantür (Karadoğan 2001: 82). Its main characters and plots can indeed be traced back to comic books of the 1950s, especially in the depiction of male heroes, such as Karaoğlan, Battal Gazi, Tarkan, Köroğlu, Malkoçoğlu and other characters that are household names in Turkey — cartoon characters that derive from Turkic mythological figures and stories. In this unique film genre, the main character is always a male warrior who works and fights alone, who is a skilled horse rider, who either saves women or is god's gift to women with a well-built body, always smart, morally intact, dedicated to a cause and who can thus not settle in. But at the same time, the hero is not autonomous, he just follows the orders of either the sultan or another figure of authority. That said, he is a proud man, he respects authority but keeps being bull-headed nevertheless. Obviously, the cultural scene at the time needed a taken-for-granted common hero to reconstruct the hegemonic discourses prevalent in Turkey at the time. Needless to say, that absurd historical hero, a mixture of different characters and as such an unquestionable representative form, never existed. It may be posited here that such cartoonish characters were created to fill a gap in popular culture and imagination as the political and ideological currents were in favour of them. They were needed in order to repair the broken male ego of the period, especially in terms of the damaged post-Ottoman national identity and Turkey's diminishing role in international politics. This is also evident in the way female characters were inserted into the narrative — indeed, more attached to the story than really included. There is an enormous difference between how ›good‹ and ›bad‹ Turkish and foreign women are represented in these movies, both via the narrative constructs and the visual imagery as well. The importance of such visual representations of these characters is that it seems to be resonating well with the popular imagery of Turkish musicians of that period, particularly the ones whose musical style was aligned with Anatolian rock, pop, or later with arabesque rock,
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CORNELIA LUND, HOLGER LUND, BERRIN YANIKKAYA AND OLIVER ZÖLLNER who wore clothes looking similar to the ones used in costumed adventure movies released just a few years earlier. Therefore, one can argue that what was explicitly and implicitly staged in Turkey at the time can be called the performative rural image, a place of fanciful imagination and reimagination. It was to become a key element of Anadolu Pop and its visual representation and was made possible by the fact that the vast majority of key musical performers lived in the large cities and had no rural backgrounds.
4. Analyses of Anatolian Pop Images 4.1. Anatolian Pop and the Concept of ›Rurbanity‹ In order to further analyse the performative rural image outlined above, we would like to shed some more light on the question how Anatolian Pop is connected to rurality and urbanity. As mentioned earlier, Turkey underwent tremendous social transformations from the 1950s onward and throughout the ensuing decades, not least in terms of population patterns. If we look at the statistics of that period, there was a changing balance between the density of rural and urban populations. This ratio increased dramatically between 1965 and 1970 (Işık 2005: 60). However, a larger percentage of the population was still living in the rural areas of eastern Anatolia then. Thus, most Turks at the time were a far cry away from the hotspots of cosmopolitanism and globalisation, and culturally speaking, Turkey largely seemed preoccupied with cosier, glorified versions of itself. Despite this general proneness to navel-gazing, it was still not a widespread practice for urban Turkish musicians to sing in their native language in the early 1960s, the decade so important for the development of the Turkish popular music scene. Using a foreign vernacular was de rigueur for urbanminded pop musicians; singing Turkish lyrics seemed like an almost exotic practice to them. According to Dilmener (2003), this negligence of the native language in much of urban pop music, and thus a form of linguistic distancing from much of the Turkish population, was counteracted by three distinct styles of musical production that were geared towards the more rural-minded parts of the population. Firstly, it was Fecri Ebcioğlu's aranjman [arrangement] production style, which basically consisted of re-writing Turkish lyrics for popular songs originally in English and in French. The second style was a tradition of re-arranging selected songs from Turkish folk music and adapting them to polyphonic musical textures without disrupting the songs' melodic and rhythmic structures,
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ANATOLIAN POP MUSIC: ›RURBAN‹ IMAGES OF A PERIOD which meant performing these pieces with Western instruments. Started by singer Alpay and arranger Doruk Onatkut in the early 1960s, this style became a common practice and was eventually called Anadolu Pop [Anatolian Pop] (Dilmener 2003: 43). The third style focused on composing original music with Turkish lyrics. In the process, the tunes' production features gradually started to westernise. The 1964 song »Burçak Tarlası« [Tare Field] by female singer Tülay German created the basic formula for Anadolu Pop and marked the beginning of this musical expression as a movement (ibid.: 44). The tune pop-Westernised a türkü (see Karahasanoğlu/Skoog 2009: 59; Baysal 2018: 207). Türkü are mostly traditional rural Anatolian folk songs. They had been collected systematically since the early days of the Turkish Republic to compile a repertoire of national folk music, which the new Turkish nation was in need of to promote its new self-image — a process that was in fact part of its nationbuilding after the demise of the Ottoman Empire (see Sels 2021: 1-3, 238-39; Turan/Işıktaş 2016). Cultural music-politics and national identity politics were going hand in hand here (see Lund 2013; Birson 2016; Bates 2019: 15152), in fact to such a degree that Sels calls Turkish folk music itself »a political construction« (Sels 2021: 54, 221-33, see also Değirmenci 2006). As ever, one needs to be cautious about claims to ›authenticity‹ or ›tradition‹ whenever earlier musical forms are invoked as there is hardly any material or sonic evidence of what ›traditional‹ music sounded like in the historical past, as Machin (2010: 16-18) points out (see also Ramm 2020). Before long the tendency towards an electrification of türkü and of rural aşık [touring minstrel] folk songs intensified. In 1965, an immensely popular — and politically backed — music contest took place that included concert tours as well as record releases. The contest was named Altın Mikrofon [Golden Microphone] and was initiated and organised by the influential Turkish newspaper Hürriyet (see Lund 2013).1 One requirement for Altın Mikrofon was to rearrange a traditional Turkish tune which was supposed to be performed in a Western style incorporating electric or electrified instruments. The significance of this contest should not be underestimated. It led to forms of musical expression which were no longer just copying the Beatles or Buddy Holly in language, composition or instrumentation. This contest opened the gates for the further development of a specific Turkish hybrid, Anatolian Pop, with a fundament in Turkish language, Turkish compositions, and Turkish instruments, combined with electrified rural Turkish instruments, most notably 1
The contest had a predecessor in the famous newspaper-based Türkiye Güzeli [Miss Turkey] contest starting in 1929 and the craze it produced in Turkey (see Shissler 2004).
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CORNELIA LUND, HOLGER LUND, BERRIN YANIKKAYA AND OLIVER ZÖLLNER the saz [a long-necked lute], and modern urban electric instruments, and generally a Western-styled, modern pop-rock approach. In 1972, Cahit Berkay (of the Anatolian rock group Moğollar) presented a definition of Anatolian Pop well in sync with the developments following the Altın Mikrofon contest and still useful today: »Anadolu Pop is a style that combines Turkish folkloric themes, instruments and poems with the electronic capabilities and the systems of pop music« (as quoted in Baysal 2018: 216). Depending on perspective, one can perceive Anatolian Pop either as a Westernisation of Anatolian music by pop-rock means, or as an Easternisation/Turkification of Western pop by Anatolian music, or as a hybrid incorporating elements from both Eastern and Western music, to form something in-between (see Lund/Lund/Tülü 2019: 471-72). Anatolian Pop can thus be identified as a musical style which, according to Baysal, was an experimental way of more or less »harmonizing various fields — including national ideology, local culture, international counterculture, and the modern world« (Baysal 2018: 216). These three perspectives — Westernisation, Easternisation, and »in-between-ness« — were, depending on the point of view, acutely present in the visualisation of Anatolian Pop and paved the way for a specific ›rurbanism‹ which, in that particular period, could be observed on record sleeves and in Hey magazine photos quite often. Rural settings, textiles and outfits were juxtaposed to, and mixed with, urban settings and outfits to produce specific ›rurban‹ Anatolian Pop outfits. The electrified saz often appears as a symbol of that rurbanism. The development of a specific rurbanism as outlined above may be seen as an answer to the ongoing internal migration in Turkey, especially since the 1950s, when, thanks to Marshall Plan funds, the industrialisation of agriculture forced large parts of the rural population to seek their fortune in the big cities of Turkey. Alongside this considerable rural exodus — indeed whole villages moved to cities in form of chain migration (see Erman 2020: 185) — Anatolian music followed suit and subsequently got ›citified‹ by urban musicians now starting to play it.2 This resulted in Anatolian music becoming urban and electric (and more fashionable). At the same time, young urban musicians went, often for the first time and mainly as part of their mandatory military service, to the countryside. Here, future Anatolian Pop stars like Cem Karaca
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However, strictly speaking, earlier forms of ›rurban‹ music had already developed after internal waves of migration in the 1930s. Anatolian rumba is a case in point: in many music restaurants in Istanbul, called gazino-s, »Anatolian ballads were interpreted, female singers and dancers dressed in ›rural‹ dresses were singing and mixing Rumba with Konya's famous kaşık [spoon] folk dance« (Boratav 1981: 228-29; see also Lund 2020).
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ANATOLIAN POP MUSIC: ›RURBAN‹ IMAGES OF A PERIOD and Erkin Koray got in touch with rural Anatolian music, which changed their attitude and interest toward that music in a fundamentally positive way (see Spicer 2017: 59, 158-59; Baysal 2018: 216-17.). Rural and urban forms thus got interwoven in a complex, even contradictory way. The outcome is, very simply put, a rurbanism with the following key elements that reflected societal change in Turkey during the 1960s and 70s: • • •
rural-to-urban migration urban nationalism focusing on the rural student movements and early (individual) attempts at female empowerment
The images that were produced to accompany or advertise the pop music recordings resulting from this new cultural climate reflect this complexity of overlaps and contradictions: they are mixing the rural with the urban by tying the urban back to the rural as well as by urbanising the rural. These social practices were of an implicit nature, were hardly ever consciously addressed in the 1960s and 70s, and thus seem to be based on incorporated social knowledge. They narrate complex stories of Turkey and its ongoing social, political and cultural upheavals back then. The pictorial productions linked to the music that captured this period will be further scrutinised in the following paragraphs. They seek to outline first hints of a theory to be developed for understanding these images and their historic relevance.
4.2. Analyses of Images Anatolian pop music images, used for record sleeves and in advertising and promotional activities, address the complex entanglement of the rural and the urban in diverse ways, sometimes in complete accordance with the music, sometimes complementing the music and adding new perspectives. In these images, three main tendencies can be observed vis-à-vis their visual appearance: Anatolian Pop looks either a) rural, b) urban, or c) rurban. Based on a few examples taken from our sample of Turkish Hey magazine issues from the 1970s, record covers from that era as well as a few other materials, we will analyse these three ›looks‹ in that order and will show that the rurban look is by far the broadest and most varied category.
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a. Anatolian Pop looks rural Our example of a prototypical rural look of images linked to Anatolian Pop is drawing on well-known acts Selda Bağcan, a female singer, and Moğollar, an all-male psychedelic rock band at times associated with Cem Karaca.
Image 2: Record sleeve (front) for Selda Bağcan, »Aldırma Gönül«, 1978.
Image 3: Double page article about Selda Bağcan, Hey magazine, 11 July 1977: 30f.
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ANATOLIAN POP MUSIC: ›RURBAN‹ IMAGES OF A PERIOD Purely rural Anatolian pop images are not the exception in our sample of Hey magazine issues and record covers. There are some examples of images of Selda Bağcan where the rural imagery corresponds well to the music, in the example shown here an Anatolian pop sound with a pronounced rural orientation (see images 2 and 3). The song »Aldırma Gönül« is a prison song from the 1930s with lyrics by Sabahattin Ali and a strong political attitude of not giving in. In the Hey magazine issue of 1977 (11 July: 30-31), the photo on the left side shows Selda Bağcan dressed in an East Asian fighter costume (as was fashionable at the time worldwide) holding a Western acoustic guitar, while the other photos in the magazine issue as well as the record sleeve portray her as a farming person most likely living in a village. This rural positioning can also be read as an implicitly left-wing political statement and has indeed been understood as such. According to Daniel Spicer (2017: 38, 155-73), Selda Bağcan's interpretations of folk tunes were perceived as protest songs. The character of the strong woman so often on display in Bağcan's songs (and in her real life as well) can congenially be read in the context of popular movements of the period and as an individual early example of female empowerment. As Meral Akkent points out: »In the 1970s urban female performers discovered self-confident statements of rural women in traditional songs and interpreted these songs in their albums« (Akkent 2018). This rural stance, however, included conservative orientations (e.g., notions of anti-Western nationalism held by the left and the right) and progressive ones (e.g., women's and peasants' liberation and similar revolutionary ideas) that were overlapping in an ideological mish-mash of sorts. In hindsight, it is difficult to label some ideological leanings of that period clearly ›left-‹ or ›right-wing‹, even though the self-descriptions of political factions in Turkey were clearly laid out back then. As Kenan Behzat Sharpe concurs: »Selda and others began to move from a psychedelic-folk fusion to unambiguous folk revival. Urban activists from Istanbul and Ankara cut their long hair short, tore through the »village novels« of socialist realist writers and attempted to organize the peasantry. With the bağlama in one hand and rifle in the other, they struggled for a completely independent Turkey. Nationalism, highly selective reinterpretation of the Turkish independence movement, and investment in the historical continuity of ›the people‹ shaped the content and form of revolutionary art in the period« (Sharpe 2018: 174).
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Image 4: Record sleeve (front) for Moğollar, »Çığrık«, 1972.
Sometimes the rural imagery and the rural clothing of the musicians are in apparent opposition to the music, as in the case of Moğollar's 7-inch single »Çığrık« (see image 4). The music leans heavily towards Western funk quite in synch with its time of production (1972). »Çığrık« is based on a traditional song, and if listening carefully, one can hear the Turkish timbal used percussively. The music has a strong urban feel to it, is Western oriented and pop by character, yet the sleeve image is ostentatiously rural, folk style, and shows a landscape of eastern Turkey. It is thus incorporating a rural Anatolian folk fundament which is still audible in the recording, but rather hidden in the background. The sleeve image reverses these properties, putting the rural Anatolian folk fundament in the foreground. This almost seems like a coverup operation — as if something were to be hidden — and thus like an anathema to the concept of authenticity. Given the somewhat shaky foundations of the latter, this careful staging might be a key element to understanding Anatolian Pop's habitus.
b. Anatolian Pop looks urban The number of Anatolian Pop images showing musicians in a completely urban setting is astonishingly small in our sample. One must search hard to find some at all.
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Image 5: Double page advertisement for Cem Karaca and Moğollar, Hey magazine, 10 January 1973: 22f.
The ad for Cem Karaca and Moğollar's 7-inch single »Obur Dünya« (see image 5) delivers one of the rare cases. The musicians stand in front of a highly urban scenery, in Western 1970s attire, thus promoting nothing but urban music. This seems to be well in line with Moğollar's general orientations as this band had »revealed their keen allegiance to the Western, paisley-clad hippie counterculture« (Spicer 2017: 43) right from the beginning of their career. However, images showing them in a pronouncedly urban setting are rare. In the example documented here, at least a few traces of rural origins remain audible in the recording, with the choice of rural instruments and lyrics belonging to the rural aşık [minstrel] culture. Given the scarcity of such images in our sample, this state of a widereaching denial-by-imagery of the urbanisation and other processes of modernisation that Turkey underwent during the 1960s and 70s is remarkable. It may be pointing at an unconscious collective longing for reversing time and reclaiming more idyllic notions of everyday life and social organisation — or what could vaguely be called an Arcadian-nationalist approach. It just as well needs to be seen in the context of anti-imperialistic, revolutionary elements in Turkish political discourse at the time increasingly focusing on the rural. Sharpe points out that »as the politics of the Turkish left became increasingly militant after 1968, […] activists began heavily emphasizing the [rural] culture of Anatolia« (Sharpe 2018: 174). The political climate in Turkey was
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CORNELIA LUND, HOLGER LUND, BERRIN YANIKKAYA AND OLIVER ZÖLLNER rough and adversary at the time, and many topics could not be addressed in the open.
c. Anatolian Pop looks rurban In our sample of 1970s Hey magazine issues and record covers, we identified various ways for combining urban and rural elements in one image, and different visual strategies to construct the impression of rurbanity. We propose three different ›degrees of closeness‹ to be distinguished when examining rurality and urbanity in Anatolian pop imagery: juxtaposing rural and urban images side by side; conflating these motifs in one larger image; and focusing on close shots of a rurban motif.
Image 6: Double page article about Esin Afşar, Hey magazine, 26 April 1972: 12f.
The double-page article on singer Esin Afşar in Hey magazine of 26 April 1972 (see image 6) can serve as an example of the juxtaposition of urbanity and rurality alongside each other. The musician is shown twice on the double page: once as a young urban woman in an urban, Scandinavian-styled home setting, dressed up to date, and once as a peasant in a rural setting and clad in a corresponding costume. As in the double-page article on Selda Bağcan shown above, these images are not presented as contradictory but rather as complementing each other. Again, the music under question is a mixture: both urban-funky and rural-türkü at the same time; the article advertises one
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ANATOLIAN POP MUSIC: ›RURBAN‹ IMAGES OF A PERIOD of Afşar's major hits, »Zühtü«. This kind of rural/urban interplay can be observed frequently in Hey magazine, tying the rural to the urban and vice versa as two co-existing entities.
Image 7: Photo from the front page of Ses magazine, 21 March 1970, showing Moğollar on stage.
A photo from a front page of the magazine Ses (see image 7) of 21 March 1970 can serve as a prime example of a conflation of rural and urban stock motifs in one larger image — an intensified degree of closeness, as it were. Here, the band Moğollar shows up again, this time on stage, with the electric bass player sporting a rural outfit, but with a special emphasis on the Anatolian ornaments on his vest and his strangely prominent shepherd's socks. Standing next to him, the singer is dressed in an almost formal urban suit, chic leather shoes and a kind of op-art tie. In this image, the combination and mingling of rurality and urbanity is much more highlighted than in the examples given before. The guitar player in the back represents the rurbanity in his attire all together: the shoes, trousers and shirt are very much urban whereas his jacket, usually referred to as an »Afghan« waistcoat in the West (and quite a hippie fashion statement at the time), is definitely rural, a clothing item originally worn by shepherds throughout parts of Asia. As in Anatolian pop music itself, both layers of social orientation are present in this mise-en-scène, surely by different degrees, yet fusing in one musical genre.
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Image 8, left: Front page of Hey magazine, 19 January 1972, showing Esin Afşar. Right: Front page of Hey magazine, 21 June 1972, showing Cem Karaca.
Image 9: Double page advertisement for Fikret Kızılok, Hey magazine, 16 February 1972: 22-23.
The most intense rurban degree of closeness is discernible in portraits or close shots. Presented on the front pages of two Hey issues and in a double-page ad in the same magazine in 1972 (see images 8-9), Esin Afşar, Cem Karaca and Fikret Kızılok can all be seen in close-ups that highlight details. The allover rural impression, produced by the Anatolian textiles and ornaments in the images is combined with urban elements: Esin Afşar sports an up-to-date
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ANATOLIAN POP MUSIC: ›RURBAN‹ IMAGES OF A PERIOD urban haircut and some hippie jewellery, Cem Karaca is wearing his stylish urban sunglasses which make all the difference, and in spite of the Anatolian ornaments on his guitar strap, Fikret Kızılok holds the acoustic guitar like a repoussoir, or push-back object, in quite an urban rock star manner. The choice of the instruments and their presentation play an important role in the construction of rurban images. Rural instruments, for example, are often taken as a marker of the Anatolian elements of Anatolian Pop, akin to props.
Image 10: Article about Barış Manço and Kurtalan Ekspres, Hey magazine, 20 March 1974: 26.
A concert photo of Barış Manço and his band Kurtalan Ekspres (see image 10) shows the musicians on a stage with Marshall amplifiers, in a Western glam and hippie outfit and with some fantasy Ottoman elements adorning Manço's dress, the latter highly reminiscent of the kostüme avantür movie genre. Yet the musicians play an electrified saz and a Turkish timbal, thereby connecting the music to the rural Anatolian side of Anatolian Pop both on an auditory and a visual level. The examples above show that Turkish society at the time was moving back and forth between urban and rural areas, in thinking, in discourses, and in cultural production. In a period of transition, it seems that the only way to reinvigorate a political and thereby inherently cultural discourse was to reintroduce formerly neglected cultural phenomena (as rural elements were) back to the more dominant areas of popular culture. Therefore, this kind of
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CORNELIA LUND, HOLGER LUND, BERRIN YANIKKAYA AND OLIVER ZÖLLNER rurban imagery became pervasive in Turkish popular culture and was not limited to pop music alone. It also manifested itself in a peculiar amalgam of comic book characters, invented mythical heroes, modes of eroticism (to a certain extent), but mostly by way of social action in ahistorical contexts and costumes. We may identify such ritualised staging of popular culture as a state of »liminality« (Turner 1969: 106). Regarding the perspectives on Anatolian Pop presented above, such a state of liminality reflects the ›inbetween‹ perspective: both orientations — rural and urban — are represented through mise-en-scène, yet they are neither welded together, or merged, nor is a decision made in favour of one over the other; instead, the phenomena appear to be fluid or »betwixt and between«, as Victor Turner (1969: 107) famously remarked in the context of symbolic anthropology. Urbanity and rurality appear like two sides of the same medal; hence we call it ›rurbanity‹. Such a liminal performative state — being and staging on a threshold, as it were — may pave the way for society to develop and find new ways of dealing with challenges, such as the impositions introduced by transformative processes of modernisation, urbanisation and their larger contexts. Understood in such a way, a dual state of in-between-ness seems like a coping strategy and lays out possible future developments for a society in multiple ways. This openness can be identified as the habitus of Turkish society in the 1970s, i.e., as a formation of embodied social dispositions that so often manifest themselves in mostly unconscious and unquestioned patterns of behaviour and cultural production in a society (see Bourdieu/Wacquant 2013: 160; Bourdieu 1989: 467) — observable in Turkey and elsewhere. Yet, this openness came under pressure with intensifying violent political feuds and infighting towards the end of the 1970s. The military coup in 1980 ended it the hard way. After this marked break, options for life — and music — changed.
5. Conclusion: Anatolian Pop Images and the Habitus of 1970s Turkey, and Beyond To analyse the habitus of a period is not an easy task; capturing the embodied social dispositions of a particular period unfolding in a country in turmoil (as Pekesen 2020 put it) is even harder. Yet this article, by employing the approach of the sociology of knowledge, attempted to outline a few key insights — to cover some ground, so to speak — that can be used for future research and further theory-building.
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ANATOLIAN POP MUSIC: ›RURBAN‹ IMAGES OF A PERIOD Taking into consideration what Anatolian Pop looks like in the images analysed so far, we can conclude that this musical genre and its attached social practices look rural or rurban in most cases; at times rural and urban motifs are conflated into a rurban look (to varying degrees); rarely does Anatolian Pop look strictly urban. This still leaves us with the question why such rural and rurban elements are favoured over an urban imagery. One answer points at the core principles of the music itself. Anatolian pop music was a wild, non-domesticated pop phenomenon. The usual domesticators, i.e., global major record companies, were not dominating the Turkish music market in the 1970s (see Lund 2021: 9-10). Instead, and despite censorship, this market was a relatively unregulated independent music market. Many scholars attest Anatolian pop music an experimental, surprising character and describe it as a music in a continuous reach-out and try-out mode. It was an unrestrained pop music full of experimentation (see Söylemez 2022: 183, 188). The designer Raymond Loewy once invented the so-called MAYA formula: Most Advanced Yet Acceptable (see Loewy 1951). Loewy always had the audience, the consumers in mind. Arguably, and more or less consciously, the same happened in Turkey with Anatolian pop music and its images. The rural and the rurban elements in that imagery restrained and balanced the music, at least visually, for the audience and their internal migration background in order to find calm in a society full of rifts and turmoil. The imagery rooted the music in something the audience knew — as a form of incorporated social knowledge — and could always refer to, like the türkü and aşık tunes which serve as fundaments for so many Anatolian pop songs. Thus, in a way, the imagery delivered a sort of homecoming. Yet, at the same time, the rurban imagery, like the music itself, referenced both a rural past and new styles of urbanity, in a combination of various degrees of urbanisation. The rurban imagery therefore both refers to the ›in-between‹ status of a large number of Turks with internal migration experiences and alludes to a then emerging urban middle-class youth (see Mumcu 2020), mostly educated in foreign high schools in the big Turkish cities. In the early 1970s, this urban youth had no first-hand migration experiences but nevertheless tried to figure out their identity in a period when a new, Americanised urbanism-as-lifestyle served as a model (see Zürcher 2017: 231-32; Gürel 2009). At the same time, references to rural Anatolia gained importance, not only via internal migration but also connected to political messaging and political self-definition, especially when it came to Anatolian pop music as a form of protest. At the beginning of this article, a polycultural, transnational context (see Lund 2020) was mentioned, which is thought to bring together European,
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CORNELIA LUND, HOLGER LUND, BERRIN YANIKKAYA AND OLIVER ZÖLLNER Mediterranean, Arabic, Balkan and other post-Ottoman ›musicscapes‹. A prominent function of the rurban imagery may also be seen in rooting the polycultural, transnational aspects of Anatolian Pop — the non-Turkish ›otherness‹ that it partly includes — in the Anatolian core homeland, thus nationalising (consciously or unconsciously) this kind of music. Instead of opening it up, by way of integrating non-homegrown, non-Turkic imageries and styles, in Turkey the visuals were narrowed down to a markedly Anatolian imagery. This seems to be in contrast to what sometimes happened outside of Turkey in the post-Ottoman era, when for example Greek musicians recorded an album entitled, and containing, »Turkish Hits« for an Israeli record label, or made cover versions of Barış Manço's songs in the Greek language (see Lund 2020). The urban left-wing factions of the nationalist movement in Turkey (see Ramm 2020) seem to have been more interested in re-defining Turkey by anchoring local national identity in Anatolia than in reframing Turkey in a post-national context by enlarging the country's imagery and moving it beyond the frontiers of Anatolia. Therefore, a wider research perspective would have to take into account, and include, non-Anatolian rural, urban and rurban imageries produced for Anatolian Pop recordings outside of Turkey. In a similar vein, for further research, comparisons with nationalising 1960s and 70s ›musicscapes‹ and their adorning imageries from outside of the post-Ottoman circle of countries would yield equally interesting comparative case studies.
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CORNELIA LUND, HOLGER LUND, BERRIN YANIKKAYA AND OLIVER ZÖLLNER
Abstract This article seeks to analyse the images that accompany the hybrid musical genre of the 1960s and 1970s called Anatolian Pop in Turkey. The unique characteristic of this musical style is twofold; firstly, it stems from the polycultural nature of the genre as it brings together European, Mediterranean, Arabic, Balkan, and other post-Ottoman ›musicscapes‹ (drawing on Appadurai 1996), and secondly, it blends rural and urban elements up to a point that can be called ›rurban‹, a term adopted from urbanism. The latter also needs to be examined in the context of migration flows from rural Anatolia to larger cities mostly in the west of Turkey. Anatolian pop music developed in a globalising-localising context, a ›liminal‹ place and space of both domestic and international cross-cultural communication. The rurban character of Anatolian Pop is for one part present within the music, but also in its materiality, most prominently in the metamorphosis of the rural lute saz into an electrified urban rock instrument. Rurbanity is, however, equally inherent in the images produced alongside this music: for record covers, magazines and films that show musicians, fashion garments, accessories, and instruments. These images can be read as documents of particular social, temporal and/or spatial relationships, and can thus be analysed in the context of the sociology of knowledge. Mainly based on a sample of 1970s Turkish weekly pop-culture magazine Hey, the article examines how the interplay of rurban fashion and music works, and how these discourses were framed in the photographic images. The authors also investigate the visual and discursive links between the kostüme avantür films of the period and Anatolian pop music. Thus, the objective of this analysis is to uncover the incorporated habitus of the period, i.e., the sometimes unconscious and unreflected patterns of behaviour and valuation in a society (Bourdieu 1989).
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EVOKING
DOCUMENTING THE LONDON LESBIAN C L U B S C E N E O F T H E 1980 S A N D 1990 S T H R O U G H CLUB FLYERS AND ASSOCIATED EPHEMERA AND
Katherine Griffiths Introduction The London lesbian club scene of the 1980s and 1990s sat on the overlapping edges of alternative club nights, it was communicated through word-ofmouth networks, listings magazines, and self-produced, cheap flyers advertising events across its own covert network. In organising their own club nights lesbian promoters, DJs, and dancers created a culture and network where they could express their sexuality, meet up, dress up, party and dance. In the face of the racist, sexist, and homophobic mainstream clubbing worlds, Black and white lesbians created their own queer music scenes in liminal spaces. These informal spaces of consumption provided escape from work and the family, affirmed their worlds, and developed a sense of identity and community (Buckland 2002: 54). Along with other marginalised and outsider groups London lesbians put their labour into creating alternative music scenes in autonomous spaces beyond stereotypical domestic spheres. Lesbians upset the power relations of the city's gendered spaces (Massey 2007: 181) in making their scene, and music was the conduit that embodied this process in the club and through the dancing bodies on the dancefloor. Clubbing histories and accounts have extensively documented straight and gay male scenes (Gilbert/ Pearson 1999, Brewster/Broughton 2006, Lawrence 2013, Reynolds 2013, Melville 2019), however, the music scenes that lesbians create/d have been largely ignored or omitted. Engaging with popular music is a key cultural activity that affects multiple lives and experiences, the stories of many are erased by the revered, canonical narratives that have privileged narrow and exclusive histories. This paper intends to shine a light on this lesbian music scene's DIY culture through archival activism and queer oral history methods.
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KATHERINE GRIFFITHS »With their participatory approach to archiving and history-making, feminist music archives are embedded in specific times and places, and within particular feminist and queer feminist communities. At the same time, the archives communicate ›counter-memories‹ (Lipsitz 2006) that create alternative discourses to the officially recognised, male-dominated popular music histories and heritage projects by highlighting the lived experiences … of feminist, queer and anti-racist musicians and artists and stressing a different understanding of time« (Reitsamer 2015: 97).
Positionality I am writing this as an insider. As a white lesbian DJ, I danced and played music on the overlapping gay, lesbian, and straight scenes. I designed, printed, and collected club flyers, made mix tapes, and saved cuttings from listings magazines. Autonomous lesbian music events provided safe spaces away from the often menacing surveillance of the straight world. By collectively contributing to our own cultural scene, music helped us make sense of our world, our city within a city. Frith discusses the role of sharing music in connecting social groups and identity formation: »music gives us a way of being in the world, a way of making sense of it« (Frith 1996: 114). The scene's ephemera are remnants of a fragile, forgotten, and undocumented scene. Flyers, photos, mix tapes and badges evoke memories of this period and contain stories waiting to be told.
Method Through examining a sample of these artifacts that were meant to be discarded, that were never to be kept, I hope that this paper can connect back to this period, generate a richer historical narrative, and propose alternative, fuller readings of London's clubbing history. This paper utilises artifacts from my own collection from the 1980s and 1990s and items from a group of oral history interviewees (Anabel, Brigitte, Carole, Denise and Esther) to begin discussing our memories. I use the flyers and objects as an »activator of subcultural stories« (Willsteed 2020: 160). We discussed our own memories and recollections that were triggered from seeing and talking about these nights. In DiY Cultures and Underground Music
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EVOKING AND DOCUMENTING THE LONDON LESBIAN CLUB SCENE Scenes, John Willsteed discusses ephemera collected from an alternative underground music scene in Brisbane and how curating and exhibiting these objects conjured up memories in attendees where they were exhibited. »The objects ... have an intrinsic aesthetic value as well as being representative of the time, energy and social connection required to devise and produce them … with a different curatorial focus they can be moved to the centre of the story as representative of this social and cultural activity« (ibid.). At the time there was a lack of writing or recording from these cultural edges. Accounts in the mainstream were often sensational or objectified women and lesbians. Considering this context and the real danger of homophobic, sexist, racist attacks, the lesbian scene kept itself under the radar of the straight world.
Queer Oral History Placing our archival fragments at the centre of the story, rescuing them from the margins provides the material evidence of how these club nights, benefits and parties were communicated and took place and tells of their significance in the lives of the women that took part. The collaborative activity of recollecting with other participants from the time, evokes and stimulates discussion. In carrying out these interviews we jointly activated recollections and thoughts from our pasts, recouping an overdue history. In this way we are accessing the queer embodied archive. Queer oral history intentionally upsets and disrupts the power relations between the traditional historian's dispassionate, and often objective methods of researching their subjects, and in so doing works collaboratively with their co-narrators whose position in the telling/re-telling is active and involved. »…Archives of Disruption, gestures towards the concept of narrators – and indeed interviewers – as embodied archives…In invoking ›disruption‹ we highlight queer oral history's ability to upend and destabilise cisheteronormative narratives that have occluded or silenced queer life and experience« (Summerskill et al. 2022: 2). Using oral history and memorabilia is a powerful way to animate hitherto forgotten and undocumented passages of history. The American academic Saidiya Hartman uses archival fragments alongside documentary evidence to bring to life those lives traditionally and institutionally forgotten. The personal archive of Mabel Hampton stretches from the 1920s in New York to the 1970s and demonstrates the significance for an African American, queer
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KATHERINE GRIFFITHS woman of collecting small pieces of a life that is then transformed, in Hartman's writing, into a fascinating, rich, urgent telling of history. »Every historian of the multitude, the dispossessed, the subaltern and the enslaved is forced to grapple with the power and authority of the archive and the limits it sets on what can be known, whose perspective matters, and who is endowed with the gravity and authority of the historical actor« (Hartman 2019: xiii). Here by sharing the ephemera, looking at the objects and discussing them, a fuller picture of the lesbian music scene begins to emerge, stories and recollections are shared, the essence and histories of this time can begin to be rescued. The things tell stories and begin to present an account of our history. Acknowledging too that this can never be a full account, indeed I do not wish to create anything that purports to be a definitive piece. Memory is fallible, these events are now over thirty years old but took place at a vivid time in our lives, our early and late twenties. We are talking about a time that is referred to as the ›memory bump‹ (late teens to early thirties) where events are more easily remembered and forged in our recollections. The value here is in salvaging something from our pasts that can be added to the writings on London's club cultures and, unusually, posit the work and culture of lesbians from the margins they often inhabit to a centred place. By recovering these insider accounts, re/collecting these moments I can address this neglected history and call attention to a significant contribution to London's burgeoning club scene.
Lesbian lives in the 1980s and 1990s Lesbian absence from texts and public narratives is not new and was something that lesbians were acutely aware of at the time. A common self-deprecating graffiti slogan »Lesbians are everywhere!« could be found in remote places throughout the UK and emblazoned across T-shirts. Wearing political badges and slogans on T-shirts was one way of performing rebellion and showing others where your politics lay. Along with fashion and hair style lesbians could recognise each other and connections could be made. The city's political and musical scenes collided and colluded in providing spaces and opportunities for these disparate and rebellious groups and individuals to meet likeminded people in protest and party.
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EVOKING AND DOCUMENTING THE LONDON LESBIAN CLUB SCENE This was a riposte to the public narrative of lesbianism as a stereotypically rabid activist, an object of straight male sexual fantasy, or as nonexistent, hidden, and invisible. These media depictions acted as a public and internal censor to lesbian lives, stifling our own sense of identity and inspiring activist responses. One side of this binary of lesbian visibility in the UK public sphere at this time is demonstrated in the Daily Mirror front page of 24th May 1988 (Fig. 1).
Fig. 1: Daily Mirror 24 May 1988
Esther shared this newspaper clipping, it was published on their birthday, which gives the piece more significance for them as a day to celebrate lesbian visibility and activism brought to the nation through a widely read tabloid paper. The day before publication four women broke into the BBC news studios and handcuffed themselves to a desk before being overpowered by one of the presenters. The women were protesting against the Conservative government's Section 28 legislation. This would make any promotion of homosexuality in schools illegal. While the tabloid headline may be a negative depiction of the activism of these lesbians, reducing them to the stereotypical angry protestor, this would also be a media story that, perhaps counterintuitively, affirmed lesbian identity. Any story or account of marginal lives, whether positive or negative, was and is, for many lesbians, gays and trans people, an actual acknowledgement of their existence and in this way they could recognise that their identity was shared with others (Riseman 2021). In his paper on transgender identity and the influence of the media in Australia in the 1970s, Riseman draws on the personal archives and scrapbooks of his
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KATHERINE GRIFFITHS participants in an oral history study. He states the importance of personal archives for marginalised groups, in this case transgender people: »Personal archives are important records of people's day-to-day business, personal lives and relationships, so they provide insights into the emotions and private thoughts of an individual and their relationship to the public sphere« (ibid.: 5). This chimes with the significance of 1980s lesbians in the UK who could form their identity via paradoxically negative depictions of lesbians in the mainstream press. Riseman goes on to cite historian Ruth Ford: »Through observing other women who transgressed gender norms, same-sex attracted women could construct their identities« (Ford in ibid.). Alongside my collection of ephemera and items from the oral history narrators, I am attempting to use these once insignificant items to evoke memories and re-assert these identities from the past into a present where there is still some absence and denial. »The ephemera, the discards, of our lives. The things we thought we would never see again, returned to us« (Willsteed 2020: 168).
The historical context of London for lesbians London in the 1980s and 1990s was a magnet for marginal groups to find relative escape from sexist, racist, homophobic attitudes, it was a sanctuary far from oppression. Many lesbians were part of the broad Left who united in marches, demonstrations, and actions to protest inequalities, police brutality and Tory rule. The post-war lesbian scene and opportunities for gay women to meet and socialise were limited, as was lesbian visibility in general (Jennings 2007). The gay scene for men and women existed in a context of oppression, police surveillance and violent homophobia where there was no protection on being outed at work or within the family. Black lesbians and gays faced the compounded oppressions of racism and heterosexism. The post-war lesbian scene in London was covert and restrictive, and catered for women who identified in strict, what appeared to be heteronormative, roles of butch and femme. While this scene had provided refuge and night life for many women, it held little or no appeal to many 1980s lesbians who had emerged from 1970s punk, Rock Against Racism's promise of rebellion, and feminist teachings. The kind
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EVOKING AND DOCUMENTING THE LONDON LESBIAN CLUB SCENE of »pre-political« lesbian scene that the Gateways bar represented1 was rejected by many younger lesbians at the time. The Gateways was a small private members bar in Chelsea frequented by butch and femme lesbians. It ran from 1943 to 1985 and was immortalised in the film The Killing of Sister George. This scene did not cater for the new wave of women who loved women, so, during the 1980s and into the 1990s lesbians started kicking back and creating their own informal alternative club spaces. New kinds of lesbian clubs emerged, in different spaces, and with a geographic spread across the city (Fig. 2).
Fig. 2: Sketched map of London lesbian club nights
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Pre-political is a term that Kennedy/Davis (2014) used in their seminal lesbian oral history work Boots of Leather, Slippers of Gold: The History of a Lesbian Community to describe women who formed communities and social networks before the advent of ›gay liberation‹ and feminism in the 1960s in Buffalo, US.
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KATHERINE GRIFFITHS Spaces were available in housing co-operatives, squats and publicly funded women's centres giving women agency and the means to organise their own events in spaces that they could control. These disrupters to the status quo energetically demonstrated their anger at oppression, racism and sexism through emerging identity politics and activism. During this period there was a thriving gay male scene across London, with its own network of diverse bars and clubs. A recent queer mapping and oral history project by Elly Clark estimated that there were 56 queer venues in the Kings Cross area in London around the turn of the twentieth century.2 Most of these have disappeared with the gentrification that the area has undergone.
Lesbian clubs and nights, collective goals and activism So, how did lesbians find about their club nights, what did the lesbian club scene look like during this period? Let's remember that this was pre-internet and to find out about clubs and nights different modes of communicating were employed in spending time and energy and searches. The interlinking spaces that lesbians frequented and occupied were often situated beyond formal clubs and bars. The DIY activism of women and lesbians, and some publicly funded initiatives provided spaces and opportunities for lesbians to connect. The informal spaces of squats, housing co-operatives, and women's centres were spaces where lesbians could meet and access information from each other and the busy notice boards on the walls. These premises were available for DIY activism and could be used as spaces for women to set up their own club nights. Women's access to formal spaces was and still is problematic, and it was often safer to use these informal spaces for our partying. Many events were short-lived, often just one night and so the material residues that we could use to evidence their existence have been lost. The few regular women's nights that had emerged in the early 1980s were renowned for playing bland, crowd-pleasing music that catered to a stereotypical white lesbian audience. Black lesbians often faced racism from door staff and clubbers in these spaces. In response to this context a diverse range of one-off nights, niche events and sub-scenes emerged counter to the prevailing gay and lesbian scenes. 2
http://ellyclarke.com/index.php?/news/queer-encounters-kings-cross/ and https://yikki.co.uk/kings-cross-queer-encounters, both accessed 25 January 2020.
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EVOKING AND DOCUMENTING THE LONDON LESBIAN CLUB SCENE While the London listings magazines City Limits and Time Out carried adverts in their gay sections, many nights were communicated through word of mouth and flyers (Fig. 3).
Fig. 3: Venus Rising flyer
One long-running night, Venus Rising, at the Fridge in Brixton was advertised in City Limits and relied on flyers distributed by hand and left in other clubs and bars. The magazine's recommendations were predominantly male nights. In this issue I counted 50% more gay male nights and events than women's nights. In formal venues women's nights were often relegated to one night during the week and were rarely held on a Friday or Saturday. Venus Rising took place on the first Wednesday of each month – despite this it was, at the time, reputed to be the largest and longest running women-only club night in Europe. The door charge of £3 was less than many straight nights which averaged around £5, although many straight club nights admitted women at no charge to encourage a more mixed atmosphere. In seeking out potential venues to put on a women's night, the owner would invariably reject the weekend slots citing that women would not spend as much on the door charge or on alcohol at the bar. Then, as now, the decisions of bar owners and lower wages earned by women results in women being discriminated on due to their lower spending power compared to men. This results in cultural spaces and the activities that take place in these spaces being dominated by men with access to more disposable income than women. This also impacts other men who are on lower wages or are unemployed.
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KATHERINE GRIFFITHS Flyers were handed out on the scene, left in bars and clubs, and distributed by lesbians to lesbians. A typical flyer from the mid 1980s uses basic technology; a hand drawn, photocopied and urgent delivery of information. Underground scenes relied on a kind of codified use of language. On the flyer for ›Shaz‹ and ›Tapa‹ (Fig. 4) during my discussion with participants Brigitte and Carole, we concluded that ›WX‹ may signify that the night was ›women only‹.
Fig. 4: Flyer for ›Shaz‹ and ›Tapa‹
But here, we too were unsure, an inevitable question mark in rifling through ephemera that suggested we need further research on this investigation. The flyer relies on cheap methods, using a typewriter, perhaps borrowed, a basic black marker pen to form letters through a stencil and then hand drawn lettering to give a variety of style. The A4 page is then marked up – the traces of the delineations just visible, photocopied onto plain white office paper, cut up and then handed out to possible guests. Is the ›No entry after 10:30‹ red line an emphasis or crossing out? Was this in fact a women only night? This too seems strange when we consider the location in an area of Hackney not known for its gay-friendly environment. The flyer for the SWAPO (South West Africa People's Organisation) benefit night at the Africa Centre seems more decipherable (Fig. 5). It too is a hand drawn flyer using black text, symbols, drawings, and type on cheap white office paper. Barely visible now in the bottom left corner, due to aging and handling, are the words ›all women welcome‹. Meaning that the event was women-only. ›All women welcome‹ was seen as less confrontational as ›women only‹ which was often challenged by men seeking to access these spaces. We remembered how this was dealt with at the door of many clubs and events, where men trying to get in would be told that the event was a ›private party‹ to avert possible male aggression. We then reminded ourselves
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EVOKING AND DOCUMENTING THE LONDON LESBIAN CLUB SCENE of the many informal ›men only‹ spaces that dominate public, private, sporting, and social life and how this gendered territory is rarely challenged. Lesbians would know of the DJ Sista Culcha who often played her set of reggae and soul at predominantly Black women's events. The attraction of the music and the political activity of supporting Namibian Women's Day would affect the mix of the crowd at the club. Looking at the entry price of this gig we recall that the guests self-selected their payment according to whether they were high-waged, waged, student, or unemployed. This was rarely contested; it was a given across the lesbian music scene. The importance of providing access according to what one could afford was an essential tenet held by the organisers and dancers.
Fig. 5: Flyer for SWAPO benefit
This can be seen too on the flyer for the Amazon (Fig. 6) where the charge for ›concs‹, i.e. concessions, unemployed, students, was £2, rather than the £2.50 full charge. While this flyer advertises ›North London's newest women's club‹ coded messages can be detected by those in the know. The figures
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KATHERINE GRIFFITHS drawn represent Black women. Denise was reminded of the artist Lubaina Himid's work, the hairy arm-pitted woman on the right brandishes a labrys, the double-headed axe symbol adapted and worn by lesbians denoting strength and indicating sexual preference for women. Lesbians did not have access to a website or Facebook page where recommendations and information could be freely accessed and assessed before catching the bus to the venue. However, we can deduce from these observations and readings of the flyer that the club was a lesbian night, it was run by Black women and the music would be, for many of us, a refreshing alternative to the white pop more generally played on the lesbian club scene.
Fig. 6: Flyer for Amazon
Clues to the collective intentions, politics and social setting of the time are imprinted in these residual traces, enabling us to remember and affirm life on these margins. The SAD Access code on the back of the flyer advertising a social for the Camden Lesbian Centre and Black Lesbian Group (Fig. 7), indicates the facilities for disabled access and the environment at the venue.
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Fig. 7: SAD Access code on back of flyer
Anabel pointed out that this was significant work by women, way ahead of what would later become formalised in law by the UK government in legislation protecting people with disabilities from discriminatory practices and access. Like Anabel we went away trying to recall what ›SAD‹ stood for. We have since speculated that it might stand for ›Sisters Against Disability‹ but remain unconvinced and acknowledged that we need to research this further. It seems that it did in fact refer to the Standards of Accessible Design drawn
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KATHERINE GRIFFITHS up by US architects in 1991. Whatever we recall it stood for, this code provided an informally agreed framework that was used to describe the key information that any sister with mobility, sight, hearing needs could use prior to attending the event. This was radical, egalitarian work, ahead of its time. It shows to us the real sense of the change that lesbians, Black and white, saw as possible and put into concrete actions. Many events in the 1980s and 1990s were fundraisers for political causes. Known as ›benefits‹ these varied across left political groupings including Women's Aid, support for the striking miners, and freedom struggles across the world. The flyer for the women only benefit in support of the International Lesbian and Gay People of Colour Conference 1990 (Fig. 8) was of real significance for Brigitte who, unknown to me, was one of the organisers of the conference.
Fig. 8: Flyer for International Lesbian and Gay People of Colour Conference 1990
This triggered many memories of her involvement and activism at the time. She recalled that in helping to organise the conference workshops there had been eight planned sessions, leaving two open sessions to complete the schedule. In conversation with a colleague, she had suggested that they give space to ›mixed-race‹ (reflective of the language used at the time) people of colour to get together and discuss their identities. Unsure whether this would be a success or of any interest to anyone they were astounded when thirty people came to the session. What then happened was of real consequence for the group as it became a support, social, political, and cultural group that they named ›Mosaic‹. After our discussions Brigitte then contacted other members of the group. Brigitte's memory that the group lasted only one year was challenged by another group member who had evidence that it continued
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EVOKING AND DOCUMENTING THE LONDON LESBIAN CLUB SCENE for at least two years. Holding annual conferences, Mosaic was attended by people from across the UK, inspiring publications and recognition of their intersectional identities and forming long-lasting friendships. Carole had also attended the benefit, remembered the DJs and the other venues that they played at. She recalled that the DJs Sista Culcha and Sensi both played at the South London Women's Centre regular women's club nights. The flyer itself is another hand-designed and cheaply printed artifact. Using basic word processing available at the time, with musical notes and women's symbols scattered across the layout it provides the address and transport routes as well as accessibility information. We can only assume that the figures 2 and 4 drawn into the hearts represent the sliding scale of price of entry for unemployed/low waged and employed attendees. Another coded message ›No SM gear‹ would be recognisable to lesbians on the scene at the time. One of this marginal group's internecine battles around sexual behaviour and dress played out in debates and the clubs where the group's protagonists and oppositional elements would often encounter each other in the same spaces. In this case the wearing of clothing denoting SM (sado-masochism) practice caused offence to some women. We surmised that this flyer was most likely printed by one of the organisers who had access to a photocopier at their workplace. Brigitte recalled that she was often called on to do the drawings for flyers even though she thought that she could not draw. The imperative was to use each other's skills, contacts, and energy to get the message and information out without incurring unnecessary or avoidable costs. We note that there are two spellings of ›Sista Cultcha‹ across this sample. Is this a result of the DIY, fragmented, amateur designers of this scene? Would the autocorrect of today's technology and our current pursuit of pristine finishes, without rough edges, have obliterated the hand-drawn and hand produced immediacy of yesterday's makers? The scene's only templates and generally agreed standards were around a collective desire to provide social spaces, safe places where all would be catered for and those on higher wages subsidised those on lower incomes. We can note too from this sample the importance of providing transport information. The expanded bus and tube network that Londoners now enjoy did not exist then, and many areas of the city were inaccessible without a car or bicycle. Lesbians were resourceful and collaborative in their crisscrossing of London's routes and journeys. Their movements can be mapped and traced through the lifts often offered at the end of nights, using one of the new women's taxi services or self-propelled by bicycle. In recalling the many lost clubs, we tentatively began to draw a map of the city's lesbian nights
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KATHERINE GRIFFITHS (Fig. 2). One outpost was Beryl's in Tottenham, quite a distance for lesbians to travel from other parts of London. Lesbians from across the city would make this journey as it was a rare Saturday night event. Several of the participants recalled the chutzpah of one lesbian who, at the end of one night, hijacked a London bus from the garage opposite, and drove it all the way to South London with several non-paying passengers.
Fig. 9: Flyer for Fabric night at the Royal Oak.
As technology developed into the 1990s with access to Desktop Publishing, the design, execution, and production of the flyers became more sophisticated and targeted. At the same time lesbian visibility was becoming more accepted and formal social spaces were emerging. During the early 1990s there was an increase in venues run by lesbians and in lesbian nights taking place in these pubs and bars. The Fabric night (Fig. 9) at the Royal Oak, predating the super club Fabric, took place in lesbian-friendly Stoke Newington. The Precious Brown (Fig. 10) night was in the heart of queer Soho where lesbian club promoter Kim Lucas ran the Candy Bar.
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Fig. 10: Flyer for Precious Brown night at the Candy Bar Moving from fond, nostalgic memories back and forth to studying these fragments we can see the significance of this period for the women who took part and can build narratives and stories of rich, vibrant events. By bringing attention to this period through the archival fragments of club flyers we can now appreciate an otherwise forgotten scene and its hitherto undocumented activism.
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Conclusion The collection of personal archives is of particular significance for lesbians and queers in evidencing marginal lives and affirming identity. The predominant accounts of nightclubbing are written by straight, white men where the experiences and contributions of women (Black, white, straight, and queer) are relegated or disregarded. Lesbians upset the gendered power dynamics of the city's spaces in providing discrete events for themselves. The social and political context of the 1980s and 1990s enabled lesbians to usurp spatial, racial, gendered hierarchies, and create autonomous sites of pleasure on the dancefloor. In these often precarious sites, lesbians found their own fleeting escape. »The urgency of owning a space with people who look like you and share some of your experiences increases the further against the margins you are« (Abdurraqib 2017: 221). There is a real importance in returning to these flyers and ephemera, to reveal this underground communication network. These imprints on scraps of paper attracted and informed lesbians about the women's nights where they could be with others, build their identities with other lesbians and escape from restrictions on our queer lives. For many lesbians their sexuality was a secret part of their existence, kept from family and work colleagues. This concealed reality came to life, and our imagined selves could emerge as we travelled to the club and immersed ourselves with other lesbians in the collective activity of listening and moving to the music on the dancefloor. There are gaps in the writings on club cultures and a lack of recognition of women's work and contributions. London's club scene that emerged through the 1980s paved the way for superclubs, superstar DJs, and the music festival industry. And while LGBTQI+ visibility is now a given in the West, it is important to acknowledge the history and diversity of the many sub-scenes that rubbed against each other in London in the late twentieth century. On the margins of the straight and gay scenes Black and white lesbians danced and politicked, disrupted normative values and asserted their identity and belonging.
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KATHERINE GRIFFITHS
Abstract The marginal club scene that Black and white lesbians created in London in the 1980s and 1990s was communicated through word-of-mouth networks, listings magazines, and disposable flyers advertising events across an underground network. These items and ephemera are remnants of a fragile, forgotten, and undocumented scene. Using my own collection of flyers alongside interviews with participants as an ›activator of subcultural stories‹ (Willsteed 2020) the paper uses queer oral history accounts to recollect this neglected history. The lesbian club scene of the 1980s and 1990s was part of London's wider, vibrant cultural and political landscape but existed semi-secretly at the edge of the clubbing world. This covert scene provided a place of relative safety for lesbians to express their sexuality, meet up, dress up, party and dance. Flyers were handed out on the scene, left in bars and clubs and distributed by lesbians to lesbians. A typical flyer from the mid 1980s uses basic technology; a hand drawn, photocopied and urgent delivery of information. As technology developed into the 1990s, the design, execution and production of the flyers became more sophisticated. However, clues to the collective intentions, politics and social setting of the time are imprinted in these residual traces allowing us to remember and affirm life on these margins. The collection of personal archives is of particular significance for lesbians and queers in evidencing marginal lives and affirming identity (Hartman 2019). The predominant accounts of nightclubbing are written by straight, white men where the experiences and contributions of women (Black, white, straight and queer) are relegated or ignored. By sharing this particular history and evoking an alternative narrative this sample of experiences will add to the archive.
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VON ›BESONDEREN‹ DINGEN ERZÄHLEN. SELBST- UND WELTDEUTUNGEN IN DEN HANDLUNGSFELDERN HERSTELLUNG, VERTRIEB UND KURATION VON MUSIKWIEDERGABEGERÄTEN Laura Marie Steinhaus und Christofer Jost Einleitung Musikhören mithilfe von Medien kann zweifelsohne ein bedeutungsvolles Unterfangen sein. Zu denken wäre etwa an das genussvolle Eintauchen in das durch Hi-Fi-Technologie ermöglichte ›Klangbad‹ im eigenen Wohnzimmer, das Sich-Wiedererkennen in den Aufnahmen des verehrten Stars oder das gedankenvolle Vorbeiziehen-Lassen der Umwelt beim Musikhören mittels Kopfhörer und Smartphone. An solchen Szenarien lässt sich darstellen, in welch beträchtlichem Maße musikalische Klangwelten heutzutage verwoben sind mit der Organisation des Alltags und der Ausformung subjektiver Weltsichten. Es zeigt sich hieran aber auch, dass technischen Objekten eine zentrale Rolle in den soziokulturellen Konstellationen und (inter-)personalen Arrangements des musikalischen Erlebens zukommt. Die musikalischen Realitäten des 20. und 21. Jahrhunderts als gekoppelt an die Entstehung und Ausdifferenzierung von Klangtechnologien und Audiomedien zu begreifen, ist zu einem Grundmotiv zeitgemäßer Musikkulturforschung geworden. Das Einwirken technischer Objekte auf Musizierformen und musikbezogene Wahrnehmungs- und Umgangsweisen ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen und Dabei wird zwar die Prägekraft von Klangtechnologien und Audiomedien auf kreative Handlungsfelder und Alltagskontexte behandelt (vgl. Martensen 2022, Röther 2012), doch sind Versuche, das Ineinandergreifen von Musikproduk-
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LAURA MARIE STEINHAUS UND CHRISTOFER JOST tion, -distribution und -rezeption entlang jener Objekte im Sinne einer interpretativen Rekonstruktion kulturkonstituierender Mechanismen zu erforschen, bislang nur schemenhaft zu erkennen. Die Frage, in welcher Form technische Objekte an der Ausbildung musikkultureller Praktiken und Ordnungen partizipieren, war entsprechend Ausgangspunkt des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Verbundprojektes »Musikobjekte der populären Kultur«1, das zwischen 2018 und 2021 in drei Teilprojekten durchgeführt wurde. Ziel war es, die Orientierungen und Handlungsweisen offenzulegen, die in Bezug auf musikbezogene Wiedergabegeräte sowie Musikinstrumente, Produktions- und Speichermedien existieren. Darauf aufbauend sollte die Erzeugung, Speicherung und Wiedergabe von Musik als Praxisformation in einem Netz kultureller Praxen und Praktiken beschreibbar gemacht werden. Über drei methodische Zugänge wurde dem entsprochen: erstens die interpretative Beschreibung der Objekte und der ihnen eingeschriebenen Gebrauchsweisen, zweitens die Auswertung von zeitgenössischen Paratexten zu den Objekten und den entsprechenden Gebrauchsweisen (Konstruktionspläne, Prospekte, Ego-Dokumente etc.) und drittens — den Fokus des vorliegenden Beitrags bildend — narrative Interviews. Über diesen methodenintegrativen Ansatz sollten Analysen angestrebt werden, die »den Dingen eine eigene Aussagequalität, ein Veto zugestehen: Also Analysen, die aus der Struktur der Dinge oder aus ihrer bildlichen wie textlichen Repräsentation Aussagen ableiten, die ohne diesen spezifischen, dingorientierten Blick nicht zu gewinnen wären« (König 2012: 26). Mit diesem Zielrahmen knüpfte das Projekt an Positionen und Ansätze innerhalb kulturwissenschaftlicher Forschung an, die entlang einer Kombination ähnlicher Begriffe diskutiert werden, allen voran »material turn«, »materielle Kultur« und »Materialität«. Diese Begriffe entstammen zum Teil unterschiedlichen Fachrichtungen und beinhalten Akzentverschiebungen hinsichtlich der Auswahl von Untersuchungsfeldern, werden aber seit geraumer Zeit verstärkt im Zusammenschluss verhandelt (vgl. Hoppe/Lemke 2021, Reckwitz 2014). Verknüpft sind sie mit der Grundannahme, dass Kommunikation nicht losgelöst von den materiellen Grundlagen sinnlicher Wahrnehmung betrachtet werden kann. Das Materielle bzw. Materiale verweist auf eine substantielle Qualität, 1
Der vollständige Titel lautete »Musikobjekte der populären Kultur. Funktion und Bedeutung von Instrumententechnologie und Audiomedien im gesellschaftlichen Wandel«. Die Kooperationspartner waren das Zentrum für Populäre Kultur und Musik der Universität Freiburg, die Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und das rock’n’popmuseum in Gronau. Die thematische Ausrichtung der drei Teilprojekte erfolgte entlang der Trias Erzeugen, Speichern und Wiedergeben. Untersucht wurden folglich Musikinstrumente und Tonstudiotechnik (Gronau), Tonträgerformate (Weimar) und Wiedergabegeräte (Freiburg).
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VON ›BESONDEREN‹ DINGEN ERZÄHLEN die den Menschen unverfügbar ist und die sie folgerecht als etwas Widerständiges erfahren; Materialitäten figurieren insofern als Gestalten, die bestimmte Effekte zeitigen (vgl. Schrage 2006). In epistemologischer Hinsicht bedeutete dies für das Projekt, die Beschaffenheiten von Klangtechnologien und Audiomedien und die darauf gerichteten Wahrnehmungen, oder wie es Hans Ulrich Gumbrecht prägnant formuliert hat, die »Produktion von Präsenz«2 in den Vordergrund zu stellen und sich mit der Beteiligung der Objekte an der Ausbildung subjektiv wirksamer und überindividueller Deutungen zu befassen. Aus soziokommunikativer Perspektive spielt indes nicht bloß die Eigentümlichkeit von Materialitäten eine Rolle, sondern darüber hinaus die Analyse der Erwartungsstrukturierung von fokussierten Beobachtungsprozessen — etwa in Abgrenzung zur bloßen, ungerichteten Wahrnehmung (vgl. Willems 2009) — und der Hervorbringung von Materialitäten entlang (antizipierter) Wahrnehmungsprozesse, was vor allem auf die vielfältigen konzeptionellen Entscheidungen industrieller Akteure zu beziehen ist.3
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»gelernt, problematisiert, auf spezifische Technik bezogen und dadurch fortlaufend neu ausgehandelt« werden (Volmar/Schröter 2016: 152). Vorliegend werden die Handlungsfelder indes vorrangig im Hinblick auf ihre Verflochtenheit mit materieller Kultur und die sich in ihnen entfaltenden Mensch-DingBeziehungen befragt.4 Entlang eines akteurszentrierten Zugangs wird beleuchtet, wie und wodurch Musikwiedergabegeräte als konstitutives Element von Selbst- und Weltdeutungen fungieren und welche materialitätsbezogenen 2
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Gumbrecht versteht hierunter »Ereignisse und Prozesse, bei denen die Wirkung ›präsenter‹ Gegenstände auf menschliche Körper ausgelöst oder intensiviert wird« (Gumbrecht 2004: 11). Gleichwohl ist unbestritten, dass die Angebotscharakteristika technischer Musikobjekte in der konkreten Nutzungspraxis durchaus unterschiedlich und abweichend von den ›Einschreibungen‹ interpretiert werden. Es zirkulieren zwar stets spezifische Vorstellungen hinsichtlich des adäquaten Umgangs mit den Objekten, die letztlich in der Nutzungspraxis neu ausgehandelt werden und sodann auf die industrielle Produktion zurückwirken können. Das Verstehen der Eigenlogiken von Mensch-Ding-Beziehungen ist bspw. ein zentrales Element der Akteur-NetzwerkTheorie (vgl. Latour 2005). Zu verschiedenen Beziehungsformationen im Feld der Audiomedien siehe Samida (2021).
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LAURA MARIE STEINHAUS UND CHRISTOFER JOST Sinnsetzungen und Sinnverarbeitungen den Entscheidungen von Personen, die technische Musikobjekte entwerfen, verkaufen und sammeln vorausgehen bzw. durch sie stabilisiert und aktualisiert werden. Im ersten Schritt werden das narrative Interview als zentraler Verstehenszugang und der projektspezifische Methoden- und Feldzuschnitt vorgestellt. Im Anschluss werden die Forschungsergebnisse in drei Abschnitten — der Reiz, der Wert und die Botschaft der Dinge — präsentiert sowie im Fazit zusammengeführt.
Das Erzählenlassen über Dinge: Projektspezifischer Methoden- und Feldzuschnitt Gerade das narrative Interview eignet sich aufgrund seines hohen Grades an Offenheit und Selbststrukturierung durch die Befragten dazu, »latente Sinngehalte, d.h. auch jene Wirkungen oder Bedeutungen, die nicht immer explizierbar sind, aber den Alltag beeinflussen, oder auf das Zustandekommen von Aussagen« (Lueger/Froschauer 2018: 131) einwirken, interpretativ zu rekonstruieren. Insofern zielt das narrative Interview — auch als Interviewstrategie verstehbar — darauf ab, Erzählungen zu evozieren (vgl. Kruse 2015: 155). Narrativität wird an dieser Stelle verstanden als »kognitives Schema der Rekonstruktion, das Orientierung leistet und Sinn stiftet […]. In ihrem alltäglichen Erzählen nutzen Menschen Geschichten, um Erlebnisse in für sie sinnvollen Strukturen zu betrachten und dadurch die prinzipielle Offenheit von Erfahrung, sprich: Kontingenz, zu bewältigen« (Meyer 2020: 325). Trotz der aus dem ›Erzählenlassen‹ resultierenden asymmetrischen Aufteilung der Gesprächsanteile zwischen Feldakteuren und Forschenden ist auch das narrative Interview dynamisch; es geht um das »Sprechen und Zuhören, um Fragen und Verstehen, um Selbstdarstellung und Fremdeinschätzung. Ein ›soziales Vakuum‹ [...] als Erhebungskontext gibt es nicht« (Helfferich 2011: 79f.). So verstanden wird sich den Selbst- und Weltdeutungen der Interviewpartner*innen über eine »co-production of meaning« (Heyl 2007: 379) angenähert. Eine wichtige Prämisse ist hiernach, die Interviewaussagen der Feldakteure als retrospektive Deutungen zu begreifen. Sie verweisen somit nie auf ein konkretes Erleben, sondern nur auf erzählte Erfahrungen und damit auf die reflexive Hinwendung zu mitunter lange zurückliegenden Situationen und Konstellationen (vgl. Schmidt-Lauber 2007: 172). Als Auswertungs- und Deutungsrahmen nutzt der Beitrag daher Zugänge der kulturanthropologischen Erzählforschung (vgl. Meyer 2020), die sich verstärkt den Formen und Funktionen alltäglichen Erzählens als soziale Praxis widmet (vgl. ebd.: 329). Erzählungen werden in der Folge gleichermaßen als individuelle Sinnstiftungen und
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VON ›BESONDEREN‹ DINGEN ERZÄHLEN Träger intersubjektiver Wertvorstellungen und Handlungsorientierungen begriffen (vgl. ebd.: 331). Die Basis der vorgestellten Analyse bilden vier narrative Interviews, die im Rahmen des Freiburger Teilprojekts »Apparate des Erlebens. Musikbezogene Wiedergabegeräte im gesellschaftlichen Wandel« geführt wurden. Bei den Interviewpartnern im Alter von 57 bis 77 Jahren handelt es sich um den selbstständigen Designer und Konstrukteur Karlo Klein, der Plattenspieler im hochpreisigen Segment herstellt und hauptberuflich in der Medizintechnik tätig ist, den Händler Rolf Müller, der selbstständig ein Fachgeschäft für Hi-FiGeräte führt und einen Reparaturservice anbietet, den Privatsammler und Kurator Uwe Steinle, der ein stationäres Radiomuseum leitet und hauptberuflich als Beamter tätig ist, sowie den Privatsammler Gert Redlich, der nach seiner Selbstständigkeit im Bereich der Informationstechnik heute in Rente ist und mehrere Onlinemuseen, u.a. zu Hi-Fi-Geräten, führt.5 Die Heterogenität des Samples im Sinne der unterschiedlichen Handlungsfelder gestaltet sich einerseits als Herausforderung, da sich die Kontextualisierung der sozialen Situiertheit der Akteure dadurch weiter auffächert. Andererseits kann durch die Berücksichtigung differenter Positionen und Erfahrungshorizonte die vermeintlich stabile Einbettung der Objekte innerhalb durabler und oft berufsbiographisch fundierter Spezialisierungen in den Blick genommen werden. Die Interviewpartner wurden dabei über ein theoretisches Sampling ausgewählt. Ausschlaggebend war ihre Verortung in Handlungsfeldern, die von den Forschenden als spezialisiert bezeichnet wurden, da die Selbst- und Fremdpositionierung der Akteure wesentlich über die Anforderungen an ihre Tätigkeiten bestimmt wird und die Ausrichtung ihrer Tätigkeiten die MenschDing-Beziehung prägt. Menschen, die Musikwiedergabegeräte hauptsächlich zum Zweck der Unterhaltung nutzen, hantieren zwar mit ähnlichen Wissenskontingenten und verinnerlichen ähnliche Praktiken, sie haben jedoch andere Artikulationsmöglichkeiten und verbinden andere Ziele mit ihrem Tun. Das Feld in dieser Weise abzustecken, fordert eine kritische Selbstreflexion der Forschenden, ließe sich doch aus der Auswahl der Personen auch ableiten, diese hätten eine ganz besondere Beziehung zu den Objekten und zur Musik. Eine solche Beziehung nicht einfach vorauszusetzen, spiegelte sich letztlich in der Konzeption der Interviews wider: Die Interviewpartner wurden nicht nur in ihrer sozialen Rolle als Designer, Händler und Sammler adressiert, darüber hinaus wurden ihre Erzählungen gezielt durch Fragen nach ihren Hör5
Hinsichtlich der sozialen Differenzkategorie Geschlecht konnte keine Varianz forciert werden, sodass alle Akteure männlich sind, ein Ungleichgewicht, das für den Untersuchungsbereich vielfach herausgearbeitet wurde (vgl. Röther 2012) und auch von den Feldakteuren reflektiert wird.
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LAURA MARIE STEINHAUS UND CHRISTOFER JOST und Nutzungsgewohnheiten, der Bedeutung von Musik in ihrem Leben und weiteren Interessengebieten kontextualisiert. Auf diese Weise sollte die Verflochtenheit der ›spezialisierten‹ Handlungsfelder mit anderen Provinzen und Formen der individuellen Lebensgestaltung adressiert werden. Die Interviews gliederten sich in drei Phasen: Zunächst wurden die Akteure über einen weiten Erzählstimulus dazu angeregt, eine eigene Erzählung zu entwickeln. Je nach Gespräch konnte dies eine biographische Erzählung mit Verweisen auf für sie relevante Musikobjekte bedeuten oder die Schilderung ihres Wegs hin zu ihrer heutigen Stellung als ›Spezialisten‹. Danach wurden immanente Nachfragen gestellt, um bestimmte Sequenzen zu vertiefen und Verständnisfragen zu klären. Abschließend folgten weiterführende Fragen entlang einer Themensammlung, die im Vorfeld unter Einbezug erster Ergebnisse entwickelt und verbundübergreifend genutzt wurde.6
Über Black Boxing, »lebensgeschichtliche Wertschöpfung« und Underdogs Im Folgenden werden zentrale Denk- und Erzählfiguren vorgestellt, die im Zuge der Auswertung der Interviews herausgearbeitet wurden und eng miteinander verwoben sind; überschreiben lassen sich diese als der Reiz, der Wert und die Botschaft der Dinge. Sie sollen Hinweise darauf geben, »warum es eben diese und keine anderen Dinge sind« (Eisewicht 2016: 123) mittels derer Selbst- und Weltdeutungen entwickelt sowie Ver- und Bewertungssysteme im musikalisch-medialen Feld etabliert und aufrechterhalten werden. Im Anschluss an das soziologische Konzept der »Artefakt-Gemeinschaften« (Pfadenhauer 2010) argumentiert der Musikwissenschaftler Alan van Keeken etwa, dass Klangtechnologien und Audiomedien sich für die Ausbildung subjektiv wirksamer und überindividueller Deutungen nicht nur durch ihre technische Verfasstheit eignen, sondern auch, »weil sie im Falle populärer Musikkulturen häufig eng mit Stars, persönlichen Erinnerungen und jugendlicher Sozialisation verbunden sind« (van Keeken 2020: 64).
a. Der Reiz der Dinge Verstanden als Katalysator der spezialisierten Beschäftigung mit Musikwiedergabegeräten konnte ihr ›Reiz‹ zunächst in den biographischen Erzählungen
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Zusammengenommen liegen vierzehn narrative Interviews vor.
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VON ›BESONDEREN‹ DINGEN ERZÄHLEN aller Interviewpartner entlang früher Sozialisationserfahrungen mit technischen Objekten nachvollzogen werden. Einige Akteure verbalisierten, dass sie aufgrund stereotyper Geschlechterbilder in der Familie früh mit Technik in Berührung kamen, wohingegen nur wenige mit Musikmachen oder gemeinsamem Musikhören aufwuchsen. In den biographischen Passagen des Händlers Rolf Müller und des Designers Karlo Klein artikuliert sich der Reiz der Wiedergabegeräte insofern entlang einer Kontrastfolie, dem Auto: »Also das hätte auch eine Autogeschichte sein können, aber das war dann doch ein bisschen zu langweilig, muss ich ehrlich gestehen. Das ist natürlich ein viel umfangreicheres Feld hier und dann mit Musik verbunden, klar. Das Auto, die einzige Musik, die es macht, ist halt die Auspuffgeräusche und Motor (lacht)« (Müller 2020). Und: »Ich war Oldtimerfan. Das bin ich jetzt nicht mehr so, Autofan. Weil klar macht das auch Spaß, aber ich finde die Musik hat noch mehr zu bieten als nur so Motorengeräusch« (Klein 2020). Beide Akteure attestieren medialem Musikerleben durch diesen Abgleich eine Komplexität, die herausfordernd wirkt und damit spezifische Fähigkeiten erfordert: »Da lernt man natürlich auch immer bei, wenn man die Geräte auf dem Tisch hat. Klar, das kennt man manchmal auch nicht, wenn man sie nicht verkauft hat und auch nie repariert hat, wie auch immer. Gut, das macht eigentlich auch diesen Beruf eigentlich so interessant, weil man sich ja nie ausruhen kann. Es ist keine Routine« (Müller 2020). So sind es gerade die apparativen Praktiken wie das filigrane Ausrichten der Mechanik oder das Reparieren, die das Musikerleben ermöglichen und damit in den Handlungsfeldern Herstellung und Vertrieb soziale Geltung versprechen. Die Materialität der Wiedergabegeräte offeriert Handlungsweisen, durch die eine Agentivierung erfahren werden kann, wie die Historikerin Monika Röther an der Vervielfältigung von Benutzerschnittstellen an technischen Musikobjekten verdeutlicht: Ein- und verstellbare Klangregister oder Höhen- und Tiefenregler antizipieren vermehrt Wissenspotenziale, die sich Akteure aneignen können (vgl. Röther 2018: 338). Ähnliches gilt für die beschriebenen apparativen Praktiken, die im Sinne der Agentivierung an dieser Stelle den Reiz der Dinge markieren und sich an anderen Musikobjekten wie Schallplatten und CDs nicht in dieser Weise erfahren lassen. Handlungsleitend für die Mensch-Ding-Beziehungen sind hier etwa das Wissen um technologische Produktionsverfahren oder populäre Musik (vgl. Dörfling 2021, Elster 2021). Der Aspekt der Agentivierung verstetigt sich in den Erzählungen der Akteure dahingehend, dass den Wiedergabegeräten — an diesem Punkt nähern sie sich anderen Musikobjekten wieder an — eine eigenständige, materiell
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LAURA MARIE STEINHAUS UND CHRISTOFER JOST gebundene Qualität, kurzum: eine »eigene Musikalität« (Dörfling 2021: 35) im Prozess des Musikerlebens zugeschrieben wird, die erkannt, bewertet und strategisch eingesetzt bzw. nicht eingesetzt werden kann: »Auf mich muss Musik wirken und ich sitze nicht da, um Stecknadeln zu hören, wie das bei Braun früher der Fall war. Konntest du hören. Aber die haben keine Musik gemacht, die Dinger. So ist das. Ich sage: ›Wollen Sie Musik hören oder wollen Sie Töne hören?‹ (lacht)« (Müller 2020). Der Designer Karlo Klein weitet diese Deutung auf Wiedergabegeräte allgemein aus: »Wir haben vorhin auch eine Schallplatte gehört, die von der Aufnahmetechnik gar nicht so gut ist. Aber trotzdem, es war ja eine Liveaufnahme, trotzdem muss das gewisse Feeling rüberkommen und das kommt oft nicht. Ich habe auch Aufnahmen, wo mir die Musik, das Instrument sehr gut gefällt und die sind auch nicht perfekt. Aber im Laufe meiner Erfahrung oder meiner Geräteentwicklung merke ich, dass trotzdem hier und da mehr drauf sein kann, noch mehr von dem Instrument nach vorne kommen kann« (Klein 2020). Der Tatsache, dass der medial induzierte Klang aus einem Zusammenspiel von Produktions-, Speicher- und Wiedergabemedien hervorgeht, wird seitens der Akteure wenig Beachtung geschenkt. In den Vordergrund rücken die Wiedergabegeräte, welche es aus ihrer Perspektive ermöglichen, den bereits durch Mikrofone oder Tonträger formatierten und dadurch fremdbestimmten Klang bis zu einem gewissen Grad zu beeinflussen, ihn also handlungsmächtig zu modifizieren; »their task is less the reproduction of sound than it is the production of sound« (Hales 2017: 236). In den biographischen Sequenzen der Sammler und Kuratoren Uwe Steinle und Gert Redlich dominieren derweil Erlebnispotenziale (oder: Reiz-Konstellationen) von apparativen Medien, die die Akteure als »Ressource ästhetischer Erfahrungen« (Maase 2015) lebensgeschichtlich bestätigen oder als historisch einschneidend ausweisen: »Diese Faszination als Sechsjähriger, dass man aus diesem kleinen Zelluloid-Bildschirm im Kinosaal ein riesengroßes Bild gemacht hat, war so einer der ausschlaggebenden Punkte, dass ich mich für Technik interessiert hatte« (Redlich 2020). Und: »[I]n der Hörzu kam 1973 ein Bericht über 50 Jahre Radio in Deutschland. Die haben da so Bilder gebracht, wie so Tanzbars mit so Radio mit Trichter gespielt haben. Das hat mich jedenfalls ziemlich fasziniert, da bin ich nicht mehr davon weggekommen« (Steinle 2020). Als konstitutiv für das Sammlungsinteresse der Akteure schälen sich in diesen Deutungen Aspekte heraus, die sich mit der kulturwissenschaftlichen Perspektivierung der Musikobjekte als Teil populärer Kultur decken: etwa ihre
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VON ›BESONDEREN‹ DINGEN ERZÄHLEN materiell und diskursiv vorstrukturierte partielle Ausrichtung auf das Unterhalten-Werden, ihre breite Verfügbarkeit und ihre Normalisierung in Alltagsumgebungen (vgl. Krankenhagen 2019: 37). Für die Tätigkeitsprofile der Sammler und Kuratoren ist jedoch zudem relevant, dass viele Geräte nicht (mehr) zum Musikerleben genutzt werden und demnach nicht länger als »multipl[e] Klangkörpe[r]« (Samida 2021: 40) in entsprechende Objekt- und Handlungsarrangements eingebunden sind. Mit der Adressierung der Objekte als Sammlungsgegenstände stellen die Akteure somit den gemeinhin als zentral unterstellten Verwendungszweck der Geräte, nämlich Musik wiederzugeben, in Frage und führen so wiederum zu der Bedeutung apparativer Praktiken, technischer Funktionen und der Materialität als solcher zurück. Denn entlang dieser Aspekte werden die Objekte im Sammlungskontext kategorisiert und technik- bzw. kulturhistorisch eingeordnet. So beginnt der Sammler Gert Redlich eine minutenlange Erzählsequenz wie folgt: »Das war unser bekanntes Wissen: Jede Kassette hat zwei Spulen. Jetzt kriege ich ein Gerät ins Haus für ungefähr fünfeinhalbtausend Dollar und die Kassette hat nur eine Spule. Traust du dich das aufzuschrauben, ist die Garantie weg. Wie kommst du an das Geheimnis?« (Redlich 2020). Die zuvor skizzierte Agentivierung wird an dieser Stelle durch die übergeordnete Deutungslinie eines ›Black Boxing‹ der Geräte erweitert, welches, wie die Technikhistorikerin Heike Weber hervorhebt, wesentlich auf die Entwicklung von offenen zu geschlossenen Systemen ab den 1940er Jahren zurückgeht: »Ein leicht in alltägliche Praxen und Umgebungen einzugliederndes Gehäuse ›schwärzt‹ die Komplexität des technischen Innenlebens aus und macht sie für Laien handhabbar« (Weber 2019: 116). Weber argumentiert, dass die ästhetische, haptische, akustische und symbolische Kontrolliertheit (vgl. ebd.: 121) indes mit dem Bedürfnis von Akteuren in spezialisierten Handlungsfeldern nach dem »Ausprobieren der technischen Machbarkeit [konfligierte], was eine hohe Technikkompetenz ebenso einforderte wie das Zulassen und Aushalten des Scheiterns und Nicht-Funktionierens von Technik« (ebd.: 133) — ein Bedürfnis, das sich in den Erzählungen der Interviewpartner ebenfalls nachzeichnen lässt. Wenngleich also das Vorhandensein der Objekte und ein Großteil ihrer Funktionen auf die gesellschaftliche Prägekraft von Musik und deren Ökonomisierung zurückzuführen sind, begründet ihre materielle — und in diesem Fall: technische — Beschaffenheit an vielen Stellen die MenschDing-Beziehung. Als Zwischenfazit lässt sich somit festhalten, dass der ›Reiz der Dinge‹ durch den interpretativ-rekonstruktiven Ansatz der Interviewauswertung als etwas verstehbar wird, das bis zu einem gewissen Grad in der materiellen
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LAURA MARIE STEINHAUS UND CHRISTOFER JOST Verfasstheit selbst begründet ist. In letzter Konsequenz ist jedoch davon auszugehen, dass die stofflichen Eigenschaften der Dinge, ihre Form und ihre technischen Funktionen in Aushandlung mit den jeweils Nutzenden spezifische Wahrnehmungen und Praktiken begünstigen, während sie andere verkomplizieren oder erst gar nicht zulassen. In Bezug auf Musikwiedergabegeräte ist festzustellen, dass sie zwar durch ihre Daseinsform Musikerleben — man könnte sagen — kategorisch an sich binden. So gelten sie als technische Hervorbringungen, die es erlauben, Musik selbstbestimmt und dynamisch in individuelle Erlebnisordnungen einzupassen. Doch sind Objektbedeutungen keineswegs stabil, sondern polyvalent und werden in alltäglichen Prozessen stabilisiert und aktualisiert, kurzum: ausgehandelt (vgl. Hahn 2015: 36). Zum einen können anhand der Wiedergabemedien hochgradig subjektwirksame Bedeutungen und Praktiken generiert bzw. vollzogen werden. Konkret heißt das: Die Geräte können auseinandergebaut, studiert und zum Laufen gebracht werden. Mit ihnen lassen sich Klangveränderungen vornehmen, auch wenn diese in Designprozessen präfiguriert werden, und aus der Ausdifferenzierung von technischen Funktionsweisen können Distinktionsmarker abgeleitet werden, wie etwa die Wahl zwischen einem Riemen- oder Direktantrieb bei Plattenspielern. Zum anderen bilden sich an den Objekten und im Umgang mit ihnen seit dem 20. Jahrhundert konjunktive musikalische Erlebnisformen aus. Insofern lässt sich in Bezug auf die primär sinnlichen Wirkpotenziale von technischen Musikobjekten und den damit verbundenen Selbst- und Weltdeutungen der Akteure auf eine Reihe von Phänomenen verweisen, darunter die Agentivierung der Individuen, das Black Boxing und die Zentrierung der Geräte in den privaten Settings des Unterhalten-Werdens. Als Ausdruck von ›Technikfaszination‹ verstanden, hängen die Deutungen der Objekte »mit der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung der Betrachter zusammen, aber auch mit der vermittelten, also kommunizierten, und mit der eigenen und der kollektiven Erfahrungsgeschichte« (Möser 2018: 185).
b. Der Wert der Dinge Die Konstitution von Selbst- und Weltdeutungen vollzieht sich im Feld ferner innerhalb vielschichtiger Inwertsetzungen der Wiedergabegeräte und des spezialisierten Umgangs mit ihnen. Wie einleitend herausgestellt, sind dabei historisch stabilisierte Leitlinien des Hi-Fi-Diskurses zentral, eines Diskurses, in dem das Begriffspaar Subjektivität/Objektivität von einigem Gewicht zu sein scheint. Abermals ist hier in interpretativer Hinsicht relevant, dass der Händler Rolf Müller und der Designer Karlo Klein das Musikerleben unmittelbar an die technischen Möglichkeiten von Wiedergabemedien gekoppelt sehen:
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VON ›BESONDEREN‹ DINGEN ERZÄHLEN »Klein: Circa 1995 habe ich einen damaligen Freund von mir kennengelernt, der hat ein Hi-Fi-Studio gehabt und da fing die Arbeit an. Und ich habe dann sehr viele Geräte kennengelernt. Schallplattenspieler. Und festgestellt, es gibt sehr viele/7 für mich waren es Mängel an den Geräten. Die waren nicht fertig konstruiert. Oder man hätte Verschiedenes besser machen können oder Grundlagen der Mechanik wurden einfach übersehen oder einfach nicht ordentlich auskonstruiert. Und dann wurde das teilweise im Hi-Fi-Bereich mit Voodoo umschrieben. Das muss8 so sein, bisschen Marketing (lacht). Interviewer: (lacht) Das mit dem Voodoo, wie meinen Sie das? Klein: Dann muss man da ein Unterstellfüßchen mehr drunter machen und man muss das irgendwie ausgleichen, damit es klingt. Es wurde oder wird noch heute im Hi-Fi-Bereich sehr viel Esoterik angewendet« (Klein 2020). Dieser Aussage zufolge liefern physikalische Gesetze und Messwerte einen notwendigen objektiven Orientierungsrahmen, der zusätzliche Modifikationen der Geräte durch die Nutzenden wie bspw. Unterstellfüße — also »Voodoo« — obsolet mache. Doch so bindend scheint der objektive Orientierungsrahmen wiederum nicht zu sein, wie der Verweis auf das eigene Gehör verdeutlicht: »Ich habe einige Röhrengeräte gehört. Da gab es ganz tolle Sachen. Aber letztendlich war es nie zufriedenstellend. Ich kann das nur sagen, wenn man eine Snare hört, das ist richtig hart. Kann das sein. Diese Festigkeit im Ton. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen, was ich meine. Ich habe Vorführungen gehört als Beispiel, da hat der Vorführer gesagt: ›Und jetzt hören Sie sich das Cello da mal an.‹ Das war eine sehr teure Anlage. Ich habe gar kein Cello gehört. Ich habe gedacht, das wäre ein Kontrabass mit dicken Stahlseilen. Es war furchtbar« (ebd. 2020). Die auditiven Fähigkeiten erlangen hier eine Wertigkeit, weil sie — als Hörwissen — für verkörpertes kulturelles Kapital stehen, in das zusätzlich Technikwissen einfließt, Wissen also, das auf physikalischen Gesetzmäßigkeiten aufbaut. Insofern werden hier auf eigentümliche Weise das subjektive Klangempfinden und der Anspruch auf Objektivität miteinander verbunden. Diese emische Verklammerung ist bereits als paradigmatisch für Klangtechnologien und Audiomedien herausgearbeitet worden (vgl. Volmar/Schröter 2016) und wird im Feld als besondere Konstellation von Befähigungen ausgewiesen: »Das habe ich schon als Kind gehabt. Geschult vielleicht nicht. Aber ein unglaublich akustisches Gedächtnis. Und ich habe festgestellt, dass ich ein differenziertes Hören habe, was ich als normal empfunden habe. Heute weiß ich, dass es nicht durchweg normal ist, so zu hören, wie ich höre« (Klein 2020). Die darin 7 8
Der Schrägstrich visualisiert einen Satzabbruch. Die Kursivierung visualisiert betonte Wörter.
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LAURA MARIE STEINHAUS UND CHRISTOFER JOST liegende (Selbst-)Aufwertung verstärkt Karlo Klein im Interview mit Nebensätzen wie »Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen, was ich meine«. Solche Einschübe verbinden sich im Laufe des Gesprächs zu einer Erfolgsgeschichte (vgl. Lehmann 2007: 274), die der Akteur nicht etwa an wirtschaftlichen Erfolg koppelt, sondern die in dem Überzeugtsein von der eigenen Hörkompetenz aufgeht. Diese sieht er zwar grundsätzlich durch positives Feedback bestätigt, er argumentiert aber, dass er sich nicht nach anderen richte: »Ich lese aber auch in Foren, dass es ganz ganz viele Menschen gibt, die gerne einen Plattenspieler mit einem dicken Plattenteller haben wollen. Obwohl das technisch keinen Sinn macht. Also ich habe das nicht kundenorientiert gemacht. Das ist mir auch egal. Dann verkaufe ich halt weniger« (Klein 2020). Auch im Handlungsfeld Vertrieb werden an der Materialität der Objekte und ihrer diskursiven Einbettung Fähigkeiten abgeleitet, die als selbstvergewissernde und Distinktion ermöglichende Marker verwendet werden, wie auch anhand einer Abhandlung zu Audiokabeln auf der Webseite des Händlers ersichtlich wird: »Die folgenden Betrachtungen sind das Resultat vieler Jahre praktischer Hörerfahrung, es sind keinesfalls abstrakte Forschungsergebnisse eines weltfremden ›Elfenbeinturms‹« (Anonym o. J.). Derartige Motive der Selbstvergewisserung und Selbstbefähigung lassen sich auch auf kollektiver Ebene in Form einer historisch kondensierten »Erzählgemeinschaft« (Meyer 2020: 331) nachzeichnen, wie sie bspw. die Medienwissenschaftler Axel Volmar und Jens Schröter in ihrer Analyse eines Hi-Fi-Ratgebers aus den 1970er Jahren dargestellt haben. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass darin das individuelle Einüben und damit Verkörpern von überindividuellen — ›richtigen‹ — Hörgewohnheiten als essentiell proklamiert wird (vgl. Volmar/ Schröter 2016: 164). Im Gegensatz zu den Ausführungen des Musikethnologen Marc Perlman zeigt sich in der Auswertung der narrativen Interviews derweil, dass die spezialisierten Akteure das mediatisierte Musikerleben weder ausschließlich als »locus of emotion, release, and subjectivity« noch lediglich als »locus of reason, control, and objectivity« (Perlman 2004: 804) begreifen, sondern als das Ineinandergreifen dieser Sinn- und Erfahrungshorizonte. Die kulturelle Bedeutung von Musik (als Kunstgattung) und ihr klanglicher Reichtum bieten somit eine Herausforderung an, die mittels des eigenen Gehörs und technischer Apparate bewältigt werden soll: Da die Geräte daran teilhaben, dass über die Musik Atmosphären erzeugt und Gefühle hervorgerufen werden, erscheint der spezialisierte Umgang mit ihnen als fast schon künstlerisches Schaffen, welches in den Erzählungen der Akteure als Selbstlegitimation in Stellung gebracht wird. Die Ausbildung von »Gemeinschaften
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VON ›BESONDEREN‹ DINGEN ERZÄHLEN geteilten technischen Sonderwissens« (Pfadenhauer 2010: 362) und die Hierarchisierung solcher Wissensbestände unterliegt kollektiven Kodierungen, die deren Anerkennung und Tradierung reglementieren. So fungieren auditive Fähigkeiten auch bei Nutzer*innen (d.h. nichtspezialisierten Akteuren) durchaus als soziale Demarkationslinie (vgl. Gauß 2021: 173), die — so die These — durch die Materialität der Wiedergabegeräte strukturiert wird. Im Vertrieb scheinen Deutungshoheiten jedoch nicht nur artikuliert und etabliert, sondern gleichzeitig interaktiv herausgefordert zu werden: »[D]iese Hi-Fi-Spinner, die habe ich nicht. Die will ich nicht. Weil ich kann mir nicht jedes Mal erzählen, das was der da noch alles gehört hat und was nicht, er hört etwas anderes, aber die Musik, die wird seziert, verstehen Sie, die ist nicht mehr mit der Gesamtheit da« (Müller 2020). Indem der Akteur das Erleben der musikalischen Komposition als primäres Ziel ausweist, ironisiert er davon abweichende Ansprüche. Unabhängig davon legt dieses Zitat die Vermutung nahe, dass Objektbedeutungen, die als hegemonial gelten, durch Interpretationen von Kund*innen zuweilen konterkariert werden: Die jeweiligen Akteursgruppen »construct their own universe of meaning around their equipment; they cultivate a distinctive vocabulary and a set of attitudes« (Perlman 2004: 784), die jedoch gegenseitig informiert sind. Die Selbstverortung des Händlers mittels einer pejorativen Gegenfolie (»Hi-Fi-Spinner«) kann als Beispiel dafür gelesen werden, wie Akteure in spezialisierten Settings Sprechpositionen beanspruchen, die stets mit Macht verbunden sind. Gewissermaßen wird das Geschehen von einem erhöhten Standpunkt aus beobachtet, woraus »authoritative knowledge« (ebd.) abgeleitet wird, das es ermöglicht, Orientierungen auszusprechen und zu implementieren, die von ›allgemeiner Gültigkeit‹ sind. Dass neben der Musikbezogenheit die Einbettung der Klangtechnologien und Audiomedien in spezifische ökonomische und sozio-technische Konstellationen ein konstitutives Element von Selbst- und Weltdeutungen der Interviewpartner ist, zeigt sich im Handlungsfeld Vertrieb an einer weiteren Denkfigur: dem Schnittstellenwissen. Dadurch, dass Wiedergabegeräte keine Gegenstände des täglichen Bedarfs sind, also oftmals eine gewisse Investition erfordern, muss der Kauf plausibel gemacht werden — auch, weil die Kund*innen, wie bereits angemerkt, mit ähnlichen Wissenskontingenten wie die spezialisierten Akteure hantieren. Der Händler Rolf Müller deutet seinen Umgang mit den Objekten demnach auf mehreren Ebenen als voraussetzungsvoll: Nicht nur differenzierte Kenntnisse um Funktionsweisen werden abverlangt,
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LAURA MARIE STEINHAUS UND CHRISTOFER JOST sondern auch die Antizipation und Berücksichtigung des ökonomischen Kapitals, der Klangideale, der bisherigen Ausstattung sowie der situativen Verfasstheit der Kund*innen: »So, der [Auszubildende, Anm. LMS u. CJ] hat alles gelesen und hat sein Wissen rausgekotzt im wahrsten Sinne des Wortes, ohne zu überlegen, was möchte der Kunde, was möchte der jetzt eigentlich von mir, was braucht der eigentlich für eine Entscheidung und wieweit ist der überhaupt belastbar? Kommt der gerade aus dem Büro mit so einem dicken Kopf und will eigentlich möglichst schnell zum Ziel kommen, will was kaufen und welche Informationen braucht er? Der hat dann dem das Zeug runtergerotzt. Ich bin mal dabeigestanden und sage: ›Das ist wunderschön, das hast du toll auswendig gelernt, nur da steht noch ein Kunde vor dir. Das kannst du in eine Sprechtüte machen und selber nochmal hören, was du da quatschst‹. Null Kontakt zum Kunden« (Müller 2020). Im Handlungsfeld Vertrieb konstituieren die komplexe Schnittstellenarbeit und die dafür erforderliche Anpassungsfähigkeit ein vielschichtiges Relationsgefüge, in dem sich der Wert von Aktivitäten daran bemisst, inwieweit der spezifischen Einbettung der Objekte in multiple Sinn- und Handlungszusammenhänge — die auch von ihrer Materialität abhängt — situativ Rechnung getragen werden kann. Das eigene Tun wird im Handlungsfeld Kuration derweil über das Kennzeichnen des Sammelns und Ausstellens von Musikwiedergabegeräten als Erfüllung eines gesellschaftlichen Auftrags in Wert gesetzt: »Nachdem ich also meinen Berufsweg abgeschlossen hatte, habe ich gesagt: ›Was gibst du denn der Gesellschaft zurück?‹ Weil du hast eine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft« (Redlich 2020). Dabei versuchen die Interviewpartner, Erinnerungslandschaften zu entwerfen und zu kartieren, durch die deutlich werden soll, wie die Ausdifferenzierung der Unterhaltungs- und Informationselektronik verschiedene Lebensbereiche transformiert hat: »[D]ie Technik: wichtig. Aber die Technik ist ja bloß ein Aspekt davon. Dass alles zusammengehört, die, die es gemacht haben, die Leute, was gesendet wurde, die Apparate, die Leute, die es gekauft haben, alles so. Weiß nicht, ob das richtig ist, aber das macht halt auch das Interessante aus, das Vielzählige. Doch, vielzählig. Obwohl es ein spezielles Thema ist« (Steinle 2020). Es geht hierbei nicht um das reine Verzeichnen technischer Daten, sondern darum, den lebensweltlichen Kontext und die gesellschaftliche Relevanz von technischen Musikobjekten und den ihnen anhaftenden Potenzialen der Erlebnisgenerierung zu beleuchten, was mit einem gewissen interpretativen
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VON ›BESONDEREN‹ DINGEN ERZÄHLEN Freiraum verbunden ist. Die Objekte fungieren somit als »Symbolisierung einer nicht-präsenten, außeralltäglichen Wirklichkeit« (Pfadenhauer 2010: 358f.): Durch gezielte reflexive Prozesse, die mit der Kulturanthropologin Barbara Kirshenblatt-Gimblett (2004: 61) als »metacultural operations« begriffen werden können, kennzeichnen die Akteure die Apparate als Manifestationen von Innovationsdrang und Erfindertum und überführen sie im Sammlungskontext in kulturelles Erbe, dessen gleichsam unbestreitbare Wertstellung im soziopolitischen Kontext nicht zuletzt die räumliche Kumulation der Dinge sozial ratifizierbar machen soll. Denn eine solche Kumulation ist weithin negativ konnotiert und wird zum Beispiel mit zwanghaftem Horten (›Messietum‹) assoziiert. Im Anschluss an den Kulturanthropologen Christian Elster (vgl. 2021: 206) lässt sich im selben Zuge deutlich machen, dass der Besitz von Wissen im doppelten Sinn — als Verwahrung von Zeitwissen und als verkörpertes kulturelles Kapital — teilweise über den physischen Besitz gestellt wird. Mit Blick auf historische Fachzeitschriften gibt der Sammler Gert Redlich zu verstehen: »Das ist der eigentliche Wert von dem ganzen Kram hier. Die Hardware, die Geräte, die können Sie im Prinzip vergessen. Die sind vielleicht wiederbringlich oder nicht, sondern das, was Sie in den Kisten sehen, wo jeder sagt: ›Container auf und rein‹, sage ich: ›Neinneinneinnein‹« (Redlich 2020). So scheint es in dieser Aussage weniger um die materielle Kultur als solche zu gehen denn um zeitspezifische Deutungen, die auf die materielle Verfasstheit der Dinge und auf Schriftquellen, die diese zum Thema haben, zurückgehen. Insofern bildet die Tätigkeit, materielle Kulturgüter in eigenen Besitz zu bringen zwar die Grundlage der eingehenden Beschäftigung mit den Objekten, erlangt in den persönlichen Erzählungen Relevanz aber vor allem dadurch, dass die Geräte für etwas Größeres stehen (siehe auch Baker/Huber 2014). Auf die Frage hin, wie aus dem Sammeln ein Museum wurde, antwortet Uwe Steinle: »Das habe ich schon immer vorgehabt. Aber warum, damals/ ich habe halt gedacht, das ist das einzig Sinnvolle. Wenn man das den Leuten zeigen kann, wie es mal war. Also damals war das noch nicht so richtig ausgereift, aber ich habe Museum machen wollen, weil alles andere hat eigentlich keinen Sinn gemacht. Wenn man für sich sammelt« (Steinle 2020). Damit motivieren neben dem Geltungsgewinn durch Sachverständigkeit und dem Bedürfnis, der Gesellschaft etwas ›zurückzugeben‹, auch besonders biographische Bezüge die Auseinandersetzung mit den Objekten:
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LAURA MARIE STEINHAUS UND CHRISTOFER JOST »Ihr Vater [Redlichs Großvater, Anm. LMS u. CJ] war Schneider und schneiderte aus den Stoffresten, die er gefunden hat, seiner bildschönen Tochter die Klamotten. Mutter war stolz. Toll. 1943. Und dann kam das Grauen. Und das habe ich also alles reingeschrieben, was ich also von den Kriegskindern erfahren habe. Und wie Menschen geschädigt sein können, ohne dass man es sieht. In der eigenen Familie […]. Auch das gab mir einen gewissen Ansporn, in diesen Museumsseiten überall ein Stückchen Lebensphilosophie mit reinzupacken. Sei es das mit dem Nichtwegwerfen. Sei es das Freundesuchen« (Redlich 2020). Der reflektierte und sinnhaft ordnende Umgang mit den Geräten kann somit auch als Ausdruck der eigenen Biographiearbeit (vgl. Elster 2021: 202) oder — pointiert ausgedrückt — als eine Art lebensgeschichtliche Wertschöpfung auf symbolischem Terrain verstanden werden. Aus verschiedenen Richtungen begründen die Akteure aus Herstellung, Vertrieb und Kuration den ›Wert der Dinge‹ letztlich mittels der Konstruktion einer überindividuellen Bedeutsamkeit und naturalisieren ihre Beziehung zu ihnen darüber hinaus: Sie wird als organisch gewachsene, gewissermaßen schicksalhafte Verbindung präsentiert.
c. Die Botschaft der Dinge Durch die Erzählungen der Akteure werden die Objekte in bestimmten Sinnstrukturen verortet und dabei in vermeintliche Eindeutigkeiten eingelassen, die wiederum in ihrem Nebeneinander Auskunft darüber geben, dass Objekte stets »gewissermaßen in der Schwebe sind« (Hahn 2015: 40). Die multiplen sozialen Botschaften, die die Akteure aus den Objekten bzw. dem Umgang mit ihnen ableiten, sind auch hier in besonderer Weise mit dem Hi-Fi-Diskurs verknüpft. Etwa werden Sinnagenturen wie Fachzeitschriften als reine »Wirtschaftsunternehmen« (Müller 2020) betitelt, sodass die Qualität der Geräte stets prekär erscheint und durch das eigentümlich zwischen Subjektivität und Objektivität changierende Hinhören überprüft werden muss. Nur über die dadurch generierte Wissensstruktur, die abermals als ›Gegenfolie‹ fungiert, kann ›echte‹ Qualität proklamiert und angeboten werden: »Wenn Sie viele Zeitungen lesen, da sind Marantz, Grundig, SABA, Pommes Frites und Salat, die machen Werbung ohne Ende und heute ist es Bose und andere, der größte Witz dieses Jahrhunderts. Im Prinzip Leuteverdummung. Kriegen Sie alles viel besser. Besseres zum günstigerem Kurs. Und das ist unsere Aufgabe. Diese Produkte rauszusuchen« (ebd.). Der Designer Karlo Klein und der Händler Rolf Müller platzieren sich als Inhaber kleinerer Betriebe zwischen marktführenden Firmen und den Kund*innen,
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VON ›BESONDEREN‹ DINGEN ERZÄHLEN die es vor Ausbeutung zu schützen gilt, indem ihnen qualitativ hochwertigere Geräte angeboten werden. Ihre eigene Marktposition ordnen die befragten Akteure in Form des kulturell höchst wirksamen Erzählmusters ›David gegen Goliath‹ (vgl. Meyer 2017: 149) ein, was entsprechend mit der Vergewisserung der eigenen Widerstandsfähigkeit und Handlungsmächtigkeit verknüpft ist. Eine Binnendifferenzierung dieses Erzählmusters stellt die narrative Positionierung als Underdog dar. Nach der Kulturanthropologin Silke Meyer sind Underdogs »Sympathieträger, deren Erfolg im Querdenken und im Anderssein liegt. Und auch wenn sie sich nicht in jedem Fall für das Wohl aller einsetzen, werden ihnen doch altruistische Motive zugeschrieben, weil es ihnen gelingt, Hierarchien zu durchbrechen und Alternativen zur Verfügung zu stellen« (ebd.: 150). Um die eigene Position positiv zu deuten, was angesichts der faktisch vorliegenden Nischenrolle auch eine kompensatorische Funktion haben kann, unterstellen die beiden Akteure erstens den namhaften Herstellern vorrangig kommerzielle Interessen und ihren Produkten oftmals technische ›Mängel‹. Zweitens inszenieren sie ihre eigene Herangehensweise als ›richtige‹ Alternative zu den Großkonzernen. Verdeutlichen lässt sich daran, wie Narrative — oder auch: Metaerzählungen — einzelne Erzählungen zu »großflächigen kulturellen ›Sinnprovinzen‹« (Dümling 2020: 50) verbinden und damit lebensweltlich stabilisierende Rahmungen mit kollektiver Wirksamkeit ausbilden. Die Geräte fungieren in diesem Zusammenhang als Objektivationen, an denen die genannten Selbst- und Weltdeutungen als Botschaft an sich selbst und andere ablesbar gemacht werden. Ähnliches lässt sich auch im privaten Sammlungskontext feststellen, in dem die Aufarbeitung von technischen Entwicklungen, Firmengeschichten und Werbestrategien als gesellschaftlicher Auftrag verstanden wird. Auch hier greift der Hi-Fi-Diskurs in seinen vielfältigen Verästelungen, da nicht nur Klangideale in diesen eingefasst sind, sondern auch Geräte und Firmen selbst. Die verschiedenen Diskursstränge zu entschlüsseln und an einem Ort zusammenzutragen, verspricht im Handlungsfeld Kuration soziale Geltung, da hierbei Spezialwissen zum Tragen kommt, das nicht auf technische Funktionsweisen beschränkt ist, sondern auch Designaspekte, zeitgeschichtliche Zusammenhänge und Insiderinformationen aus einer (vergangenen) Produktionslandschaft umfasst. Abseits des Hi-Fi-Diskurses sind auch Bestrebungen erkennbar, Geschichten ›von unten‹ zu erzählen, wie der Sammler Uwe Steinle anklingen lässt: »[W]eil es mich interessiert halt, wie das damals auch war. Und zwar nicht die/ was man im Geschichtsbuch nachlesen kann, sondern wie es die kleinen Leute
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LAURA MARIE STEINHAUS UND CHRISTOFER JOST gefunden haben, wie es denen gegangen ist, wie es da war. Das zu verstehen, wie es alles so weit gekommen ist« (Steinle 2020). Durch die exponierte Kuration der privaten Sammlungen in Form von Webseiten (Redlich) und eines stationären Museums (Steinle) avancieren diese zu Werkzeugen der Selbstwirksamkeit, welche die Dimension des Kollektiven ebenso betrifft wie die Ausformulierung der eigenen Lebensgeschichte. Diese Selbstwirksamkeit entfalten die Akteure indes nicht entlang einer ›neutralen‹ Technikgeschichte. Vielmehr bietet der Bedeutungswandel der Musikwiedergabegeräte auch an, kulturelle Großerzählungen wie jene von der Überfluss- und Wachstumsgesellschaft aufzugreifen und kritisch einzuordnen: »[D]iese Geschäftsphilosophie des grenzenlosen Wachstums, dass alle Firmen den Umsatz steigern, die Stückzahl steigern, das Produkt steigern. Ja, wohin denn steigern? Das funktioniert nicht. Und das sehe ich ja auch in der ganzen Geschichte von Tonband, Magnetband, Datentechnik, Fernsehen, es ändert sich. Aber es gibt kein grenzenloses Wachstum« (Redlich 2020).
Sowohl im Handlungsfeld Kuration als auch in der Herstellung und dem Vertrieb verbalisieren die Akteure konsum- und hegemoniekritische Positionen, die sich ergänzen, überlappen oder mitunter voneinander unterscheiden. Die ethische Dimension der Geräte, die hier als die Botschaft der Dinge umschrieben worden ist, kommt in allen Deutungen als eine Art Gesellschaftslehre zum Vorschein, mit der die Akteure ihre Haltungen und Handlungen als ›richtigen‹, d. h. als moralisch mehr oder weniger vorbildlichen Umgang mit gesellschaftlichen Verhältnissen erzählen.
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Fazit Erzählungen sind soziale Handlungen, die Wirklichkeit strukturieren, der Bewältigung ihrer grundsätzlichen Kontingenz dienen und es ermöglichen, Selbstwirksamkeit und Zugehörigkeiten herzustellen. Gerade die Frage danach, was eine ›richtige‹ Erzählung in einer spezifischen sozialen, räumlichen und zeitlichen Konstellation ausmacht, gibt in vielfältiger Weise Auskunft über ebenjene Konstellation (vgl. Meyer 2020: 346). Als Teil eines methodenintegrativen Ansatzes im Kontext der Erforschung gegenwärtiger Musikkulturen erlaubt der Zugang über Narrationen zu ergründen, in welcher Art und Weise Klangtechnologien und Audiomedien mit dem Entwurf von Selbst- und Weltdeutungen verwoben sind, die am gesellschaftlichen Orientierungsrahmen für ihre Nutzung und Bewertung mitwirken. Für den vorliegenden Beitrag bedeutete dies, basierend auf der Auswertung narrativer Interviews ein Möglichkeitsspektrum des Sinnstiftens zu kartieren und dabei alle relevanten Bezirke in den Blick zu bekommen. Zum Vorschein kamen dadurch Aspekte des doing culture (vgl. Hörning/Reuter 2015), die sich anhand der genauen Beschreibung der Objekte, der theoretisch-reflexiven Herleitung ihrer Gebrauchsweisen und der Auswertung von Paratexten nur bedingt freilegen lassen. So ließ sich aufzeigen, dass die Mensch-Ding-Beziehungen sowohl durch die Musikbezogenheit der Dinge als auch durch ihre Materialität respektive Technizität, ihre massenhafte Verbreitung und ihre Einbettung in (sich wandelnde) alltagskulturelle Ordnungen und Praktiken bestimmt werden. In den thematisierten Handlungsfeldern äußerte sich dies etwa entlang des tacit knowledge in der Herstellung, des Schnittstellenwissens im Vertrieb oder des Selbstverständnisses als Mittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart und damit als Verwahrer kulturellen Erbes für die Zukunft in der Kuration. Der Zugang über Narrationen vermag allerdings nicht das situative Wissen der Akteure oder die kontextabhängigen, sich in der Praxis manifestierenden Bedeutungen von Objekten auszuleuchten. In dieser Hinsicht erscheinen insbesondere Autoethnographie und teilnehmende Beobachtung erkenntnisreich. Davon unberührt bleibt, dass sich narrative Interviews aufgrund ihrer Offenheit in hohem Maße dazu eignen, theoretische Setzungen produktiv herauszufordern, indem sie die Vorläufigkeiten und Uneindeutigkeiten von Objektbedeutungen sowie individueller und kollektiver Sinngebungen in den Vordergrund rücken. Darauf aufbauend ließe sich weiter ausloten, an welchen Stellen die Beschäftigung mit (populären) Musikkulturen aus dem Blickwinkel des Materiellen lohnende Einsichten in Bezug auf die Eigendynamiken musikzentrierten Erlebens eröffnen könnte.
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Abstract
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SPEICHER
OBJEKTE. HINTERGRÜNDE UND SAMMLUNGSPROFILE DER ARCHIVE FÜR JAZZ UND POPULÄRE MUSIK IN DEUTSCHLAND DER
Benjamin Burkhart Weltweit existieren zahllose Archive für Jazz und populäre Musik. Viele dieser Archive werden von Privatpersonen geführt, andere sind an öffentliche Institutionen gebunden. Teilweise liegt der Fokus auf einzelnen Musiker*innen oder auf spezifischen Genres, bisweilen wird aber auch versucht, Jazz und populäre Musik in der größtmöglichen Breite zu dokumentieren. Solche Archive sind wichtige Wissensspeicher und zentrale Anlaufstellen für die (vor allem historische) Jazz- und Popularmusikforschung. Darüber hinaus sind sie umfangreiche Objektspeicher. In Archiven werden die unterschiedlichsten materiellen Objekte der populären Musikkultur aufbewahrt und für die Forschung verfügbar gemacht — von Schallplatten über Bücher und Zeitschriften bis hin zu Merchandise-Produkten und technischen Musikgeräten. Archive sind deshalb wichtige Instanzen für die Forschung zur materiellen Kultur in diesem Bereich, die eindrücklich dokumentieren, in welch vielfältiger Weise sich die materiellen Komponenten des Jazz und der populären Musik in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt haben. Auch in Deutschland gibt es mehrere einschlägige Archive, die zum Teil in institutionelle Strukturen eingebunden sind. Während ihre Sammlungen selbstverständlich von zahlreichen Forscher*innen konsultiert werden, sind diese Einrichtungen selbst, gerade hinsichtlich ihrer Geschichte und Sammlungsprofile, in der Jazz- und Popularmusikforschung bislang allenfalls am Rande thematisiert worden. Dass Archive selbst relevante Forschungsobjekte sind, gilt seit dem in den 1990er Jahren ausgerufenen ›archival turn‹ indes als unstrittig. Im Zuge dessen wurden die den Archiven zugrundeliegenden Mechanismen in den Fokus der Forschung gerückt. So gilt das Interesse bspw. der Art und Weise, wie Archive ihre Bestände auswählen und nach welchen Kriterien die inhaltlichen Schwerpunkte gelegt werden. Dahinter steht die
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BENJAMIN BURKHART Annahme, dass Archive durch ihre Ein- und Ausschlussmechanismen bestimmte Themen und Objekte prinzipiell sichtbarer machen und deshalb historische Forschungen potenziell mitstrukturieren können. Der vorliegende Beitrag nimmt nicht die materiellen Objekte des Jazz und der populären Musik selbst in den Blick, sondern die Archive, die diese verwahren und für die Forschung zur Verfügung stellen. Konkret geht es um Archive, die in Deutschland ansässig und institutionell eingebunden oder zumindest in der Forschungslandschaft dauerhaft präsent sind, bspw. durch die Beteiligung an universitären Forschungsprojekten. Dabei soll es vor allem um das Nachzeichnen der Hintergründe und Sammlungsprofile dieser Einrichtungen gehen. Zentral sind die folgenden Fragen: Wie sind diese Archive entstanden und wie kamen ihre Sammlungen resp. Sammlungsprofile zustande? Welche Objektgruppen finden sich aus welchen Gründen (nicht) in den Archiven? Spiegeln sich in den Beständen bestimmte Mechanismen der Exklusion (bspw. hinsichtlich sozialer Kategorien wie der des Geschlechts) wider? In welchem Ausmaß nehmen die Verantwortlichen Einfluss auf die Sammlungsprofile? Und welche Forschungsperspektiven gibt es im Schnittfeld von materieller Kultur und Archiven für Jazz und populäre Musik? Um diesen Fragen nachzugehen, wurden Expert*inneninterviews mit den Leiter*innen mehrerer Archive in Deutschland geführt. Diese Personen verfügen über spezifische Innensichten und können gerade auch über rein praktische Herausforderungen der Archivarbeit Auskunft geben. Die Gesprächspartner*innen waren (in alphabetischer Reihenfolge): Ulrich Duve (KlausKuhnke-Archiv für Populäre Musik, Bremen),1 Michael Fischer (Zentrum für Populäre Kultur und Musik, Freiburg), Wolfram Knauer (Jazzinstitut Darmstadt), Reinhard Lorenz (Lippmann+Rau-Musikarchiv, Eisenach) und Gabriele Rohmann (Archiv der Jugendkulturen, Berlin). Während das Klaus-KuhnkeArchiv und das Zentrum für Populäre Kultur und Musik fest in universitäre Strukturen eingebunden sind (Hochschule für Künste Bremen bzw. AlbertLudwigs-Universität Freiburg), ist das Lippmann+Rau-Musikarchiv dank eines Kooperationsvertrags eng mit der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar verbunden. Das Jazzinstitut Darmstadt ist eine stetige Einrichtung der Stadt Darmstadt und das Archiv der Jugendkulturen ist in Vereinsform organisiert, allerdings gerade durch die Einbindung in universitäre Projekte in der hiesigen Forschungslandschaft sehr präsent.
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Zum Zeitpunkt des Interviews im März 2021 leitete Ulrich Duve das Klaus-KuhnkeArchiv, seit Januar 2022 fungiert Nico Thom als neuer Archivleiter. 2022 erfolgte zudem die Umbenennung in Klaus-Kuhnke-Institut (KKI) für Populäre Musik.
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SPEICHER DER OBJEKTE
Jazz und populäre Musik im Archiv: Forschungsansätze und -perspektiven In der Folge des sogenannten ›archival turn‹ wird in den Geistes- und Kulturwissenschaften schon lange die Auffassung vertreten, dass Archive ›historische Wahrheit‹ nicht einfach abbilden, sondern dass archivarische Bestände selbstverständlich von Institutionen resp. den dort tätigen Personen und vor dem Hintergrund bestimmter Intentionen sowie infrastruktureller Rahmenbedingungen ausgewählt werden (vgl. Kaplan 2000: 47). Archive partizipieren in diesem Sinne durch ihre Ein- und Ausschlussmechanismen an der Produktion von Wissen und an Prozessen der kulturellen Kanonisierung (vgl. Assmann 2009: 169). Die Folgen dieser Mechanismen sind also mitverantwortlich für die Sichtbarkeit bestimmter Ausschnitte von Kulturen und können potenziell Einfluss auf Vorgänge der Geschichtsschreibung nehmen, während die Hintergründe der Ein- und Ausschlussmechanismen für gewöhnlich im Verborgenen bleiben (vgl. Ebeling/Günzel 2009: 8). Die Sammlungen, die Forscher*innen in Archiven vorfinden, haben nicht unbedingt durch Zufall ihren Weg dorthin gefunden, die Sammlungsprofile entstehen also nicht im sprichwörtlichen luftleeren Raum (vgl. Hall 2001: 89). Die Gründe für die Aufnahme von Sammlungen und Objekten können vielfältig sein, bisweilen auf »Politik, soziale Verpflichtungen, Prestige, Emotionen und Leidenschaft« (Hahn 2015: 204) zurückgehen oder auch schlichtweg von den jeweiligen Eigenheiten des Ablagewesens, Budgets und internen Debatten abhängen (vgl. Baker/Doyle/Homan 2016: 18; Ebeling/Günzel 2009: 14 f.). In einem Handbuchartikel über »Archivprobleme« stellt Petra Gehring passenderweise fest, dass die Frage, was in Archiven aufbewahrt wird, allenfalls zur Hälfte konzeptionell begründet sei und sich ansonsten bemesse an »profanen Randgrößen. Infrastruktur, Geld, Kraft, Dringlichkeit — und vor allem: Platz. Archivierung ist eine Praktik, die in der Moderne allein an Machbarkeiten ihre Grenzen findet« (Gehring 2016: 18). Eingedenk dieser zahlreichen potenziellen Einflussfaktoren, ob nun ideologisch oder infrastrukturell begründet, können Archive keinesfalls als neutrale Wissensspeicher betrachtet werden. Deshalb geht es in der neueren Archivforschung um den »move from archiveas-source to archive-as-subject« (Stoler 2010: 44), also um die kritische Reflexion der Entstehung und des Wirkens von Archiven (vgl. Eichhorn 2013: 2; Stingelin 2016: 21). Archive für Jazz und populäre Musik wurden in der internationalen Forschung durchaus schon häufiger thematisiert, oft geht es dabei um Privatarchive (vgl. bspw. Baker 2015b; Baker 2018). Erste Jazzarchive entstanden
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BENJAMIN BURKHART bereits in den frühen 1950er Jahren, als private Sammlungen von Jazzfans für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden (vgl. Fitzgerald 2012), doch erst nach und nach entwickelte sich ein akademisches Interesse an Archiven, die sich Jazz und populärer Musik bzw. populärer Kultur im Allgemeinen widmen. Das anfängliche Zögern mag unter anderem darin begründet sein, dass die materiellen Objekte der populären Kultur nur wenig mit ›klassischen‹ Archivdokumenten, also primär mit schriftlichen Quellen zu tun haben. Das Archivieren populärer Kultur setzt bspw. auch die Sammlung und Dokumentation von Erzeugnissen der Unterhaltungsindustrie voraus, die kommerziell und massenhaft produziert wurden — dies können Fanartikel wie Tassen und Bettwäsche ebenso sein wie Abspielgeräte oder Musikinstrumente. Während diese Objekte für die populäre Musikkultur zentral sind und gerade deren multimediale resp. multimateriale Verfasstheit repräsentieren, unterscheiden sie sich eben auch deutlich von gängigem schriftlichem Archivgut (vgl. Altınay/Jokić 2020: 3; Kärjä 2018: 110). Ferner wurden Archive für Jazz und populäre Musik erst nach und nach in institutionelle Strukturen eingebunden, da die staatliche Förderung lange Zeit der sogenannten ›Hochkultur‹ vorbehalten war. Populäre Kultur hingegen wurde als kommerziell, unauthentisch und deshalb als der staatlichen Subventionierung unwürdig abgetan (vgl. Brandellero/Janssen 2014: 225). Mittlerweile scheint unstrittig, dass die Frage danach, welche Ausschnitte von Kulturen von staatlichen Gedächtnisinstitutionen bewahrt werden sollen, nur auf Basis möglichst breit angelegter Aushandlungsprozesse beantwortet werden kann, an denen verschiedenste Personengruppen und Institutionen beteiligt sind. So werden gerade gesellschaftlich stark verbreitete Phänomene der populären Kultur mehr und mehr als wichtige Bestandteile des kulturellen Erbes und dementsprechend als bewahrenswert betrachtet (vgl. Cantillon et al. 2018: 5; Johnson 2018: 13). Archiven und Museen wird bisweilen aber noch immer vorgeworfen, relativ unreflektiert an den Gegenstand der populären Musikkultur heranzutreten und gängige ›Heldenerzählungen‹ zu reproduzieren, wenn gerade in Ausstellungen eine launige Reise durch die ›wichtigsten‹ Stationen der Musikgeschichte inszeniert wird (vgl. Brandellero/Janssen 2014: 236). Derartige Kritik findet sich vor allem in Publikationen, die die Perpetuierung spezifischer sozialer Ungleichheitsverhältnisse durch Gedächtnisinstitutionen bzw. umgekehrt das gezielte Gegensteuern von Archiven und Museen in diesem Bereich zum Gegenstand haben. In der Forschung zu Archiven populärer Musik gilt das Interesse dabei bislang vor allem dem Zusammenhang von themenbezogenen Sammlungen und Geschlechterstereotypen (vgl. zu diesem Themenkomplex grundlegend Eichhorn 2013; Geraghty 2014: 53-71).
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SPEICHER DER OBJEKTE Im Zuge des »›archival turn in feminism‹« (Reitsamer 2015: 91) sind vor allem seit den frühen 2000er Jahren zahlreiche feministische Musikarchive gegründet worden, die Gruppen von Musiker*innen, die in den dominierenden Musikgeschichtserzählungen häufig außen vor gelassen werden, zu mehr Sichtbarkeit verhelfen sollen (vgl. ebd.). Diese Archive werden bis heute überwiegend ehrenamtlich geführt und haben von Beginn an die Potenziale der unabhängigen Online-Archivierung genutzt (vgl. Reitsamer 2018: 31). Die erklärte Absicht vieler der in diesem Bereich tätigen Archivar*innen ist es, möglichst vielen Akteur*innen des Musiklebens — also gerade nicht nur den Musiker*innen — eine Stimme zu geben und dominierende Erzählmuster der Musikhistoriografie auf diesem Wege zu hinterfragen und zu ergänzen (vgl. Reitsamer 2015: 95). Die Möglichkeiten der Online-Archivierung haben in den vergangenen beiden Jahrzehnten die »democratisation of memory« (Brandellero/Janssen 2014: 226) vorangetrieben und dazu beigetragen, dass neben hauptamtlichen Historiker*innen und staatlichen Gedächtnisinstitutionen eben auch nichtinstitutionelle Archivar*innen zunehmend, wenn auch bisweilen nur zögerlich, als Expert*innen wahrgenommen werden — gerade im Bereich der populären Kultur (vgl. Altınay/Jokić 2020: 2; Peter 2020: 61). So zeigt sich, dass Archive für Jazz und populäre Musik in den vergangenen Jahren durchaus in der geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschung thematisiert, die Praktiken von Archivar*innen kritisch reflektiert und entsprechende Forschungsperspektiven debattiert wurden. Die großen, institutionell eingebundenen Archive für Jazz und populäre Musik in Deutschland, um die es in diesem Beitrag geht, wurden in der einschlägigen Forschung bislang aber kaum thematisiert.
Die Interviews Im Rahmen der Expert*inneninterviews sollten die dargestellten Themen der neueren Archivforschung mit Personen, die in der archivarischen Praxis in leitender Funktion tätig sind, diskutiert werden. Der zuerkannte Status des/ der Expert*in bezieht sich hier auf das spezifische Rollenwissen, über das die Archivleiter*innen aufgrund ihrer beruflichen Position verfügen (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 118-125). Die Rekonstruktion ihrer Spezialwissensbestände verspricht wichtige Einsichten über die berufliche Praxis im Archivwesen, wenngleich die auf diese Weise generierten Erkenntnisse ausschließlich Auskunft über die spezifischen Sichtweisen der Interviewten geben und nicht verallgemeinert werden können.
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BENJAMIN BURKHART Der Schwerpunkt der Gespräche lag auf den folgenden drei Themenbereichen: Erstens wurden die Hintergründe der Archive und der Werdegang der jeweiligen Archivleiter*innen thematisiert. Dies folgte der Annahme, dass die Sammlungsprofile von Archiven ganz entscheidend von den institutionellen Trägern und den leitenden Archivar*innen abhängig sein können. Zweitens sollte geklärt werden, wie Objekte und Sammlungen überhaupt in Archive gelangen, entlang welcher Kriterien die Sammlungsprofile entstanden sind und wie sie weiter ausgebaut werden sollen. Drittens war die Selbstreflexion der Archivar*innen bzw. der Institutionen ein zentrales Thema der Gespräche. Dass es sich dabei um einen elementaren Aspekt archivarischer Arbeit handelt, haben Wolfram Knauer und Doris Schröder vom Jazzinstitut Darmstadt vor einigen Jahren selbst betont: »Jedes Archiv, jede wissenschaftliche Einrichtung, jede Organisation (eigentlich jeder von uns) muss sich regelmäßig die Frage stellen: Wer bin ich eigentlich? Wer sind wir? Was wollen wir? Was können wir bewerkstelligen?« (Knauer/Schröder 2011: 95). Weitere Interviewpartner*innen haben ebenfalls Publikationen über die Tätigkeitsfelder der von ihnen geleiteten Einrichtungen vorgelegt und damit bereits selbst Reflexionen zu den Aufgaben und Hintergründen der jeweiligen Institutionen formuliert (vgl. Duve 2011; Fischer 2014; Fischer 2017; Rohmann 2021). Entlang dieser drei Hauptthemen wurde ein Leitfaden erstellt, der die Basis für die Expert*inneninterviews bildete. Die Interviews wurden Ende März und Anfang April 2021 geführt und dauerten zwischen 30 und 90 Minuten. Sie wurden komplett transkribiert und mit der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet (zur Methodik siehe ausführlich bspw. Flick 2012; Lamnek 2010; Mayring 2016). Im Folgenden werden die zentralen Ergebnisse der Interviewauswertung entlang einschlägiger Zitate präsentiert. Dabei können nicht alle der identifizierten Themen besprochen werden. Das Ziel ist es vielmehr, anhand möglichst aussagekräftiger Textpassagen die wesentlichen Erkenntnisse, die sich aus den Gesprächen ergaben, in komprimierter und thematisch geordneter Form zu präsentieren.
Von der ersten Sammlung zur institutionellen Einbindung Wie entstehen Archive für Jazz und populäre Musik? Die Gespräche mit den Archivleiter*innen verdeutlichen, dass in der Regel die privaten Sammlungen von Musikbegeisterten, etwa Journalist*innen oder Forscher*innen, den Grundstock bilden. So basiert bspw. das Archiv des Jazzinstituts Darmstadt
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SPEICHER DER OBJEKTE auf der Sammlung von Joachim-Ernst Berendt, der nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang als Jazzredakteur und -publizist wirkte. Das KlausKuhnke-Archiv hingegen wurde von den Rundfunkjournalisten Klaus Kuhnke, Manfred Miller und Peter Schulze gegründet, die beschlossen, ihre Sammlungen zusammenzulegen. Der Weg von der ersten Sammlung bis hin zum umfangreichen Archiv kann allerdings lang und beschwerlich sein, zumal der Aufbau von Archiven zu Beginn häufig eine rein private Angelegenheit ist. Bisweilen ist dabei offenbar ein gehöriges Maß an Idealismus vonnöten. Reinhard Lorenz erinnert sich an die ersten Schritte hin zum heutigen Lippmann+Rau-Musikarchiv: »[Den Urgedanken] habe ich mit mir rumgetragen bis in die 1970er Jahre […], bis zu einem ersten Zusammentreffen mit Günter Boas, dem legendären Pianisten, und ihm habe ich in meiner Naivität davon berichtet: ›Du, ich plane ein Archiv für junge Leute […], frei von ideologischen Barrieren.‹ […] 1978 [hat er mir] gesagt: wenn ich mal nicht mehr bin, dann kriegst du meine Sammlung als Basis für dieses Archiv. […] [I]ch war dann geradezu besessen von dieser Archividee und so kam es dann tatsächlich, dass wir Mitte der 1980er Jahre ein Industriedenkmal gefunden haben auf der Suche nach einem Jazzkeller. Der Eisenacher Jazzclub war natürlich meine Heimat seit 1965, und dieser Jazzclub war quasi die Kulisse auch für das Archiv und dieses Gebäude bot die Chance, beides zu verwirklichen, was meine Träume waren einmal. Einen Keller, einen wie in Frankfurt, Paris oder New York, wo wir gekleidet wie die Existenzialisten die Revolution vorbereiten wollten. Und darüber angesiedelt waren Räume, die sich gut eigneten für einen Archivbeginn, und so ist Mitte der 1980er Jahre dieses Archiv mit zarten Wurzeln eingepflanzt worden« (Lorenz).2 Wie Lorenz ferner betont, war es in der DDR der 1970er und 1980er Jahre keineswegs unproblematisch, ein Archiv für Jazz und populäre Musik zu gründen und umfangreiche Sammlungen aus Westdeutschland — wie jene Günter Boas', der seinerzeit in Lünen bei Dortmund wohnhaft war — zu übernehmen (vgl. ebd.). Eine hohe intrinsische Motivation war, wie Gabriele Rohmann berichtet, auch noch Jahre später notwendig, um eine Einrichtung wie das Archiv der Jugendkulturen zu etablieren. Rohmann beschreibt sowohl ihr persönliches, durch eigene Forschungen in den 1990er Jahren entfachtes Interesse an Jugendkulturen als auch die anfänglichen Schwierigkeiten, mit diesem thematischen Schwerpunkt in der deutschen Archivlandschaft Fuß zu fassen:
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Sofern notwendig, wurden Fehler der Syntax in den zitierten Interviewpassagen korrigiert.
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BENJAMIN BURKHART »Im Rahmen meiner Recherchen und Studie über nicht-rechte Skins habe ich den Journalisten Klaus Farin kennen gelernt. […] [E]r hat mir dann die Idee angetragen, das Archiv der Jugendkulturen zu gründen. […] [E]r hatte […] viel Material angesammelt über seine ganzen journalistischen Recherchen, hatte das diversen Archiven, Universitäten, Bibliotheken und so weiter angeboten, die wollten das alle nicht haben damals. Die haben gesagt: was wollen wir damit […]? Das gehört nicht zu unserem Sammlungskonzept. Und naja, dann haben wir eben gesagt: machen wir. Wir gründen das. Also wir gründen erstmal einen Verein […], haben das Archiv 1997 […] auf den Weg gebracht […], haben dann 1998 die Räume hier in Berlin Kreuzberg eröffnet und haben wirklich mit Privatkapital angefangen. […] Wir hatten damals wirklich überhaupt keine Gelder. […] Den ersten Computer hier, den hat ein Bekannter dann noch höchstpersönlich selbst zusammengeschraubt« (Rohmann). Doch nicht nur finanzielle Probleme waren im Rahmen der Archivgründungen an der Tagesordnung, auch passende Räumlichkeiten standen mitunter nicht zur Verfügung. Ulrich Duve erinnert sich an die Situation in den frühen 1990er Jahren, als das Klaus-Kuhnke-Archiv bereits umfangreiche Bestände angesammelt hatte: »[D]ann sind wir […] 1991 hierhergezogen mit 25 Tonnen Material. […] [E]s war einige Erleichterung bei den Beteiligten zu spüren […], weil […] das Archiv war früher in der zweiten Etage eines Altbaugebäudes untergebracht, da fuhren drei Straßenbahnlinien vorbei und das wurde immer ein bisschen erschüttert, das ganze Gebäude. […] Es war statisch, sagen wir mal, nicht so ganz unproblematisch« (Duve). Duve berichtet zudem, dass das ernsthafte Interesse einer staatlichen Institution, etwa einer Hochschule, an der dauerhaften Eingliederung eines Archivs letztlich entscheidend für dessen Fortbestand sein kann. Das KlausKuhnke-Archiv ist seit den frühen 1990er Jahren organisatorisch in die Hochschule für Künste Bremen eingegliedert, für die das Archiv anfangs aber »eher so ein lästiges Anhängsel« (ebd.) gewesen sei, mit dem die Hochschulleitung »nicht so viel [habe] anfangen [können]« (ebd.). Dass es überhaupt zur dauerhaften Zusammenarbeit kommen konnte, hatte man dem Interesse einflussreicher Einzelpersonen zu verdanken: »In Bremen gab es einen hohen Bürokraten, der privat Jazzfan war, von dem Archiv wusste und der sah die Connection: Wenn hier schon was groß in Gang kommt [und] auch der Jazzbereich ausgebaut werden soll, dann passt doch das Archiv da wunderbar rein. Und so ist es eben gekommen, dass wir hier in die jetzigen Gebäude einziehen konnten« (ebd.).
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SPEICHER DER OBJEKTE Auch die archivarische Arbeit an sich war zu Beginn eine große Herausforderung, zumal in den Frühphasen der hiesigen Archive nicht auf jahrzehntelang gewachsenes Wissen zurückgegriffen werden konnte. Gabriele Rohmann erinnert sich an die Anfänge: »Wie geht man mit so einem Bestand überhaupt um? […] [D]as war für uns auch ein Entwicklungsprozess als freies Archiv, weil wir gar nicht das Knowhow und die Professionalität hatten. Bei uns […] war da ganz viel Autodidaktik im Spiel. Das war teilweise nicht förderlich für den Archivierungsprozess, weil vieles auch wieder aufgearbeitet werden musste später, […] wo dann […] die Sachen in drei verschiedenen Datenbanken abgelegt waren, die irgendjemand mal selbst gestrickt hat. Das ist dann irgendwann ein ziemliches Gewusel und es kann einem auch total über den Kopf wachsen« (Rohmann).
Aufgaben, Herausforderungen und Ziele der Archive Nach vielen Jahren archivarischer Arbeit und, so machen es die Gespräche deutlich, einem teils ›abenteuerlichen‹ Herantasten an die eigenen Gegenstände scheinen die Schwerpunkte und Ziele der Archive mittlerweile klar definiert zu sein. So betonen die Gesprächspartner*innen die Notwendigkeit der Bewahrung populärer Musikkultur, denn dies sei »gesellschaftlich und historisch wichtig« (Fischer), werde aber von den »traditionellen Kulturgutinstitutionen [wie] Staatsarchive[n] und Universitätsbibliotheken« (ebd.) für gewöhnlich nicht geleistet. Insofern gelte es, in diesem Bereich »die kulturelle Überlieferung zu bewahren« (ebd.) und »Wissensspeicher« (Rohmann) zu etablieren. Zudem könnten Archive auch als »Informationsverwalter« (Knauer) angesehen werden und sollten gute Bedingungen für Besucher*innen schaffen: »Wir versuchen, Informationen so aufzubereiten, dass […] die Nutzer*innen des Archivs möglichst […] gut damit arbeiten können. […] [M]ein Traum ist es, Diskursräume zur Verfügung zu stellen, und für mich kann ein Archiv idealerweise solche Diskursräume schaffen« (ebd.). Zudem gelte es, den »Wissenstransfer in verschiedene Teile der Öffentlichkeit« (Fischer) zu garantieren — gerade angesichts des Umstandes, dass man es im Falle der populären Musikkultur mit einem gesellschaftlich überaus verbreiteten Phänomen zu tun habe, das es adäquat zu repräsentieren gelte: »[D]as halte ich für einen ganz wichtigen Punkt, zumal ich der Auffassung bin, dass ein Institut, das sich mit populärer Kultur beschäftigt, auch fähig sein sollte, sozusagen populär zu wirken« (Fischer).
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BENJAMIN BURKHART Wenngleich die Aufgaben also klar definiert sind und die Gesprächspartner*innen mittlerweile über mehrere Jahrzehnte Berufserfahrung verfügen, bleiben in diesem vergleichsweise neuen Bereich archivarischer Praxis dennoch einige Herausforderungen bestehen. Zunächst weisen mehrere der Interviewten auf urheberrechtliche Rahmenbedingungen hin, die die Arbeit teilweise erschweren, insbesondere hinsichtlich der digitalen Verfügbarmachung der Bestände: »Das große Problem im Jazzbereich, oder ich würde sagen: wahrscheinlich im gesamten populären Musikbereich ist immer, dass wir es mit Archivalien zu tun haben, die relativ jung sind und dem Urheberrecht unterliegen. Das macht jede Art der öffentlichen Präsentation von Materialien problematisch. […] Du kannst es nicht einfach online stellen. Du kannst die Sachen nicht einfach verfügbar machen« (Knauer). Unabhängig davon, ob sich umfangreiche Digitalisierungsprojekte finanziell und personell überhaupt umsetzen lassen, werden sie in manchen Fällen erst gar nicht geplant, da das deutsche Urheberrecht solche Vorhaben erheblich erschweren oder schlichtweg verhindern würde (vgl. Duve; Fischer). Ferner habe man es im Bereich der populären Kultur sehr häufig »mit Massengütern zu tun« (Fischer), was »natürlich einerseits ein theoretisches Problem« (ebd.) sei, auf der anderen Seite aber auch ein ganz praktisches. Versuchte man, so ein Beispiel von Michael Fischer, die komplette Schallplattenproduktion nur in Deutschland zu berücksichtigen und die entsprechenden Tonträger zu archivieren, stellte sich äußerst schnell die Frage, wie derartige Massen an Tonträgern überhaupt in Archivräumlichkeiten untergebracht werden können (vgl. ebd.). Überdies berichtet Gabriele Rohmann am Beispiel der Jugendzeitschrift Bravo von der anfänglichen Unsicherheit im archivarischen Umgang mit industriell produzierten Massengütern und von den Professionalisierungsprozessen, die im Laufe der Jahre in Gang kamen: »[Die] Bravo ist in dem Sinne nicht so einmalig, und die haben wir in den ersten Jahren auch sehr unpfleglich behandelt. Die stand offen rum in irgendwelchen Pappschubern, also gar nicht geschützt in Archivkartons, und dann sind hier Schulklassen durchgelaufen und wir haben die teilweise in die Ausstellung reingelegt […]. Die geht wirklich schnell kaputt, die Bravo, […] da sind wir jetzt vorsichtiger und geben das viel gezielter raus. Wir haben das auch stark professionalisiert« (Rohmann).
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Sammlungsstrategien Ein wesentliches Thema der Gespräche waren die Sammlungsstrategien, also insbesondere die Frage, nach welchen Kriterien Sammlungen und Objekte von den Archiven ausgewählt werden. Interessanterweise betonen alle Gesprächspartner*innen die Zufälligkeiten im Rahmen der Sammlungsentstehung, nachdem erst einmal ein Grundstock, in der Regel basierend auf umfangreichen Privatsammlungen, gelegt worden war. In der Folge seien die weiteren Sammlungen dann »mehr oder weniger zufällig zusammengekommen« (Duve), es laufe »nach wie vor so, dass wir das sammeln, was reinkommt« (Knauer) und die Bestände seien den Archiven »teilweise auch tatsächlich zugeflogen« (Rohmann). Der ganz gezielte Aufbau von Sammlungen hingegen sei nur mit erheblichem, vor allem finanziellem Aufwand möglich: »Man kann Sammlungen oder Sammlungskonzeptionen nicht abstrakt entwerfen. Zumindest dann nicht, wenn es nicht mit einem staatlichen Sammlungsauftrag hinterlegt ist oder mit großen Etats, wo man gezielt einkaufen kann. Und im populärkulturellen Feld ist es […] nochmal schwieriger, weil die Sammlungsgegenstände natürlich auch sehr weit sind. Bestimmte Dinge ergeben sich durch die Gunst der Stunde, und das kann man dann Zufall nennen oder Fügung« (Fischer). Dementsprechend mag zwischen den theoretischen Betrachtungen von Archiven und der alltäglichen beruflichen Tätigkeit von Archivar*innen durchaus ein gewisses »Theorie-Praxis-Gefälle« (ebd.) bestehen. Dennoch gibt es natürlich bestimmte Sammlungsstrategien. So betonen die Interviewten insbesondere ihr Anliegen, Jazz und populäre Musik in der größtmöglichen Breite zu dokumentieren und keine bestimmten Musiker*innen oder Genres von vornherein außen vor zu lassen (vgl. Duve; Lorenz). Bisweilen wird dies sogar als elementare Aufgabe von Archiven beschrieben: »Unsere Aufgabe ist es, eine Bandbreite zu dokumentieren. Bei Führungen ist mein Spruch immer der, [...] dass ich erzähle, dass Leute zu uns ins Archiv kommen und dann unten vor den Platten stehen und dann ganz beglückt sagen, dass sie ja mehr Platten von Miles Davis hätten als wir. Dann ist meine Antwort immer: Ja, das kann ja gut sein, aber wenn jemand mal hierherkommen sollte und wissen möchte, wie es klingt, wenn ein japanischer Koto-Spieler mit einem Bebop-Saxofonisten zusammenspielt, dann hätten wir dafür halt auch ein Beispiel. Also die Bandbreite ist wichtiger als die Komplettheit des Ganzen« (Knauer).
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BENJAMIN BURKHART Dementsprechend vielfältig sind die Bestände. Während man all das sammle, »was Archive haben: Schallplatten, Bücher, Zeitschriften, Fotos, Plakate, das ein oder andere Instrument« (ebd.), beschränkt sich keines der Archive auf diese vermeintlich naheliegenden Objekte. Gerade »singuläre Sammlungen« (ebd.) seien besonders interessant: »Papiersammlungen, graues Material, Korrespondenzen, Manuskripte, Forscherunterlagen, solches Material interessiert uns tausendmal mehr, als wenn wir zweimal die Woche eine Sammlung mit den besten Aufnahmen der Jazzgeschichte angeboten bekommen, weil die haben wir dummerweise schon« (ebd.). Als Schwerpunkte werden ferner genannt: »Tonträger und Literatur« (Duve), Zeitschriften, Zeitungsarchive sowie Foto- und Plakatsammlungen (vgl. Lorenz) und der »Schwerpunkt Technik, [der] auf jeden Fall erweitert [werde]« (ebd.). Generell sei es reizvoll, das zu sammeln, »was andere nicht haben« (Rohmann), im Falle des Archivs der Jugendkulturen vor allem Fanzines, von denen man inzwischen »20.000 aus über 50 Ländern« (ebd.) besitze. Auffällig ist indes, dass trotz dieser Bandbreite einige Objektgattungen vergleichsweise unterrepräsentiert sind. Während die Archive in der Regel Unmengen an Zeitschriften und Schallplatten beherbergen, finden sich bspw. Merchandise-Artikel wie Tassen, Bettwäsche, Kugelschreiber und dergleichen sehr viel seltener. Dies mag mit den Wertesystemen der Sammler*innen, die den Archiven ihre Sammlungen überlassen, zusammenhängen. Hier rangieren Schallplatten aus Gründen des Sozialprestiges sicherlich über Kaffeetassen und bestimmte Objektgruppen werden dementsprechend eher gesammelt als andere. Deshalb sind die Sammlungen der Archive logischerweise immer von den Präferenzen der Überlassenden abhängig, weshalb die Priorisierung einzelner Objektgattungen auch nur zu einem gewissen Teil auf gezielte Auswahlmechanismen der Archive zurückgeht. Die Aufnahme von Objekten hat häufig auch ganz praktische Hintergründe: »[W]elche Ausschnitte bekommt man angeboten, welche Ausschnitte will man annehmen? Und damit verbunden ist immer die Frage: Was kann ich mir überhaupt leisten? Also ein Angebot nützt mir gar nichts, wenn ich nicht infrastrukturell in der Lage bin, darauf zu reagieren« (Fischer). Selbstverständlich werden zum Teil aber auch inhaltliche Prioritäten gesetzt, die ganz unterschiedlich begründet sein können. Auf Nachfrage, welche Objekte man gezielt nicht aufnehme, betont etwa Reinhard Lorenz vor dem Hintergrund so mancher bisheriger Angebote die Ansprüche an das eigene Sammlungsprofil: »Vom Unterhemd von John Lennon bis [zur] Puderdose von … keine Ahnung. Also da würden wir dann schon gucken. Es müsste schon seriös […] daherkommen, […] weil wir verstehen uns ja […] als Forschungs-
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SPEICHER DER OBJEKTE archiv und nicht als Museum für obskure Sachen aus der Geschichte der Popmusik« (Lorenz). Und auch politische Motive des Ein- und Ausschlusses werden, teils widersprüchlich, diskutiert — gerade bzgl. des Phänomens Rechtsrock. Einerseits wird betont, man wolle die Sammlungen »frei von ästhetischen, […] politischen oder gar ethischen Gesichtspunkten« (Fischer) halten und dementsprechend, sofern ein entsprechendes Angebot käme, auch Rechtsrocksammlungen aufnehmen. Denn auch dieser Bereich sei »ein kulturelles Phänomen, das dokumentiert werden sollte« (Lorenz) und ein »Teil der sozialen [und] politischen Wirklichkeit unseres Landes« (Fischer). Andernorts ist Rechtsrock »der einzige Bestand, den wir so ein bisschen rausnehmen« (Duve) und den man in den »Giftschrank« (ebd.) verbannt habe. Dementsprechend wird die Auswahl der Bestände selbstverständlich auch von den zuständigen Archivleiter*innen und deren spezifischen Interessenslagen beeinflusst. Allerdings sind die Hintergründe der Sammlungsprofile weitaus komplexer. Die Sammlungen der Archive können unter anderem eben auch maßgeblich von finanziellen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen sowie schlichtweg von Zufällen beeinflusst werden.
Reflexionen archivarischer Praxis Im Rahmen der Interviews wurde auch darüber gesprochen, inwieweit Archive potenziell an der Perpetuierung sozialer Ungleichheitsverhältnisse teilhaben können und in welchem Maße solche Fragen in der alltäglichen Arbeit reflektiert werden. Unter anderem wurde die in der Forschungsliteratur problematisierte Dominanz sammelnder Männer in der populären Musikkultur thematisiert. Das Sammeln sei in diesem Bereich, so die einhellige Meinung, tatsächlich eine äußerst männerdominierte Angelegenheit: »Männer übergeben uns ihre Sammlungen und Frauen übergeben uns die Sammlungen ihrer Männer. […] Sammler existieren nur in der männlichen Form. Also ich habe in meinen über 30 Jahren hier am Institut noch keine Sammlung übernommen, […] die von einer Frau initiiert […] oder geprägt worden wäre. Nein, das sind alles Sammler« (Knauer). Das Anlegen großer Sammlungen setze unter anderem eine hohe »finanzielle Potenz« (Fischer) voraus, weswegen sich in diesem Bereich auch traditionelle Beziehungs- und Rollenbilder, gemäß derer Männer in der Regel für finanzielle Belange verantwortlich zeichnen, abbilden (vgl. ebd.). Dennoch seien Frauen häufig auch in die Sammlungstätigkeit involviert, wie Reinhard Lorenz mit Blick auf das Ehepaar Günter und Lore Boas argumentiert:
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BENJAMIN BURKHART »[D]ie Sammlung […] von Günter Boas ist immer auch eine von Lore Boas. […] [D]en Sammler schlechthin habe ich so nie kennengelernt. […] [H]inter den meisten Sammlungen stecken immer zumindest tolerante Frauen. Also das meine ich jetzt sowohl intellektuell als auch materiell, denn sowas kostet auch immer. Es gibt natürlich auch den notorischen Sammler, der seine Einsamkeit, seine Lebenseinsamkeit mit Schellacks und was weiß ich totgeschlagen hat, aber in der Regel sind doch immer Frauen [involviert]« (Lorenz). Fraglich ist allerdings, ob Ehefrauen aufgrund der oftmals gegebenen ökonomischen Abhängigkeit von ihren sammelnden Männern tatsächlich über die Macht zur Intervention oder zur Gestaltung der Sammlungen verfügten bzw. ob sie bisweilen als gleichberechtige Akteurinnen gelten konnten. Während geschlechterspezifische Schieflagen erkannt und problematisiert werden, plädieren die Gesprächspartner*innen diesbezüglich auch für ein gewisses Maß an Relativierung. Einerseits hätten die Archive selbst keinen Einfluss auf die inhaltlichen Details der ihnen mehr oder minder zufällig zukommenden Sammlungen (s.o.), andererseits müssten sich spezifische Aspekte der privaten Lebensweise der Sammler*innen nicht zwangsläufig äquivalent in den Sammlungsprofilen materialisieren: »Es wäre natürlich schön, wenn jemand aus der queeren Szene entsprechende Sammlungen anbietet. […] Aber es passiert nicht, […] und das ist ja eher die Schwierigkeit. Wir haben natürlich […] etwa im Bereich des Musicals […] auch Fans, die erkennbar nicht heteronormativ unterwegs sind, aber das ist ja ein privates Identitätsmerkmal […] und muss ja nicht zwangsläufig auch was mit der Sammlung zu tun haben. Nicht alle schwulen Menschen sammeln schwul oder queer« (Fischer). Zudem mache das Geschlecht des/der Sammler*in, so Gabriele Rohmann, eine Sammlung nicht minder interessant: »[D]as ändert nichts daran, dass […] es spannende Artefakte sind, die wir hier haben, auch wenn [sie] zum Großteil vielleicht von Männern verfasst wurden. Das Artefakt ist ja erstmal da und es ist ja praktisch ein Forschungsgegenstand« (Rohmann). Nichtsdestotrotz habe man sich im Rahmen der Archivarbeit natürlich zu fragen, »wie da […] zum Beispiel mit kulturellen Auseinandersetzungen, Aneignungen […] und so weiter umgegangen [wird], wie selbstverständlich wird etwas reproduziert, vielleicht auch unhinterfragt« — ohne jedoch jemandem »irgendwelche Schuld zuzuschreiben« (ebd.). Zudem wurde im Rahmen der Gespräche diskutiert, ob und inwieweit Archive dank ihrer prinzipiell diskursmächtigen Position die Sichtbarkeit bestimmter Themen und Objekte erhöhen können. Die Aussagen der Interviewten machen deutlich, dass derlei theoretische Reflexionen in der alltäglichen
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SPEICHER DER OBJEKTE Arbeit durchaus eine Rolle spielen können, wenn auch nur in einem gewissen Ausmaß: »Wir planen jetzt im Augenblick gerade unser nächstes Jazzforum zum Thema ›Roots | Heimat: Wie offen ist der Jazz?‹. Und da geht es genau um solche Fragen. […] [I]nwiefern wir uns bewusst sind, wie viel an Eurozentrismus in der Reflexion über Jazz mit drin ist und natürlich spielen wir bei alldem auch eine Rolle. Also von daher ja, grundsätzlich machen wir uns darüber Gedanken, aber wir bleiben halt für das bezahlt, was wir machen« (Knauer). Doch selbstverständlich könne man als »Wissensspeicher […] über die Art und Weise, wie man eine Sammlung präsentiert, wie man sie benennt, sie kategorisiert und systematisiert, […] etwas sichtbarer machen« (Rohmann). Dass Archive, aller theoretischen Reflexion zum Trotz, eben auch mit sehr praktischen Problemen zu kämpfen haben, wird insbesondere dann deutlich, wenn die Zukunft der Einrichtungen diskutiert wird und in diesem Zuge auch aktuell bestehende Missstände benannt werden. Grundsätzlich sei natürlich die Knappheit finanzieller Mittel ein beständiges Problem, zumal man sich in der beruflichen Realität weniger mit Kanonisierungsfragen zu beschäftigen habe als mit »der Ohnmacht von Institutionen, die kein Geld haben und keine Räume und ihre Sammlungen nicht so repräsentativ ausbauen können, wie sie das gerne möchten« (Fischer). Man arbeite bisweilen seit Jahrzehnten unter »prekären Bedingungen« (Rohmann), was mit der Zeit »wahnsinnig zermürbend« (ebd.) sei. Zudem kämpfe man »wie fast jedes Archiv [mit] Platzproblemen« (Duve), da Archive schließlich »nie kleiner« (ebd.) werden. Auch aus diesen Gründen wird eine stabile Einbindung in institutionelle Strukturen als erstrebenswert erachtet (vgl. Lorenz). Zugleich gelte es, in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit noch präsenter zu werden und die fachliche Substanz der eigenen Arbeit herauszustreichen: »[D]as ist das genau, was wir auch zukünftig wirklich […] anstreben, weil ich merke: in den letzten zwei, drei Jahren haben wir unser Ziel erreicht […], dass wir doch von einer Reihe von jungen Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachdisziplinen wahrgenommen werden. […] [D]ass das eine Instanz wird, die einfach einen seriösen Ruf hat, wissenschaftlich, das würde mir schon vorschweben« (ebd.). Und generell müsste zukünftig die Arbeit von Archiven (nicht nur) im Bereich der populären Musikkultur gewürdigt und ihre Rolle sie als wertvolle Wissensspeicher anerkannt werden: »[I]ch würde auch generell noch eine Lanze brechen wollen […]. Generell für die freien Archive. […] Es ist wirklich tief beeindruckend, was die Menschen dort an Engagement zeigen, die haben teilweise gar keine Stellen oder halbe
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BENJAMIN BURKHART Stellen und wuppen da ganze Archive und erhalten diese Bestände und […] die wenigsten kriegen […] institutionelle Förderung. Das ist generell leider ein Trauerspiel in Deutschland und da würde ich mir auch vom BKM [Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien] mehr wünschen. Dass das BKM das mal als wirklich wichtiges kulturelles Erbe anerkennt […]. Es wäre schon unfassbar viel verloren gegangen, wenn sich hier nicht ein paar hundert Leute in Deutschland oder […] generell weltweit […] mit diesem Thema Archivierung und Wissenserhalt und Wissensspeicher beschäftigen […] und da teilweise ihren ganzen Lebensinhalt draus machen [würden]. Es wird viel zu wenig gewürdigt, es wird immer […] ein bisschen […] abgetan […] wie eine Selbstverständlichkeit und leider auch von der Wissenschaft, finde ich. […] [A]uch in der Wissenschaft habe ich […] den Eindruck: es ist toll, dass es die gibt, da geht man recherchieren und dann geht man auch wieder. […] [D]as würde ich mir auch wirklich total wünschen, […] weil die Wissenschaft hat einen großen Nutzen davon« (Rohmann).
Schluss Auf Basis der geführten Interviews wird deutlich, dass die Gesprächspartner*innen in ihrer alltäglichen Berufspraxis durchaus mit Themenkomplexen konfrontiert sind, die in jüngerer Vergangenheit in den Fokus der kulturwissenschaftlichen Forschung zu Archiven gerückt wurden. Dies betrifft vornehmlich die kritische Reflexion des Wirkens von Archiven, vor allem bezüglich ihrer Ein- und Ausschlussmechanismen und hinsichtlich der damit verbundenen Hierarchisierung bestimmter Musiker*innen, Objekte oder Genres. Dennoch sind bisweilen auch »Theorie-Praxis-Gefälle« (Fischer) zu konstatieren: Theoretischen Reflexionen zur kulturellen Kanonisierung stehen stets berufspraktische Herausforderungen in puncto Geld und Platz gegenüber. Insofern ist es notwendig, in der Forschung zu Archiven für Jazz und populäre Musik einerseits Kanonisierungsfragen zu stellen, andererseits aber auch die sogenannten »Archivprobleme« (Gehring 2016) ernst zu nehmen. Nur durch die wechselseitige Betrachtung dieser beiden Bereiche lässt sich nachvollziehen, wie spezifische Sammlungsprofile zustande kommen und aus welchen Gründen bestimmte Objektgruppen eher in Archiven präsent sind als andere. Aus diesen Gründen scheint es vielversprechend, sich zukünftig verstärkt mit den Strukturen von Archiven, also mit den infrastrukturellen Rahmenbedingungen und den Sammlungsaufträgen zu beschäftigen. So ließe sich analysieren, welche Faktoren tatsächlich Einfluss auf die alltägliche Arbeit von Archiven und somit auch auf deren Sammlungsprofile nehmen. Interessant
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SPEICHER DER OBJEKTE erscheint hierbei auch der Blick auf die Geschichte der Institutionen: Wie entsteht ein Archiv? Auf welcher Sammlungsbasis und unter welchen finanziellen und personellen Bedingungen? Das Schreiben solcher Institutionengeschichten kann dabei helfen, die Entstehung der Sammlungsschwerpunkte besser zu verstehen. Zudem sollten detailliertere Betrachtungen einzelner Sammlungen initiiert werden: Wer hat die Sammlungen aus welchen Gründen angelegt? Wie kamen sie ins Archiv? Und welche Objektgattungen dominieren die Sammlungen? Weshalb sind bspw. Merchandise-Produkte, die in der populären Musikkultur ja stark verbreitet sind, in den Archiven relativ selten vorzufinden, während sich die Einrichtungen vor Schallplatten förmlich kaum noch retten können (s.o.)? Durchaus wurde von den Interviewten darauf hingewiesen, dass man »nicht nur die Sammlungen öffentlich machen [wolle], sondern auch die Sammler, die Personen, die Menschen, die dahinterstehen« (Lorenz). Soll geklärt werden, unter welchen Bedingungen Sammlungen in ihren je spezifischen Formen entstehen, ist das Einbeziehen der Sammler*innenperspektive essenziell. Die vertiefte Untersuchung dieser Aspekte erscheint für die Jazz- und Popularmusikforschung lohnenswert. In diesem Forschungsfeld nimmt seit einiger Zeit die kritische Auseinandersetzung mit historiografischen Narrativen und kulturellen Kanonisierungen eine zentrale Rolle ein. Ein wesentliches Anliegen ist es dabei, ein realitätsnahes, nicht auf der Perpetuierung altbekannter ›Heldenerzählungen‹ basierendes Bild der Geschichte des Jazz und der populären Musik zu zeichnen. Hier kommt es darauf an, auch (Gruppen von) Musiker*innen in den Fokus zu rücken, die aufgrund verschiedener, bspw. geschlechterspezifischer Exklusionskriterien in der Geschichtsschreibung zu Jazz und populärer Musik tendenziell vernachlässigt werden. Für historische Forschungen sind Archive selbstverständlich zentrale Anlaufstellen. Umso wichtiger ist es zu reflektieren, ob und inwieweit diese Institutionen möglicherweise an der Perpetuierung historiografischer Schieflagen partizipieren. Geeignete Anknüpfungspunkte bieten dabei Publikationen, die Archive für populäre Musik aus feministischer Perspektive betrachten (vgl. bspw. Cantillon/Baker/Buttigieg 2017; Reitsamer 2018; Withers 2015), sowie Veröffentlichungen aus dem Feld der Jazzforschung, die Ansätze der Gender Studies aufgreifen (vgl. bspw. Knauer 2016; Reddan/Herzig/Kahr 2022; Rustin/ Tucker 2008) und sich für die Sichtbarkeit von Frauen im Jazz resp. in der Jazzgeschichte stark machen (vgl. bspw. Buscatto 2021; McGee 2009; Schlicht 2000; Tucker 2000). Neben den institutionell eingebundenen Archiven für Jazz und populäre Musik, die im Fokus dieses Beitrags stehen, gibt es auch zahllose private
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BENJAMIN BURKHART Sammler*innen resp. Privatarchive. Deren Sammlungen können sich in epistemologischer Hinsicht bisweilen deutlich von denen der institutionell gebundenen Archive unterscheiden. Vor allem deshalb, da privat archivierende Personen für gewöhnlich in spezialisierte Netzwerke jenseits des Wissenschaftsbetriebs eingebunden sind, während die Beschäftigten der öffentlichen Einrichtungen in der Regel nicht Teil solcher Gemeinschaften sind (vgl. Baker 2015a: 2). Der Ansatz, sowohl öffentliche als auch private Archive für Jazz und populäre Musik in der Forschung zu berücksichtigen und idealiter Synergiepotenziale offenzulegen, scheint sich vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren aufgekommenen Citizen Science geradezu aufzudrängen. Das Anliegen der Citizen Science ist es, in aller Kürze formuliert, den reziproken Austausch zwischen beruflich und privat Forschenden zu forcieren und Kooperationen zu initiieren, von denen beide Seiten gleichermaßen profitieren können (vgl. grundlegend für den Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften Göbel/Henke/Mauermeister 2020; Arendes 2017; Pettibone/Ziegler 2016). Letztlich bieten sich also vielfältige Möglichkeiten, um die Forschung zu Archiven für Jazz und populäre Musik weiterzuverfolgen. Der enge Dialog mit den dort tätigen Personen ist dabei ein möglicher erster Schritt, dem viele weitere folgen können.
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Abstract Worldwide, there are countless archives for jazz and popular music. These archives are not only important institutions for historians, but for research on material culture as well. A wide variety of objects from popular music culture can be found in these archives: be it LPs or music magazines, technical music devices, posters and flyers, or fan articles like coffee cups, band shirts, or bedlinen. But relatively little is known about the background of these institutions. How are archival collections created? Which objects do archives collect for what reasons? And do archives participate in processes of cultural canonization by making certain aspects of jazz and popular music more visible than others? The aim of this article is to discuss these questions based on semi-structured interviews with senior staff members of selected public archives for jazz and popular music in Germany.
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AN
BOUTIQUE AND BEYOND. EXPLORATIVE NETNOGRAPHY OF GERMAN (G U I T A R ) E F F E C T P E D A L F O R U M S Alan van Keeken Introduction
In my paper1 I investigate four German online boards and social media platforms that deal with effect pedals: musiker-board.de, guitarworld.de, gitarrenbu.de and the Facebook group pedalboard.org. I focus on their discussions, threads and posts relating to boutique pedals or the broader »boutique« category. As in other contexts, the term boutique stands here for products manufactured in a »specialized, upscale retail environment« (Johansson/Toraldo 2017: 220). First, I introduce the effectscape as a socioeconomic field in which this category has significance. Additionally, I present highly engaged user groups, whose practices shape and reproduce this discourse around effect pedals. In the second part I elaborate on my data sample, ethics and netnographic methodology. Drawing from the results in the third part, I build a typology of brand categories that give insight into some of the dimensions used to rank and value effect pedals. This leads finally to a discussion of the rock guitarist's relationship with music technology. Finally, I contrast these findings with data that question and undermine distinct demarcation lines between the different types of product categories. Before delving into the theoretical framework, I will briefly define effect pedals and »boutique« as a category in the context of rock musicianship and the consumption of technology. Effect pedals (also called stomp boxes) are compact technical devices that alter a passing signal, changing its sonic character (Wilmering et al.
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This paper is my translated and revised version of »Musiktechnologie und Marken: Boutique-Marken in der Effektgemeinschaft« by van Keeken/Grünewald-Schukalla (2022). All the results presented in this study are based on our shared effort although, for clarity, I will generally use the first person in this paper.
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ALAN VAN KEEKEN 2020: 1). They are usually positioned on the floor in front of the instrumentalist and their interface often consists of footswitches and potentiometers. The alterations of the signal range from room or delay effects (reverb, flange, chorus) to different styles of distortion (overdrive, fuzz) and special applications like bit-crushers. While there have been mobile effect units since the 1940s, the birth of commercial success is associated with the 1962 Gibson Maestro FZ-1 Fuzz Tone, especially after Keith Richards used it in 1965 in the Rolling Stones' hit »(I Can't Get No) Satisfaction« (Hodgson 2019: 108–16). Up until today, effect pedals have been a crucial part of the signal chain of the guitar player — on stage, in the studio, and in the rehearsal room. But effect pedals transcend their primary purpose as creative tools for making music (Morris 2008: 77; Volmar 2010: 164). They also function as consumer goods that bear nostalgic potential or trigger so-called »gear acquisition syndrome« (Herbst/Menze 2021). As such, effect devices have become subject to a vintage boom since the 1990s, resulting in high prices for original pedals and reissues of classic ones. The Ibanez Tube Screamer, originally produced at the end of the 1970s, stands out as one of the most copied devices in this regard (Thewes/Berg 2021). Also starting in the 1990s, »boutique« pedals started to appear. The term originates from fashion shops in London in the 1960s and has been applied to a range of products (like guitar amplifiers), locations and even events like small festivals. Manufacturers of the boutique segment of effect pedals began to alter or rebuild existing circuit designs in small numbers. They later moved on to improved and even new designs (Hunter 2004: 17). As early as 2004, Tom Hughes summarized the alleged appeal of boutique effect pedals: »Part of the popularity of boutique may lie in its grassroots, back-to-basics appeal. There is a sense that you have a product of fine craftsmanship made by a real person who's into what he's doing, not some faceless corporation cranking them out by the thousands, […]. We want to believe that the boutique pedal we've just purchased is a labor of love, made with the finest ingredients [...]. Boutique may also elicit a natural human tendency to want to root for the underdog and look out for the little guy. And, if nothing else, boutique effects have character (and are often made by some real characters). But is this perception totally accurate?« (Hughes 2004: 135) As it turns out, Hughes' closing remarks point in the right direction: boutique, the results of this study suggest, has become a contested and unstable category. Although it is still robust and commonly used, its exact meaning has been challenged or changed among the users of effect pedals. But how can we conceptualize the use of technology in music scenes?
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AN EXPLORATIVE NETNOGRAPHY OF GERMAN (GUITAR) EFFECT PEDAL FORUMS
The Effectscape and Artifact Communities The world of effect pedals can be described as an instrumentscape, or in this case an effectscape: a specific, globally connected constellation of markets, users, discourses, practices, and media. This network includes distributors, discourse about the sonic quality of certain types of transistors, and includes events where fans gather to discuss and try out pedals. Kevin Dawe was the first to use the suffix »-scape« to describe globally interconnected patterns that converge in or arise from the use of musical instruments like the guitar (Dawe 2010: 41ff.). Matt Brennan has also used it recently to characterize his approach to the social history of the drumkit, when he talks of an international »drumscape« (Brennan 2020: 317). Online discussion forums and social media are an important element of today's instrumentscapes. As early as 1997 Paul Théberge was describing the importance of music technology user groups in the early days of the internet. He sees their relationship as a »cultural bond« that is fueled by the technical devices' »appeal to personal and artistic potential« and the users' »idealistic rhetoric of political democracy« connected to music making (1997: 152). This also holds true for the effectscape, where many of the shared values and worldviews are reproduced via everyday online interactions. On these sites, self-proclaimed »pedalheads« discuss effect pedals, celebrate a new pedal day when they buy a new device and present their arrangement of stomp boxes on custom-made guitar pedalboards. These active members can also be described as an artifact community, a term introduced by the sociologist Michaela Pfadenhauer. These highly engaged users stand somewhere between mere consumers and professional engineers and tinkerers. Identity and belonging are established via a certain level of »boundary work« (Pachucki et al. 2007: 332), demarcating the lines between the in- and the outside of the group. To achieve this, members of the artifact community use a specialized terminology or presuppose technical or historical knowledge of the artifact, what — in the case of effect pedals — has been referred to as an excluding »jargon« (Könemann/Wilpert 2014: 92). Additionally, product knowledge is used to generate a sense of togetherness: »Only from the exchange of knowledge and the […] mutual understanding of product-related values and attitudes towards the artifact do actors create a bond among them. In doing this they gradually recognize each other as ›likeminded people‹« (Pfadenhauer 2010: 360f.; transl. by AvK).
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ALAN VAN KEEKEN Pfadenhauer contextualizes this engagement as a form of post-traditional socialization process (Pfadenhauer 2005: 6) that replaces old social bonds like religious denomination, class or region but which is effectively less stable and exerts less putative influence on its members. This study explores these artifact communities as one key component of the instrumentscape centered around effect pedals.
Methodology This study presents an explorative netnography (Kozinets 2020: 189) of three online boards and one social media group on Facebook. My data sample consists of 148 threads and the appended posts and comments. I used the program MaxQDA to assign codes and structure the resulting observations. The selected forums pedalboard.org, musiker-board.de, guitarworld.de and gitarrenbu.de had to fulfill two preconditions: they needed to be devoted exclusively to effect pedals and they had to be visited by their members on a regular basis at the time of data collection. The posts range from the early 2000s until 2020. Pedalboard is a Facebook group. It has 16,146 members, is non-public and is considered »the largest German-language forum for effect pedal fans and nerds« (Spiegel 2019). The site musikerboard.de describes itself as the largest forum for musicians in Europe and hosts 251,001 registered members. The site's electric guitar forum has its own section on effect devices, with 1088 threads. Guitarworld.de is explicitly oriented toward German-speaking countries. Created in 1999, the site is one of the oldest active forums. Here, we find a total of 307 threads. A somewhat smaller platform, gitarrenbu.de, claims to be »the forum for the really relaxed guitarist of the world«. It has a total of 272 members. Here, too, a separate subforum features threads related to »effecting«, with 242 topics.2 Following netnographic etiquette, I decided to disclose my research on pedalboard.org and asked the group's administrators for permission to investigate the group's posts, which was granted. This was especially important because pedalboard.org is a private group, where admission is necessary to read and search posts. Also, most users appear under their real name. In the case of the other forums, no explicit permission was requested because the boards and threads were searchable without admission. The usernames in the boards added an additional layer of anonymity (Kozinets 2020: 196-201).
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All the numbers relating to posts, threads and members as of March 2020.
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AN EXPLORATIVE NETNOGRAPHY OF GERMAN (GUITAR) EFFECT PEDAL FORUMS The samples were prepared via the respective search engines of the forums and social media groups, using »boutique pedals« and »boutique« as search terms. I then collected data and preselected the posts according to the research focus, aiming at theoretical saturation (Breuer et al. 2018: 260; Keller 2011: 89). The main question was: How are product categories applied by the artifact community and how do they relate to the boutique label? I ended up with the following sample of threads: pedalboard.org, 56; musikerboard.de, 38; gitarrenbu.de, 15; guitarworld.de, 39. Single posts, answers and reiterations are not included in these numbers. Beyond this special interest, I coded recurring discursive patterns that pointed to general values and ideas prevalent in the artifact community.
Stabilizing Tendencies: A Typology of Effect Pedal Brands The findings suggest that there exists within the artifact community a broadly stable typology of brand-based categories of effect pedals that can be inferred from the sampled discussions relating to the term boutique. These categories were inductively derived from the boundary-creating discourse among the artifact community, in which brand categories such as boutique are mostly defined in relation to other classifications and labels. This field of categories represents part of what can be called the community's common ground regarding a highly complex and diverse field of products. Contrasting these stable categories I stress instances of uncertainty and detail the processes and practices that give insight into the artifact community's particular relationship to music technology, primarily the »relentless pursuit of tone« (Fink et al, 2018). Four types are introduced and explained in detail here: boutique, postboutique, mass market, and heritage brands. These terms are partly derived from the discussions in the forums (mass market brand) and partly suggested by the author (in particular, »post-boutique«). In constructing these types, I abstract from the complexity and diversity of the community's actual boundary demarcations by highlighting individual features and using contextualizing information from the field. The artifact community uses the brand types to point out the differences between boutique and other pedal brands. Therefore, they employ economic, technological, and aesthetic categories to underpin their respective classifications:
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ALAN VAN KEEKEN 1. Company size and strategy: The community discusses the manufacturer's position in global production and distribution networks. This often entails asking whether the pedal is produced in large quantities for the mass market or in small series, as well as enquiring about their site of production. This is especially important in light of the 1970s transfer of music technology production capacities to countries in eastern Asia (Stange-Elbe/ Bronner 2009: 301). These discussions are often linked to issues of social responsibility, fair payment, sustainability, and good working conditions. 2. The inner design: A lot of users talk about the layout of the circuit boards and the resulting signal processing. Many pedals bear resemblances to a few standard types, especially in the realm of distortion pedals. A great deal of discussion therefore revolves around questions of authenticity and originality regarding the sophistication or innovativeness associated with different types of pedal brand. 3. The outer design: This includes the pedals' housing and aesthetic appearance, their form, color, and materials (especially when it comes to knobs and footswitches) or, more generally, the interface. Certain characteristics point to particular brand types or — like a straightforward greenish design of the »tube screamer« type — show their affiliation to an effect ›family‹. 4. Components and artisanship: The quality of the parts used and how they are processed is an additional aspect considered by the artifact community — for instance, what transistors are used, to what degree is the device hand-wired, and how sturdy is the line-in for the guitar cable? 5. The sound: Adequately describing and differentiating the sound of different brand and pedal types seems to be a challenging task for the effect pedal community. While they sometimes strive for an objective, common terminology, they also resort to clichés like claiming the sonic superiority of older technology (Jordbrekk 2016) or describing analog devices as giving a »warmer« sound than their digital counterparts (Sterne 2006: 338; Könemann/Wilpert 2014: 92). One quote from the data summarizes these difficulties but also illuminates a certain playful attitude toward the problem: »Sensory impressions can be described in a crucial respect (their effect) only with poetry — and not everyone is a gifted poet. Nevertheless, I am grateful for every attempt, no matter how clumsy, to put sound impressions into words in the sense of the thread topic. And often I know roughly what is meant by ›transparent‹ and ›earthy‹. Enough to get a good first impression and then
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AN EXPLORATIVE NETNOGRAPHY OF GERMAN (GUITAR) EFFECT PEDAL FORUMS make up my own mind. So please keep banging out these awesome adjectives... I'm into it« (»Floemiflow« 2019, transl. by AvK).3
Type 1 — Boutique Pedals The artifact community predominantly defines the boutique category via a particular company's business model and manufacturing standards. The pedals are produced in small quantities and often brought out in limited-edition series. Additionally, their users know many of the founders, who can sometimes even be contacted directly. This makes the boutique brands more accessible than larger companies that tend to be viewed as more impersonal. The community's participants discuss biographical backgrounds and artisanry as well as sharing examples of customer service that the pedal makers personally provide: »But with companies such as Barber, I really wonder why Dave Barber still charges such low prices for the quality delivered. [...] Many of the supposed ›premium manufacturers‹ should really [...] see him as a role model. Dave himself gave the answer to this question in some posts on American forums: it's just his thing, he lives for it and he can't stand it when people, who also just make pedals, simply demand double or triple the price of what would be ›ok‹« (»Myxin« 2014, transl. by AvK).4 The place of production plays an additional role. Most members of the artifact community assume boutique pedals are assembled and developed in the UK, Europe or the US rather than in China, Taiwan or Indonesia. This assumption makes it possible to justify high prices because companies in the traditional ›west‹ must pay higher wages and comply with more tightly regulated work and safety standards. On top of that, some community members judge that 3
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German original: »Sinneseindrücke lassen sich eben in der entscheidenden Hinsicht (ihrer Wirkung) nur mit Poesie beschreiben — und nicht jeder ist begnadeter Dichter. Dennoch bin ich dankbar für jeden noch so ungelenken Versuch, im Sinne des Threadthemas die Klangeindrücke in Worte zu fassen. Und oft weiß ich auch in etwa, was mit ›transparent‹ und ›erdig‹ gemeint ist. Genug, um mich etwas zu orientieren und mir dann selbst einen Eindruck zu verschaffen. Also ballert bitte weiter geile Adjektive raus... ich steh drauf.« German original: »Aber bei solchen Firmen wie z. B. Barber frag ich mich wirklich, warum Dave Barber nach wie vor so niedrige Preise verlangt bei der gelieferten Qualität. [...] Davon kann sich so mancher vermeintlicher ›Edelhersteller‹ echt [...] eine Scheibe abschneiden. Die Antwort auf diese Frage hat Dave aber selbst schon in einigen Beiträgen in Ami-Foren gegeben: es ist einfach sein Ding, er lebt dafür und er kann es nicht ausstehen, wenn Leute, die auch nur mit Wasser kochen, einfach mal den doppelten oder dreifachen Preis von dem verlangen, was ›ok‹ wäre.«
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ALAN VAN KEEKEN the money spent on boutique pedals is not consumed by high advertising budgets, worldwide marketing or shareholders but goes directly to workers and the owners of the respective companies. Direct relationships between effect pedal designers and users are not just opportunities to create niche markets for specialized products. In the effectscape these almost personal connections are also part of the effectscape's discourses around authenticity and aesthetics. The close affiliations between pedal and designer play into sonic imaginaries and product knowledge: »Since you have the Big Muff, I'll just assume you're into the fuzz sound. You might also be interested in Creepy Fingers Effects. They are made by Brad Davis, the Fu Manchu guitarist. I've never tried them myself, let alone seen them used by anyone, but I'm sure they're interesting. Brad Davis is the bass player of Fu Manchu. But I can also recommend him. Brad is a super nice, helpful guy. I contacted him via mail several times, because naturally he's present on pedal forums« (»till_pact« 2011, transl. by AvK).5 When it comes to the inner design of the boutique pedals, the community seems undecided. Some users associate the brands with innovative, original (circuit) designs and ideas, crafted with a special attention to detail (which functions as an additional justification for higher prices). In contrast, others propose that boutique brands — like their competitors — merely copy existing circuit designs. Here, the term boutique does not necessarily stand for originality but rather for the high quality of the parts used and of the crafting. Hand-wired pedals and high-quality parts, many assume, result in greater longevity and an even more desirable sound. Sound is a crucial aspect of this category: the community especially praises the particular sonic traits of boutique stomp boxes. They seem to be more »transparent«, »full of character«, »finely tuned«, offer a »great response« in terms of effect feedback or are simply called »inspiring«. One special characteristic is the possibility of modifying the pedals after one's own needs. Because many of them are wired by hand, they seemingly allow a
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German original: »Da du den Big Muff hast, gehe ich einfach mal davon aus, dass du auf Fuzz Sound stehst. Da wären Creepy Fingers Effects vielleicht auch interessant. Die werden von Brad Davis, dem Fu-Manchu-Gitarristen, gebaut. Hab die selber noch nie ausprobiert, geschwiege denn mal bei irgendwem gesehen, ist aber bestimmt auch mal interessant [...] Brad Davis ist der Bassist von Fu Manchu. Kann ich aber auch empfehlen. Brad ist ein super lieber, hilfsbereiter und netter Kerl. Hatte schon ein paar mal mit ihm Mailkontakt, weil er naturgemäß auch auf den Pedaltechnikforen unterwegs ist.«
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AN EXPLORATIVE NETNOGRAPHY OF GERMAN (GUITAR) EFFECT PEDAL FORUMS greater degree of adjustment than their mass-produced counterparts. Concerning the housing, boutique pedals are usually associated with elaborate artwork, hand-painted designs, and special materials.
Type 2 — Post-Boutique The differences from boutique labels can be attributed to the company size, larger quantities, and international marketing. In terms of their presumed inner and outer design, their retail price, and their sonic characteristics the products appear to have a great deal in common. It is not often that the artifact community distinguishes sharply between boutique and postboutique pedals. In many statements, people talk rather of being undecided as to whether brands like Fulltone, EQD or Walrus are »still« or »not anymore« boutique. On other occasions some members of the artifact community tended to disagree with the boutique status based on an opinion that some products' presence on forums or in shops was »too big«. Post-boutique brands often started in the boutique segment but changed their strategy and grew beyond their original market share. Their pedals can now be ordered on several major distribution platforms. They often produce budget series, whose production tends to be outsourced. However, the visibility of the founder or CEO of these companies remains an important factor. Their names resonate among the members of the artifact community and their social media presence gives them status as opinion leaders and influencers in the effectscape. A prominent example here is the YouTube channel of JHS Pedals' Josh Scott (Reiff 2013). While nowadays his company's pedals share more traits with heritage (see below) or mass brands, the history of the company and the marketing relating to its founders arguably allows the firm to retain some vestiges of boutique flair in the eyes of the artifact community's members.
Type 3 — Mass Market Brands In contrast to the makers of boutique and post-boutique brands, these companies concentrate on manufacturing effect pedals on an industrial scale. Members of the artifact community cite higher margins, lower prices per unit, assembly line production, cheap parts, and generally lower quality as important characteristics of mass-produced pedals. In line with the argument of Roland Eckert (2014: 154), brands following these strategies can be viewed as mass market brands. In Germany, users are especially familiar with the inhouse labels of big industry players like the musical instrument retailers
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ALAN VAN KEEKEN Thomann and Music Store. Chinese brands such as Mooer and JOYO also belong in this category. Many members of the community suspect that the different pedal brands' internal components are produced at the same factory. Commenters also accuse the mass market brands of copying existing, »classic« circuitry or (even worse) recent innovations in boutique brands, thus exploiting the latter's originality. But criticisms focus predominantly on the unsatisfactory working conditions and low social and ecological standards of factories that are mostly based in eastern Asia. The members of the effectscape also cite these alleged poor conditions to justify their choice to engage in »fair« consumption of effect pedals: »I agree, why should one bother with some cheap stuff anymore? It wouldn't be any fun at all for me to play with something like that. If you only consider the sound, you get that with any rat + TS [one of the common types of distortion pedals]. Or just take an OCD [Fulltone's Obsessive Compulsive Drive model; AvK's note] immediately, in any case you use [...] the original. Let's say you play 3 to 5 pedals, why shouldn't they cost a few euros? If you still know the producers now, you can also be sure that no one is forced, under adverse conditions, to solder together pedals of questionable quality for a pittance« (»Duke« 2017, transl. by AvK).6 Specifically, many users judge the quality of mass-produced pedals based on the relatively low complexity of the circuit board (which usually no longer includes discrete parts). Additionally, they deem interface elements as being prone to failure and in- and outputs as being poorly installed in the housing. Contrasting the boutique and post-boutique brands with their mass market counterparts often takes the form of a David and Goliath narrative: mass market brands are perceived as thieves or impostors living off »real engineers«, fully aware that due to fears of costly and time-consuming lawsuits, small companies often avoid legal disputes surrounding plagiarism and copyright. Regarding sound quality, the artifact community seems to express no consistent opinion. While some of its members applaud the beneficial trade–
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German original: »Sehe ich sehr ähnlich, warum soll man sich mit irgendwelchem Billigkrams länger beschäftigen? Mir würde es überhaupt keinen Spaß machen, so etwas zu spielen. Wenn man nur den Sound betrachtet, den bekommt man mit jeder Ratte + TS wohl auch hin, oder man nimmt sofort einen OCD, in jedem Fall nutzt man [...] das Original. Die, sagen wir mal 3 - 5 Pedale, die man so spielt, warum sollen die nicht ein paar Euro kosten? Wenn man die Produzenten jetzt noch kennt, kann man auch sicher sein, dass da niemand genötigt wird, für einen Hungerlohn, unter widrigen Bedingungen, qualitativ fragwürdige Pedale zusammenzulöten.«
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AN EXPLORATIVE NETNOGRAPHY OF GERMAN (GUITAR) EFFECT PEDAL FORUMS off between price and sonic possibilities, most agree on the limited acoustic capacities and usability of the mass market brand.
Type 4 — Heritage Brands While sharing nearly all the traits of the mass market brands, heritage brands tend to be treated differently by the artifact community. Aspects like sound, nostalgia, and processing are especially foregrounded in the posts investigated. While vintage models occupy a special place in the hearts of the artifact community, newer pedals from the same or other firms can also benefit from nostalgia for these brands and the reputation of previous models. Here, the Roland corporation's line of effect units known as the BOSS brand (the Hal Leonard Corporation 2001) stands out. Other honorable mentions go to EHX, MXR, MAXON, and Orange. The effects community is aware that most of the heritage brands are produced in China, Taiwan or Indonesia. Many users suspect that these heritage brands are even produced in the same factories as mass market brands, with the factories operating in this context as ODMs, or original device manufacturers. This has led to accusations that heritage brands use their name to justify high prices while rarely using high-quality parts or processing. In the artifact community these brands have gained their reputation by their historical influence on the effectscape. »Back in the day« brands like EHX introduced the Big Muff, a famous fuzz pedal; since their debut BOSS pedals have epitomized durability, relatively low prices, and high availability across the globe. Also, in many forums there are special posts and threads solely dedicated to the charms of particular heritage brands: »I must agree with the previous comments on this one. The Boss pedals (even the thick ones) are to the guitar world what the SM58 is to the microphone section [the Shure SM58 is known as a classic vocal microphone; AvK's note]. There are better ones out there now, but it invented and established its own solid gold standard« (»Jackpod« 2019, transl. by AvK).7 While they still enjoy status as a reference effect or classic, the outer design and especially the sound of heritage pedals are seldom viewed as special. Users speak of the effects as sounding generic and boring, merely catering to the tastes of the wider audience and target groups they try to please: 7
German original: »Ich muss mich da den Vorrednern anschließen. Die Boss Pedals (auch die dicken Schinken) sind in der Gitarrenabteilung so, wie das SM58 in der Vocal Section. Es gibt mittlerweile Besseres, aber es hat seinen eigenen soliden goldenen Standard erfunden und etabliert. Deswegen sollten sie auch immer noch gefragt sein.«
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ALAN VAN KEEKEN »That's right, a Boss's pedal making me freak out is something very rare!!! The Boss stomp boxes are just totally designed for mass taste. They should not sound extraordinary, or do anything particularly well. They should only be sold as often as possible, nothing else. This is also ok, it's just one of many possible company philosophies« (»Dr. Dulle« 2014, transl. by AvK).8
The Boutique Category in the Artifact Community Categories like boutique function as epistemic elements with »cognitive and social force«, as Nick Couldry (2012: 138) puts it. If we think back to Dawe, they can be approached as helping to delineate and shape the contours of an instrumentscape, informing the actions and underpinning the attitudes and opinions of people acting within it. But what does such an epistemic element provide for the artifact community? It exhibits — among other cultural categories prevalent in the effectscape — a generative, productive potential. The boutique category supports the appropriation of pedals as technical artifacts and feeds into the complexity of technical and product knowledge that is needed to maintain this taxonomy as a discourse within artifact communities and across the ever-evolving instrumentscape. To clarify this, I now investigate the various cognitive, personal, and social relationships with technology that have come to light in the data sample. Many users of effect pedals consider the search for their personal tone as a central element of playing rock guitar. This tone often seems modeled after certain (rock) idols. However, it is also an outcome of the players' selfperceptions and their ideas of an individual tone — as user »Hollywoody« puts it: »After many years of countless testing, buying, and reselling, I have at least arrived at three of my favorite pedals, which also remain on the board, because they offer the optimal combination for me regarding sound, processing and connections: The FULLTONE OCD version 3 for me is an absolutely convincing OD [overdrive] especially in combination with tube amps. [...] Anyway, everyone has their own idea and I think it's great that we all find such
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German original: »Ganz genau, ein Wow und Boss ist was sehr sehr seltenes!!! Die Boss Treter sind einfach total auf Massengeschmack ausgelegt. Die sollen gar nicht außergewöhnlich klingen, oder irgendetwas besonders gut können. Sie sollen nur möglichst oft verkauft werden, sonst nix. Das ist auch ok ist halt eine mögliche Firmenphilosophie.«
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AN EXPLORATIVE NETNOGRAPHY OF GERMAN (GUITAR) EFFECT PEDAL FORUMS different paths. That makes the whole thing interesting« (»Hollywoody« 2013, transl. by AvK).9 The quest for this individual tone occurs through trial and error. Players change and swap all the components of the signal chain regularly to affect the resulting sound. While there are ›no-go's‹ in chaining them together, in general any order is feasible. Adding to this complexity are the different perceived aesthetics connected to genre. Against this backdrop, imaginings (and sometimes fetishizations) of a possible and desirable tone encounter the realworld testing and exploring of different configurations (Théberge 2017: 63). The problem inherent in these activities lies in the technical difficulties in finding the »right« combination to achieve the desired outcome. As Robert Fink, Zachary Wallmark and Melinda Latour assume in their seminal essay on tone, this »relentless search for the tone« arises out of a whole network of various technologies, aesthetic categories, desires, and practices — in Latour's phrase a »quasi-object« (Fink et al. 2018: 18). This is constituted from elements of nature (sound, electricity) as well as culture (musical genre expectations, sonic aesthetics, individual expectations). Fink et al. summarize: »As a proxy for all the contradictions that cluster around expressive agency in popular music, tone is the desirable fetish that pop musicians pursue relentlessly, just because, like their own musical agency, it can never really be captured, can never be reduced to the immutable qualities of a single, inanimate object. Still, one can't help but try, since such tone-producing objects remain powerful agents in themselves and, unlike our musical heroes, will never die. Maybe we can't own tone, but we can't just bury it and walk away either« (ebd.). Another quote from a forum may illustrate how these assumptions can be understood as a fitting theoretical framework for interpreting the social practices of the artifact community centered around effect pedals: »I'm basically satisfied with the sounds from the amp and the colorful distortion boxes in front of it, but I prefer to have just a little bit of delay, and that's it. Another major issue for me is that the whole thing has to sound equally good quiet and loud. Probably this is not possible at all, considering technical and 9
German original: »Nach langjährigem, unzähligem Testen, Kaufen und Wiederverkaufen bin ich zumindest bei dreien meiner Lieblingspedale angekommen, die auch auf dem Board bleiben, weil sie für mich das optimale bieten; Sound, Verarbeitung, Anschlüsse: Der FULLTONE OCD Version 3 ist für mich ein absolut überzeugender OD [Overdrive] gerade vor Röhrenamps. [...] Wie auch immer: Jeder hat seine Vorstellung und ich finde es super, dass wir alle so verschiedene Wege finden. Das macht das Ganze doch richtig interessant.«
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ALAN VAN KEEKEN physical issues, but you don't give up. I just keep testing out and I am still very satisfied with my existing stuff« (»telly45« 2016, transl. by AvK).10 Gear acquisition syndrome (GAS) presents one common pattern of consumption in this »relentless pursuit«. This »compulsive and unrelenting urge [is] triggered by the endless search for the ›magic tone‹, to buy and own gear as an anticipated catalyst of creative energy and bringer of happiness« (Herbst 2017: 139f.). Many posts used this term to describe their search for the right effect pedal (combination). Brand categories like boutique constantly change the role and relation of value among the different products and their associated components. Historically, the introduction of the boutique segment of pedals and the evolution of some boutique companies into post-boutique brands has produced even more of these relations. According to Eva Illouz, this development of new categories enables the »refinement« (Illouz 2009: 402) of consumption. Additionally, it complicates yet encourages the quest for that all-important »right« tone.
Uncertain Knowledge, Reflexivity, and Sociality in the Artifact Community The brand types reconstructed from pedalboard.org, musiker-board.de, guitarworld.de, and gitarrenbu.de operate as stable (cultural) categories and provide orientation for the artifact community. But users also challenged the clear boundaries and demarcations between the different brand types, rejecting hierarchies of value or the ethical implications of consumption and use. As hinted at in the introduction, members of the artifact community have even disavowed the term boutique and some have suggested alternatives. On the other side, there are also instances of negotiation, where members try to smooth over a discussion or mollify dissenting views, endeavoring thereby to contribute to a respectful atmosphere in the forums. One source of differing views regarding the various effect pedal brands is a general uncertainty about the technological and economic criteria applied in constructing the categories. Not all members of the artifact community 10 German original: »Ich bin mit den Sounds aus Amp und den bunten Zerrerkistchen davor grundsätzlich schon zufrieden, aber ich habe eigentlich am liebsten nur noch ein bisschen Delay dazu, und fertig. Und ein weiteres wesentliches Thema dabei ist für mich, dass das ganze einigermaßen leise und einigermaßen laut gleichermaßen gut klingt. Wahrscheinlich ist das alles physikalisch und technisch und so weiter gar nicht möglich, aber man gibt die Hoffnung ja nicht auf, und so teste ich halt weiter und bin mit meinen vorhandenen Sachen dennoch sehr zufrieden.«
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AN EXPLORATIVE NETNOGRAPHY OF GERMAN (GUITAR) EFFECT PEDAL FORUMS can interpret circuit diagrams or identify certain parts, nor verify statements about how different pedals are produced. After all, there are no comparable certificates attesting to the fulfillment of workplace safety conditions, pay requirements or other standards like sustainability practices (Balderjahn/ Peyer 2012: 349) that would be presumed to signal fair production methods. In the case of boutique pedals I found many users doubting the use of high-quality, better sounding components: »The HB/JOYO pedals contain the same technology as many boutique pedals, only that there is just a) a bonus for the name b) small quantities and other conditions still come on top, which drives the price up. [...] e.g. mostly you see the same footswitches in 80% of all boutique pedals« (»Sele« 2012, transl. by AvK).11 Another source of doubt is the self-awareness of the artifact community as they reflect upon their own (guitar-effect specific) consumerist behavior. For many users, the proliferation and ubiquitous use of the term boutique is seen as problematic. In their view it loses its former connotations and is increasingly used as a term of insult. An example of boutique being used as a derogatory term can be found among the so-called »No Boutique« groups found in some of the forums investigated. Members of these groups opt to use cheap, self-built or mass market pedals and present them as a form of understatement. Together with the development of the post-boutique category, this change in connotation has led to users becoming less satisfied with the term boutique and perhaps even suggesting alternative labels: »The word ›boutique‹ makes no sense anymore. I prefer to call it ›hand-built‹ or ›customized‹. Boutique has increasingly degenerated into a swear word like ›vintage‹...« (»Rainer P.« 2017, transl. by AvK).12 Additionally, users criticize the marketing strategies of manufacturers, who exploit the unprotected label »boutique« without adhering to the high standards associated with this brand category: »I would find genuine [...] boutique goods [...] great. I find this mass production with shiny marketing rhetoric very tiresome. It's a shame that every new 11 German original: »In den HB/JOYO Tretern steckt das gleiche wie in vielen Boutique Pedalen, nur das dort eben a) ein Bonus für den Namen b) kleine Mengen und andere Randbedingungen noch drauf kommen, die den Preis dann in die Höhe treiben. [...] z. B. sieht man in den Tretern den gleichen Fußschalter wie in 80% aller Boutique Pedale.« 12 German original: »das Wort ›Boutique‹ finde ich eh total fehl am Platz. Spreche dann lieber von Manufaktur oder ›Hand built‹ oder ›customized‹... Boutique ist in zunehmendem Maße mehr zu einem Schimpfwort verkommen ähnlich dem ›Vintage‹...«
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ALAN VAN KEEKEN opportunity and every new medium — like YouTube, for example — quickly regresses into a pure money-making machine« (»partcaster« 2017, transl. by AvK).13 These statements illustrate how users challenge the relatively stable framework of effect pedal categories. They also illuminate how the boutique phenomenon's expansion over more than 20 years has resulted in the refinement of product categories as well as the dilution of its former meaning. Users appropriated the term boutique and its associations, the industry caught on to the artifact community's discussions and finally expanded on this basis (partly developing into post-boutique companies). This led in turn to the community acting upon these changes, picking up new impulses for their boundary-defining discourses and other practices that helped to realign the effectscape.
Limitations and Conclusion Technical artifacts like effect pedals represent a crucial part of popular music's material culture. My results show the importance as well as the contested state of brand types like »boutique« in the artifact community that has formed around arguments relating to the perceived pros and cons of various effect pedals. Cultural categories contribute to the highly refined cultural practices of using and consuming stomp boxes and the »search for the tone«. As part of this community discourse, categories like »boutique« exhibit a productivity that enables the effectscape to continually evolve, expand and reproduce. Findings from this paper show how the effectscape is shaped and made manifest by highly engaged users and tinkerers. They form an important part of global as well as local markets and communities and exhibit complex and dynamic patterns of consumption. These transcend empty consumerism, as indicated by some users' arguments about production standards and the seemingly vapid promise of »boutique« connotations. Finally, this study is one of the first to apply Pfadenhauer's sociological approach to artifact communities in the context of a (popular) music culture. However, the study suffers from the usual limitations of qualitative studies carried out with small sample sizes and thematic constrictions — in this 13 German original: »Echte [...] Boutique-Ware fände [...] ich klasse. Diese Massenware mit blumigem Marketing finde ich eben sehr ermüdend. Es ist schade, dass aus jeder neuen Möglichkeit und jedem neuen Medium — wie YouTube z.B. — schnell eine reine Geldmaschine wird.«
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AN EXPLORATIVE NETNOGRAPHY OF GERMAN (GUITAR) EFFECT PEDAL FORUMS case, the discussion about the term boutique. Firstly, I only considered German-language forums and Facebook groups. While I assume that artifact communities in other countries exhibit similar social practices and discussions, this has yet to be proven. Secondly, theoretical saturation — as I tried to reach with the sample — presents a subjective measure. The findings and conclusions should hence be viewed as preliminary, exploratory, and in need of further investigation. Finally, I used the term boutique to focus on the consumption of and attitudes toward effect pedals. Whilst I was surprised by the relative paucity of specific discussion of musical applications in the threads investigated, the findings of Jan Herbst and Jonas Menze suggest that these indeed play a crucial role in what has been critiqued as mere »technoporn« or »gear fetishism« (Bennett 2012: 123). For future studies I therefore aim to combine the results and theoretical considerations with ongoing research projects and findings in the rising field of studies on technical gear in (everyday) music making (Herbst/Menze 2021; Gay 1998).
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Abstract Since their introduction in the early 1960s, effect pedals have become a crucial part of the signal chain of the rock guitarist, shaping sonic aesthetics and musical practice. While the digital revolution made them seemingly obsolete, there remains a diverse array of brands and manufacturers ranging from one-person workshops to big companies. The »productivity« of what I call the »effectscape« is kept alive by a highly engaged group of consumers. They meet online, discussing new and old effect pedals. The »effectscape« is a social and economic world built around these musical devices. This paper takes an exploratory dive into selected German language forums to investigate the role that brands and brand categories, especially the term »boutique«, play in terms of this niche of rock music culture. I use my data set to further insights into the sonic and social practice of rock musicians and how these are mediated through music technology.
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»G E S C H I C H T E S P Ü R E N «. K Ö R P E R L I C H - M A T E R I E L L E KOLLISIONEN UND INDIVIDUALISIERTE ERINNERUNGEN A N D E N Z W E I T E N W E L T K R I E G I M H I P H O P -T R A C K »S T O L P E R S T E I N E « V O N D E R R E I M T E U F E L Thomas Sebastian Köhn Stolpersteine, HipHop und Erinnerungskultur: Eine Einleitung Der Leipziger Rapper Marco Helbig alias Der Reimteufel kombiniert in seinen Tracks Erinnerungen an den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg mit aktuellen Statements zu Rassismus und Diskriminierung. Der 2012 in Zusammenarbeit mit Frank Maier produzierte Track »Stolpersteine« greift das gleichnamige Kunst- und Erinnerungsprojekt des Künstlers Gunter Demnig auf, bei dem in den Boden eingelassene Messingplatten mit eingravierten Namen an Opfer der NS-Zeit erinnern. In der Musik, den Lyrics und dem begleitenden Musikvideo spielen Stolpersteine eine wichtige Rolle: Körperlich-sinnliche Interaktionen mit ihnen und anderen Materialien werden als Verbindungselement zwischen der Geschichte des Holocaust und einem aktivistischen Anti-Rassismus in der Gegenwart konzipiert. In diesem Artikel werde ich analysieren, wie Erinnerungen an den Holocaust und an den Zweiten Weltkrieg im Track und im Video thematisiert werden und welche Rolle körperlichmaterielle Interaktionen hierbei spielen. Nach einer Darstellung des aktuellen Forschungstandes zu Erinnerungskultur und HipHop werde ich im ersten Themenkomplex das Konzept des Kunst- und Erinnerungsprojektes »Stolpersteine« darstellen und mit Fokus auf körperlich-materielle Interaktionen theoretisieren und an Musik anknüpfen. Im zweiten Themenkomplex analysiere ich, wie diese Interaktionen mit Stolpersteinen Erinnerungsbilder im Track evozieren und wie Musik dazu beiträgt. Im dritten Abschnitt werde ich das Konzept der Stolpersteine als individualisierte und aktivistische Erinnerungskultur analysieren und Parallelen zu einer
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THOMAS SEBASTIAN KÖHN individualisierten Musikästhetik im Track ziehen. Anschließend werde ich diskutieren, inwiefern der Track selbst als Material aufgefasst werden kann, mit dem interagiert wird, und inwiefern er selbst als musikalischer Stolperstein verstanden werden kann. Mittels dieses Tracks lassen sich — so ein Ziel des Artikels — produktive Syntheseleistungen der Bereiche Musikwissenschaft, Cultural Memory Studies und materielle Kultur generieren. Neben frühen Studien, die musikalische Wiederholungen in Stücken im Kontext von Erinnerung bzw. Erinnerbarkeit untersuchen (u.a. Sloboda 1985, Storr 1992), beziehen Studien ab der Jahrtausendwende Themenfelder wie die soziale und individuelle Rekonstruktion von Vergangenheit mittels Musik mit ein (u.a. Kenney 1999, Tacchi 2003, DeNora 2000), wobei einige Studien einen Fokus auf klangproduzierende Technologie legen (Bull 2000, van Dijck 2006). Noch 2016 wurde durch die Musikwissenschaftlerin Melanie Unseld auf das Forschungsdesiderat Musik und Erinnerung sowie auf die Potentiale des Zusammendenkens von Musikwissenschaft und Cultural Memory Studies hingewiesen (Unseld 2016, s. auch Nieper/Schmitz 2016). Zeitgleich kann ein starker Zuwachs an wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Musik und Erinnerungen verzeichnet werden, zu denen themenbezogene Sammelbände einen Eindruck über die Vielfalt von Forschungsfeldern, Disziplinen und Perspektiven geben (vgl. z.B. Fischer/Wiedmeyer 2014, Brandellero et al. 2014, Bennett/Janssen 2017, Jost/Sebald 2020). In verschiedenen Studien, die Holocausterinnerungen im HipHop aufgreifen, werden Ansätze der Cultural Memory Studies integriert. Dazu gehören Michel Foucaults Überlegungen zu Countermemory in Analysen von »BlackJewish sites of memory« im US-amerikanischen Rap (Wegner 2020: 1220) sowie Analysen von Diskursen im HipHop mit Beziehung zu »Rassifizierung« und Critical Whiteness im Europa nach dem Zweiten Weltkrieg (El Tayeb 2015). Eine weitere Studie (Crowdus 2019) greift auf Maurice Halbwachs' Konzept der kollektiven Erinnerung und auf Yael Zerubavels Ansatz der ideologischen kollektiven Erinnerungen zurück um zu zeigen, wie Erinnerungen Schnittstellen zu aktueller Marginalisierung und Diasporaerfahrungen ermöglichen. Ferner wird in mehreren Arbeiten (Stratton 2016, 2017) ein Konzept des Samplings aufgegriffen, mit dem sich u.a. HipHop-Tracks als Montagen beschreiben lassen, in denen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg mit anderen historischen und politischen Thematiken bzw. »Fragmenten« (Stratton 2016) kombiniert und so neu verhandelt werden. Die jüngst erschienene Special Issue der Zeitschrift Music and Politics (Ringsmut/König 2021) behandelt Erinnerungen an den Nationalsozialismus und an den Holocaust in aktueller Musik in Deutschland, darunter Musik von in Köln lebenden Sinti und Roma (Ringsmut
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»GESCHICHTE SPÜREN« 2021), Punk Rock (König 2021) und Hip-Hop (Köhn 2021, Schoop 2021). Dabei werden die Konzepte Multidirectional Musical Memory Work (Schoop 2021), Reverberation (König 2021) und (Counter-)Narrative (Köhn 2021) entwickelt. Trotz des schnell wachsenden Forschungsfeldes gibt es bislang keine Untersuchungen zum Verhältnis von Erinnerungen an den Nationalsozialismus und erinnerungsbezogenen Materialitäten wie den Stolpersteinen und HipHop. Dieses Thema erscheint besonders vor dem Hintergrund des Sterbens der Zeitzeug*innengeneration und der damit einhergehenden »Post-Witness Era« (Popescu/Schult 2015) als besonders relevant. Die Dringlichkeit des Themas wird durch das vermehrte Aufkommen rechtsextremistischer und -populistischer Gruppierungen, die z.T. auf populäre Musik zurückgreifen, verstärkt (vgl. z.B. Dunkel/Schiller/Schwenck 2021, Mecking/Schwartz/Wasserlos 2021, Dunkel/Schiller 2022). Das Ziel dieses Artikels ist es daher, Perspektiven der HipHop Studies (Kautny 2009, Stratton 2017, Williams 2015), der Musik- und Soundanalyse (Binas-Preisendörfer 2018, Moore 2012 u. 2019, Spitzer 2019) und der material- und medienfokussierenden Cultural Memory Studies (Erll 2017, Freeman et al. 2016, Golańska 2020, Rigney 2016, Suganda 2020) in dieser Fallstudie zu kombinieren, um zu analysieren, wie Erinnerungen an den Nationalsozialismus im HipHop-Track »Stolpersteine« verhandelt werden.
Stolpersteine und körperlich-materielle Kollisionen: Überblick und Theoretisierung Das Verlegen von Stolpersteinen geht auf die 1992 gegründete Initiative »Stolperschwelle« des Berliner Künstlers Gunter Demnig (*1947) zurück. Stolpersteine bestehen aus Messingplatten, auf denen jeweils der Name eines Opfers des Holocaust, sein Geburts-, Deportations- und Ermordungsdatum eingraviert sind. Im Kontext des Projektes werden die Steine in den Boden vor dem letzten Wohnort des jeweiligen Opfers eingelassen. In der Anfangsphase war das Projekt auf deutsche Innenstädte und jüdische Opfer des Nationalsozialismus begrenzt. In den späten 1990er Jahren wurde es auf europäische Städte ausgeweitet und für alle Opfer des Nationalsozialismus geöffnet (Suganda 2020: 716). Stolpersteine sind konzeptionell von anderen Mahnmalen abzugrenzen: Durch die Eingravierung einzelner Namen fokussieren sie nicht auf Opferkollektive, sondern bringen einzelne Opfer in Erinnerungsdiskurse (ebd.: 722). Durch die Platzierung der Messingplatten vor den jeweiligen Wohnhäusern der
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THOMAS SEBASTIAN KÖHN Opfer bleibt es ferner nicht beim Erinnern einer Vielzahl von Namen und Daten, sondern das private und individuelle Leben der Opfer bis Ermordung bzw. zur Deportation gelangt so in den Vordergrund. Die Beschaffenheit der Stolpersteine erfordert von Passant*innen eine direkte Interaktion: Sie sind unauffällig und auffällig zugleich: Ihre Maße von 10 x 10 cm sind identisch mit konventionellen Pflastersteinen, sodass sie schnell übersehen werden können. Durch die Bronzefarbe und den eingravierten Text heben sie sich jedoch — wenn auch dezent — ab und fallen so ins Auge. Um den eingravierten Text lesen zu können, müssen Passant*innen stehenbleiben und sich bücken; sie interagieren mit den Stolpersteinen. Ihre physische Beschaffenheit hat auch taktile Besonderheiten, wodurch sie sich vom Umfeld abgrenzen: Das glatte und kalte Metall bildet einen Gegenpol zu den umliegenden Steinen — häufig Asphalt oder Gehweglatten aus rauem Beton. Der eingravierte Text wirft taktile Fragen auf: Ist es eine Gravur oder ein Druck? Wie fühlt sich der Text an? Die Stolpersteine laden so zur direkten Interaktion — dem Anfassen — ein. Auch hierbei entsteht ein Gegenpol zum gewöhnlichen Passieren oder Darüberlaufen: Aus unterschiedlichen — z.B. hygienischen — Gründen wird der Gehweg häufig nicht berührt. Im Fall der Stolpersteine führt ihre Beschaffenheit dazu, mit diesen Konventionen zu brechen und Berührung als unkonventionelle Erinnerungspraktik zu evozieren. Jeder der auf den Steinen eingravierten Texte wird mit Worten wie »Hier wohnte«, »Hier arbeitete« etc. eingeleitet. Die Steine stellen so über den Text hinaus eine Beziehung zur physischen Umgebung her, sodass das Stehenbleiben in ein Sich-Umschauen und Reflektieren mündet: In welchem Haus genau hat der Mensch gewohnt? Wie war es, dort zu wohnen und zu leben? Was passierte bei der Deportation und was haben die anderen hier wohnenden Menschen in diesem Moment gedacht und getan? (vgl. ebd.: 720). An dieser Form der Erinnerungspraxis sind Menschen und Dinge gleichermaßen beteiligt. In ihrer Studie »Bodily Collisions« zu dem Mahnmal für die ermordeten Juden Europas und dem Garden of Exile in Berlin konzipiert Dorota Golańska die Interaktion zwischen Menschen und den Mahnmalen als Kollision: »[T]his collision is always already material-semiotic; it involves a corporeal material sensing, that is, physicality of the encounter, as well as a semiotic procedure where materiality becomes equipped with meaning which, at the same time, it makes possible. This is how matter matters« (Golańska 2020: 80, Herv. i. O.).
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»GESCHICHTE SPÜREN« Als Beispiel fügt Golańska an, wie Besucher*innen des Mahnmals für die ermordeten Juden durch aufgestellte Steinwände navigieren und durch die Anordnung von Materialitäten zunehmend orientierungslos werden, was für sie zu einer unangenehmen Erfahrung wird (ebd.: 81). Auch die oben dargestellte Interaktion von Passant*innen und Stolpersteinen lässt sich als ebensolche Kollision konzipieren: Stolpersteine beeinflussen das »einfache« Vorbeigehen zugunsten einer Reflexion über die Opfer des Holocausts. Es entstehen auch hier materiell-semiotische Wechselwirkungen zwischen Menschen, Materialität und Erinnerung, die ich nach Golańska als körperlich-materielle Kollision bezeichnen werde. (Wie) lässt sich das Konzept der Kollision auf Musik übertragen? Zunächst handelt es sich bei Musik und bei auditiven Phänomenen generell um physikalische Schwingungen, die über das Medium Luft übertragen werden und über das Gehör in elektrische Impulse umgewandelt werden, die wiederum neurologisch verarbeitet werden. Materialität spielt bereits hier auf vielen Ebenen eine zentrale Rolle — sei es in Bezug zu Schallwellen, zum Medium Luft oder zum menschlichen Gehör. Auch bei der Produktion von Musik — im Sinne des Hervorbringens von Schall im weitesten Sinn — sind Materialitäten gefragt: von der Schallplatte über Apparaturen und Instrumenten bis hin zum musikalischen und auditiven Material. Im Vergleich zu vielen anderen HipHop-Stücken, die Erinnerungen an den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg thematisieren1, ist die Besonderheit des Stückes »Stolpersteine«, dass es primär als Dokumentation von Kollisionen konzipiert ist: Das Stück handelt davon, wie Helbig sich in einer körperlichen und materiell-semiotischen Wechselwirkung und Interaktion mit Stolpersteinen befindet. Diese Kollisionen, die auf mehreren medialen Ebenen (Lyrics, Musik, Video) verarbeitet werden, sind von zentraler Relevanz in der folgenden Analyse. Hierfür kombiniere ich Wolfgang Hallets Verständnis von Wide Reading (Hallet 2010), das »Materialisierungen von Kultur in textueller oder anderer symbolischer (z.B. visueller) Form« (ebd.: 299) in den Blick nimmt, mit Astrid Erlls Ansatz der Remediation (Erll 2017: 160). Dies ermöglicht eine
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Im HipHop gibt es eine Vielzahl von Tracks, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust auseinandersetzen. Dazu gehören unter vielen anderen » How we gonna make the Black Nation Rise« von Brother D und Collective Effort (1980), »Never Again« vom US-amerikanischen Rapper Remedy (1998) sowie, aktueller, »Edek«, eine Kollaboration des Rappers Kapoo mit der Zeitzeugin Janine Webber (2018) (vgl. Schoop/Köhn/Ringsmut 2021). Im deutschsprachigen Raum zählen mehrere Tracks des Berliner Rappers Ben Salomo dazu sowie »Berlin — Tel Aviv« von Max Herre (2012) und ein ebenfalls »Stolpersteine« betitelter Track von Trettmann (2019).
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THOMAS SEBASTIAN KÖHN Perspektive auf den Track, welche erstens die verschiedenen medialen Materialisierungen des Tracks in den Blick nehmen kann: Musik, Sound, Lyrics und Video. Da diese sich aufeinander beziehen, wird in der Analyse ein Schwerpunkt auf die intermedialen Relationen dieser musikalischen Materialisierungen gelegt. Diskurse im Kontext der Stolpersteine, die in Lyrics und Bildern verhandelt werden, werden mittels der drei Analyseebenen Oberfläche, Einzelstimmen und Einzelstimmen-Wechselbeziehung nach Bernhard Steinbrecher (2016), auf die Musik bezogen. So können intermediale Beziehungen zwischen der musikalischen Makroebene, wie z.B. der musikalischen Form, und der Mikroebene (ebd.: 136), wie z.B. melodische und rhythmische Motive, Samples und Flow (Kautny 2009) herausgearbeitet und auf die erinnerungsrelevanten Diskurse in Lyrics und Video bezogen werden. Bei den Analysen greife ich auf Daten aus semistrukturierten Interviews (Flick 2017) zurück, die ich 2019 mit Marco Helbig in Leipzig geführt habe. Zweitens kann der Track mit dem Konzept der Remediation als »Akt der Mediatisierung basier[end] auf vorgängigen Akten der Mediatisierung« verstanden werden (Erll 2017: 160). So kann die im Track kontextualisierte Stolpersteinthematik auf das Konzept des Kunst- und Erinnerungsprojektes der Stolpersteine als Ganzes bezogen werden.
Übersicht über den Track
»Stolpersteine«
Bei einer Gesamtlänge von 3:34 Minuten besteht der Track aus drei Strophen, einem Intro und einer Hook, die zwischen den Strophen wiederholt und am Ende des Tracks zweimal gespielt wird. Die Strophen lassen sich jeweils drei verschiedenen Themenschwerpunkten zuordnen, die über die Stolpersteinthematik miteinander verbunden sind. Die erste Strophe behandelt die persönliche Beziehung Helbigs zu den Stolpersteinen und zum Erinnern an den Holocaust. Darstellungen von Deportationen rücken in der zweiten Strophe in den Vordergrund, bei denen Gewaltszenarien aus der Perspektive von Opfern geschildert werden. In der dritten Strophe wird das Konzept des Erinnerns mittels Stolpersteinen auf die Gegenwart bzw. die jüngere Geschichte bezogen. Hierbei wird an rechtsextremistisch motivierte Morde in Leipzig erinnert und kritisch Stellung zu Machtmissbrauch, Verfolgung und Diskriminierung bezogen. Das Musikvideo unterstützt die wesentlichen Thematiken und Aussagen der Lyrics. Helbig wird im Video überwiegend rappend gezeigt. In einigen Szenen im zweiten Teil des Videos ist Suncalina zu sehen — eine Aktivistin aus Leipzig, die sich gegen Rassismus und Diskriminierung einsetzt und an der
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»GESCHICHTE SPÜREN« Videoproduktion beteiligt war. Körperliche Interaktionen mit Stolpersteinen und weiteren erinnerungsbezogenen Materialitäten werden im Laufe des Videos häufig dargestellt. Ferner werden im letzten Teil mittels Materialitäten Holocausterinnerungen zu aktueller rechtsextremer Gewalt kritisch in Beziehung gesetzt. Auf musikalischer Ebene weist der Track eine Struktur auf, wie sie im HipHop üblich ist. Das Intro besteht aus vier Takten. Am Ende der Strophen und der Hooks fungiert ein Extratakt als Hinauszögerung des jeweils nachfolgenden Formteils. Die Strophen und Hooks haben dementsprechend eine Länge von 16+1, bzw. 4+1 Takten. Auf diese Besonderheit wird im Laufe der Analysen gesondert eingegangen. Das Tempo des Tracks liegt durchgängig bei 104 bpm und die zugrundeliegende Akkordprogression basiert auf einem i – iv – bIII – bVII-Vamp in f-Moll. Der Beat besteht aus einem Drum-Sample, das in der Hook gegenüber der Strophe leicht variiert wird. Diese Variationen betreffen den Einsatz einer zweiten Hi-Hat in den Takten 9-16 in den Strophen, leicht veränderte Bass Drum-Patterns in Strophen und Hook sowie einem Half Time-Feel in der dritten Strophe, das mit verschiedenen Effekten versehen ist und auf das noch gesondert eingegangen wird. Ein sich wiederholendes Bass-Pattern unterstreicht die Grundtöne der Akkorde und die Akzente der Bass Drum. Keyboard-Patterns bilden das harmonische Gerüst des Tracks und greifen hierfür die Dreiklänge des Vamps auf und spielen diese in leicht variierenden Rhythmen. Der Beat beinhaltet an einigen Stellen kürzere Stops sowie ein häufig auftretendes Gesangsmotiv; auf beides werde ich noch detaillierter eingehen. Helbigs Rap steht klanglich im Vordergrund und orientiert sich im Wesentlichen am im Rap gängigen Konzept des Flows (vgl. z.B. Kautny 2009). Generell wirkt die Stimme wenig produktionstechnisch bearbeitet und weist eine druckvolle Distortion auf, die stimmphysiologisch und nicht technisch produziert wird. Effekte wie Echo, Delay und Aufteilungen im Stereopanorama werden nur sehr begrenzt an ausgewählten Stellen des Raps eingesetzt. Auf die einzelnen Aspekte des Raps wird in den Analysen detaillierter eingegangen.
Geschichte spüren: Darstellungen körperlichmaterieller Kollisionen im Track Darstellungen von körperlich-materiellen Interaktionen mit Stolpersteinen spielen durch den ganzen Track hindurch eine zentrale Rolle. Hierbei wird das Material nicht nur im Rap thematisiert und im Video gezeigt, sondern es finden physische und körperliche Interaktionen mit ihnen statt. Zwei zentrale
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THOMAS SEBASTIAN KÖHN Interaktionen mit Stolpersteinen sind das Berühren und Laufen. Diese werden in der Hook thematisiert: »Und ich lauf' durch die Stadt / Kann das Leben spüren / [...] / Kann das Messing berühren / [...] / kann es aber nicht verstehen / [...] / Kann nur die Namen sehen«. Beim Laufen handelt es sich nicht um ein willkürliches Flanieren im Stadtraum; am Ende der ersten Strophe wird ersichtlich, dass es sich um ein Laufen zur Verbindung der Stolpersteine handelt: »Und ich schreite sie ab: die Steine der Erinnerung«. Das Berühren der Stolpersteine wird durch das Musikvideo in mehreren Nahaufnahmen hervorgehoben. Dabei ist der Stolperstein jeweils so im Bild positioniert, dass die eingravierten Daten gelesen werden können. Ferner wird Helbigs Hand in Nahaufnahme gezeigt, wie sie die Stolpersteine berührt. Eigenen Aussagen zufolge geht es ihm bei den Berührungen darum, »Geschichte zu spüren«: »Manche Sachen erfährt man nur, wenn man sie anfasst. Oder nah dran ist. Geschichte, das muss erfahrbar gemacht werden und auch spürbar [...]. Und wenn man es angefasst hat, dann ist man noch ein bisschen näher dran manchmal« (Helbig 2019). Die Stolpersteine werden hier als Materialitäten konzipiert, mittels derer eine Brücke zwischen Geschichte und Gegenwart geschlagen wird, um den Holocaust besser zu »verstehen«, wie es in der Hook ausgedrückt wird. Von zentraler Relevanz ist die Line »kann das Leben spüren«, in der deutlich wird, wie das Prinzip der Kollision (Golańska 2020) mit Stolpersteinen in den Track integriert wird. Für Helbig sind diese mehr als bloßes Material — mehr als »Messingplatten« —, sondern er kann das Leben der Opfer hinter den Stolpersteinen körperlich spüren. Diese taktile Ebene, das anfangs beschriebene Berühren des glatten Metalls und der eingravierten Schrift, öffnet so eine zusätzliche körperliche Perspektive im Umgang mit dem Holocaust, die das Lesen der Namen ergänzt. Einem als nicht praktikabel erkannten kognitiven Zugang wird die körperlich-materiale Kollision als sensorischer und emotionaler Zugang — oder mit Golańska (2020: 80): »corporeal material sensing« — zur Seite gestellt. Die Dichotomie zwischen kognitivem Verstehen und einem sensorischen Spüren des Holocausts lässt sich an das Konzept des traumatischen Ortes nach Aleida Assmann anschließen: »Anders als Denkmäler auf neutralem Boden und errichtete Orte des Gedenkens sind diese traumatischen Orte vielschichtig, uneindeutig, von unterschiedlichen Erinnerungen und Deutungen besetzt« (Assmann 2018: 221). Einerseits kann der im Musikvideo repräsentierte Leipziger Stadtraum durch die Vielzahl an Deportationen und Ermordungen durchaus als traumatischer Ort bezeichnet werden. Der Aspekt, dass der Stadtraum sowohl im Video als auch allgemein nicht nur für das Erinnern an den Holocaust verwendet wird, sondern auch für diverse andere Aspekte des täglichen
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»GESCHICHTE SPÜREN« Lebens, wird auch von Helbig im Interview genannt (Helbig 2019). Der Ort wird so vielschichtig und uneindeutig: Fehlende symbolische Repräsentationen (bzw. unendlich viele) erhöhen die Komplexität des traumatischen Ortes, was zu einer Überdeterminierung und Multiperspektivität führt (vgl. Assmann 2018: 225). Auch im Konzept des traumatischen Ortes nach Assmann ergänzt die sensorische Ebene die kognitive Auseinandersetzung mit Erinnerungen: »Sinnliche Konkretion und affektive Kolorierung sollen die rein kognitive Erfassung eines vergangenen Ereignisses im Sinne einer persönlichen Erfahrung, Auseinandersetzung und Aneignung vertiefen« (ebd.: 223). Dies bestärkt den Interpretationsansatz, dass das Spüren von Geschichte die kognitive Auseinandersetzung mit dem Holocaust unterstützt. Die für den Track zentrale Thematik Geschichte spüren wird musikästhetisch auf mehreren Ebenen betont. Zunächst rückt sie dadurch in den Vordergrund, dass sie in der Hook thematisiert wird — dem Formteil, der mehrfach wiederholt wird und musikalisch über die höchste Intensität verfügt. Der Calland-Response-Aufbau der Hook unterstützt die Aussagekraft dieser Thematik noch weiter. Der Call »Und ich lauf' durch die Stadt« ist die einzige Line, die sich im Track mehrfach wiederholt. Diese Line ist am Ende jeder Hook mit einem Halleffekt versehen und zusätzlich erhöht sich Helbigs Stimme an dieser Stelle, wodurch der Effekt eines Rufs oder Schreis entsteht. Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, dass zeitgleich im Arrangement ein Stop stattfindet. Bei diesem Stilmittel pausieren die Instrumente, sodass der Rap in den Vordergrund tritt. In den Antwortphrasen werden jeweils die Themen ›Leben spüren‹, die körperlich-materielle Kollision mit den Stolpersteinen und die kognitiv-sinnliche Dichotomie thematisiert. Musikalisch werden diese Antwortphrasen durch eine Reihe von Parametern hervorgehoben. Zunächst wurden die gerappten Antwortphrasen von Helbig doppelt aufgenommen, sodass in der Aufnahme zwei Audiospuren übereinanderliegen. Diese sind im Stereopanorama auf den linken und rechten Kanal aufgeteilt und etwas leiser gestellt, wodurch der Effekt einer räumlichen Tiefe entsteht. Durch diese beiden Aspekte — Dopplung und räumliche Weite der Antwortphrasen — entsteht die Simulation einer Menschenmenge (Crowd), die — wie bei einem Konzert — diese Phrasen mitrappt.
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Körperlich-materielle Kollisionen mit Stolpersteinen evozieren emotional aufgeladene Erinnerungsbilder Die körperlich-sinnlichen Kollisionen mit Stolpersteinen sind eng verbunden mit Erinnerungsbildern, deren Konzept und Ausformungen im Track entwickelt werden. Im Folgenden werde ich herausstellen, wie diese Erinnerungsbilder konstituiert sind und wie diese mit körperlichen-materiellen Interaktionen verwoben sind. Erinnerungsbilder werden gleich zu Beginn des Tracks thematisiert: »Es ist mein Leben, meine Geschichte / [...] Ich nehme meinen Stift, meine Schrift / meine Bilder aus mir / und schon seht ihr / kein Vergleich ist angebracht«. Durch die Betonung, dass es sich um Bilder ›aus ihm‹ handelt, wird deutlich, dass Helbig hier reflektiert, dass es sich um subjektive Konstruktionen von Erinnerungsbildern in der Gegenwart handelt. Helbig wird so selbst zum Akteur bei der Konstruktion der Erinnerungsbilder. Die thematisierten Bilder lassen sich an das Konzept von medialen Erinnerungsbildern anschließen, welches die Literaturwissenschaftlerin Dorota Kaczmarek in ihrer Studie zum deutsch-polnischen Diskurs um Vertriebene nutzt. Hierbei handelt es sich um »die Art und Weise, wie die Medien im genannten Vertriebenen-Diskurs(ausschnitt) über das kollektive Erinnern sprechen« (Kaczmarek 2020: 429). Da diese Erinnerungsbilder jedoch nicht nur über Sprache, sondern auch über Musik und Bilder konstruiert werden, verstehe ich das »Sprechen« hier als eine unter vielen diskursiven Praxen, sodass Musik und Bilder integrierbar werden. Kaczmarek fasst unter Erinnerungsbilder ein dreigliedriges Modell: Subjekte des Erinnerns sind »Medienakteure« (ebd.: 434), die Erinnerungsbilder formen und kommunizieren; Erinnerungsgegenstände sind Themen, die verhandelt werden, und das mediale Sprechen kontextualisiert Erinnerungsmedien (ebd.), mittels derer Erinnerungen konstruiert und vermittelt werden (ebd.: 435). Im Track werden mit »Stift und Schrift« die Werkzeuge ins Zentrum des Erinnerungsbildes gebracht, mittels derer die subjektiven Bilder erst zu Schrift und dann zu Rap werden. Es werden so die Übersetzungs- und Transformationsprozesse thematisiert, die die ›inneren Bilder‹ durchlaufen, um zu den Hörenden zu gelangen. Erinnerungsbilder sind dementsprechend gekennzeichnet von Fluidität und Prozesshaftigkeit und werden folglich nicht als starr, sondern als veränderbar reflektiert. Die Anglistin Astrid Erll bezeichnet dies als »Travelling Memory« (Erll 2011, s. auch Erll 2017: 125f.).
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»GESCHICHTE SPÜREN« Auf der Ebene des Erinnerungsgegenstands (Kaczmarek 2020) handelt es sich bei den Erinnerungsbildern um Darstellungen von Deportationen aus Opferperspektiven, die von Helbig gerappt werden. Gewaltszenarien während der Deportationen und nostalgisch anmutende Erinnerungsbilder von der Zeit vor dem Holocaust, die im weiteren Verlauf konkretisiert werden, stehen einander kontrastierend gegenüber. Ferner sind körperlich-materielle Kollisionen zentral, die die emotional aufgeladenen Erinnerungsbilder evozieren: »Menschen verschwanden, ließen alles zurück / Es sind Bilder, Kleider, Erinnerungen an Glück / Wie verrückt wird geschrien und in Züge eingepfercht / Dicht an dicht, kaum Luft zum Atmen / Kaum Licht und von der Flucht zu träumen hilft nicht / Es rattern Züge durch das Land / Ich berühre die Platten mit meiner Hand / Es raubt mir den Verstand / Kann die Bilder nicht ansehen« Mit Kautnys Konzept des Flows (2009) lassen sich hier musikästhetische Aspekte in den Fokus rücken, mittels derer zentrale Begriffe des Erinnerungsbildes hervorgehoben werden. Im Folgenden beziehen sich die Unterstreichungen auf die Betonungen im Rap, die durch eine höhere Intonation in der Stimme erzeugt werden:
Abb. 1: Betonungen und Intonation im Rap, zweite Strophe (ab 01:10)
Wie hier ersichtlich wird, werden die Deportationen, Dinge des Alltäglichen, ein nostalgisch-kontrastierendes Bild der Zeit vor dem Holocaust und die Gewalterfahrung während der Deportationen durch die höhere Intonation besonders betont. An einigen Stellen werden solche Betonungen ferner durch Reime, wie »zurück — Glück — verrückt« verstärkt, was einen zusätzlichen Parameter des Flows zur Hervorhebung des Erinnerungsbildes bildet. Auch die Positionierung eines Großteils der Schlüsselwörter auf schweren Zählzeiten, wie es oben zu sehen ist, trägt zu dem Bild bei. Ferner lassen sich an einigen Stellen rhythmische Muster im Rap erkennen, die einzelne Bestandteile des Erinnerungsbildes hervorheben. Dies ist bspw. bei der Aufzählung »Bilder, Kleider, Erinnerungen« der Fall. Rhythmisch sind die Begriffe »Bilder« und »Kleider« mittels zweier Sechzehntelnoten und einer darauffolgenden Achtelpause gerappt, die auf der ersten und zweiten Zählzeit liegen. Durch die Wiederholung dieser rhythmischen Figur werden die Begriffe zentralisiert. Bei
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THOMAS SEBASTIAN KÖHN »Erinnerungen« handelt es sich ferner um eine Variation dieser rhythmischen Figur, sodass auch hier von einer Hervorhebung im Kontext des Flows gesprochen werden kann. Für das klaustrophobisch und hoffnungslos anmutende Erinnerungsbild in den oben dargestellten Lyrics spielen neben den Kollisionen mit Stolpersteinen noch weitere körperlich-materielle Begegnungen eine Rolle: Erstens lässt sich die in den Lyrics dargestellte Enge im Zug als körperlich-materielle Kollision beschreiben. Das ›dicht and dicht eingepfercht sein‹ in Kombination mit »kaum Luft zum Atmen« beschreibt die extreme Situation, in der sich nicht nur die Deportierten begegnen, sondern in der auch die stickige Luft im Zug zum Material wird, mit dem jede*r der Deportierten kollidiert. Die Enge im Zugwaggon wird auch von Helbig im Interview hervorgehoben: »Man muss sich auch vorstellen, dass da so viele Leute in dem Zugwaggon drin waren, dass die nicht mal sitzen konnten« (Helbig 2019). Dies ist insofern von Interesse, als dass die körperlich-materielle Kollision der Berührung mit den Stolpersteinen Bilder evoziert, in denen wiederum Darstellungen körperlich-materieller Beziehungen eine Rolle spielen. Zweitens lassen sich der in den Lyrics erwähnte Zug und die Kleider als Materialitäten beschreiben, die durch körperlich-materielle Kollisionen zusätzlich zu den Stolpersteinen eine Funktion als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart erhalten. Diese lassen sich durch intermediale Bezüge zwischen Lyrics und Video beschreiben: Ab Minute 1:17 wird im Video ein Zugwaggon aus der NS-Zeit gezeigt, in den Helbig einsteigt und dessen morsches Holz er berührt. Die hohe Bedeutung der visuellen Darstellung des Waggons für die Konstruktion des Erinnerungsbildes wird im Interview deutlich: »Und um das im Bild irgendwie rüber kommen zu lassen, war es auch wichtig, dass man das symbolisch darstellt. Wir [...] wollten das möglichst wenig pathetisch machen und dann wollte ich nicht so ein Standard Rap Video machen, wo da jemand steht und einen Rap Text runter rappt und so ein' auf cool macht« (Helbig 2019). Die Intention, ein ›möglichst wenig pathetisches‹ Erinnerungsbild entwerfen zu wollen, kann hier als Konstruktion einer Authentizität gelesen werden, zu der die körperlich-materielle Kollision mit dem Zugwaggon beiträgt. Dies ist nach Kaczmarek ein Bestandteil des Erinnerungsbildes (2020: 439). Anders als bei den Stolpersteinen handelt es sich bei dem Zug um ein Artefakt des Holocausts. Die körperlich-materielle Kollision Helbigs mit dem Material des Zuges ermöglicht eine weitere Qualität für den körperlich-materiellen Zugang zum Holocaust und zur Verbindung von Geschichte und Gegenwart.
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»GESCHICHTE SPÜREN« Drittens werden auch die in den Lyrics erwähnten Kleider durch intermediale Bezüge zum Musikvideo zu Materialitäten, die Gegenwart und Vergangenheit miteinander verbinden. Helbig und Suncalina sind in schwarz-weiß gefilmten Szenen in historischer Kleidung zu sehen, wie sie auf der Straße im Kontext der bevorstehenden Deportation Helbigs ein letztes Mal voneinander Abschied nehmen. Helbig trägt Anzug und Hut und Suncalina trägt ein Kleid — beide im Stil der 1940er Jahre. Neben der schwarz-weißen Färbung des Videos sind es die Kleider, die darauf verweisen, dass es sich um eine historische Inszenierung handelt. Ähnlich wie die Interaktion mit dem Zug kann das Tragen der Kleider hier als materielle-körperliche Kollision mit Artefakten bezeichnet werden, die zur Evozierung der Erinnerungsbilder beiträgt. Die Emotionalität, die mit den Erinnerungsbildern einhergeht, wird von der Musik aufgegriffen. Dabei wird die Beziehung zwischen den Emotionen und Musik in den Lyrics direkt angesprochen: »Eigentlich ist es zu emotional um darüber zu schreiben / Nur in leisen Tönen soll es den Menschen begleiten«. Der Emotionalität wird hier mit einer konkreten Vorstellung davon begegnet, wie Musik im Kontext dieser Thematik zu klingen habe: in leisen Tönen. Das Konzept der leisen Töne wird zeitgleich zu den Lyrics vom musikalischen Arrangement des Tracks aufgegriffen: An der Stelle der dritten Strophe, an der die obigen Lines gerappt werden, nimmt die musikalische Intensität des Tracks deutlich ab. Hierunter ist das Drum Sample zu fassen, welches an dieser Stelle einen Rhythmus im Half-Time Feel spielt und zusätzlich durch Filter- und EQ-Effekte auf Bass- und Snare Drum die Vordergründigkeit verliert. Die Hi-Hat setzt in diesem Part aus und trägt so zur Reduktion der Intensität bei. Die Pausierung vom treibenden Rhythmus schafft ferner einen musikalischen Raum, in welchem das Keyboard weiter in den Vordergrund rückt. Der Sound der synthetischen Streicher wird an dieser Stelle, wie schon im Intro, als Soundfläche gespielt und nicht — wie an vielen vorherigen Stellen — im durchgängigen Achtelrhythmus. Auch Helbigs Stimme trägt an dieser Stelle zu einer Reduktion der Intensität bei, indem sie hier weniger Distortion aufweist und etwas tiefer intoniert als im übrigen Rap. Das Element der Stille wird ferner von Helbig im Interview als Stilmittel zur Betonung besonders wichtiger Phrasen beschrieben. Der Interviewauszug bezieht sich auf ein anderes Stück, doch dieser Aspekt wurde generalisierend beschrieben: H: »Komisch, bei leise war dann der Ton aus, ne? Solche Sachen habe ich dann halt gemacht. Also [...] halt geguckt, was sagen die jungen Leute? Wo kann man da vielleicht irgendwo was am Beat verändern [...]«
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THOMAS SEBASTIAN KÖHN T: »Nimmst du die Themen in den Beat irgendwie mit auf?« H: »Ja. Das hoffe ich auch immer, dass die Beatbauer das machen. Und in der Regel machen die das auch. Dass wenn die sich beim Abmischen hinsetzen um manchmal explizit zu gucken [...], was sagt der Kerl?« (Helbig 2019). Der Beat von »Stolpersteine« wurde von Helbig im Interview mehrfach als besonders gelungen bezeichnet, sodass hier argumentiert werden kann, dass die eingefügte Reduktion der musikalischen Intensität für die Aussage des Tracks besonders wichtig ist. Der Aspekt der (relativen) Stille im Track lässt sich auf erinnerungskulturelle Praktiken beziehen, die mit Stille assoziiert sind. Dazu zählt die Schweigeminute, die der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts entstammt (Ephratt 2015) und der Bekundung von Trauer (Lichau 2018: 218) sowie der Konstruktion von Kollektivität und Solidarität mit Verstorbenen (Ephratt 2015: 11) dient. Mit Karsten Lichau lässt sich konstatieren, dass sich »materielle Formen der Stille und abstrakte Formen des (Ver-)Schweigens [...] oft sehr nahe [kommen...] und ineinander übergehen« können (Lichau 2018: 219). Bei der oben beschriebenen musikalischen Umsetzung von Stille im Track kann von einer ebensolchen materiellen Form von Stille gesprochen werden: Die Schweigeminute im Kontext des Gedenkens an diejenigen, denen mittels der Stolpersteine erinnert wird, geht so nach Lichau musikalisch in den Track über. Anders ausgedrückt findet eine Remediation (Erll 2017: 160f.) der Schweigeminute in musikalische Parameter des Tracks statt. Die Erinnerungsbilder integrieren neben der Holocaustgeschichte und der Gegenwart eine weitere zeitliche Ebene. Mit den Lines »Hier noch im familiären Idyll / Dort gestapelt wie Berge von Müll« wird ein Bruch zwischen einer Zeit vor und während des Holocausts ins Zentrum gerückt. Am Anfang des Tracks wird dieser Bruch als »Riss in der Zeit« bezeichnet. Beschrieben werden hier Personen, die vor dem Holocaust in einer idyllisch-nostalgisch dargestellten Zeit durch den Massenmord quasi zu Material werden, indem ihre Leichen auf Berge gestapelt werden. Die Beschreibung der idyllischen Welt vor dem Holocaust erzeugt einen krassen Kontrast zu den Massenmorden der NS-Zeit und fokussiert so in der Gegenwart auf den Bruch zwischen der Zeit vor dem Holocaust und dem Holocaust und somit zwischen Leben und Tod.
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Stolpersteine und individualisierte Erinnerungen Im Gegensatz zu vielen anderen Erinnerungsorten und -handlungen fokussieren Stolpersteine durch die Gravur einzelner Namen, Lebens- und Ermordungsdaten nicht auf Opferkollektive, sondern auf einzelne Opfer. Die Positionierung der Stolpersteine vor den ehemaligen Wohnhäusern (Suganda 2020: 721) kontextualisiert ferner die Privatheit und Intimität dieser Opfer und trägt so verstärkend zur Konstruktion der Opfer als Individuen bei. Auch bei heutigem Engagement von Privatpersonen im Stolperstein-Projekt geht es um die Recherche nach Daten zu einzelnen Personen und nicht zu größeren Gruppen (ebd.: 720ff.). Diese Hervorhebung einzelner Opfer und Biographien kann mit Helbig als individualisierte Erinnerungskultur bezeichnet werden. Die HipHop-Projekte von Helbig werden durch eine eigene Internetpräsenz gerahmt, auf der u.a. Ziele, politische Botschaften und bisherige Veröffentlichungen präsentiert werden. Der Titel der Internetpräsenz ist »HipHop für Individualist*innen«. Individualismus wird auf der Seite folgendermaßen verstanden: »Hier zählt und erzählt der Mensch seine Geschichten. Diese bringen beide [Helbig und Suncalina] auf Beats und rappen sich die Seele aus dem Laib [sic]« (Helbig 2020). Für Helbig und Suncalina sind Geschichten und Biographien Einzelner folglich wichtige Kernthemen. Diese Hervorhebung und Inszenierung des Einzelnen, des Individuellen bezeichne ich hier als Individualisierung. Bei den Stolpersteinen lässt sich durch die bereits beschriebene Fokussierung auf einzelne Opfer von individualisierter Erinnerungskultur sprechen. Der Track rückt die Individualisierung der Opfer auf mehreren Ebenen in den Vordergrund. In der ersten Strophe wird gerappt: »die Steine der Erinnerung, von welchen jeder einen Namen trägt / einen Namen, eine Story«. Neben der Betonung, dass es sich jeweils um einen Namen handelt, wird auch die »Story« einzelner Opfer hervorgehoben. Verstärkt wird dies durch Aussagen, wie dass es »um den Menschen geht und sonst um gar nichts mehr« (eig. Hervorh.). Doch auch die räumlichen Positionierungen der Stolpersteine vor den Häusern der Opfer wird angesprochen: »Es sind nur Messingplatten vor so manchem Haus.« Hierdurch werden so auch im Track die Privatheit und Intimität der Opfer in den Vordergrund gerückt, die die Opfer als individuell erscheinen lässt. Im Video dargestellte Materialitäten können als Verstärkung der Individualisierung von Holocaust-Opfern gedeutet werden. Dazu gehören erstens Nahaufnahmen von Stolpersteinen, die eine Fokussierung auf die Namen der Opfer beinhaltet, sodass einzelne Opfer in den Diskurs gebracht werden. Ferner
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THOMAS SEBASTIAN KÖHN können im Video dargestellte Koffer als Symbole individualisierter Erinnerungskultur gelesen werden. Im Interview beschreibt Helbig die Beziehung der Koffer zu den Stolpersteinen: »Da geht es darum: Wir suchten alte Koffer und die Koffer sollten bei den Stolpersteinen stehen, um zu gedenken an die Deportationen. Unten stand auf diesen Koffern quasi eine kurze Biografie drauf und was mit diesen Menschen passiert ist« (Helbig 2019). Durch die Positionierung der Koffer bei den Stolpersteinen und durch zusätzliche Informationen über die Deportierten findet hier eine Erweiterung der Stolpersteine statt, auf denen sonst nur sporadische Informationen vermerkt sind. Durch diese vertiefenden Inhalte und Informationen zu den einzelnen Opfern verstärken die Koffer die Individualisierung der Holocaustopfer. Doch auch durch das Video allein lassen sich die Koffer als Symbole der Individualisierung erschließen. Es lässt sich vorstellen, dass jeder Koffer mit Dingen des täglichen Gebrauchs gefüllt ist, die jede*r vor der Deportation individuell als wichtig empfunden hat. Die Inhalte der Koffer sind individuell unterschiedlich und beziehen sich so auf die Privatheit der Opfer — ähnlich wie die Positionierung der Stolpersteine vor den ehemaligen Wohnhäusern (Suganda 2020). Von Helbig werden die Inhalte der Koffer mit Diskriminierung von Jüd*innen in Verbindung gebracht: »Was passiert eigentlich mit den Sachen, die Jüdinnen und Juden zu Hause lassen mussten nachdem sie deportiert worden sind? Und die sind direkt aus dem Fenster heraus aus dem Erdgeschoss versteigert worden« (Helbig 2019). Die Koffer selbst — bzw. deren Inhalte — werden somit politisch aufgeladen. Sie können gleichzeitig als individualisierte Erinnerungsartefakte und als Symbole für die Individualisierung der Opfer gedeutet werden. Die von Suganda (2020) konstatierte Hervorhebung einzelner Opfer als Ziel des Stolperstein-Projektes kann dementsprechend nicht nur auf den Track übertragen werden, sondern der Track verstärkt und politisiert die Individualisierung.
Abb. 2: Wiederkehrendes Gesangsmotiv, erstmalig komplett in der ersten Strophe (ab 00:29)
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»GESCHICHTE SPÜREN« Individualisierungen lassen sich auch auf auditiven und musikalischen Ebenen feststellen. Im Laufe des Tracks ist an vielen Stellen ein hohes Gesangsmotiv hörbar, welches ich im Folgenden als musikalische Individualisierung interpretieren werde (s. Abb. 2). Aus Helbigs Perspektive fungiert das Motiv als Trägerin einer »bestimmten Stimmung«: »Mit hohen Tönen oder einer bestimmten Art von Gesängen kann man ja bestimmte Stimmungen erzeugen. Das ist ja klar, wenn ich eine tiefe Geige habe oder mehr im Mollbereich […] agiere, erzeuge ich eine ganz andere Stimmung« (Helbig 2019). Im Kontext des gesamten Tracks kann so zunächst festgehalten werden, dass das Motiv einen musikalischen Beitrag zum individualisierten Erinnern an Opfer des Holocausts leistet. Dies geschieht dadurch, dass es zu einer »bestimmten Stimmung« beim individualisierten Erinnern beiträgt. Das zentrale Element der musikalischen Individualisierung besteht hier in einer Abgrenzung des Motivs vom Rest des Tracks und des Arrangements. Während sich der Großteil des Tracks inklusive Arrangement und Rap im weitesten Sinne an gängigen Konventionen im HipHop orientiert, hebt sich das Motiv musikalisch vom klanglichen Kontext ab. Es kann daher mittels der folgenden Parameter als individualisiert beschrieben werden: Im Gegensatz zu Helbigs Rap handelt es sich bei dem Motiv um eine hohe Stimme, die lange Töne auf Onbeats des Tracks ohne Text, sondern mit Vokalen singt. Helbigs Rap verfügt dagegen über On- und Offbeat-Phrasierungen, überwiegend in Gruppierungen von Sechzehntel-Noten. Das Gesangsmotiv wird ferner mit einer Stimmfarbe gesungen, die mittels einer physiologischen Stellung des Kehlkopfes und MundRachenraums produziert wird, die in der ›klassischen‹ Singstimme gängig ist. Helbigs Stimme verfügt demgegenüber über einen hohen Anteil physiologisch produzierter Distortion, die einen ästhetischen Gegenpol zum Gesangsmotiv bildet. Bei einer melodischen Analyse des Motivs vor dem Hintergrund des Arrangements kann festgestellt werden, dass dieses an vielen Stellen keine akkordeigenen Töne nutzt, sondern aus Optionstönen gebildet ist, was die Individualisierung des Motivs weiter verstärkt: Im ersten Takt ist die None des Fm-Akkordes zu hören, die zur Sexten des Bbm-Akkordes im darauffolgenden Takt wird. Ferner ist im vierten Takt die None und am Ende des Motivs die Septime des Bb-Dur Akkordes hörbar. Bass und Keyboard spielen in der Begleitung kontinuierlich die Dreiklänge des Vamps. Dadurch, dass die Optionstöne des Motivs nicht durch die Begleitung unterstützt werden, entsteht zwischen dem Gesangsmotiv und dem Arrangement ein tonaler Kontrast, durch den das Motiv besonders auffällt und innerhalb des Tracks als individuell bezeichnet werden kann.
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THOMAS SEBASTIAN KÖHN Durch die musikalische Individualisierung des Motivs lässt es sich auch auf ästhetischer Ebene an das Konzept der Stolpersteine anbinden: Genauso wie sich die Stimme des Gesangsmotivs tonal, rhythmisch, textlich und klanglich vom Track abhebt, heben sich Stolpersteine durch ihre materielle Beschaffenheit und ihre textlichen Gravuren ästhetisch vom Boden ab, in dem sie verbaut wurden. Es kann so von ästhetischen Parallelen zwischen den Stolpersteinen und dem Motiv gesprochen werden. Das Element der (ästhetischen) Individualisierung ist hierbei das Bindeglied zwischen Motiv und Stolpersteinen. Ferner kann das Gesangsmotiv als ein klangliches, mit Bedeutung aufgeladenes semiotisches Zeichen konzipiert werden (Binas-Preisendörfer 2018, Schoop 2021), welches Stolpersteine repräsentiert. Hierbei kann das Motiv als klangliche Repräsentation der Stimmen gelesen werden, von denen gerappt wird: »Ich laufe durch die Stadt / höre Stimmen in der Nacht«. Das Motiv kann somit, genauso wie die Stolpersteine, als Material gelesen werden, welches das Leben und den Tod einzelner Opfer der NS-Zeit symbolisiert. Während bislang lediglich von körperlich-materiellen Kollisionen mit Stolpersteinen die Rede war, die ausschließlich taktiler Art waren, erhalten Kollisionen hier eine auditive und musikalische Ebene. Die körperlich-materiellen Kollisionen gehen nicht nur mit Erinnerungsbildern einher, sondern auch mit Klängen, die musikalisch in Form des Sopran-Motivs im Track materialisiert sind. Es wäre folglich möglich, bei dem Gesangsmotiv von musikalischen und klanglichen Stolpersteinen zu sprechen.
Aktuelle Materialitäten und aktivistische Individualisierung Während in den ersten zwei Strophen des Tracks das Erinnern an die Opfer der NS-Zeit zentral ist, werden in der letzten Strophe Erinnerungen an den Nationalsozialismus auf politisch motivierte Gewalt in der Gegenwart bezogen. Politischer Aktivismus ist für Helbig eines der zentralen Elemente seines künstlerischen Schaffens: »In der dritten Strophe geht es um das Brückenschlagen zum Jetzt: Wir haben immer noch Länder, in denen Menschen wegkommen, deportiert werden« (Helbig 2019). Beginnen möchte ich mit der Analyse des Videos, in welchem das Prinzip der Kollision und Individualisierung von den Stolpersteinen losgelöst und auf ein anderes Material und in die Gegenwart transferiert wird. Im Videomaterial der letzten Strophe ist die Aktivistin Suncalina zu sehen, wie sie mehrfach weiße Transparente aus Stoff in die Kamera hält. Die fünf
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»GESCHICHTE SPÜREN« Transparente enthalten jeweils einen in schwarzer Farbe aufgesprayten Namen von Opfern rechtsextremistischer Gewalt sowie das Datum der Ermordung. Unter diesen Namen ist der Obdachlose Karl Heinz Teichmann, der 2008 von Rechtsextremen ermordet wurde, der Iraker Kamal Kilade, der 2010 im Alter von 19 Jahren ermordet wurde sowie der Syrer Achmed Bachir, der 1996 von Neonazis ermordet wurde (Amadeu Antonio Stiftung o.J.). Nach Angaben der Amadeu Antonio Stiftung ist das Besondere an diesen Opfern, dass die Gewalttaten nicht oder erst später offiziell als rechtsextremistische Gewalttaten klassifiziert wurden, obwohl viele der Täter einen offensichtlichen Bezug zu rechtsextremistischen Gruppierungen aufweisen (ebd.). Bei den im Video gezeigten Transparenten handelt es sich um eine teilweise Übertragung der Funktionsmechanismen der Stolpersteine. Offensichtlich ist zunächst, dass mittels der Transparente — genau wie bei den Stolpersteinen — an Opfer rechtsextremer Gewalttaten erinnert wird. Auch ästhetische Parallelen lassen sich ziehen: Pro Einstellung im Video ist nur ein Transparent mit dem Namen eines Opfers zu sehen. Auch diese werden in Nahaufnahmen gezeigt, sodass die Daten gut lesbar sind. Zentral ist demnach auch hier das Prinzip der Individualisierung, welches von den Stolpersteinen auf das Material der Transparente übertragen wird. Der Aspekt der Individualisierung erhält im Kontext der Transparente eine zusätzliche kritisch-aktivistische Komponente. Die Stolpersteine können als Teil der kollektiven (Assmann 2018) und institutionalisierten Erinnerungskultur, wie viele andere Mahnmale und Erinnerungspraxen auch, verstanden werden. So sind bspw. behördliche Wege einzuhalten, um einen Stolperstein in einen Bürgersteig verbauen lassen zu können. Stolpersteine erinnern jedoch nur an Opfer des Nationalsozialismus und nicht an jene aktueller rechter Gewalt. Die Fokussierung auf einzelne Opfer aktueller Gewalt im Video kann als Kritik an aktueller institutionalisierter Erinnerungskultur verstanden werden (vgl. Köhn 2021), in der Marginalisierte kaum berücksichtigt werden (z.B. El Tayeb 2015, Ringsmut 2021). Das Zur-Sprache-Bringen marginalisierter Opfer ist auch im Interview ein häufig wiederkehrendes Element: »Wir haben immer noch Gebiete, in denen Genozide stattfinden. Bestimmte Genozide wurden auch nie wirklich aufgearbeitet. Die Sklaverei wurde nicht abgeschafft, sondern sie wurde outgesourced« (Helbig 2019). Die teils fehlende Klassifizierung der Morde als rechtsextremistisch motivierte wirkt zusätzlich als Verstärker dieser Kritik. Mittels der individualisierten Transparente wird die Thematik der Marginalisierung von Opfern aktueller rechtsextremer Gewalt in den Diskurs gebracht.
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THOMAS SEBASTIAN KÖHN Auch das Prinzip der Kollision wird im Kontext der Transparente übernommen — jedoch in modifizierter Weise. Zwar sind keine Berührungen erkennbar, die Erinnerungsbilder evozieren. Vielmehr wird hier in einem aktivistischen Sinne eine Kollision mit potenziellen Hörer*innen angestrebt: Ähnlich wie Passant*innen durch Stolpersteine zum Erinnern motiviert werden, besteht hier das Ziel darin, Hörer*innen zu motivieren, an marginalisierte Opfer aktueller rechtsextremer Gewalt zu erinnern und ferner selbst gegen Rechtsextremismus und gegen Marginalisierung aktiv zu werden. Helbig beschreibt dieses Ziel im Interview: T: »Was möchtest du, was dein Publikum von dem Konzert mitnimmt?« H: »Dass sie dann auf einer Demo gegen Antisemitismus oder Frauenfeindlichkeit mitgehen. Oder wenn sie vor einer Entscheidung stehen und machen das Ergebnis nicht davon abhängig, welches Geschlecht der Gegenüber hat. Und einfach so, da ein bisschen offener zu werden« (Helbig 2019). Auf den Track bezogen verändert sich hier die Perspektive der Kollision. Es handelt sich nicht mehr nur um eine Dokumentation von Kollisionen, sondern Kollisionen von Hörer*innen mit individualisierten Erinnerungsmaterialitäten sind vielmehr das Ziel. An dieser Stelle kann somit der Track selbst als Material verstanden werden, mit dem körperlich-sinnlich kollidiert werden soll. Dadurch, dass rechtsextremistische Gewalt für viele Gruppen und Individuen aktuell ein Problem darstellt, fungiert das angestrebte Prinzip der Kollision als Öffnung der Thematik für verschiedene Gruppen und Individuen mit Rassismus-Erfahrungen. Für dieses Prinzip der Kollektivbildung verwendet Miranda Crowdus (2019: 119) den Begriff »converging dispossession«, der Erinnerungen an Traumata als kollektivbildendes Element versteht. Diese Öffnung wird in den Lyrics deutlich: »Das Unbehagen, wenn Menschen über Menschen richten / wenn sie vernichten, auch noch in dieser Zeit weltweit / Man hört schon, wenn die Welt schreit vor Angst und Schmerz und Leid / Und es wird auch noch denunziert, protokolliert / Es werden Menschen ausspioniert, verhaftet, deportiert / [...] Befehle von dem der kommandiert / der bestimmt wer sein Leben behält und wer seins verliert.« Die Öffnung des Tracks passiert hier über die Verwendung von floating signifiers (Moraes 2014: 28f). Unter Rückgriff u.a. auf Ferdinand de Saussure und Ernesto Laclau bezeichnet Sylvia Moraes diese als Begriffe, die in unterschiedlichen Diskursen mit je unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen werden (ebd.: 28-30). Durch den konkreten Bezug zum Holocaust in der ersten Strophe sind dort die Bedeutungen von Signifiern eindeutig. In den obigen Zeilen löst sich jedoch die Thematik vom Holocaust, sodass die Bedeutungen
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»GESCHICHTE SPÜREN« der Begriffe wandelbar werden. Begriffe wie Ausspionieren, Protokollieren u.a. können so auch als Kritiken z.B. gegen weitere illiberale Regime und Diktaturen auf der ganzen Welt in Geschichte und Gegenwart konstruiert werden. Die Line »noch in dieser Zeit weltweit« öffnet die Thematik zusätzlich, sodass der Track an eine Vielzahl von Situationen anpassbar wird, in denen politische Hierarchien und Machtbeziehungen hinterfragt werden.
Musik als Stolperstein? Die Analysen haben an mehreren Stellen gezeigt, wie der Track inklusive Video, Musik und Lyrics als Dokumentation von Kollisionen mit Stolpersteinen und anderen Materialitäten funktioniert. Darunter zu fassen sind die Evozierung individualisierter und emotional aufgeladener Erinnerungsbilder durch körperlich-materielle Kollisionen. Auch wurde diskutiert, wie Musik die Aushandlungen dieser Bilder unterstützt. Es stellt sich nun jedoch die Frage, inwiefern die Musik selbst als Material konzipiert werden kann, mit dem kollidiert wird; kann Musik im hier beschriebenen Fall selbst als Stolperstein funktionieren? Über das Interview mit Helbig wird deutlich, dass der eingangs analysierte Beat körperlich-materiell mit Helbig kollidiert: T: »Beeinflusst dich der Beat in irgendeiner Form?« H: »Ja. Du hast ja eben gehört, was ich da gerappt habe. Das ist ja nicht, weil ich mit dem Kopf ran gehe, sondern weil der Beat mich da kickt und der Beat mich quasi dahin bringt, solche Gedanken zu machen. Man muss sich auf den Beat einlassen, auf die Melodie [...]. Ich höre den Beat und irgendwas passiert in mir, irgendwas arbeitet, mein Gehirn legt los wie eine Maschine« (Helbig 2019). Was Helbig hier beschreibt, lässt sich mit Golańska als eine körperlich-materielle Kollision bezeichnen. Zwar handelt es sich hier nicht um eine Kollision mit dinglicher Materialität, wie es bei Golańska durchgängig der Fall ist, sondern um musikalisch strukturierte, arrangierte und produzierte Schallwellen, eben um den HipHop-Beat. Das »corporeal material sensing« (Golańska 2017: 80) ist hier durch die Schallwellen geprägt, die Helbigs Körper durchdringen und ihn dazu bringen, im Rap Themen wie Erinnerungen und Aktivismus so anzusprechen, wie es in den Lyrics der Fall ist. Weitere Perspektiven, um den Track selbst als Stolperstein zu konzipieren, haben die bisherigen Analysen bereits geöffnet. Wie Suganda (2020) beschreibt, sind die Stolpersteine so konzipiert, dass sie einzelne Opfer an Stelle
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THOMAS SEBASTIAN KÖHN von Opferkollektiven ins Zentrum rücken, was ich weiter oben als individualisierte Erinnerungskultur beschrieben habe. Genauso kann auch der Track als individualisierte — oder als individualisierende — Erinnerungskultur beschrieben werden, da einzelner Opfer gedacht wird. Der Track kann so als musikalischer Stolperstein verstanden werden, da auch hier einzelne Opfer in den Diskurs gebracht und darüber hinaus auch einzelne Opfer aktueller rechtsextremer Gewalt inkludiert werden. Auch das analysierte Gesangsmotiv kann als musikalischer Stolperstein im Track interpretiert werden, da es ästhetische Parallelen zur individualisierten Erinnerungskultur der Stolpersteine aufweist. Bei einer intermedialen Lesart, die Motiv, Lyrics und Video aufeinander beziehen, lässt es sich als musikalische — und somit materielle — Repräsentation individualisierter Opfer lesen. Ferner interagiert der Track mit potenziellen Hörer*innen genauso wie Stolpersteine mit potenziellen Passant*innen: Beide sind so konzipiert, dass sie kurz irritieren und von aktuellen und gewohnten Handlungen ablenken. Bei den Stolpersteinen passiert dies durch die materielle Beschaffenheit, die zum Berühren und zum taktilen Erforschen der Oberfläche einlädt: Im Gegensatz zum Gehweg fühlen sie sich glatt an und verfügen über filigrane Gravuren, die ertastet werden können. Beim Track passiert es über Extra-Takte in der musikalischen Form: Ein Extra-Takt nach jeder Strophe und jedem Chorus irritiert Hörende, die den Einsatz des nachfolgenden Formteils nach vier bzw. sechzehn Takten erwarten. Sie stolpern geradezu über die Extratakte. Weiter oben wurde dargelegt, wie auch Helbig daran interessiert ist, dass Hörende nach einem Konzert dazu motiviert werden, z.B. an Demos gegen Diskriminierung teilzunehmen. Auch hier finden sich Parallelen in der Intention, das Verhalten von Hörer*innen nachhaltig zu verändern. Der Track kann so als musikalischer Stolperstein bezeichnet werden, der mit potenziellen Hörer*innen kollidiert, sodass diese Opfern der NS-Zeit und hier im Besonderen Opfern aktueller rassistischer Gewalt erinnern.
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Abstract This article investigates how the German rapper Marco Helbig, also known as »Der Reimteufel« addresses memories of the Holocaust and the time of National Socialism in his hip-hop track »Stolpersteine,« and what role the stumbling stones themselves play in this. The article draws on the theoretical approach of »Bodily Collision« (Golańska 2020) which describes physical-material interactions between humans and materials. Through a combination of music analysis, intermedial analysis, and an interview conducted with the rapper in 2019, the article first demonstrates how physical-material collisions between the rapper and the stumbling stones evoke memory images (Kaczmarek 2020). Secondly, the article contextualizes how both the »Stolpersteine« and the track highlight individualized, emotionally and politically charged memories. Thirdly, the article analyzes how the track remediates aesthetics of the stumbling stones in other materials (Erll 2017) and thus integrates current
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THOMAS SEBASTIAN KÖHN victims of racist violence. In this process, the article expands the approach of Bodily Collision to music and demonstrates how the track itself can be read as a stumbling stone with the aim of motivating potential listeners to activism against racism and marginalization. The article aims to generate synthesis between musicology, cultural memory studies, and material culture.
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ZU
DEN
AUTOR*INNEN
Benjamin Burkhart studierte Musikwissenschaft an der Universität Würzburg und an der HfM Weimar, wo er 2019 promoviert wurde. Von 2018 bis 2021 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Populäre Kultur und Musik der Universität Freiburg im BMBF-Verbundprojekt »Musikobjekte der populären Kultur«. Seit 2021 ist er Senior Scientist am Institut für Jazzforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz. Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre: Musik- und Medienanalyse populärer Musik und des Jazz, auditive Medienkulturen sowie Musik auf digitalen Medienplattformen. • [email protected] Anne Delle studiert Kulturwissenschaft an der Humboldt Universität zu Berlin. Ihr Forschungsinteresse liegt in den Bereichen Science and Technology Studies und sonische Epistemologien. Ihre Masterarbeit schreibt sie zum Einsatz von Klang in Ausstellungen und deren politischen Implikationen. Von 2020 bis 2022 forschte sie am Exzellenzcluster »Matters of Activity« zu Virtual Reality und Neurochirurgie. In diesem Rahmen war sie Teil des education-as-research Programms »stretching senses school«. • [email protected] André Doehring, Musikwissenschaftler und Soziologe, ist Professor für Jazz- und Popularmusikforschung am von ihm geleiteten Institut für Jazzforschung an der Kunstuniversität Graz. Seine Forschung und Publikationen behandeln musikanalytische, sozialgeschichtliche, kulturelle, politische und mediale Aspekte von Jazz und populärer Musik. Er ist Mitherausgeber von Jazzforschung/ Jazz Research und Beiträge zur Jazzforschung/Studies in Jazz Research und leitete den österreichischen Teil des internationalen Forschungsprojekts »Popular Music and the Rise of Populism in Europe« (VW Stiftung, 2019-2022). • [email protected] Alan Fabian ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Musik und Musikwissenschaft der Stiftung Universität Hildesheim. Seine musik- und medienwissenschaftlichen Fachdiskurse sind: Musikformulare und Musikverkehr, Musikmedienarchäologie, Computermusik/Elektroakustische Musik. Er promovierte in Musik- und Medienwissenschaft an der Musikhochschule Köln sowie der Universität Köln und der Humboldt-Universität Berlin. Er studierte u.a. Instrumental-Komposition an der Musikhochschule Würzburg, Computermusik am Institut für Sonologie in Den Haag sowie am IRCAM in Paris, Elektroakustische Musik im Studio für Elektronische Musik der Musikhochschule Köln, musikalische Computerinteraktion mit Musikinstrumenten an der Internationalen Ensemble Modern Akademie Frankfurt a. M.
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ZU DEN AUTOR*INNEN José Gálvez forscht und lehrt seit 2019 am Lehrstuhl für Musikwissenschaft/ Sound Studies der Universität Bonn. Dort arbeitet er an einem Dissertationsprojekt zur klanglich vermittelten Subjektivierung in populärer Musik. Er forscht an der Schnittstelle zwischen musikalischer Analyse, klangnaher Medientheorie und Kulturgeschichte mit Fokus auf populärer Musik im 20. und 21. Jahrhundert. Lorenz Gilli ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Medienwissenschaftlichen Seminar der Universität Siegen. In seiner Dissertation erforscht er Erfahrungspotentiale mit DJ-Sets der Electronic Dance Music. Seine Forschungsschwerpunkte sind DJ-Culture, Electronic Dance Music und Sound Studies. Daneben arbeitet er im Projekt »dime:US — Digitalität menschlich gestalten« an der Universität Siegen, das als Ziel die Gestaltung und Förderung einer digitalen Lehr-Lernkultur verfolgt. • [email protected] Kai Ginkel ist Mitarbeiter im Forschungsprojekt »Embodying Expression, Gender, Charisma — Breaking Boundaries of Classical Instrumental Practices« (FWF). Von 2019 bis 2022 war er Mitarbeiter im internationalen Projekt »Popular Music and the Rise of Populism in Europe« (VW Stiftung). Er promovierte in Eichstätt-Ingolstadt zu einer soziologischen Perspektive auf Sound (Noise — Klang zwischen Musik und Lärm, 2017). Seine Schwerpunkte umfassen populäre Musik, Klang, qualitative Methoden und interdisziplinäres Forschen. • [email protected] Merle Greiser hat Musikwissenschaft und Musikethnologie an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Eesti Muusikaja Teatriakadeemia Tallinn (Estland) sowie Julius-Maximilians-Universität Würzburg studiert und war Lektorin an der Technischen Universität der Inneren Mongolei in Hohhot (China). Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für fränkische Volksmusik in Uffenheim (Deutschland) und promoviert an der Leuphana-Universität Lüneburg. Sie arbeitet in Themenbereichen der historischen Popularmusikforschung und forscht zu soziokulturellen Narrativen und deren Gebrauch im Volksmusikdiskurs im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Identitätskonstruktionen. Katherine Griffiths is a former and some-time DJ. She played Rare Groove at gigs and parties in London, Manchester and Paris in the 1980s and 1990s on the lesbian and straight club scenes. She is currently reading her PhD in history at the Royal Holloway University of London — tentatively titled »Going Out, Coming Out, Playing Out«. This is an exploration and recouping of the lesbian club scene in London in the 1980s and 1990s that Black and white women created on the margins of this vibrant city. Christofer Jost ist Oberkonservator am Zentrum für Populäre Kultur und Musik (ZPKM) sowie Privatdozent am Institut für Medienkulturwissenschaft der Universität Freiburg. 2008 wurde er in Musikpädagogik an der Universität Mainz promoviert. 2011 schloss er seine Habilitation für das Fach Medienwissenschaft an der Universität Basel ab (Umhabilitierung 2018 an der Universität
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ZU DEN AUTOR*INNEN Freiburg). 2013 vertrat er einen Lehrstuhl für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Mannheim. Von 2018 bis 2021 war er Koordinator des BMBF-Verbundprojekts »Musikobjekte der populären Kultur. Funktion und Bedeutung von Instrumententechnologie und Audiomedien im gesellschaftlichen Wandel«. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind: Populäre Musik, digitale Medien und Musik, audiovisuelle Medienkulturen, Performance Studies und Musik und Bildung. • [email protected] Steffen Just forscht an der Abteilung für Musikwissenschaft / Sound Studies der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn im DFG-Projekt »Synkopierung und Volumen. Sondierungen einer sonischen Moderne«: www. musikwissenschaft.uni-bonn.de/forschung/laufende-projekte/synkopierungund-volumen-sondierungen-einer-sonischen-moderne-1890-1945. Seine Forschungsinteressen umfassen das Verhältnis von Klang und Subjektivierungsprozessen sowie die soziopolitischen und semiotisch-materiellen Dimensionen musikalischer wie medialer Praktiken und Diskurse und sind an den Schnittstellen wie produktiven Spannungen zwischen Cultural Studies, Sound Studies, Popular Music Studies, Medienarchäologie und Digital Humanities angesiedelt. Alan van Keeken studierte Musikwissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Von 2018 bis 2021 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rahmen des Verbundprojektes »Musikobjekte der populären Kultur« am rock'n'popmuseum in Gronau, Westfalen. Ab 2021 trat er eine Stelle als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Musik, Medien- und Sprechwissenschaften der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg an. Er hat zu Einsatz und Geschichte von Musiktechnologie in populärer Musik publiziert und arbeitet derzeit an seiner Dissertation zur Geschichte der elektronischen Heimorgel in Westdeutschland. Weitere Forschungs- und Lehrschwerpunkte liegen auf Organologie, Analyse populärer Musik und Musiksoziologie. Christopher Klauke ist Predoctoral Fellow der International Max Planck Research School »Knowledge and Its Resources: Historical Reciprocities« am MaxPlanck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Er studierte Musikwissenschaft und Kunstgeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen sowie der Humboldt-Universität zu Berlin. In seinem Dissertationsprojekt beschäftigte er sich mit den Transkriptions- und Analysetechniken und deren politischen Implikationen in der datenbasierten musikethnologischen Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts. • [email protected] Thomas Sebastian Köhn studierte Musikwissenschaften an der Universität Oldenburg. Von 2019 bis 2022 arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG Projekt »Sounding Memories« an der Leuphana Universität Lüneburg, wo er zum Thema Erinnerungskultur und HipHop promoviert. Seit 2022 arbeitet er im MWK-Projekt »Musikalische und klangliche Erinnerungsräume in der PostWitness Ära« an der Leuphana Universität und forscht zum Einsatz von Musik, Sound und Geräuschen in Gedenkstätten und in verschiedenen Formen des
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ZU DEN AUTOR*INNEN Erinnerns an die NS-Zeit. Seine Interessen liegen in den Bereichen Artistic Research, (Pop-)Musikanalyse, Sound Studies sowie in den Cultural Memory Studies. Cornelia Lund is a Berlin-based art and media scholar and curator. She has worked for years in research and teaching, mainly on documentary and audiovisual artistic practices, design theory, and de- and postcolonial theories. Since 2004 she has been co-director of fluctuating images, a platform for media art and design. 2012–2018 she has been a research fellow in a DFG project on German documentary cinema (University of Hamburg), and most recently she co-curated the exhibition and research project Connecting Afro Futures. Fashion x Hair x Design (Berlin 2019). Since 2021 she is a research fellow at the University of the Arts Bremen. Her current research interests mainly focus on live audiovisual documentary practices, the representation of fashion in African music video and the project Turkish Pop Music Images (with Holger Lund) (for further details see www.fluctuating-images.de/cornelia-lund-en). Holger Lund works as an art, design, and music researcher and as a curator and DJ. He deputised the position of chair of design theory at the University of Pforzheim from 2008 to 2011. In 2011 he began his duties as full professor of media design, applied art, and design studies at the Ravensburg University of Cooperative Education. Since 2004 he has collaborated with Cornelia Lund to lead the platform fluctuating images (Berlin). His research focuses on design research, visualization of music and pop music history. In addition, he runs the music label Global Pop First Wave, dedicated especially to Turkish pop music of the 1960s and 1970s. Current research project: Turkish Pop Music Images (with Cornelia Lund) (see www.fluctuating-images.de/holger-lunden). Veronika Muchitsch ist Musikwissenschaftlerin und interessiert an den Schnittstellen von Popmusik, digitaler Medienkultur und Konstruktionen von Subjektivität. Sie arbeitet aktuell als Postdoc-Forscherin an der Hochschule Södertörn (Stockholm) und der Universität Oslo, wo sie Mediatisierungen von Geschlecht im Musik-Streaming analysiert. Sie promovierte an der Universität Uppsala zu stimmlichen Konstruktionen von Geschlecht im Pop des 21. Jahrhunderts. • [email protected] Adrian Ruda, Kulturanthropologe, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Kulturanthropologie des Textilen der Technischen Universität Dortmund. In seiner Dissertation hat er sich u.a. am Beispiel des preußischen Militärwesens mit der longue durée historischer Totenkopfmotive und ihrem Einfluss auf die Bekleidungskultur befasst. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Historische Anthropologie, Analysen materieller, vestimentärer und visueller Kultur, Mode- und Uniformgeschichte, Geschichtskultur, Geschichte des Nationalsozialismus, Pop- und Konsumkultur. • [email protected]
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ZU DEN AUTOR*INNEN Laura Marie Steinhaus ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Universität Freiburg. In Forschung und Lehre konzentriert sie sich vorwiegend auf auditive Medienkultur, digitale Medien und Kulturerbe. • [email protected] Berrin Yanıkkaya is a Professor of Communication Studies. The areas of her academic interest lie in the crossroads of Women's Studies, Cultural Studies and Media Studies. From the very beginning of her academic career, her focus has been on the construction of female agency through cultural and media production and meaning-making processes. The main themes underlining her academic publications can be summarised in four interrelated ›tensions‹; presence-absence / unity-difference / appearance-essence / ›west‹-›east‹ (as metaphors for the categories of power relations, rather than geographical places). She has taken part in various international steering committees and served on editorial boards for different matters. Currently she is working as the Dean of the Faculty of Arts and Sciences & Executive Adviser to the President at Yeditepe University, where she has been recently appointed as the coordinator of the Teaching and Learning Unit, YU-LEARNT (see https:// fenedebiyat.yeditepe.edu.tr/en/sociology-department/akademik-kadro/ berrin-yanikkaya). Oliver Zöllner is a professor of media research, media sociology, digital ethics, and international communication at Stuttgart Media University. He also teaches as an honorary professor at the University of Düsseldorf. Zöllner is an expert on questions of digitisation, digital transformation and related aspects of reflexive media literacy. His areas of expertise also include processes of identity formation in societies, e.g., in the context of migration debates or with a view to cultural minorities. Zöllner's academic roots lie in researching the role of communication in large-scale organisations and in the analysis of cultural artifacts (images, sounds, everyday objects, art) and the mediatised practices associated with them (see www.hdm-stuttgart.de/home/zoellner).
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Popularmusikforschung ist das Miteinander der Disziplinen im offenen Blick auf die gesamte Breite populärer Musik und Kultur. Seit 1984 bietet die unabhängige Gesellschaft für Popularmusikforschung (GfPM, bis 2014: ASPM) hierfür das mitgliederstärkste Netzwerk im deutschsprachigen Raum. SELBSTVERSTÄNDNIS Unabhängigkeit | Als gemeinnütziger Verein sind wir finanziell, inhaltlich und politisch unabhängig. Aus dieser Position heraus ist es uns möglich, als unabhängige Expert*innen für Popularmusikforschung zu agieren. Vielfalt | Popularmusikforschung widmet sich einem reichen Feld kultureller Texte, Kontexte und Praxen. Wir versammeln in unserem Verein die unterschiedlichsten disziplinären, methodischen, praktischen und theoretischen Zugriffe, um diese zu analysieren, zu diskutieren und zu vermitteln. Internationale Ausrichtung | Popmusikforschung ist für uns selbstverständlich das internationale Miteinander der Disziplinen. Deutsch und Englisch sind unsere Publikations- und Tagungssprachen. AUFGABEN Förderung und Unterstützung | Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist uns wichtig: Wir bieten finanzielle Unterstützung für Reisen und Publikationen aus einem Nachwuchsfond, vergeben jährlich den ersten Förderpreis auf dem Gebiet der Popularmusikforschung und veranstalten für junge Wissenschaftler*innen Workshops und internationale Postgraduate Summer Schools. Outputs | Seit 1984 führen wir jährliche Tagungen durch, deren Ergebnisse in mittlerweile 47 Bänden der Beiträge zur Popularmusikforschung veröffentlicht und online als Volltext-Archiv verfügbar sind. Außerdem publizieren wir das Open Access-Journal SAMPLES (20 Jg.) und die Schriftenreihe texte zur populären musik (Bd. 1-11). Mehr Informationen unter www.popularmusikforschung.de
Musikwissenschaft LJ Müller
Hearing Sexism Gender in the Sound of Popular Music. A Feminist Approach August 2022, 208 p., pb. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5851-4 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5851-8
Vera Grund, Nina Noeske (Hg.)
Gender und Neue Musik Von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart 2021, 370 S., kart., 21 SW-Abbildungen, 8 Farbabbildungen 40,00 € (DE), 978-3-8376-4739-6 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4739-0
Sonja Heyer
Die Kunst der Dauer Transformative Erhabenheit in der zeitgenössischen Musik Oktober 2022, 280 S., kart., 21 SW-Abbildungen, 1 Farbabbildung 45,00 € (DE), 978-3-8376-6498-0 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6498-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Musikwissenschaft Alexander Lederer
Die Narrativität der Musik im Film Audiovisuelles Erzählen als performatives Ereignis Dezember 2022, 306 S., kart., 3 SW-Abbildungen 49,00 € (DE), 978-3-8376-6392-1 E-Book: PDF: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6392-5
Martin Eybl
Sammler*innen Musikalische Öffentlichkeit und ständische Identität, Wien 1740–1810 September 2022, 590 S., kart., 25 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 59,00 € (DE), 978-3-8376-6267-2 E-Book: PDF: 58,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6267-6
Frédéric Döhl
Zwischen Pastiche und Zitat Die Urheberrechtsreform 2021 und ihre Konsequenzen für die künstlerische Kreativität August 2022, 294 S., kart. 46,00 € (DE), 978-3-8376-6248-1 E-Book: PDF: 45,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6248-5
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